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German Pages [233] Year 2023
Maximiliane Brandmaier / Barbara Bräutigam / Silke Birgitta Gahleitner / Dorothea Zimmermann (Hg.)
Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen Ein Handbuch und begleiten
Maximiliane Brandmaier/Barbara Bräutigam/ Silke Birgitta Gahleitner/Dorothea Zimmermann (Hg.)
Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten Ein Handbuch
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 13 Abbildungen und einer Tabelle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Nadine Scherer Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40866-3
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Teil 1 Hintergründe Birgit Behrensen
Was bedeutet Fluchtmigration? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Maximiliane Brandmaier/Eben Louw
Rassismus – Trauma – Flucht: Grundlagen für eine rassismussensible Beratung und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Sladjana Kosijer-Kappenberg
Täter:innenschaft: Herausforderungen im Kontext von Krieg und Flucht 35
Teil 2 Kontexte und Settings Markus Stingl/Bernd Hanewald
Stationäres Behandlungskonzept zur Versorgung Geflüchteter . . . . . . . . . . 56 Maximiliane Brandmaier/Oliver Göbel/Regina Saile/Ulrike Schneck
Interdisziplinäres Arbeiten – die Behandlung in Psychosozialen Zentren . 72 Matthias Müller
Stärkenorientiertes Migrationsfachdienst-Case-Management . . . . . . . . . . . 84 Laura Hertner
Versorgung geflüchteter Menschen als »Sich-in-Beziehung-Setzen« – Begriffsklärung, Schlüsselprinzipien und Spannungsfelder psychosozialer Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
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Inhalt
Teil 3 Methodisches Lisa Große/Silke Birgitta Gahleitner
Diagnostisches Fallverstehen mit geflüchteten (jungen) Menschen . . . . . . 110 Silke Birgitta Gahleitner/Dorothea Zimmermann/Dima Zito
Geflüchtete psychosozial und traumapädagogisch unterstützen . . . . . . . . . 122 Dima Zito/Silke Birgitta Gahleitner/Dorothea Zimmermann
Übungen zur psychosozialen und traumapädagogischen Intervention . . . 137 Barbara Bräutigam/Marie Ortmann
Ambulante psychotherapeutische Arbeit und psychosoziale Versorgung von geflüchteten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Conny Bredereck/Mohammed Jouni/Dorothea Zimmermann
Selbstorganisierte Räume rassismuskritisch gestalten und begleiten . . . . . 161
Teil 4 Spezifische Aspekte Elvira Hadžić/Natalia Tilton
Verständigung in der Krise: Sprachmittlung in der psychosozialen Beratung für geflüchtete Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Stefan Schmid/Astrid Utler
Psychische Gesundheit: Herausforderungen und Lösungsansätze in der dezentralen Versorgung von Geflüchteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Maximiliane Brandmaier
(Nicht-)Anerkennung von Geflüchteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Luise Reddemann/Ljiljana Joksimovic
»Social trauma« behandeln und begleiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
Die Autor:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Einleitung
Als dieses Buch 2021 geplant wurde, überschattete in der öffentlichen Wahrnehmung die Covid-19-Pandemie die Themen von Migrations- und Fluchtbewegungen noch weitgehend, auch wenn diese bereits weltweit zunahmen. Zudem spitzte sich die Ungleichheit zwischen Menschen mit und ohne Fluchthintergrund im Zuge der Pandemie immer mehr zu. Seit dem 24. Februar 2022 hat unser Buch zusätzlich eine tragische Aktualität erhalten, obgleich der Krieg in der Ukraine wahrlich nicht der einzige ist, der Leid und Fluchtbewegungen auslöst. Die Klimakrise und die sich verschärfenden Hungerkrisen verursachen weitere Flucht- und Migrationsbewegungen. Zwar findet politisch langsam ein Umdenken statt, doch eine zeitliche Begrenzung der Arbeits- und Integrationsverbote für geduldete Menschen ist längst überfällig, wird in der Umsetzung jedoch viele Menschen erst zu spät erreichen. Geflüchtete Menschen haben einen Anspruch auf eine angemessene Begleitung und Unterstützung. Gleichzeitig ist nach wie vor die Versorgungslage in vielen Bereichen völlig unzureichend beziehungsweise verschlechtert sich sogar für bestimmte Gruppen. Sozialarbeiter*innen, Berater*innen, Psychotherapeut*innen stehen oft vor der Herausforderung, extrem traumatisierte geflüchtete Menschen hilfreich zu begleiten und dabei mitunter außerhalb des Gesundheitssystems und über Sprachbarrieren hinweg agieren zu müssen. Diejenigen, die sich ehrenamtlich engagieren, sind nicht selten mit Phänomenen von psychischer Erschöpfung bis hin zu sekundärer Traumatisierung konfrontiert. Das heißt, dass die Gesellschaft nicht die Verantwortung für angemessene »heilende« Lebensumstände übernimmt, sondern diese Phänomene der Einzelnen als individuelles Krankheitserleben definiert und die Begleitung unter prekären Bedingungen an ein randständiges Unterstützungssystem delegiert. In der Buchreihe »Fluchtaspekte« wurden seit 2017 bislang 22 Bände zu einer breiten thematischen Palette im Bereich der Arbeit mit geflüchteten Menschen beziehungsweise der Migrationsarbeit veröffentlicht. Warum also nun noch dieses Handbuch? Ziel dieses Buchs ist es, psychosoziale Fachkräfte in ihrer
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Einleitung
Begegnung und Arbeit mit geflüchteten Menschen in gebündelter Form mit theoretischem Hintergrund- und nützlichem Praxiswissen zu unterstützen. Die kompakte Handreichung soll professionell und freiwillig Tätige für ihre vielfältigen Aufgaben rüsten und neue Impulse in diesem Arbeitsbereich setzen. Dabei werden insbesondere die psychosozialen Bedarfe in den Blick genommen. Geflüchtete Menschen, aber auch Fachkräfte können beispielsweise kaum überschauen, welche Unterstützung sie von wem in welchem Rahmen erhalten (können). Hier soll der Band helfen. In das Buch aufgenommen ist außerdem die Perspektive von Forscher*innen und Ausbilder*innen, die im Hintergrund zur Professionalisierung dieses Felds beitragen. Das Handbuch widmet sich aktuellen psychosozialen Themen- und Arbeitsfeldern, die fundiert und verständlich aufbereitet werden. Die Beiträge beleuchten im ersten Teil zunächst die gesellschaftlichen Hintergründe von Flucht und Vertreibung, bevor im zweiten Teil unterschiedliche Settings und Kontexte in den Blick genommen werden, in denen Unterstützung und Begleitung geflüchteter Menschen praktiziert werden. Im dritten Teil werden verschiedene methodische Handlungs- und Vorgehensweisen aus diesen Arbeits- und Handlungsfeldern beschrieben. Der vierte Teil widmet sich besonderen Aspekten und Spezifika der psychosozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen. Die Texte bestehen jeweils aus einer theoretischen Einführung in die jeweilige Thematik und klaren Implikationen für die Praxis. Ziele, Aufgaben, Methoden und Herausforderungen verschiedener Arbeitsfelder werden vorgestellt und zum Teil durch Fallbeispiele und Handlungsempfehlungen ergänzt. Wir hoffen, dass der Band dazu beiträgt, Professionelle wie freiwillig Tätige im Bereich der Arbeit mit Geflüchteten zu qualifizieren, gerade auf dem Gebiet der Aus- und Weiterbildung muss eine verstärkte Beschäftigung mit diesen Themen stattfinden. Auch der Bedarf an Supervision und Mediation in diesem Feld ist angesichts der täglichen Konfrontation mit Traumafolgen, Ohnmachtserfahrungen, rechtlichen Restriktionen und gesellschaftlichen Ressentiments hoch. Dabei möchten wir insbesondere Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Ärzt*innen, Therapeut*innen, Berater*innen, Betreuer*innen, Vormund*innen, Supervisor*innen, Mediator*innen, Pädagog*innen, Jurist*innen, Sprachmittler*innen und ehrenamtlich Tätige ansprechen. Vor allem aber wollen wir bei den Leser*innen Interesse und Neigung für diese Themen- und Arbeitsfelder wecken. Aus den Beiträgen wird deutlich, welch anspruchsvolle und komplexe Vorgehensweise die Arbeit mit geflüchteten Menschen erfordert, wie sinnstiftend und horizonterweiternd sie jedoch andererseits sein kann. Unseren Leser*innen wünschen wir mit dem Buch eine inspirierende und anregende Lektüre, auch damit dieser »randständige« Bereich der Sozialen
Einleitung
Arbeit wie auch der Psychotherapie mit einer klaren professionellen und gleichzeitig politischen Haltung seinen Platz in der psychosozialen Versorgung und in der Gesellschaft finden kann. Maximiliane Brandmaier, Barbara Bräutigam, Silke Birgitta Gahleitner und Dorothea Zimmermann
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Teil 1
Hintergründe
Birgit Behrensen
Was bedeutet Fluchtmigration?
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Trendwende in der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik? Dieser Aufsatz war Mitte Februar 2022 fertig. Die Entwicklungen nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine am 24.02.2022 verlangen jedoch eine Überarbeitung. Durch die im März 2022 beschlossene europäische »Richtlinie über den vorübergehenden Schutz« (Richtlinie 2001/55/EG) wurde erstmalig eine schnelle Aufenthaltssicherung auf Zeit bei freier Wohnortwahl innerhalb Europas für mehrere Millionen Schutzsuchende möglich. Die Umsetzung der EU-Richtlinie erfolgt in Deutschland nach § 24 Aufent haltsgesetz (AufenthG), wobei politische Aushandlungsprozesse in Richtung zügiger Arbeitsmarkt- und Bildungsintegration, eines gleichberechtigten Zugangs zu Sozialleistungen sowie eher schwacher Wohnsitzauflagen für ukrainische Staatsangehörige zu beobachten sind. Die Lage für Drittstaatsangehörige aus der Ukraine ist dagegen zu diesem Zeitpunkt politisch, verwaltungsrechtlich und verwaltungspraktisch deutlich eingeschränkter. Flüchtlingslobbyorganisationen wie Pro Asyl (2022) weisen sowohl auf die Gefahren einer ungleichen Rechtspraxis als auch auf Potenziale der aktuellen Öffnungen hin. Aus soziologischer Sicht kann gesagt werden, dass in der Gestaltung der Aufnahme ukrainischer Staatsangehöriger sichtbar wird, wie sich im Zusammenspiel von politischen Entscheidungen, verwaltungsrechtlicher und verwaltungspraktischer Umsetzung im Verbund mit zivilgesellschaftlichem Engagement die »Lebenschancen« (Weber, 1922) von Schutzsuchenden verbessern. Um diese Verbesserungen auf andere Gruppen Schutzsuchender auszuweiten, ist es notwendig, die Hierarchisierung von Fluchtursachen zu dekonstruieren.
Was bedeutet Fluchtmigration?
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Fallstricke bei der Zuordnung von Fluchtursachen Bis heute ist die Genfer Flüchtlingskonvention, die 1951 als »Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge« (GFK) verabschiedet wurde, das wichtigste internationale Dokument für den Flüchtlingsschutz. Festgelegt wurde hier das Recht unter anderem auf Ȥ Schutz vor Diskriminierung aus hier definierten Gründen (Artikel 3 GFK), Ȥ Zugang zu den Rechtsinstitutionen (Artikel 16 GFK), Ȥ Straffreiheit nach irregulärer Einreise, sofern die betreffende Person unmittelbar eingereist ist und sich bei den Behörden gemeldet hat (Artikel 31, Abs. 1 GFK), Ȥ Ausweisungsschutz (Artikel 32 und 33 GFK). Anfangs standen europäische Schutzsuchende im Fokus. Der Wirkungsbereich wurde aber aufgrund der globalen Entwicklung mit dem »Protokoll über die Rechtsstellung von Flüchtlingen« 1967 erweitert. Bis heute haben 149 Staaten eines oder beide Dokumente unterzeichnet (UNO-Flüchtlingshilfe, 2023). Mit diesen Regelungen sollen Schutzsuchende – so sie denn in der Lage sind, ihre Verfolgung zu begründen – auf die staatliche Selbstverpflichtung bauen können. Es ging und geht hierbei nicht um Barmherzigkeit, sondern um ein international vereinbartes Recht. Auch geht es nicht darum, ob Schutzsuchende ein für den Arbeitsmarkt interessantes Humankapital mitbringen. Weil das universalistische Prinzip des Menschenrechts über nationalstaatliche Interessen gestellt wird, sehen Scherr und Inan (2017, S. 134 ff.) in der Kategorie des Flüchtlings eine moderne Kategorie. Perspektiven auf ökonomische Dimensionen von Flucht sind in Rechtspre chung, Verwaltung, Politik und öffentlicher Diskussion jedoch widersprüchlich. Einerseits dienen Unterscheidungen zwischen ökonomischen und nicht ökonomischen Fluchtursachen aufseiten der Schutzsuchenden der Legitimierung staatlicher Aufnahmeverweigerung (Nassehi, 2015, S. 3). Andererseits zeigen Bestrebungen um einen schnellen Arbeitsmarktzugang für ukrainische Schutzsuchende im März und April 2022 ökonomische Verwertungsinteressen der aufnehmenden Staaten. Deshalb ist es wichtig, die ökonomischen Dimensionen von Fluchtursachen genauer einzuordnen. Die Verwobenheit von Fluchtursachen wird beispielhaft deutlich an den ökonomischen Folgen extremer Wetterphänomene auf die Entwicklung von Bürgerkriegen. So lässt sich mit Blick nach Syrien sagen, dass bereits 2009 von den rund 22 Millionen Menschen, die die Bevölkerung Syriens damals bildeten, 1,5 Millionen von der fortschreitenden Wüstenbildung betroffen waren.
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Konsequenzen waren ein dramatischer Rückgang der Grundwasserreserven, Überweidung, Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe und schließlich eine massive Landflucht. Dies ist anzusiedeln im Kanon der Ursachen für die dann zunehmenden sozialen Unruhen, die im sogenannten Bürgerkrieg mündeten (Sinai u. Sinai, 2015). Ähnliches gilt etwa für die Boko-Haram-Gebiete im westlichen Afrika. Hier lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen religiös begründeter Gewalt und massiven klimatischen Veränderungen, die Dürre und ökologische Probleme verursachten und die Zerstörung ganzer Dörfer zur Folge hatten (Jäggi, 2016). Für die in Krisenregionen lebenden Menschen sind die Verflechtungen von einer schlechten Wirtschaftslage, Extremwetterphänomenen, bewaffneten Konflikten, Armut, Klimawandel sowie verschiedenen Formen von Diskriminierung und Gewalt alltägliche Realität. Wie die Zusammenhänge statistisch aussehen und welche Verbindungen sie zur Fluchtmigration aufweisen, ist ausführlich in Berichten etwa der International Organization for Migration (vgl. expl. IOM, 2021) oder des Internal Displacement Monitoring Centres (vgl. expl. IDMC, 2021) nachzulesen. Ein aktuelles Beispiel ist in den ökonomischen und sozialen Folgen der Covid-19-Pandemieschutzmaßnahmen für Kinder zu sehen, die von World Vision (2021) so zusammengefasst werden: »Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen von COVID-19 drohen Jahrzehnte des Fortschritts im Kampf gegen Armut und Einkommensungleichheit in den ärmsten Regionen der Welt zunichtezumachen […]. World Vision warnt davor, dass über 19 Millionen Menschen, darunter zehn Millionen Kinder, allein in zwölf der fragilsten Länder der Welt von einer Hungersnot bedroht sind. Der Grund dafür ist eine tödliche Mischung aus Konflikten, den wirtschaftlichen Auswirkungen von COVID-19 sowie klimabedingten Naturkatastrophen. Indirekte Folgen der Krise führen dazu, dass durch lange Perioden von Schulschließungen und vermehrter häuslicher Gewalt weltweit mindestens 85 Millionen Kinder dem Risiko von Gewalt ausgesetzt sind. Millionen von Eltern sowie Betreuerinnen und Betreuern haben durch COVID-19 ihre Arbeitsstellen sowie Einkommen verloren, was allein in Asien acht Millionen Kinder zur Kinderarbeit zwingt. Die Schulschließungen und finanziellen Notlagen führen in Afrika südlich der Sahara eine Million Mädchen in Zwangsehen und Teenagerschwangerschaften. Damit einher geht der vollständige Abbruch des Bildungsweges« (Word Vision Deutschland e. V., 2021, S. 42). Die Beseitigung von Hunger ist heute – anders als etwa im vorindustriellen Europa – keine primär technologische Frage. Sie ist eine Menschenrechtsfrage,
Was bedeutet Fluchtmigration?
weil der Zugang zu Nahrung eng mit Diskriminierungen verbunden ist (Mark, Gamze Erdem, Markus u. Wouter, 2021). Bewohnerinnen und Bewohner im globalen Norden sind mit den Diskriminierungspraktiken im globalen Süden verwoben. Auch im globalen Norden findet sich ein sozial ungleicher Zugang zu Ressourcen. Arbeit, Bildung, Wohnen und Nahrung sind hier historisch immer ungleich verteilt gewesen und diese Ungleichheit nimmt seit Jahrzehnten wieder zu. Aber zugleich profitieren alle – in sehr unterschiedlichem Maße – von den Ausbeutungsbedingungen im globalen Süden. Die Abwehr der damit zusammenhängenden Fluchtmigrationsbewegungen lässt sich in einer zunehmenden Abschottung des globalen Nordens beobachten, deren Praktiken als immer stärker aufgerüstete Grenzregime zusammengefasst werden können.
Zunehmende Brutalität der Grenzregime Der Begriff des Grenzregimes hat sich im vergangenen Jahrzehnt als Bezeichnung für die Gesamtheit aller institutionellen, administrativen, legislativen und technischen Maßnahmen und Einrichtungen der Grenzsicherung und Grenzkontrolle etabliert. Die Ausbreitung von Grenzregimen ist eine Gegenbewegung zur Globalisierung mit ihren immer schnelleren und umfassenderen grenzüberschreitenden Produktionsprozessen, Handelsbeziehungen, Arbeitsmigrationsbewegungen, Bildungsgelegenheiten, Informations- und Kommunikationsvernetzungen sowie Binnenöffnungen. Mau (2021) spricht von »Grenzmauern als Bollwerke der Globalisierung« (S. 51). Vernon und Zimmermann (2021) kommen bei ihrer Zählung von Grenzmauern auf eine Steigerung von unter 10 um 1970 auf über 70 um 2020. Während Waren und Informationen global ausgetauscht werden, stellen sich für Menschen je nach nationaler Zugehörigkeit und ökonomischen Handlungsmöglichkeiten sowie nach geopolitischen und nationalstaatlichen Interessen unterschiedliche Hürden. Die Folgen geopolitischer und nationalökonomischer Interessen sind seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine an den europäischen Außengrenzen sehr genau zu beobachten. Während ukrainische Flüchtende eine menschenwürdige Aufnahme in Europa erleben, erfrieren Menschen an der belarussisch-polnischen Grenze, ertrinken im Mittelmeer, leben ohne Perspektive in griechischen Lagern beziehungsweise auf der Straße oder warten in Afghanistan auf die versprochene Rettung (Pro Asyl, 2022). Hier wird sichtbar, dass die Regeln, nach denen jemand diese Schwellen überschreitet, über den Zugang zu rechtlich regulierten Arbeitsmärkten, zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen sowie zur rechtsstaatlichen Gewährleistung
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bürgerlicher Freiheiten entscheiden. Die »Fähigkeit und Möglichkeit zur Grenzüberschreitung« (Beck, 2007, S. 32) stellt eine entscheidende Dimension sozialer Ungleichheit in der globalen Welt dar. Grenzen erweisen sich als »institutionalisierte Gleichheits- und Ungleichheitsschwellen« (Stichweh, 2000, S. 69). Da es keine Verpflichtung von Staaten gibt, Asylsuchenden einen legalen Zutritt zu ihren Ländern zu verschaffen, sind die Außengrenzen ein wichtiger Ort, an dem sich Paradoxien zwischen einer universalistischen Menschenrechtsorientierung und nationalstaatlichen Interessen zeigen. Auf der innereuropäischen Seite der Grenze werden für unerwünschte Schutzsuchende Lager eingerichtet, die zur Entmutigung beitragen sollen und zugleich Teil einer innereuropäischen Abwehrsymbolik sind. Der EUAbgeordnete Erik Marquardt beschreibt, wie die Covid-19-Pandemieschutzmaßnahmen zur weiteren Entrechtung und Einschüchterung von Geflüchteten diesseits der europäischen Grenze genutzt wurden: »Anfang April 2020 wurde das Taschengeldprogramm auf Lesbos [in Griechenland, BB.] ausgesetzt, das Geflüchteten ermöglicht hatte, Essen und Hygieneartikel zu kaufen. Angeblich sei die Ansteckungsgefahr zu groß […]. Die ärztliche und humanitäre Versorgung wurde eingeschränkt, indem man einigen Hilfsorganisationen verbot, im Camp zu arbeiten – erneut wurde die Infektionsgefahr als Grund angeführt. Bei der Essensverteilung wurden die Rationen einfach in die Menge geworfen, und die Menschen mussten sich wie bei einer Tierfütterung darum prügeln. Moria und andere Lager durften nun von den Geflüchteten nicht mehr verlassen werden […]. Auch anderswo wurde die Pandemie instrumentalisiert […]. Malta und Italien schlossen ihre Häfen für Menschen, die aus Seenot gerettet wurden. Schiffe, die keine Seenotrettungsschiffe waren, konnten weiter ein- und ausfahren. Wochenlang fand die ›Alan Kuri‹ von Sea-Eye […] mit 150 Geretteten auf dem Mittelmeer keinen Hafen« (Marquardt, 2021, S. 144 f.). Darüber hinaus nehmen unrechtmäßige Vertreibungen derjenigen zu, die europäischen Boden betreten haben und denen damit eigentlich ein Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren zusteht. Der hierfür gängige Begriff des Pushbacks wurde 2021 zum Unwort des Jahres gewählt. Günter Burkhardt von der Geflüchtetenlobbyorganisation Pro Asyl sagte dazu in einem Radiointerview des Norddeutschen Rundfunks: »Es ist ein Alarmzeichen, dass an Europas Grenzen tausendfach Recht gebrochen wird, Menschen zurück in Boote geschickt werden, in Griechen-
Was bedeutet Fluchtmigration?
land auf dem Meer ausgesetzt werden oder in Polen zurückgeprügelt werden […]. Ein Schutzsuchender, beispielsweise aus Afghanistan, hat das Recht, an Europas Grenze einen Asylantrag zu stellen und zu sagen: Ich brauche Schutz. Das garantiert die EU-Grundrechte-Charta, die Menschenrechtskonvention, das Flüchtlingsrecht. Das wird verletzt, wenn die Grenzpolizei den Auftrag erhält, die Grenze dichtzumachen und Menschen wieder über die Grenze zurück zu verfrachten. Das ist ein Rechtsbruch, der aber von den EUStaaten im Zentrum Europas toleriert wird – also auch von Polen begannen, aber von Deutschland, Frankreich und anderen nicht angeprangert. Deswegen muss jetzt alles dafür getan werden, dass die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten der EU dieses Verhalten, etwa von Polen, Kroatien oder Griechenland, sanktionieren« (Norddeutscher Rundfunk, 2022). Um aus dieser Brutalitätsspirale herauszukommen, schlägt Marquardt (2021, S. 192) unter anderem die Abschaffung des sogenannten Dublin-Systems vor, nach dem eine einreisende Person in jenem Staat einen Asylantrag stellen muss, in dem sie erstmals europäischen Boden betreten hat. Dass dies gelingen kann, zeigt die Praxis im Umgang mit ukrainischen Schutzsuchenden seit Kriegsbeginn.
Dynamiken von Kontrolle und Entmündigung In der Sozialen Arbeit ist Kontrolle eine zur Profession gehörende Herausforderung. Die Gleichzeitigkeit von Hilfe und Kontrolle wird entsprechend als »doppelte[s] Mandat« (Böhnisch u. Lösch, 1973, S. 27) gelesen. Einerseits sollen Adressaten und Adressatinnen in ihrer Autonomie und Handlungsfähigkeit gestärkt werden. Andererseits bedarf es insbesondere im Kontext von Gewaltschutz und Kindeswohl auch einer Kontrollausübung. Die professionelle Haltung verlangt, sich des Dilemmas einer Gleichzeitigkeit von Hilfe und Kon trolle immer wieder bewusst zu werden, dies zu reflektieren und auszuhalten. Im Feld der Fluchtmigration stellt sich der Kontrollauftrag aber anders dar. Kontrolle ist hier ein Instrument der Überwachung ausländerrechtlicher Regelungen, die den innenpolitischen Teil der Grenzregimelogiken bilden. Dies ist nicht Teil der eigentlichen Arbeit von Sozialarbeit, Ehrenamt und psychosozialer Versorgung, wirkt aber in sie hinein. Besonders deutlich sind entmündigende Kontrolldynamiken in Erstaufnahmeeinrichtungen sowie in vielen sogenannten Gemeinschaftsunterkünften, die deutliche Elemente Totaler Institutionen (Goffman, 1973) aufweisen. Hierzu gehören:
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Ȥ ein tendenziell allumfassender Versorgungsanspruch der Einrichtung, Ȥ Beschränkungen und Kontrolle der Außenkontakte, Ȥ Verschränkungen der Lebensbereiche Schlafen, Arbeiten, Freizeit an einem Ort und unter den gleichen Autoritäten, Ȥ Unfreiwilligkeit der Teilhabe, Ȥ zeitlich gleich bleibende Durchstrukturierung des Tagesablaufs durch Autoritäten und durch festgelegte Regeln, Ȥ Summierung aller Tätigkeiten zu einem gemeinsamen Plan, dessen Ziel von der Institution und nicht von den Bewohnerinnen und Bewohnern bestimmt ist. 1
Je länger Menschen den Logiken einer Totalen Institution ausgeliefert sind, umso mehr wird ihre Lebensgestaltung von Fremdbestimmung beeinträchtigt. Dies gilt besonders für Schutz suchende Menschen, wenn sie aufgrund der Fluchtbedingungen sozial erschöpft sind (Lutz, 2014). Gerade für sie besteht die Gefahr, dass sie in eine Situation hineinwachsen, in der sie auf die angebotene Versorgung angewiesen sind. Dabei lassen sich folgende Dynamiken feststellen: Ȥ Die Unklarheit von Zuständigkeiten stärkt das Erleben von Willkür in einem undurchschaubaren System. Ȥ Die Vermischung von Versorgung, Kontrolle und Sanktionen führt zum Erleben von Machtlosigkeit. Ȥ Unzureichende Beratung im Spannungsfeld mehrdimensionaler und komplexer Problemlagen verstärkt das Gefühl von Unsicherheit (Behrensen u. Groß, 2004). Der durch das Entmündigungssystem produzierte Bedarf an Unterstützung kann von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen nur unzureichend erfüllt werden. In der Folge erhält nur eine kleine Gruppe von Bewohnerinnen und Bewohnern ein hohes Maß an Fürsorge, während ein größerer Teil deutlich schlechter versorgt wird. Das Ergebnis ist ein Teufelskreis der Entmündigung (siehe Abbildung 1). Mit Beginn der Covid-19-Pandemie wurden Erstaufnahmeeinrichtungen und sogenannte Gemeinschaftsunterkünfte in Deutschland zu gefährlichen Orten. Huke (2021) geht in 16 qualitativen Interviews mit Geflüchteten der Frage nach, wie sich die Lebensumstände in dieser Zeit verschärft haben. Die von Huke (2021) dargestellten Innensichten wiederholen, was eine umfängliche gesundheitswissenschaftliche Analyse von evidenzbasierten Daten plus Literatursichtung durch Hintermeier et al. (2021) im selben Jahr ergab. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich die schon vorher schwierigen Bedingungen zu psychosozialen Problemen verschärft haben. Räumliche Enge sowie fehlende Desinfektionsmittel
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Einschränkende Lebens- und Wohnbedingungen
Entmündigende und aufwendige Fürsorgeleistung für Minderheit
Mangel an selbstbestimmten Möglichkeiten der Lebensgestaltung
Pauschale Verwaltung der Mehrheit
Differenzierung der Schutzsuchenden entlang subjektiver Einschätzungen
Überforderung und Stress der im Flüchtlingsbereich Tätigen
Steigender Unterstützungsbedarf der Schutzsuchenden
Abbildung 1: Teufelskreis der Entmündigung von Behrensen auf Grundlage des Modells von Behrensen und Gross (2004)
trugen vielerorts zur Ausbreitung von Covid-19 bei. Die daraufhin angeordneten mehrwöchigen Quarantänen wirkten psychisch sehr belastend. Darüber hinaus sind seit Beginn der Covid-19-Pandemieschutzmaßnahmen die Bewohnerinnen und Bewohner noch stärker von der Aufnahmegesellschaft abgeschnitten. Vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren wurde und wird der Zugang mit Verweis auf den Covid-19-Pandemieschutz verweigert. Selbst der Zugang zu IuK-Technologien und kostenfreiem W-LAN ist eher die Ausnahme als die Regel.
Schluss und Ausblick Seit 2015 hat sich eine heterogene »Europäische Asylpolitik von unten« (Marquardt, 2021, S. 197) entwickelt. In der Internationalen Allianz der Sicheren Häfen haben sich Bürgermeister und Bürgermeisterinnen aus ganz Europa zusammengeschlossen, um sich öffentlich und verantwortlich für eine Aufnahme von Schutzsuchenden in ihren Kommunen einzusetzen (Internationale Allianz der Sicheren Häfen, 2021). Zivilgesellschaftliche Lokalgruppen weisen mit symbolträchtigen Aktionen auf das Leid an den europäischen Außengrenzen hin und fordern eine menschenwürdige Asylpolitik (Seebrücke, 2022). Ende 2021 verbreitete sich beispielsweise die aus dem polnisch-belarussischen Grenzgebiet stammende Aktion »Grünes Licht für Aufnahme« (Seebrücke, 2022). In der ursprünglich durch den Rechtsanwalt Kamil Syller initiierten Aktion ging
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es um mehr als um Symbolik. Er hatte an seine Nachbarn in der Grenzregion appelliert, mit einem grünen Licht in ihrem Haus ihre Bereitschaft zu signalisieren, Schutzsuchenden konkret mit Lebensmitteln, warmer Kleidung oder anderen Dingen zu helfen (Seebrücke, 2022). Während ich dies schreibe, lese ich von ganz konkreter zivilgesellschaftlicher Hilfe überall in Europa. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine öffnen Tausende Menschen ihre Wohnungstüren, um Schutzsuchende vorübergehend oder längerfristig bei sich zu Hause aufzunehmen (vgl. exempl. Reinig, 2022). Zeitgleich erreicht mich die E-Mail einer in Griechenland lebenden Freundin, die als Lehrerin einige in Athen gestrandete Menschen aus Afghanistan und Syrien kennengelernt hat und sie bei ihrer Zukunftsplanung unterstützt. Der Verein »Merhaba&Mahlzeit« (2022) schickt im Rahmen einer RamadanSpendenaktion Lebensmittelpakete nach Afrin, Nord-Syrien, nachdem die letzten Lieferungen nach Pakistan und Deutschland gingen. Diese unvollständige Liste weist auf neue Kräfte transnationaler Solidarität hin. Vielleicht entwickeln sich hier tragfähige Potenziale für eine Metamorphose der Welt (Beck, 2016). Für die soziale und psychosoziale Arbeit ist es in diesem Zusammenhang wichtig, sich der vielen Dimensionen von Ungleichheit immer wieder bewusst zu werden, sie alle gleichermaßen ernst zu nehmen und nicht gegeneinander auszuspielen. Schließlich gilt es zu berücksichtigen, dass auch im globalen Norden »Lebenschancen« (Weber, 1922) wieder zunehmend ungleich verteilt sind, weil erkämpfte Arbeitnehmerrechte und wohlfahrtsstaatliche Instrumente seit Jahrzehnten abgebaut (Castel, 2000) werden. Auch weltweit haben ungleiche Vermögensverteilung und Armut wieder zugenommen (Piketty, 2020). Entsprechend notwendig ist es für Fachkräfte und Ehrenamtliche im Feld der Fluchtmigration, Zugänge zu Ressourcen, Macht und ökonomischen Möglichkeiten in ihrer Komplexität und in ihren gewaltförmigen Folgen zu reflektieren. Dies verlangt eine über die psychosoziale Arbeit hinausgehende Bereitschaft, Ungleichheit und Gewalt als politisches und gesellschaftliches Problem anzuerkennen, das in die eigene Arbeit hineinwirkt. Wo dies gelingt, kann die eigene Ohnmacht durch transnationale Solidarität in Stärke verwandelt werden.
Literatur Beck, U. (2007). Weltrisikogesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beck, U. (2016). Die Metamorphose der Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Behrensen, B., Groß, V. (2004). Auf dem Weg in ein »normales Leben«? Eine Analyse der gesundheitlichen Situation von Asylsuchenden in der Region Osnabrück. Osnabrück: Eigenverlag.
Was bedeutet Fluchtmigration?
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Maximiliane Brandmaier/Eben Louw
Rassismus – Trauma – Flucht: Grundlagen für eine rassismussensible Beratung und Therapie
Rassismus – blinder Fleck trotz langer Geschichte? Rassismus hat seinen Ursprung im ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert, als pseudowissenschaftliche Theorien Auftrieb bekamen, welche Menschen durch eine hierarchische und unveränderbare Kategorisierung in biologische »Rassen« unterteilten. Diese Theorien trugen dazu bei, dass Weißen in der Folge Herrschafts- und Machtansprüche sowie Privilegien legitimiert und gesichert wurden, und bildeten ein zentrales Instrument des Kolonialismus. Hinter biologisch-wissenschaftlichen Begründungen standen somit im Grunde sozioökonomische Herrschaftsinteressen. Susan Arndt (2017) versteht Rassismus daher auch als »white supremacy, eine weiße Herrschaftsform« (S. 34). Obwohl die Unterteilung von Menschen in »Rassen« seit Langem auch wissenschaftlich widerlegt ist, wirken die Ideen unterschwellig hartnäckig in der Gesellschaft fort: »Mit der Konstruktion ›Rasse‹ wird zwischenmenschliche Differenz in den Körper eingeschrieben, unveränderlich, essentiell« (Tißberger, 2013, S. 9). Die Ausprägungen von gegenwärtigem Rassismus sind ohne ihren soziohistorischen Kontext schwer zu verstehen (zur weiterführenden Lektüre sind zu empfehlen: Arndt, 2021; Fredrickson, 2011). Die ideologische Besonderheit von Rassismus in Deutschland ist die historisch bedingte Verstrickung mit Massenvernichtung und Völkermord. Es ist bezeichnend, dass in Deutschland das starke Bedürfnis, sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit zu distanzieren, der Reflexion des eigenen rassistischen Handelns und Denkens sowie der Anerkennung und dem Sichtbarmachen von strukturellem Rassismus im Wege steht (vgl. auch Ogette, 2017, S. 87). In Deutschland besteht zudem eine besondere Verknüpfung von Weiß- und Deutsch-Sein als konstruierter ethnischer Gruppe mit einem Anspruch auf Exklusivität in der gemeinsamen Sprache – und häufig eine Verleugnung von Rassismus. Rassismus ist auch in der Psychotherapie nach wie vor weitgehend ein »blinder Fleck«, wie die Psychotherapeutin Lucía Muriel 2020 in einem Interview mit
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der »Zeit« kritisierte (Muriel, 2020). Um rassistische Erfahrungen angemessen verstehen und validieren zu können, helfen Theorien von Alltagsrassismus und Mikroaggressionen, die zu Beginn dieses Beitrags vorgestellt werden. Welche Auswirkungen Rassismus und Diskriminierung auf die Gesundheit haben können, zeigt ein Blick in internationale Forschungsliteratur. Einige Befunde werden hier dargestellt, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Anschließend werden Voraussetzungen für rassismussensible beraterische und therapeutische Kontexte skizziert, deren Grundlage die unbedingte Bereitschaft zur Selbstreflexion und Anerkennung bildet, nicht nur auf individueller, sondern auch auf institutioneller Ebene. 1
Formen des Rassismus Studien im deutschsprachigen Raum zeigen, dass Geflüchtete häufig Ablehnung oder Diskriminierung erfahren und sich als unerwünscht erleben (Johansson, 2016), besonders wenn sie als solche »erkennbar« beziehungsweise markiert sind, wie z. B. durch die Unterbringung in Sammelunterkünften vor allem im ländlichen Raum (Brandmaier, 2019; Pieper, 2008; Täubig, 2009). In der Sozialpsychologie wird Rassismus häufig betrachtet als eine spezifische, extreme Form des Vorurteils, das negative Einstellungen gegenüber Mitgliedern einer ethnisch oder kulturell »fremden« Gruppe beinhaltet (Yalçin, 2015). Rassismus kann auch als organisiertes System von Privilegien und Biases sowie eine Form der Intergruppenreaktion (inklusive Gedanken, Gefühlen, Verhalten) verstanden werden, das eine Gruppe systematisch bevorteilt und eine andere Gruppe aufgrund ihrer äußerlichen ethnischen Merkmale (vor allem der Hautfarbe) benachteiligt. Wenn soziale Kategorien »rassifiziert« werden – z. B. aufgrund ihrer physischen Merkmale, Ethnizität oder Religion – so attribuieren Personen wahrgenommene Charakteristika auf genetisch vererbbare Merkmale. Dabei spiegeln rassistische Überzeugungen kulturell geteilte Überzeugungen wider, dass Gruppen race-basierte Charakteristika innehaben, die allgemein für ihre Mitglieder gelten, und dass diese wahrgenommenen vererbten ethnischen Charakteristika für die Unterlegenheit einer Fremdgruppe verantwortlich sind. Rassismus beinhaltet darüber hinaus nicht nur negative Einstellungen und Überzeugungen, sondern auch die soziale Macht, andere Gruppen zu benachteiligen oder die eigene Gruppe auf Kosten der anderen zu bevorteilen (Dovidio, Gaertner u. Kawakami, 2013). Ethnische und kulturelle Merkmale sind dabei an sich schon als Konstruktion zu begreifen. Denn ein grundlegender sozialpsychologischer Prozess bei
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Rassismus besteht in der Konstruktion von »wir« und »die Anderen«, die mit einer Abwertung der »Anderen« einhergeht, indem diesen bestimmte Merkmale zugeschrieben werden. Dieser Prozess wird auch als Othering bezeichnet, in dem Menschen mit – tatsächlichen oder vermeintlichen – nicht weißen Biografien und Merkmalen als »anders«, als nicht normal positioniert werden (Polat, 2017). Othering fand bereits als Folge der Ausübung von westlicher Macht und Normalisierung und im kolonialen Kontext statt (Hooks, 1992). Die zum Objekt gemachten Menschen erleben sich selbst dadurch auch als »anders«, was erste Hinweise auf die psychischen Folgen von Othering geben kann. Möglicherweise stellt der Prozess des »Otherings« eine zusätzliche Hürde für Geflüchtete und ihre Nachkommen dar, sich als »deutsch« und Teil der deutschen Gesellschaft zu verstehen. Gewissermaßen bedeutet dies ein »ewiges anders sein« und die Unmöglichkeit, den Status quo, die Homogenität des Deutschseins, zu durchbrechen. Offene Formen von Rassismus sind mittlerweile subtileren Formen gewichen. In der Sozialpsychologie werden meist vier Formen des modernen Rassismus genannt: symbolischer, moderner, ambivalenter und aversiver Rassismus (Yalçin, 2015). Die sozialpsychologische Forschung zielt mithilfe von computergestützten Messmethoden wie dem »Implicit Association Test« darauf, rassistische Einstellungen zu erfassen. Es gelingt mit diesem individualistischen Fokus auf Einstellungen jedoch nicht, die strukturelle Dimension des modernen Rassismus zu begreifen. Rassismus speist sich auch nicht nur aus Vorurteilen (vgl. Banaji u. Greenwald, 2015), sondern umfasst auch gesellschaftliche Diskriminierungen, wie geringere Teilhabechancen oder einen geringeren Zugang zu Ressourcen. Und, wie Birgit Rommelspacher (2009) treffend anmerkt: »Entscheidend für den modernen Rassismusbegriff ist jedoch die Frage, ob mithilfe naturalisierter Gruppenkonstruktionen ökonomische, politische und kulturelle Dominanzverhältnisse legitimiert werden« (S. 27). Neben der Tendenz, dass Rassismus mehrheitlich subtil zum Ausdruck kommt, verlagert sich auch der Gegenstand des Rassismus zunehmend. So wird im kulturalistischen Rassismus statt von »Rassen« eher von Ethnie, Kultur, Volk und Nation gesprochen (Balibar, 2006; Hall, 2014, 2016). Fereidooni und El (2017) verorten die Entwicklung von Neorassismus beziehungsweise Kulturrassismus im »Nachgang von Nationalsozialismus und beginnender Entkolonialisierung« (Fereidooni u. El, 2017, S. 15). Statt mithilfe »biologischer Rassen« würden mithilfe von Unterscheidungskategorien höher- beziehungsweise minderwertige Kulturen ausgemacht sowie die »Unvereinbarkeit von Kulturen« postuliert. Rommelspacher (2009) spricht hier von der Etablierung eines »Zugehörigkeitsregimes« (S. 31). Als »rassismusrelevante Unterscheidungsmerkmale des Neo-Rassismus« (Fereidooni u. El, 2017, S. 15) dienen z. B. Religion und deren äußerliche Manifes-
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tationen in Kleidung und Essensvorschriften, Sprache sowie Staatsangehörigkeit. Rommelspacher (2009) definiert Rassismus folgendermaßen:
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»Zusammenfassend können wir Rassismus also definieren als ein System von Diskursen und Praxen, die historisch entwickelte und aktuelle Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren. Rassismus im modernen westlichen Sinn basiert auf der ›Theorie‹ der Unterschiedlichkeit menschlicher ›Rassen‹ aufgrund biologischer Merkmale. Dabei werden soziale und kulturelle Differenzen naturalisiert und somit soziale Beziehungen zwischen Menschen als unveränderliche und vererbbare verstanden (Naturalisierung). Die Menschen werden dafür in jeweils homogene Gruppen zusammengefasst und vereinheitlicht (Homogenisierung) und den anderen als grundsätzlich verschieden und unvereinbar gegenübergestellt (Polarisierung) und damit zugleich in eine Rangordnung gebracht (Hierarchisierung). Beim Rassismus handelt es sich also nicht einfach um individuelle Vorurteile, sondern um die Legitimation von gesellschaftlichen Hierarchien, die auf der Diskriminierung der so konstruierten Gruppen basieren. In diesem Sinn ist Rassismus immer ein gesellschaftliches Verhältnis« (S. 29). Für die Arbeit mit Betroffenen von Rassismus sind Theorien des Alltagsrassismus von besonderer Relevanz, welche auf der Grundlage von (qualitativer) Forschung mit Betroffenen entwickelt wurden. So entwickelte Philomena Essed in ihrer qualitativen Studie »Understanding Everyday Racism« eine interdisziplinäre Theorie des Alltagsrassismus. Nach Essed (1991) »infiltrieren« rassistische Praktiken das Alltagsleben, kumulieren sich durch ihre ständige Wiederholung und werden so Teil dessen, was die dominante Gruppe als »normal« bewertet. Die in ihrer konkreten Ausgestaltung sehr heterogenen Praktiken einen sich in ihrer Wiederholung damit zur Erfahrung des Alltagsrassismus. Essed (1991, S. 288 ff.) arbeitete drei fundamentale Mechanismen heraus: a) Marginalisierung: Die Aufrechterhaltung des Status quo der dominanten Normen und Werte verhindert oder erschwert den Fortschritt beziehungsweise das Vorankommen der marginalisierten Personen. b) Rationalisierung dieser Prozesse durch die Problematisierung der Erfahrungen der Betroffenen und ihrer sozialen Realität, ihrer kulturellen Erfahrungen und ihrer sozialen und intellektuellen Qualifikationen. Sie werden von der dominanten Gruppe ständig als inkompetenter wahrgenommen. c) Einschüchterung, Paternalismus, Assimilationsdruck, kulturelle Isolation, allgemeines Leugnen von Rassismus gehören zu den eingrenzenden Strategien der dominanten Gruppe – und verhindern Widerstand.
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Eine von Esseds Hauptthesen ist, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen strukturellem und individuellem Rassismus unzureichend ist und die (Re-)Produktion von rassistischer Ungleichheit in der Gesellschaft nicht erklären kann, wohingegen das Konzept des Alltagsrassismus rassistische Mikroerfahrungen sowie die strukturellen und ideologischen Kontexte, in denen sie auftreten, verbindet. Für den deutschsprachigen Raum legten unter anderem Astride Velho (2015) und Dileta Fernandes Sequeira (2015) qualitative Studien zu Alltagsrassismus vor. Wie Derald W. Sue et al. (2007) feststellten, sind fast alle Interaktionen zwischen Weißen und People of Color anfällig für Mikroaggressionen, die sowohl verbale Äußerungen als auch Verhalten oder Umweltbedingungen umfassen, welche People of Color in ihrem Alltagsleben – gleich ob absichtlich oder unbeabsichtigt – erniedrigen, beleidigen oder demütigen. Mikroaggressionen bedeuten eine Bedrohung des biologischen oder psychologischen, des emotionalen, kognitiven oder sozialen Wohlergehens oder des sozialen Status beziehungsweise der Position in der Gesellschaft. Sue et al. (2007; Sue, 2010) unterscheiden dabei zwischen Mikrobeleidigungen, Mikroangriffen und Mikroinvalidierung (siehe Abbildung 1). Rassistische Mikroaggressionen:
Alltägliche rassistische Beleidigungen oder Demütigungen, ob intentional oder nicht intentional, die feindselige, abfällige oder negative rassistische Kränkungen und Beleidigungen transportieren
Mikrobeleidigung
(„micro-insult“) – oft unbewusst (Non-)Verbale Bemerkungen oder Kommentare, die grob oder unhöflich sind, und welche das kulturelle Erbe oder die Identität einer Person rassistisch erniedrigen
Mikroangriff
(„micro-assault“) – oft bewusst
Explizite rassistische Beeinträchtigungen, primär charakterisiert durch einen gewaltsamen oder nicht gewaltsamen Angriff, der das Opfer verletzen soll, z. B. durch bestimmte Bezeichnungen („name-calling“), vermeidendes Verhalten oder absichtliche Diskriminierung
Zuschreibung von Intelligenz: Einer PoC Intelligenz zuschreiben aufgrund ihrer ethnischen Herkunft Bürger*innen zweiter Klasse: Als eine Person behandelt werden, die weniger wert ist Kulturelle Werte oder Kommunikationsstile pathologisieren: Überzeugung, dass Werte oder Kommunikationsstile von PoC nicht normal sind Annahme von Kriminalität: Angenommene Kriminalität, Devianz oder Gefährlichkeit aufgrund der ethnischen Herkunft/race
Mikroaggressionen auf gesellschaftlicher Ebene
Rassistische Angriffe, Beleidigungen und Invalidierungen, die sich auf systemischer/struktureller und Umweltebene manifestieren
Mikroinvalidierung
(„micro-invalidation“) – oft unbewusst Verbale Kommentare oder Verhalten, das Gedanken, Gefühle oder die Erfahrungen einer PoC ausschließt, negiert oder für nichtig erklärt
Fremde im eigenen Land: Überzeugung, dass Angehörige von „racial“ oder ethnischen Minderheiten Ausländer*innen sind Farbenblindheit: Behauptung einer weißen Person, sie würde die Hautfarbe oder race nicht sehen/wahrnehmen Mythos der Leistungsgesellschaft Behauptungen, dass race keine Rolle spielt für Erfolg Leugnung von individuellem Rassismus Leugnung von persönlichem Rassismus oder der eigenen Rolle in dessen Aufrechterhaltung
Abbildung 1: Kategorien und Beziehungen zwischen rassistischen Mikroaggressionen (Sue et al., 2007, S. 278; Übersetzung durch die Autor*innen)
Das Konzept der Mikroaggressionen legt besonderen Wert auf die subtilen und wenig sichtbaren Formen des Alltagsrassismus. Lediglich die Mikroangriffe (»microassaults«) bilden intentionale verbale oder physische Angriffe ab. Später
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erweiterte Sue (2010) das Konzept der Mikroaggressionen auch auf Diskriminierung aufgrund von Gender oder sexueller Orientierung. Mikroaggressionen lösen Stress beziehungsweise Belastung aus und haben damit Folgen für die körperliche und psychische Gesundheit. Laut Sue (2010) kann dies auf biologischer Ebene direkte physiologische Reaktionen (Blutdruck, Herzrate etc.) oder Veränderungen im Immunsystem nach sich ziehen; auf kognitiver Ebene können (potenziell selbstwertbedrohliche) Bewertungsprozesse in Gang gesetzt werden, die Gedanken und Überzeugungen zur Bedeutung des Stressors beinhalten; auf emotionaler Ebene können dauerhaft Wut, Ärger, Angst, Depression oder Hoffnungslosigkeit die unmittelbaren Lebensumstände der Person dominieren; und auf Verhaltensebene können Bewältigungsstrategien oder Reaktionen, die das Individuum anwendet, entweder die Anpassung an die gegenwärtigen Umstände erhöhen oder die Situation verschlimmern. Personen, von denen Mikroaggressionen ausgehen, sind sich dessen häufig nicht bewusst. Auch Rommelspacher (2009) betont, dass die Absicht einer Handlung (oder die Nichtabsicht von Diskriminierung) nicht mit den Folgen der Handlung gleichzusetzen ist. Eine Person kann also durchaus rassistisch diskriminieren, auch wenn sie es nicht will. So kommt es nicht selten vor, dass Personen, die mit den eigenen rassistischen Praktiken konfrontiert werden, sich selbst als Opfer sehen und die wirklich Betroffenen in ihrer Erfahrung invalidiert werden: »Dem Anderen wird gewissermaßen nicht erlaubt, dies als eine Diskriminierung zu empfinden. Was Diskriminierung ist, bestimme ich! Mit diesem Motto wird Anerkennung verweigert. Dem Anderen wird eine eigene Perspektive nicht zugestanden, womit wiederum die geringere Bedeutung des Anderen unterstrichen, also seine geringere symbolische Macht bestätigt wird« (Rommelspacher, 2009, S. 32). Interessant an dem Konzept ist zudem, dass in dessen Entstehung nicht nur sozialpsychologische Forschungsliteratur herangezogen wurde, sondern auch Berater*innen/Therapeut*innen (sowohl Persons of Color als auch Weiße) zu ihrem Erkenntnisweg bezüglich Rassismus und Kultur befragt wurden. So diskutieren Sue et al. (2007), wie Mikroaggressionen die Interaktionen in der Dyade weiße*r Berater*in und Klient*in of Color in der Entwicklung einer therapeutischen Allianz beeinträchtigen können. Mikroaggressionen können laut Sue (2010) nur in dem Kontext verstanden werden, in dem die Verletzungen entstehen – vor dem Hintergrund langjähriger eigener Diskriminierung und historischer Exklusions-, Herrschafts- und Diskriminierungspraktiken sowie unter Berücksichtigung der subjektiv wahrgenommenen Bewältigungsmöglichkeiten.
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Psychische und körperliche Folgen von (Alltags-)Rassismus Laut Amma Yeboah (2017) sind die Erfahrungen von Rassismus traumatogen: »Die Botschaft lautet in jedem Fall: Du gehörst nicht in diesen sozialen Resonanz raum. Du bist (sozial) tot. Diese Botschaft ist ein Akt der Gewalt. Jede Erfahrung, aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen zu werden, ist eine Gewalterfahrung und kann traumatisch wirken« (S. 147). Vermehrt kommen Wissenschaftler*innen zu dem Schluss, dass Rassismus in das Spektrum traumatischer Erfahrungen einzuordnen ist (Carter, 2007; Helms, Nicolas u. Green, 2012; Kilomba, 2010; Kirkinis, Pieterse, Martin, Agiliga u. Brownell, 2021), und dies nicht nur in Folge von rassistischen körperlichen Übergriffen oder Brandanschlägen, sondern eben auch durch die oben dargestellten Erfahrungen von Alltagsrassismus und Diskriminierung: »Die Anerkennung einer Traumatisierung durch Rassismus bleibt bisher unterbelichtet und ist zugleich als ein elementarer Bestandteil von Traumatisierung durch Rassismus zu sehen: die Nicht-Thematisierbarkeit der Betroffenen und die Verleugnung von Rassismus in der Alltagspraxis. Gerade die Schwierigkeit, Rassismus zu identifizieren, ist nicht nur funktional für Rassismus, sondern Teil des Rassismus« (Schulze, Loch u. Gahleitner, 2012, S. 44). Grundlage sowohl für die gesellschaftliche Debatte als auch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Alltagsrassismus und Gesundheit bildet meist Literatur und Forschung aus dem englischsprachigen Raum, wobei vereinzelt auch Übersichtsartikel aus dem deutschsprachigen Raum verfügbar sind. So geben Kluge, Aichberger, Udeogu-Gözalan und Abdel-Fatah (2020) einen Überblick zu Rassismusdiskursen in Forschung und Praxis im Gesundheitsbereich und stellen den Forschungsstand zu individuellen und institutionellen Auswirkungen von Rassismus und Diskriminierung auf die psychische Gesundheit dar. Zugleich wird Kritik am Gesundheitssystem aufgegriffen, indem erörtert wird, welche rassismuskritischen Transformationsprozesse in der psychiatrischpsychotherapeutischen Regelgesundheitsversorgung notwendig sind, um eine gleichberechtigte Teilhabe von Betroffenen von Diskriminierung und Rassismus zu ermöglichen. Internationale Studien zu alltäglichem Rassismus und (wahrgenommener) Diskriminierung belegen hinreichend negative Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit. Laut einer Metaanalyse beeinträchtigt wahrgenommener Rassismus nicht nur die Lebensqualität und das Selbstbewusstsein, sondern erhöht vor allem die psychische Belastung und körperliche Beschwer-
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den und beeinflusst die Ausprägung ängstlicher, depressiver und anderer psychischer Symptome (Pieterse, Todd, Neville u. Carter, 2012). Durch Kumulation der akuten und dauerhaften Stressbelastung können Veränderungen in neuroendokrinen und autonomen Systemen erfolgen. Studien mit Migrant*innen, Asylsuchenden und Geflüchteten zeigten, dass (wahrgenommene) Diskriminierung oder Rassismus das Risiko für PTBS und andere Traumafolgestörungen, affektive und Angststörungen, risikohafte Lebensgewohnheiten beziehungsweise Substanzmittelkonsum, körperliche Symptome wie z. B. Bluthochdruck, kardiovaskuläre Krankheiten, Verdauungs- oder Atemwegsbeschwerden erhöhen und ganz allgemein zu einer erhöhten psychischen Belastung beziehungsweise einer Beeinträchtigung des Gesundheitszustands führen. Struktureller Rassismus – wie ein eingeschränkter Zugang zu Gesundheitsleistungen oder Diskriminierung im Gesundheitssystem, soziale Exklusion, Arbeitsverbote oder Diskriminierung am Arbeitsmarkt und damit ein schlechterer sozioökonomischer Status etc. – hat indirekte Effekte auf die psychische und körperliche Gesundheit. Der Zugang zu Bewältigungsressourcen ist oft durch den Verlust sozialer Netzwerke in Folge der Migration sowie psychische Traumafolgen beeinträchtigt, die Belastung durch Postmigrationsstressoren wie geringe soziale Unterstützung, sozioökonomische Belastung etc. kann durch (wahrgenommene) Diskriminierung verstärkt werden (für einen Überblick über aktuelle Studien und Quellen siehe Brandmaier, 2019, S. 146 ff.; Kluge et al., 2020).
Voraussetzungen einer rassismussensiblen Therapie und Beratung Die therapeutische Beziehung ist bekanntermaßen einer der wichtigsten Wirkfaktoren in der Psychotherapie. Ausgehend von der Annahme, dass rassistische Stereotype und Vorurteile Teil der Sozialisation ab dem frühen Kindesalter sind,1 spielen die oben genannten Mechanismen des Alltagsrassismus immer eine Rolle in professionellen Beziehungen, vor allem in der häufigen Konstellation weiße*r Therapeut*in/Berater*in und Klient*in of Color. Besonders herausfordernd für Klient*innen wird es dann, wenn sie den Eindruck bekommen, der*die Therapeut*in/Berater*in hat Vorurteile oder versteht ihre von Rassis1 Rassistische Stereotype und Vorurteile können von Betroffenen auch verinnerlicht werden, wobei davon auszugehen ist, dass es einen Unterschied macht, ob die primäre Sozialisation in einem Land stattgefunden hat, in dem die betroffene Person zur Mehrheit oder zur Minderheit gehörte. Für einen Überblick zu internalisiertem Rassismus siehe David, Schroeder und Fernandez (2019).
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mus und Ausgrenzung geprägte Lebensrealität nicht. Subtile und dennoch häufige Beispiele sind z. B. die Hervorhebung kultureller Unterschiede (real oder imaginiert), durch welche Klient*innen zu »anderen« gemacht werden, die unreflektierte Verwendung der Anredeform »du«, welche ein Machtgefälle konstruiert, oder eine fehlende Bereitschaft, sich die Mühe zu geben, Nachnamen korrekt auszusprechen (vgl. Louw u. Schwabe, 2021). Wie es für Mikroaggressionen charakteristisch ist, werden diese von den Betroffenen als belastend erlebt, während sie sich gleichzeitig gezwungen sehen, zu entschlüsseln, ob der Affront absichtlich erfolgte oder nicht und wie sie darauf reagieren sollen. Um in dem therapeutischen/beraterischen Setting eine Atmosphäre zu schaffen, in der diese Lebensrealitäten nicht infrage gestellt werden und ein Raum entstehen kann, in dem Klient*innen vor erneuten Rassismuserfahrungen innerhalb einer professionellen Beziehung geschützt werden, bedarf es eines Reflexionsprozesses seitens der Therapeut*innen/Berater*innen. Zu den Voraussetzungen einer rassismussensiblen Therapie und Beratung gehören (vgl. Louw u. Schwabe, 2021, S. 72 ff.): Ȥ die Berücksichtigung des historischen und kumulativen Charakters rassistischer Lebensereignisse, Ȥ die Anerkennung, dass Betroffene Rassismus erleben und dass sie dadurch psychische Folgen haben, Ȥ die genaue Einschätzung der Resilienz der Klient*innen, Ȥ je nach Indikation die Anwendung von Interventionen zur Stärkung der grup penbezogenen Identität (»racial identity«), Ȥ die Verknüpfung von selbstwertstärkenden Interventionen mit Empowerment ansätzen, Ȥ die Weiterbildung und Erweiterung des Wissens über Rassismus, konstruktive Interaktion und individuelle und gemeinsame Reflexion der Behandelnden zum Thema Rassismus. Neben Überlegungen zu rassismussensibler Gesprächsführung und Interventionen ist es auch notwendig, Diagnostik- und Anamneseinstrumente rassismuskritisch zu reflektieren (vgl. Louw u. Schwabe, 2021). Auch die Dachorganisation der Psychosozialen Zentren für Geflüchtete in Deutschland BAfF beschäftigt sich in einem internen Diskussionsprozess und mit einer Publikation (Teigler u. Krebs, 2020) mit dem Thema. Bereits auf der Ebene der Aus-, Fort- und Weiterbildung kann Sensibilität für das Thema Rassismus und für die Reflexion eigener Privilegien sowie eigener Betroffenheit mit dem Thema erzeugt werden. Hierzu gehört die Schaffung eines fehlerfreundlichen Raums, in dem sowohl eigene Ausgrenzungserfahrungen
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Platz haben als auch die Gefühle, die bei einer Konfrontation mit dem Thema Rassismus hervorgerufen werden. Weitere Inhalte umfassen Kenntnis über rechtliche Aspekte zu Diskriminierung sowie Anlaufstellen, aber auch ein differenziertes Wissen über Folgen von Rassismus und über Traumatisierung, um Kulturalisierungen vorzubeugen (Louw u. Schwabe, 2021). Struktureller Rassismus als gesellschaftliches Problem wirkt in zwischenmenschliche und auch professionelle Beziehungen hinein, lässt sich aber nicht (nur) auf individueller Ebene lösen – und auch Institutionen können (ungewollt) rassistische Strukturen reproduzieren. Um den Weg dahin zu schaffen, innerhalb der eigenen Institution frei von Rassismus und Diskriminierung zu sein, sind daher grundlegende Reflexionsprozesse und Positionierungen sowie die Bereitschaft, sich und die eigene Praxis zu hinterfragen, auch auf institutioneller Ebene notwendig. Hierzu gehört z. B. die Frage, ob alle Menschen – egal ob Bewerber*innen, Klient*innen, Fachkräfte – dieselben Chancen haben, Teil der Institution zu sein, sowie die Frage, ob die in der Institution beschäftigten Fachkräfte die Diversität in der Gesellschaft abbilden. Vor dem Hintergrund struktureller Ungleichheiten im Bildungssystem ist dies eine Herausforderung, gerade deshalb ist es aber wichtig, dies besonders bei Bewerbungsprozessen im Hinterkopf zu behalten. Auch bei Prozessen im Arbeitsalltag wie z. B. der Gestaltung der Sprachmittlung und der Auswahl von Fachkräften für einen beraterischen oder therapeutischen Prozess können Hierarchien und Machtverhältnisse berücksichtigt werden (vgl. Louw u. Schwabe, 2021, S. 65 u. S. 98). Vorsicht geboten ist jedoch bei einfachem cultural matching2 – eine Möglichkeit wäre es z. B., die Vielfalt innerhalb der Institution so zu fördern, dass eine Atmosphäre entsteht, in der cultural matching auf Wunsch der Klient*innen gewährleistet werden kann. Auf der institutionellen Ebene bedarf es seitens der Träger nicht nur einer klaren Positionierung gegen Rassismus und Diskriminierung nach außen, sondern auch einer kritischen Prüfung der eigenen Arbeitskonzepte und Leitlinien. Auch die Reflexion des Umgangs mit mandatswidrigen Aufträgen, die zur Aufrechterhaltung diskriminierender Strukturen beitragen, gehört dazu. Für die einzelnen Mitarbeitenden ist hierfür eine klare Haltung des Trägers notwendig, wenngleich auch individuell reflektiert werden kann, ob die Annahme von Aufträgen ethisch vertretbar ist oder menschenrechtlichen Standards entspricht (vgl. Brandmaier u. Friedmann, 2019, S. 91 f.). Die Forderung nach einer stärkeren Integration von Asylsuchenden und Geflüchteten in die psychosoziale und psychotherapeutische Regelversorgung 2 Cultural matching bedeutet, dass Beratung, Therapie oder Sprachmittlung durch eine Person aus demselben Herkunftsland/derselben Kultur durchgeführt wird.
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zielt auch darauf ab, strukturelle Ungleichheiten im Zugang zu sozialen und gesundheitlichen Hilfen abzubauen. Zugleich leisten die Psychosozialen Zentren mit ihrem integrierten psychosozialen Behandlungsangebot eine umfassende Versorgung, die in dieser Form kein Bestandteil der Regelgesundheitsversorgung ist (vgl. Brandmaier, Göbel, Saile u. Schneck in diesem Band).
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Täter:innenschaft: Herausforderungen im Kontext von Krieg und Flucht
Einleitung Es gibt keine einfachen Antworten auf die Frage, wie ganz normale Menschen in äußerst prekären sozialen und gewaltförmigen gesellschaftlichen Kontexten selbst zum Täter oder zur Täterin werden. Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen forschen dazu, was diese Prozesse begünstigt, und versuchen Erklärungen zu geben, wie dieser gesellschaftliche, moralische und individuelle Verfall in Zeiten eines Krieges oder lokaler Konflikte zu erklären wäre. Spätestens im Zuge der Auseinandersetzung mit den psychischen Folgen des Zweiten Weltkrieges entstand ein Bewusstsein dafür, dass es offenbar mehrere Generationen benötigt, die traumatischen Erfahrungen und Prägungen zu bearbeiten und zu transformieren, sowohl für die Opfer als auch für die Täter:innen. Der Psychoanalytiker Michael Wolf geht von drei Generationen aus, die für die Überwindung von schweren psychischen Traumata notwendig sind. Die erste erlebt das Trauma, die zweite leidet darunter mit oder verleugnet es und transportiert es weiter als latentes Introjekt auf die dritte Generation, die dann möglicherweise den inneren Raum und die notwendige gesellschaftliche Unterstützung hat, es zu überwinden (Wolf, 2017). Die bisherigen empirischen Beobachtungen haben aber etwas gemeinsam – die traumatisierten Generationen selbst hatten äußerst selten Zugang zur Bearbeitung der eigenen Traumata. Die Anerkennung sowohl eigener als auch kollektiver Kriegstraumata wurde lange äußerst tabuisiert oder schlichtweg ignoriert. Einige Kontroversen und Tabuisierungen, besonders bezüglich Täter:innenschaft und Kampfhandlungen, wie auch Traumatisierungen, die sowohl erlitten als auch verschuldet wurden, bleiben jedoch weiterhin bestehen. Unwiederbringlich bleibt der größte Teil der Täter:innengeschichten von Menschen, die sich im Laufe ihres Lebens im Kontext von Krieg schuldig gemacht haben, verloren. Sie verschwinden nicht nur im Schweigen der Opfer, sondern vor allem im Schweigen der Täter:innen oder derjenigen, die gezwungenermaßen im
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Krieg töten mussten. Sie alle hatten nie einen selbstverständlichen gesellschaftlichen Raum zur Verfügung, in dem sie sich mit ihren Taten und deren Folgen für sich selbst und die anderen frei auseinandersetzen konnten. Die gesellschaftlichen Hindernisse, solche Räume zu schaffen und zu steuern, sind vielfältig. Eines dieser Hindernisse ist die Bildung einer belasteten Identität für den Täter:die Täter:in. Diese wird ihm:ihr sowohl subjektiv als auch gesellschaftlich eine »normative Bedeutung« verleihen. Diese Identität wird durch die verschiedenen Vorstellungen hinsichtlich des Handelns, der Gefühle, der moralischen Haltung und des praktischen Lebens wahrgenommen und damit unweigerlich, wie jede andere Gruppenidentität, zur Klischeebildung, Stigmatisierung und dem Wunsch nach Abgrenzung und Distanzierung führen (Appiah, 2019). Ein weiteres Hindernis ist die Neigung der Menschen, ihr eigenes Selbstgefühl und Selbstbild zu entwickeln, in dem sie sich mit allen möglichen Prägungen wie Herkunft, Religion, Geschlecht, Beruf und einigen Erfahrungen, die sie geformt haben, identifizieren, aber nicht gern mit den Lebenssituationen, in denen sie selbst Täter:in wurden. Die Verleugnung der Täter:innenanteile führt sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene zu einer Perpetuierung der Umstände. Die Leugnung unserer Fähigkeit, etwas Böses zu tun oder getan zu haben, könnte sogar eine der Grundlagen unseres Daseins sein, meint der amerikanische Psychologe Steven Pinker (2013), jedoch erst die bewusste individuelle und gesellschaftliche Akzeptanz dessen und tiefere Einsichten darin, wie wir Gewalt in verschiedenen Situationen legitimieren, können zu mehr Verantwortung einer Gesellschaft gegenüber dem Einsatz der eigenen zerstörerischen Kräfte führen.
Krieg und Töten Die meisten Menschen möchten keinesfalls in einen gewalttätigen Konflikt hineingezogen werden, in dem sie töten müssten, ohne dies moralisch sich selbst und der Umgebung gegenüber vertreten zu können. In extremen Situationen werden das Moralempfinden und die Wertenormen den situativen Änderungen angepasst. Die höchste und reifste Ebene moralischen Urteilens wird nur von etwa 10 % der Individuen erreicht, die das Leben und den Respekt anderen gegenüber als höchstes Gut bewerten und danach handeln (vgl. Kohlberg, 2014). Um die Selbstverurteilung zu vermeiden, reagieren sie unabhängig von der Situation immer nach diesen moralischen Normen. Die restlichen 90 % aber werden in prekären gesellschaftlichen Kontexten die Lage nicht nach den eigenen abstrakten moralischen Werten beurteilen, sondern vielmehr entsprechend den konkret wahrgenommenen Rechten und Pflichten (vgl. Levi, 1947/2016).
Täter:innenschaft: Herausforderungen im Kontext von Krieg und Flucht
So werden Individuen, ohne zu ahnen, was auf sie zukommt, durch Kämpfen und Töten unwiderruflich und grundlegend verändert. Ihr Zerrbild des Selbst wird kontinuierlich umgeformt und der eigenen Motivation zum Töten angepasst. Diese wird zunehmend davon abhängen, auf welcher Seite des Konfliktes sich die Kriegs- und Konfliktbeteiligten selbst sehen und welche erteilten Rechte sie sich dadurch gestatten. So verzerrt sich – schon vom ersten Auftreten des gewaltsamen Konfliktes am jeweiligen historischen Horizont – schleichend die Realität bei allen Beteiligten. Allmählich entsteht daraus eine eigene Binnenwelt, mit eigenen Regeln und eigenem Wertesystem. Bei dem Versuch, die psychologischen Hintergründe des Geschehens zu verstehen, rückt unausweichlich die Tatsache in den Vordergrund, dass die meisten Menschen nie ohne extremen und konstruierten sozialen und politischen Kontext töten oder zu Kriegstäter:innen würden. Dennoch ist die individuelle Verschuldung, im Falle, dass die Grenze zur Täter:innenschaft überschritten wird, immer das, wofür sie sich verantworten müssen, und der sie sich, falls möglich, in der eigenen Selbstreflexion oder in der Therapie stellen sollten.
Täter:innenschaft versus Krieg und Töten Tückisch bei der Suche nach Antworten auf die Frage, wer die Täter:innen sind, ist bereits die Unklarheit, wann genau eine individuelle Täter:innenschaft in einem Krieg anfängt oder als solche betrachtet wird. Die Schnittstelle zwischen Krieg und Verbrechen – was dem Militär erlaubt ist und was nicht, ob es sich daran hält oder nicht – ist aufgrund der unzähligen Rationalisierungen des Tötens und der stetigen Überschreitung der Grenzen in immer zugespitzteren Kampfhandlungen nicht immer leicht zu erkennen (vgl. Waller, 2007). Noch schwieriger ist das in bewaffneten Konflikten, »low-intensity wars« oder Bürgerkriegen zu beobachten, denn in diesen Kontexten herrschen eigene Maßstäbe des Kriegsführens. Hier sind die Grenzen des Erlaubten fließend, da sich die kognitive Umdeutung und Rechtfertigung der Eskalation schnell wandeln können. Die individuelle Täter:innenschaft – um welche es in diesem Artikel vor allem geht – und daraus entstandene individuelle Schuld ist nicht automatisch aus einer kollektiven Schuld abzuleiten beziehungsweise ihr gleichzusetzen und vice versa. Individuelle Schuld bei Kriegsbeteiligten kann nicht mit einer bestimmten Nation, Konfliktseite oder politischen Gesinnung, dem Geschlecht, der Rasse oder dem Alter attribuiert werden. So wird, wie es sich in der internationalen Rechtsprechung aktuell tendenziell entwickelt, die mögliche Schuld eines Soldaten oder einer Soldatin oder eines Kämpfers oder einer Kämpferin eines
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Angriffskrieges, die:der Befehle befolgt und sich im Rahmen der Genfer Konvention verhält, ihr:ihm nicht zur Last gelegt. Jegliche Grenzüberschreitungen der Konvention, unabhängig von der Kriegspartei, auch in einem Verteidigungskrieg, führen jedoch unweigerlich zu einer individuellen Täter:innenschaft. Die erste, vielleicht etwas naive Annahme, dadurch individuelle Täter:innenschaft im Krieg leichter und schneller identifizieren und objektivieren zu können, irrt jedoch. In den Wirren des Krieges und in bewaffneten Konflikten bleibt Täter:innenschaft oft im Verborgenen oder wird im Alltag des Krieges einfach nicht als solche erkannt. Ein zweiter, sehr wichtiger Aspekt der Täter:innenschaft im Krieg, der in diesem Text ebenfalls berücksichtigt wird, ist die subjektiv erlebte Täter:innenschaft, die im Rahmen der Psychotherapie eine große Bedeutung hat. Diese finden wir sowohl bei den Soldat:innen, die mit einer kollektiven Schuld belastet sind, als auch bei denjenigen, die in einem Verteidigungskrieg eingesetzt waren. Abspaltung und Rationalisierung beim Töten im Krieg erleichtern es einem Soldaten, die eigene Moralisierungslücke zu schließen. Gleichzeitig hilft es ihm aber auch vor allem, zu überleben. Diese psychische Abwehr ist aber keinesfalls konstant und stabil. Sie kann im Laufe der Zeit variieren und kann sehr vom Ausgang des Krieges oder Konfliktes abhängen. Der subjektive Kampf um das eigene Selbstbild zeigt sich vor allem, wenn die Rationalisierungen fallen und die blanke Tatsache, Menschen ermordet zu haben, anfängt, die subjektive Wahrnehmung zu beherrschen. Ein Soldat berichtete nach der Rückkehr aus dem Vietnamkrieg: »Ich dachte, […] ich bin irgendwie paranoid. Ich dachte, alle […] wüssten, was ich dort getan habe, und wären gegen mich. Ich hatte Angst. Ich fühlte mich schuldig« (Bourke, 1999, S. 336; Übers. v. Verf.). Ein ähnliches Beispiel liefert Natalija Bašić (2004): »Aber wenn du geschnallt hast, dass du ihn getroffen hast, ist dir unglaublich zum Kotzen zumute […], aber ich dachte so bei mir: Verdammt, wozu eigentlich, er hatte mir doch nichts getan?! […] [D]ie erste Reaktion ist der Brechreiz und dann wird es normal« (S. 219).
Die Begegnung Unabhängig davon, ob der Kriegsbeteiligte ein Held oder Abenteurer, Dieb, Krimineller, Warlord, Soldat, eine martialische Tötungsmaschine, ein Vergewaltiger oder nur der Verteidiger seines Ortes, seines Volkes, seines Landes oder seiner politischen Überzeugung, ein Mitläufer oder ein ideologisch geprägter Fanatiker war oder einer, der fremde Kriege geführt hat, stehen unzählige intime
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Geschichten hinter den jeweiligen Taten. Geschichten, die die zu Täter:innen Gewordenen sich selbst und anderen meist kaum eingestehen wollen oder können. Hinter der Fassade massiver Rationalisierungen der Verantwortung für die eigenen Taten finden wir nicht selten ein breites Geflecht von Scham, Schuld, Schmerz, Hass oder Selbsthass und -vorwürfen, die die Grundlage der eigenen Menschlichkeit infrage stellen, sodass sich viele nicht trauen, sich dem zu stellen. Und falls doch, dann nur in kleinen Schritten, wenn sie sich bereit dafür fühlen, den eigenen inneren emotionalen Druck auszuhalten, und gleichzeitig auch die Umgebung ihnen den Raum dafür ermöglicht. Kämpfer:innen und Täter:innen treffen im eigenen Land oder in Ländern, in die sie geflüchtet sind, auf Professionelle in Beratung und Therapie und auf alle anderen, die die Kriegsbeteiligungsgeschichten hören, bezeugen oder verfolgen. Diese nehmen sie – zunächst stark – nach eigener moralischer Einschätzung des Konfliktes wahr und beurteilen sie dementsprechend. Zeitweilig benebelt durch die Grenzen dessen, was das jeweilige Gegenüber emotional und moralisch individuell ertragen kann, können sich beide Seiten dieser Begegnungen gegenseitig blenden und die Wahrheit, positiv wie negativ, verfälschen. So kann es dazu kommen, dass Patient:innen, in der Furcht vor dem fantasierten Verlust der wichtigen therapeutischen Beziehung oder in der Vermeidung der Selbstund Fremdverurteilung gefangen, die eigene Täter:innenschaft verleugnen oder es vermeiden, sie anzusprechen. Aufseiten der Professionellen besteht die Gefahr, dass sie gemeinsam mit einem Gegenüber, das in einem Verteidigungskrieg gekämpft hat, seine grenzüberschreitenden Taten euphemistisch betrachten oder zu schnell damit rechtfertigen, dass das »Böse« irgendwo anders lag.
Die Wege der Gewalt Die Täterseite hat unzählige Gesichter. Um zu verstehen, wie es dazu kommen kann, dass ein Mensch sich zum Töten bereit erklärt, ist es wichtig, die generellen Einflüsse und inneren Motivationen zu erfassen, die ihn dazu bewegt oder äußerlich gezwungen haben. Sie sind der Schlüssel dafür, wie Außenstehende diese Personen sehen und beurteilen, aber auch dafür, wie sie sich selbst dabei wahrnehmen und bewerten. Diese Beweggründe erklären jedoch vor allem, in welchen Binnenrealitäten eine moralische Umdeutung stattfindet, durch die sie legitim töten oder Gräueltaten begehen können, ohne sich dabei schuldig fühlen zu müssen. Die Verwandlung starker Gefühle wie Furcht und Bedrohung in ein personalisiertes Motiv zum Töten findet immer innerhalb dieser Binnenrealitäten statt. Es werden dabei die frühen archaischen, primitiven Ich-Strukturen
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aktiviert sowie pathologisch-verfolgende Introjekte, die auf den Feind projiziert und dort bekämpft werden. Die Verantwortung für die scheinbar unausweichliche Gewaltanwendung wird verlagert und die zum Überleben und Töten notwendigen psychopathischen Substrukturen, sogenannte »dissoziierte psychopathische Substrukturen« (Wolf, 2017), werden vorübergehend aktiviert. Die vielschichtige Topografie der verdrängten oder gefühlten Schuld führt zu einem weiteren Geflecht der psychischen Abwehr, das das gesamte Konstrukt von Kampf und Töten innerlich aufrechterhalten und erleichtern kann. Hier finden sich die Umdeutung des Gewissens und die Legitimation der Gewalt durch Mechanismen wie Rationalisierung der Schuld, Spaltung, Projektion, aber auch kognitive Dissonanz, Euphemismus, Bagatellisierung der eigenen Taten, Herabwürdigung, Dehumanisierung und Dämonisierung der Opfer, Delegation und Diffusion der Verantwortung. Mithilfe all dieser Mechanismen wird die moralische Lücke zwischen dem Idealen Ich und der Handlung, zumindest in den Zeiten des aktuellen Konfliktes, geschlossen. Die Psychologen Roy Baumeister und Steven Pinker benennen insgesamt fünf »Wurzeln des Bösen« (Baumeister, 1996/2001) beziehungsweise »innere Dämonen« (Pinker, 2013), die zur Gewalt führen können. Eine sechste, die zur Täter:innenschaft führen kann, möchte ich noch hinzufügen. Sie helfen uns zu verstehen, welche Umstände und Einflüsse dem Ausüben von Gewalt zugrunde liegen, und erklären, wieso einige der Täter:innen oder Kämpfer:innen in gewissen Situationen dabei erstaunlich wenig Schuldgefühle entwickeln. Die wechselnde Dynamik der Gewalt, die wir in den Geschichten der Täter:innen wie auch beim Analysieren der Konflikte finden, weist eindeutig darauf hin, dass oftmals mehrere dieser Beweggründe gleichzeitig wirken.
Kasten 1: Übersicht über die Nährböden der Täter:innenschaft (1) Die erste Wurzel der Gewalt kann vor allem als ausbeuterisch und räuberisch betrachtet werden. Neurobiologisch ist der Raub einer Suchtmittelabhängigkeit ähnlich. Es kommt dabei zur schnellen Freisetzung einer großen Menge Dopamin, das wie bei Kokain- und Amphetamingebrauch zu einem Rauschgefühl führt. Diese Motive finden wir bei Personen, die im Krieg mit Waffen, Drogen und Menschen handeln, Warlords und anderen Kriegsprofiteuren. (2) Der nächste Dämon ist die Rache. Wie der pulsierende Antrieb für die Suche nach Gerechtigkeit, Vergeltung und Strafe kann sie in eine endlose Schleife ausufern. In der Selbstillusion und Spirale der Rache gefangen, neigen Menschen dazu, das »schlimmere Böse« eher den anderen zuzuschrei-
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ben und das eigene Handeln »verschönend« wahrzunehmen (Shergill et al., 2003). Bei Rache wird ein Teil des Striatums im Gehirn aktiviert, das ebenfalls bei Sehnsucht nach Suchtmitteln, wie Drogen oder Nikotin, aktiv wird. (3) Egoismus, Dominanz- und Machtstreben sind der dritte Keim der Gewalt. Dominanzbestrebungen gelten als tödlichste und verheerendste Ursachen aller Konflikte der Menschheitsgeschichte. Ihr Kern liegt im Anspruch Einzelner oder einer Gruppe, über andere zu herrschen und zu bestimmen. Kämpfe um Macht und Dominanz zwischen Gruppen finden wir in unzähligen ethnischen, religiösen oder nationalen Kriegen und Konflikten. (4) Die vierte Wurzel ist die Ideologie. Dabei handelt es sich um ein entwickeltes System des Glaubens an eine utopische Welt, die in der Regel eine ultimative Lösung für die Grundprobleme einer Gesellschaft verspricht. Der Glaube, die Welt wäre eine bessere ohne den anderen, gepaart mit dem Maß an Destruktivität, das sich in diesem Namen zugestanden wird, ist ausschlaggebend. So sind Kriege im Namen einer Ideologie oft brutaler, schmutziger, unbarmherziger und langlebiger als andere. (5) Die pervertierte Lust, anderen Schmerzen und Leid zuzufügen, und die pure Ergötzung daran, eingebettet in ein unermessliches Machtgefühl, zeichnen den Sadismus aus. Eine übereifrige Ambition kombiniert mit einem extremen Minderwertigkeitsgefühl, ausgeprägter Kränkbarkeit, Empathielosigkeit und einem von Besessenheit getriebenen Verlangen nach Rache definiert Menschen mit gewalttätigem malignem Narzissmus. Viele Experimente und Beobachtungen haben aber gezeigt, dass auch ganz normale Menschen in bestimmten Situationen dieses Verhalten phasenweise zeigen können. (6) Die sechste Ursache von Täter:innenschaft sind Praktiken von Aufzwingen, Erpressen oder Missbrauch. Betroffen sind Kindersoldaten, aber auch Erwachsene, die mit unterschiedlichen Mitteln gezwungen werden, zu morden oder zu foltern.
Symptomatik Für die meisten Kriegsbeteiligten ist es äußerst heikel, komplex und schmerzhaft, die eigene Schuld anzusprechen, und nicht weniger komplex für die Zuhörenden, es emotional auszuhalten, dabei handlungsfähig zu bleiben und adäquat zu reagieren. Diese Momente sind atmosphärisch beidseitig hoch emotional aufgeladen und entscheidend für die weiteren Phasen der Therapie. Die Annäherung an das Thema kann zu einer massiven Überflutung mit unerträglichen Schuldgefühlen und zu einer Verschlechterung der Symptomatik füh-
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ren – es kann zu Selbst- und Fremdgefährdung kommen, zu einem Abbruch des Kontaktes, zu länger anhaltendem Schweigen und zur Vermeidung der Thematik, zu dissoziativem Erleben, psychotischen Episoden oder zu einem schweren Substanzmissbrauch. Aber ebenso kann es erleichternd wirken. Obwohl wir in der Praxis auch Geflüchteten begegnen, die sehr früh ihre Täter:innenschaft und ihre Schuldgefühle ansprechen und sie auch authentisch wahrnehmen und auf sie eingehen, verläuft bei den meisten eine Annäherung an das Thema komplex und vorsichtig. Die Ängste vor Stigmatisierung, Verurteilung und Ausgestoßenwerden durch die anderen und vor Überflutung durch eigenen Schmerz und Selbsthass werden häufig als vehement und lähmend empfunden. Die Rationalisierungen und Verleugnungen der eigenen Täter:innenschaft können sich während der Therapie verstärken, aber auch allmählich auflösen. In der Therapie passiert es oft, dass, sobald die Rationalisierungen der eigenen Täter:innenschaft und alle dazugehörigen psychologischen Abwehrmechanismen anfangen zu bröckeln, die empfundene Schuld allgegenwärtig wird, schwer aushaltbar und zum Verfolger. Die Einsicht in die eigene Verantwortung liegt zwar am Beginn des Weges zur Heilung, ist jedoch in der ersten Phase der Therapie nicht unbedingt vorhanden. Die Schuldgefühle sind oft verborgen oder treten in verschiedenen Formen auf. Sie können in ihrer Intensität in den verschiedenen Phasen stark variieren und bei jenen intensiver werden, die in einen Nahkampf involviert waren, als bei denen, die wenig bis kaum direkten physischen Kontakt mit den Opfern hatten (Grossmann, 2009). Es ist überhaupt nicht selten, dass sich die Täter:innen oft nur für bestimmte Situationen schuldig fühlen, während sie die eigene Verantwortlichkeit für andere Taten nicht erkennen. So entsteht bei jeder:jedem von ihnen eine eigene Topografie der Schuldgefühle, oft von anderen intensiven Gefühlen oder deren Abwehr überlappt. Das Schuldgefühl ist immer beziehungsorientiert, gerichtet auf andere Menschen oder auf das eigene Selbstideal. Daher prägt, definiert und gestaltet es die Beziehungen sowohl zu anderen als auch zu sich selbst. Durch das Schuldgefühl wird sich der:die Täter:in selbst immer neu in der Gesellschaft positionieren müssen nicht nur gegenüber jenen, bei denen sie:er sich schuldig gemacht hat, sondern auch gegenüber der eigenen Familie und der alten Gesellschaft, aus der sie:er stammt, und gegenüber der neuen Gesellschaft, in der sie:er zu leben beginnt. Die Positionierung kann aufgrund der unterschiedlichen Abwehr der Schuld sehr unterschiedlich verlaufen. Bei einer Gruppe gewaltbereiter Veteranen dienen aggressive Ausbrüche nicht selten als Schutzschild vor immensen und unerträglichen Schuldgefühlen (Glover, 1985). Der eigene schuldbeladene Selbsthass wird auf andere projiziert und stellvertretend dort bekämpft. Auch Neid gegenüber jenen, die nicht töten mussten, kann diese Ausbrüche auslösen,
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da diese Begegnungen Minderwertigkeitsgefühle, Schmerz und Selbsthass verstärken können. Bei anderen dominiert die bewusste Vermeidung von potenziell aggressiven Situationen oder Themen, die Schuldgefühle auslösen könnten. Es kommt zu einem depressiven und selbstzerstörerischen Rückzug. Krieg und bewaffnete Konflikte brutalisieren die Menschen, die sich daran beteiligen. Aber welche weiteren Auffälligkeiten können wir durch diese lang andauernde Brutalisierung, die chronische Lebensgefahr und die gefühlsmäßige Betäubung erwarten? Bei einigen Betroffenen sind keine lang andauernden Symptome zu finden beziehungsweise treten erst signifikant später auf, häufig erst im Ruhestand (Sleek, 1998). Andere kehren traumatisiert aus dem Krieg zurück und entwickeln komplexe Störungsbilder. Die häufigste Diagnose ist weiterhin die PTBS und komplexe PTBS, die in verschiedenen Intensitäten und in verschiedenen Phasen des Lebens unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Die PTBS tritt oft mit anderen Krankheitsbildern und Symptomen zusammen auf. Am häufigsten sind Selbst- und Fremdgefährdung, Sucht, schwere Depression, Isolation, soziale und Beziehungsschwierigkeiten, Impulsivität, dissoziative Störung, paranoide Einstellungen und Wahn, Psychosen und generalisierte Angst.
PTBS Obwohl schon im Ersten Weltkrieg schwer traumatisierte Soldaten beobachtet wurden, fand die erste große Forschung dazu, ob die PTBS bei Soldaten direkt mit dem Akt des Tötens und nicht ausschließlich mit der erfahrenen Lebensgefahr verbunden ist, erst viele Jahrzehnte später statt. Bei der Untersuchung von 6.810 zufällig ausgewählten Kriegsveteranen fanden Stellman, Stellman und Sommer (1988) heraus, dass die Verbindung von PTBS mit einem Tötungsakt besonders dann extrem hoch ist, wenn sie ihn direkt, in Nahkampfsituationen und bei intensiven Kampfeinsätzen ausgeführt haben oder als Zeugen an Tötung, Folter oder Vergewaltigung beteiligt waren. MacNair (2002) schlug sogar vor, den »Perpetration-Induced Traumatic Stress« (PITS: »Täterinduzierter traumatischer Stress«) als Zusatzdiagnose von PTBS einzuführen. Häufig werden in der Therapie zunächst ausschließlich solche Situationen angesprochen, in denen der:die Kämpfer:in selbst Opfer war und Gewalt durch andere erdulden musste. Diese Fixierung kann die ganze Beziehung zu sich selbst, zur Therapeutin beziehungsweise zum Therapeuten und zur sozialen und weiteren gesellschaftlichen Umgebung so sehr bestimmen, dass die anderen traumatisierenden und schuldbeladenen Aspekte vernachlässigt werden. Der Psychoanalytiker Klaus Ottomeyer (2011) berichtet von einer Therapie mit
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einem Soldaten der internationalen Friedenstruppe, in der viele Sitzungen sich ausschließlich den Opferaspekten widmeten. Erst nach dem Abbruch der Therapie erkannte Ottomeyer, dass sie gemeinsam die Beteiligung des Soldaten an der Tötung von drei Kindersoldaten verleugnet und nicht angesprochen hatten. Bei Soldat:innen korreliert Suizidgefahr stark mit der PTBS-Symptomatik. Sie steigt bei allen, die direkt an Kämpfen beteiligt waren, aber auch bei Offizier:innen, Elitegruppen-Mitgliedern und jenen, die besonders lange im Krieg waren (Marshall, 2001; MacNair, 2002). Offiziellen Statistiken zufolge starben mehr Soldat:innen nach den Kriegen in Vietnam, Irak und Afghanistan durch Suizid als während der ganzen Zeit der aktiven Kämpfe selbst (Kemp u. Bossarte, 2013). Die Zahlen sind noch höher, wenn wir das nicht erfasste suizidale Verhalten während des Kampfes und die unerklärlichen »Unfälle« in Einsätzen oder nach der Rückkehr sowie die passive und langsame Selbstzerstörung durch verschiedene Abhängigkeiten berücksichtigen. Auf jeden erfolgreichen Suizid kommen statistisch mindestens dreimal so viele Versuche.
Fremdgefährdung Schon nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, aber besonders nach dem Vietnamkrieg wuchs die Sorge, ob eine zivile Gesellschaft durch zurückkehrende Soldaten zu einem bedrohlichen Ort werde. Die Forschung überprüfte in mehreren Ländern die Kriminalitätsrate nach Kriegen darauf hin, ob signifikant mehr Taten von Veteranen begangen wurden. Die Forschungsergebnisse waren widersprüchlich, aber überall war ein Anstieg der Aggressivitätsrate bei jenen Veteranen zu verzeichnen, die schon vor dem Krieg familiär vorbelastet waren oder eine Gewaltprädisposition hatten. Insgesamt wurde beobachtet, dass einige Soldaten nach dem Krieg extrem aggressiv, explosiv und gewalttätig wurden oder blieben, der größte Teil sich jedoch ganz entgegengesetzt entwickelte: Sie wollten nie mehr im Leben Waffen tragen und wurden »weich und friedlich« (Bourke, 1999). Eine weitere Untersuchung eruierte etwas präziser, inwiefern die Symptome von PTBS bei ehemaligen Soldat:innen und Kämpfer:innen ein erhöhtes Risiko für gewalttätiges Verhalten nach der Rückkehr darstellen. Sie klassifizierte graduell die Auslöser der Gewalt in: a) Albträume; b) ausgeprägte Stimmungsschwankungen, chronische Reizbarkeit und Feindseligkeit; c) Flashbacks, die zur Missinterpretation der Situation führen, und d) Kampfsucht (»combat addiction«), eine Abhängigkeit vom Rausch des Kämpfens selbst und eine kompul-
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sive Suche nach einem stetigen und aggressiven Aktionismus (Silva, Derecho, Leong, Weinstock u. Ferrari, 2001). In der Praxis beobachten wir jedoch noch zwei weitere wichtige Zusammenhänge für Gewalt im privaten oder öffentlichen Raum. Beim ersten handelt sich um Personen mit schweren psychischen Störungen und einem unbegleiteten Krankheitsverlauf, bei denen es zu einem massiven Ausbruch der paranoiden, psychotischen oder wahnhaften Symptomatik kommt. Solche Personen leiden bei Ausbruch der Symptomatik unter einer stark beeinträchtigten Realitätsprüfung und einem erheblichen Mangel an Kontrolle der eigenen Handlungen. Risikofaktoren bei diesem Personenkreis sind z. B. die Absetzung von Medikamenten, negative und gewaltfördernde Einflüsse aus der direkten Umgebung und die Zuspitzung der persönlichen und sozialen Belastungen. In die zweite, für viele Menschen als extrem bedrohlich wahrgenommene Gruppe, fallen diejenigen, die sich während oder nach einem Krieg schleichend radikalisiert haben.
Radikalisierung Radikalisierte Menschen sind ein weiteres Beispiel dafür, wie soziokulturelle, gewaltförmige Einflüsse und kollektive Hassphänomene in eine individuelle Täter:innenschaft münden. Die verheerende Wirkung des Hasses wird zu einer charakteristischen affektiven und kognitiven Einengung führen. Die Realität wird im Sinne einer Schwarz-Weiß-Sicht, die von allen Ambivalenzen befreit ist, verzerrt. In diesem Sinne werden alle weiteren Lebenskrisen eingeordnet. Es handelt sich um eine maligne Hassentwicklung, die sowohl in einen monomanischen Hass (Fuchs, 2021) auf eine Person oder eine Gruppe als auch in einen pluralistischen oder Hass auf Andersdenkende ausufern kann. Dieser Hass wird zunehmend zu einem Lebensinhalt, nistet sich in die eigene Identität ein und bildet daraufhin eigene kognitive Gepflogenheiten. Die meist langen Vorgeschichten dieser Entwicklung weisen subjektive Erfahrungen von Frustration, Kränkung, Demütigung und Entwertung auf und führen zu einer zirkulären Dynamik von Ausgrenzung, Ressentiment, Rückzug und Groll. Die subjektiv wahrgenommene Beschämung wird in ein mythisch-verzerrtes Narrativ verflochten, für verschiedene Zwecke instrumentalisiert und als Botschaft, »mit der erlittenen Schmach sich nicht abfinden zu wollen« (Fuchs, 2021), dargestellt. Die fantasierte oder vor allem reale Rache soll zu einer erhofften Erlösung, Vergeltung und ultimativen Selbstaufwertung führen und die erlittenen Kränkungen tilgen. Die Rolle von Milieus, des sozialen Nahraumes, von Freundschafts- und Familieneinflüssen sowie sozioökonomischen Faktoren und persönlichen Prä-
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gungen ist ausschlaggebend dafür, ob jemand sich radikalisieren wird (Goertz u. Goertz-Neumann, 2021). Nichtsdestotrotz sind es immer mehrere persönliche oder soziale Faktoren, die kumulativ dazu führen. Einige suchen in radikalisierten Gruppen das Gefühl der Selbstbedeutung und Sinn und Aufgabe im eigenen Leben oder sehnen sich nach Rache für das erlittene Leid. Andere streben vor allem nach Aufregung, narzisstischer Belohnung oder Ruhm. Bei allen ist eine überwiegend intakte Realitätsprüfung vorhanden. Einige von ihnen haben keine innerlich gut verankerten gesellschaftlichen Normen und Regeln und legitimieren Gewalt im Allgemeinen. Bei anderen ist sowohl die Verankerung der Normen als auch die Legitimierung der Gewalt ausschließlich spezifischen und radikalen Inhalten angepasst, sodass sie im Alltag sehr unauffällig wirken können. Eine Einschätzung, ob eine Person sich so radikalisiert hat, dass sie gewaltbereit wird, ist keinesfalls leicht. Die Sensibilisierung der Kontaktpersonen bezüglich einer zu Gewaltausdrücken neigenden und radikalisierten Sprache und der Entwicklung dieser Person in diese Richtung stellt die erste Möglichkeit dar, solche Tendenzen in einem Gegenüber rechtzeitig zu erkennen. Laut Endrass, Rossegger, Loock und Banneberg (2014) sollten bei Verdacht mehrere Dimensionen überprüft werden, wie der Realitätsbezug der Person und die risikobehafteten persönlichen Eigenschaften (z. B. geringe Normorientierung, hohe Gewaltbereitschaft, Tendenz zur Entmenschlichung, Herabwürdigung und Dämonisierung anderer, Vorstrafen). Zudem sollten situative Belastungsfaktoren überprüft werden, wie sich zuspitzende soziale Konflikte, übertriebener Substanzkonsum, andauerndes Überforderungsgefühl sowie die zunehmende Teilnahme an verschiedenen zu Gewaltinhalten neigenden Internetforen oder Gruppen. Es sollte ebenfalls überprüft werden, ob die Denkstile und Überzeugungen der Person kontextuelle Gewalt erlauben könnten. Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass erst wenn die qualitativen Auffälligkeiten in mehreren Dimensionen vorliegen und hervorstechen, von einem erhöhten Risiko ausgegangen werden kann, dass bei jemandem potenziell eine erhöhte Gefahr für Gewalttätigkeit besteht.
Kasten 2: Die große Trias Schweigepflicht – Offenbarungsbefugnis – Offenbarungspflicht Approbierte Psychotherapeut:innen, Berater:innen und staatlich anerkannte Sozialarbeiter:innen haben laut § 203 StGB im Rahmen ihrer Tätigkeit grundsätzlich eine Schweigepflicht zu befolgen. Die Privatsphäre des Einzelnen und das Vertrauen in die Verschwiegenheit des Berufs müssen gewahrt
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werden. Die Kenntnis über vergangene und abgeschlossene Straftaten von Patient:innen – auch wenn sie in einem anderen Land ausgeübt wurden und unabhängig von der Schwere des Verbrechens – ist kein ausreichender Grund, die Schweigepflicht zu brechen. Die Schweigepflicht hat aber auch ihre Grenzen, vor allem bei angekündigten beziehungsweise bevorstehenden schweren Straftaten, die während der Beratung oder Therapie konkret angekündigt werden. Die Aufhebung ist vor allem bei den Straftaten, die unter § 138 StGB fallen, zulässig. Nur dann ist es erlaubt, zum Schutz eines höherrangigen Rechtsgutes (der sogenannte Notstand, § 34 StGB) die Schweigepflicht zu brechen. In dieser Situation sind Berater:innen und Therapeut:innen sogar verpflichtet, die Behörde umgehend zu informieren, da die geplante Tat in diesem Moment noch abwendbar wäre. Die Straftaten, die unter § 138 StGB fallen, sind z. B. Hochverrat, terroristischer Angriff, Vorbereitung eines Angriffskrieges, Mord, Menschenhandel, Entführung, Wertpapierfälschung, schwerer Raub und räuberische Erpressung, Brandstiftung. Solche geplanten Taten sind anzeigepflichtig, auch im Falle einer »Drittperson« beziehungsweise falls die:der Patient:in glaubwürdig vermittelt, dass jemand aus ihrer:seiner Umgebung solche Taten plant. Bei sexuellem Missbrauch von Kindern, der als Tat abgeschlossen ist, aber eine Wiederholungsgefahr besteht, kann im Einzelfall wegen des zu schützenden Gutes der ungestörten sexuellen Entwicklung des Kindes die Offenbarungsbefugnis in Kraft treten. Die Entscheidung, ob man eine Behörde über eine potenzielle Straftat informieren sollte oder nicht, ist in der Praxis alles andere als einfach. Die angekündigten Taten müssen zuerst unter den differenzialdiagnostischen Gesichtspunkten eruiert werden und unter Umständen unter Einbezug von Kolleg:innen innerhalb einer Institution, Supervision oder möglichst mit einem Rechtsbeistand besprochen werden. Ein Bruch der Schweigepflicht sollte vor allem geeignet und erforderlich sein, eine Straftat zu verhindern. Psycholog:innen und Berater:innen, die sich trotzdem an ihre Schweigepflicht halten, könnte allenfalls ein Vorwurf der Unterlassung der Verhinderung der Straftat oder Aufdeckung einer begangenen Tat nach § 323c StGB erhoben werden. Wenn es dazu kommt, dass ein:e Psycholog:in ihre:seine Schweigepflicht brechen muss, muss das nicht gleichzeitig bedeuten, dass sie:er in einem kommenden Strafprozess aussagen muss, da der Bruch der Schweigepflicht nicht automatisch zum Verlust eines eventuell bestehenden Zeugnisverweigerungsrechts führt. Zur Abwendung einer akuten Gefahr kann der Bruch
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der Schweigepflicht gerechtfertigt und notwendig werden, jedoch bei einem anschließenden Prozess – da die akute Gefahr nicht mehr vorhanden ist – ist der:die Psycholog:in ohne Schweigepflichtentbindung per Gesetz verpflichtet, zu schweigen, und darf keine Aussage mehr machen. Ein Zeugnisverweigerungsrecht entfällt – ebenso wie Schweigepflicht – ausnahmslos, wenn eine Schweigepflichtentbindung vorliegt. Sie kann, auf einige Tatsachenkomplexe beschränkt, allerdings auch widerrufen werden, allerdings nicht rückwirkend (vgl. Frederichs, 2005).
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Arbeit mit Kriegstäter:innen im psychotherapeutischen und psychosozialen Kontext Die explizite Verordnung der Berufspraxis verpflichtet weder Psychotherapeut:innen noch Sozialarbeiter:innen, ihre Behandlung nach Bekanntmachung einer Straftat hin auszurichten. Die emotionale Bearbeitung und Auseinandersetzung mit der Täter:innenschaft sollte vor allem aus der Vereinbarung mit der:dem Patient:in entstehen, welche Taten auch immer in der Vergangenheit vorliegen. Nur jene Erfahrungen, die sich Patient:innen selbst und anderen Personen gegenüber eingestehen, können zu einer Realität werden, mit der man sich auseinandersetzen kann. Die Behandler:innen können andererseits nur auf die Erfahrungen eingehen, die sie selbst als Professionelle bereit sind, bei den Patient:innen wahrzunehmen und emotional aufzufangen, wobei der jeweiligen Person gegenüber genug Mitgefühl entgegengebracht werden soll, um die Bindung aufrechtzuerhalten, gleichzeitig aber genug Distanz gehalten werden muss, um handlungsfähig zu bleiben. Die Bereitschaft hierzu testen Patient:innen bei den Behandler:innen beinahe immer aus. Damit hängt das Sprechen über die Täter:innenschaft im Krieg nicht nur von der Einsicht der Patient:innen in die eigene Täter:innenschaft und von ihrer Fähigkeit und Bereitschaft, darüber zu sprechen, ab, sondern auch davon, inwieweit das Gegenüber aufgeschlossen genug ist, dies aufzunehmen und zu vertiefen. Das Sprechen darüber ruft bei allen Beteiligten intensive Gefühle hervor, die häufig schwer auszuhalten sind, sodass ein stetiger Aushandlungsprozess einsetzt zwischen dem, was zuzulassen und worauf einzugehen die Patient:innen bereit sind, und dem, was die Behandler:innen bereit sind, anzuhören. Die inneren Widerstände, die Professionelle in Therapie und Beratung und anderen Hilfebereichen aufbauen, um sich selbst vor der Konfrontation mit der Täter:innenschaft des Gegenübers zu schützen, sind vielschichtig. Eigene Ängste
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können auftreten – vor Überflutung durch unerträgliche Gefühle, davor, professionell nicht zu genügen, die Situation nicht kontrollieren zu können, Angst vor der Übermacht den eigenen Gefühlsregungen oder den der Patient:innen, Angst davor, ausgeliefert zu sein und sich ohnmächtig fühlen (vgl. Marks u. MönnichMarks, 2003; Marks, 2011). Mit Unbehagen zu entdecken, dass man sich selbst in vergleichbaren Situationen vielleicht ähnlich verhalten würde, kann ebenfalls ein Hindernis darstellen, ebenso wie eine starke Verurteilung des Gegenübers. Diese Angst, dem »Bösen« im anderen, aber auch in sich selbst zu begegnen, verhindert, ein reales Bild des Gegenübers entwickeln zu können, es zu erfassen, zu differenzieren und sich damit auseinanderzusetzen. So kann die erzwungene Intimität mit dem »Bösen« sehr angsterzeugend und schambehaftet sein oder dazu führen, das Gegenüber zu verachten. Worin auch immer die unbewusste Motivation für diese Widerstände liegt: Sie sorgt dafür, dass die Wahrnehmung des Gegenübers gezwungenermaßen zwischen den beiden Extremen pendelt – von völliger Verleugnung oder Rechtfertigung der Täter:innenschaft und einer daraus folgenden Bagatellisierung des Themas bis zur Öffnung der Büchse der Pandora, wodurch diese Projektionen zur einer gänzlich undifferenzierten Verzerrung und Ablehnung des Gegenübers führen können. In beiden Fällen wird die angemessene Auseinandersetzung mit dem Thema erschwert. Trotz der fortdauernden Erfahrungen von Menschen in gewalttätigen Konflikten wurde bisher kein umfassendes psychotherapeutisches und psychosoziales Behandlungskonzept im Umgang mit Kriegstäter:innen und Soldat:innen entwickelt. Eine mehrdimensionale konzeptuelle Vorgehensweise wäre aber von Nöten. In diesem Konzept sollte neben dem trauma- auch der suchttherapeutische Ansatz, wie z. B. bei Soldat:innen mit einer »combat addiction«, deren Suche nach dem stetigen Dopaminrausch auch nach dem Krieg nicht aufgehört hat, oder bei denjenigen, die während oder nach einem Krieg eine Substanzsucht entwickelt haben, berücksichtigt werden. Bei anderen Betroffenen, die sich ihren Erfahrungen stellen möchten, wird vor allem die Trauma- und Schuldbearbeitung im Vordergrund des therapeutischen Prozesses stehen. Eine Einzeltherapie wird für die meisten dringend erforderlich sein. Angeleitete Selbsterfahrungsgruppen, erarbeitete Aggressionsbewältigungsstrategien, Gruppenund Familientherapie, besonders bei steigender häuslicher Gewalt, und organisierte psychosoziale Hilfe können sowohl weitere wichtige Stützen bei der Überwindung des eigenen Schweigens und der Isolation sein als auch als soziale Kontrolle und Halt bei der Bearbeitung der eigenen Schuld helfen. Unabhängig davon, ob alle Stadien der Bearbeitung eigener Täter:innenschaft und Kampferfahrung vorhanden sind und in welcher Reihenfolge und Ausprägung sie vorkommen, ähnelt der therapeutische Prozess der Auseinander-
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setzung jenen Phasen, die in der Sterbeforschung von Elisabeth Kübler-Ross (1969/2001) benannt wurden. Die Phase von Verleugnung und Nicht-wahrhaben-Wollen der Täter:innenschaft kann übergehen in das Ausleben von Zorn, Wut und Neid allen anderen gegenüber, die unschuldig geblieben sind oder den:die Täter:in in diese Situation gebracht haben. Daraufhin kommt es zum Aushandeln, mit Gott oder einem Gegenüber, wobei Rationalisierungen zu greifen beginnen oder Schuldgefühle eine Gestalt bekommen. Es folgt die Phase der Depression und Verzweiflung, die, wenn sie bearbeitet wird, in die Phase der Akzeptanz und Integration dieser Erfahrung münden sollte. Mit der Ermöglichung dieser Phasen geben wir diesen Patient:innen die Chance, ihre geschädigte Integrität und den Bruch mit den Gewissensnormen in das eigene Leben zu integrieren und den Weg zu einer neuen Integrität zu finden, die nicht generationenübergreifend ihr Unwesen weiterverbreiten muss.
Zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individueller Schuld Weltweit wird in Gesellschaften ein Teil der Menschen dazu ausgebildet, gezwungen, manipuliert, motiviert, im Namen von irgendetwas, das überwiegend als edel, ehrenhaft und als etwas Großes dargestellt wird, zu kämpfen und einen Feind, wer auch immer er sein sollte, zu töten – brutal, blutig und höchst effizient. Der hohe innerliche Preis, den jeder dieser Menschen zu zahlen hat, wird dabei verschwiegen. Dieser Preis kann und soll keinesfalls mit den immensen Leiden und den enormen Folgen verglichen werden, die die Opfer dieser Täter:innen zu tragen haben. Wenn wir allerdings die psychologischen und gesellschaftlichen Folgen der Täter:innenschaft auf einem Kontinuum für eine einzelne Person betrachten und einen Vergleich der Zeit vor und nach den Taten vornehmen, auch generationsübergreifend, sind diese enorm. In keinem einzigen Land wird über die psychologischen und gesellschaftlichen Folgen von Täter:innenschaft, die im Namen des Staates beziehungsweise der eigenen oder einer fremden Gruppe erfolgt, systematisch und offen berichtet. Wir als Weltgesellschaft produzierten in verschiedenen historischen Phasen oder produzieren noch immer Menschen, die zur Anwendung von massiver Gewalt bereit sind und sein sollen. Gleichzeitig soll ganz utilitär nach der Erfüllung des Zwecks sich nicht mehr um sie gesorgt werden müssen, und wenn doch, dann nur im Geheimen, höchst individuell, im privaten Kämmerlein und möglichst frei von jeglicher gesellschaftlichen Verantwortung. Die Zivilgesellschaft soll möglichst vor ihnen und dieser moralischen Auseinandersetzung geschützt
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werden, sodass sie sich nicht damit befassen muss. Das wird an eine bestimmte Abteilung oder ein Ministerium, am besten in einem anderen Land, delegiert. Aber die Menschheitsgeschichte war und ist noch immer voller Exil-Täter:innen, die in verschiedenste Länder dieser Welt geflüchtet sind, in der Hoffnung, die »Nebel der Stunde Null« (Speier, 1988, S. 15) erleben zu dürfen. So sollen und müssen die Exilländer, die für die meisten Kriegstäter:innen und Kämpfer:innen leider ein rechtsfreier Raum sind (falls sie im Aufnahmeland nicht gerade nach dem Weltrechtsprinzip für in einem anderen Land begangene Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden, was noch immer eine Seltenheit ist), gesellschaftlich die Verantwortung übernehmen. Besonders in Bezug auf aktuelle und lang andauernde psychische und gesellschaftliche Folgen und Gefahren der generationenübergreifenden Weitergabe der Gewalt trägt das Aufnahmeland eine große Verantwortung. Die enorme Verantwortung wiederum, mehr über diesen schmerzlichsten Schwachpunkt ganz normaler Menschen zu lernen und ihn zu erforschen, um ihn eines Tages besser kontrollieren zu können, liegt bei jeder und jedem Einzelnen. Letztendlich ist die Entscheidung für Gewalt und Täter:innenschaft immer eine individuelle, die auch durch das Verstehen der Entstehung und der individuellen und gesellschaftlichen Zusammenhänge kaum gerechtfertigt werden kann. Bourke (1999) zitierte in ihrem Buch einen Offizier, der Vietnamsoldaten für den Krieg vorbereitet hatte und nach dem Krieg jahrelang die Zeitungen penibel und panisch danach durchsuchte, ob wieder ein Veteran eine Körperverletzung oder einen Mord begangen hatte. Zu einem Kollegen sagte er: »Erinnerst du dich, wie wir diesen Jungs beibringen mussten, sich für das Töten zu motivieren? Wir haben sie richtig darauf programmiert, Mann! Na ja, keiner programmiert sie jetzt um …« (S. 341; Übers. v. Verf.). Die extrem unterschiedlichen moralischen Normen und Bestrafungssysteme in diesen beiden Welten – eine im Krieg, komplett desorientiert und in höchstem Maße destruktiv, und die andere im Frieden, hoch strukturiert und positiv wirksam – machen es vielen Täter:innen und Kämpfer:innen schwer, sich in der Normalität zurechtzufinden und zu adaptieren, zumindest am Anfang. Sie suchen oft nach einer Brücke zwischen den zwei Welten. Aber schon die alten Völker, wie Sarah A. Haley (1974) und der Militärhistoriker Richard A. Gabriel (1986, 1987) erforschten, wussten um diese allzeit vernachlässigte Wahrheit, dass Kämpfer:innen nach der Rückkehr aus dem Krieg nie mehr dieselben waren wie zuvor. Wenn sie gewalttätig anderen das Leben genommen, Familien und alles, was dem feindlichen Gegenüber heilig war, zerstört hatten, wurde ihnen direkt nach der Rückkehr der Kontakt mit den eigenen Familien und anderen, die nicht gekämpft hatten, untersagt. Erst
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nach einer Isolierungsphase, nach der sie sich durch Rituale gereinigt fühlten und die Gewalt innerlich abgelegt hatten, durften sie wieder in das Zivilleben zurückkehren und wurden dort willkommen geheißen. Diesen symbolischen Raum und diese Phase eigener Purifikation brauchen sie und die Gesellschaft unverändert auch heute noch. Genau an diesem Punkt können psychosoziale Arbeit und Therapie Kriegstäter:innen und Soldat:innen heute helfen, solche subjektiven Räume entstehen zu lassen und eine symbolische Brücke zwischen individueller Schuld und gesellschaftlicher Verantwortung im Umgang damit zu schlagen. 1
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Teil 2
Kontexte und Settings
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Geflüchtete und Asylsuchende sind besonders vulnerabel für die Entwicklung psychischer Krankheiten, internationalen Studien zufolge leiden 30 % bis 70 % der Geflüchteten unter Traumafolgestörungen (Steel et al., 2009; Brandmaier u. Kruse, 2014; Hollifield et al., 2013). In einer Screeningstudie in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete (n = 125) sowie in Gemeinschaftsunterkünften im Landkreis Gießen (n = 116) für Geflüchtete fanden wir bei 65,9 % beziehungsweise 80 % der Untersuchten deutliche Hinweise für das Vorliegen von Traumafolgestörungen (Stingl et al., 2017). Auch bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, die im Rahmen der medizinischen Erstuntersuchung untersucht wurden, zeigten sich je nach Herkunftsregion ebenfalls hohe Prävalenzraten für Traumafolgestörungen (positive Screeningwerte der herkunftsbezogenen Stichproben zwischen 42,9 % und 62,3 %; Hanewald et al., 2020). Traumabedingte psychische Störungen zeigen sich bei Geflüchteten nicht nur als posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), sondern können sich auch als andere schwere psychische Erkrankungen wie depressive Störungen, Angststörungen, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen oder somatoforme Störungen manifestieren. Die zugrunde liegenden traumatischen Erfahrungen bei Geflüchteten haben ihren Ursprung meist im Heimatland, z. B. durch kriegsassoziierte Traumata oder Verfolgung, sie können aber auch auf der Flucht selbst durch Erfahrungen extremer körperlicher oder sexualisierter Gewalt, Hunger, Verlust von Angehörigen oder Freund/-innen, Verhaftungen oder Folter bedingt oder verstärkt werden. Zudem können nachfolgende Erfahrungen im Zielland bereits bestehende psychische Beschwerden und Symptome Geflüchteter aufrechterhalten oder zusätzlich verstärken, was die Erwartung und Hoffnung auf Sicherheit und stabilere Lebensumstände als übergeordnete Motive für das Verlassen des Heimatlandes zutiefst erschüttern kann. Gleichzeitig stehen den hohen Prävalenzen von Traumafolgestörungen bei Geflüchteten institutionelle, politische und gesundheitsökonomische Restriktionen gegenüber. Die adäquate Behandlung von Geflüchteten stellt für psychiatrische
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Akutkliniken eine große Herausforderung dar. Oft wird aufgrund struktureller Restriktionen (z. B. auf das Nötigste begrenzte Behandlungsdauern, Sprachbarrieren, transkulturelle Schwierigkeiten) bei unzureichender Stabilisierung ausschließlich psychopharmakologisch interveniert. Daraus können häufige Wiederaufnahmen in die entsprechenden Kliniken resultieren, fortlaufende Chronifizierungen psychischer Erkrankungen oder gar Ablehnungen der Behandlung von Geflüchteten mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer Betreuung in einem »spezialisierten Zentrum«. Tatsächlich erfordert die Behandlung von Geflüchteten die Berücksichtigung einer Reihe von Besonderheiten, die zwar eine Anpassung des Settings erfordern, jedoch prinzipiell in jedem psychiatrischen Krankenhaus der Normalversorgung aus unserer Sicht geleistet werden können. Ausgehend von unserer langjährigen Erfahrung in der stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung haben wir ein erfahrungs- und theoriebasiertes Konzept entwickelt, welches als orientierendes Rahmenmodell bei der Behandlung geflüchteter Menschen genutzt werden kann (Hanewald et al., 2017). Dabei haben wir versucht, die sozialen, kulturellen und juristischen Faktoren, welche die wesentlichen Einflussfaktoren auf die psychische Gesundheit von Geflüchteten darstellen, in der Behandlung in systematischer Weise besonders zu berücksichtigen.
Herausforderungen in der Behandlung Ein großes Problem während der Behandlung besteht darin, dass existenzielle Ängste vor Abschiebung die psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung beeinträchtigen oder nahezu unmöglich machen. Herkömmliche therapeutische Ansätze, die die reale rechtliche Situation von Geflüchteten in der Behandlung ignorieren, übersehen möglicherweise existenzielle Bedürfnisse von Geflüchteten, sodass hier eine entsprechende Erweiterung notwendig ist. Offensichtlich wird dies dann, wenn im Rahmen der Behandlung zwar eine beginnende Stabilisierung der Patient/-innen erreicht wird, mangels äußerer Sicherheit aufgrund des unsicheren Aufenthaltsstatus jedoch eine weiterführende und tragende innere Sicherheit nicht etabliert werden kann. Dies erschwert die weitere traumatherapeutische Behandlung erheblich. Entgegen den Wirksamkeitsnachweisen einiger psychotherapeutischer Methoden bei Geflüchteten sehen wir aus unserer praktischen Erfahrung die mittel- bis langfristigen Erfolge einer traumatherapeutischen Behandlung, welche konfrontative Elemente mit einbezieht, eher kritisch, sofern eine basale Sicherheit als Grundvoraussetzung nicht gegeben ist. Der Aufenthaltsstatus, der über lange Zeit unsicher bleiben kann, sowie die Unsicherheit im Asylverfahren selbst sind unzweifelhaft maßgebliche
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Faktoren, welche zum einen psychische Erkrankungen aufrechterhalten und die psychotherapeutischen Möglichkeiten erheblich beeinträchtigen und zum anderen frühere traumatische Erfahrungen verstärken können (Hanewald et al., 2016). Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht angemessen, da ja nicht wirklich eine »post«-traumatische Situation besteht (Preitler, 2013), sondern krankheitsbegünstigende und -aufrechterhaltende Faktoren fortbestehen. Neben den dargestellten asylrechtlichen Einflussfaktoren gibt es eine Reihe von weiteren Bedingungen, die kumulativ die Behandlung von Geflüchteten und Asylsuchenden erschweren: schwierige Wohnverhältnisse, Einsamkeit, Hilflosigkeit, das Fehlen einer erfüllenden und sinnvollen täglichen Aktivität, der Verlust sozialer Strukturen, Trauer, der Verlust der Familie und Schuldgefühle gegenüber zurückgebliebenen Angehörigen. Denn häufig ist eine Flucht trotz einer schlechten wirtschaftlichen Ausgangssituation von Familienangehörigen finanziert; oftmals ist dies jedoch mit der expliziten oder impliziten Erwartung verknüpft, dass der Geflüchtete die Zurückgebliebenen finanziell unterstützen soll oder eine Familienzusammenführung in der Zukunft anstrebt. Wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden können, z. B. gegenüber Kindern oder Ehepartner/-innen, die in prekären Lebenssituationen verblieben sind, können aufseiten der Geflüchteten starke Schuldgefühle entstehen. Diese Faktoren sind als akut wirksame Stressoren zu verstehen, die die psychotherapeutische Behandlung zusätzlich erschweren, sie können bestehende psychische Probleme verschlechtern oder die Entwicklung zusätzlicher psychischer Störungen begünstigen. Wie bereits beschrieben, ist auch der Zugang zur medizinischen Versorgung für Geflüchtete erschwert oder unmöglich. Die Situation der Betroffenen in Erstaufnahmeeinrichtungen vor Ort ist häufig geprägt von mangelnden Rückzugsmöglichkeiten, mangelnder Tagesstruktur, schlechten Wohnbedingungen sowie der Notwendigkeit zur Adaptation an beispielsweise unterschiedliche Essgewohnheiten und kulturelle Gegebenheiten im Zielland. Auf struktureller Ebene verkomplizieren Fragen der Kostenübernahme sowie Sprachschwierigkeiten die Behandlung zusätzlich. Da jede Behandlung entsprechend den Bedürfnissen, Möglichkeiten und Fortschritten der Patienten/-innen trotz des grundsätzlich standardisierten Vorgehens individuell konzeptionalisiert und geplant wird, erfordert dies eine fallspezifische Auseinandersetzung mit den entsprechenden Kostenträgern, insbesondere wenn es sich hier nicht um eine Krankenkasse handelt. Obgleich hier gerade das Asylbewerberleistungsgesetz einen eher engen Spielraum vorgibt, lohnt es sich dennoch, mit den Entscheidungsträgern in den Austausch zu gehen und die individuelle Notwendigkeit der geplanten Behandlung plausibel zu machen. Betrachtet man den oftmals notwendigen Einsatz von Dolmetscher/-innen beziehungs-
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weise das Problem der Sprachbarrieren genauer, so wird deutlich, dass häufig wenig Erfahrung im Umgang mit Dolmetscher/-innen in der Therapie besteht (siehe auch Schriefers u. Hadžić, 2018). Dabei ist es nicht nur erforderlich, dass die Einbeziehung von Dolmetscher/-innen vonseiten des Behandlungsteams grundsätzlich befürwortet wird, sondern dass mögliche Widerstände, reale Probleme und Schwierigkeiten, beispielsweise resultierend aus unterschiedlichem Geschlecht von Patient/-in und Dolmetscher/-in oder Zugehörigkeit zu einer unterschiedlichen »Community«, benannt und bearbeitet werden müssen. Vor Beginn einer dolmetschergestützten Sitzung ist es hilfreich, dem Dolmetscher die wichtigsten Informationen zu psychotherapeutischen Gesprächen zu geben, welche standardisiert mithilfe eines Informationsblattes vermittelt werden können. Insbesondere wenn der/die Dolmetscher-/in noch keine oder nur wenig Erfahrungen im Umgang mit psychiatrischen Patient/-innen hat oder auf einer geschützten Station gedolmetscht werden soll, werden weiterführende Informationen im persönlichen Gespräch gegeben. In größeren Abständen bietet unsere Klinik diesbezüglich auch Schulungen für Dolmetscher/-innen an. Zu Beginn einer dolmetschergestützten therapeutischen Sitzung sollten sich Dolmetscher/in und Patient/-in miteinander vertraut machen und klären, in welcher Sprache gedolmetscht werden soll. Insbesondere bei der Nutzung lokaler Dialekte kann nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass sich Dolmetscher/-in und Patient/-in eindeutig verständigen können, auch wenn sie dem gleichen Herkunftsland entstammen. Es ist darauf zu achten, dass sowohl der/die Patient/-in als auch der/die Dolmetscher/-in bereit sind, miteinander zu arbeiten. Der/die Dolmetscher/-in muss darauf hingewiesen werden, möglichst wortwörtlich und vollständig zu übersetzen. Während des Dolmetschens muss er/sie auf eigene Interpretationen verzichten und Patient/-innenäußerungen auch dann übersetzen, wenn diese ihm/ihr unlogisch, unpassend oder unangenehm erscheinen. Er/sie soll dabei in der Ich-Form übersetzen und dem/der Behandler/-in auch etwaige eigene Nachfragen an den/die Patienten/-in, die während des Dolmetschens gestellt werden, mitteilen beziehungsweise übersetzen. Sofern der/die Dolmetscher/-in selbst etwas nicht versteht, z. B. medizinische Details oder verwendete Fachausdrücke, muss sie/er auch dies nachfragen. Hierbei es wichtig, ihm/ihr einen entsprechenden Raum für Nachfragen zu geben und darauf hinzuweisen, dass solche Nachfragen beim Behandelnden nicht zu Zweifeln an seiner/ihrer fachlichen Kompetenz führen, sondern vielmehr als Interesse an einer möglichst guten Übersetzungsleistung verstanden werden. Sofern diese Offenheit für Nachfragen übersehen wird, besteht die Gefahr, dass der/die Dolmetscher/-in Begriffe oder Passagen, die er/sie nicht verstanden hat, verkürzt darstellt, paraphrasiert oder ganz weglässt, um nicht als inkompetent angesehen zu wer-
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den, was zulasten der Patientin/des Patienten selbst ist. Übersetzungsschwierigkeiten können sich jedoch nicht nur auf medizinisch-fachliche Details beziehen, sondern auch gravierende juristische Konsequenzen haben, etwa wenn die Vorgeschichte der Betroffenen aufgrund von in der Klinik verfassten Stellungnahmen als offensichtlich unglaubwürdig zurückgewiesen wird, da Details unvollständig oder gar falsch wiedergegeben werden. Schließlich muss auch die Finanzierung des Sprachmittlungsdienstes gewährleistet sein, was in der Regelversorgung nicht immer geklärt ist, oder es sind bürokratische Hürden zu nehmen. Dies strapaziert den Rahmen insbesondere ambulanter psychotherapeutischer Versorgung extrem und lässt viele Behandelnde zurückschrecken, psychotherapeutische Angebote für Geflüchtete vorzuhalten. Auch kulturelle Aspekte müssen in der Behandlung Geflüchteter als mögliche Problemquellen reflektiert werden: Es sollte dabei nicht übersehen werden, welche Art von Behandlung und Hilfestellung eine Patientin/ein Patient in individueller Hinsicht tatsächlich am dringendsten benötigt. Eine zu starke Betonung oder Berücksichtigung der vermuteten »Kultur« der Patientin beziehungsweise des Patienten als Hintergrund eines Verständnisses der emotionalen Erlebnisinhalte und des gezeigten Verhaltens läuft Gefahr, einseitige Stereotypien zu produzieren, und kann einen empathischen, individuellen Behandlungsansatz erheblich gefährden (Napier et al., 2017). Diagnostisch herausfordernd ist zudem, dass die Betroffenen zwar häufig unter psychischen Problemen oder psychiatrischen Erkrankungen leiden, oft aber andere Symptome eine akute Krankenhausaufnahme begründen. Geflüchtete klagen beispielsweise häufig über körperliche Beschwerden wie Kopfschmerzen, Brustschmerzen, Magenschmerzen oder Schlafstörungen und berichten erst spät oder gar nicht von etwaigen psychischen Beschwerden (UNHCR, 2017), was die adäquate diagnostische Einschätzung erschwert. Angst vor Stigmatisierung und Selbststigmatisierung aufgrund psychischer Erkrankung spielt hierbei eine erhebliche Rolle (Braakman, Kortmann u. van den Brink, 2009). Aufgrund der genannten Besonderheiten und resultierenden Unsicherheiten bleibt die Behandlung von Geflüchteten in der Praxis meist eher oberflächlich und beschränkt sich auf eine kurzfristige Stabilisierung innerhalb der dargestellten Grenzen. Somit sind die angebotenen Behandlungen oftmals mittel- bis langfristig ineffektiv, verbunden mit negativen Krankheitsverläufen und in der Folge erhöhten Behandlungskosten. In der Konsequenz erscheint es vor dem Hintergrund dieser umfassenden Besonderheiten und Wechselwirkungen notwendig, diesen mit spezifischen Behandlungskonzepten zu begegnen, um eine bestmögliche Gesundheitsversorgung gewährleisten zu können. In der Praxis ergibt sich als zentrale Forderung, bei der Behandlung von Geflüchteten nach Möglichkeiten zu suchen, die
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effiziente, individualisierte und an den Patient/-innen orientierte therapeutische Interventionen eröffnen, die dem Behandlungsteam Sicherheit und Orientierung in herausfordernden Situationen vermitteln und die sowohl bei Patient/-innen als auch aufseiten der Behandelnden zu erhöhter Behandlungszufriedenheit beitragen (Hanewald et al., 2017). So können gerade der rechtliche Status der Geflüchteten, der oft über einen längeren Zeitraum ungeklärt bleibt, sowie die Umstände und Vorgänge eines subjektiv als undurchsichtig erlebten Verfahrens als Faktoren betrachtet werden, welche psychische Störungen aufrechterhalten, eine Behandlung verhindern oder vergangene Traumatisierungen intensivieren (Hanewald et al., 2016). Darüber hinaus sind Geflüchtete oft weiteren Stressoren ausgesetzt, die bekanntermaßen eine positive Entwicklung der psychischen Gesundheit beeinträchtigen – hierzu zählen desolate Wohnbedingungen, Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung, Einsamkeit, Hilflosigkeit, keine Möglichkeiten sinnvoller Aktivitäten, Verlust sozialer Strukturen, Trauerreaktionen, Verlust der Familie, Schuldgefühle oder der Druck der finanziellen Versorgung der im Heimatland Zurückgebliebenen. Die psychotherapeutische Versorgung Geflüchteter stellt vor dem Hintergrund dieser sozialen, politischen, rechtlichen und ökonomischen Wechselwirkungen mit der psychischen Gesundheit eine große Herausforderung dar.
Das Gießener stationäre Behandlungskonzept für Geflüchtete1 Basierend auf theoretischen Überlegungen, klinischer Erfahrung und in Anlehnung an den Leitfaden »Mental Health and Psychosocial Support for Refugees, Asylum Seekers and Migrants on the Move in Europe« (UNHCR, IOM u. MHPSS, 2016) haben wir zunächst grundlegende Prinzipien als Leitbild für die Behandlung Geflüchteter formuliert. Diese basieren auf den allgemeinen Menschenrechten und der medizinischen Ethik und gelten somit für die Behandlung aller Menschen, jedoch insbesondere bei der Behandlung von Geflüchteten sehen wir diesbezüglich eine besondere Relevanz: 1. Wir behandeln Patient/-innen mit Würde und Respekt und unterstützen ihre Eigenständigkeit. 2. Wir reagieren human und unterstützend auf notleidende Geflüchtete. 3. Wir informieren Geflüchtete über mögliche Unterstützungsleistungen und 1
Eine ausführliche Darstellung des hier beschriebenen Konzepts findet sich im Band der Reihe »Fluchtaspekte«: »Stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung Geflüchteter. Ein Praxisleitfaden« von Stingl und Hanewald (2020).
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ihre gesetzlichen Rechte und Pflichten und stellen ihnen einen Übersetzer/ eine Übersetzerin zur Seite. Wir versuchen, familiäre Bindungen zu stärken. Transkulturelle Aspekte sind Teil unserer Arbeit und erleichtern das Verständnis unserer Patient/-innen. Wir achten auch auf das Wohlbefinden des Personals. Wir arbeiten im Netzwerk und kooperieren mit anderen.
In der konkreten Umsetzung der vorangestellten Überlegungen ist zunächst bei Aufnahme eines Patienten/einer Patientin mit Fluchthintergrund sicherzustellen, dass dieser/diese mit maximaler Transparenz über die zu erwartenden Abläufe und Vorgänge innerhalb des stationären Settings informiert wird. Die Aufnahme findet in enger Kooperation des behandelnden Arztes und der verantwortlichen Pflege statt und sollte mithilfe von Dolmetscher/-innen begleitet werden. Zu Beginn der Behandlung erhalten alle Patient/-innen ein sogenanntes Starter Paket, mithilfe dessen räumliche und kontextuelle Orientierung, die Abläufe, aber auch grundlegende Informationen zur Behandlung im Abgleich mit den Vorerfahrungen und Erwartungen der Patient/-innen standardisiert vermittelt werden. Dies ist bei der Integration von Geflüchteten auf einer psychiatrischen Station besonders wichtig, weil (Selbst-)Stigmatisierungsprozesse, subjektive Krankheitskonzepte und Rollenerwartungen zu den Vorstellungen des Behandlungsteams, wie eine Behandlung gut gelingen kann, konträr sein können. Die Notwendigkeit einer regelmäßigen Therapieteilnahme, die Rolle der unterschiedlichen, am Behandlungsprozess beteiligten Berufsgruppen sowie die Abläufe und Besonderheiten eines psychiatrischen Behandlungssettings bedürfen besonderer Erläuterung. Für Geflüchtete, die oft sowohl in ihrem Herkunftsland als auch während der Flucht lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt waren, aktuell unter der Dynamik ihrer psychischen Erkrankung leiden oder von Abschiebung bedroht sind, ist oftmals nicht unmittelbar ersichtlich, warum die Teilnahme an therapeutischen Gruppenaktivitäten wie Ergo- oder Bewegungstherapie in ihrer individuellen, sehr belastenden Lebenssituation hilfreich sein kann. Daher vermittelt zu Beginn der Behandlung die Bezugspflegekraft Informationen über den Stationsablauf und Wochenplan, die Stationsordnung, die Inhalte der angeordneten Behandlungsmodule, das GermanSkills-Training und die Angebote des Sozialdienstes. Fragen, Unsicherheiten und Wünsche, z. B. hinsichtlich zu beachtender Ernährungsgewohnheiten und der Ausübung religiöser Praxis der Patient/-innen, sollten unmittelbar angesprochen und geklärt werden. Zusätzlich erfolgt ein Rundgang über die Station und durch die Klinik. Die Betroffenen werden angehalten, Informationen mitzuschreiben und am Ende des Gesprächs mit eigenen Worten wiederzugeben. Ein Feedback-
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gespräch erfolgt nach einer Woche. In einer Einführungsveranstaltung durch eine Mitarbeiterin der Ergotherapie werden im Einzelsetting das Konzept und die Ziele der Ergo- und der Bewegungstherapie vermittelt, und der/die Patient/-in wird einer Stationsgruppe zugeteilt. Ein strukturiertes »German-Skills-Training« dient der Vermittlung von basalen Sprachkenntnissen und Landeskunde. Beim Einsatz von Dolmetscher/-innen wird darauf geachtet, dass diese über den gesamten Behandlungszeitraum konstant bleiben und es zu möglichst wenigen Wechseln in den Beziehungen kommt. In den wöchentlichen oberärztlich geführten Einzelvisiten werden die Patienten/innen individuell den weiteren Behandlungsmodulen zugeordnet. In der Einzeltherapie ist zunächst die therapeutische Beziehung von besonderer Wichtigkeit. Der/die Patient/-in soll die therapeutische Beziehung als stabil, verlässlich und vorhersehbar erleben, was Menschen, die interpersonellen Traumatisierungen ausgesetzt waren, in der Regel sehr schwerfällt. Misstrauen und unrealistische Erwartungen des Patienten/der Patientin müssen aufgegriffen und in einem stabilen Rahmen bearbeitet werden. In diesem als sicher erlebten Raum können die Umstände und Erfahrungen, wegen derer die Geflüchteten ihr Heimatland verlassen mussten, und die Fluchtgeschichte thematisiert werden. Dies sollte ohne Wertung oder Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Patient/-innen geschehen, aus einer Position der Zeugenschaft heraus, bei der die Anerkennung als Opfer im Zentrum der Intervention steht (siehe Maercker, 2013). Dieses Vorgehen ist auch als Kontrast zur Situation bei der Befragung durch das Bundesamt zu sehen und zu gestalten, welche die Patient/-innen oft als »Verhör« und generelles Infragestellen ihrer Erfahrungen erleben. Aus unserer Sicht ist es dabei wichtig, frühzeitig darauf hinzuweisen, dass therapeutische Interventionen eher in Form von Fragen als durch klare Handlungsanweisungen erfolgen und der Patient/die Patientin als gleichberechtigter Partner verstanden wird. Durch eine solche Kontextualisierung kann vermieden werden, dass die Ärztin oder der Psychotherapeut, von der/dem oft ein aktiver Part seitens des Patienten erwartet wird, als inkompetent erlebt wird. Wenn die Behandelnden an dieser Stelle Interesse an den Vorerfahrungen und Vorannahmen der Betroffenen hinsichtlich der Arbeitsweise psychiatrischer Einrichtungen im Herkunftsland zeigen und sich dabei selbst als Lernende verstehen, kann Misstrauen abgebaut, Missverständnissen vorgebeugt sowie Vertrauen geschaffen werden und ein fruchtbarer Diskurs über unterschiedliche Behandlungskonzepte entstehen. Inhaltlich werden in den therapeutischen Einzelgesprächen mehrere Handlungsstränge verfolgt. Neben einer individuellen Zielsetzung werden Stabilisierungstechniken vermittelt. Zu Beginn des Aufbaus einer therapeutischen Beziehung erfolgt zunächst die
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Validierung der emotionalen Erlebnisinhalte der Betroffenen, die gemeinsame Anerkennung der traumatischen Situation und der Aufbau eines Verständnisses dafür, dass die Entwicklung von Krankheitssymptomen eine häufige und »normale« Reaktion des Gehirns auf eine außergewöhnliche Belastung darstellt. Dies ist für die Betroffenen oft sehr überraschend, erleben sie sich subjektiv doch häufig als schwach, »besessen« oder »verrückt« und unverstehbar und allein in ihrem Leid. Die Validierung des Erlebten kann somit eine erste korrigierende Erfahrung darstellen und eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung befördern. Die Möglichkeit, belastende oder traumatisierende Vorerfahrungen in wertschätzender, empathischer und zumindest für die Zeitdauer der Behandlung in sicherer Umgebung thematisieren zu können, fördert die Verbalisierungsfähigkeit und wirkt entlastend, was konsekutiv Ängste und etwaige bestehende Dissoziationsneigungen reduzieren kann. Im Weiteren erfolgt eine ausführliche Psychoedukation im Einzel- und Gruppensetting sowie die Etablierung eines gemeinsamen, plausiblen Krankheitsmodells. Die strukturierte Psychoedukation in der Gruppe vermittelt folgende acht inhaltliche Module: Modul 1: Was ist ein Trauma und was versteht man unter einer posttraumati schen Belastungsstörung? Modul 2: Traumagedächtnis und Trigger Modul 3: Krankheitsmodell Modul 4: Gefühle und Emotionsregulation Modul 5: Schlaf und Albträume Modul 6: Stress, Hypervigilanz und Dissoziation Modul 7: Traumatherapeutische Behandlungsansätze Modul 8: Ressourcenarbeit und Skills Gegen Ende der therapeutischen Einzelsitzungen werden erste basale Stabilisierungstechniken vermittelt und angewandt (z. B. »butterfly hugs«; Boel, 1999). Die Möglichkeit der Symptomschilderung und des Symptomverständnisses ist zum einen Teil des diagnostischen Prozesses, sie eröffnet aber auch die Ableitung konkreterer Therapieziele und das Ausloten der Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung. Dieser Prozess erfolgt ausgehend von den Prinzipien des »shared decision making« (Elwyn et al., 2012) und hat die Förderung der Fähigkeiten zum selbstständigen und selbstbestimmten Handeln (»Empowerment«) des Patienten/der Patientin zum Ziel. Parallel werden weitere Stabilisierungstechniken, wie »Position of Power« (Rost, 2006) oder »Sicherer Ort« (Reddemann, 2009) etabliert, ebenso findet weitere Psychoedukation zu Traumafolgestörungen statt. Darauf aufbauend können im Einzelsetting bedarfsadaptiert weitere Interven-
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tionen wie die Absorptionstechnik (Hofmann, 2014), Dissoziationsstopp oder CIPOS (Constant Installation of Present Orientation and Safety; vgl. Rost, 2014) angewandt und der Umgang mit Notfällen geübt werden. Es ist wichtig, die Inhalte und Wirksamkeit von Imaginationsübungen zu erläutern und zu kontextualisieren. Es erschließt sich den Patient/-innen nicht unmittelbar, dass Imaginationsübungen die Chance bieten, ein Gegengewicht gegenüber belastenden traumaassoziierten Erinnerungen zu schaffen. Während Traumapatient/-innen intuitiv häufig versuchen, nicht mehr an Belastungen zu denken, führt gerade der Versuch des »Vergessen-Wollens« zu einer vermehrten gedanklichen Beschäftigung mit traumatischen Erinnerungen, und sie erleben umso mehr die traumaassoziierte Ohnmacht, Hilflosigkeit und Überforderung. Hier können regelmäßige Imaginationsübungen anstelle von frustranen Versuchen, nicht mehr an traumatische Geschehnisse zu denken, helfen, selbstgenerierte positive Bilder, Ressourcen und entlastende Momente zu entwickeln. Die Auswahl und Art der Beschäftigung mit den Stabilisierungstechniken erfolgt selbstbestimmt, was die Patient/-innen als eine zusätzliche Reduktion der als quälend erlebten Hilflosigkeit empfinden. Es bietet sich dabei an, mit Unterstützung durch einen/eine Dolmetscher/-in Tondokumente mit individuell als hilfreich erlebten Imaginationsübungen zu erstellen und beispielsweise auf dem Mobiltelefon des/der Betroffenen zu speichern. So können die Patient/-innen regelmäßig und selbstständig auch außerhalb therapeutischer Sitzungen Imaginations- und Stabilisierungsübungen durchführen. Die Einzelbehandlung wird von weiteren Gruppenaktivitäten (Sport, Ergotherapie, Kochen etc.) ergänzt, welche gemeinsam mit allen Mitpatient/-innen unternommen werden können. Im Verlauf sollten dann die Erwartungen bezüglich der Veränderung der Beschwerden gemeinsam mit dem Patienten/der Patientin weiter geklärt und realistische Behandlungsziele erarbeitet werden. Bei der diagnostischen Erfassung der Beschwerden können belastende und/ oder traumatisierende Lebensereignisse gemeinsam auf einer Traumalandkarte visualisiert werden, gegebenenfalls können daraus resultierende Symptome mit standardisierter Diagnostik erfasst und quantifiziert werden, beispielsweise mit dem FDS (»Fragebogen zu dissoziativen Symptomen«; Spitzer, Stieglitz u. Freyberger, 2005) zur Einschätzung der Dissoziationsneigung, dem RHS-15 für Hinweise auf Traumafolgestörungen (»Refugee Health Screener«; Hollifield et al., 2013), der IES (»Impact of Event Scale«; deutsche Version von Maercker u. Schützwohl, 1998) oder dem CAPS-5-Interview (»Clinican Administered PTSD Scale for DSM-5«; Weathers et al., 2013) zur Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Traumalandkarte kann als Grundlage zur Erstellung einer Therapiegeschichte genutzt werden. Im Folgenden kann auf weitere individuelle Symptome, Problem-
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felder und Behandlungsziele nach Absprache mit der Patientin/dem Patienten fokussiert werden. Ein häufiges Themenfeld besteht im Umgang der Geflüchteten mit den im Herkunftsland zurück gebliebenen Familienmitgliedern. Sofern der Wunsch und die Möglichkeit eines Familiennachzugs gegeben ist, sollte Kontakt zu entsprechenden Beratungsstellen aufgenommen werden. Andererseits können bei fehlenden Möglichkeiten eines Familiennachzugs Trauer, Resignation, Schuldgefühle oder Hoffnungslosigkeit resultieren, die ebenso wie Trauerprozesse nach dem Verlust von Angehörigen therapeutisch begleitet werden müssen. In einem dritten Behandlungsstrang sollte die juristische Situation der/des Betroffenen geklärt werden, sofern sie/er sich noch im Asylverfahren befindet und keinen sicheren Aufenthaltsstatus hat. Falls eine rechtsanwaltliche Vertretung besteht, sollte nun zum Rechtsanwalt des Patienten Kontakt aufgenommen werden, gegebenenfalls unter Einbezug der Refugee Law Clinic (RLC)2 oder einer Verfahrensberatung. Mit der RLC oder der anwaltlichen Vertretung kann eine medizinische Stellungnahme zur weiteren juristischen Verwertung im Asylverfahren erwogen werden. Die oben erwähnte standardisierte Diagnostik kann in dieser Stellungnahme verwendet werden. Obgleich das Behandlungskonzept der stationären Behandlung einen strukturellen und inhaltlichen Rahmen setzt, wird die Behandlung immer auch individuell geplant und im Verlauf im Behandlungsteam besprochen. So findet etwa in der Oberarztvisite mit den Patient/-innen ein wöchentlicher Austausch über den Behandlungsprozess, weitere Schritte, aber auch die Planung der Entlassung statt. Dementsprechend variieren auch die Behandlungsdauern je nach Bedarf von einigen Wochen bis zu mehreren Monaten. Seitens des Behandlungsteams nimmt neben dem interkollegialen, berufsgruppenübergreifenden Austausch die supervisorische Begleitung in der therapeutischen Arbeit mit Geflüchteten eine zentrale Rolle ein. Neben einer fallbezogenen Supervision findet auch eine »interkulturelle Supervision« statt, in der eigene Grundannahmen zu »Kultur« reflektiert und gegebenenfalls relativiert werden können. Ausgangspunkt ist hier ein Kulturverständnis auf anthropologischer, ethnografischer Grundlage, über das ein Verständnis für die individuelle Biografie, die sich im Hier und Jetzt konstruiert, entwickelt werden kann (Knipper, 2014, 2015). Weiterhin findet eine regelmäßige, fortlaufende Schulung des gesamten Behandlungsteams statt, in dem sogenannte traumatherapeutische 2 Die Refugee Law Clinic (RLC) ist ein interdisziplinäres theoretisches und praktisches Ausbildungsprogramm im Asyl- und Flüchtlingsrecht an der juristischen Fakultät der JustusLiebig-Universität Gießen.
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Basiskompetenzen berufsgruppenübergreifend vermittelt und »aufgefrischt« werden; so sind alle Behandler/-innen informiert und können einordnen, auf welchem Stand ein/-e Patient/-in ist, und an verschiedenen Stellen des Gesamtbehandlungsplanes unterstützend eingreifen.
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Abbildung 1: Wöchentliches stationäres Behandlungsprogramm für Geflüchtete (nach Hanewald et al., 2017)
Ein wichtiger Bestandteil der stationären Behandlung ist auch die Zusammenarbeit und der Austausch mit Akteuren des juristischen Feldes, um einerseits die Patient/-innen in ihren aufenthaltsrechtlichen Fragen und bisweilen Nöten unterstützen zu können und dadurch zur äußeren Stabilität beizutragen, und andererseits das Stationsteam über die jeweiligen juristischen Bedingungen und Zusammenhänge zu informieren und zu beraten (siehe Abbildung 1). Dabei kann die sachgerechte Dokumentation bestehender psychischer Störungen für ein laufendes Asylverfahren oder den Nachweis besonderer Schutzbedürftigkeit relevant sein. Die Vorbereitung der Entlassung sollte die weitere mittelfristige Zukunftsplanung beinhalten, zumal die Prozesse der Einordnung der traumatischen
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Erfahrungen und deren Konsequenzen in die Identitätskonzepte bei Geflüchteten längerfristig begleitet werden müssen. Die Aufgabe des bisherigen Lebens ist fluchtimmanent und beinhaltet das Aufgeben der bisherigen beruflichen und sozialen, oftmals auch familiären Situation, meist verbunden mit einem sozialen Abstieg. Auf erreichte Schul- und Bildungsabschlüsse kann oft nur rudimentär zurückgegriffen werden, sodass neben dem Erlernen der deutschen Sprache auch ein beruflicher Neuanfang begonnen werden muss und in den therapeutischen Gesprächen antizipiert werden kann. Zur Planung der weiteren Behandlung erfolgt die frühzeitige Kontaktaufnahme und Terminvereinbarung mit weiterführenden ambulanten Behandlungs- und Beratungsangeboten, in Gießen z. B. dem klinikinternen ambulanten Traumatherapiezentrum beziehungsweise der Institutsambulanz, und wenn möglich eine Weitervermittlung zu niedergelassenen regionalen Therapeut/-innen oder psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten wie der verhaltenstherapeutischen Ambulanz, dem Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie oder dem Psychosozialen Zentrum für geflüchtete Menschen in Mittelhessen. Hilfsangebote für geflüchtete Menschen werden zudem z. B. von der Caritas oder dem Diakonischen Werk vorgehalten, ebenso von psychosozialen Behandlungszentren, die bundesweit verteilt sind. Häufig haben Geflüchtete bereits im Vorfeld Kontakt zu ehrenamtlichen Helfer/-innen, die, sofern der/die Betroffene einverstanden ist, in die Entlassungsplanung einbezogen werden.
Vernetzung Für die Kontaktaufnahme und Vermittlung zu nachsorgenden Angeboten kann zudem auf die spezielle Struktur »Traumanetzwerk Mittelhessen« zurückgegriffen werden. In dem Bemühen, strukturelle Veränderungen und das Bewusstsein für die politischen, sozialen, rechtlichen und kulturellen Determinanten der psychischen Gesundheit von Geflüchteten zu fördern, wurde das regionale multidisziplinäre Traumanetzwerk 2012 gegründet. Dieses Netzwerk ist ein Zusammenschluss von Menschen, die sich aktiv für die Verbesserung der psychosozialen Versorgung von Geflüchteten in Hessen einsetzen. Seine fachliche Vielfalt bietet die Möglichkeit, Unterstützung auf verschiedenen Ebenen anzubieten. Das Netzwerk ist offen für Interessierte, die Mitgliedschaft ist nicht an formale Verpflichtungen oder Bedingungen geknüpft. Etwa vier- bis sechsmal im Jahr finden Treffen statt, Foren, die zum gegenseitigen Austausch, zur Beratung und zur Fortbildung in den Räumen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Gießen oder eines der örtlichen Ausbildungsinstitute für
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Psychotherapie genutzt werden können. Die genauen Inhalte der Treffen und Fortbildungen werden den Bedürfnissen der Teilnehmer/-innen angepasst. Das Netzwerk betreibt eine Homepage, um die Bekanntheit und Sichtbarkeit auch in der Öffentlichkeit zu erhöhen. Zu den Mitgliedern des Traumanetzwerks gehören: Ärzte und Ärztinnen sowie Psycholog/-innen aus verschiedenen Kliniken der Region (z. B. die Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen, die Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie und die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Gießen), Seelsorger/-innen, ärztliche und psychologische Psychotherapeut/-innen, Dolmetscher/-innen sowie Sprach- und Kulturmittler/innen (zum Teil mit eigenen Fluchterfahrungen), Ehrenamtliche, Mitglieder der Refugee Law Clinic Gießen, Asylverfahrensberater/-innen der evangelischen Kirche, Mitarbeiter/-innen der Wohlfahrtsverbände, Mitglieder des Psychosozialen Zentrums für geflüchtete Menschen in Mittelhessen und weiterer Psychosozialer Zentren sowie Mitglieder von Medinetz. Medinetz ist ein Netzwerk von ehrenamtlichen Medizinstudierenden und Gesundheitsfachkräften mit aktiven Gruppen in Gießen und vielen anderen deutschen Städten. Es organisiert die medizinische Versorgung von Geflüchteten ohne Krankenversicherung und/oder ohne gültige Ausweispapiere oder gültigen Aufenthaltsstatus, da diese von der medizinischen Versorgung weitgehend ausgeschlossen sind. Um die Koordination zwischen stationären und ambulanten Behandlungseinrichtungen zu verbessern, wurden Kooperationen zwischen dem Traumatherapiezentrum des Universitätsklinikums Gießen, der Ambulanz des Instituts für Psychotherapie und Psychoanalyse Gießen und der Verhaltenstherapie-Ambulanz der Universität Gießen aufgebaut. Das Traumanetzwerk trägt dazu bei, dass nach einem stationären Aufenthalt so schnell wie möglich eine ambulante Psychotherapie begonnen werden kann. Darüber hinaus fördert das Traumanetzwerk auch die wissenschaftliche Zusammenarbeit, da einige seiner Mitglieder mit der Forschungsgruppe Migration und Menschenrechte verbunden sind.
Schluss und Ausblick Geflüchtete stellen eine Hochrisikogruppe für die Entwicklung psychischer und (in der Folge) auch physischer Erkrankungen dar. Allerdings hängt der Zugang zum Gesundheitssystem in den Aufnahmeländern in beträchtlichem Maße vom jeweiligen Aufenthaltsstatus ab, wie juristische Forschungen zeigen (Bast, 2011). Die tiefe Verunsicherung, die ein unsicherer Aufenthaltsstatus begründet, hindert erkrankte Geflüchtete daran, entsprechende Hilfe einzufordern, weiterhin beein-
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trächtigen existenzielle Ängste vor Abschiebung einen psychotherapeutischen Prozess maßgeblich oder machen diesen oft unmöglich. Die gängigen Behandlungskonzepte ignorieren häufig die benannten über die Erkrankung hinausreichenden Zusammenhänge und Einflussfaktoren und agieren dadurch nicht nur an den Bedürfnissen der Geflüchteten vorbei, sondern vergeben sich die Chancen einer »syndemic care« für Geflüchtete, wenn gerade z. B. die Beratung und Unterstützung in juristischen Fragen keine Berücksichtigung im Gesamtbehandlungskonzept findet (Willen, Knipper, Abadía-Barrero u. Davidovitch, 2017). Aus psychotherapeutischer Sicht sind diese Zusammenhänge in besonderer Weise in der Traumatherapie evident und werden daher in unserem Gießener stationären Versorgungskonzept gezielt adressiert: Therapeutische Maßnahmen zur Wiederherstellung der inneren Sicherheit, die aufgrund von traumatischen Erfahrungen erschüttert ist, können nur gelingen, wenn auch eine stabile, verlässliche und berechenbare äußere Sicherheit gegeben ist.
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Maximiliane Brandmaier/Oliver Göbel/Regina Saile/Ulrike Schneck
Interdisziplinäres Arbeiten – die Behandlung in Psychosozialen Zentren
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»Psychisch kranke Flüchtlinge erhalten viel zu spät Psychotherapie«1 – seit Jahren wird auf die eklatanten Mängel in der Regelgesundheitsversorgung traumatisierter geflüchteter Menschen hingewiesen (Happe, Steinicke u. Westermann, 2018). Die Hürden für den Zugang zu Therapie und/oder Beratung sind groß: geringe Deutschkenntnisse beziehungsweise fehlende Sprachmittlung, die Frage der Kostenübernahme, Unterbringung in entlegenen Sammelunterkünften etc. Zudem leiden Geflüchtete aufgrund multipler Traumata oft an einer komplexen traumareaktiven Symptomatik und das Platzangebot für eine spezialisierte Traumatherapie ist sehr begrenzt. Und auch für Migrationsberatungsstellen stellen die komplexen psychosozialen Problemlagen eine große Herausforderung dar. Erste Anlaufstelle für traumatisierte geflüchtete Menschen sind daher Psychosoziale Zentren (PSZ). Seit etwa vierzig Jahren federn die PSZ Versorgungslücken in der Gesundheitsversorgung durch ein niedrigschwelliges, bedarfsorientiertes Behandlungsangebot ab. Allein zwischen 2013 und 2021 hat sich die Anzahl der unter dem Dach der Bundesarbeitsgemeinschaft psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e. V. – kurz BAfF – organisierten Zentren von 26 auf 47 erhöht. Zu den Angeboten der PSZ gehören psychosoziale und/oder psychologische Beratung, Einzel- und Gruppenpsychotherapie, psychiatrische Versorgung, Kriseninterventions- und Stabilisierungsarbeit oder Telefon- und Notfallsprechstunden. Die Sozialarbeit umfasst unter anderem Sozialberatung und (asyl-)rechtliche Beratung, Unterstützung bei der Inklusion in die Aufnahmegesellschaft sowie die Feststellung besonderer Schutzbedürftigkeit. Manche Zentren bieten kreative oder Bewegungstherapien an, machen Gruppenangebote mit pädagogischem/bildungsorientiertem Fokus oder mit Schwerpunkt Aktivitäten/Freizeit. Zum Teil finden aufsuchende Angebote z. B. in Sammelunterkünften statt. Während des »langen Sommers der Migration« 1 Headlines wie diese ergibt eine Suche auf www.bptk.de.
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im Jahr 2015 und in den Folgejahren boten PSZ vielerorts kurzfristig und flexibel Bedarfsklärung, Krisenintervention und Stabilisierungsmaßnahmen an. Die PSZ unterscheiden sich hinsichtlich ihres Angebots, ihrer Personalkapazitäten und ihres Einzugsgebiets teils erheblich, ländlich geprägte Regionen sind besonders unterversorgt (BAfF, 2020, 2021). In diesem Beitrag werden die PSZ als ein integraler Bestandteil der gesundheitlichen und psychosozialen Versorgung traumatisierter geflüchteter Menschen vorgestellt. Dabei werden zunächst Besonderheiten der Sozialarbeit sowie der Psychotherapie im Vergleich zu anderen Settings hervorgehoben. Anschließend wird die Einbettung in die Versorgungslandschaft diskutiert anhand der Schwierigkeiten, ein sinnvolles Versorgungsmodell zu etablieren.
Besonderheiten der Sozialen Arbeit Ein wesentliches Ziel der Sozialen Arbeit im Kontext der psychosozialen Versorgung ist die Unterstützung von Geflüchteten bei der schrittweisen Inklusion in die Gesellschaft des Aufnahmestaates.2 Möchte die Profession jener Zielsetzung gerecht werden, muss sie zunächst anerkennen, dass ein solches Selbstverständnis weit über das Mandat hinausreicht, welches ihr durch staatliche Politik, Recht und Gesellschaft zugewiesen wird. Sie muss ebenso anerkennen, dass sich die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Arbeit mit Geflüchteten in besonderer Weise zuspitzt (Scherr, 2018). Denn die politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, mit denen sich Menschen konfrontiert finden, die in Deutschland Zuflucht suchen und ein humanitäres Aufenthaltsrecht begehren, scheinen alles andere als geeignet, eine nachhaltige Inklusion zu befördern. Insbesondere Menschen, die sich in einem meist langwierigen Asylverfahren befinden – was faktisch dem Großteil der Klientel der Psychosozialen Zentren entspricht3 – sind von einschlägigen Zugangsbeschränkungen im Hinblick auf nahezu alle gesellschaftlich relevanten Teilbereiche betroffen. Die gesetzlich und administrativ vermittelten Exklusionsformen im Asylverfahren erstrecken sich von der Bewegungsfreiheit, der Wahl des Wohnsitzes und der Wohnform selbst über den Zugang
2 Grundsätzlich lassen sich aus systemtheoretischer Sicht drei basale Funktionen Sozialer Arbeit unterscheiden: Inklusionsermöglichung, Exklusionsvermeidung und Exklusionsverwaltung (Bommes u. Scherr, 1996). 3 42,2 % der Klient*innen der PSZ waren 2019 noch im Asylverfahren, weitere 23,1 % waren geduldet. Lediglich 23,4 % hatten eine Aufenthaltserlaubnis (BAfF, 2021).
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zu Bildung, Sprachkursen, dem Arbeitsmarkt und Sozialleistungen bis hin zur Gesundheitsversorgung und den Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe. Generell gilt: Der jeweilige Aufenthaltsstatus bestimmt wesentlich über Inklusionschancen und Exklusionsgefährdungen von Geflüchteten (Scherschel, 2015). Klient*innen, die aus einem sogenannten sicheren Herkunftsstaat4 stammen, sind beispielsweise weitreichender von Exklusion betroffen (unter anderem aufgrund des Arbeitsverbotes und der Verpflichtung, während des gesamten Asylverfahrens in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen) als etwa Klient*innen, die durch Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft bestimmte rechtliche Privilegien genießen (z. B. aufgrund erleichterter Möglichkeiten, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erhalten). Geflüchtete sind somit in der Regel zunächst erschwerten Lebensbedingungen unterworfen und mit vielfältigen Unsicherheiten konfrontiert. Berücksichtigen wir, dass die Hilfesuchenden in den PSZ vor Verfolgung, Folter oder kriegerischer Gewalt geflohen sind und familiäre, soziale und kulturelle Verluste zu beklagen haben, führen jene Lebensbedingungen in der Aufnahmegesellschaft zusätzlich zu Destabilität und nicht selten zu persönlicher und sozialer Desintegration. Die Priorität in der Versorgung durch Soziale Arbeit wird somit vorerst auf die psychosoziale Stabilisierung gelegt. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang der durch Wertschätzung und Anerkennung getragene Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu den Klient*innen. Im Idealfall entwickelt das PSZ die Funktion eines »safe space«, der es ihnen ermöglicht, Unsicherheiten ab- und Vertrauen aufzubauen. Der Einsatz von Sprachmittelnden in der Psychotherapie und der Sozialen Arbeit leistet hierbei einen unverzichtbaren Beitrag. Er ermöglicht dem Gegenüber, sich in einer ihm vertrauten Sprache mitzuteilen und sich im Rahmen kultursensibler Vermittlung verstanden zu wissen. Das sind Rahmenbedingungen, die im unerlässlichen Kontakt zu Behörden, Ämtern, Ärzt*innen oder Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft in der Regel nicht vorliegen. Geflüchtete sind somit aufgrund multipler Faktoren auf Unterstützung angewiesen, um eigene Interessen, rechtliche Ansprüche und individuelle Bedürfnisse durchzusetzen. Zur Klärung des jeweiligen Unterstützungsbedarfs und der Entwicklung der Hilfeplanung empfiehlt sich die Verwendung des flüchtlingsspezifischen Inklusionscharts (IC_flü), das von Baron, Schriefers, Windgasse und Pantuček-Eisenbacher (2015) als sozialdiagnostisches Instru4
Für eine Übersicht der entsprechenden Länder in der jeweils aktuellen Fassung siehe: https:// www.bamf.de/DE/Themen/AsylFluechtlingsschutz/Sonderverfahren/SichereHerkunftsstaaten/ sichereherkunftsstaaten-node.html (Zugriff: 04.01.2023).
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ment entwickelt wurde.5 So werden die im Einzelfall vorliegenden Inklusionen/ Exklusionen mit Hinblick auf die gesellschaftlich relevanten Teilbereiche (Arbeit, Bildung, Gesundheit, Existenzsicherung, Wohnen, Kommunikation etc.) systematisch erfasst und mögliche Interventionen geplant. Beispiel: In der Regel wird nur Asylbewerber*innen mit sogenannter guter Bleibeperspektive der Zugang zu kostenfreien Integrationskursen gewährt.6 Für die Erhebung mit einer Asylbewerberin aus Senegal beispielsweise würde für den Bereich Bildung/Sprache also die fehlende Zugangsberechtigung für einen Integrationskurs diagnostiziert werden. In zahlreichen Kommunen ist es jedoch möglich, unabhängig von Aufenthaltsstatus und Herkunft kostenfreie Deutschkurse zu besuchen. Als Intervention würde folglich die Anbindung an alternative Kursformate geplant werden, um den Spracherwerb zu gewährleisten. Dieser Logik weiter folgend wird also angestrebt, die Inklusionschancen in den verschiedenen, gleichzeitig aber in gegenseitiger Abhängigkeit stehenden, Lebensbereichen zu erhöhen und damit zur Verbesserung der allgemeinen Lebenssituation beizutragen. Ob ein solcher Prozess gelingen kann, hängt freilich von vielen Faktoren ab. Die Grenzen der Unterstützung im Versorgungsprozess der PSZ sind dabei nicht ausschließlich durch rechtliche Vorgaben gesetzt. Wie etwa ist die regionale Infrastruktur aufgestellt (z. B. Wohnungsmarkt, Arbeitsmarkt etc.)? Welche Möglichkeiten bestehen, in Bezug auf bestimmte Bedürfnisse und Fragestellungen an fachspezifische Beratungsstellen weiterzuvermitteln? Oder mit Blick auf das PSZ selbst: Welche personellen Kapazitäten stehen zur Verfügung? Welche fachlichen Kompetenzen bringen die Mitarbeitenden mit? Und nicht zuletzt mit Blick auf die Klient*innen: Welche Bedürfnisse liegen vor und welche Zielvorstellungen haben sie selbst? Welche Ressourcen bringen sie mit und welche Beeinträchtigungen liegen vor? Diagnostische Befunde aus der Psychotherapie müssen bezogen auf den Einzelfall also im Kontext der sozialen Diagnostik berücksichtigt und Interventionsformen beider Professionen aufeinander abgestimmt werden.
5 Das IC_flü ist Ergebnis eines Pilotprojektes zur Entwicklung von Indikatoren für die Inklusion von Geflüchteten in Deutschland, das 2014 von der BAfF initiiert wurde. 6 Gemeint sind Menschen, die aus Herkunftsländern mit einer Schutzquote von über 50 % kommen. Für eine aktuelle Übersicht der entsprechenden Herkunftsländer siehe: https:// www.bamf.de/SharedDocs/FAQ/DE/IntegrationskurseAsylbewerber/001-bleibeperspektive. html?nn=282388n (Zugriff 04.01.2023).
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Die Psychosozialen Zentren bieten eine bedarfsorientierte psychotherapeutische Behandlung für traumatisierte Geflüchtete an. Von Beginn an wird der Fokus sowohl auf psychosoziale, kulturelle, migrationsspezifische, medizinische als auch auf individualpsychologische beziehungsweise traumaspezifische Aspekte gerichtet (Schneck, 2017). Die verschiedenen Betrachtungsebenen werden über die gesamte Behandlung hinweg in den therapeutischen Prozess integriert. Psychotherapie in den PSZ findet in einem Setting statt, in dem Geflüchteten stets ein Gefühl der Sicherheit, Orientierung und Kontrolle vermittelt werden soll. Gerade bei komplex traumatisierten Klient*innen ist es wichtig, Vertrauen zu schaffen. Dies geschieht durch Transparenz über die Rolle der Therapeut*innen und der Sprachmittler*innen,7 Aufklärung über die Psychotherapie, Vertraulichkeit, Verbindlichkeit, Selbstbestimmtheit der Klient*innen und das Einhalten von Grenzen. Eine kultursensitive Herangehensweise im Sinne einer offenen Haltung, bei der die eigenen kulturellen Bezugssysteme und das vermeintliche Wissen über die kulturellen Bezugssysteme des Gegenübers kontinuierlich reflektiert und hinterfragt werden (BAfF, 2017), bildet die Grundlage für gegenseitiges Verständnis und eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung (vgl. Ortmann u. Bräutigam in diesem Band). Zudem kann Kultursensibilität beinhalten, dass Behandler*innen ihren individualistischen Fokus erweitern und die Klient*innen in ihren sozialen Bezügen wahrnehmen, verstehen und gegebenenfalls auch unter Einbezug der Angehörigen behandeln (von Lersner u. Kızılhan, 2017). Aus einer menschenrechtlichen Perspektive heraus ist es bedeutsam, die traumatischen und belastenden Ereignisse vor, während und nach der Flucht nicht isoliert als individuelle Erfahrungen, sondern in ihrem soziopolitischen Kontext zu betrachten und zu würdigen. Die Erfahrungen von schwerer interpersoneller und politischer Gewalt im Herkunftsland und auf der Flucht bedingen zusammen mit Postmigrationsstressoren im Aufnahmeland häufig komplexe Traumafolgestörungen (Hecker, Huber, Maier u. Maercker, 2018). Die Kontextualisierung der erlebten traumatischen Erfahrungen und die Berücksichtigung des aktuellen psychosozialen Kontexts spielen somit eine wichtige Rolle für das Verständnis der Symptome und die multimodale Behandlungsplanung. Als wirksame Behandlung komplexer Traumafolgestörungen bieten die meisten PSZ eine Kombinationsbehandlung bestehend aus psychosozialen Interventionen, Interventionen zur affektiven Stabilisierung und Traumabearbeitung an. Die Wirksam7 Ausführlich zu Sprachmittlung in Psychotherapie vgl. Schriefers und Hadžić (2018) sowie Hadžić und Tilton in diesem Band.
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keit von traumaspezifischer Psychotherapie ist nicht abhängig vom Aufenthaltsstatus, es zeigt sich jedoch, dass Klient*innen mit unsicherem Aufenthaltsstatus insgesamt deutlich höher belastet sind (Brune, Eiroa-Orosa, Fischer-Ortman u. Haasen, 2014). Schwere depressive Symptome, die häufig mit Postmigrationsstressoren assoziiert sind, können zudem die Behandlung der posttraumatischen Symptome behindern (Haagen, Ter Heide, Mooren, Knipscheer u. Kleber, 2017). Darum bezieht die Psychotherapie mit traumatisierten Geflüchteten in den PSZ immer den Kontext eines unsicheren Aufenthaltsstatus und den psychosozialen Kontext mit ein. Die oftmals dauerhafte Unsicherheit der eigenen Bleibeperspektive in Deutschland ist häufig mit einer starken affektiven Dysregulation verbunden. Techniken zur affektiven Stabilisierung können Klient*innen dabei helfen, mit der asylrechtlich unsicheren Situation umzugehen oder/und in der Anhörung beim BAMF oder beim Verwaltungsgericht konkret über ihre traumatischen Erfahrungen zu berichten, ohne zu dissoziieren, von traumatischen Erinnerungen überwältigt zu werden oder mit starker Vermeidung zu reagieren. Der unsichere Aufenthaltsstatus der Klient*innen stellt Psychotherapeut*innen vor die zusätzliche Verantwortung, die im Rahmen der Therapie erfassten juristisch relevanten Informationen und Befunde zu dokumentieren und in Fällen, in denen es notwendig und sinnvoll erscheint, in Form einer Stellungnahme darzulegen und dadurch die Klient*innen als Rechtsträger*innen zu bestärken. Hintergrund ist, dass Geflüchtete nur durch Vorlage von fachärztlich-psychotherapeutischen Stellungnahmen erreichen können, dass eine schwerwiegende psychische Erkrankung im Asylverfahren berücksichtigt wird (Jentsch, 2020). Zusammenfassend kann die Psychotherapie in den Psychosozialen Zentren in dem Sinne als niedrigschwellig angesehen werden, dass Barrieren gezielt abgebaut werden. Insgesamt handelt es sich um ein hoch spezialisiertes Angebot, das auf die effektive Behandlung von komplexen Traumafolgestörungen unter Berücksichtigung des psychosozialen Kontextes ausgerichtet ist. Bedarfsorientierung, Kontextualisierung der Symptomatik und der Einbezug der menschenrechtlichen Perspektive strukturieren als behandlungsleitende Elemente das interdisziplinäre Behandlungsangebot, bei dem psychotherapeutische Methoden kultursensitiv, flexibel und kontextbewusst eingesetzt werden.
Die Kraft von Konvergenzen Der historische Rückblick auf die frühe Entstehungsphase der PSZ in Deutschland (1980 bis Anfang der 1990er Jahre) lässt erkennen, dass sich die klinischen Disziplinen (Psychiatrie, Psychotherapie, Allgemeinmedizin, Forensik etc.) im
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Sinne einer kritischen Selbstreflexion bereits früh der Erkenntnis stellen mussten, dass ausschließlich klinische Interventionen nicht ausreichten, um eine psychosoziale Stabilisierung der Adressat*innen zu gewährleisten. Erste Tagungen und wissenschaftliche Auseinandersetzungen befassten sich folglich mit der Frage, wie ein ganzheitliches Interventionsmodell aussehen kann, das der Komplexität des Themengeflechtes aus Flucht, Gewalt und Trauma Rechnung trägt. Auch Gebrande und Lebküchner (2020) merken an: »Für die Stabilisierung und Neuorientierung braucht es ein Netzwerk unterschiedlicher Professionen, das die physischen, psychischen, kognitiven, moralischen, sozialen und rechtlichen Integritäten der Menschen berücksichtigt, wahrt und achtet oder wieder herzustellen anstrebt« (Gebrande u. Lebküchner, 2020, S. 165). Gerade wenn Betroffene in ihrer aktuellen Lebenslage sehr wenig Kontrollierbarkeit und eigene Handlungsspielräume wahrnehmen, wenn kontinuierlich ein Ohnmachts- und Hilflosigkeitserleben reproduziert wird, kann psychosoziale Beratung dabei helfen, die eigene Handlungsfähigkeit (wieder) zu entdecken: »Erst wenn jemand in der Lage ist, die eigenen Probleme mit dem eigenen Handeln und Erleben in Verbindung zu bringen, sie also nicht nur zu externalisieren, ist Veränderung durch eigenes Handeln in der sozialen Umgebung möglich. Ein erlebter Selbstbezug ist für die psychotherapeutische Bearbeitung normalerweise Voraussetzung für eine erfolgversprechende Behandlung« (Pauls, 2020, S. 33). So kann durch eine Stabilisierung der äußeren Rahmenbedingungen (Aufenthaltssicherung, sicheres Wohnumfeld etc.) häufig überhaupt erst die Grundlage für psychotherapeutische Interventionen geschaffen werden: »Dabei kommen dem Aufbau einer vertrauensvollen und wertschätzenden Arbeitsbeziehung, der Würdigung der Gesamtsituation, der Etablierung eines Gefühls der Sicherheit sowie ersten stabilisierenden Maßnahmen im sozialen Umfeld eine weit größere Bedeutung zu als die Funktion, die Helfende innerhalb der Institution einnehmen […] im Rahmen eines integrierten Versorgungsangebots [können] diese Unterstützungsleistungen einfacher koordiniert, Anliegen schneller bearbeitet und Probleme damit effizienter und effektiver gelöst werden« (Brandmaier u. Golatka, 2020, S. 156 f.). Idealerweise ergänzen sich Soziale Arbeit und Psychotherapie in der Praxis, dabei tragen eine Integration der Methoden und ein ganzheitliches biopsychosoziales Verständnis der Traumafolgestörungen und der aktuellen Problemlagen zur Effektivität der Behandlung bei. Eine gelingende Kooperation beruht dabei auch immer auf dem Respekt vor der Kompetenz und dem Wissen der jeweils anderen Profession und im Bewusstsein der fachlichen Differenzen und Hinter-
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gründe (z. B. der Bezugswissenschaften, der diagnostischen Herangehensweise etc.). Als unverzichtbare Bestandteile zeigen sich in der Praxis regelmäßige Intervisionen und Supervisionen. Hier findet ein interdisziplinärer Austausch statt, der auch das Verständnis für die unterschiedlichen fachlichen Perspektiven, Aufträge, Ziele und Werte fördert (Großmaß, 2020). Für die Zusammenarbeit ist es wichtig, sich der Kultur der eigenen Profession bewusst zu sein und ein »gut entwickeltes Selbstbewusstsein hinsichtlich der eigenen fachlichen Kompetenzen und der wissenschaftlichen und professionellen Eigenständigkeit« (Großmaß, 2020, S. 109) zu haben.
Von den Schwierigkeiten, ein sinnvolles Versorgungsmodell zu etablieren In der Praxis zeigt sich jedoch, dass insbesondere die Gewährung von Hilfe unabhängig vom Aufenthaltsstatus sowie die sektorenübergreifende multiprofessionelle und integrierte gesundheitliche und psychosoziale Versorgung immer wieder große Herausforderungen in der Finanzierung bergen. Warum ist das so? Ein Grund liegt darin, dass eine solche Komplexleistung in unserem Gesundheitssystem bisher kaum abbildbar ist. Während Psychotherapie unter bestimmten Voraussetzungen teils über Sozialämter abgerechnet werden kann (siehe unten), müssen Angebote wie Kunst- oder Bewegungstherapie sowie die Sozialarbeit mit Erwachsenen oder Familien über Projektgelder finanziert werden. Die Zentren stehen also vor der Anforderung, ihre sinnvolle Komplexleistung zur Finanzierung in Einzelbestandteile aufzulösen und sie bei unterschiedlichen Kostenträgern zu beantragen. Die Finanzierung von Psychotherapie, die ca. 40 % der Klient*innen eines PSZ meist zusätzlich zu anderen Angeboten wahrnehmen,8 ist besonders komplex: Die PSZ sind kein Bestandteil der Regelversorgung im Gesundheitswesen und werden somit auch nicht automatisch über das System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanziert. Da die in den PSZ versorgten Geflüchteten zum Zeitpunkt ihrer Anmeldung zu etwa 80 % keinen gesicherten Aufenthalt in Deutschland haben (BAfF, 2021) und für viele noch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) gilt, ist nicht die Krankenkasse der Kostenträger, sondern 8 68,8 % der Klient*innen wurden 2019 stabilisierend begleitet und bekamen (psycho-)soziale und asylrechtliche Beratung; 42,8 % waren – in der Regel zusätzlich – in Psychotherapie. Nur 14,7 % wurden ausschließlich psychotherapeutisch versorgt, 18,2 % nahmen kreative, bewegungs- oder bildungsorientierte Angebote oder Ähnliches wahr (BAfF, 2021).
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das Sozialamt der jeweiligen Kommune. Hier liegen die Bearbeitungszeiten der Anträge auf Psychotherapie jedoch bei neun bis zwölf Monaten, zudem stellt diese im Rahmen des AsylbLG keine Grundleistung dar, daher werden die Anträge häufig abgelehnt,9 obwohl eine rasche Behandlung den Betroffenen viel Leid und der Gesellschaft hohe Folgekosten ersparen würde. Um dem gestiegenen Behandlungsbedarf geflüchteter Menschen gerecht zu werden, wurde im Jahr 2015 der Anspruch auf Ermächtigung gemäß § 31 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV eingeführt. Diese neu geschaffene Regelung ermöglicht, dass (approbierte) Psychotherapeut*innen Geflüchtete auch ohne Kassensitz behandeln dürfen – allerdings nur Empfänger*innen der Analogleistungen nach § 2 AsylbLG. Demnach kann die Behandlung im Rahmen der Ermächtigung ab dem 15. Monat des Aufenthaltes in Deutschland und bis zum Abschluss des Asylverfahrens oder bis zur Aufnahme einer Arbeit/Ausbildung abgerechnet werden. Das Zeitfenster ist hierdurch extrem eingeschränkt und kann zu einem Bruch führen, sobald die PSZ nicht mehr über die Ermächtigung abrechnen können. Danach müsste eine Psychotherapie bei niedergelassenen Psychotherapeut*innen erfolgen, die Weitervermittlung gelingt in vielen Fällen aufgrund verschiedener Zugangsbarrieren jedoch nicht. In der Praxis behandeln die PSZ also weiter – ohne dafür von der Kassenärztlichen Vereinigung entsprechend entlohnt zu werden. Neben fehlenden Therapieplätzen für schwer traumatisierte Menschen stellt die Finanzierung der Sprachmittlung eine der größten Hürden dar. Diese wird in der Regel für alle Angebote benötigt, gehört jedoch bisher nicht zur Regelfinanzierung. Aus Sicht der Autor*innen ist es dringend notwendig, in einem ersten Schritt gesetzliche Garantien im SGB V zur Kostenübernahme von Sprachmittlung zu schaffen. Beratung, Krisenintervention, Sozialarbeit und andere Leistungen können über die Krankenkassen ohnehin nicht abgerechnet werden. Viele PSZ haben daher um die zehn Kostenträger, um alle notwendigen Komplexleistungen finanzieren zu können. Der administrative Aufwand ist extrem hoch: Jeder Kostenträger hat eigene Kriterien, schließt bestimmte Personengruppen und Leistungen ein oder aus. All dies muss dokumentiert, hinterlegt und nachgewiesen werden. Die meisten Gelder sind jedes Jahr neu zu beantragen, ob es sich dabei um Landes- oder Bundesmittel oder um Projektmittel von Kirchen und Menschenrechtsorganisationen sowie Stiftungen handelt. Auch die Höhe von Mitgliedsbeiträgen und Spenden variiert, weshalb in der Regel zu Beginn des Kalenderjahres nicht klar ist, welches Budget insgesamt zur Verfügung steht. 9 Im Jahr 2019 wurden 44,1 % der Anträge auf Kostenübernahme von Psychotherapie im PSZ über die Sozialämter abgelehnt (BAfF, 2021, S. 8).
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Trotz dieser Rahmenbedingungen versorgen die aktuell 47 PSZ in Deutschland insgesamt pro Jahr ca. 25.000 traumatisierte Geflüchtete. Die PSZ sind jedoch nicht nur Zentren der Gesundheitsversorgung, die eine Komplexleistung anbieten, sie sind in der Regel zivilgesellschaftlich getragene Organisationen und Vereine, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte von Geflüchteten einsetzen. Dies geschieht durch (Fach-)Veranstaltungen und gezielte Advocacy-Arbeit, zudem gibt es häufig auch ehrenamtlich Engagierte in den PSZ. Durch fachärztlich-psychologische Stellungnahmen leisten sie neben der Unterstützung der Einzelnen bei der Wahrnehmung des Schutzrechts einen wichtigen Beitrag zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, die den psychischen Traumata zugrunde liegen. Private Spenden oder Fördermittel von Stiftungen, die einen menschenrechtlichen Auftrag haben, sind daher für viele PSZ eine wichtige finanzielle Basis. Um qualifiziertes Personal anstellen zu können, das zudem hoch engagiert sein muss, um die inhaltlichen hohen Herausforderungen in der Arbeit mit Geflüchteten und Folteropfern zu bewältigen, ist die Schaffung von tragfähigen Rahmenbedingungen die erste Voraussetzung. Wie man die geschilderten Hürden überwinden und ein neues PSZ gründen kann, ist in einem 2020 veröffentlichten Leitfaden nachzulesen (Windgasse, Zito u. Katzewski, 2020).
Schluss und Ausblick Die Angebote der PSZ orientieren sich eng an den Bedürfnissen und der Lebenssituation der Geflüchteten. Das Ziel ist die Verbesserung der Gesundheit auf allen Ebenen, was eine biopsychosoziale Perspektive einschließt. Die Multiprofessionalität in den Zentren zeichnet sich durch eine Vielzahl unterschiedlicher Kompetenzen aus und ist in ein ganzheitliches Konzept eingebettet, das in unterschiedlichem Ausmaß sozialarbeiterische und psychosoziale, pädagogische, psychologische und (psycho-)therapeutische Angebote und gegebenenfalls medizinische Hilfe umfasst. Wenngleich der Bedarf an Psychotherapie sehr hoch ist, so erhalten diese lange nicht alle Klient*innen eines PSZ, in der Regel auch zusätzlich zur Beratung. Und die Wartezeiten sind häufig lang. Die psychosozialen Beratungsangebote in den PSZ, die niedrigschwelliger sind und konkrete Hilfestellungen bei der Bewältigung von Postmigrationsstressoren bieten, haben im Gesamtspektrum einen hohen Stellenwert. Es zeigt sich, dass bei den komplexen psychosozialen und rechtlichen Problemlagen der Klient*innen gerade die interdisziplinäre Zusammenarbeit sehr wichtig ist. Gleichzeitig ist die Vermittlung zu niedergelassenen Psychotherapeut*innen nach wie vor schwierig, da
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die Psychotherapie mit Asylsuchenden einen organisatorischen Mehraufwand mit Planungsunsicherheit darstellt, wenngleich es Kostenübernahmemodelle gibt. Auch wenn es ein Ziel bleiben muss, geflüchtete und asylsuchende Menschen in die Regelgesundheitsversorgung und in die regulären sozialen Hilfen zu integrieren – auch um eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten – bilden die PSZ angesichts des ungebrochen hohen Bedarfs, ihrer Expertise und dem spezialisierten multiprofessionellen Angebot weiterhin einen zentralen und unerlässlichen Bestandteil in der psychosozialen Gesundheitsversorgung.
Literatur 2
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Matthias Müller
Stärkenorientiertes Migrationsfachdienst- Case-Management
Migration ist eine die moderne Gesellschaft prägende und notwendige Bewegung von Menschen. Prägend ist sie, weil beispielsweise die großen Modernisierungsschübe nicht ohne Migration möglich gewesen wären (z. B. die Industrialisierung des Ruhrgebiets). Notwendig ist sie unter anderem, weil der moderne Arbeitsmarkt bewegliche Menschen voraussetzt und davon lebt, dass sich die Menschen dorthin bewegen, wo sie Arbeit finden können. Solche Bewegungen werden als Binnen-, Experten- und Arbeitsmigration bezeichnet (M. Müller 2020a, S. 25–29). Das Thema Migration ist dann mit den Möglichkeiten eines globalen Arbeitsmarktes verbunden und von den politischen Bemühungen gestützt, die Grenzen Deutschlands/Europas für bestimmte Menschen offen und durchlässig zu machen (z. B. die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union oder durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz). Migration steht aber auch in Verbindung zu der Destruktivität von Grenzschließungen, globalen Dramen durch Diktaturen, Kriege, Dürren, Verelendung, Umweltzerstörungen etc. In dieser Facette haben wir es mit Fluchtmigration zu tun, die gerade durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zu einer lange vergessenen europäischen Naherfahrung geworden ist. Menschen, die sich aus diesen Gründen in Bewegung setzen, haben größere Schwierigkeit, so gewollt zu sein wie die zuvor beschriebene Gruppe. Für sie ist die Partizipation am globalen Arbeitsmarkt erschwert. Die Welt bleibt ihnen verschlossen und sie erleben politische Bemühungen, die Grenzen z. B. Deutschlands und Europas für sie zu schließen beziehungsweise geschlossen zu halten (z. B. durch strenge Auslegungen des Asylgesetzes, durch die Verweigerung der Aufnahme von in Seenot geratenen Menschen, durch illegale Pushbacks etwa an der polnisch-belarussischen Grenze). Dies ist nur eines von vielen Spannungsverhältnissen, von denen die Arbeit der Migrationsfachdienste durchzogen ist (ausführlich M. Müller, 2020a) und die destruierende Wirkungen auf die Nutzer*innen haben können. Dieser Beitrag stellt zunächst die Arbeit der Migrationsfachdienste vor. Dann wird verdeutlicht, wie den Nutzer*innen der Migrationsfachdienste in den Verhält-
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nissen, in denen sie leben, Probleme gemacht werden. Im nächsten Schritt wird auf das Case Management als die Arbeit der Migrationsfachdienste rahmendes sozialarbeiterisches Gesamtkonzept eingegangen. Mit einer differenzierten Betrachtung des Stärkenorientierten Migrationsfachdienst-Case-Managements wird dann verdeutlicht, wie in der Fallarbeit an der Selbstwirksamkeit der Nutzer*innen gearbeitet werden kann. Ein kurzer Schluss und Ausblick thematisiert dann einige Entwicklungsperspektiven für die Migrationsfachdienste.
Migrationsfachdienste Die Bezeichnung »Migrationsfachdienste« ist ein Oberbegriff für die Jugendmigrationsdienste (JMD) und die Migrationsberatung für erwachsene Zuwan derer*innen (MBE; Spitzer u. Pape, 2017, S. 2). Die JMD wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ; BMFSFJ, 2016) und die MBE vom Bundesministerium des Innern (BMI; BMI, 2020a) finanziert. Die Zuordnung zu den verschiedenen Bundesministerien resultiert insbesondere aus den unterschiedlichen Zielgruppen. Die JMD richtet sich an junge Menschen mit Migrationshintergrund zwischen 12 und 26 Jahren und soll dazu beitragen, ihre Integrationschancen zu verbessern (sprachliche, soziale, schulische und berufliche Integration), die Chancengerechtigkeit zu fördern und die Förderung und Partizipation der Nutzer*innen in allen Bereichen des sozialen, kulturellen und politischen Lebens zu unterstützen (BMFSFJ, 2016, S. 2). Die MBE richtet sich an Migrant*innen über 27. Lebensjahren (BMI, 2020a, S. 898) und ist hinsichtlich ihrer Zielgruppe spezifischer als die JMD. Die MBE richtet sich an Menschen, die eine Bleibeperspektive haben. Das sind Spätaussiedler*innen, ihre Ehegatt*innen und ihre Abkömmlinge (§§ 4 und 7 BVFG). Des Weiteren gehören neu zugewanderte Menschen und Menschen, die sich rechtmäßig und dauerhaft in Deutschland aufhalten (§ 44 AufenthaltsG), Bürger*innen der Europäischen Union im Rahmen des Freizügigkeitsrechtes (§ 11 Absatz 1 Freizügigkeitsgesetz/EU), deutsche Staatsbürger*innen und schon länger Zugewanderte, die nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, zur Zielgruppe der MBE (BMI, 2020a, S. 898). Anders als bei der JMD gehören Menschen, bei denen kein dauerhafter Aufenthalt in Deutschland zu erwarten ist (§ 29a Asylgesetz), nicht zur Zielgruppe der MBE (BMI, 2020a, S. 898). Die MBE-Arbeit ist an der bedarfsorientierten Beratung ihrer Zielgruppe oder an der Notwendigkeit eines Integrationskurses ausgerichtet (BMI, 2020a, S. 898). Sie »soll durch Informationsvermittlung, professionelle Beratung und sozialpädagogische Begleitung den Integrations-
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prozess erwachsener Zugewanderter gezielt initiieren, steuern und begleiten« (BMI, 2020a, S. 897). Grob lassen sich für die Migrationsfachdienste folgende, sich zum Teil überschneidende Zielgruppen aus den Bevölkerungsstatistiken benennen, auf die sich die Beratungsarbeit bezieht: Ȥ Menschen mit Migrationshintergrund:1 22.401.000 Menschen (Stand 2020), ca. 27 % der Gesamtbevölkerung (Statistisches Bundesamt, 2020), Ȥ Anteil Ausländer*innen: 10.585.053 Menschen (Stand 2020), 12,7 % der Gesamtbevölkerung (Statistisches Bundesamt, 2020), Ȥ die prinzipiell gewollte EU-Binnenmigration: 748.994 Menschen (Stand 2019; BMI, 2020b, S. 70), Ȥ die gewollte und über die Jahre relativ stabile Zahl der Spätaussiedler*innen: 7.155 Menschen (Stand 2019; BMI, 2020b, S. 10), Ȥ Familiennachzüge: 96.633 Menschen (Stand 2019; BMI, 2020b, S. 70), Ȥ jährliche Einwanderung: 1.558.612 Menschen (Stand 2019; BMI, 2019, S. 44–46), Ȥ die prinzipiell gewollte Migration durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz: ca. 30.000 Menschen (Stand März 2021; BMWK, 2021), Ȥ der vom globalen Kriegsgeschehen abhängige und daher von erheblichen Schwankungen geprägte Anteil geflüchteter Menschen: 142.509 Asylanträge (Stand 2019, gilt nicht für die MBE; BMI, 2020b, S. 70). Die individuelle Integrationsförderung der JMD erfolgt freiwillig und bedarfsorientiert (BMFSJ, 2017a, S. 3) und das Beratungsangebot der MBE ist bedarfsorientiert und individuell (BMI, 2020a, S. 898). Da weder die JMD noch die MBE über die Mittel verfügt (z. B. Transferleistungen), ihre Zielgruppe in ihre Beratung zu zwingen, ist die Freiwilligkeit der Inanspruchnahme der Beratungsleistung der Migrationsfachdienste für diese ein zentrales, konstituierendes Merkmal. Die JMD und die MBE verfügen über ein die Migrationsfachdienstarbeit bestimmendes Repertoire sozialarbeiterischer Arbeitsmethoden. Diese sind: Ȥ Case Management, Ȥ sozialpädagogische Begleitung, Ȥ soziale Gruppenarbeit/Gruppenangebote, Ȥ Netzwerkarbeit/Sozialraumaktivitäten, Ȥ interkulturelle Öffnung der Regeldienste (M. Müller, 2020a, S. 17 f.). 1 Vgl. Treibel (2015, S. 28) zur Geburtsland- und Staatsangehörigkeitsbeziehung sowie dem Charakter der Bezeichnung Migrationshintergrund als Containerbegriff, mit dem öffentlich, politisch und statistisch agiert wird.
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Das Case Management ist in diesem Methodenrepertoire das zentrale, die Arbeit der Migrationsfachdienste rahmende Fachkonzept Sozialer Arbeit, das es erlaubt, alle anderen Arbeitsmethoden der Migrationsfachdienste systematisch zu integrieren und für eine gute – integrierte – Fachpraxis aufeinander zu beziehen (M. Müller, 2020a, S. 49–88).
Von den Strukturen zu den nutzer*innenbezogenen personifizierten Problematisierungen Die Migrationsfachdienste arbeiten mit Menschen, denen das Label Migrant*in anheftet beziehungsweise angeheftet wird. Denn durch »die Beforschung, Benennung und Kategorisierung von Migrant_innen und ihren Nachkommen [wird] […] eine immerwährende Differenz reproduziert« (Foroutan u. Ikiz, 2016, S. 139 f.). Die Menschen, die mit dem Thema Migration verbunden werden, bleiben andere, die anders sind als die Einheimischen – wer immer das genau ist –, die eine spezifische auf ihre Migrationsmarkierung zurückzuführende Förderung benötigen, die aber auch ein vermeintlich anderes Bedrohungspotenzial mitbringen und die zu integrieren sind usw. »Sie stehen im Scheinwerferlicht mit ihrem in der Regel problematisierten Anderssein als Migrant*innen« (M. Müller, 2020a, S. 35). In diesen Problematisierungsdiskursen stoßen die Menschen an Grenzen und erfahren Benachteiligung. Dies gilt sowohl strukturell, z. B. hinsichtlich der Benachteiligung am Arbeitsmarkt, als auch im eigenen Erleben, z. B. dass die Menschen das negativ auf sie projizierte Selbstbild übernehmen (Foroutan u. Ikiz, 2016, S. 140 f.). In solchen Fällen zerstören die negativen Fremdkonstruktionen die eigene Personenkonstruktion und -identität und die Menschen mit Migrationshintergrund glauben gegebenenfalls selbst daran, vermeintlich weniger wert oder weniger geeignet für bestimmte Arbeiten zu sein als die Nicht-Migrant*innen (Foroutan u. Ikiz, 2016, S. 140 f.). Aus Sicht der postkolonialen Theorie werden die Menschen in der zuvor beschriebenen Dynamik durch hegemoniale Strukturen zu anderen gemacht, als sie sind. Dieser Prozess wird als Othering/VerAnderung bezeichnet (Foroutan u. Ikiz, 2016, S. 142). In ihm wird über die Mehrheitsgesellschaft der Andere – Mensch mit Migrationshintergrund – als kulturell Anderer, als unnormal und minderwertig markiert und mit meist negativen und abwertenden Zuschreibungen versehen. Die Migrationsfachdienste selbst produzieren, in politischer Beauftragung und in helfender Absicht, einen solchen VerAnderungsprozess mit, denn als spezialisierter Fachdienst sind sie auch ein Teil der Strukturen, die dafür sorgen, dass Menschen mit Migrationshintergrund zu Anderen werden. »Auch wenn die
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Migrationsfachdienste sicherlich nicht diejenigen sind, die den VerAnderungsprozess diskursbestimmend prägen, so realisieren sie doch Alltagspraxen, die eben einen Teil der VerAnderung hervorbringen« (M. Müller, 2020a, S. 37). Dabei handelt es sich um eine zentrale Paradoxie der Praxis der Migrationsfachdienstarbeit. Ein sehr viel stärker die Migrationsfachdienstarbeit prägender VerAnderungsprozess betrifft aber die Nutzer*innen selbst und ist mit dem Aufenthaltsstatus verbunden. Denn alle Menschen, die keine deutschen Staatsbürger sind (§ 2 Abs. 1 AufenthG) und nicht unter den Artikel 116 Abs. 1 GG fallen (Tießler-Marenda, 2018, S. 8), durchlaufen einen aufenthaltsbezogenen VerAnderungsprozess. Durch ihren Aufenthaltsstatus werden sie im Vergleich zu deutschen Staatsangehörigen zu Trägern von anderen Rechten. Es kann zwischen wenigstens neun unterschiedlichen Aufenthaltsstatusgruppen nicht deutscher Staatsangehöriger unterschieden werden (Ronte, 2018, S. 39–118). Dabei bestimmt der Aufenthaltsstatus gegebenenfalls über den Wohn- und Lebensort der Menschen. Wobei die Missachtung des zugewiesenen Wohn- und Lebensortes strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht und die räumliche Beweglichkeit der Menschen somit massiv eingeschränkt ist. Des Weiteren entscheidet der Aufenthaltsstatus darüber, ob die Menschen arbeiten dürfen oder nicht und ob sie an Bildung (z. B. einem Integrationskurs) teilnehmen können. Auch ob die Möglichkeit besteht, dass die Familie nach Deutschland nachziehen darf, ist vom Aufenthaltsstatus abhängig. Dies gilt auch für die Art der Transferleistung, die den Menschen zusteht (z. B. Asylbewerberleistungsgesetz oder Arbeitslosengeld II; Ronte, 2018, S. 39–118). Zusammengefasst erfahren die Nutzer*innen der Migrationsfachdienste eine zusätzliche fremdauferlegte Problemlast, die einen starken Defizitfokus auf sie nach sich zieht und ihre Stärken und Ressourcen in einem erheblichen Maße verdecken und blockieren kann.
Case Management als die Migrationsfachdienste rahmendes sozialarbeiterisches Konzept Im Case Management wird zwischen der Fall- und (Versorgungs-)Systemebene unterschieden (Ehlers u. M. Müller, 2013, S. 107–113). Auf der Fallebene des Case Managements stehen die Nutzer*innen der Migrationsfachdienste im Fokus der Betrachtung und es geht um die Realisierung des Hilfeprozesses mit den Ratsuchenden. Die Fallarbeit wird im Case Management personenzentriert nach den Zielen und Bestrebungen der Ratsuchenden gestaltet (Ehlers u. M. Müller, 2013, S. 107–113). Das Kriterium der Freiwilligkeit der Migrationsfachdienstarbeit
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wird also mit dem Case Management erfüllt. Daraus ergibt sich die fachliche Prämisse, dass niemand anderes als die Nutzer*innen der Migrationsfachdienste selbst bestimmen, was in ihren Hilfeprozessen bearbeitet wird. Die (Versorgungs-)Systemebene fokussiert die Verhältnisse/Rahmenbedingungen, in denen die Arbeit der Migrationsfachdienste umgesetzt wird (Ehlers u. M. Müller, 2013, S. 107–113). Das umfasst sowohl die Organisationen und Fachkräfte, mit denen die Migrationsfachdienste in der Fallarbeit zusammenarbeiten, als auch das Gemeinwesen/den Sozialraum, in dem die Nutzer*innen leben und der Migrationsfachdienst verortet ist. Sie erfasst somit die Umweltbedingungen der Nutzer*innen und des Migrationsfachdienstes. Eine wesentliche Idee des Case Managements ist es, dass das Wissen aus der Einzelfallarbeit über z. B. fehlende Hilfestrukturen oder auch Schwierigkeiten, die den Nutzer*innen durch die Hilfestrukturen gemacht werden (z. B. durch das Jobcenter), in die (Versorgungs-)Systemebene kommuniziert wird. Es ist somit eine explizite Aufgabe der Fachkräfte in den Migrationsfachdiensten, mit ihrem Wissen aus der Fallarbeit die Verhältnisse/Rahmenbedingungen der (Versorgungs-)Systemebene so zu gestalten, dass es für die Nutzer*innen und für die Arbeit mit ihnen förderlich ist. Im Case Management kann zwischen Provider-Driven-Case-ManagementAnsätzen und Client-Driven-Case-Management-Ansätzen unterschieden werden (Greene u. Uebel, 2007). Die Provider-Driven-Case-Management-Ansätze agieren stärker orientiert an der (Versorgungs-)Systemebene. In ihnen können in der Regel höhere Fallzahlen bewältigt werden. Die Client-Driven-CaseManagement-Ansätze sind stärker auf die Fallebene ausgerichtet. In ihnen wird eine intensivere Fallarbeit praktiziert und es können dementsprechend weniger Fälle bearbeitet werden. Migrationsfachdienste realisieren Client-Driven-CaseManagement-Ansätze, weil sie – wie schon erwähnt – keine direkten Ressourcen (z. B. Transferleistungen) für die Nutzer*innen freigeben. Die Abbildung 1 veranschaulicht die bisher dargestellten Aspekte des Case Managements in den Migrationsfachdiensten. Im Case Management werden unterschiedliche Funktionen (Frommelt et al., 2008, S. 15 f.) unterschieden, die die Case Manager*innen übernehmen können. Die Provider-Driven-Case-Management-Ansätze werden eher in den Funktionen des Gate-Keepers (Türöffner*in) oder/und des Brokers (Vermittler*in) ausgeführt. In der Gate-Keeper-Funktion geht es um die Steuerung des Zugangs zu Leistungen (z. B. Arbeitslosengeld II). In der Broker-Funktion geht es um die Organisation des Hilfenetzwerkes in einer neutralen und beraterischen Vermittlung von Diensten. In Client-Driven-Case-Management-Ansätzen werden eher die Funktion der Advocacy (Rechtsbeistand/Fürsprecher*in) und des Supporters (Unterstützer*in) umgesetzt. In der Advocacy-Funktion setzen sich die
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Interkulturelle Öffnung der Regeldienste
Heim
Krankenhaus
Gremien
»(Versorgungs-)Systemebene«
Kindertageseinrichtung
»Provider-Driven Case-Management« Jugendamt Träger SPFH
Sozialamt
Jugendclub
Jobcenter Beratungsstelle
Soziale Gruppenarbeit/ Gruppenangebote
Netzwerkarbeit/ Sozialraumaktivitäten
Migrationsfachdienstberater*in
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Einzelfallarbeit im Case Management
»sozialpädagogischen Begleitung«
Fallebene
●= Einzelfall
»Client-DrivenCase-Management«
Abbildung 1: Case Management in den Migrationsfachdiensten (angelehnt an Ehlers u. M. Müller, 2013, S. 112)
Sozialarbeiter*innen für die Stärkung der Rechte der Nutzer*innen ein (z. B. gegenüber der Ausländerbehörde). In der Supporter-Funktion ist die Motivation und Unterstützung der Nutzer*innen ein wichtiger Bestandteil der Arbeit (z. B. bei Bewerbungen für einen Arbeitsplatz). In der Migrationsfachdienstarbeit sind die Fachkräfte stärker mit Advocacy-Funktion, etwa als Rechtsbeistand bei Arbeitslosengeld-II-Anträgen, oder/und in der Supporter-Funktion, z. B. als Fürsprecher*in bei der Ausländerbehörde beziehungsweise als Motivator*innen, aktiv. Aufgrund dieser Case-Management-Ausrichtung ist eine niedrigere Fallbelastung in den Migrationsfachdiensten notwendig.
Stärkenorientiertes Migrationsfachdienst-Case-Management Vor dem Hintergrund der zuvor dargestellten strukturell hervorgebrachten fremdauferlegten Problemlast und der Probleme, die die Nutzer*innen der Migrationsfachdienste darüber hinaus auch noch haben, ist es ein wesentliches
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Element der Arbeit, die Stärken und Ressourcen der Menschen zu aktivieren und zu berücksichtigen. Das Stärkenorientierte Case Management (Ehlers, M. Müller u. Schuster, 2017) ist ein Sozialarbeiterischer Case-Management-Ansatz (M. Müller, 2018), in dem das methodische Mittel der Stärken und Ressourcenarbeit in der Fallarbeit systematisch berücksichtigt ist. Die Tabelle 1 zeigt die Case-Management-Phasen (Siebert, 2018, S. 349–352), wie sie für die JMD, die MBE und im Stärkenorientierten Case Management benannt sind. Tabelle 1: Die unterschiedlichen Phasenmodelle im Case Management (M. Müller, 2020a, S. 53) Case-Management-Konzept
CM JMD (BMFSFJ, 2017)
CM MBE (KibNet) (Diakonie Deutschland, 2015)
SoCM (Ehlers, M. Müller u. Schuster, 2017)
1. Schritt
Erstgespräch(e), Screening und Aufnahme in das Case Management
Sondierungsgespräch
Fallauswahl
2. Schritt
Analyse von Lebenswelt und Lebenslage sowie Feststellung von Kompetenzen, Ressourcen und Förderbedarfen des jungen Menschen
Sozial- und Kompetenzanalyse
Stärkenorientierte Falleinschätzung
3. Schritt
Umsetzung und Steuerung der Integrationsförderplanung
Erstellung eines Förderplans
Stärkenorientierte Zielformulierung und Hilfeplanung
4. Schritt
Dauer und Beendigung des Case Managements
Umsetzung eines Förderplans
Vernetzung und Umsetzung des Hilfeplans (Linking) und Überprüfung (Monitoring)
5. Schritt
Evaluation und Abschluss Führen eines des Case Managements Abschlussgesprächs
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Stärkenorientierte Auswertung (fallbezogene und fallübergreifende Evaluation)
Eine ausführliche Beschreibung der Prozessschritte und der für die Umsetzung angeratenen Praxistools des Stärkenorientierten Migrationsfachdienst-CaseManagements liegt bereits vor (M. Müller, 2020a, 2020b). Im Folgenden wird der Prozess der Stärkenaktivierung genauer erläutert. »Stärken sind persönliche Kraftquellen. Sie setzen sich aus unseren Werten, unserem Können (Talente und Fähigkeiten) und unserem Wollen (Bestrebungen,
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Interessen) zusammen. In dieser Verbindung liegt der Stärkenbereich, in dem wir guten Zugang zu unserer Energie haben. Wenn Menschen aus ihrem Stärkenbereich agieren, ruft das Wohlbefinden hervor« (Ehlers, 2019, S. 87). Ziel des Stärkenorientierten Case-Management-Prozesses ist es, die Nutzer*innen des Migrationsfachdienstes in ihrer Stärkenseite zu aktivieren und den Hilfeprozess als Prozess der Selbstwirksamkeitserfahrung zu gestalten. Es ist selbstverständlich, dass die Nutzer*innen der Migrationsfachdienste Stärken haben. Diese sind aber aufgrund der im vorherigen Kapitel dargestellten fremdauferlegten Problemlast, des starken Defizitfokus auf die Menschen im Migrationskontext und der Probleme, die die Menschen haben, kontextuell blockiert. Denn: »Ob unsere Stärken als Stärken zum Tragen kommen, hängt vom Kontext ab« (Ehlers, 2019, S. 85). Für die Fachkräfte in den Migrationsfachdiensten entsteht gerade in den in der Regel komplizierten Case-Management-Fällen im stärkenorientierten Vorgehen ein Spannungsverhältnis aus der Problemlast der Nutzer*innen und dem Fokussieren konstruktiver stärkenorientierter Zustände inklusive Zukunfts visionen. Dieses ist dadurch gekennzeichnet, dass natürlich auch der starke Pro blematisierungskontext des Migrationsbereiches auf die Berater*innen selbst wirkt und eine Stärkenfokussierung nicht nahelegt, und der stärkenorientierte Blick, gerade in die Zukunft der Nutzer*innen, kompliziert sein kann, weil die Zukunft der Menschen in Deutschland je nach Aufenthaltsstatus äußerst fragil ist. Wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, dass die Menschen durch die Stärkenorientierung nicht von ihren Problemen weggebracht oder ihre Probleme verharmlost werden sollen, sondern sie sollen durch die stärkenorientierte Arbeitsweise in einen Zustand kommen, in dem sie ihre Probleme besser angehen, durchstehen und bewältigen können. Denn genau das können die Verhältnisse verhindern, die das Leben der Nutzer*innen der Migrationsfachdienste ganz wesentlich prägen. Das Stärkenorientierte Migrationsfachdienst-Case-Management erzeugt im Hilfeprozess also einen stärkenförderlichen Kontext für die Nutzer*innen, der sie darin unterstützt, ihre Probleme in einem besseren Zustand anzugehen. Dies wird insbesondere mit der Stärkenkarte, der Stärkeneinschätzung und mit der Stärkenorientierten Zielformulierung und Hilfeplanung (Ehlers, M. Müller u. Schuster, 2017, S. 82–128) erreicht. Im Folgenden wird die Konkretisierung der stärkenorientierten Arbeitsweise unterhalb des jeweils dazugehörigen Instru mentes verdeutlicht. Die Stärkeneinschätzung unterscheidet auf der Zeitachse die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei gilt es gerade in der Migrationsfachdienstarbeit, Mikrosituationen zu suchen, in denen die Menschen Stärkenerfahrungen auf den verschiedenen Punkten der Zeitachse gemacht haben. Zunächst geht es
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darum, überhaupt im Gespräch zu markieren, dass im Folgenden Stärkenaspekte besprochen werden. Dies kann beispielsweise mit folgendem Fragenset umgesetzt werden: 1. Was haben Sie in letzter Zeit getan, was Sie glücklich und zufrieden gemacht hat? 2. Was begeistert Sie? Was macht Ihnen Spaß? Welche Tätigkeit würden Sie nicht aufgeben, auch wenn sie manchmal missglückt? 3. Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft? Auf was freuen Sie sich in der nächsten Woche? Auf was noch? (Ehlers, 2019, S. 114) Vertiefend können dann Fragen zur Stärkenerkundung angewendet werden. Ziel der Stärkenerkundung ist es, die Nutzer*innen der Migrationsfachdienste in einen Stärkenzustand zu bringen, daran zu arbeiten, diesen Stärkenzustand in den Beratungstreffen zu aktivieren und die Menschen darin zu unterstützen, dass sie verstehen, wie sie ihre Stärken in tendenziell destruktiven Verhältnissen (z. B. bei der Ausländerbehörde oder dem Jobcenter) abrufen können. Im Folgenden finden sich Beispielfragen, die verschiedene Aspekte der Stärkenerkundung ansprechen. »1. Kindheitserinnerungen: Stärken sind oftmals tief in der Kindheit verwurzelt: Was hat Ihnen als Kind Spaß gemacht? Was davon tun Sie noch heute? 2. Energie: Welche Aktivitäten oder Themen geben Ihnen Energie? 3. Authentizität: Wann und wobei fühlen Sie, dass Sie wirklich Sie selbst sind? 4. Leichtigkeit: Welche Tätigkeiten fallen Ihnen in der Ausübung leicht? Welche Dinge erledigen sich fast wie von selbst? 5. Aufmerksamkeit: Wofür interessieren Sie sich ganz selbstverständlich? 6. Schnelles Lernen: Bei welchen Themen lernen Sie fast wie von selbst? Welche konnten Sie sich ganz schnell aneignen? 7. Motivation: Was regt Sie an? Was machen Sie so gern, dass Sie es weitermachen würden, auch wenn Sie darin nicht erfolgreich sind? 8. Stimmlage und Körperhaltung: Beobachten Sie, wie sich Stimmlage und Körperhaltung verändern, vor allem wenn über die eigenen Stärken gesprochen wird. 9. Formulierungen: Achten Sie auf Wörter und Beschreibungen, die Sie benutzen, wenn Sie über Dinge reden, die Sie interessieren. 10. Prioritäten: Beobachten Sie, welche Dinge Sie nie auf Ihre To-do-Liste schreiben. Denn an die Dinge, die wir gerne tun, müssen wir uns in der Regel nicht mit Hilfsmitteln erinnern« (Ehlers, 2019, S. 121 f.).
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Die hier dargestellte Stärkenaktivierung taucht im Stärkenorientierten Migrationsfachdienst-Case-Management in der Phase der stärkenorientierten Falleinschätzung bei der Bearbeitung der Stärkenkarte und der Stärkeneinschätzung auf. Auf der Stärkenkarte wird die »Energie- und Kraftquelle« der Nutzer*innen erfasst, die alle Fähigkeiten und Ressourcen überspannt. Es geht hier dann darum, aktiv zu halten, warum es sich aus Sicht der Nutzer*innen lohnt, die mitunter großen Mühen in ihrem Leben zu investieren. Zum Beispiel, weil sie ihren Kindern ein Leben in Sicherheit ermöglichen wollen (M. Müller, 2020a, S. 64). Die Stärkeneinschätzung (Ehlers, M. Müller u. Schuster, 2017, S. 98–106) greift die Zeitachse der Stärkenarbeit auf und erfasst Fähigkeiten, Interessen usw. vergangenheits- (zur Reaktivierung) sowie gegenwartsbezogen für die folgenden sieben Lebensbereiche: 1. alltägliche Wohn- und Lebenssituation, 2. Finanzen und Absicherung (z. B. Versicherungen), 3. Ausbildung und Beruf, 4. soziale Unterstützung, 5. Gesundheit und Wohlbefinden, 6. Freizeit und Erholung, 7. Kultur und Spiritualität. Eine solche Betrachtung könnte z. B. für das Thema Beruf bedeuten, dass ein Nutzer umfangreiches Wissen über Basisreparaturen am Auto hat und zugewandt im Kundenkontakt ist (Fähigkeiten), dass er anstrebt, in der Kfz-Branche zu arbeiten (Gegenwartsbezug) und sich sein Wissen über Autos im »Learning by doing« (Vergangenheitsbezug) angeeignet hat (M. Müller, 2020a, S. 66). Diese hier nur schlagwortartig dargestellten Aspekte können systematisch mit den zuvor beschriebenen zehn Aspekten der Stärkenerkundung differenziert und aus Nutzer*innen-Sicht aktiviert werden. Somit kann ein solides Stärkenverständnis für die berufliche Entwicklung des Nutzers erarbeitet und aktiviert werden. In der Stärkenorientierten Zielformulierung und Hilfeplanung (Ehlers, M. Müller u. Schuster 2017, S. 112–128) als weiteres Instrument des Stärkenorientierten Migrationsfachdienst-Case-Managements taucht die Stärkenperspektive insbesondere im Mottoziel auf. Das Mottoziel ist ein situationsübergreifendes Motivations- und Haltungsziel, das den inneren Stärkenbildern der Nutzer*innen der Migrationsfachdienste entspringt. »Es bündelt die Bestrebungen, Hoffnungen und positiven Vorstellungen, die die Nutzer*innen haben und die ihnen Motivation und Energie geben, ihren Weg der Veränderungen zu gehen« (M. Müller, 2020a, S. 69). Das Mottoziel ist eine an sich selbst gestellte Leidenschaftserklärung der Nutzer*innen, die dialogisch entwickelt wird. Es ordnet
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die formulierten Rahmen- und Handlungsziele einer individuellen Motivation unter, die zugleich ein Stärkenbild der Nutzer*innen wiedergibt. Mit dem Mottoziel wird die individuelle Sinnhaftigkeit der Zielerreichung für die Nutzer*innen markiert. Es sollte folgende Aspekte bündeln: � »Mottoziele berücksichtigen die Interessen, Bestrebungen und Hoffnungen der Ratsuchenden. � Sie sind persönlich und drücken eine Leidenschaftserklärung aus. � Als Visionen geben sie genügend Spielraum für die Ausgestaltung. – Mottoziele sind leicht verständlich und positiv formuliert. – Sie haben eine hohe Akzeptanz für die Ratsuchendensysteme und für das Umfeld« (Ehlers, M. Müller u. Schuster, 2017, S. 120 f.). Ein Mottoziel könnte beispielsweise wie folgt lauten: »Meine Kinder sollen ein gutes Leben führen können« (M. Müller, 2020a, S. 72). Mit der Stärkenarbeit im Stärkenorientierten Migrationsfachdienst-CaseManagement wird deutlich, dass es neben der Toolorientierung in den einzelnen Phasen des Case-Management-Prozesses elementar um eine aktive stärkenorientierte Gesprächsführung geht. Sie ist die Basis für eine konsequente Nutzer*innen-Zentrierung der freiwilligen Hilfe und stellt zugleich sicher, dass die Migrationsfachdienste einen konstruktiven und förderlichen Kontext für die Nutzer*innen in tendenziell destruktiven Verhältnissen darstellen.
Schluss und Ausblick Gerade hinsichtlich der Fallbelastungen wäre sicher hilfreich, die sozialarbeiterischen Anforderungen, die das Case Management in der Migrationsfachdienstarbeit verlangt, gezielt zu kommunizieren. Nicht zuletzt deshalb, damit Geldgeber*innen fachlich begründet ein Verständnis darüber entwickeln können, was adäquate Fallzahlen in der Migrationsfachdienstarbeit sind. Die gegenwärtige Situation gerade von Geflüchteten zeigt, dass es insgesamt hilfreich ist, eine stärken- und ressourcenorientierte Arbeitsweise in der Praxis zu etablieren. Das würde dazu beitragen, dass die Nutzer*innen in konstruktiveren Zuständen ihre zum Teil erheblichen Probleme und Belastungen bewältigen und ihre Ziele erreichen können. Dafür ist sicher auch die systematische Weiterbildung der
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Fachkräfte notwendig, weil auch sie in stark destruktiven Umweltbedingungen, mit negativen Zuschreibungen auf die Nutzer*innen, aber mitunter auch auf sich selbst, arbeiten. Eine stärken- und ressourcenorientierte Arbeitsweise entsteht in diesem Milieu nur schwer eigenständig und bedarf daher der weiterbildungsorientierten Unterstützung.
Literatur
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Versorgung geflüchteter Menschen als »Sich-in-Beziehung-Setzen« – Begriffsklärung, Schlüsselprinzipien und Spannungsfelder psychosozialer Praxis
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Der folgende Beitrag nimmt das psychosoziale Arbeiten mit geflüchteten Menschen aus einer konzeptionellen Perspektive genauer in den Blick. Auf eine Bestandsaufnahme der Versorgungssituation geflüchteter Menschen in Deutschland und einen kurzen historischen Abriss psychosozialer Interventionen folgt die Ergebnisdarstellung einer kleinen qualitativen Studie. Diese wurde mit den Zielen verfasst, das Konzept anhand von Schlüsselprinzipien inhaltlich zu schärfen sowie bedeutsame Spannungsfelder in der psychosozialen Praxis zu benennen.
Geflüchtete Menschen und das psychosoziale Versorgungssystem Aus vielen Jahren der Forschung wissen wir, dass Migration und insbesondere Flucht sich negativ auf die psychische Gesundheit der betroffenen Menschen auswirken können. Auch wenn verkürzte Darstellungen geflüchteter Menschen durch eine generalisierte »Traumabrille« (Mlodoch, 2017) zu vermeiden sind, legen Prävalenzschätzungen durchaus nahe, dass Traumafolgestörungen wie Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungen bei 32–35 % geflüchteter Menschen auftreten (Lindert, von Ehrenstein, Wehrwein, Brähler u. Schäfer, 2018; Steele, Silove, Chey, Bauman, Phan u. Phan, 2005). Darüber hinaus wissen wir jedoch auch, dass Menschen mit Migrationserfahrung grundsätzlich unterrepräsentiert sind in präventiven ambulanten Diensten, überrepräsentiert hingegen in von Stefan Gaitanides als »Endstationen sozialer Arbeit« betitelten Einrichtungen (z. B. Frauenhäuser, Jugendgerichtshilfe), geschlossen-psychiatrischen oder aber forensischen Bereichen (Gaitanides, 2008; Lindert et al., 2008; Koch, 2000). Zugangsbarrieren wie beispielsweise ungesicherte Finanzierung von Behandlungs- und Übersetzungskosten sowie die Nichtverfügbarkeit adäquater Angebote werden im Zuge einer mangelhaft umgesetzten interkulturellen Öffnung diskutiert (Penka et al., 2015). Etwaige (strukturelle) Barrieren stehen jedoch dem Menschen-
Versorgung geflüchteter Menschen als »Sich-in-Beziehung-Setzen«
recht auf eine adäquate gesundheitliche Versorgung entgegen. Daher fordert die bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) e. V., sich einem barrierearmen Zugang geflüchteter Menschen zur Gesundheitsversorgung als »gesundheitspolitische Aufgabe [anzunehmen]«, statt sich dieser »länger zugunsten migrationspolitischer Erwägungen« zu entziehen (BAfF e. V., 2019). Als Reaktion auf den beschriebenen Versorgungsengpass schossen im Angesicht der Migrationsbewegungen im Jahr 2015 unzählige Projekte aus dem Boden, die sich den psychologischen Bedarfen geflüchteter Menschen verpflichteten. Viele davon beschrieben sich als psychosozial (z. B. Sutej, 2018). Neben der sich geradezu aufdrängenden Relevanz sozialer Faktoren in der Betrachtung geflüchteter Menschen (z. B. Unterbringungssituation, ungeklärter Aufenthaltsstatus) vermuten Seckinger und Neumann (2016) einen weiteren Grund hinter dem Boom psychosozialer, gemeinde- und sozialpsychiatrischer Ansätze für die Arbeit mit geflüchteten Menschen: »Interessanterweise erfährt eine solche sozialräumliche Perspektive immer dann eine besondere Aufmerksamkeit, wenn Fragen der Kostenreduktion in den Vordergrund rücken. […] Sei es im Feld der Psychiatrie, in der sozialpsychiatrische Angebote in der Gemeinde eher als Mittel zur Kosteneinsparung für die Krankenversicherungen, denn als Strategien gesellschaftlicher Inklusion gesehen werden« (Seckinger u. Neumann, 2016, S. 5). Nebst dieser Kritik ist in der Praxis zu beobachten, dass oftmals unklar verbleibt, was sich hinter psychosozialen Angeboten verbirgt beziehungsweise was sie von sozialarbeiterischen, psychotherapeutischen oder psychiatrischen Angeboten abgrenzt. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass das Konzept der psychosozialen Praxis nicht genügend ausdefiniert wurde und auch nicht an klare professionelle Standards festgebunden ist. Zusätzlich zu dieser konzeptionellen Unklarheit des psychosozialen Arbeitens ermöglichte das Framing der Migrationsbewegungen um das Jahr 2015 als Krise zudem den Einfluss verschiedener psychosozialer Ansätze aus der Entwicklungszusammenarbeit (Bajboujou et al., 2018; IASC, 2007; Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V., 2018). Diese Ansätze lassen sich allerdings nur bedingt in den hiesigen Kontext übertragen, ohne wichtige historisch gewachsene Leitprinzipien psychosozialen Arbeitens zu untergraben. Ein historischer Abriss zu den Ursprüngen des Konzepts des psychosozialen Arbeitens führt an dieser Stelle zu weit. Wichtig ist jedoch zu betonen, dass die psychosoziale Praxis im deutschen Kontext im Rahmen der Psychiatrie-
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Abbildung 1: Psychosoziales Arbeiten mit geflüchteten Menschen als »Sich-in-Beziehung-Setzen«
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Enquête als Gegenentwurf zur Anstaltspsychiatrie in den 1970er Jahren ihren Anbeginn nahm und so das dezentralisierte Versorgungssystem für psychisch belastete Menschen bedingte, das bis heute besteht. Einflüsse der Gemeindepsychologie (z. B. Bergold u. Neumann, 2018) wirkten besonders stark auf diesen Entwicklungsschritt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass psychosoziale Praxis im Kern auf den drei Säulen Ressourcenorientierung, Lebensweltorientierung und Empowerment aufbaut und mit einer Forderung an psychosozial arbeitende Personen verbunden ist: Die psychosoziale Praxis fordert Fachkräfte dazu auf, das Individuum in seiner konkreten Umwelt zu betrachten, für diese Umwelt Verständnis aufzubringen und die eigene Expert*innen-Rolle nicht zu überschätzen, sondern offen zu sein für die Expertise der Klient*in beziehungsweise des Klienten über ihre*seine eigenen Umweltbedingungen, ebenso wie für die Expertise verschiedener Nachbardisziplinen. Daraus ergibt sich eine unendliche Palette möglicher Unterstützungsangebote, die niemals standardisiert sein können, sondern individuell bleiben und Unplanbares umfassen müssen (vgl. Auckenthaler, 2012; Kleiber, 1985; Engel, Nestmann u. Sickendiek, 2004). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was psychosozial konkret in der Arbeit mit geflüchteten Menschen bedeutet, wie es einer bedarfsadäquaten Versorgung zuträglich sein kann und wie viel »migrationspolitische Erwägungen« (BAfF e. V., 2019) sich darin niederschlagen. Zum Zwecke der Benennung von Schlüsselprinzipien und somit der konzeptionellen Schärfung psychosozialer Praxis sowie der Identifikation von Motivationen, Zielen und Spannungsfeldern psychosozialer Interventionen wurden sechs leitfadengestützte Expert*innenInterviews geführt. Alle Expert*innen hatten praktische Erfahrungen in der psychosozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen und waren mindestens, wenn nicht federführend, an der Konzeptionierung von psychosozialen Inter-
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ventionen beteiligt. Die Auswertung der Interviewtranskripte erfolgte mit der Methode des zirkulären Dekonstruierens (Jaeggi u. Faas, 1993). In Bezug auf die Ergebnisse sei angemerkt, dass die sechs Expert*innen-Interviews eher eine Exploration des Feldes und der Fragestellung ermöglichen, statt einen Anspruch auf theoretische Sättigung für sich zu erheben. Am Ende der Analyse manifestierte sich sehr deutlich das Bild, dass bedarfsadäquate Versorgung geflüchteter Menschen als psychosoziales »Sich-in-Beziehung-Setzen« gedacht und verstanden werden muss. Auf die unterschiedlichen Ebenen dieser Beziehung, wie in Abbildung 1 dargestellt, wird im Folgenden eingegangen.
Beziehungen entstehen lassen – die Notwendigkeit von Kontinuität »Psychosoziale Unterstützung lebt von Kontinuität. Kontinuität der Angebote, von Beziehung« (I1). Aus den Interviews lässt sich als Schlüsselprinzip psychosozialer Praxis die Ermöglichung und Entstehung von Beziehungen herausarbeiten. Hierbei zeichnet sich Kontinuität als notwendige Bedingung deutlich ab – und zwar auf verschiedenen Ebenen. Einerseits gilt es, zu den geflüchteten Menschen Beziehungen und Vertrauen aufzubauen. Gerade in der Arbeit mit geflüchteten Menschen, deren Biografien von Beziehungsabbrüchen, dem Wegfallen vertrauter sozialer Settings und dem Verlust von Zugehörigkeit und Vertrauen durchzogen sind, scheint nachvollziehbar, dass Beziehungen entstehen zu lassen, mehr Raum und Kontinuität bedarf. Andererseits ist ein Entstehenlassen von Beziehung auch unter den verschiedenen Akteur*innen des Versorgungssystems im Sinne zielführender Vernetzungen erforderlich. Unter anderem hierfür ist eine kontinuierliche Angebotsstruktur von Bedeutung. »Stabilität und Planbarkeit« für psychosozial Tätige scheint daher maßgeblich, um geflüchtete Klient*innen in deren ohnehin instabilen Lebensrealitäten überhaupt unterstützen, also deren »Prozess mitgehen zu können« (I6). Meist wird von Kontinuität jedoch im dialektischen Sinne gesprochen; die finanziellen Rahmenbedingungen wirken antagonistisch zum Aufbau langfristiger und vertrauensvoller Beziehungen. Beziehungen zwischen psychosozial Tätigen und geflüchteten Menschen i. Betroffenenorientiertheit und Ermächtigung »Der Mensch soll sich nicht an den Angeboten ausrichten, sondern die Angebote sollen sich an dem individuellen Bedarf der betreffenden Personen ausrichten« (I2).
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Die Expert*innen sind sich einig, dass psychosoziale Angebote sich nach den Bedürfnissen der betroffenen Menschen richten sollen. Ob diese Bedürfnisse vor der Implementierung eines Angebots antizipiert oder durch ein ergebnisoffenes, geduldiges Assessment identifiziert werden sollten, manifestiert sich jedoch als Spannungsfeld. Selbiges gilt für die Partizipation geflüchteter Menschen an der Implementierung und Evaluation psychosozialer Angebote. Letzteres scheint vor allem im Sinne der Ermächtigung, eines weiteren Schlüsselprinzips psychosozialen Arbeitens, bedeutsam. Ermächtigung geflüchteter Menschen bedeutet, »Selbstwirksamkeitserwartungen zu erhöhen, dadurch also Hilflosigkeit und Ohnmacht abzubauen« (I5). Dies kann bereits durch alltagsstrukturierende Angebote gelingen. Außerdem liegt Ermächtigung ein Fokus auf die Ressourcen des Individuums zugrunde (vgl. Defizitorientierung der klinischen Psychologie). Eine zentrale Ressource, die es als psychosozial Tätige anzuerkennen gilt, ist die Expertise der Individuen bezüglich ihrer eigenen Lebenswelt und entsprechend das Hintanstellen der eigenen Expertise und Professionalität. In Abgrenzung zu Psychotherapie und psychiatrischer Versorgung ist psychosoziale Praxis zu verstehen als unterstützende Beziehung, nicht als Behandlung, die die ermächtigende Absicht verfolgt, diese Beziehung wieder aufzugeben, alsbald sich die geflüchteten Menschen selbstständig zurechtfinden. ii. In Beziehung zum Kontext »Also es bringt auch nichts, irgendetwas zu versprechen, ›Wir helfen Ihnen bei XY‹, ohne zu wissen, ob das überhaupt machbar ist, was dann im Endeffekt wieder zu Enttäuschung führt« (I3). Alle Expert*innen legen der psychosozialen Praxis die Bedingtheit psychischen Wohlbefindens durch Kontextfaktoren zugrunde. Was dies für Interventionen konkret bedeutet, bleibt oft unklar. Einige wenige Expert*innen konkretisieren ihren praktischen Ansatz. Für sie gilt es auszuloten, was im Rahmen der Gegebenheit »letztlich auch zu erwirken« (I2) ist, und entsprechend Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Wichtig hierbei ist, dass diese realistisch sind und keine falschen Hoffnungen wecken, damit die Betroffenen genau »einschätzen können, wo sie gerade stehen« (I3). Da ein Großteil der Kontextfaktoren sich der Kontrolle psychosozialer Akteur*innen entzieht, halten es Expert*innen teilweise für legitim, wenn nicht gar notwendig, auf den Kontext einzuwirken und durch Lobbyarbeit politischen Einfluss zu nehmen. Wiederum andere schließen einen »politischen Touch« (I1) psychosozialer Arbeit kategorisch aus. Einige Expert*innen bezeichnen Kontextualisierung als notwendiges Prinzip psychosozialer Praxis und damit als ausschlaggebenden Prädiktor für den Erfolg
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eines jeden psychosozialen Angebotes. Neben einer Sensibilität für den Kontext ist damit auch das zugehörige Kontextwissen und ein umfassendes Verständnis für komplex verflochtene strukturelle Lebens- und Leidensbedingungen (z. B. Postkolonialismus) gemeint. Dies kann konkret bedeuten, sich selbst gegenüber geflüchteten Menschen als Zeug*innen von erlebten Menschenrechtsverletzungen zu verstehen und diesbezüglich deutlich zu positionieren. iii. Beziehung erleben »Es entstehen Räume, wo nicht nur Macht und Überwältigung passiert, sondern Beziehung passiert und in Beziehungen können Entwicklungen stattfinden und das ist die Aufgabe, die wir haben« (I4). Bedarfsadäquate psychosoziale Angebote vermögen es, Räume zu schaffen, in denen Beziehung erlebt werden kann, ob beim Fußball oder im Begegnungscafé. Gelingt es psychosozial Tätigen, bedeutsame Beziehungen zu geflüchteten Menschen entstehen zu lassen, können darin Emotionen und Werte erlebt werden, die sich positiv auf das psychosoziale Wohlbefinden geflüchteter Menschen auswirken. Dies kann beispielsweise das Erleben von Verbindlichkeit oder Interesse sein, welches eine gegenteilige Erfahrung zu sonstig erlebter Enttäuschung und Ablehnung darstellt. Im Erleben von zwischenmenschlichen Beziehungen (nicht zwingend zwischen helfenden und geflüchteten Menschen, sondern auch unter geflüchteten Menschen) kann ein Wiedererleben der Welt als gerecht – nach der Anerkennung von widerfahrenem Unrecht – seinen Anbeginn nehmen. iv. Sich auf Beziehung einlassen können Essenziell ist die Frage, was es von den psychosozial Tätigen wie auch den geflüchteten Menschen benötigt, um sich auf Beziehungen miteinander einlassen zu können. Bezüglich der von den Expert*innen berichteten Bedarfe geflüchteter Menschen zeichnet sich ein Spannungsfeld ab, das wahlweise die Fachkompetenz oder aber Sprach- und Kulturkompetenzen psychosozial Tätiger als grundlegend für den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen priorisiert. Davon unabhängig lassen sich einige Kernkompetenzen psychosozial Tätiger aus den Interviews herausarbeiten. Darunter finden sich die Fähigkeit zum empathischen Zuhören, die Offenheit, sich auf Neues einzulassen und nachzufragen, die Fähigkeit, die eigene Kultur als solche zu reflektieren, und das Wissen um die eigenen Grenzen. Im Kontext der Arbeit mit geflüchteten Menschen scheint dies eine besondere Rolle zu spielen, da es zu vermeiden gilt, die seitens der Klient*innen erlebte Ohnmacht zu übernehmen. Bezug nehmend auf die Grenzen psychosozial Tätiger wurde wiederkehrend die Relevanz stabiler Teams
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und Räume, in denen die Belastungen von Mitarbeitenden z. B. anhand von Teambesprechungen oder Supervisionen aufgefangen werden können, betont. Beziehungen unter psychosozial Tätigen i. Integraler Ansatz – Vermittlung, Vernetzung und psychosoziale Grundhaltung über alle Bereiche »Im Idealfall arbeiten die [psychosozialen und psychotherapeutisch/psychiatrischen Fachkräfte] alle ganz wundervoll Hand in Hand« (I5).
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Ein weiteres Schlüsselprinzip betrifft die Gesamtheit der Probleme geflüchteter Menschen, die im Rahmen psychosozialer Angebote wahr- wie auch ernst zu nehmen sind. Dies wird ermöglicht durch einen integralen Ansatz. Was hierfür die besten institutionellen Rahmenbedingungen sind, bewegt sich im Spannungsfeld zwischen De- und Zentralisierung von Angeboten, zwischen Netzwerken reich an multidisziplinären Beziehungen zur Weitervermittlung und der Arbeit in interdisziplinären Teams mit stetigem Austausch und Zusammenarbeit im Rahmen von z. B. Fall- oder Teambesprechungen. Einig sind sich die Expert*innen darüber, dass ein Hin- und Herschieben der Verantwortlichkeiten zwischen Akteuren im Sinne einer bedarfsadäquaten Versorgung zu vermeiden ist und es eines Wissenstransfers zwischen den beteiligten Bereichen braucht, statt eines rigiden Fachwissens einzelner Disziplinen. ii. Hegemoniale Diskurse Die vorherrschende ökonomische Bedingtheit der Versorgung geflüchteter Menschen, die der so wichtigen langfristigen Beziehungsarbeit im Weg steht, wird quasi in allen Interviews problematisiert. Verglichen mit regelfinanzierten müssen zuwendungsfinanzierte Angebote regelmäßig um ihr Fortbestehen bangen und im Sinne der geldgebenden Akteur*innen und deren politischen Interessen richtig argumentieren. Einerseits wird hier eine Instrumentalisierung der Bezeichnung »psychosozial« beobachtet, die der »Konjunktur« (I5) zugeschrieben wird, die das Konzept in den letzten Jahren erfahren hat. Andererseits fehlt vielen Angeboten »mit dem Abschwellen des Zuzuges […] die Argumentationsgrundlage für eine Weiterfinanzierung« (I1). Diese Herangehensweise ignoriert, dass psychische Belastungen oder traumatische Erlebnisse ihre Auswirkungen quasi über die gesamte Lebensspanne entfalten können. Zudem haben psychosoziale Angebote durch dieselben hegemonialen Logiken bedingt grundsätzlich einen schweren Stand; im Vergleich zu evidenzbasierten, quantifizierbaren Interventionen ist die Prüfung ihrer Wirksamkeit bedeutend komplexer, denn man kann »halt nicht so in Checklisten denken« (I5). Der Druck vereinfachender Diskurse hin zu schnel-
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len Lösungen steht der Komplexität entgehen, die sich unvermeidbar aus einem im Bezug zum Kontext situierten Verständnis von psychosozialer Praxis ergibt. iii. Vielfältigkeit »Man muss halt immer ganz klar sagen, was es ist, wenn man so etwas macht mit einer kurzen psychoedukativen Intervention, dann kann man nachher nicht sagen, ich habe für fünfzig Leute Traumatherapie angeboten« (I3). Im Sinne der Heterogenität geflüchteter Menschen und ihrer Bedürfnisse ist die Vielfältigkeit psychosozialer Angebote ein großer Vorteil. Das praktische Problem, welches von den Expert*innen adressiert wird, ist die resultierende Unübersichtlichkeit der Versorgungslandschaft. Inwiefern hier z. B. Peers als Lotsen eingesetzt werden können, wird stark kontrovers diskutiert. Ein anderer Lösungsansatz ist die Forderung nach transparenten, aufrichtigen Inhaltsbeschreibungen. An dieser Stelle tut sich ein weiteres Spannungsfeld auf: Sind einige Expert*innen davon überzeugt, dass alle Angebote, die sich den psychosozialen Bedürfnissen geflüchteter Menschen verpflichten, ihre Berechtigung haben, vertreten andere die Position, die Vielfältigkeit psychosozialer Interventionen sei lediglich ein Produkt einer endlosen, unreflektierten, inhaltsentleerenden Verwendung des Begriffs.
Einbezug von geflüchteten Menschen in ein institutionalisiertes Versorgungssystem »Ich finde, die formalisierte Mangelversorgung, das ist eine Gefahr, die im Moment ganz häufig gegeben ist. Man sagt einfach, es ist psychosozial, dabei ist es so eine Art von Billig-Therapieansatz und ich glaube, man muss da sehr aufpassen« (I4). Im Rahmen der Beziehung geflüchteter Menschen zum hiesigen institutionalisierten Versorgungssystem werden häufig Grenzen des Systems und Ausgrenzung geflüchteter Menschen thematisiert. Eine immer wieder benannte Herausforderung ist der Einsatz, die Finanzierung und die Qualität von Sprachmittlung zur Überwindung der Sprachbarriere. Ein nicht unerhebliches Spannungsfeld bildet sich zwischen Expert*innen, die auf einzelne Gruppen spezialisierte Institutionen wie z. B. arabischsprachige Ambulanzen als wünschenswerten Standard beschreiben, und jenen, die eine Öffnung aller bestehender Versorgungsangebote für geflüchtete Menschen fordern. Darüber hinaus berichten einige, dass psychosoziale Angebote durch den ungeklärten Anspruch an Qualität der Angebote und Professionalität der psycho-
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sozial Tätigen oftmals den Anschein erwecken, eine Art »Psychotherapie zweiter Klasse« (I6) zu sein, weil »echte Therapie zu teuer ist, die behalten wir für unsere eigenen Traumatisierten vor« (I4). Dies steht im Kontrast zur Überzeugung, dass »jedem Menschen […] eine ganzheitliche Behandlung zustehen [sollte], die er braucht und nicht irgendein Helfer, der einen Wochenendworkshop hat« (I6). Inwiefern diese Ansätze, die eigentlich auf eine Überwindung des Versorgungsdefizits abzielen, eine strukturell bestehende Mangelversorgung gar manifestieren, verbleibt als offene Frage.
Schluss und Ausblick 2
Bezug nehmend auf die hier vorgestellte kleine qualitative Studie lässt sich untermauern, dass Beziehung als Wert und Intervention an sich Anerkennung verdient und das Kernelement psychosozialen Arbeitens darstellt. Diese These wurde im Rahmen von Beratung und psychotherapeutischen Interventionen bereits wiederholt betont (z. B. Gahleitner, 2020). Es gilt, sich – nach wie vor – gegen die hegemonialen Diskurse stark zu machen, um für eine Kontinuität psychosozialer Angebote einzustehen, die es überhaupt erst erlaubt, miteinander in Beziehung zu treten. Weitergehend können Ermächtigung und eine integrale Herangehensweise als Schlüsselprinzipien psychosozialen Arbeitens ausgemacht werden. Wie konkret psychosozial Tätige den Kontext rings um geflüchtete Menschen in ihre Angebote einbeziehen, verbleibt ebenso ein Spannungsfeld zwischen den Expert*innen wie ob das Einwirken auf politische Rahmenbedingungen eine notwendige Bedingung psychosozialen Arbeitens oder zu vermeiden ist. Dieses wie alle anderen Spannungsfelder muss von den psychosozial Tätigen weiterhin ausgehandelt und wenn nicht aufgelöst, dann fortwährend diskutiert werden. In diesem Zuge gilt es, Anteile »migrationspolitischer Erwägungen« (BafF e. V., 2019) als solche deutlich zu kennzeichnen und im Sinne der Betroffenen an deren Bedarfen orientierte Angebote zu schaffen, beziehungsweise bestehende Angebote langfristig weiterzuführen. Eine weiterführende inhaltliche Schärfung des Konzepts psychosozialer Arbeit, die z. B. auch auf die Formulierung von Qualitätskriterien abzielt, scheint sinnvoll.
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Versorgung geflüchteter Menschen als »Sich-in-Beziehung-Setzen«
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Teil 3
Methodisches
Lisa Große/Silke Birgitta Gahleitner
Diagnostisches Fallverstehen mit geflüchteten (jungen) Menschen
Einleitung
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Tanem ist elf Jahre, als in seinem Heimatland Krieg ausbricht. Seine Kindheit erinnert er positiv, beginnende Unruhen hatten darauf bereits Schatten geworfen. Um das Leben der Familie zu schützen, entschließen sich seine Eltern zur Flucht. Bei einem Gemenge an der Grenze verliert Tanem seine Familie und kann sie trotz großer Mühen nicht wiederfinden. Nun muss er sich mit 15 Jahren allein durchschlagen. Auch beim Ankommen in Deutschland erwarten ihn viele Herausforderungen. Er findet zwar Aufnahme als unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter, muss jedoch zu Beginn aufgrund des Clearingverfahrens mehrfach die Einrichtung wechseln. Er beherrscht die deutsche Sprache noch nicht und macht tagtäglich Diskriminierungserfahrungen. Nonverbale Signale des Nicht-willkommen-Seins führen ebenso wie das verbale Ausdrücken von Missfallen oder gar körperliche Gewalttaten zu Ängsten, sozialem Rückzug und der Verleugnung der Fluchtgeschichte und Herkunft. Den größten Stress jedoch verursacht ihm der unsichere Aufenthalt. Das vermeintlich sichere Herkunftsland bedingt, dass Tanems Bleibeperspektive sehr unsicher ist: »Weil bei mir war sehr, sehr niedrig die Chance, dass ich hierbleiben kann.«1
Die Gefahren auf der Flucht sind vielfältig. Für Kinder und Jugendliche, die allein geflüchtet sind, gilt dies im besonderen Maße (Sukale et al., 2017). Nicht alle haben selbst traumatische Erfahrungen gemacht (Witt, Rassenhofer, Fegert u. Plener, 2015), aber alle sind auf irgendeine Weise mit schwierigen Lebensereignissen oder Traumata in Berührung gekommen (Baer u. Frick-Baer, 2016; Imm-Bazlen u. Schmieg, 2017). Bei ankommenden geflüchteten Menschen muss 1
Alle Zitate sind anonymisiert und entstammen dem Forschungsprojekt TraM (Traumatisierte minderjährige Geflüchtete verstehen und unterstützen: Entwicklung eines niedrigschwelligen Screening- und Unterstützungs-Portals als Grundlage eines umfassenden psychosozialen Diagnostikmodells; 2019 bis 2022; gefördert vom BMBF; vgl. ausführlich Große, Wintzer u. Ebinger, 2022b).
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daher mit einer Traumaproblematik gerechnet werden. Ebenso entscheidend oder sogar noch entscheidender als die traumatischen Belastungen, die durch die Flucht entstanden sind, ist jedoch die Situation nach der Flucht, also bei uns hier vor Ort. Explizit formulierte bereits Keilson (1979/2005) die Notwendigkeit qualitativ hochwertiger psychosozialer Unterstützung als entscheidenden Faktor bei der Bewältigung traumareaktiver Symptomatik beziehungsweise als Schutz vor Chronifizierung. Wenn das Beziehungsangebot während dieser Sequenz geprägt ist von Unterstützung, Anerkennung des erlittenen Leids und der Fähigkeit, weitere passfähige psychosoziale Hilfe zu organisieren, wirkt dies als Schutzfaktor (Birck, 2002). Fehlen diese Maßnahmen, entstehen Risiken in der weiteren Bewältigung. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit einer adäquat ausgerichteten und fachlich fundierten psychosozialen Unterstützung während des gesamten Ankommensprozesses. Während dieses Prozesses, der mitunter Jahre dauern kann, sind geflüchtete Menschen »hier und doch nicht hier. Sie befinden sich in einer Schwellensituation, die von vielen Unsicherheiten geprägt ist« (Jünger, 2017, S. 55): Klärung des Aufenthalts, Anknüpfung an (neue) soziale Netzwerke, Orientierung in veränderten gesellschaftlichen Zusammenhängen, Erleben von Alltagsrassismen, aber auch – besonders bei jungen geflüchteten Menschen – die Bewältigung von entwicklungsspezifischen Aufgaben. Wie kann es also – auf Basis dieses komplexen Bedarfs – gelingen, passfähige Unterstützung anzubieten? Diese Frage war auch Gegenstand des Forschungsprojekts TraM (Traumatisierte minderjährige Geflüchtete verstehen und unterstützen: Entwicklung eines niedrigschwelligen Screening- und Unterstützungs-Portals als Grundlage eines umfassenden psychosozialen Diagnostikmodells, von 2019 bis 2022 gefördert vom BMBF). In Kooperation mit Praxiseinrichtungen der Sozialen Arbeit im Fluchtbereich wurde ein zielgruppenspezifisches psychosoziales Diagnostikmodell für geflüchtete Menschen erarbeitet. Der Artikel entfaltet – auf Basis der Ergebnisse des Forschungsprojekts – diesen erarbeiteten Vorschlag.
Diagnostik – eine Frage der Haltung? Psychosoziale Arbeit hat sich dem Thema Diagnostik erst in den letzten Jahrzehnten erneut zugewandt. Zu einschneidend war die Bedeutung der Instrumentalisierung Sozialer Diagnostik durch den Nationalsozialismus (Kuhlmann, 2010/2012). Entscheidungen für eine angemessene Behandlung zu treffen, ist jedoch notwendig, um adäquate Interventionen in der psychosozialen Versorgung zu planen. Aktuell wird Soziale Diagnostik daher wieder sehr breit dis-
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kutiert (Buttner, Gahleitner, Hochuli Freund u. Röh, 2018). Unterschieden werden können klassifikatorische und rekonstruktive Verfahren. Klassifikatorische Verfahren folgen einer deduktiven Logik, sie beschreiben und subsumieren unter spezifischen Logiken beobachtbare Phänomene. Nicht selten werden sie auch kritisch innerhalb der Sozialen Arbeit betrachtet, sind jedoch notwendig als »Eintrittskarten« für die Bewilligung von Hilfen. Rekonstruktive Verfahren nehmen vor allem ein induktives Vorgehen in den Blick: Hier wird die »Meinungsbildung im Dialog [fokussiert], um vor diesem subjektiven Hintergrund die aktuellen, oft biografisch verankerten Einstellungen und Verhaltensmuster [der Klient*innen] verstehen zu können« (Heiner, 2013, S. 19, Erg. v. Verf.). Das Forschungsprojekt TraM (vgl. Große et al., 2022b) hat daher partizipativ orientiert Vorgehensweisen Sozialer Diagnostik im Dialog mit Praktiker*innen und jungen Menschen mit Fluchthintergrund näher untersucht, um die Bedarfe der Zielgruppe zu beleuchten. Dabei ist ein Best-Practice-Modell entstanden. In Interviews und Gesprächen mit den jungen Menschen und Fachkräften wurde vor allem deutlich, welch großes Gewicht die Betroffenen auf die Grundhaltung der Fachkräfte und die Beziehung zwischen Fachkraft und Klient*in legen. Auch Heiner (2013) betonte bereits, dass als Grundvoraussetzung diagnostischen Handelns eine partizipative, mehrperspektivische, sozialökologische und reflexive Haltung erforderlich ist (S. 28). In den Interviews mit den betroffenen Geflüchteten wurde jedoch deutlich, dass diese von Heiner (2013) formulierte Grundhaltung durch Aspekte wie Traumasensibilität und Traumakompetenz, Vertrauens-, Beziehungs- und Netzwerksensibilität und Diskriminierungssensibilität präzisiert werden muss. Wichtig dabei ist, dass Generalisierung auf »die anderen« und Vorannahmen durch vermeintliches Wissen es erschweren, Individualität wahrzunehmen. Das Konzept der »Kompetenzlosigkeitskompetenz« nach Mecheril (2013) versteht daher unter professionellem Handeln eine Reflexion zwischen Wissen und Nichtwissen und die Fähigkeit, Uneindeutigkeiten auszuhalten. Auf diese Weise kann es gelingen, dialogisch mit den Klient*innen die Schnittstelle zwischen psychischen, sozialen, physischen und alltagssituativen Dimensionen auszuleuchten sowie prozessual vorzugehen (Gahleitner u. Pauls, 2010, 2013). Zusammenfassend erwies sich das Modell »Diagnostisches Fallverstehen« (Gahleitner et al., 2014; Gahleitner u. Pauls, 2013; Heiner, 2013) als hilfreich, um das auf Basis der Aufmerksamkeitslinien beschriebene rekonstruktive Vorgehen, zugleich aber auch kategoriale psychodiagnostische Aspekte, in den Blick zu nehmen. In drei Schritten werden zahlreiche Informationen – kategoriale wie rekonstruktive – gesammelt sowie aus dieser Fülle heraus in einem weiteren Schritt durch ein handhabbares Modell zusammengefasst und für die
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Abbildung 1: Diagnostisches Fallverstehen (nach Gahleitner, Pauls u. Glemser, 2018, S. 122; vgl. bereits Gahleitner, Hintenberger, Kreiner u. Jobst, 2014, S. 139)
Hilfeplanung zugänglich gemacht. Im Folgenden soll das konkrete Vorgehen erläutert werden (Übersicht in Abbildung 1; vgl. hier und im Folgenden Gahleitner et al., 2018; Große, Wintzer u. Ebinger, 2022a).
Vorgehen in der Praxis Psychodiagnostik Das bekannteste medizinische und psychodiagnostische Klassifikationssystem ist die »International Classification of Diseases« (ICD; derzeit ICD-11. Überarbeitung: WHO, 2022; BfArM, 2022). In vielen Arbeitsfeldern stellt eine ICDDiagnose die Grundlage für Hilfeentscheidungen dar und besitzt damit entscheidende Relevanz für Prozesse der dortigen Zuweisungsdiagnostik – um
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beispielsweise weitere Hilfen in Anspruch nehmen zu können oder auch zur Aufenthaltssicherung. In der Entstehung der Subsumtionslogiken und -praktiken solcher Klassifikationssysteme spielen jedoch Normalitätskonstruktionen, Ethnozentrismen, Macht- und Lobbyinteressen eine große Rolle – ein Umstand, der berechtigterweise Kritik hervorruft und historisch in eine Katastrophe einmündete. Dennoch oder gerade deshalb ist es unabdingbar, sich auch als psychosoziale Fachkraft in diesen Systemen zurechtzufinden, um Hilfeprozesse angemessen und kritisch mitgestalten zu können und partizipative Aspekte zu ermöglichen. Fachkräfte, die vor allem Alltag mit Klient*innen gestalten, können aufgrund der engen und umfassenden Zusammenarbeit wichtige Hinweise für diagnostische Vorgehen geben und somit bei Bedarf weitere medizinische und psychiatrische Abklärung anregen. Eine im Interventionsprozess brauchbare Diagnostik benötigt jedoch eine Reihe weiterer Informationen und Verstehensgrundlagen zur konkreten Gestaltung der Intervention. Psychosozial-diagnostisches Vorgehen muss daher lebens-, subjekt- und situationsnah sein und neben klassifikatorischen Diagnostikinstrumenten dialogisch orientiert grundlegende fallverstehende Aspekte der Biografie und der Lebenswelt zusammentragen. Biografiediagnostik Von zentraler Bedeutung ist dabei »die Kompetenz, eine ›diagnostische Situation‹ in Form einer gelingenden Verständigung so zu gestalten, dass lebensweltliche Selbstdeutungen der AdressatInnen systematisch berücksichtigt werden« (Schulze, 2006, S. 10). Gerade im stark von Multiproblemlagen gekennzeichneten Bereich, in dem die Wahrnehmungs- und Bewältigungsmuster durch die Geschichte der vorangegangenen Erfahrungen und Traumata wie durch ein Prisma »aktiv wirkender Biografie« (Röper u. Noam, 1999, S. 241) geprägt sind, ist dieses fallverstehende Vorgehen auch für eine angemessene biografische Kontextualisierung notwendig. Es geht um Fragen wie: »Woher komme ich, was habe ich erlebt? Wie hat mich das geformt?« (Gahleitner u. Röh, 2018, S. 57). Häufig findet Biografiediagnostik bereits in sozialarbeiterischen Einrichtungen im Fluchtbereich statt. Informationen werden dabei sowohl durch Dritte (beispielsweise durch mündliche und schriftliche Übergaben) vermittelt, in spezifischen Gesprächen erhoben oder aber in der Alltagsbegleitung sichtbar. Die Deutungen der Klient*innen werden jedoch nur selten systematisch aufgenommen und eingeordnet. Dies hat besonders dort Relevanz, wo Menschen auch aufgrund der Sicherung der Bleibeperspektive wenig Möglichkeit haben, den individuellen Deutungen des Gewordenseins Raum zu geben. Biografie
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wird nicht selten auf Fluchtgründe und die Flucht selbst reduziert. Durch einen offenen Prozess des Erzählens können subjektive Deutungen Raum bekommen und beidseitige Verstehensprozesse gefördert werden: der jungen Menschen und der Fachkraft. Hier hat sich Biografiediagnostik anhand einer Lebenslinie inklusive des Erwachsenenbindungsinterviews (AAI; Gloger-Tippelt, 2001) bewährt. Das Erwachsenenbindungsinterview wird im Volldurchlauf durch 18 Fragen strukturiert, lässt sich mit seinen an zentralen Bezugspersonen orientierten Fragen jedoch auch leicht in fallverstehende narrative Erzählsequenzen rund um die Erhebung der Biografie integrieren. Im Zentrum der Auswertung der Erzählsequenzen zu wichtigen Bindungspersonen steht die Art und Weise, wie über die Erfahrungen erzählt wird (vgl. tiefer gehend zum Verfahren an einem Fall Gahleitner u. Dangel, 2018). Die mit Blumen und Steinen dargestellte Lebenslinie (»lifeline«; vgl. Schauer u. Ruf-Leuschner, 2014) wie in Abbildung 2 ist der narrativen Expositionstherapie (NET; Schauer, Neuner u. Elbert, 2005) entlehnt und eignet sich hier gut (vgl. dazu Gahleitner, Zimmermann u. Zito, 2017). Dazu wird ein Seil auf dem Boden ausgelegt – nicht schnurgerade, sondern mit einigen leichten Kurven. Entlang dieser Lebenslinie (Achtung, genug Platz für die Zukunft lassen!) berichten Klient*innen mit Unterstützung der Fachkraft über die eigene Lebensgeschichte. Besonders relevante Ereignisse werden durch Symbole markiert (siehe Abbildung 2). Zur Komplexitätsreduktion eignen sich die anschließend zu erstellenden Parameter Bindungsrepräsentanz, Schutz- und Risikofaktoren sowie kognitive, soziale und emotionale Entwicklung, da diese Einfluss auf Fähigkeiten der Hilfeannahme, Beziehungsarbeit, Ressourcennutzung und die Verarbeitung von gegebenenfalls traumatischen Erlebnissen haben (Gahleitner, 2018, S. 149).
Abbildung 2: Beispiel einer mit Blumen und Steinen dargestellten Lebenslinie (Quelle: Gahleitner, Zimmermann u. Zito, 2017, S. 57)
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Die Lebensweltdiagnostik verdeutlicht einerseits die aktuelle Situation, andererseits aber auch die Person in ihrem Umfeld. Das Konzept der Lebenswirklichkeit (siehe Abbildung 3) nimmt den Gedanken der Fünf Säulen der Identität (Petzold, Wolf, Landgrebe, Josič u. Steffan, 2000, S. 486) auf, worin Identität als Resultat von Identifikation (von innen) und Identifizierung (von außen) begriffen wird: Jeder Mensch besitzt eine eigene Wirklichkeit von subjektiver Konstruktion im Kontext mit von außen kommenden Bedingungen des Gewordenseins. Dabei geht es nicht um einen psychologisch-individualisierenden Blick, sondern um ein psychosoziales Verstehen vor dem Hintergrund der menschlichen Angewiesenheit auf soziale Unterstützung und gesellschaftliche wie auch staatliche Strukturen. Eben dieses Vertrauen in die Welt als sicherer Ort ist häufig zutiefst erschüttert: Geflüchtete sind im Sinne des Konzepts von Keilson (1979/2005) deshalb insbesondere auf ein unterstützendes Außen im Ankunftsland angewiesen. Sprache und Aufenthalt z. B. tragen in erheblichem Maße dazu bei, wie Geflüchtete sich in den einzelnen Bereichen entwickeln können beziehungsweise wo Unterstützungsleistungen notwendig werden, daher sind sie als grundlegendes Element aufgeführt. Ausgrenzungs- und Ohnmachtserfahrungen können in allen Bereichen erlebt werden und sind daher als Erhebungskomponente quer angelegt. Neben bereits bewährten Fokussen wie z. B. Arbeit, Leistung, Gesundheit, sozialen Netzwerken sind bei der Zielgruppe vor allem Sprache, Aufenthalt und Ausgrenzungserfahrungen zu bedenken: Die Lebenswirklichkeit Geflüchteter und ihre Teilhabemöglichkeiten sind fundamental durch den Aufenthaltsstatus bestimmt (z. B. Zugang zu Ausbildung und Gesundheitsleistungen). Dieser kraftraubende und langwierige Faktor geht oft mit Angst- und Ohnmachtserfahrungen einher. Sprache wiederum wirkt als Erfahrung und Möglichkeit sowie Schlüsselfunktion für Ankommen und Verständigung und somit auch für Sicherheit. Persönliche, institutionelle und strukturelle Diskriminierungen führen zu Ausgrenzungs- und Ohnmachtserfahrungen. Sie können in allen Bereichen (z. B. aufgrund der Sprache oder in schulischen Zusammenhängen) erfahren werden, sind daher ebenfalls zu allen Bereichen quer angelegt und sollten jeweils als mögliche Alltagserfahrung mitgedacht werden.
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Abbildung 3: Säulen der Lebenswirklichkeit (vgl. Große et al., 2022b)
Zusammenführung In ihrer Summe jedoch muss Diagnostik – bei aller Komplexitätsanforderung – auf eine Strukturierung der komplexen Informationen hinauslaufen, die die Dimension »Individuum – soziale Umwelt« sowie die Dimension »Defizite – Ressourcen« möglichst umfassend, aber auch prägnant ausweist (Pauls, 2011/2013, S. 205–211). Diese Koordinaten psychosozialer Diagnostik und Intervention (Abbildung 4) ermöglichen im Rahmen einer Mehrebenendiagnostik eine systematische Problemund Ressourcenanalyse auf der Basis unterschiedlicher, sich ergänzender – in den vorangegangenen Abschnitten dargestellter – diagnostischer Daten. Dadurch werden sie nicht nur zu einem weiteren Instrument, sondern zu einem strukturierenden und ordnenden Orientierungsmodell für die gesamte Interventionsplanung. Aus diesem Diagramm der Koordinaten psychosozialer Diagnostik und Intervention lässt sich schließlich mühelos die Interventionsplanung ableiten, indem
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Defiziten begegnet wird und Ressourcen gefördert werden. Resultat ist also ein systematisch erarbeiteter und dialogisch gestalteter Hilfeplan.
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Abbildung 4: Koordinaten psychosozialer Diagnostik und Intervention (Quelle: Pauls, 2011/2013, S. 209)
Schluss und Ausblick Die gewonnenen Erkenntnisse aus dem diagnostischen Gestaltungsprozess sind zunächst Grundlage und Ausgangspunkt für eine dialogisch strukturierte Fallerkundung und ein Fallverstehen. Darüber hinaus sind sie zugleich Intervention, da der diagnostische Prozess selbst eine dialogische Begegnungsund Veränderungskonstellation darstellt. Als besonders hilfreich erweist sich Gestaltungsdiagnostik daher, wenn man sie prozessual begreift: So können Ausgangspunkte, also eine vergangene Lage, gewählt und mit der heutigen aktuellen Situation der Klientel verglichen beziehungsweise im Verlauf der Hilfegestaltung weitere Erhebungszeitpunkte eingeplant werden. Dialogisch und prozessual orientiert fördert Soziale Diagnostik damit Selbstaneignungsprozesse, wirkt (un)sozialen Chancenstrukturen, Exklusionsprozessen und psychosozialen Beeinträchtigungen entgegen. Die Symbolisierung und die parallele Versprachlichung können dazu beitragen, belastende oder traumatische Erfahrungen in Raum und Zeit zu verorten und in die Biografie zu integrieren, das heißt, die Bewältigung zu unterstützen. Voraussetzung für die Arbeit mit der Lebenslinie unter expliziter Einbeziehung belastender oder traumatischer Erfahrungen ist allerdings, dass die
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Klient*innen bereits im Vorfeld über eine gewisse Stabilität verfügen. Sonst könnte die (zu frühe) Konfrontation mit traumatischen Erfahrungen dazu führen, dass geflüchtete Menschen von belastenden Erinnerungsbildern und bedrohlichen Gefühlen überschwemmt und destabilisiert werden. Systematische Anregungen zum professionellen Handeln können daher immer nur Anregungen sein und bleiben. Auf diese Weise kann eine gelungene Theorie-PraxisVerknüpfung eventuell die Möglichkeit zu einer »strukturierte[n] Intuition« (Gahleitner, 2005, S. 130; Erg. v. Verf.) eröffnen, die sich vor einem breiten systematisierten Wissenshintergrund gekonnt entfalten kann. Wie an den Aufmerksamkeitslinien der Haltung verdeutlicht wurde, sind für die Umsetzung verschiedenste Ressourcen nötig: unter anderem fachliches Wissen, Möglichkeiten zur Weiterbildung, Raum für Reflexion, Zeit zum Beziehungs- und Vertrauensaufbau (und zur Durchführung des umfangreichen rekonstruktiven Vorgehens!), vertrauensvolle Teamrücksprachen. Der TheoriePraxis-Transfer entfaltet sich so nicht ausschließlich in der fachlich-personellen Arbeit, sondern durchzieht auch den institutionellen Raum.
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Geflüchtete psychosozial und traumapädagogisch unterstützen
Einleitung
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In den letzten Jahrzehnten hat sich die globale Situation auf unserem Erdball stark verändert. Für große Teile der Bevölkerung ist ein menschenwürdiges Überleben in den Herkunftsländern unmöglich geworden. Kriege, ökonomische und biologische Katastrophen und diktatorische Herrschaftssysteme haben Verletzungen und Erfahrungen hervorgebracht, die die Menschen an Flucht denken ließen oder ein Verlassen ihres Ursprungslands existenziell notwendig machten. In Deutschland angekommen, sind Geflüchtete auf Begleitung und Unterstützung angewiesen. Fachkräfte und Ehrenamtliche, die mit Geflüchteten arbeiten, haben daher eine verantwortungsvolle Aufgabe. In dieser Situation Unterstützung angemessen zu leisten, heißt, sich als Zeug*innen des erfahrenen Leids, in empowernder Unterstützung und zugleich traumakompetent und fachkundig zu bewegen.1 In Deutschland angekommen, hoffen geflüchtete Menschen, die schlimmsten Strapazen hinter sich gelassen zu haben. Bereits während der Ankunftszeit wird jedoch signalisiert, dass ein wirkliches »Ankommen« schwierig wird. Flüchtlingsabwehr an den Grenzen, aber auch z. B. große Unterbringungslager und Informationen zur »freiwilligen Rückkehr« noch vor der Asylantragstellung tragen dazu bei, sich nicht willkommen zu fühlen. Die unbürokratische Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar. Ist die erste Hürde (Einreise, Anhörung zum Asylverfahren) überwunden, geht der Anspruch an Geflüchtete sehr früh in Richtung »fordern und fördern«. Auch psychosoziale Fachkräfte sind unter Druck, diesen Anspruch umzusetzen. In 1 Der Artikel basiert auf der Publikation »Psychosoziale und traumapädagogische Arbeit mit geflüchteten Menschen« (Gahleitner, Zimmermann u. Zito, 2017) und enthält daher einzelne Textpassagen aus dem zitierten Buch. Die Reihe »Fluchtaspekte« wurde ins Leben gerufen, um Fachkräften und Ehrenamtlichen im Fluchtbereich fachliche Unterstützung in der praktischen Arbeit zu bieten (vgl. vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/fluchtaspekte).
Geflüchtete psychosozial und traumapädagogisch unterstützen
der Realität jedoch sind viele Geflüchtete – vor allem aus Kriegsregionen – sehr mit der Frage beschäftigt: »Wie geht es meiner Familie und meinen Freund*innen in den Herkunftsländern?« Sie fragen sich auch: »Was gibt mir das Recht, mich um mein Leben zu kümmern, während andere noch in Gefahr oder tot sind?« Nur schwer können viele sich auf die Lage im Aufnahmeland und die neuen Anforderungen konzentrieren, es sei denn im Hinblick auf die finanzielle Versorgung oder den Familiennachzug der Menschen, die in der Krisenregion zurückgelassen wurden. Hier jedoch stürzen neue Herausforderungen auf sie ein, ihnen begegnen Chancenungleichheit, Diskriminierung und Stigmatisierung. Dies alles sind Aspekte, die in die Gestaltungsprozesse von Hilfeleistungen in der ersten Phase einbezogen werden sollten, um ein Gelingen des Integrationsprozesses nicht bereits an dieser Stelle zu verunmöglichen. Dies macht bereits deutlich, dass die Problemlagen nicht allein im Gesundheitssystem gelöst werden können (vgl. z. B. BAfF, 2017). Traumatisierte Geflüchtete benötigen beispielsweise nicht immer sofort eine Psychotherapie, manchmal ist dies zum Zeitpunkt des Ankommens und Sich-Einfindens nicht die angemessene Hilfe. Sie brauchen aber in jedem Fall eine psychosoziale Versorgung, die Gefahrenpotenziale bannen hilft, eine fachgerechte Begleitung anbietet und auf diese Weise Chancen auf eine gelungene Integration eröffnet. In adäquaten Räumen des Verstehens und immer wieder Neu-Anknüpfens an konstruktive Veränderungsmöglichkeiten können eine Einordnung des Erlebten und ein Gefühl gesellschaftlichen Angenommenseins entstehen. Auf diese Weise für Menschen nach Fluchterfahrungen adäquat, einzelfallorientiert und niedrigschwellig Möglichkeiten und heilsame Räume zu schaffen, stellt unserer Erfahrung nach eine große Chance für die weitere Entwicklung und damit die Möglichkeiten einer geglückten Integration in den Lebensalltag dar – im Sinne eines gelungenen inter- oder transkulturellen Zusammenlebens.
Vertrauen und Beziehung schaffen Nicht alle Geflüchteten haben selbst traumatisierende Erfahrungen gemacht, aber alle sind auf irgendeine Weise mit schwierigen Lebensereignissen oder Traumata in Berührung gekommen (vgl. Baer u. Frick-Baer, 2016; Fürst, 2016; Imm-Bazlen u. Schmieg, 2017; Preitler, 2016; Schneck, 2017; Zito u. Martin, 2016). Geflüchtete Menschen sind deshalb keinesfalls als »psychisch krank« zu deklarieren oder wahrzunehmen, aber im Umgang mit ihnen ist es wichtig, krisenhafte und traumatische Vorgänge zu verstehen sowie ihnen psychoedukativ dieses Verständnis entgegenzubringen und damit möglichst optimale Bewältigungsmöglichkeiten
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zu bieten. Auch aus einer übergreifenden Perspektive ist es für psychosoziale Fachkräfte und Helfer*innen sinnvoll, die Zusammenhänge zwischen Trauma, Bindung und sozialer Integration zu verstehen und sich darin zurechtzufinden. Viele einzelne unverständliche und überfordernde Situationen in der Arbeit werden dann verstehbar, handhabbar und lösbar. Im Folgenden wird daher kurz auf traumatische Prozesse eingegangen, um auf dieser Basis Hinweise für einen beziehungsorientierten Umgang mit geflüchteten Menschen geben zu können. Trauma
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Ein Trauma als ein »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten« (Fischer u. Riedesser, 2020, S. 88) entsteht durch ein erschütterndes Ereignis und geht mit Kontrollverlust, Entsetzen und (Todes-)Angst einher. Das Ausmaß der Traumatisierung ist abhängig von der Art, den Umständen und der Dauer des Ereignisses, vom Entwicklungsstand sowie von der psychischen und sozialen Situation, in der sich die Betroffenen zu diesem Zeitpunkt befinden. Zu den Umständen zählt, ob es vor, während oder nach der Traumatisierung schützende Faktoren gegeben hat oder ob diese ausgeblieben sind. Hilfreich für ein umfassendes Verständnis des traumatischen Geschehens – besonders im Hinblick auf Flucht und Vertreibung – ist daher neben psychotraumatologischen Grundlagen vor allem das Konzept der sequenziellen Traumatisierung von Hans Keilson (1979/2005), einem Sportlehrer, Arzt und Schriftsteller sowie Überlebenden der Shoah, der dieses Konzept aus den Ergebnissen einer Langzeitstudie mit jüdischen Kriegswaisen entwickelte. Keilson (1979/2005) arbeitet darin heraus, dass ein Trauma nicht aus einer, sondern vielmehr aus drei Sequenzen besteht: aus einer Vorbereitungs- und Beginnphase der Verfolgung (z. B. Abbröckeln eines Rechtsschutzes, Demütigung im Alltag, Auflösung der vertrauten Umgebung), aus »traumatogenen« Momenten (z. B. Gewalthandlungen im Krieg, Aufenthalt in Lagern, Erziehungsanstalten) und aus dem Auftauchen und Zurückkehren in eine rechtlich gesicherte Welt (Leben im Exil, Behandlung als Flüchtling, Erfahrung von Abwertung oder Gleichberechtigung). Der Blick auf diese Sequenzen ermöglicht ein tieferes Verstehen der Belastung, der die Betroffenen mit einem solchen Erfahrungshintergrund ausgesetzt sind. Vor allem aber wird durch das Modell deutlich: Es geht keineswegs nur um das einzelne Ereignis beziehungsweise die verschiedenen Gewalterlebnisse und deren mehr oder weniger gelungene individuelle Bearbeitung, sondern um eine Abfolge von Ereignissen in einem gesellschaftlichen Kontext. Daher ist es für die Unterstützenden wichtig, dieses Zusammenspiel der Sequenzen in den Blick zu nehmen und zu würdigen. Auch nach dem Ende der Verfolgung und
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selbst, wenn die Geflüchteten im scheinbar sicheren Land angekommen sind und die Zeit der Verarbeitung beginnen könnte, werden also unter Umständen noch wesentliche traumatisierende Erfahrungen gemacht. Die Zeit nach der Ankunft im Aufnahmeland ist – mit anderen Worten – keine »posttraumatische«, sondern eine weitere traumatische Sequenz (vgl. Becker, 2006; Zito, 2015). Viele Traumabetroffene bezeichnen diese Zeitspanne sogar »als die eingreifendste und schmerzlichste ihres Lebens« (Keilson, 1979/2005, S. 58). Entscheidend ist für die langfristige »psychische Gesundheit« von Geflüchteten also nicht unbedingt der Schweregrad eines Traumas, sondern jene dritte Phase. Jüdische Kinder, die in der Nachkriegszeit (dritte Sequenz) unter relativ guten Bedingungen aufwuchsen, zeigten in der Untersuchung deutlich weniger Traumafolgestörungen als Kinder, die eine schwierige Nachkriegszeit nach einer weniger schrecklichen Zeit in der Shoah (zweite Sequenz) erlebt hatten. Die Möglichkeit und die Verantwortung für die Bearbeitung der traumatischen Erfahrungen werden vom Individuum demnach auf gesellschaftliche und politische Aspekte erweitert. Die Forderung nach der gesellschaftlichen Anerkennung des traumatischen Erlebens als Unrecht und nach einem Klima, in dem Geflüchtete keine Angst vor Stigmatisierung und Ablehnung haben müssen, ist damit basal für den Schutz vor fortgesetzter Traumatisierung und für die Möglichkeit der Bearbeitung (vgl. Zito, 2015). Besonders stark schädigt eine Wiederholung von Ohnmachtserfahrungen, z. B. im Zuge des Asylverfahrens, in dessen Verlauf oft über lange Zeit sämtliche relevante Weichenstellungen über den weiteren Verlauf des Lebens durch behördliche Entscheidungen vorgegeben werden, unter anderem bezüglich Anerkennung oder Ablehnung, Aufenthaltserlaubnis oder Abschiebung, Verlängerung des Aufenthalts oder Rücknahme des Schutzstatus, Zuweisung zu einem (nicht selbst gewählten) Bundesland und Wohnort, Berechtigung, in eine Privatwohnung zu ziehen, oder Verpflichtung, in einer Sammelunterkunft beziehungsweise einem Lager zu leben, Arbeitserlaubnis oder -verbot. Für minderjährige Geflüchtete aktualisieren sich die Ohnmachtsgefühle besonders stark, wenn sie nicht absehen können, ob ein Nachzug der Familie auf den Weg gebracht werden kann. Das Erleben, dass es z. B. Mitbewohner*innen in den Einrichtungen »gelingt« und sie »versagen«, verhindert darüber hinaus ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Bindung und Beziehung schaffen Aus diesen Überlegungen ist zu folgern, dass Fachkräfte und Unterstützer*innen keine neutrale Haltung, sondern die Rolle engagierter Begleiter*innen einnehmen müssen (Becker, 1997). Das Konzept der sequenziellen Traumatisierung
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wirkt jedoch nicht nur in die negative Richtung. Es besagt auch, dass wir nach der traumatischen Erfahrung über viele Jahre hinweg die Möglichkeit haben, positive Akzente zu setzen. Diese positiven Aspekte reichen bis zu einem Phänomen, das großen Mut machen kann: das Konzept des »posttraumatischen Wachstums« (vgl. Tedeschi u. Calhoun, 1995). Danach können nach einschneidenden Erfahrungen wertvolle biografische Wachstums- und Bildungsprozesse angeregt und ermöglicht werden, wenn soziale Ressourcen zur Verfügung stehen. Übersetzt in die Forschung zu Bindungsphänomenen und sozialen Netzwerken bedeutet dies: »In vielen Konstellationen scheinen Belastungen erst Support und positive Unterstützungserfahrungen zu produzieren und zu ermöglichen« (Nestmann, 2010, S. 16; vgl. auch Moos u. Schaefer, 1993). Als Kinderarzt und -psychiater stieß bereits John Bowlby (1951/1973) auf diese Phänomene. In seiner Trilogie zu Bindung, Trennung und Verlust (Bowlby, 2006) entwickelte er die Bindungstheorie. Damit begründete er eine beziehungsbezogene Perspektive von Entwicklung, nach der Kleinkinder fundamental auf emotionale Fürsorge und Unterstützung, Schutz und (emotionale) Sicherheit angewiesen sind. Die (emotionale) »Abwesenheit« von Bindungspersonen hingegen behindert unbefangenes »Explorieren« und damit die unbeeinträchtigte Entwicklung von emotionalen, kognitiven sowie sozialen Fähigkeiten und kann daher zu schweren Schädigungen führen. In der weiteren Forschung zu diesen Phänomenen wurde deutlich, dass sich diese Bedeutung das ganze Leben über entfaltet und die Bindungstheorie sich als Entwicklungstheorie im Sinne breiterer Interaktionserfahrungen unter Einbezug gesellschaftlicher und historischer Perspektiven verstehen lässt (Drieschner, 2011). Gelungene oder weniger gelungene Interaktionen werden aus dieser Perspektive zu einem grundlegenden Organisationsprinzip der gesamten weiteren Entwicklung – lebenslang. Sind stabile Bindungspersonen nicht verfügbar, z. B. für unbegleitete minderjährige Geflüchtete, so erhöht sich nach Bowlby (2006) nicht nur das Traumarisiko, sondern dies stellt ein eigenes Traumarisiko dar und erschwert zusätzlich die Bewältigungschancen. Ein destruktiver Teufelskreis kann entstehen, der negative Bindungsstile oder gar »Bindungsstörungen« zur Folge hat und die gesamte weitere Entwicklung beeinflusst (Brisch, 2009/2020; Schleiffer u. Gahleitner, 2010). Diese Erkenntnisse verdeutlichen nochmals die bereits erwähnten Ergebnisse von Keilsons (1979/2005) Studie. Die Veränderungen durch negative Bindungseinflüsse manifestieren sich bis hinein in neurophysiologische Strukturen der Betroffenen (Perry u. Pollard, 1998; Yehuda, 2001). Menschen, die sich über einen langen Zeitraum in desolaten Verhältnissen befinden, sind daher gefährdet, psychische Beeinträchtigungen zu entwickeln, und sind existenziell auf soziale Ressourcen angewiesen, die als positive Gegenhorizonte eine
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stabile psychosoziale Geborgenheit verbürgen könnten (Keupp, 1997; Renner, Laireiter u. Maier, 2012). Vertrauen schaffen Nicht selten begegnet engagierten Helfer*innen jedoch zunächst Misstrauen, gerade in einer Situation von Flucht und Vertreibung. Professionelle wie Unterstützer*innen stehen daher vor dem Problem, zunächst vor allem das berechtigte Misstrauen abbauen zu müssen (Flick, 1989, S. 11), sie müssen also in »Vorleistung« gehen und vorab »Vertrauen schenken« (Luhmann, 2014, S. 23). Was ist überhaupt »Vertrauen«? Zieht man soziologische, psychologische und päda gogische Theoriebestände heran, erscheint Vertrauen als ein »Charakteristikum menschlichen Lebens« (Schweer u. Thies, 2008, S. 136). Es beruht auf den vorher gemachten Erfahrungen und befindet sich damit in unmittelbarer Nachbarschaft der Bindungsphänomene (vgl. u. a. Zulauf Logoz, 2012). »Vertrauen reduziert die Vielzahl potenziell denkbarer Handlungsausgänge bzw. -alternativen auf einige wenige; dadurch wird das Individuum bzw. ein soziales System überhaupt erst handlungsfähig« (Schweer u. Thies, 2008, S. 136). Ohne Vertrauen ist demnach ein Leben in der Postmoderne kaum möglich, aber zugleich »ist dieses Vertrauen immer auch prekär« (Wagenblass, 2004, S. 64; vgl. auch Luhmann, 2014). Auf der Ebene der persönlichen Beziehungen wie auch der umgebenden Netzwerke und Institutionen kommt Vertrauensprozessen daher die Aufgabe zu, »Erwartungen zu stabilisieren« (Wagenblass, 2013, S. 1826; vgl. Luhmann, 2014). In der Arbeit mit Geflüchteten wird diese Tatsache spätestens bei der Thematik des Aufenthaltsstatus sichtbar, der strukturell Wohlbefinden und Lebensqualität der geflüchteten Menschen determiniert. Der Vertrauensaufbau gelingt daher bestenfalls zunächst auf der Ebene der Dyade, muss sich in der Folge aber auch auf der Ebene des umgebenden Netzwerks und der Institutionen tragfähig gestalten. Da das staatliche Gesamtsystem im Falle von Geflüchteten oft durch negative Entscheidungen oder institutionellen Rassismus eher Misstrauen stärkt, kann eine schwer auflösbare Double-Bind-Situation entstehen: psychosoziale Arbeit als »Vertretung des Systems« auf der einen und eine Identifikation mit dem »Opfer« in der Dyade auf der anderen Seite. Es handelt sich also um einen differenzierten Prozess: Vertrauen entsteht in einzelne Personen, die es sich durch ihre Zugewandtheit und konkretes Handeln verdient haben, und wird zugleich dadurch erschwert, dass im Geflüchtetenkontext Entscheidungen für erfahrene unterstützende Personen oft nicht vorhersehbar sind. Dadurch sind Enttäuschungen auf der persönlichen Ebene vorprogrammiert. Auf der
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gesellschaftlichen Ebene bleibt Misstrauen jedoch nicht selten bestehen. Wird diese Double-Bind-Situation adäquat reflektiert, kann hier eine große Chance für den Traumabewältigungs- und Integrationsprozess entstehen. Vertrauen konstituiert sich also über und innerhalb einer Beziehung, geht aber im Falle des Gelingens über diese dyadische Beziehung hinaus. Ein Milieu schaffen
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Damit dieser über die Dyade herausragende Raum für die Bewältigung schwieriger Lebensereignisse hilfreich werden kann, ist ein positives Milieu nötig, das die bindungstheoretische Dimension hin zu einer gesellschaftlichen erweitert. Um umfassend Stabilität herzustellen, bedarf es daher zusätzlich zu einzelnen dyadischen vertrauensvollen Beziehungen und »schützenden Inselerfahrungen« (Gahleitner, 2005, S. 63) – auch wenn diese oft einen sehr wichtigen Startpunkt bieten – umfassender Beziehungsnetzwerke bis hin zu konstruktiven Vernetzungssettings unter Institutionen. Kühn (2009) und Lang (2009) sprechen vom Begegnungsrahmen des »Sicheren Orts« (vgl. auch Weiß, 2021, S. 246–259). Stück für Stück können in solchen Räumen in »emotional-orientierten Dialogen« »korrektive Erfahrungen« (Kühn, 2009, S. 31) gemacht und neue Fähigkeiten und Fertigkeiten ermöglicht werden. Aktuellen Forschungsergebnissen zufolge sind aus dieser Perspektive jedoch neben der Bindungs- und Vertrauenstheorie insbesondere Netzwerktheorien und Theorien sozialer Unterstützung heranzuziehen (Laireiter, 2009; Nestmann, 2010; Röhrle, 2001). Soziale Unterstützung stellt eine »zentrale Bedingung der Sicherung von Gesundheit, der Verbesserung von Wohlbefinden und der Förderung von Lebensführung und Lebensbewältigung« (Nestmann, 2010, S. 3) dar und gehört zu den Grundbedürfnissen eines Menschen. Aus der im Abschnitt »Bindungstheorie« beschriebenen helfenden Beziehung mit psychosozialen Unterstützer*innen können so unter Berücksichtigung sozialer Unterstützungskonzepte – Schritt für Schritt – haltende und stabilisierende »Verhältnisse« werden, die den Integrationsprozess befördern, besonders in Form von Kollektiverfahrungen. Das bedeutet konkret, Beziehungen in Notsituationen dennoch leben zu können, sich über Erlebtes auszutauschen oder Alltag miteinander zu teilen. Dies entsteht jedoch nicht automatisch, sondern es wird häufig im Gegenteil zunächst gesellschaftliche Ausgrenzung erlebt. Hier können entlang der soeben referierten Vertrauenstheorie »Brückenpersonen« aus dem Kulturkreis selbst oder »vertrauensvolle Personen« aus der Aufnahmegesellschaft hilfreich sein. Letztlich geht es also um die Herstellung eines förderlichen »Milieus« als »biografisch verfügbarer sozialräumlicher und sozialemotionaler Kontext« (Böh-
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nisch, 1994, S. 222). Aus dem Alltagszusammenhang heraus können so Chancen eröffnet werden, innerhalb der Gemeinschaft biografische Verletzungen zu aktualisieren und schonend, im Rahmen eines geschützten, aber realen Alltags, neue, alternative Erfahrungen zu machen. Der Wille, das Engagement und der von Zeit zu Zeit nötige Mut, den viele Unterstützer*innen gleichermaßen aufbringen und der zutreffend als Unterstützungskultur beschrieben werden kann, muss sich also zu einer Unterstützungsstruktur weiterentwickeln.
Traumatische und schwierige Fluchtumstände bewältigen helfen Ein hilfreiches Modell, um diesen Prozess als Fachkraft zu begleiten, stellt das folgende inzwischen international anerkannte Traumabewältigungsmodell dar. Denn die Überlebenskraft und -kreativität von Menschen nach schwierigen Lebensereignissen und Traumata kann – unter guten Unterstützungsbedingungen – erstaunlich konstruktive Kräfte entfalten. Trauma muss allerdings für diese Art von Unterstützung entlang der bereits dargestellten Wissensbestände als Zusammenspiel eines komplexen Gefüges zwischen psychologischen, physiologischen und sozialen Prozessen verstanden werden (vgl. Gahleitner u. Große in diesem Band). Nähert man sich dem Geschehen auf diese Weise, sind die Folgeerscheinungen durch adäquate Begegnungs- und Behandlungsstrategien an vielen Stellen mitgestaltbar, und es kann sich sogar so etwas wie das angesprochene posttraumatische Wachstum (Tedeschi u. Calhoun, 1995) entfalten. Schwierige Lebensereignisse und traumatische Belastungen stellen das Hilfesystem vor große Herausforderungen, bergen daher aber auch Chancen. Entlang dieser Überlegungen hat sich bereits vor gut zwei Jahrzehnten in den USA ein hilfreiches Drei-Phasen-Modell (Herman, 1992/2018, bes. S. 171–194; Lebowitz, Harvey u. Herman, 1993) herauskristallisiert, das grundlegend auf den bereits beschriebenen Bindungs- und Einbettungsaspekt verweist. Für alle drei Schritte nach diesem Modell wird an die bisherigen Überlegungen schützender Umgebungserfahrungen angeknüpft. Während das Modell in der Traumatherapie bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat, haben erst in den letzten Jahren explizit psychosozial ausgerichtete traumapädagogische Konzepte diese Überlegungen aufgegriffen und sie für den Betreuungs- und Begleitungskontext umformuliert (vgl. Abbildung 1; vgl. ausführlich Gahleitner, 2021, S. 101–122). Grundlage des Modells ist eine traumasensible psychosoziale Haltung, die den traumabezogenen Inhalten, Erinnerungen und Erfahrungen der Betroffenen im Alltag respektvoll, mit Verständnis und mit der Bereitschaft zu einem fein-
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fühligen und versorgenden Beziehungsangebot begegnet. Die Grundlage für ein dementsprechendes Handeln bilden folgende Aspekte: Ȥ Die Verhaltensweisen traumatisierter Menschen »sind normale Reaktionen auf eine extreme Stressbelastung« (Weiß, 2021, S. 120). Ȥ Diese Menschen »haben für ihre Vorannahmen, Reaktionen und Verhaltensweisen einen guten Grund« (Weiß, 2021, S. 120). Ȥ Die bisherigen (Über-)Lebensleistungen traumatisierter Menschen werden anerkannt und geschätzt. Ȥ Jeder dieser Menschen wird bei der Entwicklung eines guten Lebens unterstützt. Ȥ Fachpersonen stellen ihre Sachkompetenz zur Verfügung, die traumatisierten Menschen selbst jedoch »sind die Experten für ihr Leben« (Weiß, 2021, S. 120).
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Die Schlüsselkonzepte der humanistischen Therapie und Beratung – Akzeptanz, Wertschätzung und Kongruenz (vgl. unter anderem Rogers, 1957/2004; Nestmann, 2004) – spielen eine entsprechend gewichtige Rolle im gesamten Prozess. Auf Basis dieser Grundhaltung wird innere wie äußere Sicherheit der Traumabetroffenen in einer ersten Phase der Stabilisierung und Ressourcenerschließung als die Voraussetzung für alle weiteren Schritte erkannt. Dazu gehören vor allem der bindungs- und beziehungssensible Aufbau mindestens einer professionellen Beziehung und die Erschließung weiterer sozialer Ressourcen nach der Beschreibung im vorangegangenen Kapitel. Durch die schwierigen Erfahrungen vor, während und auch nach der Flucht wurde nicht selten das subjektive innere Sicherheitsgefühl zerstört. Kühn (2008) meint daher, dass die Verarbeitung dieser Erfahrung, das Wiedererlangen eines »inneren sicheren Ortes« zunächst einen »äußeren sicheren Ort« (S. 323), das heißt verlässliche, einschätzbare und zu bewältigende Lebens- und Alltagsbedingungen braucht (vgl. auch HoferTemmel u. Rothdeutsch-Granzer, 2015). Im Unterschied zur Psychotherapie bemüht sich die Traumapädagogik daher bewusst nicht um Ausschließlichkeit und ein von der Außenwelt abgeschottetes Setting, sondern um ein kontextuell hergestelltes Milieu (Weiß, Kessler u. Gahleitner, 2016). Im Kontext von Flucht kann jedoch meist erst zu einem späten Zeitpunkt ein wirklich sicherer äußerer Ort etabliert werden. Deshalb ist es wichtig, die Balance zwischen der traumapädagogischen Unterstützung und der Auseinandersetzung mit den strukturell weiter traumatisierenden Gegebenheiten im Auge zu behalten und gegebenenfalls in die Beziehung einzubringen. In einer zweiten Phase der Auseinandersetzung mit dem Trauma geht es um den behutsamen Versuch, traumatische Erinnerungen unter Einbezug der emo-
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Abbildung 1: Psychosoziales Interventionsmodell nach traumatischen Erfahrungen (vgl. ähnlich Gahleitner, 2021, S. 103)
tionalen Komponenten zuzulassen, ohne von den begleitenden Gefühlen überwältigt zu werden. Dies geschieht klassischerweise in der Psychotherapie. Es gibt allerdings durchaus »falsche Orte […] zur Offenlegung der eigenen Leidensgeschichte« (Weiß, 2021, S. 236 f.). Durch den Einsatz traumakonfrontativer Verfahren oder deren zu frühen Einsatz kann es auch – insbesondere im Bereich komplexer Traumata – zu Überforderungen kommen (vgl. ausführlich Gahleit-
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ner u. Rothdeutsch-Granzer, 2016). Die Traumapädagogik unterscheidet daher unterstützende und traumareflektierende von aufdeckenden Interventionen (Weiß, 2021, S. 201). Fachkräfte und Unterstützer*innen haben daher hier die verantwortungsvolle Aufgabe, für jene, denen die Therapiesettings (noch) zu hochschwellig sind, die Möglichkeiten eines Bewältigungsprozesses äußerst behutsam auszuloten. Insbesondere ist hier auf behutsame Methoden aus der Bindungs- und Biografiearbeit zu verweisen (vgl. Übersicht bei Gahleitner, 2021). Werden nämlich bindungstheoretisch betrachtet emotional wichtige Erlebnissequenzen von anderen Menschen empathisch – das heißt in diesem Falle traumakompetent und bindungssensibel – unterstützt, so werden »innere Gefühlszustände […] auf der Ebene bewusster sprachlicher Diskurse ›verfügbar‹« (Grossmann u. Grossmann, 2012/2021, S. 448). Für diese Entwicklung brauchen von traumatischen Erfahrungen belastete Menschen, wie bereits angesprochen, emotional korrigierende Erfahrungen (vgl. Alexander u. French, 1946, S. 66–70; Cremerius, 1979, S. 588–590; Brisch, 2009/2017, S. 131). Mehr Einblick in das eigene Geschehen, vergangenes wie aktuelles, und mehr Kontrolle über Gefühle und Erfahrungen zu bekommen, ermutigt verletzte und traumatisierte Menschen in einem weiteren Schritt der Integration, konstruktiv in posttraumatische Wachstumsprozesse einzumünden. Diese Herangehensweise fordert jedoch ein Grundkonzept, dass Problemlagen und Störungen – gerade nach Flucht, Krieg und Vertreibung – immer eine biografisch-verstehende Dimension enthalten und damit über psychosoziale Arbeitskonzepte im Alltag verstehbar und veränderbar sind. Voraussetzung für diesen soeben beschriebenen Prozess ist daher, dass die Gedanken und Gefühle traumatisierter Menschen umfassend verstanden und angenommen werden. Verstehen und Verstandenwerden umfassen dabei die gesamte bereits beschriebene Komplexität inklusive der Kontexte Gesellschaft, Ungleichheit und anderer »krank machender« Faktoren. Dafür bedarf es eines umfassenden und interprofessionellen Diagnostik- beziehungsweise Verstehensmodells (vgl. Gahleitner u. Große in diesem Band). Zielsetzung ist eine lebens-, subjekt- und situationsnahe Diagnostik im interprofessionellen Gefüge, das für eine sorgfältige Abklärung der komplexen Problematiken verschiedenste Informationen zusammenfügt.
Schluss und Ausblick Psychosoziale Arbeit muss, so wurde deutlich, mit traumabetroffenen Geflüchteten dialogisch und immer wieder suchend wie kompetent vorgehen. Alle Maßnahmen müssen darauf abgestimmt sein, diesen Menschen bei ihrer tagtäglichen
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Aufgabe beizustehen, trotz aller traumatischen Belastungen die jeweiligen Veränderungen ihrer Lebenslage psychisch zu verarbeiten. Dafür bedarf es bei allen mit ihnen arbeitenden Berufsgruppen und Unterstützer*innen ausreichender Fachkenntnisse (Pauls, 2011/2013, bes. S. 25–31). Ein adäquates Angebot für Menschen mit Fluchterfahrungen kann nicht gelingen, ohne dass alle Fachkräfte über bindungs- und beziehungstheoretische Grundlagen sowie Aspekte traumatischer Erfahrungen, Belastungen und Bewältigungsmöglichkeiten informiert sind – um zu erkennen, wo diese vorliegen, aber auch, um zu unterscheiden, wo sie keine Rolle spielen. Gleichzeitig sollten die Fachkenntnisse mit einer transkulturellen Haltung und einem klaren Blick auf strukturelle Rassismen im Aufnahmeland gekoppelt und Entwicklungs- wie Gefährdungsfaktoren im Herkunftsland den betroffenen Unterstützer*innen zumindest einigermaßen bekannt sein beziehungsweise im Unterstützungsprozess erarbeitet werden, z. B. durch Einbeziehung von Sprach- und Kulturmittler*innen, Befragen der begleiteten Person selbst oder auch die aktive Suche nach den entsprechenden Informationen. Fragen wie »Wer, wie und was würde in deiner/Ihrer Herkunftscommunity zu deiner/Ihrer Unterstützung bereitstehen?« können dabei eine gute Anknüpfung sein, um das Expertentum der Betroffenen wertzuschätzen und eigenes Nichtwissen konstruktiv zu drehen. Auf diese Weise für Menschen nach Fluchterfahrungen adäquat und einzelfallorientiert Möglichkeiten und Veränderungsräume zu schaffen, stellt eine große Chance für die weitere Entwicklung dar. Diese Überlegungen führen jedoch abermals zurück zu der Bedeutung emotional korrigierender Beziehungserfahrungen (vgl. Cremerius, 1979, S. 588–590; Alexander u. French, 1946, S. 66–70). Auch sie stellen aktive Traumabearbeitung dar. Fachkräfte und Unterstützer*innen im Fluchtbereich sind demnach gefordert, behutsam und zugleich strukturierend entlang der genannten Themenkreise selbstexplorative Prozesse zu ermöglichen und alltagsnah ein Mehr an (kognitivem) Selbstverstehen, Selbstakzeptanz und schlussendlich an Handlungskompetenz und Selbstregulation zu erreichen (Weiß, 2021, S. 138 f.). Dabei ist es notwendig, immer wieder die erneuten traumatisierenden Erfahrungen während dieses Prozesses einzubeziehen, wie z. B. die Anhörung, die ständige Bedrohung durch einen unsicheren Aufenthalt, das direkte oder indirekte Miterleben von Abschiebungen. So bewegen sich die Fachkräfte ständig in einer Double-Bind-Situation, die es gut zu reflektieren gilt. Nicht nur die Traumakonfrontation, sondern bereits die Adressierung zentraler Problemlagen, die durch das Trauma entstanden sind, bedeutet daher einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Traumabewältigung (vgl. Schmid, 2010, S. 116 f.). Auf diese Weise entsteht für die Betroffenen die Chance, andere Muster der Selbstwahrnehmung sowie konkrete Selbstheilungsmöglichkeiten zu entwickeln und damit
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die Anbahnung von Reintegrationsprozessen zu unterstützen. Dazu kann auch das Verfügbarmachen von Räumen zur Selbstorganisation und damit Selbstermächtigung einen wichtigen Beitrag leisten. Psychosoziale Arbeit und die jeweils dazu sinnvollen Arbeitsschritte in Form von Wissensbeständen und Regeln zu organisieren, kann einen wichtigen Wissenshintergrund darstellen, vor dem aber letztlich der indikationsspezifische und situationsadäquate Einsatz die eigentliche Qualität der Hilfestellung ausmachen. Weder Regeleinhaltung von Techniken noch Theoriefixierung noch pures Verlassen auf Praxisintuition sind daher aus unserer Sicht die Lösung. Zielsetzung könnte sein, vor dem Hintergrund von Wissen und Erfahrung eine »strukturierte Intuition« zu entwickeln, um indikations- und prozessspezifisch sowie situationsadäquat reagieren zu können. Zudem aber wurde deutlich, wie sehr das Wohl und die Lebensqualität von Menschen mit Fluchterfahrung von sozialpolitischen Bedingungen in den Aufnahmeländern abhängen und unser aller Einsatz als Fachkräfte auch auf dieser Ebene gefragt ist. 3
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Übungen zur psychosozialen und traumapädagogischen Intervention
Einleitung Orientiert man sich an den im letzten Kapitel ausgeführten Überlegungen, fällt die Auswahl geeigneter Stabilisierungs- und Unterstützungsübungen aus dem großen Pool von psychosozialen Übungsangeboten leichter.1 So wird man z. B. aufgrund der soeben ausgeführten Grundhaltung eine verstehende Diagnostik wählen. Das Arbeiten mit der mit Blumen und Steinen dargestellten Lebenslinie (»lifeline«; vgl. Schauer u. Ruf-Leuschner, 2014), wie bei Große und Gahleitner (in diesem Band) ausgeführt, hat hierzu die optimale Passung. Entlang der dargestellten Lebenslinie ergibt sich eine Reihe von Anknüpfungspunkten für Geflüchtete, die sie erzählen können, aber nicht müssen. Daraus können Gespräche mit einem entlastenden Charakter entstehen, bei hoher Anspannung jedoch ist schließend zu arbeiten und eventuell in ein therapeutisches Setting zu überführen. Um psychosozial unterstützen zu können, müssen wir uns zunächst einmal verständigen können, insbesondere wenn es um komplexere Themen, die psychische Verfasstheit oder den Aufbau von Perspektiven geht. Der Zugang zu Sprach- und Kulturmittler*innen, Dolmetscherpools oder ehrenamtlichen (unbezahlten) Übersetzer*innen ist lokal leider sehr unterschiedlich. Wie auch immer die Bedingungen sind: Um ernsthaft mit einem Menschen an relevanten Themen arbeiten zu können, müssen wir für eine gemeinsame Sprache sorgen. Manche junge Geflüchtete lernen schnell Deutsch, und die Verständigung gelingt dann recht gut. Teilweise gibt es gemeinsame Zweitsprachen, z. B. die Kolonial- oder Amtssprachen Englisch oder Französisch. In allen anderen Fällen müssen wir, zumindest für relevante Gespräche, eine stabile, vertrauenswürdige 1 Der Artikel basiert auf der Publikation »Psychosoziale und traumapädagogische Arbeit mit geflüchteten Menschen« (Gahleitner, Zito u. Zimmermann, 2017) und enthält daher einzelne Textpassagen aus dem zitierten Buch. Die Reihe »Fluchtaspekte« wurde ins Leben gerufen, um Fachkräften und Ehrenamtlichen im Fluchtbereich fachliche Unterstützung in der praktischen Arbeit zu bieten (vgl. vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/fluchtaspekte).
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und schweigepflichtige Person hinzuziehen, die übersetzt. Dies sollte in jedem Fall eine neutrale und möglichst geschulte Person sein und nicht eine spontan hinzugezogene zufällig anwesende, die der Herkunftsregion des Klienten*der Klient*in entstammt, z. B. Hilfskräfte in der Einrichtung oder andere Patient*innen oder Bewohner*innen. Erst recht sollte keine Person aus dem persönlichen Umfeld der Klient*innen zum Übersetzen eingesetzt werden, da die Betroffenen dann aus Scham oder Rücksicht möglicherweise nicht über alle relevanten Themen sprechen. Wenn irgend möglich, sollte eine qualifizierte und angemessen entlohnte Fachkraft engagiert werden (vgl. Schriefers u. Hadžić, 2018). Psychosoziale Arbeit mit geflüchteten Menschen bedeutet, dass wir die psychische wie auch die soziale Situation berücksichtigen müssen, wenn wir unsere Klient*innen auf ihrem Weg der Stabilisierung und Traumabewältigung hilfreich begleiten möchten. Dazu gehört, sich zu Beginn des Kontakts und der Zusammenarbeit einen Überblick über die verschiedenen offenen Baustellen zu verschaffen – und im Leben von Geflüchteten sind dies oft über lange Zeit sehr viele: Neben der Bewältigung von Flucht und Verlust und dem Aufbau neuer Perspektiven geht es meist ganz praktisch z. B. um den Aufenthaltsstatus, die Wohnsituation, den Zugang zu Sprachkursen, zu Schule, Ausbildung, Arbeitsmarkt. Je nach Arbeitskontext werden diese Punkte in der künftigen Zusammenarbeit unterschiedlichen Raum einnehmen, aber fast immer ist es sinnvoll, zur Einschätzung der Belastungs- und Stabilisierungsfaktoren einen Überblick zu haben. Dafür ist es also einerseits hilfreich, die erfahrungsgemäß relevanten Punkte abzufragen, um zu erfassen, wo eventuell Handlungsbedarf besteht, und andererseits herauszufinden, wo bereits Unterstützungsnetzwerke und Ressourcen existieren. Beispielhaft ist dafür in diesem Band das Kapitel zu diagnostischem Fallverstehen mit geflüchteten (jungen) Menschen (vgl. Große u. Gahleitner in diesem Band) ausgeführt. Es eignet sich gut, um Anregung für einen geeigneten Hilfeplan zu sammeln und eine qualifizierte psychosoziale Diagnostik vorzunehmen.
Psychoedukation Erhalten wir Hinweise in der Biografie oder im Verhalten geflüchteter Menschen, dass eine Traumafolgeproblematik vorliegt, ist es häufig sinnvoll, zunächst psychoedukativ zur Seite zu stehen: Ȥ Hinweise in der Biografie: Klient*innen berichten von potenziell traumatischen Erfahrungen, z. B. lebensbedrohlichen Situationen oder extremer Gewalt, die sie am eigenen Leib erlitten oder mitangesehen haben, oder auch vom gewaltsamen Verlust von Bezugspersonen und Angehörigen.
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Ȥ Hinweise im Verhalten: Klient*innen berichten von einer traumatypischen Symptomatik, oder die Fachkraft beobachtet diese, z. B.: • Symptome der Übererregung (Anspannung, Nervosität, Schreckhaftigkeit, Gereiztheit oder Wut erleben, in Prügeleien geraten, Schlafstörungen oder Konzentrationsschwierigkeiten haben); • Symptome des Wiedererlebens (dauernd an schreckliche Erfahrungen denken müssen, die Bilder vor Augen haben, Albträume davon bekommen, Flashbacks erleben, das Gefühl haben, wieder in der Situation zu sein); • Symptome der Vermeidung (nicht daran denken wollen, nicht darüber sprechen wollen, bestimmte Situationen vermeiden; auch extreme Vergesslichkeit kann eine generalisierte – unbewusste – Vermeidungstendenz sein, Inhalte aus dem Bewusstsein zu drängen); • Symptome der Dissoziation (innerlich aus der aktuellen Situation aussteigen, abwesend sein, nicht mehr mitbekommen, was gesagt wird oder um einen herum passiert, wenn sich das Gespräch z. B. um belastende Themen dreht, oder auch im Alltag, wenn z. B. im Schulunterricht Erinnerungen hochkommen). Wenn wir nach Erfahrungen der Vergangenheit fragen (müssen), sollten wir die Reaktionen unseres Gegenübers gut beobachten und bei Anzeichen traumatypischer Belastung stabilisierend intervenieren können. Häufig ist es traumatisierten Menschen nicht bewusst, dass sie unter traumatypischer Symptomatik leiden. Sie haben lediglich den Eindruck, die Kontrolle über ihre Gefühle zu verlieren, anders zu sein als früher, »verrückt« zu werden. Dann ist es sehr entlastend, wenn ihnen jemand (in verständlichen Worten) erklären kann, was da mit ihnen passiert, damit sie ihre eigenen Reaktionen einordnen und begreifen können, dass es sich um eine normale Reaktion auf unnormale Ereignisse handelt. Es geht an dieser Stelle nicht darum, ein umfängliches, akkurates Modell des Phänomens »Trauma und Traumafolgestörung« zu vermitteln, sondern Worte und Bilder zu finden, die für die betroffene Person greifbar und nachvollziehbar sind, sodass sie beginnen kann, ein eigenes hilfreiches Modell ihrer innerpsychischen Vorgänge zu entwickeln. Ein solches Modell, mit dem dann weitergearbeitet werden kann, ist zwangsläufig zunächst einmal vereinfacht. Die Ausdrucksweise sollte dem Gegenüber, der jeweiligen Beziehung und auch dem, was man selbst authentisch transportieren kann, angepasst sein, wie das folgende Beispiel veranschaulichen soll.
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Kasten 1: Einem*einer Jugendlichen die Traumafolgestörung erklären »Manchmal erleben wir Menschen Dinge, die so bedrohlich und schrecklich sind, dass wir sie nicht sofort bewältigen können. Es gibt körperliche Verletzungen – wenn wir z. B. stürzen und uns ein Bein brechen, ist das eine Verletzung, die Behandlung braucht (z. B. einen Gipsverband) und die langsam heilt. Es gibt auch seelische Verletzungen. Wenn man etwas so Schreckliches erlebt wie du, macht es so etwas wie eine Wunde im Herzen. Es ist normal, dass wir verwundbar sind – wir sind ja Menschen mit Gefühlen und keine Steine oder Roboter. Manchmal sieht man Verletzungen nicht sofort, wenn z. B. unter der Haut noch eine Entzündung ist, die Wunde noch schmerzt. Auch solche seelischen Wunden können noch unter der Haut sein – auch wenn die Situation schon lange vorbei ist, kann es sein, dass die Wunde im Herzen noch nicht verheilt ist und schmerzt. Es ist, als ob die schrecklichen Gefühle aus der schlimmen Situation noch im Herzen sind, ein bisschen wie Eiter in einer Wunde. Das kann daran liegen, dass die Situation so schlimm und gefährlich war, dass man es sich in dem Moment gar nicht leisten konnte, das alles zu fühlen, weil man ja überleben musste. Diese Gefühle sind noch da und kommen später immer wieder hoch, z. B., wenn man etwas sieht oder hört, was einen an diese Situation erinnert. Das ist, als wenn man an eine entzündete Stelle am Körper stößt – das tut weh, auch bei einer leichten Berührung. Die Symptome, unter denen du leidest, sind sehr verständlich. Wenn wir in einer bedrohlichen Situation sind, gibt uns der Körper ganz viel Energie, damit wir schnell reagieren, fliehen oder gegen einen Angreifer kämpfen können. Das ist so bei allen Lebewesen, das soll unser Überleben sichern. Wenn wir aber nicht verhindern können, dass etwas Schlimmes passiert, wenn wir diese Energie also nicht nutzen können, dann bleibt sie sozusagen im Körper gespeichert. Dadurch ist man später angespannt, nervös, erschreckt sich leicht oder wird schneller wütend, kann schlecht schlafen und sich schlecht konzentrieren. Der Schrecken sitzt noch im Körper, und es geht darum, Wege zu finden, wie diese gespeicherte Energie abfließen kann. Wenn wir in einer extrem bedrohlichen Situation sind, der wir uns nicht entziehen können, die Situation aber zu schrecklich ist, um sie auszuhalten, tut unser Gehirn manchmal etwas, um uns zu schützen: Wir entziehen uns innerlich. Wir können an der Situation nichts ändern, aber unsere Wahrnehmung verändert sich. Dann wirkt vielleicht alles irreal, wie im Film oder im Traum, man hat vielleicht das Gefühl, als ob man neben sich steht, sich von außen sieht, oder man sieht Dinge in Zeitlupe oder wie durch einen Schleier ablaufen. Vielleicht kriegt man gar nicht mehr richtig mit, was passiert. Und manchmal passiert es Menschen, die so etwas erlebt haben, auch später
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wieder, dass sie – ohne es zu wollen – innerlich aussteigen. Dann hört oder sieht oder denkt man vielleicht etwas, was einen an die bedrohliche Situa tion erinnert, und die Reaktion, dass die Wahrnehmung sich verändert, setzt wieder ein. Erst später merkt man dann z. B., dass man gar nicht mehr mitbekommen hat, was im Beratungsgespräch oder in der letzten halben Stunde im Unterricht gesagt wurde, weil man abwesend war. Ein anderes typisches Symptom ist das Wiedererleben. Wenn man ein Erlebnis noch nicht verarbeitet hat, kommen immer wieder Erinnerungen an die Situation – vor allem, wenn man etwas Ähnliches sieht oder hört oder riecht, oder auch, wenn man keine Ablenkung hat, z. B. beim Einschlafen oder in Träumen. Und eben, weil es noch nicht verarbeitet ist, kommen damit auch die schlimmen Gefühle von Angst und Entsetzen. Zum Glück muss das nicht so bleiben. Auch die Wunden im Herzen können heilen. So schreckliche Erlebnisse und die typischen Reaktionen darauf haben viele Menschen erlebt, und aus diesen Erfahrungen sind inzwischen viele Methoden entwickelt worden, die helfen. So kann man z. B. trainieren, selbst mitzubekommen, in welchen Situationen welche Symptome entstehen, und wie man selbst gut damit umgehen kann. So kann man üben, sich selbst wieder zu beruhigen oder zu orientieren, also sich selbst wieder bewusst zu machen, wo man gerade ist, und wieder in die Gegenwart zu kommen. Man kann trainieren, sich von den belastenden Gefühlen und Bildern abzulenken, Kontrolle und Abstand zu bekommen. Es gibt die Möglichkeit, später in der Therapie die Situation, die damals zu schlimm war, um sie direkt zu bewältigen, weiterzuverarbeiten, sodass sozusagen der Eiter aus der Wunde abfließen kann. Es bleibt vielleicht eine Narbe, aber sie schmerzt nicht mehr ständig. Man kann die Situation nicht vergessen, was sich viele wünschen, aber das Gefühl dazu kann sich verändern. Man weiß und fühlt dann: Es war schlimm, aber es ist Vergangenheit. Heute ist es anders.«
Stabilisierungsübungen Ein wichtiger Teil der psychosozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen, die unter Traumafolgestörungen leiden, ist, ihnen Techniken zu vermitteln, die es ihnen erlauben, wieder Kontrolle zu erlangen, Symptomen nicht hilflos ausgeliefert zu sein, sondern darauf reagieren zu können und sich selbst beruhigen oder reorientieren zu können, sich z. B. von belastenden Bildern zu distanzieren (vgl. hier und im Folgenden Zito u. Martin, 2016). An dieser Stelle wollen wir einige Techniken vorstellen, die sich in der Alltagsarbeit mit Geflüchteten
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als hilfreich erwiesen haben. Bei traumatypischer Symptomatik, Wiedererleben oder auch Dissoziationsneigung ist es z. B. oft hilfreich, wieder mit allen Sinnen in die Gegenwart zu kommen. Dazu braucht es häufig intensive Reize, die traumatisierte Menschen lernen können, gezielt selbst einzusetzen (vgl. Hantke u. Görges, 2012; Scherwath u. Friedrich, 2020). Fachkräfte können den Klient*innen Vorschläge machen, wozu in Kasten 2 einige Anregungen zu finden sind, und gemeinsam ausprobieren, was individuell gut funktioniert. Entsprechend können traumatisierte Menschen später stets ihre eigenen Hilfsmittel bei sich führen, die sie bei Bedarf einsetzen. Damit beginnen sie, wieder Kontrolle zu erlangen.
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Kasten 2: Intensive Sinnesreize erzeugen – Geruch: Um den Geruchssinn zu reizen, kommen ätherische Öle, ein bestimmtes (Lieblings-)Parfüm oder ein Fläschchen mit Duschgel, eine Bodylotion oder getrocknete Kräuter infrage. Der Geruch kann, muss aber nicht besonders angenehm sein – es geht vor allem darum, dass er ins Bewusstsein dringt und einen anderen Zustand hervorruft. Hier können auch besonders unangenehme oder scharfe Gerüche wie von Senf oder Essigessenz helfen. – Haptik/Körperempfinden: Das Körperempfinden wird angeregt, wenn man einen Igelball knetet und über den Körper rollt oder ein Gummiband (z. B. ein dünnes Haargummi) um das Handgelenk trägt und es gegen die Haut schnipst. Das Gummiband erzeugt einen Schmerzreiz, der die Intensität besitzt, durchzudringen. Gleichzeitig verursacht es keine Verletzungen (wenn man es nicht exzessiv betreibt) im Gegensatz zum Ritzen oder Kratzen, das manche traumatisierte Menschen entwickeln. Auch ein Eiswürfel, der über die Haut gerieben wird, erzeugt einen starken Sinnesreiz, kann aber nicht mitgeführt werden. – Geschmack: Intensive Sinnesreize im Mund erzeugen z. B. extra starke Pfefferminzbonbons, Chilischoten, Ingwer, eine ganze Brausetablette oder eine Tüte mit Brausepulver. – Akustik: Hier eignet sich vor allem Musik. So kann man z. B. auf dem Handy das eigene Lieblingslied speichern und bei Bedarf anhören oder es einfach summen oder singen. Beim Einsatz von Musik sollte aber vorher gut mit dem*der Betroffenen exploriert werden, ob das entsprechende Lied tatsächlich mit positiven, tröstenden Emotionen verbunden ist oder aber Erinnerungen an schöne vergangene Zeiten weckt und letztlich eher Gefühle von Verlust und Trauer hervorruft.
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Reorientierungsübungen Traumatisierte Menschen leiden häufig darunter, dass sie von belastenden Erinnerungsbildern verfolgt werden, dissoziieren (traumatypische Abwesenheitszustände aufweisen) oder sich in Grübelschleifen verfangen – sie sind oft eher in einer schrecklichen Vergangenheit oder einer befürchteten Zukunft als im Hier und Jetzt oder auch gar nicht richtig da. Wenn die Gegenwart nicht akut bedrohlich und belastend wirkt (was leider allzu häufig für Geflüchtete mit unsicherem Aufenthalt in einer Sammelunterkunft gilt), ist es hilfreich zu trainieren, mit allen Sinnen in die Gegenwart zu kommen, an diesen Ort, zu diesem Zeitpunkt. Eine gute Gegenwart ist der beste Anker. Eine sehr gute Reorientierungsübung, die wir in der Praxis häufig anwenden, wenn Klient*innen in einem Gespräch zu dissoziieren beginnen oder von traumarelevanten Erinnerungen und Gefühlen überflutet werden, ist die 5–4-3-2-1-Übung (Kasten 3; vgl. auch Huber, 2003/2017; Hantke u. Görges, 2012). 3 Kasten 3: Die 5-4-3-2-1-Übung Die Klient*innen werden gebeten, zunächst fünf Dinge zu benennen, die sie im Raum gerade sehen (z. B. die gelbe Tasse auf dem Tisch, das grüne Kissen). Danach sollen sie fünf Dinge benennen, die sie hören (z. B. Stimmen aus dem Nebenraum, ein vorbeifahrendes Auto). Anschließend wird nach vier Dingen gefragt, die sie sehen beziehungsweise hören, dann nach drei, dann zwei, dann einem. Bis zu diesem Zeitpunkt sind die meisten mit ihrer Aufmerksamkeit in der Gegenwart angelangt.
Es ist sinnvoll, die 5-4-3-2-1-Übung entsprechend ihrer Funktion zu erläutern: dass es darum geht, aus der Belastung oder der Dissoziation herauszukommen und zu trainieren, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Und sie ist auch eine gute Übung für den Alltag der Klient*innen. Eine einfache Variante besteht darin, Dinge in bestimmten Farben zu suchen – z. B. gemeinsam durch die Beratungsstelle und als Klient*in bei Bedarf später allein durch die Wohnung zu gehen und nach blauen oder gelben oder grünen (Elementen auf) Gegenständen Ausschau zu halten. Diese Übung wird von Klient*innen immer wieder als sehr hilfreich, reorientierend und beruhigend empfunden.
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Distanzierung: Ablenkungstechniken Ablenkungstechniken sind gezielte Maßnahmen, um die Aufmerksamkeit von Stress auslösenden Inhalten abzulenken, indem der Geist mit beruhigenden, tendenziell eher monotonen Inhalten beschäftigt wird. Auch dies ist eine Form, Kontrolle zu gewinnen (vgl. Kasten 4 und 5).
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Kasten 4: Zähl- und Rechenaufgaben Hier wird so lange gezählt oder gerechnet, bis die innere Erregung nachlässt. Es können Gegenstände im Raum gezählt werden (z. B. die Rippen der Heizung, die Fliesen an der Wand, die Streifen auf der Tischdecke). Gerechnet wird je nach mathematischen Fähigkeiten, sodass die Aufgabe bewältigbar ist, aber die volle Konzentration verlangt, z. B. das kleine Einmaleins vorwärts und rückwärts, von 100 rückwärts zählen, von 100 in 7er-Schritten oder von 4.371 in 23er-Schritten rückwärts zählen.
Kasten 5: ABC-Aufgaben Diese Übung eignet sich für Menschen, die des Schreibens mächtig sind, schon sehr gut Deutsch sprechen oder die Übung in ihrer Muttersprache oder einer anderen geläufigen Sprache ausführen möchten. Aufgabe ist es, zu allen Buchstaben des Alphabets Begriffe aus einem bestimmten, möglichst wohltuenden Themenfeld zu finden (vgl. Gräßer u. Hovermann, 2015), z. B. Lebensmittel (wie Apfel, Birne, Clementine), Tiere, Dinge, die man besonders gerne mag, Fußballspieler – der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, möglichst lange Sätze zu bilden, bei denen alle Worte mit dem gleichen Anfangsbuchstaben beginnen (z. B. »Alle Affen angeln Aale«).
Imaginationsübungen Eine bewährte Technik der Traumatherapie und Traumapädagogik sind Imaginationsübungen (vgl. Reddemann, 2016/2022; Huber, 2003/2017). Diese knüpfen an die Tendenz und Fähigkeit der Klient*innen an, innere Bilder mit einer hohen emotionalen Aufladung zu erschaffen. Letzten Endes sind auch die traumatypischen Intrusionen, das heißt das Wiedererinnern und -erleben des Traumas, innere
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Bilder – das Ereignis findet nicht aktuell statt. Traumatisierte Menschen rufen sich diese Bilder nicht bewusst in den Kopf, meist wollen sie gar nicht daran denken – es passiert außerhalb ihrer Kontrolle. Es geht bei der Imaginationstechnik also darum, wieder Kontrolle über die inneren Bilder zu erlangen und diese bewusst steuern zu lernen. »Ich versuche, nicht daran zu denken« funktioniert nicht. Menschen können nicht »an nichts« denken. Wir brauchen eine Alternative, auf die wir bewusst unsere Aufmerksamkeit richten können. Imaginationsübungen helfen, bewusst positive innere Bilder und die damit einhergehenden Gefühle heraufzubeschwören. Andere Imaginationsübungen können dabei unterstützen, Kontrolle über belastende Bilder und Inhalte zu erlangen, Distanz und Entlastung zu schaffen. In diesem Kontext sollten Imaginationsübungen nicht als Fantasiereisen angeleitet werden, bei denen die Klient*innen passiv und mit geschlossenen Augen oder einem sehr entspannten, unscharfen Blick bleiben. Denn bei traumatisierten Menschen besteht die Gefahr, dass sie während der Übung dissoziieren. Und Imaginationsübungen liegen nicht jedem Menschen, bei manchen funktioniert das Visualisieren einfach nicht gut. Nur im dialogischen, wachen Kontakt mit den Klient*innen können wir uns direkt Rückmeldungen geben lassen, ob und wie die Übung auf sie wirkt, und das Vorgehen gegebenenfalls modifizieren. Anleitend sollten Fragen gestellt und Vorschläge gemacht sowie dazu angeregt werden, die inneren Bilder genau zu beschreiben. Eine der bekanntesten Übungen im Imaginationsbereich ist der »Sichere Ort« oder »Wohlfühlort«. Diese wichtige traumatherapeutische oder -pädagogische Technik (vgl. Hantke u. Görges, 2012; Huber, 2003/2017; Scherwath u. Friedrich, 2020) ist in der Arbeit mit geflüchteten Menschen mit Bedacht einzusetzen. Wenn akut noch eine Bedrohungssituation besteht, z. B. ein unsicherer Aufenthalt, eine prekäre Lebenssituation in einem Flüchtlingslager mit Konflikten und Abschiebungen, ist es für viele Menschen verständlicherweise nicht möglich, mithilfe einer Imaginationsübung ein Gefühl von Sicherheit herzustellen. Möglicherweise machen sie die Erfahrung, dass es ihnen nicht gelingt, ein glaubwürdiges Bild zu imaginieren, oder nach einem Moment der scheinbaren Sicherheit bricht unwillkürlich eine Bedrohung in das innere Bild herein. Die Übung ist dann nicht hilfreich, sondern die Klient*innen machen eine Erfahrung des Scheiterns. Viele Menschen brauchen einen realen sicheren Ort, den sie dann auch imaginieren können. Das kann z. B. das Behandlungszimmer sein, in das sie sich im Alltag hineinversetzen. Es gibt allerdings auch Menschen, die auch in einer unsicheren Lebenssituation von dieser Imaginationsübung profitieren, deshalb wollen wir sie hier nicht vorenthalten. Solange keine reale Sicherheit existiert, ist es sinnvoller, statt eines »sicheren« Orts einen Ort einzuführen, an dem sich die Klient*innen besonders wohlfühlen: einen Wohlfühlort (Kasten 6).
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Kasten 6: Der Wohlfühlort »Gibt es einen Ort, an dem du dich absolut wohlfühlst? Vielleicht dein eigenes Zimmer oder einen Ort in der Natur? Falls ja, wie sieht dieser Ort aus? Beschreibe ihn ganz genau. Falls es momentan keinen realen Ort gibt, an dem du dich sicher und geborgen oder zumindest wohlfühlst, kannst du ihn in deinem Inneren erschaffen. Du kannst selbst bestimmen, wie genau dieser Ort sein soll. Es kann ein realistischer Ort sein oder auch ein fantastischer Ort, wie in einem Film oder in einem Märchen. Was für ein Ort wäre für dich genau richtig? Wäre es z. B. ein Ort in der Natur oder ein Gebäude, ein Zimmer in einem Haus, eine Hütte auf einer Insel oder ein Schloss?« Je nachdem, ob der Ort in Innenräumen oder draußen gewählt wird, geht es unterschiedlich weiter, z. B.: »Welche Pflanzen, Blumen und Bäume siehst du dort? Wie ist die Temperatur der Luft? Fühlst du die Sonne auf der Haut? Kannst du etwas hören, vielleicht das Zwitschern von Vögeln oder das Plätschern eines Bachs? Gibt es Schmetterlinge? Ist ein Duft in der Luft, vielleicht von Blumen? Gibt es dort einen besonders gemütlichen Platz, an dem du dich niederlassen möchtest, vielleicht auf einer Decke oder auf warmem Moos, angelehnt an einen Baum? Wie fühlt es sich an, es sich dort gemütlich zu machen?« Oder aber, wenn es ein Innenraum ist: »Wie groß ist der Raum? Welche Möbel stehen darin? Welche Farben siehst du? In welcher Farbe sind die Wände gestaltet? Hängen dort Bilder? Was ist darauf zu sehen? Wie ist die Temperatur? Gibt es einen Duft im Raum, vielleicht von Blumen oder Gebäck? Kannst du dort etwas hören, vielleicht eine schöne Musik, oder ist es angenehm still? Gibt es dort einen besonders gemütlichen Platz, auf dem du dich niederlassen möchtest? Vielleicht einen gemütlichen Sessel? Wie genau sieht er aus? Welche Farbe, was für ein Material hat er? Kannst du dir vorstellen, es dir dort gemütlich zu machen? Wie fühlt es sich an?« In beiden Varianten kann es so weitergehen: »Wenn du dich so umschaust an deinem Ort: Gibt es irgendetwas, was du gerne noch verändern möchtest? Du kannst alles verändern, bis es genau richtig für dich ist – z. B. Farben oder Temperatur –, du kannst Dinge weglassen oder hinzufügen. Verändere alles so lange, bis du das Gefühl hast, es ist für diesen Moment perfekt. Und vielleicht gibt jetzt es noch irgendeine Kleinigkeit, die den Ort noch wunderbarer machen würde. Dann füge sie noch hinzu. Ist es jetzt genau richtig? Schau dich gut an deinem Ort um und präge dir gut ein, was du dort siehst und hörst und spürst. Es ist dein Ort, er gehört dir. Du kannst ihn innerlich immer wieder aufrufen und in deinen Gedanken dorthin gehen.«
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Ressourcenorientierung In der psychosozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen, die vieles von dem, was ihr Leben ausgemacht hat, verloren haben, ist es sinnvoll, an den Ressourcen der Klient*innen anzuknüpfen, an den Dingen, die sie gut und gerne machen, die ihre Energie und Kreativität wieder in den Fluss bringen, bei denen sie sich als (selbst)wirksam erleben (vgl. Zito u. Martin, 2016). Die Ressourcen können Tätigkeiten sein, aber auch eigene Haltungen, Überzeugungen und Glaubenssysteme, die Kraft und Halt geben. Die Ressourcen können auf vielen Ebenen liegen, z. B.: Ȥ kulturspezifische und gleichzeitig überkulturelle Tätigkeiten und Fertigkeiten wie Kochen, Backen, Handarbeiten, Handwerken; Ȥ körperorientierte Tätigkeiten wie Spaziergänge, Sport, Tanz, Yoga; Ȥ künstlerischer Ausdruck, Kreativität wie Malen, Musik-Machen, Schreiben; Ȥ soziale und familiäre Bindungen wie Verbundenheit, Verantwortung; Ȥ Werthaltungen, also überdauernde Orientierungsrahmen, die psychische Stabilität vermitteln, wie Religiosität, Spiritualität, politische Überzeugungen, moralische Haltungen; Ȥ Zukunftsorientierung und -pläne (auch wenn das Leben gerade schrecklich ist, z. B.: Wofür lohnt es sich zu überleben? Was mache ich mit diesen Erfahrungen? Was will ich noch lernen? Welchen Beruf will ich ergreifen? Was will ich meinen Kindern später einmal mit auf den Weg geben können?). Es lohnt sich, bewusst den Blick auf die Ressourcen zu richten, sie mit den Klient*innen zu erkunden und auszubauen, ihnen (wieder) einen bewussten Platz im Leben zu geben. Manchmal sind traumatisierte Geflüchtete sehr auf Schmerz, Verlust und Sorgen fokussiert. Eine Würdigung des erlittenen Leids und die konkrete Verbesserung der aktuellen Lebenssituation sind grundlegend für die gemeinsame Arbeit. Eine vorschnelle Fokussierung auf die positiven Dinge im Leben kann verständlicherweise als ein Nicht-Ernstnehmen und Ausblenden der realen Belastungen empfunden werden. Dennoch ist es sinnvoll, im Verlauf der Begleitung daran zu arbeiten, auch die Dinge wahrnehmen zu können, die trotz aller Belastung positiv sind, weil sie die Kraft geben, die schwere Zeit durchzuhalten (vgl. Kasten 7).
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Kasten 7: Das Freude-Tagebuch Aufgabe beim Freude-Tagebuch ist es, sich jeden Abend kurz Zeit zu nehmen, einige Dinge aufzuschreiben, die im Verlauf des Tages für einen Moment zumindest ein kleines bisschen freudvoll waren oder für die man dankbar ist. Das muss gar nichts Großes sein, gerade die kleinen Dinge (z. B. ein Sonnenstrahl auf der Haut, der Duft eines blühenden Busches auf dem Weg, ein freundlicher Blick oder ein Gespräch) sind es wert, sie bewusster wahrzunehmen. Durch das Aufschreiben schärft sich die Wahrnehmung dieser Momente, und durch die bewusste Umfokussierung der Wahrnehmung fallen den Klient*innen mit der Zeit möglicherweise immer mehr Dinge auf, die positiv sind.
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Die sehr einfache Übung der 5-Sinne-Hand (vgl. Abbildung 1; Kasten 8) dient dazu, persönliche Kraftquellen in strukturierter Form zu erfassen. Sie entwickelt die Ressourcenhand (Scherwath u. Friedrich, 2020, S. 107, S. 213) weiter beziehungsweise vereinfacht sie. Dahinter steht die Idee, dass sich Menschen gerade in Belastungssituationen ihrer eigenen Kraftquellen oft nicht bewusst sind beziehungsweise diese wenig nutzen. Mit der Methode der 5-Sinne-Hand werden diese Kraftquellen gemeinsam mit Klient*innen oder auch in einer Gruppe ins Bewusstsein geholt und in einer zugänglichen Form festgehalten. Das Ergebnis ist ein Blatt Papier mit einer Ressourcenhand, das die Klient*innen an einer geeigneten Stelle aufbewahren und bei Bedarf (oder auch täglich) hervorholen sollten, um sich davon anregen zu lassen, eines (oder mehrere) der wohltuenden, kraftspendenden oder beruhigenden Dinge, die sie auf die Hand geschrieben haben, zu tun.
Kasten 8: Die 5-Sinne-Hand Zunächst wird der Umriss der eigenen Hand auf ein Blatt Papier gezeichnet. Dann werden an den einzelnen Fingern Stichpunkte anhand von Fragen zu den fünf Sinnen Hören, Sehen, Schmecken, Riechen und Spüren (im Sinne von Körperempfindungen) gesammelt. Die Frage ist dabei immer »Was tut mir gut?«, und dabei gibt es die zwei Qualitäten »Was beruhigt mich?« und »Was belebt mich angenehm?« (vgl. Abbildung 1). Anschließend werden in die Handflächen alle Tätigkeiten (oder Untätigkeiten) geschrieben, die außerdem noch wohltuend sind, sich aber keinem der Finger beziehungsweise keiner der einzelnen Sinnesqualitäten zuordnen lassen, z. B. beten, meditieren, auf dem Sofa liegen und gar nichts tun, sich mit Freund*innen treffen.
Übungen zur psychosozialen und traumapädagogischen Intervention
Abbildung 1: Die 5-Sinne-Hand (Gahleitner et al., 2017, S. 77)
Nicht erst das Produkt, auch das Erarbeiten der Ressourcenhand kann bereits hilfreich wirken. Wenn Menschen in einem Kontext aufgewachsen sind, in dem nie gefragt wurde: »Wie geht es dir?«, »Was möchtest du?«, in dem also nicht Selbstfürsorge oder Introspektion gefragt waren, sondern Funktionieren und Anpassung an die Gemeinschaft oder übergeordnete Erfordernisse, ist es für sie oft gar nicht so einfach, klar zu benennen, was ihnen guttut, das heißt, was ihre Kraftquellen sind. Daher ist es nötig, sich für die Übung Zeit zu nehmen, eventuell Vorschläge zu machen, der betroffenen Person den Raum zu geben, nachzuspüren und sich der eigenen Kraftquellen bewusst zu werden ‒ und sich in der Folge zu erlauben, sie zu nutzen.
Literatur Gahleitner, S. B., Zimmermann, D., Zito, D. (2017). Psychosoziale und traumapädagogische Arbeit mit geflüchteten Menschen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Gräßer, M., Hovermann, E. (2015). Ressourcenübungen für Kinder und Jugendliche. Weinheim: Beltz. Hantke, L., Görges, H.-J. (2012). Handbuch Traumakompetenz. Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik. Paderborn: Junfermann.
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Dima Zito/Silke Birgitta Gahleitner/Dorothea Zimmermann
Huber, M. (2003/2017). Trauma und Traumabehandlung. Bd. 2: Wege der Traumabehandlung (6., unveränd. Aufl.). Paderborn: Junfermann. Reddemann, L. (2016/2022). Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren (23., unveränd. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Schauer, M., Ruf-Leuschner, M. (2014). Lifeline in der Narrativen Expositionstherapie. Psychotherapeut, 59 (3), 226‒238. Scherwath, C., Friedrich, S. (2020). Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung (4., aktual. Aufl.). München: Ernst Reinhardt. Schriefers, S., Hadžić, E. (Hrsg.) (2018). Sprachmittlung in Psychotherapie und Beratung mit geflüchteten Menschen. Wege zur transkulturellen Verständigung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Zito, D., Martin, E. (2016). Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen. Ein Leitfaden für Fachkräfte und Ehrenamtliche. Weinheim: Beltz Juventa.
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Ambulante psychotherapeutische Arbeit und psychosoziale Versorgung von geflüchteten Menschen
»›Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben.‹ Jean Amery trifft damit den Kern, denn über Heimat und Identität lässt sich trefflich spotten, wenn man sich ihrer gewiss ist. Flüchtlinge haben beides verloren. ›Heimat ist Sicherheit‹, sagt Jean Amery. ›In der Heimat beherrschen wir souverän die Dialektik von Kennen-Erkennen, von Trauen-Vertrauen …‹ Flüchtlinge haben dieses Grundvertrauen verloren« (Kossert, 2020, S. 331). Die Wiederherstellung des Grundvertrauens in das menschliche Gegenüber oder zumindest eine Wiederannäherung daran zählt zu den Kernzielen psychotherapeutischer Arbeit und psychosozialer Beratung mit geflüchteten Menschen. Dabei sind soziale und emotionale Kompetenzen der professionellen Fachkräfte wie unter anderem die Fähigkeit zur Zuversicht und zur professionellen Distanz, Empathievermögen, Humor, Kreativität sowie das Halten der Balance zwischen Engagement und Gelassenheit (Beushausen, 2020) nützlich und hilfreich. In der transkulturellen Beratung und Psychotherapie bedeutet es auch, wertebezogene Ambivalenzen und Differenzen wahrzunehmen, nach Möglichkeit wohlwollend zu akzeptieren und sich mit den eigenen kulturellen Stereotypen reflexiv auseinanderzusetzen (Rober u. De Haene, 2014). Gleichzeitig ist die Einnahme einer doppelten Perspektive notwendig, und zwar einer, die zugleich störungsbezogen und entwicklungsorientiert ist (Hegemann u. Oestereich, 2018). Nach einer Validierung des erlebten Leids ist es in der Regel notwendig, den Fokus auf resilienzfördernde Maßnahmen zu legen sowie positive und stützende Faktoren im Inneren wie auch im Äußeren zu entdecken.
Kultursensible Psychotherapie und Beratung Kultursensibilität ist ein grundsätzliches Erfordernis für psychotherapeutische und beraterische Arbeit, denn Kultur ist ja nicht nur bei denen, die eine andere Muttersprache sprechen, sondern im Allgemeinen ein relevanter Kontextfaktor
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zwischenmenschlicher Interaktion überhaupt. Hinzu kommt die oftmals implizit bestehende Überzeugung, dass die eigene Kultur anderen Kulturen überlegen sei, was letztlich auf die Idee zurückzuführen ist, »[…] dass die moderne amerikanische, europäische oder ›westliche‹ Sozialformation das gesellschaftliche Entwicklungsziel per se beschreibe, sodass alle Abweichungen davon letztlich als ›rückständig‹ oder ›unterentwickelt‹ erscheinen« (Rosa, 2021, S. 155). Kultursensibilität bedeutet, eigene Denkmuster in einem kulturellen Kontext reflektieren und hinterfragen zu können sowie ein Gespür für die eigenen rassistischen Denkweisen zu entwickeln. Auch in der Sozialen Arbeit wird seit geraumer Zeit auf die Gefahren von Kulturalisierung und Ethnisierung durch Vorstellung von geschlossenen einheitlichen Nationalkulturen hingewiesen (Koch, 2018). Ein Verständnis von Interkulturalität, welches zur Abwehr von Diskriminierung einen angemessenen Umgang mit kultureller Vielfalt sucht, setzt die Bedeutung von Kultur als zentrale Differenzdimension voraus: 3
»Kultur ist ein für uns alle geltender Hintergrund von etablierten und über Generationen überlieferten Sichtweisen, Werten, Ansichten und Haltungen, welche einerseits unser ganzes Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen, die wir andererseits aber in individueller wie auch kollektiver Weise übernehmen, modifizieren und weiterentwickeln, und zwar in Abhängigkeit von unserer Teilhabe an unterschiedlichen Kontexten. Dies bedeutet, dass Menschen alles was sie tun, in einem kulturellen Ausdruck geschieht« (Falicov, zit. n. Hegemann u. Oestereich, 2018, S. 13). Trotz der generellen Bedeutsamkeit muss auf Kultursensibilität in der Arbeit mit geflüchteten Menschen noch mal ein besonderes Augenmerk gelegt werden. Grundlegende Beratungs- und Therapieprinzipien werden nicht nur durch traumaspezifische Interventionen, sondern eben auch um die Sensibilität für kulturelle Besonderheiten erweitert, die bei der Auseinandersetzung mit traumatischen Erfahrungen und den kulturspezifischen Bewältigungsmechanismen eine große Rolle spielen. So berichtete ein Jugendlicher aus Ghana, der in seiner Heimat seinen Zwillingsbruder verloren hatte und dessen Vater bei der Bootsüberfahrt nach Europa vor seinen Augen ertrunken war, dass für ihn die einzige Möglichkeit, wieder zur Ruhe zu kommen, wäre, wenn ihm nachts eine alte Frau ein bestimmtes selbstgeknüpftes Bändchen um sein Handgelenk wickele – so könne er wieder eine Verbindung zu den toten, geliebten Menschen herstellen. Dieses Beispiel zeigt, wie notwendig es sein kann, sich für die subjektiven und möglicherweise kulturell stark beeinflussten Krankheits- und Heilungsvor-
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stellungen der Klient*innen zu interessieren. Gerade in diesem Kontext muss kultursensible Therapie und Beratung in erster Linie als ein sehr kleinschrittiger Kommunikationsprozess verstanden werden, in dem langsam und behutsam Missverständnisse und divergierende Vorstellungen angesprochen werden können. Dabei können kulturbedingte Glaubenssätze ein durchaus relevantes Hindernis darstellen, wenn z. B. psychische Probleme auf die Existenz böser Geister oder sogar Hexerei zurückzuführen sind und somit wenig besprechbar beziehungsweise für sehr gefährlich und beschämend (Gutmann, 2019) gehalten werden. Insofern kann ein psychoedukatives Vorgehen hilfreich sein, in dem über ein eher wissenschaftsbasiertes Störungsverständnis aufgeklärt wird, ohne damit die Glaubenssätze von Klient*innen unbedingt infrage zu stellen oder als irrational abzuwerten. Die »Psychoedukation zur posttraumatischen Belastungsstörung« (PTBS) von Liedl, Schäfer und Knaevelsrud (2013) soll dafür beispielhaft angeführt werden: Die Autor*innen präsentieren hier mehrere individuelle Schritt-für-Schritt-Ansätze, gegliedert in Kapitel über die Entwicklung der Traumatisierung, mit Werkzeugen zur Bewältigung emotionaler Folgen wie Wut und Angst. Diese Anleitungen können in beliebigem Tempo und in beliebiger Reihenfolge durchgearbeitet werden, je nach individuellen Bedürfnissen der Klient*innen. Grundlegende Kenntnisse über das frühere Heimatland des Klienten, möglichen kulturellen Besonderheiten und die aktuelle politische Situation bilden dabei eine wichtige Grundlage für die Vertrauenswürdigkeit von Therapeut*innen und Berater*innen. Ein weiteres hilfreiches Konzept ist das von Liedl und Abdallah-Steinkopf entwickelte Drei-Säulen-Modell. Dieses berücksichtigt zum Ersten Aspekte des Postmigrationsprozesses, wie z. B. den Verlust von Ressourcen und sozialen Bezügen, zum Zweiten die Auswirkungen eines belastenden Alltags und zum Dritten relevante psychische Aspekte. Die Prävalenzrate von psychischen Traumata ist bei geflüchteten Menschen mit etwa 30 % deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung (Liedl, 2018). Dabei muss hinzugefügt werden, dass manche Menschen auch Resilienz oder »posttraumatisches Wachstum« entwickeln (Kleefeldt, 2018). Im DSM-5 sind einige diagnostische Fortschritte bei der Definition und Konkretisierung von traumatischen Stressoren zu verzeichnen. So wird beispielsweise explizit auf die Auswirkungen sexueller Gewalt hingewiesen (Schellong et al., 2019), von der auch viele geflüchtete Menschen betroffen sind. Eine große Bedeutung spielt die Tatsache, dass nicht die traumatischen Erfahrungen vor und während der Flucht, sondern vielmehr die individuellen, sozialen und familiären Belastungen bei den geflüchteten Menschen im Aufnahmeland für das psychische Wohlbefinden von entscheidender Bedeutung sind (Measham et al., 2014). Es ist sehr wichtig, diesen Aspekt der äußeren akuten Belastungen immer wieder mit den Klient*in-
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nen zu besprechen. Das bedeutet, die Klient*innen darüber aufzuklären, dass sie nicht verrückt sind, sondern sie unter diversen schwierigen Erfahrungen leiden: »So wichtig psychologische und psychotherapeutische Hilfe für geflüchtete Menschen auch sein kann: Ihre Per-se-Diagnose als ›traumatisiert‹ und der Fokus auf Traumata in der Unterstützung für Geflüchtete bergen die Gefahr einer Stigmatisierung und Pathologisierung der Geflüchteten als Patienten bzw. Patientinnen und sind somit letztlich auch eine Form der Distanzierung. Zudem verstellen sie den Blick auf die vielfältigen Ursachen von Flucht, privatisieren die kollektive Fluchterfahrung und lenken ab von der zentralen Notwendigkeit stabiler Lebensbedingungen im Aufnahmeland« (Mlodoch, 2017, S. 18).
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Die Kombination mehrerer komplexer Faktoren stellt sowohl für Berater*innen als auch für Therapeut*innen eine Herausforderung in der Arbeit mit geflüchteten Menschen dar. Dazu gehört das Wissen um die vermehrt belastenden Kontexte, die die Lebenswelt dieser Gruppe von Menschen prägen. Die Mehrzahl der Menschen mit Migrationshintergrund lebt unter schlechteren sozialen Bedingungen als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung (Hegemann u. Oestereich, 2018). Dies gilt für Menschen mit Fluchthintergrund noch stärker. Dies betrifft das Einkommen, die Wohnverhältnisse, die Gesundheitsversorgung sowie die Bildungschancen der Kinder. Vor dem Hintergrund des aktuell immer noch währenden Krieges in der Ukraine entstehen zusätzliche sehr unterschiedliche Lebensbedingungen für geflüchtete Menschen aus der Ukraine und aus anderen Ländern. Hinzu kommen Sprachbarrieren, kulturbedingte Fremdheitsgefühle beim Ausfüllen ellenlanger und auch für Muttersprachler*innen kaum verständlicher Formulare, rechtliche Einschränkungen wie Statusfragen, Wohnsitzauflagen, die Frage nach der Arbeitserlaubnis, eine ständige Rechtfertigungsnotwendigkeit vor Ämtern und Integrationsdruck seitens der Ausländerbehörde oder des Jobcenters, um nur einige Beispiele zu nennen. Hinzu kommen Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen. Eine weitere kontextuelle Belastung betrifft die Sorge um abwesende und vermisste Familienmitglieder. Viele geflüchtete Menschen werden auf der Flucht von ihren Familien getrennt und können keinen Kontakt zu den Menschen zu Hause halten. In den Therapie- und Beratungsgesprächen ist der Unsicherheit, ob nahe Verwandte, Eltern und Geschwister überhaupt noch am Leben sind, eine hohe Bedeutung
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zuzumessen. Eine kleine Studie, die sich mit dem Leben junger Frauen, die aus Somalia geflohen sind, in Deutschland beschäftigt, zeigt exemplarisch, welche Auswirkungen der ungewisse Verbleib von Familie und Freunden auf das psychische Wohlbefinden von Asylsuchenden haben kann. Eine der Frauen hatte z. B. eine Entführung überlebt; sie war geschlagen worden und hatte mitansehen müssen, wie ihr Vater gefoltert wurde, bevor er zur Zwangsheirat verschleppt wurde (Werle, 2020). Die Komplexität dieser Faktoren weist vor allem auf die Notwendigkeit hin, in kleinen Einzelschritten vorzugehen und dem Gegenüber ein sicheres Umfeld sowie einen haltenden, achtsamen und vertrauensvollen Gesprächsrahmen zu bieten, in dem potenziell auch über schwer aussprechbare Dinge geredet werden kann.
Niedrigschwellige psychosoziale Beratung am Beispiel der Hochschule Neubrandenburg Das Projekt »Psychosoziale und Bildungsberatung für Geflüchtete« war ein Teilprojekt des BMBF-Projekts »Innovative Hochschule« (2018–2022), gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Im Rahmen dieses Projekts boten wir Menschen mit Fluchthintergrund psychosoziale Beratung und Bildungsberatung an. Dies umfasste vor allem Bereiche wie Bildung, Persönlichkeit, Partnerschaft, Familie, Migration etc. Unser Projekt unterstützte geflüchtete Menschen und Migrant*innen, die unter psychischen und psychosozialen Pro blemen im Alltag leiden. Wir arbeiteten mit einem klientenzentrierten und lebensweltorientierten Ansatz, verwendeten weiterhin Elemente aus der systemischen Beratung und Psychotherapie und setzten niedrigschwellige Methoden ein. Niedrigschwellig bedeutete dabei, das Hilfsangebot dem Ratsuchenden anzupassen. Dies umfasste aufsuchende Hilfe ebenso wie Beratung von anderen Helfenden. Während der Covid-19-Pandemie arbeiteten wir knapp zwei Jahre nur mit Terminen, jedoch konnten diese auch über eine SMS vereinbart werden. Die geflüchteten Menschen aus der Ukraine berieten wir primär aufsuchend, das heißt, wir fuhren in die Gemeinschafts- und Notunterkünfte und boten Beratung vor Ort an. Wir berieten Face to face, per Video, per Telefon oder auch über einen Messenger, je nachdem auf welche Art der Beratung sich unsere Klient*innen einlassen konnten. In manchen Fällen boten wir selbst psychotherapeutische Unterstützung an, in der Regel versuchten wir aber, Klient*innen bei Bedarf an niedergelassene Psychotherapeut*innen zu vermitteln, was bei der geringen Psychotherapeut*innendichte in Mecklenburg-Vorpommern nicht immer einfach war. Manche Klient*innen trauten sich nicht, in die Beratung zu kommen, oder
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der Anfahrtsweg war sehr lang und mit Kosten verbunden, die sich die Klient*innen nicht leisten konnten. Aus unserer Sicht war daher ein flexibler Zugang zu unseren Klient*innen wichtig, um auch diejenigen erreichen zu können, für die ein persönliches Beratungsgespräch schon eine zu große Herausforderung darstellt. Ziel war es, die Geflüchteten und Migrant*innen im Hinblick auf ihre persönlichen Ressourcen und Stärken zu unterstützen und zu begleiten. Die Themen unserer Beratungsgespräche waren verschiedene psychische Schwierigkeiten oder Probleme wie Depressionen, Traumata, häusliche Gewalt, Folter, aber auch alltägliche Probleme, die das Leben in einem fremden Land mit sich bringen. Diese Themen implizierten, dass die Netzwerkarbeit für die psychosoziale Beratung unabdingbar ist. Durch eine gute landkreisweite Vernetzung mit anderen Unterstützungs- und Behandlungssystemen wie Psychiater*innen, Psychotherapeut*innen, Sozialarbeiter*innen, Bildungsträgern sowie mit Ämtern und Behörden strebten wir an, unsere Klient*innen ganzheitlich zu unterstützen. Im Rahmen eines studentischen Begleitprojektes wurden insgesamt 103 Falldokumentationen, die in einem Zeitraum von 2,5 Jahren erstellt wurden, mithilfe der Dokumentenanalyse ausgewertet (Elshof, Nasser, Sprick u. Welz, 2021). Ziel war es dabei, Gelingensfaktoren in den stattgefundenen Beratungsprozessen besser zu identifizieren und zu analysieren, um den Zugang zu und die Qualität von Beratungsangeboten zu verbessern. Die Kategorie »Beratungsanliegen« machte dabei z. B. deutlich, dass die Klient*innen die Beratungsstelle nicht wegen eines einzigen Beratungsanliegens aufsuchen. Sie haben jeweils mehrere Anliegen und sind Mehrfachbelastungen ausgesetzt. Die Beratungsanliegen der Klient*innen bezogen sich auf psychische Erkrankungen und Symptome, Medikamente, belastende Bedingungen in den Unterkünften, Gewalt, Familie, Rassismus, soziale Kontakte, Ausbildung und Arbeit, unsichere Bleibeperspektiven, finanzielle Probleme, Verluste und Trauer. Bei der Kategorie »Bewältigungsstrategien« zeigte sich, dass die Klient*innen unterschiedliche Ressourcen nutzen, um ihre schwierige Lebenssituation zu bewältigen. Zum einen nutzen sie innere Kräfte, beschrieben ein Vertrauen in sich selbst und in die eigenen Stärken. Andererseits beschrieben sie auch äußere Faktoren, um ihre aktuelle Lebenssituation zu meistern, so z. B. mithilfe ihres familiären Umfeldes oder auch durch Beratung oder medizinische Maßnahmen. Im Hinblick auf den Beratungsprozess zeigte sich, dass dieser auch viele direktive und psychoedukative Elemente enthielt; auch die Vernetzung und Weitervermittlung an andere Einrichtungen schien als ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit wahrgenommen zu werden. Insgesamt wurde aus den Falldokumentationen deutlich, dass der Beratungsprozess stark von der Bleibeperspektive der Klient*innen beeinflusst wird. Der Aufenthaltsstatus beeinflusst offenbar unter anderem die Möglichkeit, eine Arbeit aufzu-
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nehmen oder in eine dezentrale Unterkunft zu ziehen. Bemerkenswert ist auch, dass sich das Leben in einer Gemeinschaftsunterkunft in einem Großteil von Fällen negativ auf die Gesundheit der Klient*innen auswirkt und der Umzug in eine dezentrale Unterkunft einen positiven Beratungsverlauf begünstigt. Im Folgenden schildern wir zwei Fallvignetten, wobei die eine eher dem beraterischen und die andere eher dem psychotherapeutischen Bereich entstammt, wobei diese Unterscheidung gerade in diesem Bereich alles andere als trennscharf zu betrachten ist (Bräutigam, 2022). Frau C.: Ich denke die ganze Zeit1 Frau C. ist Mitte dreißig und stammt aus einem russischsprachigen Land. Sie hat mehrere Kinder, von denen die beiden jüngsten in Deutschland geboren wurden. Sie und ihre Familie sind geduldet und fürchten seit mehreren Jahren die Abschiebung. Frau C. ist in psychiatrischer Behandlung, da sie unter Depressionen, als psychosomatisch diagnostizierten Beschwerden und starken Konzentrationsproblemen leidet. Es wurde ihr empfohlen, sich um psychotherapeutische Unterstützung zu bemühen. Bei unserem ersten Treffen war sie ganz in Schwarz gekleidet, beantwortete die Fragen sehr einsilbig und nahm keinen Augenkontakt auf. Sie berichtete, dass sie seit der Geburt ihres jüngsten Kindes nicht mehr zur Ruhe gekommen sei. Im Krankenhaus sei es zu einer Verwechslung gekommen, seitdem habe sie Angst, dass es nicht ihr Kind sei. Frau C. war in der Anfangsphase der Therapie von dieser Angst vollkommen beherrscht. Im Laufe der Gespräche wurde deutlich, dass sie als Kind immer Zweifel daran hatte, das Kind ihrer eigenen Mutter zu sein, da sie anders aussah als ihre Schwestern und deswegen von ihnen auch gehänselt wurde. Dieser transgenerationale Zusammenhang war zwar für das therapeutische Verständnis ihrer ängstlichen Fixierung wichtig, half aber der Klientin nur in geringem Maße, sich von dieser Angst zu lösen. Hilfreich war hingegen für die Klientin die Erkenntnis, dass trotz eines genetischen Nachweises immer ein Rest Zweifel bleiben würde, ob es sich um ihre Tochter handele. Ungeachtet dessen sagte sie immer wieder, dass sie ihre Tochter liebe. Die Akzeptanz des Zweifels wurde daraufhin eine Art Leitmotiv in der Therapie. Frau C. zweifelte ununterbrochen an ihren eigenen Fähigkeiten, traute sich nicht, sich im Sprachkurs zu äußern, obwohl sie fast alles verstand, und fühlte sich von den Hausaufgaben ihrer Kinder im Grundschulalter überfordert, obgleich sie sprachlich und intellektuell dem klar gewachsen war. Ein großer Teil der Therapie konzentrierte sich darauf, gemeinsam herauszufinden, welche Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten sie in der Vergangenheit gehabt hatte und welche Möglichkeiten ihr 1 Der Fall wurde aufgrund seines Wiedererkennungswertes stark anonymisiert und gekürzt.
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in der Gegenwart zur Verfügung standen. Die Klientin erlebte Erleichterung, als wir feststellten, dass sie bei all ihren Entscheidungen immer das Wohl ihrer Familie im Auge hatte und ihr eigenes Wohl als zweitrangig betrachtete. Es wurde in diesem Fall sehr deutlich, dass individualistische therapeutische Vorstellungen über eine stärkere Selbstentfaltung oder die Stärkung emanzipatorischer Gedanken zunächst von der Klientin als eher kontraproduktiv erlebt wurden. Es stellt einen der rührendsten Momente der Therapie dar, als sie Fotos von zwei selbst gebackenen und aufwendig gestalteten Geburtstagskuchen zeigte und dazu erzählte, dass es ihr seit mehreren Jahren endlich wieder gelungen sei, für ihre Kinder zu backen, wozu ihr zuvor der Antrieb gefehlt hatte. Nachdem sie so für sich verinnerlicht hatte, dass sie für ihre Familie da sein konnte, gelang es mit ihr, erste behutsame Schritte in Richtung Selbstfürsorge zu denken.
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Frau B: Ich möchte einfach nur ein normales Leben als Frau Die iranische Klientin floh aufgrund einer Zwangsehe mithilfe eines touristischen Visums über Italien nach Deutschland. Ihr Ziel war es, die Ehe in Deutschland aufzulösen, um in Freiheit leben zu können. Ihre derzeitige Wohnsituation in einer Gemeinschaftsunterkunft sei unerträglich, daher wolle sie dezentral untergebracht werden. Die Kinder lebten bei Beginn der Beratung bei dem Kindsvater in einem anderen Bundesland. Sie litt sehr unter der Trennung und fühlte sich psychisch instabil. Die Klientin berichtete, dass sie zurzeit bei Freunden wohne, jedoch Angst habe, sexuelle Gegenleistungen erbringen zu müssen. Eine Unterbringung in einem Frauenhaus wurde zunächst ebenso abgelehnt wie ein stationärer Aufenthalt zur Stabilisierung des psychischen Zustandes. Im Beratungsverlauf fasste die Klientin so viel Vertrauen, um von einer Vergewaltigung in der Nähe ihrer Unterkunft zu berichten. Wir begleiteten die Klientin zur amtsärztlichen Untersuchung, da sie selbst nicht in der Lage war, über die Ereignisse zu sprechen; es wurde auch ein Kontakt zu einer Beratungsstelle für Frauen, die von sexueller Gewalt betroffen sind, hergestellt. Aufgrund der Inhaftierung des Kindsvaters musste die Klientin in ein anderes Bundesland reisen, um sich dort um die Kinder zu kümmern. Die Beratungsgespräche wurden online weitergeführt und die Klientin entschied sich, in dem anderen Bundesland zu bleiben. Dort gehe es ihr nach eigenen Angaben viel besser und sie könne sich mehr von dem Erlebten distanzieren. Der Wohnortwechsel wurde gemeinsam mit dem hiesigen Migrationsdienst organisiert. Es fand ein enger Informationsaustausch mit dem Schulsozialarbeiter sowie dem zuständigen Jugendamt statt. Dieser Fall zeigt exemplarisch die Komplexität der Probleme, die unsere Klient*innen belasten. In diesem Fall musste zunächst eine dezentrale Unterbringung organisiert werden. Die Klientin brauchte eine ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung. Im Sinne eines Clearingansatzes
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wurde in diesem Fall eng mit unterschiedlichsten Stellen und Netzwerkpartner*innen zusammengearbeitet. Zusätzlich wurde die Klientin durch psychoedukative Maßnahmen und traumapädagogische Beratung stabilisiert.
Schluss und Ausblick Es kann davon ausgegangen werden, dass psychosoziale Interventionen positive Auswirkungen auf Flüchtlinge mit und ohne Diagnose haben (Turrini et al., 2019). Dabei ist es unabdingbar, die äußeren Lebensbedingungen, wie z. B. den Asylstatus oder auch die Wohnumstände, in den Beratungs- und Therapieprozess miteinzubeziehen. Ohne das Erfüllen von Grundbedürfnissen wie Schutz und Sicherheit kann eine gute Verarbeitung und Integration von negativen Erlebnissen nicht gelingen (Brakemeier et al., 2017). Eine enge Zusammenarbeit zwischen Therapeut*innen, Sozialarbeiter*innen sowie Psychiater*innen ist ebenso wichtig wie die Qualität der Sprachmittler*innen (Mucker, Bautz u. Hadžić, 2018) und die Bedeutung ressourcenaktivierender Interventionen (Schweitzer, Schliessler, Kohl, Nikendei u. Ditzen, 2019). Für Klient*innen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung sind traumapädagogische Ansätze sowie psychotherapeutische Module (z. B. NET) sinnvoll (Brakemeier et al., 2017). Eine der größten Herausforderungen für Beraterinnen und Therapeuten ist neben der Beachtung der zum Teil sehr mangelhaften Gesundheitsversorgung von geflüchteten Menschen und des strukturellen Rassismus die Reflexion kultureller Stereotype. Eine kultursensible Haltung drückt sich vor allem in der Fähigkeit aus, Spannungen im Falle divergierender Werte wahrzunehmen und diese angemessen zu tarieren. Weiterhin wird es notwendig sein, flexiblere und aufsuchende Beratungsformen weiter auszubauen und diese regelhaft einzusetzen.
Literatur Beushausen, J. (2020). Beraten lernen (2. Aufl.). Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich. Brakemeier, E., Zimmermann, J., Erz, E., Bollmann, S., Rump, S., van Kempski, V., Grossmüller, T., Mitelman, A., Gehrisch, J., Spies, Storck, T., Schouler-Ocak, M. (2017). Interpersonelles Inte gratives Modellprojekt für Geflüchtete mit psychischen Störungen. Psychotherapeut, 62, 322– 332. DOI 10.1007/s00278-017-0211-y Bräutigam, B. (2022). Symbiose oder Rivalität? Das komplizierte Geschwisterverhältnis zwischen psychosozialer Beratung und Psychotherapie. In B. Bräutigam, M. Hörmann, M. Märtens (Hrsg.), Alles Erfindung? Länderübergreifende Perspektiven auf Beratung und Psychotherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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Elshof, L., Nasser, L., Sprick, J., Welz, M. (2021). Wie gestaltet sich der Beratungsprozess anhand der Falldokumentationen im Projekt »Psychosoziale Beratung für geflüchtete Menschen« in Neubrandenburg? Unveröffentlichter Projektbericht. Neubrandenburg: Hochschule Neubrandenburg. Gutmann, J. (2019). Humane Psychiatrie: Psychosoziale Versorgung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Stuttgart: Kohlhammer. Hegemann, T., Oestereich, C. (2018). Einführung in die interkulturelle systemische Beratung und Therapie. Heidelberg: Carl-Auer. Kleefeldt, E. (2018). Resilienz, Empowerment und Selbstorganisation geflüchteter Menschen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Koch, U. (2018). Vielfalt, Differenz und »interkulturelle Kompetenz« im Diskurs. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Kossert, A. (2020) Flucht. Eine Menschheitsgeschichte. München: Siedler. Liedl, A. (2018). Psychotherapeutische Versorgung von geflüchteten Menschen: Konzepte und Methoden im interkulturellen Setting. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Liedl, A., Schäfer, U., Knaevelsrud, C. (2013). Psychoedukation bei posttraumatischen Belastungsstörungen. Stuttgart: Klett-Cotta. Measham, T., Guzder, J., Rousseau, C., Pacione, L., Blais-McPherson, M., Nadeau, L. (2014). Flüchtlingskinder und ihre Familien: Unterstützung des psychischen Wohlbefindens und der positiven Anpassung nach der Migration. Current Problems in Pediatric and Adolescent Health Care, 44 (7), 208–215. Mlodoch, K. (2017). Gewalt, Flucht – Trauma? Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mucker, J., Bautz, W., Hadžić, E. (2018) Rahmenbedingungen für Psychotherapie und Beratung unter Einsatz von Sprachmittlern und Sprachmittlerinnen. In S. Schriefers, E. Hadžić (Hrsg.), Sprachmittlung in Psychotherapie und Beratung mit geflüchteten Menschen (S. 25–39). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rober, P., De Haene, L. (2014). Intercultural therapy and the limitations of a cultural competency framework. Journal of Family Therapy, 36 (Supp. 1), 3–20. Rosa, H. (2021). Was ist und was kann eine Theorie der Gesellschaft. In A. Reckwitz, H. Rosa (Hrsg.), Spätmoderne in der Krise (S. 153–180). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schellong, J., Hansschmidt, F., Ehring, T. Knaevelsrud, C., Schäfer, I., Rau, H., Dyer, A., KrügerGottschalk, A. (2019). Diagnostik der PTBS im Spannungsfeld von DSM-5 und ICD-11. Nervenarzt, 90. DOI: 10.1007/s00115-018-0668-0 Schweitzer, J., Schliessler, C., Kohl, R. M., Nikendei, C., Ditzen, B. (2019). Systemische Notfallberatung mit geflüchteten Menschen in einer Erstregistrierungsstelle. Familiendynamik, 44, 144–154. Turrini, G., Purgato, C., Acaturk, M., Anttila, T., Ballette, F., Bird, M., Carswell, K., Churchill, R., Cuijpers, P., Hall, L. J., Hansen, M., Kösters, M., Lantta, T., Nosè, M., Ostuzzi, G., Sijbrandij, M., Teceschi, F., Valimaki, M., Wancata, J., White, R., van Ommeren, M., Barbui, C. (2019). Efficacy and acceptability of psychosocial interventions in asylum seekers and refugees: Systematic review and meta-analysis. Epidemiology and Psychiatric Sciences, 28 (4), 376–388. Werle, L. (2020). Kultursensible Beratung von jungen Frauen mit Traumaerfahrungen: Perspektiven für die psychosoziale Gesprächsführung (Unveröffentlichte Masterarbeit). Neubrandenburg: Hochschule Neubrandenburg.
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Selbstorganisierte Räume rassismuskritisch gestalten und begleiten
Wie kann eine praktische Solidarität (weißer1) Fachkräfte konsequent in der Sozialen Arbeit umgesetzt werden, das heißt, wie können sie dem Anspruch gerecht werden, Verbündete in einem Kampf gegen strukturelle und institutionelle rassistische Gewalt zu sein? Bereits im Jahr 2019 (Zimmermann et al., 2019, S. 52 ff.) gab es eine kritische Einführung zu den Begriffen »Empowerment«, »Selbstorganisation« und »Partizipation« sowie deren Bedeutung in der Arbeit mit minderjährigen Geflüchteten2 in der Kinder- und Jugendhilfe. Laut § 1 SGB VIII ist die Aufgabe von Sozialarbeitenden, junge Menschen vor Gefahren zu schützen, sie in ihrer Entwicklung zu fördern und Benachteiligung abzubauen. Um diesen vielfältigen Aufgaben gerecht zu werden, braucht es unter anderem Räume, in denen sich junge Menschen selbstorganisiert zu ihren Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig unterstützen können. Diese Räume jenseits von Verwertbarkeit und Ergebnisorientierung müssen in die Regelfinanzierung der Kinder- und Jugendhilfe zukünftig bedingungslos aufgenommen werden.
Empowerment Die Arbeit mit jungen Geflüchteten ist ein hochpolitisches Spannungsfeld, umkämpft von den linken, bürgerlichen bis hin zu konservativen rechten Parteien und Bewegungen (Prasad, Muckenfuss u. Foitzik, 2020). Flucht und Migra tion, ihre Verhinderung und regulierende Versuche sind sowohl im deutschen 1 Der Ausdruck weiß kursiv und kleingeschrieben bezieht sich nicht auf die Schattierung der Haut, sondern auf die unsichtbare Zuschreibung und Positionierung in einer rassistischen Gesellschaft und die damit einhergehenden Vorteile und Ressourcen (IDA, o. J.). 2 Die Großschreibung von »Schwarz« markiert eine soziopolitische Positionierung in einem weiß dominierten globalen Machtgefüge und gilt als Symbol einer emanzipatorischen Wider ständigkeitspraxis (Diversity Arts Culture, o. J.).
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als auch im gesamteuropäischen und globalen Kontext politisch. Mit diesen Themen werden Wahlkämpfe gewonnen oder verloren. Weniger populär ist allerdings die reflexive und kritische Auseinandersetzung mit der jüngeren und alten Geschichte zu Verfolgung, Kolonialisierung und Rassismus. Diese ausgeblendeten Themen und die daraus resultierenden Diskriminierungen/Rassismen können sich so ungehindert auf den Alltag auswirken, ohne von der Dominanzkultur (Rommelspacher, 1995) Beachtung zu finden. In jeder Alltagssituation wie dem Besuch der Schule, dem Kontakt zum Hilfesystem wie dem Jobcenter oder der Wohnungssuche schwingt Rassismus dauerhaft und eindringlich mit, unsichtbar für Angehörige der Dominanzgesellschaft.3 Studien und Untersuchungen, aber auch Erzählungen im Arbeitsalltag von Sozialarbeitenden, machen deutlich, dass der Wohnungs- und Arbeitsmarkt rassistisch, cis-sexistisch und klassistisch strukturiert ist (Kemper u. Weinbach, 2016; Weichselbaumer, 2016; Autor*innenkollektiv Jugendliche ohne Grenzen, 2018; Prasad et al., 2020). Um als Sozialarbeitende die Interessen junger Geflüchteter zu wahren, braucht es als Grundvoraussetzung eine adäquate Auseinandersetzung aller Fachkräfte und Träger rund um die Soziale Arbeit mit Diskriminierung, Rassismus, Intersektionalität,4 Postkolonialismus etc. auf politischer, struktureller und persönlicher Ebene. Gleichzeitig müssen wir als Gesellschaft diesen strukturellen und institutionellen Rassismus konsequent benennen, reflektieren und ihm gegenwirken. Zu den Aufgaben von Sozialarbeitenden gehört es auch, grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Fragen und Debatten einen Raum zu geben. Wenn Soziale Arbeit im Sinne einer Menschenrechtsprofession verstanden und praktiziert wird, muss sie emanzipatorisch sowie rassismus- und diskriminierungskritisch sein. Es braucht eine politische Positionierung (Bütow, Chassé u. Lindner, 2012; Prasad et al., 2020) und eine widerständige Praxis innerhalb der Sozialen Arbeit (Arbeitskreis Kritische Sozialarbeit Berlin, 2021), um diskriminierende politische und trägerinterne Entscheidungen nicht länger mitzutragen. In der konkreten Fallarbeit braucht es aber neben kurzfristigen Lösungen für die Wohnungs-, Ausbildungs- oder Schulsuche auch eine Auseinandersetzung auf ganz anderer Ebene. In rassismuskritischen Empowermenträumen ohne die Anwesenheit weißer Fachkräfte können junge Geflüchtete ihre Erfahrungen 3 Der Begriff »Dominanzkultur« beziehungsweise »-gesellschaft« wurde von Birgit Rommelspacher geprägt (1995) und fokussiert eine hierarchisch aufgestellte gesellschaftliche Ordnung und damit einhergehende Machtverhältnisse, die zur Dominanz einer Gruppe von Menschen führen. 4 Intersektionalität: Neben Rassismus wirken zeitgleich und ineinander verschränkt auch andere Diskriminierungsformen. Aufgrund des begrenzten Umfangs des Artikels kann darauf nicht vertiefend eingegangen werden.
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reflektieren. Empowermenträume müssen von Fachkräften begleitet werden, die selber von Rassismus betroffen sind und diesen Erfahrungshorizont in ihre Arbeit einbringen. Als Vorbilder können sie ihren kreativen Umgang mit Rassismus aufzeigen, ihre Beziehungen zu Communitys zur Verfügung stellen und ihren Erfahrungen und Emotionen Worte geben. Häufig machen geflüchtete Kinder und Jugendliche die Erfahrung, dass ihre Berichte und rassistischen Erfahrungen von weißen Fachkräften nicht ernst genommen werden (Autor*innenkollektiv Jugendliche ohne Grenzen, 2018). Wenn demzufolge ein Träger langfristig auf struktureller und institutioneller Ebene antirassistisch arbeiten möchte, brauchte es Empowermenträume für junge Geflüchtete. Dafür müssen sich Träger und Sozialarbeitende auf struktureller und personeller Ebene mit ihren eigenen Privilegien5 auseinandersetzen. In rassismuskritischen Reflexionsräumen können sich junge Geflüchtete über ihre Erfahrungen austauschen und das Erlebte reflektieren. Das Erleben von Diskriminierung und Rassismen auf unterschiedlichen Ebenen kann traumatisierend wirken. Im Rahmen der Forschung zur sequenziellen Traumatisierung wird von einer weitergehenden Traumastruktur ausgegangen. Das Trauma setzt sich aus verschiedenen Sequenzen zusammen und wird durch destabilisierende Faktoren wie prekären Wohnraum, ungeklärten Aufenthaltsstatus, keine finanzielle Absicherung, fehlenden Austausch, rassistische Angriffe etc. fortgesetzt. Für die Beendigung der traumatisierenden Sequenzen braucht es vor allem die Anerkennung des erlittenen Leids und eine stabilisierende Unterstützung, beispielsweise durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Ein gleichberechtigter Austausch kann der Entwicklung einer traumareaktiven Symptomatik entgegenwirken (Keilson, 2005). Auf dieser Basis kann in einem dialogischen Miteinander erarbeitet werden, welche nächsten Schritte anstehen, um eigene Reflexionsräume zu installieren. Auch Therapie kann ein derartig gestalteter Raum sein. Therapie bedeutet heute nicht mehr zwangsläufig Traumaexposition oder Arbeit am Trauma, sondern kann einen Raum zur Verfügung stellen, in dem die Kinder und Jugendlichen einen Rahmen finden, in dem sie alles sagen können und ihnen zugehört und geglaubt wird. Bei Jugendliche ohne Grenzen wird das für den Fall, dass es nicht bedacht wird, folgendermaßen beschrieben: »Die haben mich zum Psychologen geschickt, weil ich nicht über meine Familie sprechen wollte, und wenn ich nicht reden will, dann rede ich halt auch nicht bei Psychologen«, aber: »Es gibt es auch gute Erfahrungen mit Psychologinnen oder Therapeutinnen, z. B. 5 Privilegien sind Vorteile und Ressourcen, die Menschen aufgrund ihrer eigenen Positionierung innerhalb der Gesellschaft zur Verfügung stehen (IDA, o. J.).
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mit Tanztherapie oder Maltherapie, Musiktherapie, also es ist nicht immer nur reden« (Autor*innenkollektiv Jugendliche ohne Grenzen, 2018). Um antirassistisch zu arbeiten und die Bedeutung von Empowermenträumen zu verstehen, braucht es das Wissen um die in diesem Zusammenhang durchlebten psychologischen Prozesse. Dabei handelt es sich nicht um einen moralisch intellektuellen Akt, sondern um eine strukturierte Auseinandersetzung mit den eigenen Rassismen und Privilegien. Hilfreich für diese Reflexion könnten die Ego-Abwehrmechanismen6 nach Paul Gilroy (2004) sein, die Grada Kilomba (2016) weiterentwickelte. In verschiedenen Stufen erfolgt sowohl bei rassifizierten7 als auch bei nicht rassifizierten Menschen eine aktive Auseinandersetzung mit rassistischen Performationen, die sich ähneln. 1. Stufe – Verleugnung
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In einer unbewussten Verarbeitung der emotionalen Konflikte werden die äußere Realität und die inneren Gedanken abgewehrt. Damit zusammenhängende Gedanken, Erfahrungen und Gefühle werden von der eigenen Person abgespalten und auf andere projiziert. So werden eigene Rassismen auf andere übertragen: »Sie nehmen uns weg, was uns zusteht« oder »Die anderen sind Rassisten« (Kilomba, 2016). Privilegierte Menschen entwickeln häufig große Widerstände, sich mit eigenen Rassismen auseinanderzusetzen. Für sie beginnt Rassismus erst bei körperlicher rassistischer Gewalt oder der Teilnahme an rechtsgerichteten Protesten. Junge Geflüchtete zeigen diese Überzeugung beispielsweise in einem hohen Maß an Dankbarkeit, der teilweise auch durch Dankbarkeitserwartungen von Fachkräften der Sozialen Arbeit entsprochen wird. Durch ein hegemoniales8 Konzept von Integration besteht ein hoher Integrationsdruck, der sich auf die Identitätsentwicklung der Jugendlichen auswirkt. Schnell entwickeln sie eine Sensibilität für die Erwartungen, die an sie gestellt werden, und versuchen, diesem diffusen Verständnis von Integration, das eigentlich Assimilation meint, unter allen Umständen zu entsprechen. Der sich dauerhaft wiederholende Diskurs, schnell Deutsch lernen zu müssen, mehr mit Angehörigen der Dominanzgesellschaft in Kontakt zu kommen, aber auch, dass es keinen Rassismus gäbe 6 Mit Ego-Abwehrmechanismen sind psychologische Mechanismen gemeint, die das Selbstbild eines Menschen schützen und aufrechterhalten. 7 »Rassifizierung« beschreibt den Prozess, in dem rassistisches Wissen und rassistische Strukturen inklusive damit einhergehender Kategorisierungen, Stereotypisierungen und Hierarchisierungen von Menschen erzeugt und reproduziert werden (IDA, o. J.). 8 »Hegemonie« meint zugeschriebene und faktische politische, kulturelle und wirtschaftliche Überlegenheit und Führungsrolle innerhalb einer Gesellschaft.
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und man ja wohl noch einen Scherz machen dürfe, wird von den Jugendlichen als Schutzmechanismus zur Bewältigung von Überwältigung und Ohnmacht geglaubt und übernommen. Als Resultat entstehen auch aus Dankbarkeit die Idee, es gäbe keinen strukturellen Rassismus, und die nicht realisierbaren Bemühungen nach Assimilation. 2. Stufe – Schuld Schuld als bewusster oder unbewusster Konflikt entsteht aus der Überzeugung, etwas getan oder nicht getan zu haben, was die Person hätte tun oder nicht hätte tun sollen. Diese Überzeugung bezieht sich auf ein Ereignis, das in der Vergangenheit liegt. Eine Abwehrreaktion auf Schuld seitens privilegierter Fachkräfte kann Unglauben gegenüber eigenen Rassismen sein, sich zeigend in Äußerungen wie: »So habe ich das nicht gemeint« oder »Jetzt darf ich gar nichts mehr sagen«. Durch Aussagen wie beispielsweise »Ich sehe keine Hautfarbe« wird dem Wunsch nach scheinbarer Harmonie entsprochen, aber die Existenz postkolonialer Denkstrukturen und struktureller Rassismen abgesprochen. Die emotionalisierte und intellektualisierte Idee, dass »Race« keine Rolle spiele, kann als Strategie zur Reduzierung eigener Schuldgefühle und unbewusster Aggressionen angesehen werden (Kilomba, 2016). Diese Denkweise wird oft von rassifizierten Menschen übernommen, sodass der diffuse Integrationsdruck, der nie erreicht werden kann (Czollek, 2020; El-Mafaalani, 2020), dennoch stetig erhöht wird. Da diese vage und undefinierte Idee von Integration und Assimilation nie erfüllt werden kann, wird dieses eigene »Versagen« auf die eigene Person projiziert und als »Schuld« bewertet. Als Reaktion folgt für privilegierte Fachkräfte wiederum eine Intellektualisierung oder Rationalisierung, um für das eigene Verstehen eine logische Rechtfertigung des Rassismus zu konstruieren. 3. Stufe – Scham Scham entsteht aus der Angst vor Spott oder als Reaktion auf eigenes »Scheitern« von selbstgesetzten Verhaltensidealen, eng verbunden mit der Einsicht eigenen rassistischen Verhaltens. Der innere Konflikt bewegt sich zwischen der Diskrepanz des eigenen Selbstverständnisses und der Wahrnehmung anderer von uns. Weiße Personen stellen fest, dass die Selbstwahrnehmung von der Wahrnehmung Schwarzer auf das weiß-Sein abweicht (Kilomba, 2016). Diese Wahrnehmung ist als Zwischenschritt für die Einsicht der eigenen Position in der Welt wichtig, jedoch bringen die damit oft verbundenen Entschuldigungen aufgrund des eigenen Privilegiert-Seins den Prozess wenig voran. Privilegierte Personen
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sollten nicht in dieser passiven Phase erstarren, sondern müssen als erbende Generation von gesellschaftlichen und materiellen Ressourcen Verantwortung übernehmen. Geflüchtete Jugendliche stellen in dieser Phase oft fest, dass sie alle Kraft für die Assimilationen eingesetzt haben: Sie haben Deutsch gelernt, gehen regelmäßig in die Schule, glätten sich die Haare, geben sich einen Namen, den Deutsche gut aussprechen können etc. Trotz dieser vielen Bemühungen wird das Integrationsversprechen nicht eingelöst und sie erfahren weiterhin Ablehnungen durch die Verwaltung, sollen abgeschoben werden und ihnen wird immer wieder die Zugehörigkeit zur Gesellschaft abgesprochen. Da alles, was sie erreicht, geschafft oder auch nicht erreicht und nicht geschafft haben, immer ins Verhältnis zu ihrer Herkunft gesetzt wird, können sie den »Vorgaben« nie entsprechen. An dieser Stelle tritt Scham in den Vordergrund, sich von den eigenen Communitys aufgrund eines uneinlösbaren Versprechens entfernt zu haben. Übrig bleiben Scham, Frustration, Ärger, Wut, da erkannt wird, dass sie sich von den Menschen mit ähnlichen Erfahrungen für nichts distanziert haben. 3
4. Stufe – Anerkennung Die mit dem weiß-Sein einhergehenden Privilegien und die eigenen Rassismen werden realisiert und anerkannt. Die Wahrnehmung anderer wird akzeptiert, da es nicht mehr um die eigene Bestätigung, sondern um die Anerkennung der Realität geht: Wer bin ich und wer sind die anderen wirklich (Kilomba, 2016)? In dieser Phase realisieren privilegierte Menschen erstmalig, dass Rassismus auch etwas mit ihnen zu tun hat, wie rassistisch sich die gesellschaftlichen Strukturen darstellen und ihre eigene Verstrickung darin. Es wird anerkannt, dass das eigene Weltbild einer Konstruktion unterliegt und nicht nur die eine Realität oder die eine Wahrheit, sondern auch immer noch eine rassifizierte Perspektive existiert. Privilegierte Personen erkennen ihre Vorteile aufgrund ihrer Position innerhalb der Gesellschaft und realisieren, dass sie diese Position nicht nur aufgrund ihrer Leistungen innehaben, sondern weil ihnen im Vergleich zu rassifizierten Menschen mehr Ressourcen zur Verfügung stehen. In einer Intellektualisierung versuchen privilegierte Menschen, mehr zu diesem Thema zu erfahren, um beispielsweise die eigenen Emotionen zu verstehen, Verunsicherungen entgegenzuwirken und eine reflektierende Sprache zu finden. Das sind erste Schritte, um anzuerkennen, wie handlungsmächtig weiße Personen sind, und in der nächsten Phase der Wiedergutmachung aktiv werden zu können. Geflüchtete Jugendliche verstehen in dieser Phase die rassistischen Strukturen, denen sie tagtäglich ausgesetzt sind, und die Position innerhalb der Gesellschaft, die ihnen zugeschrieben wird. In aller Deutlichkeit erfassen
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sie die unterschiedlich verteilten Ressourcen und die daraus resultierenden Privilegien. Sie erkennen das Ausmaß der strukturellen Diskriminierung auf institutioneller, kultureller und individueller Ebene (Czollek, Perko, Kaszner u. Czollek, 2019) und lernen, sich klar zu positionieren, um in der nächsten Phase auf verschiedenen Ebenen aktiv zu werden und gemeinsam mit Verbündeten die rassifizierenden Strukturen aufzubrechen. 5. Stufe – Verantwortung übernehmen9 beziehungsweise Verbündete sein Im Rahmen der Wiedergutmachung als Aushandlung der Realität erfolgt durch privilegierte Personen eine Form der Reparatur der durch den Rassismus verursachten Schäden. Strukturen, Positionen, Beziehungen, Sprache etc. werden verändert, eigene Privilegien reflektiert und die daraus resultierenden Ressourcen rassifizierten Menschen zugänglich gemacht (Kilomba, 2016). Dieser zunächst intellektuelle Prozess muss auch emotional verfügbar gemacht werden. Für rassifizierte Jugendliche kann das beispielsweise bedeuten, ihre Herkunft wieder anzuerkennen, ihre Hautfarbe zu feiern und einen positiven Bezug zu ihrer Herkunft zu entwickeln jenseits von Idealisierung und Abwertung. Sie können sich in solidarischen Räumen bewegen, wo sie das Vokabular gemeinsam entwickeln, um ihre Erfahrungen empowernd zu besprechen, sie können Ungerechtigkeiten benennen und auf der Seite privilegierter Personen Verbündete suchen. Es entstehen interessante und ehrliche Kooperationen zwischen privilegierten und nicht privilegierten Menschen oder Gruppen auf Augenhöhe, die Konflikte und Auseinandersetzung aushalten und konstruktiv nutzen, um Verstehensprozesse zu fördern und Handlungsalternativen zu entwickeln. Bei den einzelnen Stufen handelt es sich um einen psychologischen Prozess, der Selbstreflexion und Arbeit an sich selbst erfordert und sowohl von weißen als auch BiPOC10 auf unterschiedliche Art durchlebt wird. Pädagogische Fachkräfte müssen diese Phasen zur kritischen Eigenpositionierung, zum Verstehen eigener struktureller Verwicklungen, aber auch zum Verstehen der Jugendlichen kennen. So können sowohl Verhalten als auch Lücken in den Perspektiven oder im Verstehen (weiße weiblich sozialisierte Sozialarbeitende 9 Es geht nicht nur um eine Haltung, sondern um aktive Handlungen, durch die Ressourcen geteilt, Zugänge möglich gemacht und Diskriminierungsmechanismen thematisiert werden (Czollek et al., 2019). 10 »BiPoC« steht für »Black, Indigenious und People of Color« und bezieht sich auf Menschen mit Rassismuserfahrungen (IDA, o. J.).
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arbeiten in der Regel mit männlich sozialisierten BiPOC) erklärt werden.11 Die Anerkennung der im Zentrum stehenden rassistischen Strukturen ist kein moralischer Akt. Vielmehr geht es um die politische Anerkennung des Ungleichgewichts von Ressourcenverteilung und um eine Solidarisierung gegen diese Ungleichbehandlung von Menschen. Um die Jugendlichen adäquat als Verbündete (Allys) begleiten zu können, müssen Fachkräfte diese Phasen und die damit einhergehenden Emotionen, Denkweisen und Handlungen bei den Jugendlichen, aber auch bei sich selbst einordnen können. Solidarität bedeutet, dass keine persönlichen Befindlichkeiten seitens der Sozialarbeitenden im Sinne von Sympathie oder Antipathie oder einer persönlichen Abwertung des Erlebten stattfinden dürfen, sondern rassifizierte Jugendliche mit ihren Belangen und Bewertungen angenommen werden. Die einzelnen Phasen der aktiven Auseinandersetzung mit rassistischen Performationen12 geben Fachkräften eine Orientierung für bestimmte Verhaltensweisen, Beobachtungen und Widerstände. Sie verlaufen nicht linear, sondern sind abhängig von der jeweiligen Situation, den Beteiligten, der verwendeten Sprache, Tagesform, Zeit, Raum etc. Beispielsweise sind rassifizierte Jugendliche überfordert, wenn weiße Fachkräfte aufgrund des eigenen Aktionismus (Phase 5) ungeduldig Protestaktivitäten von Jugendlichen einfordern, obwohl die Jugendlichen Rassismus noch als Schutzmechanismus verleugnen (Phase 1). Die Ungeduld oder das Unverständnis der privilegierten Fachkräfte kann dann als Ergebnis den diffusen Integrationsdruck der rassifizierten Jugendlichen verstärken und Schuldgefühle erzeugen (Phase 2). Konflikte zwischen Fachkräften und Jugendlichen können auch auftreten, wenn Fachkräfte, die Rassismus negieren (Phase 1), und politisch aktive Jugendliche (Phase 5) aufeinandertreffen. Wird jedoch eine unterschiedliche Verortung erkannt, kann alternativ das Thema Rassismus verbalisiert und über verschiedene Erfahrungen verdeutlicht werden. Im pädagogischen Alltag muss reflektiert werden, in welchem Rahmen, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Erwartungen Beteiligung grundsätzlich möglich ist. Oft werden zu hohe Erwartungen an Jugendliche gestellt, unter anderem weil die Stufen der aktiven Auseinandersetzung zwischen den Akteur*innen nicht miteinander übereinstimmen. 11 Der Text bezieht sich auf eine Soziale Arbeit, in der nach wie vor überwiegend weiße, weiblich sozialisierte und/oder gelesene Sozialarbeitende mit überwiegend männlich sozialisierten und/oder gelesenen BiPoC arbeiten. Diese intersektionale Gleichzeitigkeit und Verschränkung verschiedener Diskriminierungsdimensionen und Machtstrukturen können an dieser Stelle lediglich benannt, aber nicht tiefer gehender analysiert werden. 12 Unter »Performationen« sind die Grundhaltung, verwendete Sprache, Denk- und Handlungsstrukturen etc. zu verstehen.
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Um rassifizierten Jugendlichen einen Ort der aktiven Auseinandersetzung mit rassistischen Performationen zur Verfügung zu stellen, müssen Empower menträume als ein eigenständiger, durchgängiger Finanzierungsposten innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich strukturell mitgedacht und mitgeplant werden. Diese Räume müssen auch für rassifizierte Sozialarbeitende zur Verfügung gestellt werden. Es reicht nicht aus, mit guten Absichten Soziale Arbeit zu praktizieren. Das Erleben von Diskriminierung und Rassismus ist eine Form der Traumatisierung, verlängert traumatisierende Sequenzen und verstärkt Traumafolgestörungen (Keilson, 2005). Empowermenträume können Erlebtes besprechbar und aushaltbar machen. Geflüchtete Jugendliche können Erfahrungen teilen und gemeinsam Interventionsmöglichkeiten entwickeln. Privilegierte Sozialarbeitende müssen grundsätzlich reflektieren, wie sie von ihrem Umfeld gelesen werden, und sich bewusst sein, wie hinderlich sie in Prozessen wirken können. Dafür bedarf es einer individuellen und veränderungsbereiten Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien und Diskriminierungsmechanismen. Befinden sich die rassistischen Erfahrungen der BiPoC-Jugendlichen außerhalb ihrer Erfahrungsperspektiven, müssen sie lernen, sich zurückzuhalten, offen zu sein für Kritik, zu reflektieren, demütig aufzutreten und viel in Fortbildungen und Fachveranstaltungen zu investieren. Weiße Sozialarbeitende sollten sensibel dafür sein, wann ihre Person und ihre Ressourcen gefragt sind.
Selbstorganisation Ähnlich wie Empowermenträume (Zimmermann et al., 2019) werden auch die Prinzipien von Selbstorganisationen mittlerweile in Fortbildungen beispielsweise zum agilen Arbeiten wirtschaftlich und neoliberalistisch verwertet, wie die jüngste Ausschreibung der Akademie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zeigt (Paritätische Akademie Berlin, 2022). Ursprünglich sind Selbstorganisationen aus Bürgerrechtsbewegungen gewachsene (Lewicki, 2016) zumeist politische Initiativen, in denen sich Menschen mit ähnlichen Vorstellungen oder Interessen mit dem Ziel verbünden, diese Interessen umzusetzen. Migrantische Selbstorganisationen haben zwar in der Vergangenheit in Wissenschaft und Forschung eine eher unterrepräsentierte Rolle gespielt (Pries, 2010), besitzen aber als Empowermenträume eine enorme Wirkkraft (Kanalan, 2015; Gleitz, 2017; Schwiertz, 2019). In ihnen können sich die Angehörigen frei bewegen, über ihre Lebenssituation sprechen, sich gegenseitig unterstützen und entsprechend ihrer organisationalen Intention agieren.
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Organisieren sich migrantische Jugendliche im Rahmen der Sozialen Arbeit, müssen die weißen Fachkräfte den Raum inklusive ihrer Entscheidungsmacht abgeben. Bereits im Vorfeld braucht es Transparenz, auf welcher Ebene Beteiligung und Selbstorganisation grundsätzlich stattfinden kann und welche gesetzlichen beziehungsweise institutionellen Grenzen den Fachkräften der Sozialen Arbeit vorgeschrieben werden. Häufig existiert seitens der Fachkräfte in der Sozialen Arbeit der gut gemeinte und ehrliche Willen, die Jugendlichen zu beteiligen. Zu oft gibt es allerdings kaum Möglichkeiten, diese Beteiligung entsprechend der UN-Kinderrechtskonvention, dem SGB VIII etc. aufgrund der institutionellen Rahmung und rechtlichen Begrenzung zu ermöglichen und umzusetzen. Das Ergebnis sind Freiräume bei Essensplänen oder Ausflügen, die darüber hinaus für die Jugendlichen bedeutsamen Themen bleiben häufig unberührt. Bei den Jugendlichen endet dieser Umgang häufig in Frustration oder Misstrauen. Einige Fachkräfte infantilisieren vor allem geflüchtete Kinder und Jugendliche und sprechen ihnen aus adultistischen und rassistischen Motiven kognitive Fähigkeiten ab (Czollek et al., 2019). Andere Fachkräfte resignieren aufgrund der Hürden, auch weil sei nicht wissen, wie sie echte Beteiligung im Jugendhilfealltag umsetzen können. Häufig wird die Floskel »auf Augenhöhe« verwendet. Aber was heißt das eigentlich? Auf professioneller Ebene muss klar sein, dass eine Augenhöhe nie erreicht werden kann. Es gibt keine machtfreien Räume und deshalb kann keine Begegnung zwischen Kindern und Jugendlichen und Sozialarbeitenden auf Augenhöhe stattfinden. Genau aus diesem Grund braucht es Empowermenträume als Grundvoraussetzung von Partizipation und Selbstorganisation. Jugendliche müssen in die Lage versetzt werden, Angebote auch ablehnen, etwas Eigenes kreieren zu können, zu verstehen, dass sie Subjekte mit eigenen Rechten sind, die »Nein« sagen dürfen. Erst wenn empowernde Strukturen etabliert sind, können nachhaltige Beteiligungsstrukturen installiert werden. Berücksichtigung müssen aber auch strukturelle Voraussetzungen wie keine langfristige Perspektive, Sprache oder Aufenthaltsstatus finden, die eine Beteiligung schwierig machen. Die Bedeutung von Selbstorganisationen wird in diesem Zitat deutlich: »Für mich gibt es nichts Besseres als die Gruppe ›Jugendliche ohne Grenzen‹ [JoG]. Egal, wo du hingehst, egal, was du machst, du gehörst zu denen und egal wie schlecht es dir geht, wenn du mit denen bist, vergisst du alles. Wenn Leute, die JoG nicht kennen und fragen: ›Aha, was ist das, JoG?‹, dann sage ich: ›JoG ist wie ein Haus, wie Freunde, wie eine Familie‹« (Autor*innenkollektiv Jugendliche ohne Grenzen, 2018, S. 70).
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Rassifizierte Jugendliche hören sich gegenseitig zu, erinnern sich gemeinsam, tauschen sich aus und unterstützen sich. Die Jugendlichen sollen ihre Erfahrungen – anders als sonst in der Sozialen Arbeit und Therapie üblich – nicht individualisieren, sondern ihr Erleben muss als eine Form des Kampfes gegen Diskriminierung als kollektive Erfahrung durch strukturellen Rassismus verbreitet werden. Die Jugendlichen können sich zurücklehnen und fallen lassen, ohne dauerhaft in kontrollierten Räumen und unter Anspannung zu sein. Selbstorganisationen können auch »Wellness- und Heilungsraum für die Seele« genannt werden. Neben der Entspannung können junge Geflüchtete aktiv sein, Selbstverantwortung übernehmen, Selbstwirksamkeit spüren und über Gespräche die einzelnen Stufen der rassistischen Performation durchleben. Dies kann eine therapeutische Wirkung entfalten. Bei all den genannten Wirkmechanismen und ernsten Themen darf aber der Spaß als Ausgleich zu den enormen Belastungen in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden (BAG-TP, 2011). Ein großer Teil der Jugendlichen nutzt die Veranstaltungen auch als ein »Event«, um andere zu treffen, zu lachen, albern und sorglos zu sein. Auf subtiler Ebene wirkt auch an dieser Stelle struktureller Rassismus. Diese rassifizierte Gruppe von Jugendlichen darf und soll keinen Spaß haben und das Land »wieder« verlassen. Diese Einstellung wird vor allem innerhalb der Stufen Verleugnung, Schuld und Scham von den pädagogischen Fachkräften, aber auch von den Jugendlichen selbst übernommen. Andererseits darf die Bedeutung von Spaß als Verarbeitungsmuster und als verbindendes Element nicht außer Acht gelassen werden. Die Soziale Arbeit muss Ressourcen für die Selbstorganisation zur Verfügung stellen und eine stabile Präsenz in Form von Ansprechbarkeit, Zuständigkeit und notwendiger Unterstützung in der Ressourcenaktivierung beispielsweise in Form von finanziellen oder zeitlichen Kapazitäten zeigen. Zeitgleich müssen die Fachkräfte die Verantwortung für die inhaltliche Gestaltung und die daraus resultierenden Ergebnisse abgeben. Fachkräfte müssen das Privileg abtreten, mit ihrem Namen diese durch die Jugendlichen gestalteten Räume nach außen zu vertreten und dafür die Wertschätzung aus dem professionellen Umfeld zu erhalten. Sie müssen viel an Kraft und Energie reingeben und zeitgleich im Hintergrund agieren. Dieser Balanceakt bewegt sich zwischen Präsenz und Zurücktreten, sich trauen, zu scheitern, Reflektieren, solidarische Kritik üben und empfangen, der Bereitschaft, sich als Persönlichkeit zur Verfügung zu stellen und im richtigen Moment wieder zurückzutreten. Die Aufmerksamkeit muss auf die Jugendlichen in ihren selbstorganisierten Räumen und ihre Bedürfnisse im jeweiligen Moment gerichtet werden. Das bedeutet für die Arbeit der Fachkräfte:
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Ȥ eine kritische Haltung zu Strukturen, Vorgaben etc. zu entwickeln, Ȥ politisch zu handeln, um Widersprüche sichtbar zu machen, um langfristig Strukturen und Gesetze zu verändern, Ȥ Netzwerke mit Beratungsstellen, Jurist:innen, Communitys etc. aufzubauen und in einem regelmäßigen Austausch zu stehen, Ȥ sich regelmäßig fortzubilden, um die eigenen Kompetenzen dem aktuellen Diskurs anzupassen, Ȥ sich regelmäßig im Team und mit den Jugendlichen auszutauschen und die Arbeit zu reflektieren, Ȥ die Jugendlichen auf den verschiedenen Ebenen zu beteiligen, um Partizipation nicht nur als Anspruch im Rahmen der Schutzkonzepte umzusetzen, Ȥ Grenzen der Beteiligung für die Jugendlichen transparent, nachvollziehbar und klar zu formulieren (Jugendschutzgesetz, SGB VIII etc.), Ȥ die eigenen Grenzen zu (er)kennen und gegebenenfalls Unterstützung durch Trainer:innen (mit eigener Fluchterfahrung) einzuholen, Ȥ für die Beteiligung am Arbeitsplatz einzustehen, als Ausgangsbasis für eine gelebte Praxis Ȥ und vieles mehr. Dies wirklich umzusetzen, bedeutet für die Fachkräfte ein grundlegendes Umdenken in Bezug auf ihr professionelles Selbstverständnis, das sich nicht einfach durch kognitive Einsicht verwirklichen lässt. Es muss immer neu in eigenen Räumen und im Austausch mit den Jugendlichen reflektiert werden. Dies kann anstrengend sein, viel Nerven kosten, aber im Endeffekt extrem bereichernd sein und Spaß machen, weil im Grunde der emanzipative Grundgedanke der Sozialen Arbeit konsequent umgesetzt wird.
Links zu Selbstorganisationen bbz Berlin. URL: https://www.bbzberlin.de/de/portfolio/jugendliche-ohne-grenzen/ Jugendliche ohne Grenzen (JoG). URL: http://jogspace.net Karawane. Für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen. URL: http://thecaravan.org/ Women in Exil. URL: https://www.women-in-exile.net
Literatur Arbeitskreis Kritische Sozialarbeit Berlin (2021). So nicht! Leitfaden für Auflehnung und Widerstand in der Sozialen Arbeit. https://aksberlinorg.files.wordpress.com/2021/02/handlungsleitfaden_aksberlin.pdf (Zugriff am 05.01.2023).
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Autor*innenkollektiv Jugendliche ohne Grenzen (2018). Zwischen Barrieren, Träumen und Selbstorganisation. Erfahrungen junger Geflüchteter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. BAG-TP – Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik (2011). Standards für traumapädagogische Konzepte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Ein Positionspapier der BAG Traumapädagogik. https://fachverband-traumapaedagogik.org/standards.html?file= files/bag-trauma/Dokumentationen%20und%20Protokolle/positionspapier_11-2011.pdf (Zugriff am 05.01.2023). Bütow, B., Chassé, K. A., Lindner, W. (Hrsg.) (2012). Das Politische im Sozialen. Historische Linien und aktuelle Herausforderungen der Sozialen Arbeit. Opladen: Verlag Barbara Budrich. Czollek, L. C., Perko, G., Kaszner, C., Czollek, M. (2019). Praxishandbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen (2., völlig überarb. u. erw. Aufl.). Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Czollek, M. (2020). Desintegriert Euch! (2. Aufl.). München: btb. Diversity Arts Culture (o. J.). Schwarz. https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/schwarz (Zugriff am 05.01.2023). El-Mafaalani, A. (2020). Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Gilroy, P. (2004). Der Black Atlantic. In Haus der Kulturen der Welt (Hrsg.). Der Black Atlantic (S. 12–32). Eigenverlag. Gleitz, J. (2017). Politisches Empowerment von Geflüchteten – Ein Arbeitsfeld für die Soziale Arbeit? Migration und Soziale Arbeit, 39 (4), 339–345. IDA – Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. (o. J.). Glossar. https://www.idaev.de/recherchetools/glossar (Zugriff am 05.01.2023). Kanalan, I. (2015). Jugendliche ohne Grenzen. Zehn Jahre Proteste und Kämpfe von geflüchteten – Creating Utopia? https://movements-journal.org/issues/02.kaempfe/10.kanalan--jugendlicheohne-grenzen.pdf (Zugriff am 05.01.2023). Keilson, H. (2005). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Untersuchung zum Schicksal jüdischer Kriegswaisen. Gießen: Psychosozial-Verlag. Kemper, A., Weinbach, H. (2016). Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast. Kilomba, G. (2016). Plantation memories. Episodes of everyday racism (4th ed.). Münster: Unrast. Lewicki, A. (2016). Bürgschaft in Europa. Grenzziehung und soziale Bewegungen in der Einwanderungsgesellschaft. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 29 (2), 3–10. Paritätische Akademie Berlin (2022). Selbstorganisation im Kontext – bestechende Klarheit auf sechs Ebenen. https://akademie.org/veranstaltung/selbstorganisation-im-kontext-bestechendeklarheit-auf-6-ebenen (Zugriff am 05.01.2023). Prasad, N., Muckenfuss, K., Foitzik, A. (Hrsg.) (2020). Recht vor Gnade. Bedeutung von Menschenrechtsentscheidungen für eine diskriminierungskritische (Soziale) Arbeit. Weinheim: Beltz Juventa. Pries, L. (2010). (Grenzüberschreitende) Migrantenorganisationen als Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung: Klassische Problemstellungen und neuere Forschungsbefunde. In L. Pries, Z. Sezgin (Hrsg.), Jenseits von »Identität oder Integration«. Grenzen überspannende Migrantenorganisationen (S. 15–60). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Rommelspacher, B. (1995). Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda Frauenverlag. Schwiertz, H. (2019). Migration und radikale Demokratie. Politische Selbstorganisation von migran tischen Jugendlichen in Deutschland und den USA. Bielefeld: transcript. Weichselbaumer, D. (2016). Discrimination against female migrants wearing headscarves. https:// docs.iza.org/dp10217.pdf (Zugriff am 05.01.2023). Zimmermann, D., Gahleitner, S. B., Andrade, M. D., Bredereck, C., Golatka, A., Jouni, M. (2019). Minderjährige Geflüchtete in der Jugendhilfe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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Teil 4
Spezifische Aspekte
Elvira Hadžić/Natalia Tilton
Verständigung in der Krise: Sprachmittlung in der psychosozialen Beratung für geflüchtete Menschen
Ausgangspunkt: Überlagerung von unterschiedlichen aktuellen Krisen
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Die öffentlichen Debatten der letzten Jahre sind durchzogen von gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen innerhalb der breiten Gesellschaft. Die Covid-19-Pandemie, die rassistischen Anschläge, Extremwettergeschehnisse und Überschwemmungen als Folge der Klimakrise, die Übernahme der Taliban in Afghanistan sowie der russisch-ukrainische Krieg sind nur einige Beispiele. Vor allem in derart instabilen und herausfordernden Zeiten bedarf es für viele Menschen unterstützender und psychosozialer Angebote. Menschen mit keinen oder geringen Deutschkenntnissen sind in entsprechenden Krisenzeiten besonders vulnerabel und daher umso mehr auf Hilfsangebote der psychosozialen Fachkräfte und der Beratungsstellen angewiesen. Aus aktuellen Anlässen möchten wir in diesem Abriss zur Sprachmittlung in Therapie und Beratung für geflüchtete Menschen zwei Krisen und ihre Auswirkungen in unsere Betrachtungen einbeziehen: die Covid-19-Pandemie ab 2020 und den Ende Februar 2022 begonnenen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ausgehend von Grundlagenliteratur zu Sprachmittlung in der psychosozialen Arbeit, z. B. von Silvia Schriefers und Elvira Hadžić (2008), sensibilisiert diese Perspektive für komplexe, neue Herausforderungen in der Sprachmittlung und strebt an, sich fortwährend wiederholende Anforderungen an die eigene Praxis ins Bewusstsein zu rufen. Vorweg ist es uns wichtig einzuordnen, dass auf den Krieg in der Ukraine beispielhaft zurückgegriffen wird, die bestehenden Anforderungen werden allerdings ebenso an Sprachmittler:innen aus anderen Kriegsgebieten gestellt. Die Pandemie erfordert von allen im Sozial- und Gesundheitswesen Tätigen schnelle und effiziente Lösungen, um eine Versorgung beziehungsweise Beratung von hilfesuchenden Menschen sicherzustellen. Einen verschärfenden Einfluss auf die Dringlichkeit von Unterstützungsangeboten hat die große
Verständigung in der Krise
Anzahl an Menschen, die aufgrund der Angriffe des russischen Militärs aus der Ukraine in die Nachbarländer fliehen. Einrichtungen, wie z. B. die Psychosozialen Zentren (PSZ) oder ambulante Kliniken, bieten zum Teil durch mehrsprachige Kolleg:innen Angebote in unterschiedlichen Erstsprachen an oder arbeiten mit eigenen Pools von sprachmittelnden Honorarkräften zusammen, die sie teilweise selbst für den Therapie- und Beratungskontext schulen. Die finanzielle Sicherstellung von Angeboten beratender und therapeutischer Fachpersonen wird unter anderem durch die Kassenfinanzierung gewährleistet. Bestehende staatliche Voraussetzung in Form einer entsprechenden Qualifikation und die Möglichkeiten zur Weiterbildung zahlen auf die Qualität der Beratung und Therapie mit geflüchteten Menschen ein. Für die Sprachmittlung hingegen gibt es keine einheitlichen Gesetzesgrundlagen zur Sicherung der Finanzierung sowie einheitlich abgestimmten Qualitätsstandards für ein professionelles Sprachmitteln in der Triade. Entsprechend ist die Versorgung derzeit mit hohem bürokratischem Aufwand sowie einer aufwendigen Ressourcenplanung für die Qualifizierung verbunden. Hinzu kommt, dass aufgrund bestehender pandemiebedingter Maßnahmen und auch in Vorbereitung auf die Ankunft fliehender Menschen unter anderem aus der Ukraine Fachkräfte und Einrichtungen angehalten sind, ihre Angebote und den Einsatz von Sprachmittler:innen umzustellen und neue Angebote zu erarbeiten. Die mühsam aufgebauten Strukturen für die triadische Arbeit werden an die neuen herausfordernden Rahmenbedingungen angepasst, um die Versorgung möglichst sicherzustellen: »Durch das Verlegen von Beratung und Therapie ins Virtuelle oder Telekommunikative sollte in der Pandemie in erster Linie eine Weiterführung von Beratungsangeboten sichergestellt werden. Dabei stand vor allem der/ die Klient:in mit ihren/seinen Bedarfen im Vordergrund. Nicht, inwiefern die neuen Herausforderungen und Settings sich auf die Sprachmittler:innen auswirken. Darüber denke ich jetzt im Gespräch erst nach«1 (Therapeutin). 1
Die Zitate sind sechzigminütigen Online-Interviewgesprächen zwischen den Autorinnen und drei Therapeut:innen aus Psychosozialen Zentren beziehungsweise Ambulanten Kliniken, einer Kollegin aus dem Vermittlungsdienst für Sprachmittler:innen und drei Sprachmittler:innen (mit den Erstsprachen Arabisch und Ukrainisch/Russisch) im Kontext Psychotherapie und Beratung entnommen. Die Gespräche wurden mit Hinblick auf eine Aktualisierung bestehender Herausforderungen für das Arbeiten in der sprachgestützten Triade geführt. Anlass für die Ausrichtung der Gespräche bietet die aktuelle Situation in der Praxis mit Hinblick auf die Anforderungen, die Elvira Hadžić gemeinsam mit Silvia Schriefers im veröffentlichten Band »Sprachmittlung in Psychotherapie und Beratung mit geflüchteten Menschen. Wege zur transkulturellen Verständigung« 2018 erstmals zusammentrug.
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Auch Sprachmittler:innen müssen sich aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Lage auf neue herausfordernde Umstände in ihrer Sprachmittlungstätigkeit einstellen. Aufgrund der Pandemie waren persönliche Treffen zunächst nicht möglich, was zu zahlreichen Auftragsausfällen und einem bedeutsamen Einbruch im Einkommen der Sprachmittler:innen führte. Viele Einrichtungen reagierten zunächst mit Angeboten wie telefonischen sowie videogestützten Beratungen mithilfe von Sprachmittlung. Die bis dato unregelmäßig genutzten Kommunikationsmittel brachten Veränderungen in die konventionelle Triade und erforderten von allen Parteien im Beratungs- und Behandlungskontext Flexibilität und Offenheit. In den Zeiten, in denen persönliche Beratungstermine möglich sind, müssen sich die Gesprächspartner:innen mit zusätzlichen Faktoren im Gesprächssetting arrangieren. Dazu gehören die erschwerten Zugangsbedingungen (unter anderem Impf- oder Genesenennachweis, Auskunftsbogen, negatives Testergebnis) zur Therapie und Beratung unter Covid-19, das Sprechen mit Maske und mit großem Abstand zu den anwesenden Personen. Die sich ändernden Arbeitskonditionen und Ausgangslagen in der Sprachmittlungspraxis fordern Sprachmittler:innen auf persönlicher und professioneller Ebene und beeinflussen die Einhaltung relevanter berufsethischer Prinzipien und Rollengrenzen. Unser Interesse in diesem Kapitel gilt daher den nachfolgenden Fragen: Ȥ Welchen Einfluss haben diese äußeren Faktoren auf die Ausübung ethischer Berufsprinzipien, auf das Kompetenzprofil sowie die Rolle der Sprachmittler:innen im psychosozialen Kontext? Ȥ Welche Gelingensbedingungen lassen sich aus den letzten Jahren für die Praxis ableiten?
Neue Anforderungen durch neue Spannungsfelder und Dilemmata im sprachgestützten Trialog Für den Berufsstand der Sprachmittler:innen haben Berufsverbände in vielen Ländern ethische Prinzipien zusammengetragen. Unter ethischen Prinzipien werden zentrale Werte verstanden, denen sich Sprachmittler:innen in ihrem Handeln verpflichten und die als Grundlage für ihre Entscheidungen gelten. Im Gesundheitswesen haben einzelne Institutionen kontextspezifische ethische Prinzipien ausgearbeitet, um ein professionelles und wirksames Handeln von Sprachmittler:innen sicherzustellen und Ärzt:innen, Therapeut:innen und weitere psychosoziale Fachkräfte gezielt in ihrer Arbeit zu unterstützen. So untersuchte ein breites Bündnis von Organisationen und Expert:innen im zweijährigen Projekt »ZwischenSprachen« Qualifizierungsstandards für Dolmet-
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scher:innen in der Sozialen Arbeit und stellte folgende relevante berufsethische Grundsätze für die professionelle Sprachmittlung heraus: Schweigepflicht, All-/ Unparteilichkeit beziehungsweise Neutralität, Datenschutz und Privatsphäre, Genauigkeit, Vollständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Transparenz gegenüber Fachperson und Klient:in (Breitsprecher, Mueller u. Mösko, 2020). Auch für die Sprachmittlung in der psychosozialen Arbeit finden sich ähnliche Auflistungen (Dhawan, 2019, S. 9). In den Leitfäden zum psychosozialen Bereich gibt es eine große Überschneidung bei folgenden spezifischen Verhaltensgrundsätzen: Neutralität, Transparenz, Unbefangenheit, Vollständigkeit und Genauigkeit sowie die Bereitschaft zur Selbstreflexion und Weiterqualifizierung. In Ergänzung dazu werden Kompetenzen wie Empathiefähigkeit und (Selbst-) Reflexion als Prinzipien im sozialen sowie auch psychotherapeutischen Kontext zunehmend berücksichtigt (Yakushova, 2020, S. 15). Bei der Auseinandersetzung mit den neuen Arbeitsbedingungen in Krisenzeiten treten bestimmte Prinzipien besonders auf die Vorderbühne und erfordern eine bewusste Reflexion. Die Prinzipien, die wir in diesem Zusammenhang auf den Prüfstand stellen möchten, finden sich in der in Abbildung 1 dargestellten Übersicht.
Verschwiegenheit
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Datenschutz und Privatsphäre
PROFESSIONELLES HANDELN IN DER SPRACHMITTLUNG Allparteilichkeit bzw. Unparteilichkeit
Professionelle Empathie
Genauigkeit und Vollständigkeit
Transparenz
Bereitschaft zur Weiterqualifizierung/ Supervision
Abbildung 1: Diese Grafik dient der Übersicht von Prinzipien, die laut Autorinnen dieses Kapitels in den Krisenzeiten besonders zu berücksichtigen sind
Das Rollenverständnis von Sprachmittler:innen im psychosozialen Kontext speist sich zum Teil aus benannten Prinzipien und auch der Aufbau von Vertrauen im Gespräch hängt mit der Einhaltung dieser eng zusammen. Die Einhaltung und Reflexion unterschiedlicher ethischer Prinzipien in der Sprachmittlungspraxis tragen neben der Qualifizierung von Sprachmittler:innen maßgeblich zu einem angemessenen Handeln in der Therapie und Beratung bei. Die genannten Prinzipien stellen eine Mindestanforderung für die Arbeit im psychosozialen Kontext dar. Für ein wirksames psychosoziales Angebot sind kontextspezifische Kompetenzen und entsprechende Qualifizierungen von Sprachmittler:innen und Therapeut:innen oder psychosozialen Fach-
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kräften sowie abgestimmte Arbeitsweisen mit klaren Verantwortlichkeiten in der Zusammenarbeit essenziell. Die vergangenen Jahre zeigen, dass die ethischen Prinzipien starken äußeren Einflüssen ausgesetzt waren und die veränderten Rahmenbedingungen auch neue Rollen sowie weitere Kompetenzen von allen im Gespräch teilnehmenden Fachpersonen voraussetzten. Zu den Herausforderungen gehören die vermehrte Nutzung von unkonventionellen Kommunikationsmitteln und ein durch Kontaktbeschränkung geprägtes Kommunikationssetting vor Ort. Einen ebenso direkten Einfluss auf das Dolmetschgespräch und den Aufbau von Beziehung haben neu entstandene Anforderungen und Aufträge an Sprachmittler:innen. Auch die inhaltlichen Berührungspunkte zwischen Klient:innen und Sprachmittler:innen können aufgrund der äußeren Rahmenbedingungen in der Pandemie oder der Folgen der Kriegserlebnisse diverse Spannungen und Dilemmata in der Sprachmittlungstätigkeit erzeugen. Dilemmata in digitalen und präsenten sprachgestützten Therapieund Beratungssettings 4
Die neuen Kommunikationsbedingungen beim Ferndolmetschen und in der Sprachmittlung vor Ort unter Infektionsschutzmaßnahmen beeinflussen den Umgang mit gängigen ethischen Prinzipien. Damit gewinnen bestimmte Facetten professionellen Handelns in den Krisenzeiten besondere Beachtung und setzen einen deutlich höheren Aufwand für Sprachmittler:innen voraus (siehe Abbildung 2). Sprachmittler:in
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Sprachmittler:in
© Laura Dittert
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Vor der Pandemie wurde die Telefon- und Videokommunikation in medizinischen, juristischen und einigen sozialen Kontexten genutzt. In diesen Szenarien befinden sich Klient:in und psychosoziale Fachkraft in der Regel in einem physischen Raum und die:der Sprachmittler:in wird mithilfe eines Mediums dazugeschaltet. Der Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer (BDÜ) hat im November 2018 in einem Positionspapier zum Telefon- und Videodolmetschen im Gemein- und Gesundheitswesen von der Nutzung in der Psychotherapie, in der emotional belastende oder traumatische Erlebnisse besprochen werden, abgeraten: »Prinzipiell lässt sich sagen, dass im Gemein- und Gesundheitswesen immer ein Dolmetscher vor Ort vorzuziehen ist, auch weil es bei diesen Kommunikationssituationen grundsätzlich um Vertrauen und Empathie geht: Körpersprache, Stimme und Blickverhalten vermitteln beispielsweise Inhalte und Signale, die für die Ermöglichung der situationsspezifischen Kommunikation von entscheidender Bedeutung sind. Diese können außerdem dazu beitragen, Nähe bzw. Distanz (un)bewusst auf- oder abzubauen. Beim Telefon- und Videodolmetschen werden diese Signale durch das Fehlen der visuellen Informationen am Telefon oder im Bildausschnitt bei der Übertragung per Video teilweise oder ganz eingeschränkt. Dadurch kann der Zugang der Gesprächsbeteiligten zueinander oder gar die Kommunikation unter Umständen nicht vollständig gewährleistet werden« (Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer, S. 2). Nicht zuletzt fußt diese Einschätzung darauf, dass die Sprachmittler:innen einen relevanten Beitrag zur Beziehungsarbeit und damit zur Gestaltung eines Vertrauensverhältnisses leisten. Im digitalen oder telekommunikativen Setting erfordert ein ausgewogenes Nähe-und-Distanz-Verhältnis angepasste und kontextrelevante Strategien, da bestimmte nonverbale Kommunikationsformen in diesen Gesprächen nur eingeschränkt wahrnehmbar sind. Entfallen beispielsweise visuelle Signale wie körperliche Zugewandtheit oder Augenkontakt, Gestik und Mimik, ist auch eine empathische Grundhaltung aufseiten der sprachmittelnden Person nur eingeschränkt vermittelbar, da sie nur über Stimmeinsatz und gegebenenfalls einen kleinen Bildausschnitt im Videogespräch möglich ist. Sprachmittler:innen berichten, dass das Verlegen von bestehenden Gesprächen in die Telefon- oder Videokommunikation weniger Schwierigkeiten bereitet, wenn bereits ein Vertrauensverhältnis zwischen allen dreien Parteien besteht. In neuen Konstellationen bedarf es hingegen mehr
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»Sprechen über Dinge, die sonst durch das Zusammensitzen am Tisch natürlich sind und einfach passieren, weil mit dem ganzen Körper gesprochen wird« (Sprachmittlerin). Eine zusätzliche Herausforderung in der Interaktion und Reaktion im Gespräch vor Ort unter Coronabedingungen ist das Tragen der Maske. Der Gesichtsausdruck als wesentlicher Aspekt nonverbaler Kommunikation ist durch die Maske weniger eindeutig lesbar und auf den Augenkontakt beschränkt. Auch Sprachmittler:innen reflektieren in diesem Zusammenhang, dass sie bei der Sprachmittlung vor Ort in Pandemiezeiten stärker bemüht sind, den Ausdruck der Augen zu deuten. Ein weiterer Einflussfaktor ist der größere Abstand zwischen drei Gesprächsparteien. In einem Fallbeispiel berichtet eine Therapeutin, dass eine ältere schwerhörige Frau durch die Entfernung und die damit einhergehenden Verständigungsschwierigkeiten im Gesprächsverlauf stiller und zurückgezogener auf Fragen der Therapeutin reagierte: 4
»Eine recht alte Dame kam zu einem Erstgespräch ins PSZ. Sie war ziemlich belastet, verschüchtert und hörte zudem auch noch schlecht. Aufgrund der Abstandsregeln saßen die Beraterin – also ich –, die Dolmetscherin und die Klientin im Dreieck, jeweils etwa 2,5 Meter voneinander entfernt. So war zwar ein Arbeiten ohne Maske möglich, sodass Mimik und Körpersprache einbezogen werden konnten. Aber aufgrund der Schwerhörigkeit der alten Dame musste die Dolmetscherin ihre Übersetzungen mehr oder weniger »schreien«, während diese selbst immer verschüchterter und stiller wurde und weinte. Ihre Körpersprache signalisierte, dass sie eher Nähe und Zugewandtheit, vielleicht eine freundliche Hand auf dem Arm gebraucht hätte, um sich sicher und willkommen zu fühlen« (Therapeutin). Vor allem im Kontext der psychotherapeutischen Beratung trägt das NäheDistanz-Verhältnis zwischen psychosozialer Fachkraft, Sprachmittler:in und Klient:in sowie die Positionierung im Raum zur Beziehungsgestaltung und zum Vertrauensaufbau bei. Die Nähe der psychosozialen Fachkraft und Sprachmittler:in verleiht Klient:innen Schutz und das Gefühl der Sicherheit. Der größere Abstand zwischen allen drei Parteien in der Beratung vor Ort kann sich damit auf die Gefühlslage der Klient:innen auswirken sowie auf ihre Bereitschaft, sich auf die Therapie einzulassen und sich zu öffnen. Für die Abgrenzung der Sprachmittler:innen hingegen erweist sich beispielsweise das Ferndolmetschen als vorteilhafteres Sprachmittlungssetting. Sprach-
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mittler:innen betonen, dass ihnen das Ferndolmetschen hilft, ihre Neutralität zu wahren. Als Beispiele nennen sie Rollenkonflikte, die sie häufig beim Sprachmitteln vor Ort erleben und denen zusätzliche Erwartungen beider Parteien an die Rolle der Sprachmittler:innen zugrunde liegen. Dazu gehören die Situationen, in denen Klient:innen versuchen, Sprachmittler:innen bereits vor dem Dolmetscheinsatz anzusprechen, oder Klient:innen einen freundschaftlichen Kontakt zu Sprachmittler:innen vor oder nach dem Sprachmittlungsgespräch aufbauen möchten. Auch die Situation, in der Klient:innen den Sprachmittler:innen etwas ins Ohr flüstern mit der Bitte, das nicht an die Fachkraft zu übertragen, führt unvermeidlich zu einem Rollenkonflikt. Diese und ähnliche Rollenkonflikte, die die Umsetzung des Prinzips der Neutralität in der Sprachmittlung herausfordern, treten beim Ferndolmetschen aufgrund der organisatorischen Gegebenheiten kaum noch auf. Voraussetzung ist, dass die Klient:innen keinen Zugriff auf private Handynummer oder Daten der Sprachmittler:innen haben. Der geschlossene, geschützte und schützende Raum im Präsenzgespräch entfällt im digitalen Kontext, da die Teilnehmenden sich nicht am selben Ort befinden. Daraus resultiert die gemeinsame Aufgabe aller beteiligten Personen, einen safe space trotz unterschiedlicher Orte sicherzustellen. Die Selbstverpflichtung, dafür zu sorgen, an einem ruhigen und ungestörten Ort sprechen zu können, ist eine unkontrollierbare Variable und kann bei Nichteinhaltung zu Verunsicherung, Vertrauensproblemen und letztlich Abbruch des Gesprächs führen: »In einem Gespräch zum Beispiel war es sehr laut im Hintergrund und wir waren irritiert, weil der Klient wohl nicht zu Hause war. Der war auf der Straße, im Bus oder so unterwegs und es waren viele Leute da, die geredet haben. Wir haben den Termin sofort abgebrochen, um uns alle zu schützen, ich war nicht sicher, ob der Klient über Lautsprecher mit uns spricht. Es war viel zu laut und ich habe ihn nicht ganz verstehen können. Das habe ich dann der Therapeutin gesagt. Sie hat es dem Klienten erklärt und das Gespräch dann beendet« (Sprachmittler). In solchen Situationen besteht die Gefahr, dass Gespräche von Dritten mitgehört, das Gesagte durch ihre Präsenz beeinflusst oder unterbrochen wird. Eine Therapeutin gab im Gespräch mit den Autorinnen an, dass einige Frauen nicht ungestört sprechen konnten, da ihre Kinder Aufmerksamkeit suchten. Unterbrechungen stören zum einen den Sprachfluss und erschweren den Aufbau einer geschützten Situation, in der sich die Klient:innen aus dem Alltag heraus auf die Situation einlassen können. Die Therapeutin merkt ebenso an,
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dass viele Klient:innen beispielsweise in Sammelunterkünften keine geeigneten Räume für Telefonate oder Videogespräche zur Verfügung haben und häufig Termine draußen wahrnehmen. Eine Sprachmittlerin erläutert auch, dass die Bedeutung eines ruhigen und ungestörten Ortes zudem weit mehr zum Gesprächssetting beiträgt als die Sicherstellung von Datenschutz und Privatsphäre. Die Wahl der Räumlichkeiten für ein sprachgestütztes Gespräch beeinflusst zudem das gegenseitige Hören und Verstehen: »Ich habe natürlich zugesichert, dass ich in meinem Büro oder aus meinem Büro heraus gearbeitet habe. Das war tatsächlich so, dass ich alle Fenster, Türen, alles zugemacht habe. Erstens wegen des Datenschutzes und zweitens, damit keine Geräusche von außen nach innen eindringen und die Therapie dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird« (Sprachmittlerin).
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Die besonderen Kommunikationsbedingungen – vor allem schlechtere akustische Bedingungen, technische Störungen, unerwünschte Unterbrechungen und die emotionalen, zuweilen belastenden Inhalte der Gespräche – können sich auf das genaue und vollständige Sprachmitteln auswirken. Ein schlechtes Hörverstehen im Gespräch aufgrund von Verbindungsstörungen, Unterbrechungen oder durch das Tragen einer Maske trägt zu vielfachen Wiederholungen bei, die sowohl den Ausgangstext als auch den Zieltext beeinflussen können. Es ist abzusehen, dass mit jeder Wiederholung der Inhalt anders ausgedrückt wird. Dadurch könnten die ursprünglichen, spontanen Aussagen der Klient:innen verloren gehen und die Einschätzung der psychosozialen Fachperson über den Zustand der Klient:innen beeinflusst sowie notwendige Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Um eine genaue und vollständige Sprachmittlung zu ermöglichen, wird von Sprachmittler:innen in solchen Konstellationen das genaue Hinhören und die volle Konzentration auf das Gesagte verlangt. Dies geht mit dem Zustand der permanenten Anspannung im Gespräch einher, der für schnellere Ermüdung der Sprachmittler:innen und ein früheres Nachlassen der Konzentration sorgt. Diese können sich zum einen auf die Qualität ihrer Sprachmittlungsleistungen und zum anderen auf das Wohlbefinden der Sprachmittler:innen auswirken. Unter den neuen Bedingungen wird von allen Parteien im digitalen Gespräch sowie im Gespräch vor Ort mit Masken ein proaktives Verhalten verlangt und mehr Initiative in Bezug auf die Sicherstellung des Verständnisses im Gespräch. Wenn psychosoziale Fachkräfte im konventionellen Sprachmittlungsgespräch vor Ort und ohne Masken die Emotionen der Klient:innen von ihrem Gesichtsaus-
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druck »ablesen« konnten und die Reaktionen der Klient:innen auf das Gesagte gleich erkennbar waren, müssen sich psychosoziale Fachkräfte nun unter den neuen Gesprächsbedingungen auf die »Tonspur« (beim Ferndolmetschen) oder auf die Tonlage und Gestik (beim Gespräch vor Ort mit Masken) beschränken. Dadurch, dass den Gesprächsparteien (teilweise) visuelle Signale fehlen, ist das Verständnis im Gespräch darauf angewiesen, dass Klient:innen und Therapeut:innen die Initiative ergreifen und mit Nachfragen dafür sorgen, dass sie alles verstanden haben und dass sie richtig verstanden wurden. Das Sprachmitteln unter neuen Bedingungen erfordert neue sprachliche Kompetenzen und den Einsatz paraverbaler Signale, wie z. B. eine gezielte Stimmführung, einen dem Setting angepassten Stimmeinsatz oder die Anwendung von geeigneten Strategien zur Unterstützung der Gesprächsdynamiken. In der Telefon- oder Videokommunikation findet wie auch im präsenten Setting zwar ein wechselseitiger und konsekutiver Dolmetschprozess in zwei Richtungen statt. Allerdings erlangen Sprachmittler:innen im digitalen Kontext und teilweise auch im Kontext des Tragens einer Mund-Nase-Bedeckung eine stärkere moderierende Rolle und sind zum Teil verantwortlich dafür, das Gespräch zu »managen«. So berichten Sprachmittler:innen, dass sie in neuen Kommunikationssettings häufiger um Dolmetschpausen bitten, das wechselseitige Sprechen regulieren und Missverständnisse direkt benennen. Dies verlangt einerseits die Kompetenz, professionell zu intervenieren, und andererseits Verantwortung für den eigenen Professionsbereich zu übernehmen, ohne in die Gesprächsinhalte oder Gesprächslenkung einzugreifen. Im Spannungsfeld von Neutralität und Unbefangenheit versus Betroffenheit und Involviertheit »Ich komme selbst aus einer Stadt [in der Ukraine], die gerade zerbombt wird. Wir sind ständig im Kontakt mit Menschen, die dort geblieben sind. […] Es ist natürlich nicht einfach, aber ich glaube mit den Jahren hat man gelernt, sich ein bisschen – also man hat auf jeden Fall Mitleid und man hat auch Gefühle für die Menschen – man versucht auch alles, also zumindest ich versuche alles für die Menschen zu tun, also wenn es noch irgendetwas gibt, wo man den noch helfen kann, sei es in irgendwelchen medizinischen Angelegenheiten, sei es bei der Verteilung in der Gemeinschaftsunterkunft oder irgendwelchen Sachspenden. Also da versuche ich mich einzusetzen. Da bin ich mehr als Dolmetscherin. Man muss sich jedoch auch irgendwie distanzieren, ansonsten könnte man gar nicht arbeiten. […] Die Menschen haben alle eine eigene Geschichte« (Sprachmittlerin).
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In dieser Aussage einer Sprachmittlerin wird die Diskrepanz zwischen Empathie, emotionaler Involviertheit, Abgrenzung und professionellem Anspruch deutlich. Eigene Erfahrungen und Verbindungen zur Thematik machen zwar für Betroffenheit empfänglich, gleichzeitig stärken sie in der Arbeit mit geflüchteten Mitmenschen das Mitgefühl, stellen eine Verbindung her und ermöglichen eine emotionale Nähe. Auch die Bereitschaft zur Unterstützung ist in diesem Fall sehr ausgeprägt. Deutlich wird gleichzeitig ein Bewusstsein für die notwendige Distanz, um ein professionelles Sprachmitteln sicherstellen zu können, ohne die eigene mentale Gesundheit zu gefährden. Die Sprachmittlerin formuliert in diesem kurzen Abschnitt am Ende eine Haltung, die neben Strategien zur Abgrenzung, Arbeitserfahrungen sowie Routinen zum Selbstschutz für ein professionelles Handeln relevant sind. Die Sprachmittlerin führt im weiteren Gespräch mit den Autorinnen aus, dass sie zuvor keine Supervisionsangebote wahrgenommen hat, diesen Austausch aktuell jedoch sehr schätzt. Eine professionelle Empathie erfordert keine geteilten Erfahrungen oder Schicksalsschläge, um einen offenen und vertrauensvollen Umgang zwischen den Gesprächsteilnehmenden zu begünstigen. Vielmehr ist es die Fähigkeit der Sprachmittler:innen, sich in die Situation der Klient:innen hineinversetzen zu können und gleichzeitig die eigenen Grenzen zu wahren. Auch ist es Teil eines professionellen Handelns, sich dieser Grenzen bewusst zu sein und zu erkennen, wann diese ein vertrauensvolles Gespräch blockieren. Im Vergleich zu Empathie, die sich positiv auf die Vertrauensbasis in der Sprachmittlung auswirkt, kann die persönliche Betroffenheit von Sprachmittler:innen, die durch Erlebtes der Klient:innen emotional stark mitgenommen sind, dazu führen, dass diese aus ihrer Rolle heraustreten. Das Verfallen in Betroffenheit kann den Schwerpunkt der Beratung von der Gefühlslage der Klient:innen auf die emotionale Befindlichkeit der Sprachmittler:innen verlagern und damit die psychotherapeutischen Gesprächsprozesse gefährden (Yakushova, 2020, S. 18). In einem Gespräch mit den Autorinnen berichtet eine weitere ukrainischstämmige Sprachmittlerin, die seit einigen Jahren in Deutschland lebt, dass sie einer belasteten schwangeren Frau aus der Ukraine sowohl Unterkunft, Betreuung als auch Sprachmittlung anbietet, während sie sich seit Tagen um ihren eigenen Sohn in der Ukraine sorgt. Diese Sprachmittlerin läuft Gefahr, durch die persönliche Bekanntschaft, die Mehrfachrollen und das Abhängigkeitsverhältnis belastet zu werden oder gegebenenfalls eine sekundäre Traumatisierung zu erleiden. Mit Hinblick auf das Transparenzprinzip ist sie in Therapie und Beratungssettings dazu verpflichtet, das Verhältnis (Unterbringung und Betreuung) offenzulegen. Im Kontext des Krieges in der Ukraine lassen sich häufig biografische Gemeinsamkeiten oder Berührungspunkte zwischen Klient:innen und Sprach-
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mittler:innen nicht ausblenden. Einige russischsprachige Sprachmittler:innen berichten jedoch, dass sie für die Gespräche mit ukrainischstämmigen Klient:innen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit (Russland) abgelehnt werden, da unter Institutionen oder Fachpersonen die Sorge oder Annahme besteht, dass durch die Zusammenarbeit hemmende Beziehungsdynamiken in Gang gesetzt und schwer lösbare Konflikte eintreten, die die ukrainischstämmigen Klient:innen destabilisieren oder gefährden könnten. Dieser pauschale Ausschluss von Sprachmittler:innen geht mit der Frage einer Rollenpassung einher, die von einer vermeintlich verfeindeten Gruppenzugehörigkeit ausgeht. Unberücksichtigt bleiben dabei die Komplexität des Konfliktes, die persönliche Passung der Sprachmittler:innen, die begrenzten sprachlichen Ressourcen, die große Bereitschaft zur Unterstützung sowie die bestehende Offenheit seitens der Klient:innen. Ein weiteres Dilemma in Hinblick auf die Neutralität der Sprachmittler:innen ergibt sich in ihrer Rolle als Vertrauenspersonen beim Umgang mit dem Thema Covid-19. Einige Sprachmittler:innen wurden angefragt, Informationen über das Virus zu übersetzen und Auskunft über die Impfung zu geben. In ihrer Sprachmittlungsrolle werden sie als Vertrauenspersonen und durch den Auftrag der Institutionen in der Notsituation der Pandemie als Informationsquelle zum Thema Covid-19 wahrgenommen. Ein Sprachmittler berichtet, dass er von einigen Klient:innen, für die er im psychosozialen Kontext dolmetscht, nach seiner Meinung zur Impfung gefragt wurde. Mit dieser Situation gerät er in den Konflikt, seine neutrale, unbefangene Rolle außerhalb der Gespräche zu verlassen und damit auch die Beziehungen zu den Klient:innen innerhalb der Triade zu gefährden. Die Entscheidung, wie mit den unterschiedlichen Rollen umgegangen wird, kann sich auf das Vertrauensverhältnis im psychosozialen Gespräch auswirken und sollte Gegenstand der gemeinsamen Absprachen im Rahmen der Zusammenarbeit sein. Dilemmata durch fehlende Strukturen und knappe Ressourcen Zu Beginn der Pandemie mussten neue Lösungswege für die Fortsetzung von Therapie und Beratung mit Sprachmittlung erarbeitet werden. Die Umstellung von analogen zu digitalen Gesprächssettings erfordert finanzielle Ressourcen, eine datensichere technische Infrastruktur und zeitlichen Aufwand für die Einarbeitung in das neue Medium. Einige Therapeut:innen berichten, dass die Auswahl der passenden Videokonferenzplattform aufgrund datenschutzrechtlicher Fragen viel Zeit in Anspruch nahm. Auch die Beantragung neuer Mittel für die technische Aus-
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stattung hat den Start der Ferngespräche verzögert. Einige psychosoziale Fachkräfte und Sprachmittler:innen gaben an, dass sie im Umgang mit Software nicht ausreichend geschult sind und auch beim Telefondolmetschen keine Telefonkonferenz einrichten, sondern mindestens drei Leitungen miteinander verbinden. Eine Sprachmittlerin nutzt beispielsweise ihr privates Festnetztelefon und ihr Handy für Telefonkonferenzen: »Für mich war es natürlich ein bisschen anstrengender [am Telefon]. Weil ich dann ganz genau zuhören musste, ich musste zwei Hörer nebeneinander liegen haben, konnte nicht einfach rumswitchen. Aber man gewöhnt sich dran« (Sprachmittlerin).
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Auf Nachfrage betont sie, dass viele Institutionen Telefone nutzen, über die eine Einwahl zu einer gemeinsamen Konferenz technisch nicht möglich ist. In der Regel nutzen Sprachmittler:innen ihre eigenen Endgeräte und auch die Ausstattung für das Ferndolmetschen (LAN-Kabel, Kopfhörer, Datenvolumen) muss aus Eigenmitteln finanziert werden. Diese organisatorischen Voraussetzungen für eine sprachgestützte Therapie oder Beratung auf Distanz bedeuten einen hohen Mehraufwand für das Personal in der Triade. Entsprechend wurden aufgrund der neuen Gegebenheiten Beratungen und Therapien, die per Telefon oder Computer stattfanden, häufig ohne angepasste Konzepte zur Zusammenarbeit und darauf ausgerichtete Absprachen umgesetzt. »Im Grunde wird erwartet, dass alles im Digitalen weiter funktioniert. Dass die Dolmetschenden auch einfach weiter funktionieren« (Therapeutin). Diese Aussage einer Therapeutin unterstreicht den Fokus auf eine Sicherstellung des Angebots ohne eine Sensibilität oder ein Bewusstsein für die neuen Herausforderungen, die sich aus der unkonventionellen Kommunikationsweise für die Zusammenarbeit und für die sprachmittelnde Person in ihrer Tätigkeit ergeben. Seitdem Dienstleistungen wieder unter Berücksichtigung von Infektionsschutzmaßnahmen vor Ort stattfinden können, nutzen nur noch wenige Psychotherapeut:innen aus den Psychosozialen Zentren oder psychosoziale Fachpersonen regelmäßig Telefon- und Videodolmetschen (BAfF e. V., 2021a). Video- und Telefonkonferenzen im psychosozialen Kontext scheinen sich – trotz mühsam erarbeiteter Strukturen und bestehender Vorteile (wie entfallenden Wegen und Reisekosten und langen Wartezeiten) – nicht als Regelangebot durchzusetzen.
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Auch in Präsenzgesprächen erschweren fehlende Strukturen und Ressourcen für den Einsatz von Sprachmittler:innen die Versorgung von geflüchteten Menschen und sorgen für einen großen Mehraufwand. Die Versorgung von ukrainischstämmigen Geflüchteten beispielsweise bedarf einer vorläufigen Ressourcen- und Angebotsplanung, die eine akute Versorgung ermöglicht und gleichzeitig bei knappen Arbeitsressourcen sowohl bei den Sprachmittler:innen als auch beim therapeutischen Fachpersonal eine Bevorzugung ukrainischer Geflüchteter gegenüber anderen geflüchteten Menschen vermeidet. Unter dem Brennglas der Pandemie zeigt sich zudem, dass fehlende nachhaltige Finanzierungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten von Sprachmittler:innen sowie der hohe bürokratische Aufwand im psychosozialen Beratungs- und Therapiesetting die Benachteiligung geflüchteter Menschen im Gesundheitswesen weiter verschärfen und psychosoziale Fachkräfte in ihrer Arbeit stark beanspruchen und belasten. Der Aufwand im Hinblick auf die Finanzierung von Sprachmittlungseinsätzen im psychosozialen Setting zeigt sich eindrücklich in der Arbeitshilfe »Finanzierung von Sprachmittlungskosten für Geflüchtete« der BAfF e. V. (2021b). 4
Neue Rahmen und Strategien: Implikationen für die Praxis In der Praxis sind es noch immer einzelne Institutionen, Verbände und Personen, die herausgefordert sind, große Versorgungslücken, bürokratische Hürden und eingeschränkte Zugänge zur psychosozialen Beratung und Therapie abzubauen. Fehlende finanzielle Ressourcen und fehlendes qualifiziertes Personal erschweren nachhaltige, qualitative und auf Dauer effiziente Lösungswege zur Versorgung schwer belasteter Menschen. Die aktuelle Überlagerung von Krisen zeigt noch einmal mehr, dass der Fokus von Fachkräften derzeit darauf liegt, Zugänge für geflüchtete Klient:innen überhaupt erst zu ermöglichen und Angebote akut zu sichern. Ungeachtet fehlender Strukturen fordern die äußeren Rahmenbedingungen jedoch sowohl von psychosozialen Fachkräften als auch von Sprachmittler:innen eine Umstellung in ihrer Arbeitsweise. Die Dilemmata und Spannungsfelder in der Versorgung von geflüchteten Menschen, die sich in diesen Zeiten noch weiter verschärfen, machen zusätzliche Arbeitsressourcen, Kompetenzen von Sprachmittler:innen und Therapeut:innen/Berater:innen sowie gemeinsame und abgestimmte Arbeitsmodelle notwendig. Beide sind in der Therapie und Beratung gleichermaßen verantwortlich für das Gelingen ihrer Zusammenarbeit. Als qualifizierte Kolleg:innen tragen sie in ihren eigenen Professionsbereichen und Verantwortlichkeiten
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zum Gelingen der Beratungs- und Behandlungsprozesse bei. Werden beide Professionen als notwendige Expertise geschätzt, so muss sichergestellt werden, dass sie gleichermaßen die Möglichkeit zur Qualifikation und Weiterbildung erhalten und ihre Arbeit monetär gesichert ist. Bestehende Standards für die Arbeit im triadischen Setting mit Sprachmittler:innen sowie Curricula zur (Weiter-)Qualifizierung von Sprachmittler:innen und Berater:innen/Behandler:innen müssen und sollten entsprechend mit allen Professionsbereichen gemeinsam erarbeitet werden. In diesem Zusammenhang sei betont, dass der Erfolg der Beratung und Therapie mit geflüchteten Menschen, die keine oder wenige Deutschkenntnisse aufweisen, insbesondere in Krisenzeiten von professionellem Handeln sowohl psychosozialer Fachkräfte als auch von Sprachmittler:innen abhängt. Take-aways für Sprachmittler:innen
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Mit Blick auf professionelles Handeln – auch in unsicheren Zeiten und unter erschwerten Bedingungen – sollte für die Berufsgruppe der Sprachmittler:innen das weitere Bestreben darauf gerichtet sein, Ȥ aktuelle Regelungen, Absprachen und Vorgaben zu den ethischen Prinzipien in der eigenen Profession dahingehend zu überprüfen, ob sie mit neuen Arbeitsvoraussetzungen im Einklang stehen und die beschriebenen Spannungsfelder berücksichtigen; Ȥ eigene Kompetenzen und Kompetenzgrenzen zu (er)kennen, um Entscheidungen zur Wahrnehmung des Auftrags ableiten zu können; Ȥ die Grenzen eigener Rollen fortlaufend im Gespräch und außerhalb des Gesprächs zu reflektieren; Ȥ eigene professionsspezifische Erwartungen und Kriterien für die gelingende Zusammenarbeit mit Psychotherapeut:innen und Berater:innen zu klären und die eigene Expertise aktiv in die Gestaltung der Zusammenarbeit und Planung der Arbeitsweise mit den Berater:innen und Therapeut:innen einzubringen; Ȥ mit sprachmittlenden Kolleg:innen über Erfahrungen in der Arbeit sowie neue Arbeitsmodelle in der psychosozialen Arbeit zu sprechen und gegebenenfalls gemeinsame Ansätze abzuleiten; Ȥ die eigene Belastbarkeit einzuschätzen und mit den psychosozialen Kolleg:innen zu besprechen; Ȥ eigene Qualifizierungs- und Fortbildungsbedarfe einzuschätzen und an entsprechenden Angeboten teilzunehmen.
Verständigung in der Krise
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Take-aways für psychosoziale Fachkräfte Für Psychotherapeut:innen, Berater:innen, Supervisor:innen und weitere psychosoziale Fachkräfte ergibt sich aus den Erfahrungen der beschriebenen Krisen und Rahmenbedingungen die Aufgabe, Ȥ sich offen auf veränderte Behandlungssettings einzulassen und eigene Arbeitsweisen und gängige Routinen zum Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung in der Triade auf die neuen Bedingungen hin zu reflektieren; Ȥ sich der entstehenden Dilemmata und Spannungsfelder in den neuen Beratungssettings bewusst zu sein und gemeinsam mit den Sprachmittler:innen mit ihrer Expertise in der Umsetzungsplanung neuer Kommunikationsmittel einzubeziehen; Ȥ Sprachmittler:innen für sprachspezifische Lösungsansätze in der Triade anzu fragen; Ȥ unterschiedliche Anlässe, wie Vor- und Nachbesprechungen – auch in digitaler Form – zu initiieren, um gemeinsame Arbeitsweisen zu reflektieren und anzupassen. 4
Schluss und Ausblick In der psychosozialen Beratung und Behandlung von geflüchteten, häufig traumabetroffenen Menschen ist eine spezifische Fachexpertise notwendig, um eine angemessene Unterstützung und Begleitung zu gewährleisten. Sprechen die Klient:innen die Sprache der Mehrheitsgesellschaft kaum oder unzureichend, bedarf es in diesem Setting einer zusätzlichen Expertise, ohne die Behandlungserfolge nicht möglich sind. In der Triade arbeiten daher Personen aus zwei Professionsbereichen mit eigenen Verantwortlichkeiten eng zusammen: Therapeut:innen beziehungsweise Berater:innen und Sprachmittler:innen. Die Herausforderungen in der Pandemie und im Licht weiterer destabilisierender Ereignisse verdeutlichen noch einmal mehr, dass beide Profile im psychosozialen und psychotherapeutischen Setting spezialisierte, anspruchsvolle und verantwortungsvolle Tätigkeiten beinhalten und gleichermaßen relevant sind für die Unterstützung von geflüchteten Menschen. Eine professionelle psychosoziale Versorgung bedarf vor allem unter krisenhaften Bedingungen tragfähiger Rahmenbedingungen.
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Elvira Hadžić/Natalia Tilton
Literatur
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Stefan Schmid/Astrid Utler
Psychische Gesundheit: Herausforderungen und Lösungsansätze in der dezentralen Versorgung von Geflüchteten
Ausgangslage Geflüchtete Menschen weisen im Vergleich zur durchschnittlichen Bevölkerung ein deutlich höheres Risiko für psychische Erkrankungen auf (Maier, Morina, Schick u. Schnider, 2019). Die Ursachen für diese erhöhte Vulnerabilität lassen sich vor allem drei Bereichen zuordnen: Ȥ Erlebnisse und Lebenssituation vor der Flucht (z. B. Verfolgung, Folter, Natur katastrophen), Ȥ Erlebnisse während der Flucht (z. B. Vergewaltigung, Tod von Mitflüchtenden), Ȥ Lebenssituation in Deutschland (z. B. Unterbringungssituation, fehlende Perspektive, unsicherer rechtlicher Status, Diskriminierung). Dabei sind die einzelnen Bereiche nicht unabhängig voneinander zu betrachten, sondern bedingen und verstärken sich gegenseitig: So führen z. B. einzelne traumatische Ereignisse nicht zwangsläufig zu einer Traumafolgestörung, aber die Kumulation von traumatischen Ereignissen – nicht zuletzt im Ankunftsland – kann diese begünstigen (Abdallah-Steinkopff, 2016). Nun treffen Geflüchtete mit einem potenziell erhöhten Bedarf an sozialberaterischer oder sogar psychotherapeutischer Unterstützung auf eine Situation vor Ort, die diesen Bedürfnissen aus verschiedenen Gründen nur schwer gerecht werden kann. Erschwerend kommt dann oft hinzu, dass ein nicht unerheblicher Anteil geflüchteter Menschen in Deutschland im ländlichen beziehungsweise kleinstädtischen Raum untergebracht wird. Aber gerade außerhalb der großen Zentren sind die Herausforderungen, die bei der Versorgung von psychisch erkrankten beziehungsweise belasteten Geflüchteten bestehen, nicht selten potenziert. Im Folgenden werden die Schwierigkeiten skizziert, die die Versorgungsstruktur im Allgemeinen mit sich bringt. Die speziellen Herausforderungen des ländlichen und kleinstädtischen Raums werden ergänzend angeführt:
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1. Grundversorgung: Die Grundversorgung durch Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen gestaltet sich in Deutschland ohnehin schwierig. Wartezeiten von einem halben Jahr stellen schon für die einheimische Bevölkerung keine Ausnahme dar, sodass bereits diese Wartezeiten eine enorme Zugangsschwelle darstellen – was besonders bei akuten psychischen Krisen höchst problematisch ist (Ärzteblatt, 2021). Zu diesen bestehenden Engpässen kommen Geflüchtete als Patientengruppe hinzu, die an die Behandelnden komplexe Anforderungen stellt: Die sprachliche Verständigung ist erschwert und macht unter Umständen den Einbezug von Sprach- und Kulturmittler*innen notwendig. Die Finanzierung der Therapie ist nicht immer gesichert oder kann aufwendiger sein als gängige Beantragungsverfahren. Das eigene therapeutische Handeln bedarf kultursensibler Anpassungen und die Lebenssituation der Geflüchteten ist von so viel Unsicherheit geprägt, dass eine Adaption der gewohnten therapeutischen Arbeit erforderlich wird. Außerdem kommen bisweilen Befürchtungen einer möglichen Überforderung oder sogar Co-Traumatisierung hinzu. Studien zeigen, dass sich fast ausschließlich Therapeut*innen mit spezifischen Fortbildungen zu einer Behandlung von Geflüchteten bereit erklären beziehungsweise sich diese zutrauen (BafF, 2021) – dies reduziert die Zahl der infrage kommenden Behandler*innen weiter. Bei Psychiater*innen zeigt sich ein noch problematischeres Bild, da es oft nur einen bis zwei Niedergelassene in einem Landkreis gibt. 2. Fachlichkeit: Die Chancen, Therapeut*innen zu finden, die mit Erfahrung in der Arbeit mit Geflüchteten, in der ambulanten Behandlung von Traumata oder in der therapeutischen Arbeit mit Sprach- und Kulturmittler*in haben, sind im ländlichen oder kleinstädtischen Setting deutlich geringer als in einem großstädtischen Umfeld. Die geringe Anzahl dieser Spezialist*innen führt dazu, dass kaum Qualitätszirkel oder Intervisionskreise mit Fokussierung auf die Behandlung von Geflüchteten vor Ort etabliert sind – was aber gerade bei komplexen, von Komorbidität geprägten Krankheitsbildern eine hilfreiche und notwendige Unterstützung für die therapeutische Arbeit darstellen würde. 3. Sprach- und Kulturmittler*innen: In der psychotherapeutischen und psychiatrischen Versorgung von Geflüchteten kommt einer hochwertigen sprachlichen und kulturellen Übersetzung eine große Bedeutung zu. Dazu ist es notwendig, Personen zu identifizieren, die den speziellen Anforderungen des Sprachmittelns in einem psychotherapeutischen Setting gewachsen scheinen (sowohl sprachlich als auch psychisch), und diese entsprechend zu schulen (Schriefers u. Hadžić, 2016; Schmid, 2021). Auch hier sind ländliche und kleinstädtische Strukturen im Nachteil gegenüber Ballungszentren: Der Anteil an ausländischen Mitbürger*innen, die für eine
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Arbeit als Sprach- und Kulturmittler*innen infrage kommen, ist kleiner, die Wege zu den Behandelnden sind oft länger und die Einsätze seltener. Dies kann dazu führen, dass Sprach- und Kulturmittler*innen weniger Routine aufbauen und die Motivation sinkt, als Sprach- und Kulturmittler*innen zu arbeiten. 4. Logistische Herausforderungen: Ländliche und kleinstädtische Strukturen sind oft geprägt von langen Wegen zu den Behandler*innen und schlecht ausgebautem, teurem Nahverkehr. Dies setzt die Rahmenbedingungen für jegliche Versorgungsangebote im Bereich der psychischen Gesundheit für Geflüchtete: Wie können diese zu etwaigen Angeboten gelangen und inwieweit ist eine Finanzierung der Anfahrt gerade bei häufigen, regelmäßigen Terminen (z. B. im Rahmen einer Therapie oder eines Gruppenangebots) gewährleistet? Ähnliche Herausforderungen stellen sich beim Einsatz der Sprach- und Kulturmittler*innen (siehe oben). 5. Vernetzung: Die psychosoziale Arbeit mit Geflüchteten erfordert in der Regel interdisziplinäre und institutionenübergreifende Kooperationen und Unterstützungsangebote. Diese reichen von der Unterstützung beim Asylverfahren über Alltagsbewältigung, Krisenintervention bis hin zu medizinisch/psychotherapeutischer Hilfe. Dabei sind unterschiedlichste Professionen involviert (unter anderem Behördenmitarbeiter*innen, Sozialarbeiter*innen, Sprachmittler*innen, pädagogische Berufe, Mediziner*innen, Psychotherapeut*innen). Da diese Angebote gerade im ländlichen Raum nicht zentral organisiert sind, gilt es, die einzelnen Akteure miteinander zu vernetzen, zu koordinieren, um Geflüchteten möglichst schnell eine passende Versorgung zuteilwerden zu lassen. Es wird deutlich, dass es schwierig ist, die Versorgungssituation für Geflüchtete durch isolierte Maßnahmen zu verbessern. Basierend auf einer Expert*innenbefragung mit halbstrukturierten Interviews im Jahr 2014 entstand ein Konzeptpapier zur Versorgung von psychisch erkrankten Geflüchteten. Dieses Konzept mit dem Namen TAFF (Therapeutische Angebote für Flüchtlinge) wurde zunächst in zwei Pilotregionen in Bayern erprobt und mittlerweile auf zehn Standorte ausgedehnt, wobei das Konzept im Zuge der Umsetzung evaluiert und weiterentwickelt wurde. Der aktuelle Status wird im Folgenden skizziert. Eine ausführliche Darstellung findet sich in einem umfassenden publizierten Manual (Schmid u. Utler, 2022). Kennzeichnend für den TAFF-Ansatz ist eine Herangehensweise, die in zweierlei Hinsicht ganzheitlich ist: 1. TAFF strebt eine umfassende Versorgung von Geflüchteten mit psychischen Erkrankungen (insbesondere im ländlichen Raum) an, die von der Diagnose, Beratung und Stabilisierung der Patient*innen bis hin zu Therapie und Nach-
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sorge reicht. Es handelt sich also um eine Verzahnung verschiedener Versorgungsangebote und nicht um ein isoliertes Angebot. 2. Daher zielt TAFF darauf ab, das lokale System zur Behandlung von psychisch erkrankten Geflüchteten als Ganzes zu stärken, bei Bedarf zu ergänzen und dabei auch bestehende Ressourcen gezielt zu nutzen. Es wird keine zentrale Einrichtung geschaffen, die die Versorgung übernimmt, sondern die Aktivitäten wirken im Rahmen des Netzwerks der Gesundheitsversorgung und der Beratungsangebote für Geflüchtete. Diese Entscheidung begründet sich auch damit, dass die Initiator*innen von TAFF die Versorgung von Geflüchteten als gesamtgesellschaftliche Aufgabe erachten, die auch einer gemeinschaftlichen Lösung ohne die Schaffung von Parallelstrukturen bedarf.
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Das TAFF-Konzept folgt der Stepped-Care-Idee (Bower u. Gilbody, 2005; Schellong, Epple, Weidner u. Möllering, 2016; Sukale, Rassenhofer, Kirsch u. Pfeiffer, 2020): Niederschwellige erste Angebote wie individuelle Beratung, therapeutische Interventionen und Stabilisierung durch die TAFF-Berater*innen werden ergänzt durch spezifische Gruppenangebote und Zusammenarbeit mit anderen Beratungsinstitutionen oder Gesundheitseinrichtungen. Erst auf den folgenden Stufen dieses Ansatzes werden einzelne Klient*innen (mit entsprechendem Bedarf) in eine ambulante Therapie oder gar in einen therapeutischen Klinikaufenthalt vermittelt. Dieses Vorgehen soll zum einen schnellere sowie auch kleinere Interventionen ermöglichen und gleichzeitig dem Umstand Rechnung tragen, dass die lokale Versorgungsstruktur die intensivste Form der Behandlung nur für eine sehr begrenzte Anzahl an Klient*innen zur Verfügung stellen kann. Darüber hinaus unterscheidet sich der Bedarf der Geflüchteten im Hinblick auf die erforderliche Unterstützung, kurz gesagt, nicht alle psychisch belasteten Geflüchteten benötigen eine Therapie, oft »genügen« auch andere (niedrigschwelligere) Formen der Unterstützung/Entlastung. Dem wird durch das gestufte Angebot Rechnung getragen. Die Ganzheitlichkeit des Ansatzes in Verbindung mit dem Stepped-CareModell macht die (Aufbau-)Arbeit insbesondere innerhalb des ersten Jahres anspruchsvoll. Zum einen sind Vernetzungsaktivitäten erforderlich, die sowohl die Integration von TAFF in das bestehende Netzwerk betreffen als auch den Ausbau/Aufbau der Versorgungselemente des Netzwerkes. Zum anderen besteht zu Beginn der TAFF-Aktivitäten im Normalfall ein Defizit im Bereich der unmittelbaren Versorgung von psychisch belasteten Geflüchteten. Entsprechend hoch sind der Bedarf und die Erwartungen lokaler Akteure an TAFF, möglichst schnell zusätzliche Angebote zu schaffen und in den direkten Kontakt mit Klient*innen zu gehen. Da ein ausschließlicher Fokus auf die Bereit-
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stellung von unmittelbaren Angeboten für Geflüchtete zulasten der Netzwerkarbeit geht, gilt es hier, eine stimmige Balance zu finden, um den Erfolg des Vorgehens nicht zu gefährden. Folgende Elemente sind zentral, um den eingangs beschriebenen Herausforderungen zu begegnen: 1. Etablierung einer Kontakt- und Koordinierungsstelle, 2. Vernetzung der Akteur*innen, 3. Behörden und Ämter: Kontaktaufbau und gemeinsame Prozessoptimierung; 4. Sprach- und Kulturmittler*innen: Gewinnung und Qualifizierung; 5. Geflüchtete: Angebot von Einzelberatung, Stabilisierung und Gruppenmaßnahmen; 6. ehrenamtliche Helferkreise: Kontaktaufbau, Qualifizierung und Zusammenarbeit; 7. Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen: Gewinnung und Qualifizierung.
Etablierung einer Kontakt- und Koordinierungsstelle Eine zentrale und entscheidende Rolle im TAFF-Konzept spielt die sogenannte Kontakt- und Koordinierungsstelle. Der Name der Stelle leitet sich aus den beiden Aufgabenschwerpunkten ab: »Kontakt« bezieht sich auf die unmittelbare (Beratungs-)Arbeit mit den Klient*innen und »Koordinierung« auf die Netzwerkarbeit und Koordination der Versorgung der einzelnen Klient*innen. Die Stelle versteht sich demnach als erster Anlaufpunkt für Geflüchtete mit Hilfs- beziehungsweise Abklärungsbedarf im Bereich der psychischen Gesundheit in der Region. Die Klient*innen können sich direkt an die Kontakt- und Koordinierungsstelle wenden oder von unterschiedlichen Akteuren (z. B. Ehrenamtliche, Behörden, Bildungsinstitutionen) zur Bedarfsabklärung dorthin verwiesen werden. Die dortigen TAFF-Berater*innen nehmen ein Screening beziehungsweise eine erste Einschätzung des Unterstützungsbedarfs der Klient*innen vor, auf deren Basis das weitere Vorgehen geplant wird. Je nach Möglichkeiten des regionalen Versorgungsnetzwerkes und nach Bedarf der Klient*innen ergeben sich unterschiedliche Optionen, die zum Teil ineinandergreifen: Ȥ unmittelbare Stabilisierung durch die TAFF-Berater*innen; Ȥ Weiterleitung an Hausärzt*in, Klinik oder Psychiater*in zur weiteren Abklärung und/oder Behandlung; Ȥ bei akuten Fällen (z. B. Psychosen, Suizidalität oder Ähnlichem): Einweisung in geeignete Kliniken;
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Ȥ bei schwerwiegender Symptomatik: Suche nach geeigneten stationären Therapieangeboten; Ȥ Anmeldung bei beziehungsweise Organisation von gruppentherapeutischen Angeboten oder tagesstrukturierenden Maßnahmen; Ȥ Weiterleitung zu geeigneten Beratungsstellen (Familien-, Erziehungs-, Suchtberatung); Ȥ Anbahnung einer ambulanten Einzeltherapie bei niedergelassenen Therapeut*innen; Ȥ Kommunikation mit anderen involvierten Institutionen und Personen (Ausländeramt, Schulen, Asylsozialarbeit usw.); Ȥ in Ermangelung geeigneter Verweisungsmöglichkeiten: kontinuierliche Begleitung, Stabilisierung und therapeutische Arbeit durch die TAFF-Berater*innen.
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Viele Optionen sind erst das Ergebnis umfangreicher Netzwerk- und Aufbauarbeit vor Ort, sodass den Berater*innen zu Beginn oft nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Verfügung stehen und die Gefahr besteht, ausschließlich als Beratungsstelle für die Klient*innen zu agieren. Daher empfiehlt es sich, zu Beginn des Projektes klar den Fokus auf Netzwerk- und Aufbauarbeit zu legen und den unmittelbaren Klient*innenkontakt zeitlich versetzt oder zumindest reduziert zu beginnen. Die Kontakt- und Koordinierungsstelle eines Standorts sollte mit mindestens zwei Personen besetzt werden. Dabei bewährte es sich, TAFF-Berater*innen unterschiedlicher Professionen (z. B. Sozialpädagog*in mit therapeutischen Zusatzqualifikationen, Gesundheitsmanager*in, Pädagog*in und Psycholog*in) und damit unterschiedlichen Erfahrungs- und Kompetenzschwerpunkten als Teams zusammenzustellen, die aber dennoch gleichberechtigt und auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Dadurch entstehen beträchtliche Synergieeffekte sowie die Möglichkeit einer wechselseitigen Unterstützung in der oft belastenden Arbeit. Die anspruchsvolle Tätigkeit der TAFF-Berater*innen erfordert Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Selbstfürsorge. Deshalb bietet TAFF diverse Formate an, die gerade in ihrer Verzahnung wichtig sind, um nachhaltig wirken zu können: Dabei handelt es sich um Intervisionen (innerhalb des TAFF-Teams), um Supervisionen, die auch eine (überregionale) Anbindung an Kolleg*innen und Expert*innen aus der therapeutischen Arbeit mit Geflüchteten ermöglichen, um Fortbildungen zu ausgewählten Themen sowie um Netzwerktreffen (zum fachlichen, aber auch konzeptuellen Austausch). Die Organisation und fachliche Begleitung der Maßnahmen sowie die Sicherstellung der Finanzierung erfolgen durch das sogenannte TAFF-Leitungsteam. Konkret finanziert werden die Maßnahmen aus Mitteln des Diakonischen Werks Bayern sowie der Landeskirche.
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Vernetzung der Akteure und Verankerung der Kontaktund Koordinierungsstelle im lokalen Versorgungsnetzwerk Ein wesentlicher Baustein bei der Etablierung der Kontakt- und Koordinierungsstelle ist eine gelingende Vernetzung mit den lokalen Akteuren. Hier gilt es zu eruieren, welche Angebote bereits für psychisch erkrankte Geflüchtete bestehen und welche Personen und Institutionen in diesem Bereich schon aktiv sind. In einem nächsten Schritt sollten die eigenen Aktivitäten mit den bereits bestehenden Angeboten in der Region angemessen verzahnt werden, um den Aufbau von Doppelstrukturen zu vermeiden. Für TAFF stellen lokale Akteure und Institutionen wichtige Kooperationspartner*innen dar, deren Erfahrung und Expertise als Ressource angesehen werden, die produktiv genutzt und nicht ersetzt werden sollen. Bei Bedarf steht TAFF diesen Stellen mit fachlicher Expertise zur Seite, unterstützt deren Mitarbeiter*innen oder ergänzt bestehende Angebote (beispielsweise durch ein Fortbildungsangebot). TAFF strebt also eine konstruktive und wertschätzende Zusammenarbeit mit allen Akteuren im Netzwerk an. Damit soll auch gewährleistet werden, dass die Klient*innen bei Bedarf dorthin weitervermittelt werden können, wo sie ein passendes Angebot erhalten.
Behörden und Ämter: Kontaktaufbau und gemeinsame Prozessoptimierung Für eine erfolgreiche Arbeit als Kontakt- und Koordinierungsstelle ist es bedeutsam, von den lokalen Behörden und Ämtern als kompetenter, seriöser Partner wahrgenommen zu werden, der für die Region einen Zugewinn darstellt. Im persönlichen Kontakt gilt es, etwaige Befürchtungen aus dem Weg zu räumen, wie z. B., dass es zum Aufbau von Doppelstrukturen und Kompetenzstreitigkeiten zwischen der Kontakt- und Koordinierungsstelle und bestehenden Institutionen kommen könnte. Eine weitere Befürchtung könnte darin bestehen, dass es durch die Etablierung des Angebots zu einer erhöhten (»künstlichen«) Nachfrage nach Therapien kommen könnte. Dem kann mit Verweis auf Erfahrungen und Vermittlungszahlen1 in verschiedenen Regionen begegnet werden. Besonders bedeutsam für eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem lokalen Gesundheitsamt ist es, eine gute fachliche Basis zu etablieren. Bei äußerst knappen Personalressourcen können in den Gesundheitsämtern die fachlichen Kom1 In allen TAFF-Regionen ist die Anzahl der direkt von TAFF beratenen Klient*innen um ein Vielfaches höher als die Zahl derer, die in eine Therapie weitervermittelt werden.
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petenzen im Bereich psychischer Gesundheit noch dazu bei Patient*innen aus anderen Kulturen fehlen. Ein Ziel von TAFF ist es, hier als fachlicher Ansprechpartner wahrgenommen zu werden, der das Gesundheitsamt dabei unterstützt, Klient*innen zu identifizieren, die besonderen Unterstützungsbedarf aufweisen.
Sprach- und Kulturmittler*innen: Gewinnung und Qualifizierung
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Der Aufbau eines Sprach- und Kulturmittler*innen-Pools für psychotherapeutisch/sozialberaterische Kommunikationssituationen samt dessen Anschub finanzierung kann einen schnell spürbaren Effekt der Initiative in der Region auslösen und deren Unterstützung auch in anderen Aktivitätsfeldern fördern. In nahezu allen Regionen mangelt es an ausgebildeten Sprach- und Kulturmittler*innen für den Gesundheitsbereich, insbesondere für den psychotherapeutisch/sozialberaterischen Bereich. TAFF geht vor Ort wie folgt vor: Zunächst werden Daten von interessierten und potenziell geeigneten Laiensprachmittler*innen gesammelt (von lokalen Institutionen, die bereits Erfahrung in der Arbeit mit Sprach- und Kulturmittler*innen haben). Die Personen werden kontaktiert und über TAFF informiert, diejenigen, die an einer Zusammenarbeit mit TAFF und an einer Fortbildung interessiert sind, werden zu Vor- beziehungsweise Auswahlgesprächen eingeladen. Im Anschluss findet (in Zusammenarbeit mit kunterMund) eine Schulung statt, die mehrere Module umfasst und die Sprach- und Kulturmittler*innen auf den Einsatz in Beratungs- beziehungsweise Therapiesituationen vorbereitet. Die so Geschulten werden in der Folge bei Bedarf bei Gesprächen mit psychisch erkrankten und belasteten Menschen eingesetzt, wobei die Einsatzorte variieren (von Fachärzt*innen über Beratungsstellen hin zu Therapeut*innen oder bei der Kontakt- und Koordinierungsstelle selbst). Da die Tätigkeit eines*einer Sprach- und Kulturmittler*in hohe professionelle Anforderungen mit sich bringt, steht es im Rahmen der Herangehensweise von TAFF außer Frage, dass eine Bezahlung erfolgen muss, die über eine reine Aufwandsentschädigung hinausgeht. Zudem werden die Sprach- und Kulturmittler*innen durch zahlreiche Angebote (kontinuierliche Supervision, Fortbildungen usw.) unterstützt und betreut. Eine Herausforderung besteht in der Aufrechterhaltung des Sprach- und Kulturmittler*innen-Pools, weshalb TAFF gesonderte Aktivitäten zur Pflege des Pools lanciert. Diese umfassen: Kontakt halten, Weiterbildungen anbieten, Wertschätzung durch gezielte Aktionen zeigen, neue Sprach- und Kulturmittler*innen an den Pool heranführen.
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Geflüchtete: Angebot von Einzelberatung, Stabilisierung und Gruppenmaßnahmen Die Zielgruppe aller Aktivitäten von TAFF sind die Geflüchteten selbst. Diese finden in der Kontakt- und Koordinierungsstelle eine erste Anlaufstelle, die sie berät, welche Form der Unterstützung für sie sinnvoll und hilfreich wäre. Aus einer ersten Anamnese erfolgt dann je nach Bedarf eine unmittelbare Intervention durch die TAFF-Berater*innen oder eine entsprechende Weiterverweisung an Ärzt*innen, Beratungsstellen, Kliniken oder niedergelassene Therapeut*innen. Den TAFF-Berater*innen kommt häufiger, als dies im ursprünglichen Konzept vorgesehen war, eine unmittelbar stabilisierende Funktion für die Geflüchteten mit psychotherapeutischem Bedarf zu, die über ein reines Screening hinausgeht. Bayernweit werden so im Schnitt bis zu sechshundert Klient*innen betreut. Besonders wirksame Ergänzungen des lokalen Versorgungsangebotes stellen Gruppenmaßnahmen für die Geflüchteten dar, in denen entweder die TAFFBerater*innen selbst mehrere Klient*innen mit ähnlichem Hilfsbedarf unterstützen und/oder niedergelassene Therapeut*innen effizient eingesetzt werden können. Dabei reichen die Angebote von eher niedrigschwelligen Gruppen zur Unterstützung im Alltag bis hin zu therapievorbereitenden Gruppen oder psychoedukativen Gruppen mit Fokus auf Symptombewältigung. Hier ausgewählte Beispiele: Ȥ Psychoedukation und Entspannungsverfahren; Ȥ diagnoseübergreifende Gruppen zur Emotionsregulation (STARK-Konzept von Refugio München); Ȥ Gruppen für Menschen mit Schlafstörungen (STARS-Konzept von Refugio München); Ȥ wochenstrukturierende Gruppenangebote mit wechselnden thematischen Schwerpunkten, die in Kooperation mit unterschiedlichen Einrichtungen angeboten wurden: Kindererziehung, Schlafhygiene usw.; Ȥ kunsttherapeutische Gruppen für Erwachsene und Kinder. Die jahrelange Erfahrung in unterschiedlichen Regionen in Bayern macht einen offenkundigen Mangel an geeigneten Institutionen für schwersterkrankte Geflüchtete deutlich, die eine stationäre Behandlung und Unterbringung benötigen. Hier sei ein Appell an politische Entscheidungsträger gerichtet, sich nicht zuletzt aufgrund der langfristigen und weitreichenden Folgen (mangelnde Integration, generationsübergreifende Weitergabe psychischer Erkrankungen, Folgekosten durch Chronifizierung, Selbst- und Fremdgefährdung) dieser Pro blematik entschieden anzunehmen.
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Ehrenamtliche Helferkreise
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Neben den Flüchtlings- und Integrationsberater*innen stellen ehrenamtliche Helfer*innen meist die unmittelbaren Kontaktpersonen für Geflüchtete dar. Sie sind oft die ersten und engsten Bezugspersonen aus der Mehrheitsgesellschaft und stehen den Geflüchteten zur Seite, begleiten diese zu den verschiedensten Anlaufstellen. Daher spielen Ehrenamtliche im Netzwerk der psychotherapeutischen Versorgung von Geflüchteten zunächst bei der frühzeitigen Erkennung von psychischen Problemen eine wichtige Rolle und letztlich auch bei der Suche nach geeigneten Anlaufstellen zur Abklärung des Therapiebedarfs und anschließenden Behandlung. Es darf jedoch keine Rollenerwartung an Ehrenamtliche sein, dass sie psychische Erkrankungen erkennen (oder gar auffangen) müssten. Allerdings erleben es Ehrenamtliche oft als Entlastung, wenn sie durch mehr Wissen und einen niedrigschwelligen Zugang zu Fachkräften im Bereich der psychischen Gesundheit gezielter und schneller die von ihnen selbst wahrgenommene Verantwortung in professionelle Hände legen können. Somit kommt dem persönlichen Kontaktaufbau zu den Helferkreisen eine große Bedeutung zu. Darüber hinaus können Fallberatung oder das Angebot von entsprechenden Fortbildungen in den Helferkreisen wichtige Elemente zur Unterstützung der Ehrenamtlichen darstellen.
Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen Zu Beginn des TAFF-Projektes 2014/2015 stand im Zentrum der Aktivitäten der Kontakt- und Koordinierungsstelle die Gewinnung und Qualifizierung niedergelassener Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen für die Arbeit mit Geflüchteten und die Qualifizierung von Sprach- und Kulturmittler*innen für diesen Aufgabenbereich. Nach wie vor handelt es sich hierbei um die Hauptziele, allerdings hat die Erfahrung gezeigt, dass bei der Gewinnung von Niedergelassenen ein langer Atem nötig ist und sich in manchen Regionen schlicht niemand finden lässt. Wir erachten es dennoch als wichtig, die Anstrengungen in diesem Bereich aufrechtzuerhalten, aber die Möglichkeiten, was den Aufbau eines Therapeut*innen-Netzwerks angeht, können lokal deutlich variieren. Für die Akquise von Therapeut*innen ist eine persönliche Ansprache aller geeigneten Behandler*innen in der Region notwendig, am besten über verschiedene Kanäle, wie Presseberichte, telefonische Kontaktaufnahme, Anschreiben durch
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Gesundheitsämter, Vorstellung in Qualitätszirkeln und zentrale Informationsveranstaltungen. Den interessierten Therapeut*innen werden in einem nächsten Schritt von TAFF organisierte und von der Psychotherapeutenkammer anerkannte Fortbildungen zur Arbeit mit Geflüchteten angeboten. Diese umfassen drei verschiedene Themenschwerpunkte: Ȥ Migration und Flucht, Ȥ kultursensible Therapie, Ȥ Therapie in der Triade: Arbeiten mit Sprach- und Kulturmittler*innen. Im günstigen Fall wirken die Fortbildungen netzwerkbildend, indem sich die fachlichen Akteure in der Region im Rahmen der Fortbildungen immer wieder treffen, austauschen und weiterentwickeln können. Eine besondere Rolle kommt der Veranstaltung »Therapie in der Triade« zu, an der auch die lokalen Sprach- und Kulturmittler*innen teilnehmen und wo sich Sprach- und Kulturmittler*innen sowie Therapeut*innen kennenlernen können. Als Fortführung des lokalen Expert*innen-Netzwerkes und gleichzeitig als fachliche Notwendigkeit und Stützung ist das Angebot einer lokalen Supervision für die Therapeut*innen zu sehen. Dieses wird durch die Kontakt- und Koordinierungsstelle organisiert und kann bei einem eher kleinen Therapeut*innen-Kreis oft ein erfolgversprechenderer Zugang sein als Fortbildungsangebote in Form der oben aufgeführten Seminare.
Schluss und Ausblick Der vorgestellte Ansatz zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Geflüchteten im Bereich psychische Gesundheit zielt bewusst auf eine umfassende Veränderung und Öffnung der lokalen Regelversorgung ab und nicht auf die Schaffung von lokalen Behandlungszentren, die mit ihren Spezialist*innen überregional unersetzbar sind. Die Präferenz von TAFF hat monetäre und politische Gründe: Eine Versorgung von Geflüchteten allein über Spezialzentren ist aufgrund der hohen Anzahl psychisch belasteter Geflüchteter nicht zu leisten und zu finanzieren. Außerdem ist es nach unserem Staats- und Gesellschaftsverständnis eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Geflüchteten, die über kurz oder lang zu Mitbürger*innen werden, den Zugang zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Es handelt sich hierbei also auch um (interkulturelle) Öffnungsprozesse. Das hier vorgestellte Konzept zeigt einen möglichen Weg auf, wie diese im ländlichen und kleinstädtischen Kontext gelingen können.
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Literatur
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Maximiliane Brandmaier
(Nicht-)Anerkennung von Geflüchteten
Im Vorwort zu Luise Reddemanns Buch »Geflüchtete würdeorientiert begleiten« schreibt der Sozialpsychologe und Psychotherapeut Klaus Ottomeyer: »Beim Thema Würde kann man nicht anders als ernst werden. Angriffe auf die Würde eines Menschen sind das Gegenteil der sozialen Anerkennung, die jeder Mensch für eine gedeihliche Entwicklung so dringend braucht. Aus einer gespeicherten guten Erfahrung von Anerkennung kann Selbstanerkennung, Selbstachtung und damit auch Autonomie gegenüber aktuellen sozialen Erwartungen entstehen. Missachtung und Entwertung können hingegen von außen nach innen wandern« (Reddemann, 2020, S. 10). Geflüchteten und Asylsuchenden wird auf fast allen gesellschaftlichen Ebenen Anerkennung verweigert, was Partizipation erschwert und die Entstehung und Aufrechterhaltung psychosozialer Problemlagen begünstigt. Auf rechtlicher Ebene werden individuelle Verfolgungs- und Fluchtgründe häufig nicht anerkannt, die Betroffenen befinden sich jahrelang in einem Zustand rechtlicher Unsicherheit und sozialer Exklusion. Hinzu kommt ein eingeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt, wodurch ihnen alltägliche Erfahrungen sozialer Wertschätzung und Solidarisierung verwehrt bleiben. Im Alltag sind Geflüchtete in zunehmendem Ausmaß mit institutionellem und alltäglichem Rassismus konfrontiert. Gerade durch die Unterbringung in Sammelunterkünften, deren Architektur und Anordnung häufig symbolische und materielle Barrieren aufweisen (wie z. B. Zäune, Sicherheitsdienst am Eingang etc.), werden die Bewohner*innen als Flüchtlinge1 markiert und als homogene Gruppe wahrgenommen und als solche leicht zum Ziel rassistischer Übergriffe. Auch flüchtlingsfeindliche Demonstrationen und Kundgebungen und stetige Ver-
1 Kritisch zum Flüchtlingsbegriff siehe Stefanowitsch (2012).
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schärfungen des Asylrechts und der Asylpolitik sind Ausdruck dieser massiven gesellschaftlichen Nichtanerkennung. In diesem Beitrag werden zunächst einige theoretische Überlegungen zur gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Nichtanerkennung von Geflüchteten und Asylsuchenden vorangestellt, bevor Missachtungserfahrungen beziehungsweise verweigerter Anerkennung in einzelnen Bereichen alltäglicher Lebensführung geflüchteter Menschen anhand von Forschungsergebnissen einer sozialpsychologischen qualitativen Studie in Österreich (Brandmaier, 2019) nachgegangen wird. Ein praxisorientierter Ausblick zeigt einige Möglichkeiten der Schaffung von Anerkennungsräumen in psychosozialen Kontexten auf.
Nichtanerkennung im Exil und viktimisierende Kultur
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In der Psychotraumatologie wird davon ausgegangen, dass die Anerkennung als Opfer und Überlebende für die psychische Entwicklung nach einer Traumatisierung eine entscheidende Rolle spielt. Mit ihren teilweise zerbrochenen Identitäten brauchen traumatisierte Menschen nicht nur Stabilität durch einen sicheren Ort, sondern auch haltende, heilsame Beziehungen (Ottomeyer, 2011). Nach dem Ende der unmittelbaren Verfolgung setzt sich der Traumatisierungsprozess fort, wie sich anhand des Konzepts der sequenziellen Traumatisierung sehr gut nachvollziehen lässt (Keilson, 1979/2005). Für die psychische Entwicklung und die seelische Gesundheit ist es entscheidend, wie das nahe soziale Umfeld mit dem Trauma der Überlebenden umgeht und ob Hilfe und Unterstützung erfolgt. Erhalten Opfer von Gewalt nicht die soziale und gesellschaftliche Anerkennung, Wertschätzung und Unterstützung, die sie brauchen, kann sich das erschütterte Selbst- und Weltverständnis nicht regenerieren, sie fühlen sich fremd innerhalb ihrer sozialen Umwelt und empfinden die Abwehr beziehungsweise das offene Leugnen und Infragestellen der Gewalt als weitere Demütigung (Brandmaier u. Ottomeyer, 2016; Ottomeyer, 2011, 2014a). Die asylpolitisch/-rechtlichen Bedingungen sowie rechtspopulistische und diskriminierende Diskurse lassen sich als viktimisierende Kultur (vgl. Briere, 1996) begreifen, die traumatisierten Menschen Bemühungen zur Verarbeitung ihrer Erlebnisse erschwert und z. B. Sprachfiguren der Opferbeschuldigung fördert. Wenn Geflüchtete durch traumatische Erlebnisse psychisch belastet sind, verfügen sie dabei oft nur eingeschränkt über Bewältigungsressourcen (Ottomeyer, 2011; Krueger, 2013). Asylsuchende und Geflüchtete treffen als marginalisierte Gruppe auf eine Exilgesellschaft, die sie diskriminiert (Brandmaier u. Ottomeyer, 2016).
(Nicht-)Anerkennung von Geflüchteten
Laut dem Sozialphilosophen Axel Honneth (1992/2012) ist wechselseitige Anerkennung in der Liebe, im Recht und in der Solidarität die Grundlage für gesellschaftliches Zusammenleben und die Identitätsentwicklung beziehungsweise die Entwicklung eines »praktischen Selbstverhältnisses« (Honneth, 1992/2012, S. 148). Es ist anzunehmen, dass dieser Entwicklungsprozess bei Migration in eine neue sensible Phase eintritt, in der gerade Geflüchteten und Asylsuchenden die benötigte Anerkennung häufig verwehrt wird (Brandmaier u. Ottomeyer, 2016; Krueger, 2013). Der Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer fasst zwischenmenschliche Anerkennung als die wichtigste Ressource für Selbstbewusstsein und Identität, deren drei Hauptbestandteile er in den Bereichen Lieben, Arbeiten und Kämpfen verortet (Ottomeyer, 2014b). Der von Honneth postulierten Anerkennung im Recht fügt Ottomeyer noch die Anerkennung als freie*r und gleiche*r Teilnehmer*in am Markt hinzu. Das Individuum benötige darüber hinaus noch Anerkennung als Arbeitende*r oder Handwerker*in sowie die Anerkennung als einzigartiges, unverwechselbares Subjekt in den Liebes- und Familienbeziehungen. So sieht Ottomeyer (2014a), bezogen auf die Situation von Asylsuchenden, in der Anerkennung als asylberechtigt eine zentrale Voraussetzung, um ein geschäftsfähiges und gleichberechtigtes Rechtssubjekt in der Gesellschaft zu werden, um Solidaritätserfahrungen in der Arbeitswelt zu machen und ein würdiges Familien- und Liebesleben zu führen. Wird die rechtliche Anerkennung verweigert, wozu auch die häufige Ablehnung von Asylanträgen als (offensichtlich) unbegründet (oft ohne intensive Prüfung der vorgebrachten individuellen Verfolgungsgründe) oder sogar Unterstellungen der Lüge zählen, so übt dies einen negativen Einfluss auf die Selbstachtung und die seelische Gesundheit aus (Ottomeyer, 2011). Ein verweigerter Zugang zum Arbeits- und Bildungsmarkt verhindert die Erfahrung sozialer Wertschätzung, welche in einer kapitalistisch strukturierten Erwerbsarbeitsgesellschaft über den individuellen Beitrag zur gesellschaftlichen Reproduktion erfolgt (Honneth u. Pongs, 2009; Ottomeyer, 2014a). Verweigerte Anerkennung in diesen beiden Sphären kann wiederum Aner kennungsverhältnisse in den Liebes- und Familienbeziehungen beeinträchtigen, wenn sich bisherige Kommunikationsmuster, Rollenverteilungen und Selbstbilder verschlechtern. So fehlt vormals erwerbstätigen Personen einerseits soziale (und gesellschaftliche) Wertschätzung, andererseits werden sie auch innerhalb der Familie nicht mehr für ihren Beitrag zum familiären Unterhalt gewürdigt. Es kann zu Ängsten vor einem Verlust des Respekts von Partner*innen oder Kindern kommen (Ottomeyer, 2011). Emotionale Reaktionen auf Nichtanerkennung beziehungsweise Missachtung können potenziell Kämpfe um
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Anerkennung motivieren (Honneth, 1992/2012), solange sie sich nicht in Form von Selbstverachtung, Depression und der Bildung einer Negatividentität nach innen richten oder sich in einem diffusen, nach Außen gerichteten Zorn entladen (Ottomeyer, 2011). Zum Beispiel: Nichtanerkennung in Sammelunterkünften
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Das Leben in der Sammelunterkunft ist geprägt von Fremdbestimmung, fehlender Privatsphäre und räumlicher Enge. Eine dauerhafte Sammelunterbringung und die damit einhergehende Beschränkung von Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung können negative Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit haben (Behrensen u. Groß, 2004; Brandmaier, 2019; Pieper, 2008). Abhängigkeiten und das ungleiche Machtverhältnis zwischen dem Personal und den Bewohner*innen eröffnen innerhalb der Sammelunterkunft einen »potenziell rechtsfreien Raum« (Pieper, 2008, S. 345). So besteht nicht nur von außen, sondern auch innerhalb der Sammelunterkunft das Risiko von verbaler oder physischer Gewalt (sowohl durch Personal als auch durch andere Bewohner*innen), weshalb es z. B. geschützter Räume und entsprechender räumlicher Präventionskonzepte für Kinder, Frauen und LGBTIQ* bedarf. Aber auch subtilere Erfahrungen von verwehrter Anerkennung gehören zum alltäglichen Leben in den Sammelunterkünften, wie z. B. unhygienische und baufällige Zustände und respektloses Verhalten des Personals, anderer Bewohner*innen oder von Anwohner*innen. Je stärker die Handlungsspielräume im alltäglichen Leben eingeschränkt sind, umso größer wird die Abhängigkeit vom Personal der Unterkunft. Als sehr problematisch hinsichtlich der Befriedigung basaler Bedürfnisse stellt sich heraus, wenn das Essen zentral zubereitet wird oder Lebensmittelpakete ausgegeben werden oder wenn z. B. die Heizung nicht eigenständig reguliert werden kann. In Kärntner Vollversorgungs-Sammelunterkünften gab es vereinzelte Berichte von verdorbenen Lebensmitteln oder der Verwendung von Schweinefleisch zum Fest des Fastenbrechens (Brandmaier, 2019). Eine Interviewpartnerin2 schilderte, wie sie als einzige Frau in einer Unterkunft von der Betreiberin stetig zum Putzen der gemeinschaftlich genutzten Duschen, Toiletten und Flure angehalten wurde. Unhygienische oder gar baufällige Zustände der Unterkunft stellen eine dauerhafte Missachtung der Bewohner*innen dar: 2 Sofern keine andere Angabe erfolgt, stammen sämtliche Zitate von Geflüchteten aus der Studie von Brandmaier (2019), zum Teil handelt es sich um bislang nicht publizierte Zitate. In der Transkription der Zitate wurde durchgehend Kleinschreibung gewählt, außer für Betonungen.
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»SCHIMMEL, die toiletten, […] dusche war auch kaputt, wir haben allgemeine dusche gehabt, und nur EIN für fünfundzwanzig personen. und zwei toiletten ja für fünfundzwanzig personen. […] dort war einen ganzen großen loch, auf den haus […]. immer steht im wasser, und das beton war kaputt« (Marina Bakaeva). Im Vergleich zu den unhygienischen und heruntergekommenen Verhältnissen in einigen Unterkünften wurde es teils schon als Wertschätzung erlebt, wenn Betreiber*innen fällige Reparaturen durchführten oder Gebrauchsartikel zur Verfügung stellten – was ohnehin zu ihrem Aufgabenbereich gehörte. So schilderte Marina Bakaeva, als wie wertschätzend sie es nach einem Umzug erlebte, dass der Betreiber der neuen Unterkunft sich darum kümmerte, dass sie die Räume in einem guten Zustand beziehen konnten: »wenn wir zum ersten mal hier in pension sind, haben wir von chef bekommen geschirr, die kochtöpfe, und dann haben wir bettwäsche bekommen, und andere hauptlebensmittel. für zuerst und ALLES war neu. zum beispiel hier wir haben umzug gemacht, aus anderen zimmer, und jetzt haben wir ein neues bett bekommen, mit neuer matratzen, und kinderbett bekommen wir auch, ich bin schwanger, und für meine zweites kind, sie geben auch neues kinderbett […] nicht ALTES oder so, und das ist super weil in anderen pensionen, die leuten bekommen das nicht. oder schwer. […] wir haben sehr große freude, weil ich habe nicht erwartet. weil chef kann auch UNS auch helfen.«
Zum Beispiel: Alltagsrassismus und Nichtanerkennung Geflüchtete erfahren täglich Nichtanerkennung beziehungsweise Missachtung durch Alltagsrassismus, z. B. bei der Wohnungssuche oder am Arbeitsplatz (vgl. auch Brandmaier und Louw in diesem Band). Dies trägt dazu bei, sich nicht als Teil der Gesellschaft zu fühlen, sich nicht frei zu fühlen in den Handlungen und Bewegungen, ständig auf der Hut sein zu müssen, sich verteidigen oder schützen zu müssen. Marina Bakaeva schildert dies anhand der ablehnenden und teils verbal aggressiven Reaktionen auf ihr Kopftuch, und positioniert sich darin zugleich selbst als Rechtssubjekt: »zum beispiel wenn ich auf der straße die alte menschen oder die, die haben getrunken, treffe dann sagen sie mich ein ein paar wörter, schlechte wörter.//
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mhm//aber, MEHR nichts. angreifen nichts. (seufzt) […] ich sage ich kann nach nach polizei anrufen, und sie, sie gehen vorbei dann. […] wegen des kopftuchs. sie magen das nicht ja? und sie kann das nicht verstehen. […] wenn ich treffe mit diese menschen, fühle ich mich anstrengend weil ich ich kann nicht hier wie ein bewohner fühlen. ich kann nicht mich FREI fühlen dann.«
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Alltagsrassismus kann auch Kommunikation und die Aufnahme von Kontakten schwierig bis unmöglich machen, wenn z. B. Passant*innen auf Fragen nach dem Weg nicht antworten oder Asylsuchende beim Einkauf wiederholt ohne Anlass des Diebstahls verdächtigt und zum Objekt übler Nachrede werden. Darüber hinaus sind Erfahrungen von Alltagsrassismus als eine Form verweigerter Anerkennung oft mit direkten Handlungseinschränkungen verbunden, z. B. bei der Wohnungssuche, und tragen dazu bei, sich nicht als Teil der Gesellschaft zu fühlen. Rassistische Stereotype und Vorurteile bergen die Gefahr, dass die Betroffenen sie in ihr Selbstbild und ihre Handlungen im Sinne einer Negatividentität übernehmen. So erwähnte Lucky Umulu, dass er es vermeide, in der Öffentlichkeit mit anderen Schwarzen unterwegs zu sein, aufgrund der massiven Vorurteile besonders gegenüber nigerianischen Asylsuchenden bezüglich Drogenhandels (Amnesty International, 2009) und um demütigenden Erfahrungen wie dem Racial Profiling durch die Polizei zu entgehen: »don’t want anybody. to get close to me. even in DAY, the police will control people. in BAHNHOF. […] i just got there, two days ago, i just bought a beer […] so when i was drinking the beer, the police came inside. it’s not they controlling everybody to SEARCH. the police said »eh, we know him let him go« […] i was surprised they KNEW me very well […] that is me. just pretty walk on my own. because of the lot of THINGS that i heard about what happened, i don’t want to really hear about it. so i walk on my own. do things on my own. […] i don’t know, most time i don’t walk with black people.« Zum Beispiel: Nichtanerkennung im Recht Das Zusammenleben in der Sammelunterkunft mit Menschen, die schon lange auf einen Bescheid warten, kann die eigene Hoffnungslosigkeit sowie Zukunftsängste nähren. Dadurch, dass die Gründe für die unterschiedliche Entscheidungspraxis subjektiv häufig nicht nachvollzogen werden können, kann der Eindruck entstehen, es gehe nicht um die individuellen Fluchtgründe, sondern nur um das Herkunftsland. Gerechtigkeit der Asylentscheidungspraxis und die Möglichkeit der Anerkennung im Recht für die eigene Person werden
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so in Zweifel gezogen. Diese Zweifel berühren nicht nur das eigene Selbstbild, die eigene Identität, sondern begünstigen auch Konkurrenz und Vorurteile oder Abneigungen innerhalb der Geflüchteten. Neben der spezifischen Architektur der Sammelunterkunft, der (teils traumabedingten) Ängste und Misstrauen und der Sprachbarrieren bewirkt dies eine Vereinzelung und soziale Isolation innerhalb der Sammelunterkunft und erschwert eine Solidarisierung untereinander. Als besonders drastisch wird die Nichtanerkennung seitens Behördenmitarbeiter*innen oder seitens Vertreter*innen der Justiz empfunden, wenn diese bei Anhörungen oder Gerichtsverhandlungen die Asylsuchenden der Lüge bezichtigen oder gar respektlos behandeln. So schildert Jawed Omary den Umgang bei der Anhörung: »und danach bin ich im bundesasylamt gegangen und habe das erste interview gemacht, und das hat drei stunden lang gedauert, und es war puh unhöfliche person […] hat viel geschrien, wie ich ein DIEB oder was bin.« Die Unsicherheit in Folge der Situation wurde anschließend noch verstärkt durch eine Bagatellisierung durch den Leiter der Sammelunterkunft: »danach habe meine chef erzählt und er hat gelacht und das hat gesagt ja ja das ist halt so, manche leute haben sowas tick.« Der Vorwurf der Lüge wirkt auch deshalb so stark, weil oft wenig Möglichkeiten bestehen, das Gegenteil zu beweisen, sei es, weil schriftliche Belege fehlen oder weil diese nicht anerkannt werden oder der Vorwurf einer Fälschung erhoben wird. Dass die eigenen Aussagen nicht anerkannt werden, kann den Eindruck entstehen lassen, nicht nur das eigene Wort, sondern auch die Person selbst sei nichts wert: »man SELBST, bedeutet gar nichts hier. in europa. nur papier. […] ohne papier man bedeutet gar nichts […] bei uns ist nicht so. wenn jeder etwas erzählt, DAS bedeutet bei uns« (Yunus Shakuri). In dieser Unsicherheit sind die eigenen Einflussmöglichkeiten auf rechtliche Anerkennung oft gering. Diese rechtliche Nichtanerkennung der individuellen Fluchtgründe und das missachtende Verhalten von Amtsträger*innen können Wut und Empörung hervorrufen, die sich auch nach innen richten können in Form von Resignation und Depression. Geflüchteten und Asylsuchenden werden zahlreiche bürgerliche Rechte nicht zuerkannt, wie das Recht auf Bewegungsfreiheit, freie Wohnortwahl, aber auch in unterschiedlichem Ausmaß auf Selbstbestimmung in der alltäglichen Lebensführung.
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Zum Beispiel: Nichtanerkennung als Teil der (Arbeits-)Gesellschaft Anerkennungserfahrungen als arbeitende, leistungsfähige Person blieben den meisten Interviewpartner*innen aufgrund von Arbeitsverbot beziehungsweise einem sehr eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt verweigert. Der explizite Wunsch, als vollwertiger Teil der Gesellschaft – und grundsätzlicher: als Mensch – anerkannt zu werden, ist eng verknüpft mit der Bereitschaft und dem Willen, zur Gesellschaft beizutragen in Form von Arbeit: »das würden wir gern. weiterleben. … arbeiten […] man möchte sich wie ein mensch fühlen, das möchten wir doch alle« (Anni Harutunjan). Die Anerkennung als arbeitendes und leistungsfähiges Mitglied der Gesellschaft bedeutet somit zugleich, soziale und gesellschaftliche Wertschätzung entgegengebracht zu bekommen. Das Insistieren auf das Menschsein und der Wunsch nach Anerkennung wird mit zunehmenden Erfahrungen von Missachtung brüchig – so schildert Razaq Kohzad den Fall eines Freundes, der sich suizidiert hatte:
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»es ist so dass dieser junge mann in afghanistan ein sehr GUTES leben gehabt hat, er hat studiert, hatte einen guten job, 2.800 dollar monatlich verdient. hier hat er das müllauto gefahren und im heim für 3 euro die stunde gearbeitet. er war ein sehr geLEHRTER junger mann. und wenn HIER der staat, und der CHEF, und die EINRICHTUNGEN. IHN nicht wertschätzen. SO dass er selbstmord begehen muss. wie kann man dann MICH, ich bin doch analphabet. der NICHTS gelernt hat. wenn man DIESEN einen schon nicht wertschätzung entgegengebracht hat. wie soll man MICH dann überhaupt noch wertschätzen.« Er stellt dabei infrage, wie viel er und sein Leben eigentlich wert seien – so richtet sich die Nichtanerkennung nach innen, stellt den eigenen Wert infrage. Aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel, die Asylsuchenden zur Verfügung stehen, wird nicht nur die Anerkennung als arbeitende, leistungsfähige Person, sondern auch die Anerkennung als Marktteilnehmer*in verweigert. In einer kapitalistischen, konsumorientierten Gesellschaft sind Asylsuchende zwar ständig von Waren umgeben, sie haben jedoch kaum Möglichkeit, diese zu kaufen. Folglich sind sie in ihrem Erscheinungsbild auch z. B. durch das Tragen von billiger oder abgetragener Kleidung als Flüchtlinge markiert und stigmatisiert. Mit den begrenzten Zuschüssen für Kleidung war es den interviewten Geflüchteten in Österreich z. B. nicht möglich, angemessene Winterkleidung zu besorgen. Dies birgt angesichts der Witterungsverhältnisse an den Alpenrändern mit Schnee, Regen und Eis auch Gesundheitsrisiken – in der Folge blieben die
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Bewohner*innen im Winter überwiegend in den Sammelunterkünften, was wiederum Tendenzen sozialer Isolation und depressive Stimmungszustände verstärken kann.
Praxisorientierter Ausblick: Schaffung von Anerkennungsräumen und widerständiges Handeln Trotz vielfältiger missachtender Erfahrungen machen Geflüchtete und Asylsuchende in Sammelunterkünften auch Erfahrungen von Anerkennung, die das Potenzial haben, Handlungsspielräume zu erweitern. Eine große Rolle spielt dabei das Personal, welches die gesetzlich und institutionell vorgegebenen Handlungsspielräume auch wohlwollend und großzügig auslegen kann (Brandmaier, 2019; Pieper, 2008). Dabei erleichtert eine wertschätzende und anerkennende Haltung seitens der Betreuer*innen oder Sozialarbeiter*innen, diese um Unterstützung zu bitten. So können Verbesserungen erreicht werden, z. B. in rechtlichen Belangen, in der Gesundheitsversorgung oder im Zugang zum Bildungsoder Arbeitsmarkt. Auch Erfahrungen der intersubjektiven Wertschätzung und Anerkennung mit freiwillig Engagierten und Aktivist*innen spielen eine wichtige Rolle und können Geflüchteten das Gefühl geben, Teil der Gesellschaft und gleichwertig zu sein. Eine anerkennende Haltung setzt einen Gegenpol zur tendenziell viktimisierenden Kultur in der Gesellschaft: »Oft würde schon ein elementarer Respekt im alltäglichen Umgang genügen, um der gesellschaftlichen Tendenz zur Entwertung und Entwürdigung der Opfer etwas entgegenzusetzen. Flüchtlinge und Verfolgte bekommen es sehr genau mit, ob es in ihrem aktuellen Umfeld Bewegungen gibt, die sich für die Rechte von Benachteiligten einsetzen« (Ottomeyer, 2011, S. 234 f.). Allein ein ehrliches Interesse für das Befinden, für die Persönlichkeit und die Lebenspläne, Entwicklungen und Ziele wird als Anerkennung erfahren, wie Yunus Shakuri im Fall eines ehemaligen Nachhilfelehrers schildert: »immer fragt mir zum beispiel wenn ich treffe ›was hast du gemacht? hast du jemanden gefunden? hast du arbeit gefunden?‹ […] und das bedeutet für mich so viel […] da man sieht dass der WILL etwas für mich machen. er WILL dass ich hier bleibe. man schaut die gesicht und wenn man sieht ja die wollen.«
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Auch die Unterstützung durch österreichische Aktvist*innen bei politischen Aktionen, wie z. B. Demonstrationen, trug zu einem solchen Gefühl sozialer Wertschätzung bei: »es war ein marsch von asylanten, […] weltflüchtlingstag. […] und das hat viel österreicherinnen, uns geholfen, und dabei gemarschen, und auf der straßen und überall, gegangen, und sie haben uns unterstützt, und DA habe ich gefühlt, dass sie LIEBEN uns einfach. und die anderen auch haben ALLE, uns viel geholfen. und dann habe ich gedacht, und sie WOLLEN uns einfach. aber das problem ist mit dem gesetz« (Jawed Omary).
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Eine anerkennende und wertschätzende Haltung kann auch dazu motivieren, weiterzumachen und für die eigenen Bedürfnisse, Ziele und Rechte einzutreten. Wenngleich »sichtbare Politiken« der Migration deutlich stärker Anerkennungskämpfe und darin politisch handlungsfähige Subjekte zeigen, die mit lautstarken und raumeinnehmenden Formen des Protests die Gesellschaft und die Politik auf ihre Situation aufmerksam machen und politische Veränderungen fordern, so finden doch im alltäglichen Leben weniger sichtbare Formen migrantischer Kämpfe auf der Ebene der Privatheit statt, um Arbeit, einen sicheren Aufenthalt und Bewegungsfreiheit – gewissermaßen als »unsichtbare Politiken«, infolge dessen die rechtlichen Regelungen, Ordnungen und restriktiven Rahmenbedingungen unterlaufen werden (vgl. Ataç, Kron, Schilliger, Schwiertz u. Stierl, 2015). Anerkennungskämpfe – egal wie sichtbar und laut – tragen in ihrem Charakter als widerständiges Handeln dazu bei, individuelle und/oder kollektive Handlungsfähigkeit zu erweitern (Brandmaier, 2019). Um selbst Anerkennung einfordern zu können und sich für realisierbare Teilhabeoptionen vor dem Hintergrund der eigenen materiellen und sozialen Ressourcen entscheiden zu können, brauchen Menschen aber auch personale Ressourcen wie ein entwickeltes Selbstbewusstsein und ein entsprechendes positives Selbstwertgefühl (Riegler, 2015). So birgt eine ressourcenorientierte, traumatherapeutische oder traumapädagogische Arbeit nicht nur das Potenzial, Menschen bei ihrer Selbstbemächtigung oder Wiedererlangung von Agency zu unterstützen, sondern auch die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu achten. Denn wenn grundlegend davon ausgegangen wird, dass jegliche »Subjekt-Bildung sich im Kontext von Anerkennungskonstellationen vollzieht« (Schoneville u. Thole, 2009, S. 134) – hier schließt sich der Kreis zum Zitat von Klaus Ottomeyer zu Beginn –, so liegt die Chance von Psychotherapie und Sozialer Arbeit darin, in den professionellen Beziehungen Anerkennungsräume zu schaffen und damit Prozesse der Selbstachtung und Selbstbemächtigung
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zu stärken. Dies führt aufgrund der geschilderten alltäglichen Missachtungen der Würde auch dazu, dass Betroffene darin gestärkt werden können, ihre Menschenrechte einzufordern. Werden Probleme nicht nur vor dem Hintergrund eines bio-psycho-sozialen Modells des Erlebens und Verhaltens, sondern auch vor dem Hintergrund von Anerkennungstheorien rekonstruiert (Schoneville u. Thole, 2009), kann dies den individuumszentrierten Fokus um die Dimension der Gesellschaft erweitern.
Literatur Amnesty International (2009). Österreich: Opfer oder Verdächtige – Eine Frage der Hautfarbe. Wien: Amnesty International. Ataç, I., Kron, S., Schilliger, S., Schwiertz, H., Stierl, M. (2015). Kämpfe der Migration als Un-/Sichtbare Politiken. movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, 1 (2), 1–18. Behrensen, B., Groß, V. (2004). Auf dem Weg in ein normales Leben? Eine Analyse der gesundheitlichen Situation von Asylsuchenden in der Region Osnabrück. Forschungsergebnisse des Teilprojekts »Regionalanalyse« im Rahmen der EQUAL-Entwicklungspartnerschaft: »SPuK: Sprache und Kultur: Grundlagen für eine effektive Gesundheitsversorgung«. Osnabrück: Eigenverlag. Brandmaier, M. (2019). Angepasstes und widerständiges Handeln in der Lebensführung geflüchteter Menschen. Handlungsfähigkeit im Verhältnis zu Anerkennung und (psycho-)sozialer Unterstützung in österreichischen Sammelunterkünften. Weinheim: Beltz Juventa. Brandmaier, M., Ottomeyer, K. (2016). Trauma und Gesellschaft. Zum Verhältnis von Bewältigung und Anerkennung. In W. Weiß, S. B. Gahleitner, T. Kessler, J. Koch, Handbuch Traumapädagogik (S. 342–350). Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Briere, J. (1996). Therapy for adults molested as children. Beyond survival (2nd ed.). New York: Springer Pub. Honneth, A. (1992/2012). Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (7. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Honneth, A., Pongs, A. (2009). Die gespaltene Gesellschaft. Axel Honneth im Gespräch mit Armin Pongs. In M. Basaure, J. P. Reemtsma, R. Willig (Hrsg.), Erneuerung der Kritik. Axel Honneth im Gespräch (S. 21–37). Frankfurt a. M. u. a.: Campus-Verlag. Keilson, H. (1979/2005). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Untersuchung zum Schicksal jüdischer Kriegswaisen. Gießen: Psychosozial-Verlag. Krueger, A. (2013). Flucht-Räume. Neue Ansätze in der Betreuung von psychisch belasteten Asylsuchenden. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag. Ottomeyer, K. (2011). Die Behandlung der Opfer. Über unseren Umgang mit dem Trauma der Flüchtlinge und Verfolgten. Stuttgart: Klett-Cotta. Ottomeyer, K. (2014a). Glück, Gesundheit, Identität. Psychologie und Psychotherapie zwischen Widerstand und Anpassung. In K.-J. Bruder, C. Bialluch, B. Lemke (Hrsg.), Machtwirkung und Glücksversprechen. Gewalt und Rationalität in Sozialisation und Bildungsprozessen (S. 441–458). Gießen: Psychosozial-Verlag. Ottomeyer, K. (2014b). Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen. Soziales Verhalten und Identität im Kapitalismus und Neoliberalismus (2. Aufl.). Berlin/Münster: LIT Verlag. Pieper, T. (2008). Die Gegenwart der Lager. Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik. Münster: Westfälisches Dampfboot.
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Reddemann, L. (2020). Geflüchtete würdeorientiert begleiten. Ethische und psychosoziale Annäherungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Riegler, A. (2015). Partizipation ist ohne Anerkennung nicht denkbar. soziales_kapital. wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit, 14, 112–128. Schoneville, H., Thole, W. (2009). Anerkennung – ein unterschätzter Begriff in der Sozialen Arbeit? Einführung in den Schwerpunkt »Im Blickpunkt: Anerkennung«. Soziale Passagen, 1 (1), 133–143. Stefanowitsch, A. (2012). Flüchtlinge und Geflüchtete. http://www.sprachlog.de/2012/12/01/ fluechtlinge-und-gefluechtete/ (Zugriff am 09.01.2023).
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»Social trauma« behandeln und begleiten1
Einleitung Eine alleinstehende Frau aus Srebrenica suchte zum ersten Mal psychotherapeutische Hilfe, als sie eine Ankündigung der bevorstehenden Ausreisepflicht erhielt. In Srebrenica wurden 1995 fast alle männlichen muslimischen Bosniaken verschleppt und im Massaker von Srebrenica ermordet. Die Therapeutin fragte sich, wieso die offensichtlich jahrelang belastete Frau nicht früher Unterstützung gesucht hatte. Sie erfuhr, dass die Patientin in der Asylunterkunft zusammen mit vielen anderen Frauen aus Srebrenica wohnte. Sie gab an, ihr Schicksal sei im Vergleich zu anderen Frauen nicht schlimm genug. Sie habe keine Kinder und »nur« den Verlobten und nicht »den Ehemann« oder »den Vater ihrer Kinder« verloren. Sie helfe anderen Frauen und hüte die Kinder ihrer verwitweten Schwester. Sie erhielt die Aufforderung zur Ausreise mit der Begründung, dass ihr als einer alleinstehenden Person die Rückkehr nach Srebrenica zuzumuten sei. Sie erschien verzweifelt, beklagte Albträume und Ängste sowie Selbstmordgedanken. Seit der Androhung der Abschiebung wurde sie von den bisher abgewehrten und bedrohlichen Gefühlen wie Angst, Verlassenheit, Allein- und Verlorensein überschwemmt und musste im Rahmen einer stationären psychiatrischen Behandlung stabilisiert werden. Sie gab an, sie könne es in der Unterkunft nicht mehr aushalten. Die Frauen dort waren von der Abschiebung nicht akut bedroht, weil sie Kinder hatten. Sie wolle sie nicht belasten. Die Vorstellung, von der Gemeinschaft getrennt zu werden, war jedoch der Auslöser für die Krise. Der Zusammenhalt der Frauen war das Einzige, was sie all diese Jahre noch am Leben gehalten hatte. Sie hatte alle männlichen Familienangehörigen verloren: Vater, Bruder, Schwager, ihren 15-jährigen Neffen, drei Onkel mütterlicherseits, den Bruder ihres Vaters, seine zwei Söhne – und ihren Verlobten. Das Ausmaß der sozialen Traumatisierung der Gruppe 1 Der Artikel stellt eine erweiterte und ergänzte Fassung des folgenden Beitrags dar: Reddemann, L., Joksimovic, L. (2021). Psychodynamic imaginative trauma therapy in the treatment of patients with social trauma. In A. Hamburger, C. Hancheva, V. D. Volkan (Eds.), Social trauma – An interdisciplinary textbook (pp. 107–114). Cham: Springer.
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der Frauen aus Srebrenica, denen sich die Patientin stark zugehörig fühlte, führte aber dazu, dass sie sich verpflichtet sah, die eigene soziale Traumatisierung in selbstschädigender Weise relativieren zu müssen. Im Gespräch gelang es allerdings, den Grad der eigenen Traumatisierung deutlich zu machen: »Ich denke, dass ich auch ein wenig tot bin. Es ist schlimm, weil ich nicht weiß, wie ich weiterleben soll, wenn ich schon zum Teil tot bin. Wie soll das gehen? Wer kann es mir zeigen, wie man an einem Ort mit so viel Tod leben kann, wenn ich selber halb tot bin?« Tatsächlich bedeutet die Androhung der Abschiebung für die Klientin selbst – nach der schweren sozialen Traumatisierung – ihren »endgültigen sozialen Tod«.
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Wie können wir dieser Klientin, die darunter leidet, dass ihre soziale Traumatisierung nicht anerkannt wird, beistehen? Sicher nicht ausschließlich mit einer am Individuum orientierten Therapie, sondern mit Gespür und Engagement gegenüber dem, was die Klientin tatsächlich erleidet. Sie leidet keineswegs nur an den Folgen der ursprünglichen Traumatisierung, auch wenn der Verlust so vieler Menschen schrecklich ist. Sie leidet aktuell vor allem an dem, was Keilson (1979/2005) als »sequenzielle Traumatisierung« bezeichnet. Der Blick auf verschiedene Sequenzen von Trauma ermöglicht ein tieferes Verstehen der Belastung, der die Betroffenen mit einem solchen Erfahrungshintergrund ausgesetzt sind. Denn es geht keineswegs nur um das einzelne Ereignis beziehungsweise die durchlittenen Gewalterlebnisse und deren mehr oder weniger gelungene individuelle Bearbeitung, sondern um die anhaltende Abfolge von Ereignissen in einem gesellschaftlichen Kontext. Daher kann wie bei der beschriebenen Klientin auch nach dem Ende der Verfolgung und selbst, wenn die Geflüchteten im scheinbar sicheren Land angekommen sind und die Zeit der Verarbeitung beginnen könnte, noch ein wesentlicher Teil der traumatisierenden Erfahrungen geschehen. Für uns bedeutet »social trauma« daher immer auch, unsere Stimme gegen Unrecht, Ungerechtigkeit und Entwürdigung im öffentlichen Raum zu erheben. Traumatherapie als ausschließlich individuelles Geschehen scheint uns im Kontext von »social trauma« nicht angemessen zu sein, genauso wenig »nur« Psychotherapie. Wir halten es für notwendig, auch als Bürgerinnen unsere Stimme zu erheben, uns für Menschenwürde und Menschenrechte einzusetzen sowie uns antidiskriminierend und antistigmatisierend zu erheben. Denn Menschen mit traumatischen und Diskriminierungserfahrungen sind oft von der Gesellschaft »disconnected« und »disempowered« (Herman, 1992, S. 60). Briere (1996) bezeichnet dies als »viktimisierende Kultur« (S. 84). Als Gegengewicht sind daher Parteilichkeit, Anerkennung und Solidarität gefragt. Im Folgenden wird die kontextualisierte therapeutische Arbeit an verschiedenen inhaltlichen Strängen und weiteren Fallvignetten veranschaulicht.
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Das Konzept der psychodynamisch imaginativen Traumatherapie Stabilisierung first Wir gehen davon aus, dass äußere Sicherheit eine basale Voraussetzung für innere Sicherheit ist und gerade für Geflüchtete, die zurzeit zu uns kommen, die Situation prekär und häufig weiter traumatisierend ist. Deshalb erscheint uns das Bemühen darum, innere Gegengewichte aufzuspüren, die Patient*innen trotz allem oft mitbringen (z. B. gute Erinnerungen an die Kindheit oder andere ressourcenvolle Vorstellungen) besonders bedeutsam. Wir betonen jedoch andererseits, dass ein Fokus auf Ressourcen niemals rechtfertigen kann, nicht genügend auf das Leiden der Patient*innen einzugehen. Uns geht es in erster Linie um die mitfühlende Therapeutin, die den Patient*innen beistehen kann, mit sich selbst mitfühlend zu sein beziehungsweise zu werden. Darunter verstehen wir vor allem einen liebevoll tröstenden Umgang mit jüngeren Anteilen – Ego States – durch das »Ich von heute«. Wir konzeptualisieren ein relativ stabiles Ich von heute sowie hilfreiche, verletzte und verletzende Ego States (Federn, 1952/1956). Wichtig ist uns im Kontext des Konzepts jüngerer Ego States, dass es sich hier nicht nur um kindliche Anteile handelt. Bei älteren Menschen, die im höheren oder sogar hohen Alter flüchten mussten, arbeiten wir auch mit Anteilen aus der jüngeren Vergangenheit, z. B. dem Mann, der fliehen musste, oder der Frau, die Opfer einer Vergewaltigung wurde. Die Versorgung »jüngerer« Anteile definieren wir als das Herzstück der Therapie, was nicht bedeutet – wie uns gelegentlich vorgeworfen wird –, auf Traumarekonstruktion grundsätzlich zu verzichten. Grundsätzlich besteht dennoch die Orientierung am bekannten Drei-Phasen-Modell nach Pierre Janet (1889), wie es uns von Onno van der Hart (persönliche Information) vermittelt wurde, allerdings unter der Devise von Mitgefühl als leitender Orientierung und Haltung. Mitgefühl Unter Mitgefühl verstehen wir neben Einfühlung auch ein Handeln, das auf das eigene sowie das Wohlergehen anderer ausgerichtet ist. Leiden kann oft erst akzeptiert werden durch die Anwesenheit mitfühlender und einfühlsamer anderer. Unter Mitgefühl verstehen wir ein Handeln des Therapeuten*der Therapeut*in, um Leiden zumindest zu mildern. Es führt zu einer verstärkten Wahrnehmung für Würdebedürfnisse; nur wenn Patient*innen erfahren können, dass ihre Würde explizit respektiert wird, scheinen uns therapeutische
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Fortschritte möglich. Wir postulieren, dass Psychotherapie mit geflüchteten Menschen nur wirken kann, wenn wir als Therapeut*innen die Traumatisierung anerkennen, die durch erlebte Entwürdigung entstanden ist, im Herkunftsland oder im Land, in dem Zuflucht erhofft wird. Dazu gehört, vor allem zu Beginn der Behandlung Informationen zu Trauma und den Folgen zur Verfügung zu stellen (siehe im Folgenden). Wir halten es für gesundheitsschädigend, verletzend und schmerzhaft, wenn traumatische Angst bei traumatisierten Patient*innen und sozialen Gruppen getriggert wird. Daher bemühen wir uns, beruhigend zu wirken, um auch Selbstberuhigung anzuregen – als Ergebnis von Information, Freundlichkeit und Mitgefühl. Es geht uns um einen offenen, verstehenden und freundlichen Umgang mit der Komplexität und Mehrdimensionalität z. B. der Gruppengeschehnisse (Reddemann, 2021, 2016/2022; Zehetmair et al., 2019). Die Sinnhaftigkeit der Einhaltung bestimmter Abläufe vermitteln wir kultur- und sozialtraumasensibel. Bei Irritationen geben wir wiederholt ehrliche, leicht verständliche Rückmeldungen und bitten unsere Patient*innen, uns Unsicherheit und Irritationen ebenfalls ehrlich zurückzumelden. 4
Partizipative Grundhaltung In Ergänzung zu mitfühlendem Austausch über leidvolle Erfahrung jetzt und damals laden wir dazu ein, genau zu schauen, was Patient*innen selbst Frieden, Freude und Momente von Freiheit und Sicherheit erleben lässt. Dies bezeichnen wir als Fragen nach der »Überlebenskunst«, die natürlich immer erst dann gestellt werden dürfen, wenn das Leiden ausreichend gewürdigt ist. Wir achten also darauf, dass Fragen nach der »Überlebenskunst« die Anerkennung des sozialen, kulturellen und politischen Kontextes der traumatisierten Person beinhalten. Bleibt die Erkundung dieser Bereiche aus, können Gefühle von Unwirklichkeit und Fragmentierung, die mit traumatischen Erfahrungen verbunden sind, fortbestehen (Varvin, 2017, S. 156). Wir drängen Patient*innen also nichts auf, sondern sind neugierig und offen für ihre eigenen Lösungen. Bei aller notwendigen Konzentration auf »social trauma« vergessen wir jedoch nicht die Sicht auf die Patient*innen als Individuen, die vom Überlebenswillen getragen sind, sei es bewusst oder unbewusst. So laden wir sie dazu ein, einen »guten inneren Ort« (z. B. Reddemann, 2021, S. 149) in der Vorstellung zu kreieren, um in dieser inneren Welt so weit wie möglich immer wieder Stabilität, Stärke und Trost zu finden; immer vorausgesetzt, Patient*innen können dem zustimmen. Viele bringen bereits entsprechende Bilder mit (Reddemann, 2016/2022; vgl. auch Roth u. Stüber, 2018, S. 430).
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Beziehungsorientierung Inzwischen ist die Bedeutung der therapeutischen Beziehung für eine gute therapeutische Zusammenarbeit in beinahe allen Therapieschulen anerkannt. Bei der Therapie von traumatisierten Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten ist das Sicherheitsgefühl in der therapeutischen Beziehung beziehungsweise im therapeutischen Raum die Voraussetzung für jegliche Psychotherapie, also auch die imaginative. Für dieses Sicherheitsgefühl und dessen Signale auf der nonverbalen Ebene sollten Therapeut*innen ein Bewusstsein entwickeln (Joksimovic, Bergstein, Rademacher u. Schröder, 2019; Reddemann, Joksimovic, Kaster u. Gerlach, 2019). Ein Patient aus Bosnien erklärte es so: »Plötzlich fing mein Nachbar an, mich anders zu grüßen. Anstatt wie früher mit Lächeln und Winken von der anderen Straßenseite grüßte er mich mit kurzer strenger Kopfbewegung. Mich erfasste dabei ein Gefühl von innerer Kälte. Er grüßte mich anders, weil ich eine andere Nationalität hatte als er, wegen etwas, was bis dato gar keine Bedeutung für uns hatte. Selbst seine Kinder liefen nicht mehr spontan auf mich zu. Sie fragten nicht mehr, ob sie zu uns zum Spielen kommen dürfen. Sie klammerten sich an seinem Bein fest, als ob ich ihnen unheimlich geworden war. Ab da hatte ich eigentlich nichts anderes im Kopf als Flucht. Die Stadt wurde in wenigen Tagen belagert. Es gab keine Fluchtmöglichkeiten. Mein Nachbar wurde Soldat, ich wurde mit anderen Männern meiner Nationalität von den Männern seiner Nationalität in ein Lager gebracht, wo ich die Hölle überlebte. So wurde ich zum Lagerüberlebenden. So sitze ich jetzt hier, bei Ihnen in der Therapie.«
Dies beantworten wir nach der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie (PITT) mit einem korrigierenden bindungs- und traumasensiblen Beziehungsangebot und mitfühlenden Interventionen und – nach entsprechender Information – mit dem Angebot, die jüngeren Ichs, die dies alles durchgemacht haben, liebevoll wahrzunehmen, zu begrüßen und zu »versorgen« (Reddemann, 2016/2022). Psychoedukation Für Patient*innen mit »social trauma« empfehlen wir spezifische Psychoedukation. Für sie ist es entlastend, wenn sie von Therapeut*innen hören, dass diese sich damit auskennen, dass in einem Krieg Unvorstellbares passieren kann. Psychoedukation, die Elemente beruhigender Aufklärung beinhaltet (Ottomeyer,
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2011), stärkt das therapeutische Arbeitsbündnis, weil Patient*innen oft unter dem Gefühl leiden, sie seien an ihrem und an dem Schicksal ihrer Familie schuld. Allein durch die Anerkennung, dass Patient*innen und die soziale Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, traumatisierenden Erlebnissen ausgesetzt waren und dies Folgen für ihre Gesundheit und auch die vieler anderer Menschen aus ihrer Umgebung hat, erfolgt oft eine Beruhigung. Dies kann für Gruppen, denen ihre Verfolgung, ihre Traumatisierung oder erlittene Diskriminierung z. B. im Asylverfahren aberkannt wurde, eine wichtige entlastende Bedeutung haben. Eine soziale Gruppe, selbst wenn sie traumatisiert ist, kann kollektiven Schutz vor Isolation und Entmenschlichung und auch vor Stigmatisierung bieten. Menschen, die struktureller und politischer Gewalt, Verfolgung, Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt waren, können ihnen unbekannte oder stresserzeugende – oft bei uns übliche – Abläufe als Schikane erleben. Daher erklären wir geduldig Abläufe und bemühen uns, sie transparent zu machen. Wir sollten offen dafür sein, dass sie bei sozial traumatisierten Menschen das Gefühl von Ignoranz, Ablehnung, Gefühllosigkeit und Diskriminierung auslösen können. Uns ist wichtig, einen Eindruck institutioneller Willkür zu vermeiden, da auch dies retraumatisierend wirken kann (Joksimovic et al., 2019; Schröder u. Joksimovic, 2017). Fallbeispiel Eine alleinerziehende vierzigjährige Englischlehrerin aus dem Irak leidet körperlich unter chronischen Kopfschmerzen sowie unter Depressionen. Auch hat sie sich sozial sehr zurückgezogen. Sie wirkt wie in ihren Schmerzen und ihrer Depression gefangen. Ihr Mann wurde umgebracht. Sie flüchtete mit ihrer damals zehnjährigen Tochter nach Deutschland. Im Herkunftsland gehörte die Familie in mehreren Generationen der intellektuellen Mittelschicht an. Dennoch waren ihre emanzipatorischen Schritte von Ambivalenzen und Konflikten der Familie und der Umgebung begleitet. Ihre Eltern, Schwiegereltern und der jüngste Bruder ihres Mannes mit seiner Familie leben als Geflüchtete in der Türkei. Sie fühlen sich beschämt und stigmatisiert, erhalten keine Unterstützung vom Staat und kein Verständnis in der Umgebung. Aber auch untereinander ist es der Familie nicht möglich, Trost und Verständnis füreinander aufzubringen. Alle vertrauten darauf, dass die Patientin mit ihrer Bildung und ihren Sprachkenntnissen schnell eine gute Arbeit im ersehnten Land Deutschland finden werde; sie erwarten finanzielle Hilfe von ihr, um ein Haus für alle in der Türkei mieten zu können. Sie verschweigt aus Scham, dass sie selbst noch in einem Flüchtlingsheim wohnt und keine guten Aussichten auf Ausübung ihres Berufs und ein Bleiberecht hat.
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Wie versuchen wir zu helfen? Uns ist wichtig, die Lebens- und Traumawelten der sozialen Gruppen unserer Patient*innen kennenzulernen, um hilfreiche Begleiterinnen sein zu können. Wie steht es mit der Geschlechterbeziehung, dem Umgang mit Autoritäten, der Familienstruktur? Welche wirksamen spirituellen Einstellungen und Glaubenshaltungen müssen berücksichtigt werden? Welchen Verlusten und Demütigungen wurde die soziale Gemeinschaft der Patient*innen ausgesetzt? Patient*innen lehren uns häufig, dass sie kreative Wege gefunden haben, um sich wieder sicherer zu fühlen. Dann fragen wir, ob diese Wege auch heute noch hilfreich sein könnten. Dabei kann sich verhängnisvoll auswirken, wenn wir meinen, wir wüssten besser als die Patient*innen, was für sie gut ist und wie es überhaupt um sie steht. Deshalb halten wir Bescheidenheit für eine notwendige Grundhaltung. Vor allem wissen sie besser als wir, was sie erlebt und wie sie sich dabei gefühlt haben. Wir haben zu lernen, dass sich in Kriegen und Verfolgungsregimen Werte- und Bedeutungssysteme verändern, die die bisherigen identitätsstiftenden und Halt gebenden Bindungen zwischen den Menschen zerstörten. Und dass infolge der sozialen Traumatisierung neue Zugehörigkeiten und Gruppenzuschreibungen entstehen, neue Solidaritäten, neue Anforderungen an die Gruppenmitglieder, wie es bei der Lehrerin aus dem Irak der Fall war. Was bedeutet dies für den vorliegenden Fall? Ihr Ehemann, ein Arzt, fungierte als Träger der längst bröckelnden Identität der Familie als »ausgebildete Mittelschicht«. Mit seinem gewaltsamen Tod verlor die Familie ihr zentrales Identitätselement. So bekam nun die Patientin als seine Frau die Aufgabe, die haltende Figur der Familie zu sein, ungeachtet des Widerspruchs, dass sie zuvor von beiden Familien in ihren emanzipatorischen Bestrebungen nicht unterstützt worden war. In der Beziehung zum neuen Land wiederholt sich für sie dieser Widerspruch. So steht die erwartete Integration in die neue soziale Gruppe, das heißt in die Aufnahmegesellschaft, im Widerspruch zu politisch-administrativen Vorgaben in Bezug auf Unterbringungsformen, Abläufe des Asylverfahrens, Regelungen des Zugangs zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt (Joksimovic et al., 2019). Die soziale Traumatisierung der Patientin setzt sich fort.
Unter Demut verstehen wir, dass wir als Therapeut*innen ungeachtet unserer hohen Fachkompetenz und Hilfsbereitschaft stets wissen sollten, dass wir über die gesellschaftliche und politische Lebensart in Herkunftsgesellschaften
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der Flüchtlinge, über dortige Familienstrukturen, Bindungen und Bindungserfahrungen, historische Zusammenhänge sowie über die aktuellen Zustände und konkreten Verluste und Erlebnisse der Flüchtlinge in der Regel (zu) wenig wissen. Mecheril (2002) nennt diese Fähigkeit, trotz Fachwissen neugierig auf die Lebenswelten und -zusammenhänge unserer Klient*innen zuzugehen, »Kompetenzlosigkeitskompetenz«. Unser Credo
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Therapeut*innen behandeln Menschen, nicht etwa soziales Trauma oder Dia gnosen. Wenn es uns annähernd gelingt, dies zu berücksichtigen, führt uns Mitgefühl dazu, Patient*innen zu ermutigen, auf die Stimme ihrer inneren Weisheit zu hören (Wampold u. Imel, 2015). Erleben Patient*innen, dass Therapeut*innen ihnen vertrauen und etwas zutrauen, können sie eher die Fähigkeit entwickeln, sich selbst zu trösten. Dabei bemühen wir uns, Vertrauen zu ermöglichen und eine Atmosphäre zu pflegen, die Sicherheit vermittelt. Dies kann Momente von Geborgenheit und einem Gefühl, akzeptiert zu sein, ermöglichen. Hierfür verwenden wir den Begriff »Stabilisierung« aus einer psychodynamischbeziehungsorientierten Perspektive, um die Stärkung von Ich-Funktionen zu beschreiben. Das Konzept der Arbeit mit Ego States trägt zu Selbstregulierung und Mitgefühl für sich selbst bei und stärkt die therapeutische Zusammenarbeit. Seit Beginn unserer Arbeit mit traumatisierten Menschen war es uns daher auch wichtig, Wege zu finden, die Traumarekonstruktion – oder, wie meist gesagt wird, Traumakonfrontation – so wenig belastend wie möglich zu gestalten. Dafür werden wir oft kritisiert. Unsere klinische Erfahrung mit dieser Arbeit hat uns allerdings bestätigt. Wir arbeiten mit dem Konstrukt des inneren Beobachters*der inneren Beobachterin; dadurch können Erfahrungen bewusst werden, ohne den Patient*innen die volle Kontrolle darüber zu nehmen, wie viel sie an schmerzhaften Emotionen zulassen können und wollen (Reddemann, 2021).
Schluss und Ausblick Wir vermitteln unseren Patient*innen: »Menschen verfügen über die Fähigkeit der Selbstbeobachtung, Sie also auch. Wenn Sie möchten, können Sie diesen beobachtenden Teil von sich dazu fragen, ob er Ihnen etwas sagen oder zeigen kann, was in Ihnen hochkam, wenn Sie sich so aufgeregt und geängstigt haben.« Wenn es möglich wird, bearbeiten wir die traumatisierende Erfahrung
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mit dem BASK-Modell (»behaviour«, »affect«, »sensation«, »knowledge«) nach Braun (1988), und der*die innere Beobachter*in hilft dabei, genau die Distanz einzunehmen, die die Patient*innen brauchen. Nach dem Durcharbeiten der traumatisierenden Erfahrung ist es uns besonders wichtig, ausreichend Zeit zu nehmen für das, was wir »inneren Trost« nennen. Dabei verstehen wir uns als Unterstützerinnen dieses Prozesses, legen aber Wert darauf, dass das Ich von heute die (jüngeren) verletzen Anteile auch selbst tröstet und deren Leiden angemessen würdigt (Reddemann, 2016/2022, 2021). Auf diese Weise gelingt eine schonende Traumatherapie, die zunächst vor allem stabilisiert, sich reflexiv-parteilich für die Betroffenen positioniert und im Rahmen des Möglichen Traumarekonstruktion anbietet.
Literatur Braun, B. G. (1988). The BASK model of dissociation. Dissociation, 1 (2), 4–23. Briere, J. N. (1996). Therapy for adults molested as children. Beyond survival (2nd rev. ed.). New York: Springer. Federn, P. (1952/1956). Ichpsychologie und die Psychosen. Bern: Huber. Herman, J. L. (1992). Trauma and recovery. From domestic abuse to political terror. London: Harper Collins. Janet, P. (1889). L’Automatisme psychologique. Essai de psychologie expérimentale sur les formes inférieures de l’activité humaine. Paris: Alcan. urn:oclc:record:1048245157. Joksimovic, L., Bergstein, V., Rademacher, J., Schröder, M. (2019). Mentalisierungsbasierte Psychotherapie und Beratung von Geflüchteten. Grundlagen und Interventionen für die Praxis. Stuttgart: Kohlhammer. Keilson, H. (1979/2005). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Untersuchung zum Schicksal jüdischer Kriegswaisen (unveränd. Nachdr. der Erstausg.). Gießen: Psychosozial-Verlag. Mecheril, P. (2002). »Kompetenzlosigkeitskompetenz«. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen. In G. Auernheimer (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität (S. 15–34). Opladen: Leske + Budrich. Ottomeyer, K. (2011). Die Behandlung der Opfer. Über unseren Umgang mit dem Trauma der Flüchtlinge und Verfolgten. Stuttgart: Klett-Cotta. Reddemann, L. (2016/2022). Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren (23., unveränd. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Reddemann, L. (2021). Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie PITT®. Ein Mitgefühlsund Ressourcen-orientierter Ansatz in der Psychotraumatologie (11., vollst. überarb. u. erw. Neuaufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Reddemann, L., Joksimovic, L. (2021). Psychodynamic imaginative trauma therapy in the treatment of patients with social trauma. In A. Hamburger, C. Hancheva, V. D. Volkan (Eds.), Social trauma – An interdisciplinary textbook (pp. 107–114). Cham, Schweiz: Springer. Reddemann, L., Joksimovic, L., Kaster, S. D., Gerlach, C. (2019). Trauma ist nicht alles. Ein Mutmach- Buch für die Arbeit mit Geflüchteten. Stuttgart: Klett-Cotta. Roth, G., Stüber, N. (2018). Wie das Gehirn die Seele macht (überarb. u. erw. Neuaufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.
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Schröder, M., Joksimovic, L. (2017). Institutionelle Einflüsse auf die psychotherapeutische Arbeit mit geflohenen Menschen. In M. Borcsa, C. Nikendei (Hrsg.), Psychotherapie nach Flucht und Vertreibung: Eine praxisorientierte und interprofessionelle Perspektive auf die Hilfe für Flüchtlinge (S. 65–72). Stuttgart: Thieme. Varvin, S. (2017). Psychoanalytische Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen. In M. Leuzinger- Bohleber, U. Bahrke, T. Fischmann, S. E. Arnold, S. Hau (Hrsg.), Flucht, Migration und Trauma. Die Folgen für die nächste Generation (S. 153–174). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Wampold, B. E., Imel, Z. E. (2015). The great psychotherapy debate: Research evidence for what works in psychotherapy (2nd rev. ed.). New York: Routledge. Zehetmair, C., Tegeler, I., Kaufmann, C., Klippel, A., Reddemann, L., Junne, F., Herpertz, S. C., Friederich, H.-C., Nikendei, C. (2019). Stabilizing techniques and guided imagery for traumatized male refugees in a German state registration and reception center: A qualitative study on a psychotherapeutic group intervention. Journal of Clinical Medicine, 8 (6), Art. 894. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6617260/pdf/jcm-08-00894.pdf (Zugriff am 09.01.2023).
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Die Autor:innen
Birgit Behrensen, Prof. Dr., leitet das Fachgebiet »Soziologie für die Soziale Arbeit« an der Brandenburgischen Technischen Universität (BTU) Cottbus-Senftenberg. Im Rahmen ihrer anwendungsorientierten Forschungen beschäftigt sie sich seit dreißig Jahren mit gesellschaftlichen Dynamiken im Kontext globaler Fluchtund Migrationsbewegungen, mit Machtasymmetrien sowie mit Bildungs- und mit Teilhabefragen. Sie ist u. a. Mitglied im Rat für Migration und im Netzwerk Fluchtforschung. Maximiliane Brandmaier, Dr. phil., Diplom-Psychologin, promovierte Sozialpsychologin, befindet sich in der Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie) und zur Systemischen Therapeutin. Seit 2020 ist sie als Therapeutin im Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm tätig. Barbara Bräutigam, Prof. Dr. phil. habil., Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin für Familientherapie (DGSF), Supervisorin (DGSv), Integrative Kinder- und Jugendlichentherapeutin, ist Professorin für Psychologie, Beratung und Psychotherapie an der Hochschule Neubrandenburg. Sie ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Gesellschaft für Beratung (DGfB) und seit 2015 Delegierte der ostdeutschen Psychotherapeutenkammer. Conny Martina Bredereck, Sozialarbeiterin/-pädagogin (B. A., M. A.), ehemalige Schulsozialarbeiterin, arbeitet als freiberufliche Supervisorin (DGSv) und freie Dozentin, unter anderem an der Alice Salomon Hochschule (ASH) Berlin. Sie gibt für Lehrkräfte, Erzieher*innen und Schulsozialarbeiter*innen Fortbildungen zu den Themen traumasensible Arbeit und interkulturelle Öffnung an der Schule. Seit 2017 organisiert sie monatliche Erzählcafés für geflüchtete Menschen als eine besondere Form der biografischen Arbeit.
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Die Autor:innen
Silke Birgitta Gahleitner, Prof. Dr. phil. habil., ist seit 2005 Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit am Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention der Alice Salomon Hochschule (ASH) Berlin. Oliver Göbel, Studium der Sozialen Arbeit und Friedens- und Konfliktforschung in Köln und Marburg, ist seit 2020 für das Zentrum ÜBERLEBEN (Berlin) in der Sozial- und Aufenthaltsberatung tätig. Lisa Große, M. A., ist zertifizierte Fachsozialarbeiterin für Klinische Sozialarbeit. Sie war lange im ambulanten psychiatrischen Bereich tätig und von 2019–2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alice Salomon Hochschule (ASH) im Forschungsprojekt TraM. Elvira Hadžić, M. A. Kulturpoetik/Komparatistik, unterstützt als Projektleitung in einer großen Bildungsstiftung Hamburger Schulakteur:innen und Kolleg:in nen der Bildungsverwaltung bei Anliegen diversitätssensibler und diskriminierungskritischer Schulentwicklung. Davor arbeitete sie unter anderem als Sprachmittlerin in unterschiedlichen Kontexten mit geflüchteten und migrierten Menschen und vermittelte vor allem in Therapie- und Beratungsgesprächen, unter anderem in Psychosozialen Zentren, in den Sprachen Bosnisch, Serbisch und Kroatisch. Bernd Hanewald, Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Traumatherapeut (u. a. EMDR), ist Oberarzt und stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen (UKGM). Er leitet die Station für Depression und Traumafolgestörungen sowie die Tagesklinik und ist Dozent und Gutachter Laura Hertner, M. Sc. Psychologie, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin zu Auswirkungen von (Flucht-)Migrationsbezogenen Faktoren auf die psychische Gesundheit (inklusive Substanzkonsum) und erforscht Gesundheitsdienste hinsichtlich ihrer Barrieren für Menschen mit Migrationsgeschichte. Sie ist derzeit Promovendin der AG transkulturelle Psychiatrie an der Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Mitte.
Die Autor:innen
Ljiljana Joksimovic, Dr. med. (YU) M. san., ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, EMDR-Therapeutin und Psychoanalytikerin. Sie ist Chefärztin und Leiterin des LVR-Zentrums für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Niederrhein und Vorsitzende des Dachverbands für Transkulturelle Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum (DTPPP e. V.). Sie hat eine wissenschaftliche und klinische Expertise in der Arbeit mit Geflüchteten aus Kriegs- und Krisengebieten, die an den Folgen von »social trauma« leiden. Mohammed Jouni ist Referent der politischen Bildung, Diversity- und Empowerment-Trainer. Er hat die Selbstorganisation »Jugendliche ohne Grenzen« mitbegründet und arbeitet als Sozialarbeiter im BBZ – Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migrant*innen. Sladjana Kosijer-Kappenberg, Diplom-Psychologin, ist als niedergelassene Psychologische Psychotherapeutin, Traumatherapeutin, Supervisorin, Dozentin und als Lehrsupervisorin (TP) in Weiterbildung tätig. Eben Louw, Gesundheitspsychologe (M. Sc.), ist Supervisor, Systemischer Therapeut und Berater, Fachberater für Psychotraumatologie, Coach, Dozent, Trainer und Paartherapeut. Er ist Gründer von evolve now | Supervision | Beratung | Training. Seine Tätigkeitsschwerpunkte sind u. a. diversitätsorientierte Teamentwicklung, rassismussensible Beratung und Therapie, Antidiskriminierungsberatung und Beratung von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Matthias Müller, Prof. Dr. phil., Diplom-Sozialarbeiter/-Sozialpädagoge, Soziologe (Dr. phil.), ist Professor für Pädagogik, Sozialpädagogik und Hilfen zur Erziehung an der Hochschule Neubrandenburg, Case Manager/Case-Management-Ausbilder (DGCC), Dialogischer Qualitätsentwickler (KK). Er ist Sprecher der Fachgruppe Case Management in der Sozialen Arbeit (DGCC/DGSA). Marie Ortmann, Master Psychosoziale Beratung, Psychologin (B. Sc.), arbeitet seit 2021 im Bereich der Psychosozialen Beratung von Menschen mit Fluchthintergrund, Schwerpunkt Versorgung im Flächenland, seit 2023 Leitung Psychosoziales Zentrum in Neubrandenburg.
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Die Autor:innen
Luise Reddemann, Prof. Dr. med., Fachärztin für Nervenheilkunde und Fachärztin für psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytikerin, arbeitet seit 1985 mit schwer traumatisierten Menschen, seit Jahren auch mit alten Menschen, die an den Folgen der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs litten, also an »social trauma«. Regina Saile, Dr. rer. nat., approbierte Psychologische Psychotherapeutin, ist therapeutische Leiterin im Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm (BFU). Stefan Schmid, Prof. Dr., Diplom-Psychologe, arbeitet seit über zwanzig Jahren als Organisationsberater, Coach und Trainer in der Wirtschaft, für Behörden und Non-Profit-Organisationen. Er ist Professor für interkulturelle Psychologie und Wirtschaftspsychologie an der FOM München, Lehrcoach und zertifizierter Senior Coach (Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, BDP). Gemeinsam mit einer Kollegin leitet er die Initiative TAFF – Therapeutische Angebote für Flüchtlinge und ist Mitbegründer von EmicLab, einem interkulturellen Beratungsinstitut in Warschau. Ulrike Schneck, Diplom-Psychologin, Fachberaterin für Psychotraumatologie, Systemische Therapeutin und Familientherapeutin (DGSF), hat die fachliche Leitung bei Refugio Stuttgart e. V., psychosoziales Zentrum für traumatisierte Geflüchtete inne. Sie ist außerdem Mitglied des Vorstands der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e. V. (BAfF e. V.) in Berlin. Markus Stingl, PD Dr., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Psychotraumatologe (DeGPT), ist Leiter des Traumatherapiezentrums Gießen (UKGM) und mit einer eigenen Praxis (VT und TP) mit Behandlungsschwerpunkt Traumafolgestörungen niedergelassen. Er ist außerdem als Supervisor, Gutachter und Dozent in der Weiterbildung tätig. Natalia Tilton, Dr., ist Diplom-Dolmetscherin und Dozentin im Bereich Theorie und Praxis des Gemeindedolmetschens. Sie bildet ehrenamtliche Sprachmittler:innen in etwa vierzig Kommunen in Nordrhein-Westfallen aus. Für die Fortbildung von ehrenamtlichen Sprachmittler:innen hat sie neue, digitale Fortbildungsformate entwickelt und schreibt an ihrer Fachzeitschrift »Sprachmitte« für ehrenamtliche Sprachmittler:innen.
Die Autor:innen
Astrid Utler, Dr. rer. soc., Diplom-Psychologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Psychologie der Universität Bayreuth und als interkulturelle Trainerin und Beraterin tätig. Zusammen mit Stefan Schmid hat sie die fachliche Leitung der Initiative TAFF inne. Dorothea Zimmermann, Diplom-Psychologin, Psychologische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Supervisorin und Traumatherapeutin, ist Geschäftsführerin bei Wildwasser e. V. in Berlin. Sie ist Mitinitiatorin und langjährige Vorständin von BIG (Berliner Initiative gegen Gewalt gegen Frauen). Sie engagiert sich in der Fortbildungsarbeit zu sexueller und häuslicher Gewalt, Kinderschutz, interkultureller (Eltern-)Arbeit, selbstschädigendem Verhalten, Trauma, Flucht und Gewalt. Dima Zito, Dr. phil., ist Diplom-Sozialpädagogin, Traumatherapeutin, Systemische Therapeutin (DGSF), Psychodramatherapeutin und Supervisorin (SG). Sie war von 2003 bis 2022 im Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf angestellt, parallel Forschungs- und Lehrtätigkeit sowie Veröffentlichungen mit den Schwerpunkten Trauma und Flucht sowie Selbstfürsorge für Soziale Berufe. Aktuell arbeitet sie als freiberufliche Dozentin und Supervisorin mit eigener Praxis im Bergischen Land (www.zitovision.de).
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WOLLEN SIE TIEFER IN DAS THEMA EINSTEIGEN? ENTDECKEN SIE UNSERE REIHE
FLUCHTASPEKTE.
Herausgegeben von Maximiliane Brandmaier, Barbara Bräutigam, Silke Birgitta Gahleitner, Dorothea Zimmermann Migrations- und Fluchtbewegungen nehmen welt- und europaweit zu. Jedes Jahr kommen hunderttausende Menschen in Deutschland an, die Anspruch auf eine angemessene Begleitung und Unterstützung haben. Ziel der Reihe »Fluchtaspekte« ist es, psychosoziale Fachkräfte, Sprachmittler/-innen und ehrenamtlich Engagierte in ihrer Begegnung und Arbeit mit geflüchteten Menschen mit theoretischem Hintergrund- und nützlichem Praxiswissen zu unterstützen. Kompakte Handreichungen sollen die im Bereich der Flüchtlingsarbeit Tätigen für ihre vielfältigen, oft ganz neuen Aufgaben rüsten und neue Impulse in diesem Arbeitsbereich setzen. Die neusten Bände der Reihe: • Rassismussensible Beratung und Therapie von geflüchteten Menschen • Drohende Abschiebung • Migrationsfachdienste • Geflüchtete würdeorientiert begleiten • Stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung Geflüchteter
Mehr Informationen zur Reihe und eine Übersicht der gesamten Titel finden Sie auf: