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German Pages XII, 491 [480] Year 2021
Anne Kaplan Stefanie Roos Hrsg.
Delinquenz bei jungen Menschen Ein interdisziplinäres Handbuch
Delinquenz bei jungen Menschen
Anne Kaplan · Stefanie Roos (Hrsg.)
Delinquenz bei jungen Menschen Ein interdisziplinäres Handbuch Festschrift zur Emeritierung von Prof. Dr. Philipp Walkenhorst
Hrsg. Anne Kaplan Technische Universität Dortmund Dortmund, Deutschland
Stefanie Roos Technische Universität Dortmund Dortmund, Deutschland
ISBN 978-3-658-31601-3 (eBook) ISBN 978-3-658-31600-6 https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Die vorliegende Festschrift befasst sich mit dem Thema Jugenddelinquenz im Kontext sonderpädagogischer Möglichkeiten zur Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung straffällig gewordener junger Menschen. Es war und ist das „Leib- und Magenthema“ von Prof. Dr. Philipp Walkenhorst, dessen Engagement für delinquente Jugendliche während seiner gesamten aktiven Berufstätigkeit an den Universitäten Dortmund und Köln gewürdigt werden soll. Ich freue mich sehr darüber, das Vorwort zu dieser Festschrift verfassen zu dürfen. Den Kollegen Walkenhorst kenne ich nun seit 1995, als er an meinem Lehrstuhl für „Rehabilitation und Pädagogik bei psychischen und Verhaltensstörungen“ der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Universität Dortmund tätig war. In diesem sonderpädagogischen Lehr- und Forschungsgebiet legte Philipp Walkenhorst schon bei meinem Vorgänger, Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz Benkmann, seine Arbeitsschwerpunkte auf das Jugendalter, das nicht nur in der „Sonderpädagogik emotionaler und sozialer Entwicklung“ ein sträflich vernachlässigtes Themengebiet darstellt. Insbesondere die Gruppe delinquenter Jugendlicher sowie die pädagogische Arbeit mit diesen im Jugendstrafvollzug waren und sind bis heute ein wenig beachtetes Thema. Diesem Themengebiet nahm sich Philipp Walkenhorst bereits in den 1980er Jahren an, und ein erstes akademisches Ergebnis mündete in seine Dissertation mit dem Thema „Soziale Trainingskurse für straffällig gewordene Jugendliche“. Philipp Walkenhorst befasste sich nicht nur wissenschaftlich mit dem Thema „jugendliche Delinquenz, Jugendarbeit, Jugend-Sozialarbeit und Pädagogik in einem sogenannten guten Strafvollzug“. Er engagierte sich auch praktisch in Gefängnissen für Jugendliche, indem er universitäre Projekte im Rahmen von Seminaren mit Exkursionen für die Studierenden beispielsweise in die Jugendhafteinrichtung Iserlohn verband, was der damalige Leiter der JVA Iserlohn, Herr KarlHeinz Bredlow, nicht nur zuließ, sondern auch vielfältig unterstützte. Im Jahre 2003 wurde Philipp Walkenhorst vom Bundesministerium der Justiz als Mitglied in die fünfte Kommission zur Erstellung des Gesetzentwurfs für ein Bundesjugendstrafvollzugsgesetz berufen. Neben Kriminologen und Juristen vertrat er die pädagogischen Anliegen, die einen modernen, auf Resozialisierung und Inklusion ausgerichteten Jugendstrafvollzug kennzeichnen sollten. Entsprechende Ergebnisse dieser Kommissionsarbeit flossen unter anderem in die Gesetze zum Jugendstrafvollzug der Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Hessen ein. Zentral ist die Veränderung der Bezeichnung „Arrest“, ein Relikt
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Vorwort
aus der NS-Zeit, ideologisch belastet und ethisch heute nicht mehr vertretbar. Stattdessen wird der Begriff „stationäres soziales Training“ präferiert (siehe z. B. Schleswig-Holsteinischer Verband für soziale Strafrechtspflege, Straffälligenund Opferhilfe e. V., 2019). Das Ziel solcher stationären sozialen Trainings im Kontext des Jugendstrafrechts ist, erneuten Straftaten eines Jugendlichen bzw. heranwachsenden jungen Menschen präventiv zu begegnen. Solche Maßnahmen werden also prioritär am Erziehungsgedanken orientiert und stellen ein intensives, pädagogisch angelegtes sozial-emotionales Förderprogramm dar und folgen nicht einer „Abschreckungspädagogik“. Auch an der Universität zu Köln, an die Philipp Walkenhorst 2006 auf den Lehrstuhl für Erziehungshilfe und soziale Arbeit berufen wurde, setzte er sein Engagement für delinquente Jugendliche und deren sonderpädagogische Förderung mit dem dortigen Mitarbeitendenteam fort. Seine Lehrveranstaltungen fokussierten immer wieder das Thema delinquente Jugendliche sowie Jugendstrafrecht und die Notwendigkeit zur Veränderung der Situation in den Gefängnissen für Jugendliche. Dabei scheute er keine kritische Auseinandersetzung mit Studierenden, aber auch nicht mit Kolleginnen und Kollegen. Seine Art, die eigenen Standpunkte, durchaus auch provokant zu vertreten, war derart, dass die Diskussionen immer konstruktiv verliefen und man ihm nichts übelnehmen konnte. Seine Leidenschaft für das Thema „Delinquenz bei jungen Menschen“ und seine Beharrlichkeit, dieses Thema über Jahrzehnte zu verfolgen, und zwar zum Wohle straffällig gewordener Jugendlicher, rechtfertigen den Beinamen „Mutter Theresa der (jungen) Gefangenen“ (Michael J. Mentz, 2019, anlässlich der Abschiedsfeier im „Department Heilpädagogik in der Humanwissenschaftlichen Fakultät“ an der Universität zu Köln). Die Bandbreite des Themas Jugenddelinquenz und Sonderpädagogik schlägt sich in diesem Herausgeberinnenwerk von Anne Kaplan und Stefanie Roos nieder. Viele Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Disziplinen werfen aus ihrer je fachspezifischen Perspektive einen Blick auf dieses Thema. So entstand eine Festschrift, die mit der Themenvielfalt zur Jugenddelinquenz auch die vielfältigen wissenschaftlichen, praktischen und ehrenamtlichen Aktivitäten von Philipp Walkenhorst repräsentieren. Ich wünsche dem Werk eine gute Aufnahme in der Fachwelt, interessierte und engagierte Studierende, die die Beiträge des Werkes rezipieren, und eine große Verbreitung in der „Szene“. Bremen, im Juli 2020
Ulrike Petermann
Vorwort der Herausgeberinnen
Das vorliegende interdisziplinäre Handbuch zur Delinquenz bei jungen Menschen wurde aus dem Anlass der Emeritierung von Prof. Dr. Philipp Walkenhorst initiiert. Den hier Geehrten kann man als Menschen beschreiben, der sich stets leidenschaftlich für junge Menschen eingesetzt hat. Philipp Walkenhorst ging es eigentlich immer um das Jugend- und Heranwachsendenalter, denn er fand schon als Studierender der „Verhaltensgestörtenpädagogik“ bei Prof. Dr. Karl-Heinz Benkmann – später sein Doktorvater – an der Universität Dortmund, dass junge Menschen in der Sonderpädagogik als Zielgruppe vernachlässigt würden. Vielleicht war es sein Weg vom Sozialwissenschaftler mit einer kurzen „Zwischenstation“ am Lehrstuhl für Verkehrserziehung der Gesamthochschule Essen (Prof. Böcher) zur Sonderpädagogik bzw. „Verhaltensgestörtenpädagogik“ – und hier speziell zur „kriminalpädagogischen Linie“ – der Philipp Walkenhorsts interdisziplinäre und stets verbindende Denkweise, wenn nicht begründete, so doch zumindest befeuerte. Eine Rolle für seine ausgeprägte Fähigkeit, sozusagen „über den eigenen Tellerrand hinaus“ und aus den verschiedenen Fachdisziplinen – u. a. der Sonderpädagogik, der Kriminologie und der Sozialen Arbeit – pädagogische Förderansätze für junge (straffällig gewordene) Menschen zu begründen und abzuleiten, mögen sicher auch seine vielfältigen außeruniversitären Interessen und Aktivitäten gespielt haben. So ist Philipp Walkenhorst nicht nur leidenschaftlicher Jugendpädagoge und in früheren Jahren auch Jugendschöffe gewesen, sondern auch versierter (Reise-)Fotograf, Eisenbahnliebhaber (sei es die Transsibirische Eisenbahn oder seine Modelleisenbahn), Motorradfahrer, Akkordeonspieler und Kulturförderer als Vorsitzender des Vereins „Hände weg vom Stadtgarten Castrop e. V.“ in Castrop-Rauxel. Mit diesem Handbuch zur Jugenddelinquenz verfolgen wir im Wesentlichen drei Ziele: An erster Stelle möchten wir Philipp Walkenhorst und seine Verdienste um die pädagogische Ausgestaltung der deutschen Landschaft der Jugendstrafrechtspflege hervorheben und ehren (wir wissen, dass er selbst viel zu bescheiden wäre, sich hier in irgendeiner Weise in den Vordergrund zu stellen). Zweitens möchten wir in diesem Handbuch einen Teil seiner Weggefährt*innen über die Disziplingrenzen hinaus versammeln und zu Wort kommen lassen. Drittens möchten wir diese geballte Expertise und Interdisziplinarität nutzen, um die sehr komplexe Thematik der Jugenddelinquenz und die herausfordernde Aufgabe der pädagogischen Förderung junger straffällig gewordener Menschen erstmalig in einem
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Vorwort
der Herausgeberinnen
interdisziplinären Handbuch aus einer sonderpädagogischen – der Sonderpädagogik Emotionaler und Sozialer Entwicklung – Perspektive aufzuarbeiten. Dortmund im Juli 2020
Anne Kaplan & Stefanie Roos
Inhalt
A Einführung Anne Kaplan & Stefanie Roos Jugenddelinquenz als genuines Handlungsfeld der Sonderpädagogik Emotionaler und Sozialer Entwicklung? Einführendes zu einer interdisziplinären Perspektive ............................................................................... 3 B Interdisziplinäre Perspektiven auf Erziehung und Delinquenz bei jungen Menschen Roland Stein & Thomas Müller Zu einem Erziehungsbegriff der Sonderpädagogik emotionaler und sozialer Entwicklung ........................................................................................................ 29 Heinz Cornel Erziehung und Soziale Arbeit in strafrechtlichen Zwangskontexten .................. 45 Heribert Ostendorf Erziehung im Jugendstrafrecht ........................................................................... 65 Annika Krause & Manfred Wittrock Delinquenz im Jugendalter – (Bildungs-) Benachteiligung als mögliche Ursache und Anknüpfungspunkt: Eine sonderpädagogische Perspektive .......... 75 C Jugenddelinquenz und institutionelle Kontexte Clemens Hillenbrand & Marie-Christine Vierbuchen Jugenddelinquenz – (k)ein Thema der Schule für Erziehungshilfe?................... 91 Sabrina Hoops „Geschlossene Unterbringung“ in Heimen der Kinder- und Jugendhilfe als Reaktion auf Delinquenz?................................................................................. 109
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Inhalt
Stephanie Ernst & Theresia Höynck Jugendarrest statt Jugendbildungsstätte? Rechtliche Grundlagen und Daten einer empirischen Untersuchung zum Jugendarrest nach Verletzung der Schulpflicht......................................... 129 Frank Arloth & Tobias Witzigmann Der Erziehungsauftrag im Jugendstrafvollzug .................................................. 147 Frank Neubacher Befähigung zur Gewaltlosigkeit? – Die Gewaltprobleme des Jugendstrafvollzugs .................................................. 165 Anna Stossun & Luisa Flihs Übergänge aus hoch strukturierten Hilfen für junge Menschen – eine integrierende Betrachtung von Intensivpädagogischen Jugendhilfemaßnahmen, Jugendstrafvollzug und Kinder- und Jugendpsychiatrie ............................................................................................. 179 D Pädagogisches Handeln bei Jugenddelinquenz – Konzeptionelles und Praxisbeispiele Michael J. Mentz Das Jugendgefängnis als Lebensschule ............................................................ 201 Lisa Schneider Politische Bildung in Zwangskontexten – (didaktische) Überlegungen zu einer Kritischen politischen Bildung im Kontext des Jugend- und Jugendarrestvollzugs ........................................... 217 Sarah E. Fehrmann Der Jugendstrafvollzug: Strafende Räume oder gute Schule? Ein Plädoyer .... 231 Lisa Schneider & Rainer Zimmermann EXIT – EnterLife e. V. – Von einer Studierendeninitiative zum freien Jugendhilfeträger – Entstehungsgeschichte, Arbeitsgrundlagen, Irrwege und Ausblick ..................................................................................................... 241
Inhalt
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Sabine Schweer Sozialpädagogische Bausteine im Jugendvollzug – eine Kooperation zwischen Jugendvollzug und Universität ............................. 259 E Aktuelle Diskurse Birgit Herz & Jan Hoyer Teilhabechancen und -barrieren von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Beeinträchtigungen in der Kinder- und Jugendhilfe ..................... 273 Klaus Esser Vom Defizit zur Ressource – der Paradigmenwechsel in der stationären Kinder- und Jugendhilfe und seine Bedeutung für die Jugenddelinquenz ........ 289 Eckhart Knab Ressourcenorientierung in der Heimerziehung – eine Pilotstudie .................... 307 Reinhard Markowetz Jugenddelinquenz – Prävention und Entstigmatisierung durch Inklusion!? ..... 327 Bernd Holthusen Prävention – ein verlockendes Konzept mit Nebenwirkungen. Kritische Anmerkungen .................................................................................... 355 F Internationale und menschenrechtliche Perspektiven Jochen Goerdeler Grund- und Menschenrechte im Jugendstrafvollzugsrecht. Fragmentarische Gedanken zur Weiterentwicklung des Jugendstrafvollzugs .......................................................................................... 371 Michaela Emmerich Internationale Perspektiven Sozialer Arbeit ..................................................... 393 Christoph de Oliveira Käppler & Jonas Carvalho e Silva Zur Situation junger Menschen im Justizvollzug Brasiliens............................. 401
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Inhalt
G Zukünftige Entwicklungen Frieder Dünkel Jugendstrafvollzugsgesetzgebung in Deutschland – Anmerkungen und Reminiszenzen zur juristischen Bearbeitung eines erziehungswissenschaftlichen Feldes................................................................ 419 Wolfgang Wirth Jugendliche im Jugendstrafvollzug: Von quantitativen Rückblicken zu qualitativen Ausblicken .................................................................................... 443 Bernd Maelicke Resozialisierung und Zeitenwende ................................................................... 459 Karl-Heinz Bredlow Jugendvollzug – ein zukunftsträchtiges Instrument bei Jugenddelinquenz?..... 467 Autor*innen ...................................................................................................... 489
A Einführung
Jugenddelinquenz als genuines Handlungsfeld der Sonderpädagogik Emotionaler und Sozialer Entwicklung? Einführendes zu einer interdisziplinären Perspektive Anne Kaplan & Stefanie Roos
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Jugenddelinquenz in der Sonderpädagogik Emotionaler und Sozialer Entwicklung
Die fachliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Jugenddelinquenz füllt eine Reihe von Bänden (vgl. z. B. Schweder, 2016; Dollinger & Schmidt-Semisch, 2018) und kann auf Diskurse unterschiedlicher Disziplinen zurückgreifen (z. B. für die Kriminologie Walter & Neubacher, 2011; für die Soziale Arbeit Deimel & Köhler, 2020; für die Psychologie Beelmann & Raabe, 2007). Bisher aber wenig und vor allem nicht auf breiter Basis rezipiert wurde das Thema der Jugenddelinquenz in der Sonderpädagogik Emotionaler und Sozialer Entwicklung (Sonderpädagogik ESE). So wird die frühere „Kriminalpädagogische Linie” als eine historische Entwicklungslinie der Sonderpädagogik ESE (Myschker, 2009, S. 16), die als Brücke zwischen den Rechtswissenschaften und Erziehungswissenschaften fungierte (vgl. Peters, 1960, S. 4), heute nicht mehr verfolgt. Dabei werden innerhalb der Disziplin sowohl auf klassifikatorischer Ebene sogenanntes „sozialisiert-delinquentes Verhalten” (u. a. Myschker & Stein, 2018, S. 58) von Kindern und Jugendlichen als Form einer Verhaltensstörung als auch im Kontext der Handlungsfelder die „kriminalpädagogischen Institutionen” (z. B. bei Myschker, 2009, S. 16) als genuiner Teilbereich der Sonderpädagogik ESE geführt. Ebenfalls ist fachlicher Konsens, dass die Rechtswissenschaften – mit den Schwerpunkten der Kriminologie und Jugendkriminalität – sowie die Soziologie – insbesondere im Bereich der Devianzforschung – zentrale Nachbargebiete des interdisziplinär angelegten Feldes der Sonderpädagogik ESE darstellen (vgl. Hillenbrand, 2008, S. 43). Bereits im Jahre 1984 legten Myschker und Hoffmann in ihrem Studienbrief „Unterricht im Jugendstrafvollzug” eine Unterrichtskonzeption für die Schule im Jugendvollzug vor und betonten dabei explizit die Notwendigkeit einer emotionalen und sozialen Förderung junger inhaftierter Menschen (vgl. Myschker &
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_1
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Anne Kaplan & Stefanie Roos
Hoffmann, 1984, S. 13). Damit wird die Zugehörigkeit der „Kriminalpädagogischen Linie” als genuine Teildisziplin der Sonderpädagogik ESE markiert. Immerhin sind die Termini Jugenddelinquenz bzw. -kriminalität (Myschker, 2009; Mutzek, 2000; Myschker & Stein, 2018), Jugend(straf)vollzug bzw. Jugendarrest (Götze & Neukäter, 1989; Gasteiger-Klicpera, Julius & Klicpera, 2008; Wember, Stein & Heimlich, 2014) oder Jugendstrafrechtspflege (Ahrbeck & Willmann, 2010) in jedem einschlägigen Handbuch bzw. jeder Enzyklopädie der Sonderpädagogik ESE – mal mit einer Betrachtung als Handlungsfeld, mal als Phänomen – präsent. Auch findet an einigen Lehrstühlen im Bereich der Sonderpädagogik ESE eine vertiefende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Jugenddelinquenz und verwandten Inhalten statt. Als „Vorreiter” ist hier sicher Philipp Walkenhorst zu nennen, dem dieses Handbuch gewidmet ist und der seit den frühen 1990er Jahren – zunächst an der Universität Dortmund, dann an der Universität zu Köln – im Bereich der erzieherischen Ausgestaltung der Jugendstrafrechtspflege forschte sowie stets eine stärkere Befassung der Sonderpädagogik ESE damit nachdrücklich gefordert hat (aktuell wieder: Walkenhorst, 2019). Unter anderem auch in den Fachgebieten der Sonderpädagogik ESE der Universitäten in Würzburg und Oldenburg gab es verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzungen im Bereich der Jugenddelinquenz und Jugendstrafrechtspflege – zu nennen ist hier z. B. die Arbeit von Annika Krause (Universität Oldenburg), die über Bildung und Förderung im Kontext von Jugenddelinquenz und Strafvollzug forscht und die auch in diesem Handbuch (zusammen mit Manfred Wittrock) mit einem Beitrag vertreten ist. Als weitere Beispiele von – zwar vereinzelten, aber fachlich einschlägigen – Verknüpfungen der Sonderpädagogik ESE mit dem Themenspektrum der Jugenddelinquenz sind die Forschungen von Lisa Schneider an der Universität Siegen zur politischen Bildung im Jugendvollzug – ein absolutes Forschungsdesiderat –, die Masterarbeit von Anna Stossun (Universität Frankfurt a. M.) zum Thema der Partizipation im Jugendvollzug sowie das Promotionsvorhaben von Sarah Fehrmann (ehemals Universität Köln) zu strafenden Räumen im Jugendvollzug zu nennen – alle Genannten sind auch in dem vorliegenden Handbuch vertreten. Gegenwärtig kommt (wieder) – maßgeblich initiiert durch Philipp Walkenhorst – Bewegung in die ehemalige „kriminalpädagogische Linie” des Faches. So hat sich im Jahr 2019 innerhalb des Faches und im Rahmen der jährlich stattfindenden sogenannten “Bundesdozierendenkonferenzen” der Arbeitskreis (jugend)kriminologisch arbeitender Sonderpädagog*innen unter den Arbeitstiteln „Jugenddelinquenz/Jugendstrafvollzug/Strafvollzug” gebildet. Nach einem ersten Austausch dieser Gruppe während der Dozierendenkonferenz 2019 in Berlin fand Anfang 2020 ein weiteres Treffen des Arbeitskreises als „Fachtag Strafvollzug” in Hannover statt. Hier haben sich die Teilnehmenden darauf verständigt, dass die
Jugenddelinquenz als genuines Handlungsfeld der Sonderpädagogik ESE?
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Thematik der Jugenddelinquenz und die (pädagogische) Arbeit mit jungen Menschen, die sich in Einrichtungen der Jugendstrafrechtspflege befinden, genuine Bestandteile der Sonderpädagogik ESE sind (vgl. unveröffentlichtes Kurzprotokoll zum Fachtag „Strafvollzug”, 2020). Daneben wurde 2019 die erste Ausgabe des neuen Fachjournals der Sonderpädagogik ESE1 als Themenheft zu dem Titel „Gemeinsam & Verschieden: Was sind Spezifika des Faches ‚ESE’?” veröffentlicht. In dem dort enthaltenen Positionspapier zum Selbstverständnis der Forschenden und Lehrenden des Faches wird die Jugendstrafrechtspflege als genuines Fördersystem der Disziplin genannt (Bleher & Gingelmaier, 2019, S. 97). Zudem soll in der Lehrer*innenbildung im Lehramt Sonderpädagogik ESE der Strafvollzug als Handlungsfeld Berücksichtigung finden (Bleher & Gingelmaier, 2019, S. 99). Insofern weist dieses Handbuch sowohl in seinem gewidmeten Zweck – als Festschrift zur Emeritierung Philipp Walkenhorsts – als auch thematisch – die Betrachtung der Jugenddelinquenz aus interdisziplinärer Perspektive mit besonderem Bezug zur Sonderpädagogik ESE – eine gute Passung zum aktuellen Diskurs in der Sonderpädagogik ESE auf. 2
Jugenddelinquenz und (sonder-)pädagogische Bezüge
Für eine weitere Betrachtung von Jugenddelinquenz im Kontext der Sonderpädagogik Emotionaler und Sozialer Entwicklung (ESE) ist eine Definition und Erläuterung des Phänomens erforderlich. Davon ausgehend soll versucht werden herauszuarbeiten, was der „Mehrwert”, also die besondere Expertise und Potenziale der Sonderpädagogik ESE für die Beschreibung, Erforschung und den Umgang mit Jugenddelinquenz ist. Bewusst wird hier der Begriff der „Jugenddelinquenz”, der auch im Titel des Bandes enthalten ist, verwendet. Damit möchten die Herausgeberinnen den jugendtypischen Charakter straffälligen Verhaltens junger Menschen unterstreichen und das Phänomen abgrenzen von den Straftaten Erwachsener, die in der Summe weit weniger bagatellhaft und deutlich schadensintensiver sind als die Folgen der Jugenddelinquenz (vgl. Heinz, 2003, S. 37).
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„ESE – Emotionale und Soziale Entwicklung in der Pädagogik der Erziehungshilfe und bei Verhaltensstörungen”
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Anne Kaplan & Stefanie Roos
Definition von Jugenddelinquenz
Die Jugenddelinquenz gibt es an sich nicht. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen sehr dynamischen Begriff, der im Wesentlichen von der jeweiligen rechtlichen Deliktdefinition abhängt, also davon, was in einem Rechtssystem als verboten und erlaubt festgelegt wird (vgl. Walter & Neubacher, 2011, S. 19). Es besteht daher ein relativer fachlicher Konsens, dass (Jugend-)Delinquenz keine natürliche Gegebenheit ist, sondern gesellschaftlich hergestellt wird und damit dem gesellschaftlichen Wandel unterliegt. Dollinger und Schabdach (2013, S. 9) sprechen von Jugenddelinquenz als „diskursive Konstruktion”. Sie machen zurecht darauf aufmerksam, dass die Betrachtung des Phänomens der Jugenddelinquenz immer auch mit einer inhaltlichen Positionierung verbunden ist und ein „Wissenskanon” in diesem Bereich nur teilweise existiert (vgl. Dollinger & Schabdach, 2013, S. 9). Innerhalb dieses Wissensbestandes gilt gegenwärtig als gesichert, dass Jugenddelinquenz normal, ubiquitär und episodenhaft ist, wie auch Hoops es im vorliegenden Handbuch verdeutlicht. Damit ist gemeint, dass Jugenddelinquenz, zumindest in leichterer Form, zum Aufwachsen dazu gehört und relativ unabhängig von der Positionierung im sozialen Raum verbreitet ist („Ubiquität”) (vgl. Walter & Neubacher, 2011, S. 28). Sie ist also „insbesondere bei Männern und bei weniger schwerwiegenden Delikten, nicht der Ausnahme-, sondern der Regelfall” (Dollinger & Schabdach, 2013, S. 10). Zudem ist sie ein temporär auftretendes Phänomen („Episodenhaftigkeit”), das sich auf die Phase der Adoleszenz beschränkt (vgl. hierzu Walkenhorst & Meuter, 2020, S. 43). Statistisch wird dieser Umstand durch die sogenannte „Alters-Kriminalitäts-Kurve” repräsentiert, die auch in der Betrachtung über Jahrzehnte hinweg stets „linksgipfelig” ist, also die höchsten Delinquenzraten in jungen Lebensaltern aufweist, dann aber ausläuft. Mit anderen Worten: Jugenddelinquenz „wächst sich aus” (Ostendorf, 2018, S. 169; Heinz, 2003, S. 33 f.). Gegenwärtig befindet sich die Jugenddelinquenz quantitativ und qualitativ auf historisch niedrigem Stand (vgl. auch Ostendorf, 2018, S. 165). Die aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) – deren Daten nur sehr bedingt aussagekräftig sind – weist insgesamt 177.082 jugendliche (14 bis unter 18-jährige) Tatverdächtige (8,8 % der Gesamtkriminalität) und 177.774 heranwachsende (18 bis unter 21-jährige) Tatverdächtige (ebenfalls 8,8 % der Gesamtkriminalität) aus (BKA, 2019, S. 12). Im Vergleich mit dem Bild von vor zehn Jahren wird die quantitative Abnahme deutlich: Die PKS von 2009 wies hier noch 248.702 jugendliche Tatverdächtige (11,3 %) und 227.847 heranwachsende Tatverdächtige (10,5 %) aus (BKA, 2009, S. 72). Bestätigt wird dieser Eindruck in dem viel beachteten Gutachten von Pfeiffer, Baier und Kliem zur Entwicklung von (Jugend-)Gewalt in Deutschland. Demnach
Jugenddelinquenz als genuines Handlungsfeld der Sonderpädagogik ESE?
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ist die Jugenddelinquenz in den letzten zehn Jahren um 30-50 % zurückgegangen – und zwar nicht nur im Hellfeld, sondern nachgewiesen auch für das Dunkelfeld im Rahmen von sogenannten Dunkelfeldstudien (Pfeiffer, Baier & Kliem, 2018, S. 11 ff.). Die in der öffentlichen Wahrnehmung überzeichnete Häufigkeit und Schwere von Jugenddelinquenz – oftmals flankiert von einer skandalisierenden medialen Aufbereitung – ist somit also nicht haltbar (vgl. Walkenhorst & Meuter, 2020, S. 45). Noch offen ist an dieser Stelle, wer, also welche Altersgruppen, mit dem Begriff der Jugenddelinquenz im Einzelnen umschrieben werden. Hier erweist sich als problematisch, dass sich die Phase der Adoleszenz – entwicklungspsychologisch, pädagogisch, soziologisch – nicht eindeutig eingrenzen lässt, da es die Jugend oder die Adoleszenz nicht gibt, denn „die Population von Jugendlichen ist sehr heterogen” (Flammer & Alsaker, 2002, S. 22; ebenso Scherr, 2018, S. 29). Gemäß der Definition des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) kann als Jugendliche*r definiert werden, wer zur Zeit der Tat 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist und als Heranwachsende, wer zur Zeit der Tat 18, aber noch nicht 21 Jahre alt ist (§ 1 Abs. 2 JGG). Eine weiter gefasste Definition legt das SGB VIII zu Grunde. Hier werden 14 bis unter 18-Jährige als jugendlich, 18 bis unter 27-Jährige als junge Volljährige und allgemein als junger Mensch, wer noch nicht 27 Jahre alt ist, definiert (§ 7 Abs. 1 SGB VIII). Es bietet sich durchaus an, dem SGB VIII zu folgen und von „junger Mensch” zu sprechen, denn dieser Begriff beschreibt relativ umfassend alle Altersgruppen ab 14 Jahren – das Alter, in dem die Strafmündigkeit einsetzt und strafrechtliche Folgen und Sanktionen erst möglich werden – und bezieht Jugendliche, Heranwachsende und junge Volljährige gleichermaßen ein. Außerdem handelt es sich hier um einen Begriff, der – losgelöst von rechtlichen Definitionen und Zuweisungen – wenig stigmatisiert und die Entwicklungstatsache unterstreicht. 2.2
Legitimationslinien für pädagogisches Handeln bei Jugenddelinquenz
Pädagogisches Handeln bei Jugenddelinquenz fußt auf verschiedenen Begründungssträngen und Legitimationsgrundlagen, die im Folgenden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – vorgestellt und erläutert werden sollen. Rechtspositivistisch argumentiert und eng begrenzt auf strafrechtlich relevantes und bekannt gewordenes Verhalten junger Menschen ergibt sich der Auftrag zu pädagogischem Handeln aus § 2 Abs. 1 JGG. Demnach sind alle jugendstrafrechtlichen Maßnahmen „vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten”. Mit „Maßnahmen” ist die dreigliedrige Reaktionenfolge des JGG angesprochen, die sowohl die Erziehungsmaßregeln umfasst – also alle ambulanten Maßnahmen
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Anne Kaplan & Stefanie Roos
gemäß §§ 9 ff. JGG wie Täter-Opfer-Ausgleich und Sozialer Trainingskurs –, als auch die Zuchtmittel – im Wesentlichen den Jugendarrest (§ 16 JGG) als kurzzeitige stationäre Reaktion – sowie die Jugendstrafe gemäß § 17 JGG, vollstreckt in den Jugendvollzugseinrichtungen der Länder, wenn nicht zur Bewährung ausgesetzt. Der gesetzliche Auftrag besteht darin, diese Maßnahmen und Einrichtungen am Erziehungsgedanken auszurichten und somit auch pädagogisch auszugestalten. Für den Jugendarrest und den Jugendvollzug hat dieser Auftrag zudem Niederschlag in den einschlägigen Regelungen der Landesjugendarrest- bzw. Landesjugendvollzugsgesetze gefunden (z. B. §§ 4, 5 JAVollzG Schleswig-Holstein; § 5 HessJStVollzG), an denen Philipp Walkenhorst zum Teil maßgeblich mitgewirkt hat, wie auch Jochen Goerdeler es in diesem Handbuch beschreibt. Zudem verbrieft das SGB VIII in § 1 allen jungen Menschen bis unter 27 Jahre sehr universell – und zunächst unabhängig von einem möglichen institutionellen Rahmen – das Recht auf Erziehung und Förderung der Persönlichkeit. Auf der Ebene der Institutionen, in denen sich junge, delinquent gewordene Menschen befinden, bzw. denen sie zugewiesen werden, wäre als „klassischer” Ort die Jugendstrafrechtspflege und mit ihr alle ambulanten sowie stationären Maßnahmen sowie Einrichtungen, wie sie oben genannt wurden, anzuführen. Der hier zu Ehrende hat darüber hinaus ein „Säulenmodell” professionell (pädagogischer) Unterstützungssysteme bei Jugenddelinquenz genutzt (vgl. z. B. Walkenhorst & Meuter, 2020, S. 44 f.). Demnach sind als weitere Orte, in denen mit jungen Menschen (auch) delinquenzspezifisch gearbeitet wird, zu nennen: Die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe – insbesondere (aber nicht nur) die Hilfen zur Erziehung gemäß §§ 27 ff. SGB VIII –, die ambulanten, teilstationären und stationären Einrichtungen der Kinder– und Jugendpsychiatrie sowie das Schulsystem mit seinen inklusiven- und Förderschulen. Alle genannten Orte unterliegen einem (mehr oder weniger) expliziten pädagogischen Förderauftrag2. In entwicklungspsychologischer Hinsicht kann als Legitimation für pädagogisches Handeln zunächst die „Entwicklungstatsache” (Bernfeld, 1973) herangezogen werden. Demnach baut Erziehung die Brücke zwischen Entwicklungsbedürftigkeit und freier Entfaltung der Persönlichkeit (vgl. hierzu auch Kaplan & Schneider, 2020, S. 195). Darüber hinaus stellt pädagogisches Handeln hier Lerngelegenheiten bereit, um die für deviantes – auch delinquentes – Verhalten besonders vulnerable Phase der Adoleszenz (u. a. Resch et al., 1999) zu begleiten und junge Menschen in der Entwicklung einer selbstständigen Persönlichkeit zu unterstützen (im Einzelnen dazu vgl. z. B. Fend, 2005). 2 Eine Argumentationsstruktur für die Vernetzung der genannten Hilfesysteme inklusive einer inhaltlichen und rechtlichen Erläuterung findet sich im Abschlussbericht der Enquetekommission III des Landtags NRW (2010).
Jugenddelinquenz als genuines Handlungsfeld der Sonderpädagogik ESE?
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Unter Bezug auf eine erziehungswissenschaftliche Legitimation ist zunächst zu konstatieren, dass pädagogisches Handeln immer normativ gebunden ist (vgl. Speck, 1996, S. 37). Somit repräsentieren die Werte, die als „gut” und förderungswürdig erachtet werden, Menschen gemachte Setzungen (Brezinka, 1977, S. 90) und sind dynamisch3. Erziehung – und damit auch pädagogisches Handeln – kann also erstens keinen Neutralitätsanspruch einlösen und geht zweitens – ob offenkundig oder implizit – immer von einem bestimmten Bild menschlicher Entwicklung und menschlichen Verhaltens aus (hierzu Kaplan & Schneider, 2020, S. 196). Einem gegenwärtig etablierten Konsens folgend, der auf den allen Menschen zugesicherten Rechten des Grundgesetzes beruht, müsste mit pädagogischem Handeln, auch und gerade bei Delinquenz, die Förderung der Persönlichkeit und Sicherung der Teilhabe an dieser Gesellschaft verfolgt werden. So hat es im Übrigen auch Philipp Walkenhorst stets bekräftigt (z. B. Walkenhorst, 2004). Oben wurde verdeutlicht, dass Jugenddelinquenz immer auch gesellschaftliche Probleme abbildet bzw. oft für gesellschaftliche Probleme „herhalten” muss, die nicht – oder zumindest nicht ausschließlich – „Jugendprobleme” sind. Scherr (2018, S. 27-29) verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der „JugendProblem-Diskurse” und verdeutlicht die damit verbundene Schwierigkeit der Generalisierung bzw. Homogenisierung von jugendlichen Lebenslagen und Unterschlagung sozial ungleicher Lebenslagen (Scherr, 2018, S. 29). Pädagogisches Handeln bei Jugenddelinquenz unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Dimension müsste zum einen den unterschiedlichen Lebenslagen junger Menschen Rechnung tragen – mit Blick auf die oben genannten institutionellen Kontexte sowie die aktuelle Datenlage ist zu konstatieren, dass es überwiegend sozial marginalisierte junge Menschen sind, die aufgrund delinquenten Verhaltens spezifischen (jugendstrafrechtlichen) Institutionen und Maßnahmen zugewiesen werden4. In einer (auch) gesellschaftlich verorteten Pädagogik müssten somit die Lebenslagen der jungen Menschen zum Ausgangspunkt der inhaltlichen Arbeit gemacht werden (vgl. hierzu Scherr, 1997, S. 51). Somit würden Themen wie z. B. Prozesse gesellschaftlicher Ein- und Ausschlüsse, Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen, Geldprobleme, Arbeits- und Wohnungslosigkeit (vgl. Kaplan & Schneider, 2019a, S. 207) in den Vordergrund rücken, die es pädagogisch zu bearbeiten gilt.
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Zur Bedingtheit rechtlicher Erziehungsdefinitionen von gesellschaftlich geltenden und sich wandelnden Erziehungsverständnissen siehe Ostendorf in diesem Band. 4 Zum Zusammenhang zwischen Delinquenz und sozialer Marginalisierung vgl. z. B. Kaplan & Schneider, 2020, S. 196-197; ebenso nehmen Annika Krause und Manfred Wittrock in diesem Band eine strukturelle Perspektive ein.
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Die Rolle der Sonderpädagogik Emotionaler und Sozialer Entwicklung
In der Sonderpädagogik ESE gibt es für das Feld der pädagogischen Förderung im Kontext von Jugenddelinquenz eine fundierte und von anderen Fachrichtungen abgrenzbare Expertise. Hervorzuheben ist hier vor allem die diagnostische Kompetenz, die sich insbesondere, aber nicht ausschließlich, in der Erstellung von sonderpädagogischen Gutachten und in der unterrichtlichen Förderung von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf niederschlägt5. Eine weitere Kernkompetenz der Sonderpädagogik ESE wird durch das umfassende (Handlungs-)Wissen über den professionellen pädagogischen Umgang mit (zum Teil massiv) herausfordernden Situationen repräsentiert. Philipp Walkenhorst bringt das Alleinstellungsmerkmal des Faches folgendermaßen auf den Punkt: [...] so ist dieses [das Alleinstellungsmerkmal, Anm. d. Verf.] vielleicht darin zu finden, dass hier unter Einbezug der störungsspezifischen Merkmale und Beeinträchtigungen im Einzelfall hoch individualisierte methodisch-didaktische Ansätze zur Vermittlung von Bildung bzw. Bildungsinhalten in meist erschwerten Lebenslagen und eben genau für die Bewältigung derselben entwickelt, erprobt und formativ wie summativ evaluiert werden. So ist eine besondere Stärke bzw. möglicherweise auch ein Alleinstellungsmerkmal des Faches in der Funktion des (pädagogischen) Impulsgebers, von Innovation, Konzeptentwicklung für die benannten Zielgruppen in den unterschiedlichen ambulanten und stationären Settings der ‚Säulen professioneller Erziehung’ zu sehen. (Walkenhorst, 2019, S. 11)
Eine weitere „Stärke” des Faches, wie Walkenhorst es hier nennt, ist darin zu sehen, dass seine zentrale Bezugsinstitution – die inklusive- und Förderschule – im Prinzip alle jungen Menschen erreicht und somit eine „wesentliche Bedeutung für die Verteilung sozialer Chancen und die psychosoziale Entwicklung des Menschen besitzt” (Walkenhorst & Bihs, 2011, S. 254). Hieraus erwächst allerdings auch eine besondere Verantwortung, der gerecht zu werden, in der Sonderpädagogik ESE zuweilen nicht gelingt, wie weiter unten deutlich wird. Neben diesen sehr eindeutigen Expertisen weist die Sonderpädagogik ESE auch Versäumnisse und „blinde Flecken” im Bereich von delinquentem Verhalten sowie der Förderung junger, straffällig gewordener Menschen auf. Zum einen fehlt es teilweise an einer Auseinandersetzung mit pädagogischen, auch erziehungswissenschaftlichen, Grundfragen, wie Lindmeier (2010, S. 23) im Handbuch der
5 Für eine umfassende Darstellung sonderpädagogischer Kompetenzen vgl. z. B. Myschker & Stein, 2018, S. 212 ff.
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Pädagogik bei Verhaltensstörungen (Ahrbeck & Willmann, 2010) resümiert6. Lindmeiers Urteil kann zumindest insofern heute noch als aktuell gewertet werden, als dass ein Diskurs um pädagogisches Handeln unter Bedingungen von Unfreiheit – wie es beispielsweise Cornel in diesem Band für die Handlungsfelder der Sozialen Arbeit und nicht nur in Bezug auf das Gefängnis ausführt – (noch7) nicht vertiefend stattfindet. Bisher kaum diskutiert und reflektiert wird in der Sonderpädagogik ESE auch, inwieweit (inklusive und Förder-)Schule selbst einen Zwangskontext repräsentiert, welche (Ohn-)Machtkonstellationen („strukturelle Barrieren”, BMFSFJ, 2017, S. 194) sie im Gefüge von Lehrenden, Lernenden, Eltern, Angehörigen und Gesellschaft aufweist (vgl. hierzu Gomolla & Radtke, 2009) und möglicherweise auch reproduziert und welche Rolle die Sonderpädagogik ESE, die ja selbst das „Label” des emotionalen und sozialen Förderbedarfs vergibt (zum EtikettierungsRessourcen-Dilemma in der Sonderpädagogik ESE vgl. Bach, 1989), inne hat. Die hier hervorgehobene Expertise der Sonderpädagogik in den Bereichen der (Förder-)Diagnostik und Pädagogik in herausfordernden Situationen kann für eine Pädagogik bei Jugenddelinquenz eine zentrale Komponente darstellen. Insbesondere in den stationären Einrichtungen der Jugendstrafrechtspflege mangelt es an einer Diagnostik, die auf das Ausloten von Räumen für akademisches, emotionales und soziales Lernen gerichtet ist, wie es die sonderpädagogische Förderdiagnostik auszeichnet (Bundschuh, 2008, S. 159 f.). Es ist in dem Zusammenhang auch erstaunlich, dass sonderpädagogische Lehrkräfte in den vollzugsinternen Schulen deutschlandweit die absolute Minderheit repräsentieren – obwohl junge inhaftierte Menschen, die einen Förderbedarf im Bereich Lernen oder ESE aufweisen, im Jugendvollzug überrepräsentiert sein dürften, so wie es im Jahr 2013 zumindest für den Jugendarrest nachgewiesen wurde (Bihs, 2013). Auch psychische Auffälligkeiten, wie Aufmerksamkeits–/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), zeigen sich unter jungen Menschen, die straffällig geworden sind, überproportional. So liegt die Prävalenz von ADHS bei dieser Personengruppe bei etwa 45 % (z. B. Just et al., 2017; Rösler et al., 2004).8 Der Übergang im Rahmen der
6 Als ein Vorstoß zur näheren Auseinandersetzung des Faches mit einem Erziehungsbegriff ist hier der Band „Erziehung als Herausforderung. Grundlagen für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen” von Thomas Müller und Roland Stein (2018), die hier auch mit einem Beitrag vertreten sind, zu nennen. 7 Das Protokoll des 1. Arbeitstreffens der Strafvollzugsgruppe nimmt das als Thema/Forschungsdesiderat auf. 8 Kritisch zu bedenken gilt es hier folgendes: „Diese Art der Symptomüberlappung (Kriminelles oder delinquentes Verhalten als Symptom von psychischen Störungen) ist auch als künstliche Komorbidität bekannt. Wenn Verhaltensdevianzen in den Klassifikationssystemen mit Symptomen von psychischen Störungen gleichgesetzt oder „vermischt“ (Kriminalität =psychisches Symptom) werden,
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Transition vom Kindes- zum Erwachsenenalter ist bei jungen Menschen mit ADHS „(…) allein schon aufgrund der erhöhten Impulsivität, häufig nicht so gut strukturiert, es fällt ohnehin schwer, den Alltag gut zu organisieren und zu bewältigen und es wird Selbstständigkeit erwartet, die nur begrenzt vorhanden ist“ (Roos & Stetinova-Popitz, 2020, S. 12). Die stark problembehafteten Biografien von inhaftierten jungend Menschen liefern Hinweise, dass sie in ihrer Entwicklung deutlich mehr psychosozialen Belastungen ausgesetzt waren, als junge Menschen in der Allgemeinbevölkerung, was Köhler et al. in diversen Studien bestätigen konnten (Köhler et al., 2009; Köhler et al., 2012a, 2012b). Ganz unabhängig von einem personenbezogenen „Labeling” weist dies darauf hin, dass eine angemessene Professionalisierung des Personals in Arrest- und Jugendvollzugsanstalten, unerlässlich ist, auch um Alltag und Freizeit entwicklungsförderlich gestalten zu können (siehe auch Walkenhorst, Roos & Kaplan, 2006). Daneben wurden in der Sonderpädagogik ESE zahlreiche Konzepte und Methoden zur pädagogischen Arbeit im Bereich von und zum Umgang mit herausfordernden Situationen entwickelt.9 Gerade für Kontexte – ambulant und stationär –, in denen mit jungen Menschen gearbeitet wird, die in der Vergangenheit sehr herausfordernde Verhaltensweisen gezeigt haben, ist der Einsatz solcher Konzepte essentiell, um einen Rahmen für pädagogisches Arbeiten überhaupt erst kreieren zu können, junge Menschen bestmöglich zu fördern und als pädagogische Fachkraft selbst nicht zu Schaden zu kommen.10 Andererseits lässt dieser, um es mit Philipp Walkenhorst zu umschreiben, „hochindividualisierte” Blick der Sonderpädagogik ESE – Moser (2000, S.190) wählt hier kritischer die Umschreibung des „sonderpädagogische[n] Subjekt[s], das in einem Diskurs um Pathologien gewonnen wurde” – Diskurse, die strukturelle und gesellschaftliche Komponenten sowie Bedingungen des Faches thematisieren, durchaus vermissen. So werden die sozialen Strukturen, innerhalb derer die adressierten jungen Menschen positioniert sind, wenig beleuchtet. Auch die Bedeutung dieser Strukturen für die sonderpädagogische Diagnostik und Förderung spielen eher eine untergeordnete Rolle. Dies ist insofern erstaunlich, als dass das Paradigma der Intersektionalität – also der multiplen gesellschaftlichen Ausschließung und Diskriminierung (vgl. Degele, 2019) –, das hier einen weiterführenden theoretischen Rahmen bieten könnte, gerade im Kontext der UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 und des darauf basierenden Inklusionsgedankens befinden wir uns in einem tautologischen Prozess, in dem es zu erhöhten Prävalenzraten bestimmter Störungen in der Täter-Population führen kann.” (Köhler & Müller, 2016, S. 159). 9 Für eine Übersicht über sonderpädagogische Konzepte und Programme im Bereich der Förderung sozialer und emotionaler Entwicklung siehe Goetze, 2010. 10 Eine erste Idee zur Verknüpfung der sonderpädagogischen Expertise im Bereich des sogenannten „Classroom Managements” mit dem Feld der Jugenddelinquenz findet sich bei Kaplan & Schneider (2019b).
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– originär sonderpädagogische Themen – stark diskutiert wurde (vgl. hierzu Graumann, 2012; Bielefeldt, 2009). Damit einhergehend wurde ein Paradigmenwechsel weg vom medizinischen Modell von Behinderung hin zu einem sozialen Behinderungsmodell (Graumann, 2012, S. 83) bzw. die „Überwindung des Defizit-Ansatzes” (Bielefeldt, 2009, S. 6) attestiert. Dieser und ähnliche Diskurse haben sich in der Sonderpädagogik ESE kaum wiedergefunden, obschon Annika Krause und Manfred Wittrock mit ihrem Beitrag zur Bildungsbenachteiligung in diesem Band hier eine Brücke schlagen. Dies soll auch allgemein Zweck und Tenor dieses Werkes sein: die Verbindung unterschiedlicher Expertisen und verschiedener Disziplinen, um der seit jeher interdisziplinär diskutierten Thematik der Jugenddelinquenz und der daraus erwachsenden komplexen Aufgabenstellung der Förderung junger Menschen gerecht werden zu können. Wir Herausgeberinnen glauben, dass die Sonderpädagogik ESE für diese Aufgabe eine besondere Bereicherung ist und, wie dargestellt, spezifische Potenziale aufweist. Aus diesem Grunde und zur Ehrung Philipp Walkenhorsts, der sich selbst stets in dem Fach verortet hat, haben wir versucht, mit dem vorliegenden Handbuch die Breite der Thematik unter Berücksichtigung der sonderpädagogischen Expertise im Rahmen der verschiedenen Beiträge abzubilden. 3
Aufbau und Beiträge des Handbuchs
Im sich anschließenden Teil B werden daher Erziehung und Delinquenz bei jungen Menschen aus einer interdisziplinären Perspektive betrachtet. Roland Stein und Thomas Müller (Universität Würzburg) skizzieren ein sonderpädagogisches (und damit pädagogisches) Verständnis von Erziehung. Die Autoren bemängeln, dass es hierzu – auch in der Sonderpädagogik emotionaler und sozialer Entwicklung – erstaunlich wenige Grundlegungen, Diskussionen und Problematisierung gibt. Jugendstrafe als sogenannter ‚Ernstfall´ wird als Auftrag und Ausgangspunkt für Sonderpädagog*innen betrachtet, erzieherisch tätig zu werden, da andere pädagogische Felder „gescheitert” seien. Es werden in diesem Beitrag besondere Kernelemente von Erziehung herausgearbeitet und Überlegungen zu möglichen Schwierigkeiten und Dilemmata angestellt, wenngleich die Autoren betonen, dass es womöglich nie ohne Widerspruch gelingen wird, solche Ziele von Erziehung wie Verantwortungsbereitschaft, Mündigkeit, Autonomie, Rücksichtnahme etc. unter den Zwangsbedingungen der Institution Jugendvollzug umzusetzen. Der Beitrag von Heinz Cornel (ASH Berlin) enthält eine detaillierte Betrachtung von Erziehung und der Bedeutung von Zwangskontexten in der Sozialen
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Arbeit. Herausgearbeitet wird, dass die Soziale Arbeit niemals einer Straflogik folgen darf, sondern der eigenen Professionsethik verpflichtet ist. Heribert Ostendorf (ehemals Universität Kiel) beleuchtet den Erziehungsbegriff juristisch und ordnet ihn in das Jugendstrafvollzugsrecht ein. Es wird deutlich, dass der erziehungswissenschaftliche und der juristische Erziehungsbegriff nicht deckungsgleich sind. Ebenfalls werden Risiken und „Verführungen” des (juristischen) Erziehungsgedankens skizziert. Die Möglichkeit, durch strafjustizielle Maßnahmen menschliches Verhalten grundlegend zu verändern, wird als sehr begrenzt beurteilt. Die Autor*innen des letzten Beitrags in Teil B thematisieren einen möglichen Konnex von Delinquenz und Bildung(-sbenachteiligung), da dieser bislang in der wissenschaftlichen Diskussion zu wenig Beachtung gefunden habe. Annika Krause und Manfred Wittrock (CvO Universität Oldenburg) zeigen ausgehend von einer Diskussion von (Bildungs-)Benachteiligung als mögliche Ursache von Delinquenz im Jugendalter Anknüpfungspunkte bzw. Perspektiven für die (sonder)pädagogische Praxis auf. Auch der Aspekt der Nachhaltigkeit spielt hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Daher sollte der kriminalpolitische Resozialisierungsauftrag nach Einschätzung der Autor*innen mit einem sozialpolitisch begründeten Reintegrationsauftrag verbunden und um Elemente der sonderpädagogischen Zielsetzung der Inklusion ergänzt werden, damit die aus der Inhaftierung entlassenen jungen Menschen tatsächlich auf eine positive Sozialprognose blicken können. Insgesamt wird hier deutlich, dass es sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zum Erziehungsbegriff in den Feldern von Rechtswissenschaften, Sozialer Arbeit und Sonderpädagogik gibt. An dieser Stelle finden sich viele Parallelen zu den Überlegungen, Initiativen und Veröffentlichungen von Philipp Walkenhorst, in denen er sich intensiv mit dem Erziehungsbegriff im Kontext der Delinquenz junger Menschen und den daraus resultierenden Ableitungen für eine Förderung sowie eine pädagogische Ausgestaltung z. B. des Jugendvollzugs befasst hat. Hier sei exemplarisch auch auf sein Mitwirken in vielen Arbeitsgruppen der Justizministerien verschiedener Bundesländer und bei der Enquetekommission III des Landes NRW in den Jahren 2008 bis 2010 zur Erarbeitung von Vorschlägen für eine effektive Präventionspolitik hingewiesen sowie seine Einflussnahme auf und das Kommentieren von Gesetzesentwürfen zu Jugendstrafvollzug und Kriminalitätsprävention betont. Dass Jugenddelinquenz nicht nur in den Einrichtungen der Jugendstrafrechtspflege, sondern darüber hinaus in weiteren Institutionen eine (wesentliche) Rolle spielt, wurde oben verdeutlicht. In Teil C wird daher Jugenddelinquenz im Rahmen verschiedener institutioneller Kontexte beleuchtet.
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Clemens Hillenbrand (Universität Oldenburg) und Marie-Christine Vierbuchen (Universität Vechta) gehen der Frage nach, ob Jugenddelinquenz kein oder ein Thema der Schule für Erziehungshilfe ist. Es wird herausgearbeitet, welche Bedeutung dem Phänomen der Jugenddelinquenz für die Arbeit der Schule für Erziehungshilfe zukommt. Die empirische Befundlage zu Delinquenz im Jugendund Heranwachsendenalter verdeutlicht, dass ein großer Teil der Lernenden der Schule für Erziehungshilfe einen erhöhten Umfang an Risikofaktoren auf verschiedenen Ebenen aufweist, die sich zu einem Konglomerat an ungünstigen Konditionen verbinden können. Die Autor*innen kommen zu dem Schluss, dass die Schule für Erziehungshilfe sowohl die Pflicht als auch die Möglichkeit hat, präventiv systematisch zu handeln und das Thema Jugenddelinquenz in den Fokus zu rücken. Sie sollte versuchen, systematisch und präventiv die Risikofaktoren zu minimieren sowie unterstützende Maßnahmen zur Stärkung sozial-emotionaler wie auch akademischer Kompetenzen auszubauen. Die Multisystemische Therapie als eine der wenigen positiv evaluierten Ansätze der Unterstützung delinquenter Jugendlicher sollte dabei nach Einschätzung der Autor*innen angemessen Berücksichtigung finden. Der Beitrag von Sabrina Hoops (Deutsches Jugendinstitut) behandelt die Geschlossene Unterbringung bzw. Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Kinderund Jugendhilfe. Unter anderem wird die Landschaft der verschiedenen Einrichtungen und Plätze in Deutschland dargestellt. Es wird betont, dass Delinquenz nicht als Indikation für die Anordnung Freiheitsentziehender Maßnahmen verstanden werden darf und sie formal auch nicht ist, sondern immer das Kindeswohl handlungsleitend sein muss, an dem sich die Kinder- und Jugendhilfe auszurichten hat. Stephanie Ernst (Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V.) und Theresia Höynck (Universität Kassel) behandeln einen „Sonderfall” des Jugendarrests, nämlich den Jugendarrest als Folge von Schulabsentismus (sogenannte „OWI-Arreste”). Die Autorinnen erläutern den rechtlichen Charakter und Ablauf des Prozesses von der Verletzung der Schulpflicht bis hin zum Jugendarrest. Eine eigene empirische Untersuchung zu „OWI-Arresten” in Hessen wird vorgestellt. Die Autorinnen plädieren dafür, Arreste (auch im laufenden Verfahren) bei Schulpflichtsverletzungen sorgfältiger zu prüfen und weniger schematisch vorzugehen, so dass ein (Groß-)Teil der Vollstreckungen vermieden werden könnte. Frank Arloth und Tobias Witzigmann (Bayerisches Staatsministerium der Justiz/ Universität Augsburg) befassen sich mit Grundsätzen, Notwendigkeiten, aber auch Grenzen sowie einer kritischen Betrachtung des (juristischen Konstrukts des) Erziehungsgedankens im Jugendvollzug. Insbesondere die Problematik der
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Erziehung junger Volljähriger – an sich ein unzulässiger Grundrechtseingriff – wird diskutiert. Der Beitrag von Frank Neubacher (Universität Köln) stellt heraus, dass es auch im deutschen Jugendstrafvollzug Gewalt und Subkultur gibt und er damit – trotz aller Bemühungen – hinter den selbst gesteckten Zielen und dem gesetzlichen Auftrag zurückbleibe. Als mögliche Stellschrauben, die Gewalt begegnen und die Ausgangssituation für Erziehung und soziales Lernen verbessern können, lassen sich demnach Fortschritte bei der Verfahrensgerechtigkeit, ein günstigeres Anstaltsklima und kleinere Vollzugseinheiten benennen, aber auch spezielle AntiGewalt-Konzepte, die allerdings die Überwindung eingefahrener Denk- und Handlungsgewohnheiten erforderten. Frank Neubacher schließt unter Rückbezug auf den skizzierten Status Quo seinen Beitrag mit der Forderung, die Inhaftierung im Jugendvollzug sofern möglich zu vermeiden. Die Autorinnen Anna Stossun (Universität Frankfurt a. M.) und Luisa Flihs (Universität Köln) befassen sich in ihrem Beitrag mit der Frage, wie die Übergänge aus Hilfen mit einem hohen Grad an Alltagsstrukturierung in freiere Lebensformen vollzogen werden können. Hilfesysteme werden dabei von ihnen, soweit möglich, integriert betrachtet und allgemeine Herausforderungen und hilfreiche Faktoren im Übergang aus der Hilfe herausgearbeitet. Eine große Herausforderung stelle hierbei das schwer aufzulösende Paradoxon dar, einerseits für eine vulnerable Zielgruppe eine als notwendig erachtete intensive Hilfeform vorzuhalten, andererseits darauf hinzuwirken, dass die Adressat*innen zum Hilfeende, insbesondere wenn dieses mit Erreichen der Volljährigkeit einhergeht, eine gute Chance haben, selbstständig leben können. Systemübergreifende „Hilfekarrieren“ bedürfen nach Meinung der Autorinnen möglichst einer strukturellen als auch inhaltlichen Zusammenarbeit der Hilfesysteme, wodurch Übergänge besser gestaltet werden und die unterschiedlichen Systeme mit ihrer jeweiligen Expertise und Erfahrung voneinander lernen können. Philipp Walkenhorst war in seinem Wirken sehr praxisorientiert. Auf dieser Basis entstanden auch seine Überlegungen zu einem „Jugendvollzug als Gute Schule“ (Walkenhorst, 2002) und seine Idee einer „Animativen Freizeitdidaktik“ für den Jugendvollzug (Walkenhorst, 2000). Damit inspirierte er nicht wenige im Bereich der Jugendstrafrechtspflege tätige Personen wie z. B. Karl-Heinz Bredlow, der als damaliger Anstaltsleiter der JVA Iserlohn stets in engem Austausch und Kooperation mit Philipp Walkenhorst und seinen Studierenden stand. In Teil D werden diese und andere Initiativen aufgegriffen und vorgestellt. Daneben werden weitere Praxisbeispiele und konzeptionelle Überlegungen für pädagogisches Handeln bei Jugenddelinquenz dargelegt. Michael J. Mentz stellt aus Sicht der Praxis – eines Anstaltsleiters – ein mögliches pädagogisches Verständnis des Jugendvollzugs dar und skizziert auf
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dieser Grundlage die „Lebensschule Rockenberg”. Zudem werden der Einfluss und die erzieherische Expertise von Philipp Walkenhorst auf den hessischen Jugendvollzug erläutert. Der Beitrag von Lisa Schneider (Universität Siegen) behandelt das Forschungsdesiderat der politischen Bildung in Zwangskontexten. Es werden Grundlagen, Kriterien und Gestaltungsprinzipien einer Kritischen politischen Bildung skizziert und Möglichkeiten der Übertragbarkeit auf und Umsetzung im Jugendund Jugendarrestvollzug dargelegt. Sarah E. Fehrmann (JVA Heinsberg) diskutiert, welche Funktion(en) ein Vollzugsbau hat und ob Vollzugsanstalten als strafende Räume gelten und ausgestaltet werden (sollten). Räumlichen Faktoren könne neben sozialen Faktoren ein enormer Einfluss auf die Lernenden, deren Lernprozesse und Wohlbefinden zugewiesen werden. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass viele Vollzugsgebäude sich als strafende, abschreckende und abgenutzte Funktionsbauten darstellen und somit für junge Menschen keine natürliche und somit entwicklungsförderliche Umwelt darstellen. Im Beitrag von Lisa Schneider (Universität Siegen) und Rainer Zimmermann (Universität Köln) wird EXIT – EnterLife e. V., ein gemeinnütziger Verein und freier Träger der Jugendhilfe mit Sitz in Köln, im Hinblick auf seine Entwicklung von zwei seiner Gründer*innen vorgestellt. Seinen Ursprung hat der Verein in einer Studierendeninitiative der Universität zu Köln. Neben einer Darstellung der bisherigen Laufbahn, dem Selbstverständnis, den Arbeitsgrundlagen sowie Angeboten von EXIT wagen die Autor*innen eine „reflektorische Rolle rückwärts”, indem sie fragen, was sie aus der bisherigen Zeit mitnehmen, welche Irritationen aufgetaucht und zum Teil überwunden wurden und was Perspektiven für die Zukunft sein können. Sabine Schweer (JVA Iserlohn) zeichnet in ihrem Beitrag Entstehungskontext, Inhaltsbereiche und Meilensteine der Zusammenarbeit zwischen der Universität Dortmund – unter der Federführung von Philipp Walkenhorst – und der JVA Iserlohn nach. Beispielhaft werden einige von Studierenden initiierte und arrangierte Projekte für junge Inhaftierte vorgestellt und der Benefit der Kooperation für beide Seiten – Universität und Jugendvollzug – dargelegt. Aktuelle Diskurse im Kontext der Delinquenz junger Menschen zu Teilhabe, Inklusion und Prävention finden sich in Teil E. Im ersten Beitrag dieses Teils wird die Kinder- und Jugendhilfe – als eines der Segmente öffentlicher und privater Unterstützungssysteme – in den Blick genommen, in der Kinder und Jugendliche als Risikopopulation mit psychischen und physischen Gefährdungen und Beeinträchtigungen adressiert werden. Die Autor*innen Birgit Herz und Jan Hoyer (Universität Hannover) arbeiten heraus, dass die multiplen Problemlagen von delinquent gewordenen Jugendlichen nur selten
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im Kontext interprofessioneller Kooperation unterschiedlicher Hilfesysteme, sondern stattdessen nur punktuell und temporär betrachtet und angegangen werden, obwohl internationale Forschungsbefunde durch eine Implementierung und Stärkung lokaler institutionsübergreifender Netzwerke eine deutliche Verbesserung der Entwicklungschancen von Kindern, Jugendlichen und Eltern nachweisen konnten. Moderne Hilfesysteme stehen dabei vor vielfältigen Aufgaben, die sie letztlich auch fragil und „sprengbar” machen. Sie sollen nach Einschätzung der beiden Verfasser*innen den schwierigen Adressat*innen, dem ökonomischen Druck, einer abwertenden Zuschreibungspraxis und zunehmenden Strafbereitschaft gleichermaßen gerecht werden. Klaus Esser (Bethanien Kinderdörfer) zeichnet in seinem Beitrag den Entwicklungsweg nach, den das defizitorientierte Paradigma in Richtung einer ressourcenorientierten Haltung – insbesondere in der stationären Kinder- und Jugendhilfe – genommen hat. Der Autor arbeitet heraus, wie aus defizitärem Verhalten, das als unangepasst, auffallend, störend oder gestört etikettiert wird, durch eine andere Sichtweise (verhaltens-)originelles, kreatives, individuell verstehbares und systemisch folgerichtiges Verhalten werden kann, wenn die Haltung der pädagogisch Handelnden und die methodischen Hilfesettings adäquat eingesetzt werden. Der Einsatz ressourcenorientierter Methoden in der Kinder- und Jugendhilfe wirke in Bezug auf die Entwicklung von Jugenddelinquenz präventiv. Hieraus lassen sich nach Ansicht des Autors wichtige Impulse für den Umgang mit Jugendlichen, die im Rahmen ihrer Entwicklung straffällig werden, ableiten. Der Beitrag von Eckhart Knab (ehemals Institut für Kinder- und Jugendhilfe Mainz) unterstreicht die hohe Bedeutung, die die Ressourcenorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe erlangt hat. Die vorgestellte Pilotstudie (N = 75 Einrichtungen) kommt zu dem Ergebnis, dass die Methodentrias Bewegungsförderung, Kunstpädagogik und Musikalische Förderung in den Einrichtungen vielfältig vorhanden ist, wobei allerdings Bewegungs-/Sportangebote deutlich überwiegen. Zukünftige Forschungsbedarfe und Fragestellungen werden abgeleitet. Eckhart Knab kommt zu dem Fazit, dass Konzepte und Methoden der Ressourcenorientierung wichtige Impulse für die Prävention von Jugenddelinquenz liefern, aber zugleich auch zentrale methodische Ansätze im Rahmen der Intervention bei bereits vorhandener Jugenddelinquenz darstellen können. Reinhard Markowetz (Universität München) geht davon aus und verdeutlicht, dass Inklusion in allen Sozialisationsinstanzen vom Kindergarten bis zu Berufsschulen möglich ist und somit zur Prävention von Jugenddelinquenz und zur Entstigmatisierung Jugendlicher mit sozialisiert delinquentem Verhalten beitragen kann. Es wird aufgezeigt, wie sich das sozial- und schulpädagogische Lehren und Lernen sowie das gezielte Fördern dieser Schüler*innen mit sehr unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsausgangslagen professionell organisieren und
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bewältigen lässt. Der Autor skizziert hierzu das Konzept einer zweidimensional differenzierenden Didaktik. Bernd Holthusen (Deutsches Jugendinstitut) liefert in seinem Beitrag kritische Anmerkungen zum Präventionskonzept als „ein verlockendes Konzept mit Nebenwirkungen“. Der Begriff der Prävention wir hierzu von ihm definiert und erläutert. Darauf aufbauend werden sodann mit Blick auf Prävention bei Jugenddelinquenz Vor- und Nachteile des Präventionskonzepts abgewogen, wobei insbesondere die Gefahren eines ausufernden Präventionsparadigmas beleuchtet werden. Der Autor empfiehlt am Ende seines Beitrages, das Präventionskonzept (im Bereich der Jugenddelinquenz) sehr sensibel und auf der Basis einer gründlichen Reflexion zu verwenden. Anhand der in Teil E geführten Diskurse wird deutlich, dass die Kinder- und Jugendhilfe und somit auch die Soziale Arbeit als primäre Disziplin in diesem Handlungsfeld zentrale Rollen in der Förderung junger Menschen, die straffälliges Verhalten gezeigt haben, spielen. Auch Philipp Walkenhorst war sich dessen in seinem professionellen Handeln bewusst. So kam es im Jahre 2014 unter seiner Mitwirkung zur Gründung der „AG Fachzentrum Erziehungshilfen“. Diese wurde von Theoretiker*nnen und Praktiker*nnen der Jugendhilfe, der Jugendstrafrechtspflege, der Jugendpsychiatrie sowie der Schulpädagogik initiiert. Die Arbeitsgruppe verfolgt die Ziele, die Forschung, Lehre und pädagogische Praxis bezüglich abgestimmter Entwicklungsförderung für junge Menschen in den oben genannten „Säulen“ der Erziehungshilfen weiterzuentwickeln.11 In Teil F des Handbuchs wird internationalen und menschenrechtlichen Perspektiven auf Jugenddelinquenz explizit ein Platz eingeräumt. Den Startpunkt bildet Jochen Goerdeler (Land Schleswig-Holstein) mit seiner Betrachtung von Grund- und Menschenrechten im Jugendstrafvollzugsrecht. In diesem Beitrag werden zunächst Historie und Grundlagen der vollzuglichen Gesetzgebungskompetenz der Länder nachgezeichnet. Sodann werden einzelne, als reformbedürftig erachtete Regelungsbereiche der Jugendstrafvollzugsgesetze der Länder, herausgegriffen und auf Basis grundrechtlicher Bestimmungen diskutiert. Anschließend werden menschenrechtliche Vorschriften und Einwände in Bezug zu den Ländervollzugsgesetzen gesetzt. Eine insgesamt positive Entwicklung des Jugendvollzuges in den letzten Jahren wird abschließend vom Autor attestiert. Michaela Emmerich (Universität Köln) zeigt in ihrem Beitrag internationale Perspektiven Sozialer Arbeit auf. Ausgehend von aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und der professionellen Vernetzung Sozialer Arbeit, die in den Curricula der Studiengänge zur Sozialen Arbeit nur in wenigen Ausnahmen verankert sind, wird der Fokus von der Autorin auf eigene Perspektiven und internationale 11
Siehe auch die Homepage zur AG unter http://www.klangfarbenweb.de/FEZH/ziele/index.php.
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Erfahrungen in Ausbildung und Beruf an der Universität zu Köln gelegt. Zentrale Projekte der letzten Jahrzehnte, die in der „Allgemeinen Heilpädagogik” und der „Erziehungshilfe und Sozialen Arbeit” angesiedelt waren, werden ebenso vorgestellt wie internationale Studienfahrten, die gemeinsam mit Studierenden stattgefunden haben. Abschließend werden die wissenschaftliche Begleitung (20162019) des Programms „Drehscheibe zur Vorbereitung junger Menschen auf das Ende einer Individualpädagogischen Auslandsmaßnahmen“ in Kooperation mit dem Jugendhilfeträger Wellenbrecher e. V. thematisiert und einige Zukunftsperspektiven aufgezeigt. Der Beitrag von Christoph Käppler und Jonas Cavalho (TU Dortmund) stellt die (Lebens-)Wirklichkeit junger inhaftierter Menschen im größten und bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas dar und nimmt diesbezüglich zugleich eine interkulturelle Vergleichsperspektive ein. Die (Rechts-)Wirklichkeit in Brasilien stehe zum einen verglichen mit Deutschland in vielerlei Hinsicht in einer nahezu antagonistischen Position, weise in anderen Bereichen aber auch Gemeinsamkeiten auf. Im Hinblick auf die Menschenrechtssituation junger inhaftierter Menschen weise Brasilien allerdings z. T. besorgniserregenden Nachholbedarf auf. Im Sinne eines kombinierten Rück- und Ausblicks sollen im letzten Teil (Teil G) dieses interdisziplinären Handbuchs (notwendige) zukünftige Entwicklungen dargestellt werden. Insofern besteht hier Anschlussfähigkeit zu den Reformbestrebungen Philipp Walkernhorsts, wie sie u. a. in seinen erwähnten Aktivitäten in den Bereichen der Justiz-Gesetzgebung sowie der Politik deutlich wurden. Der Beitrag von Frieder Dünkel (ehemals Universität Greifswald) stellt die Jugendstrafvollzugsgesetzgebung in Deutschland in den Mittelpunkt und liefert Anmerkungen und Reminiszenzen zur juristischen Bearbeitung eines erziehungswissenschaftlichen Feldes. Dabei werden insbesondere die Föderalismusreform und damit einhergehende föderale gesetzliche Regelungen kritisch reflektiert. Einzelne sensible Themenbereiche wie die Mitwirkungspflicht werden gesondert betrachtet und diskutiert sowie auch eine Schlechterstellung der jungen inhaftierten Menschen gegenüber dem Erwachsenenvollzug festgestellt. Der Beitrag endet mit einem Plädoyer für einen humanen und wirksamen Jugendvollzug. Zunächst stellt Wolfgang Wirth (Kriminologischer Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen) in seinem Beitrag quantitative Rückblicke bezogen auf Inhaftiertenzahlen, Haft- und Rückfallquoten im Jugendstrafvollzug an. Es wird ein Mangel an vertiefender Forschung zu Qualität und Wirkung von Behandlungsund Betreuungsprogrammen konstatiert, aber es werden auch Veränderung versprechende Entwicklungen aufgezeigt. Ein evaluierender Blick in den Jugendvollzug liefert Daten zu Alter, Vollzugsdauer und bildungsbiografischen Merkmale der jungen inhaftierten Menschen, Quoten zu empfohlenen Maßnahmen etc. Aus
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diesen quantitativen Befunden werden in dem Beitrag notwendige qualitative Schwerpunkte abgeleitet, z. B. auch im Hinblick auf Anschlussmaßnahmen. Ausgehend von gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen beschreibt Bernd Maelicke in seinem Beitrag die spezifischen Herausforderungen der „Komplexleistung Resozialisierung”. Er stellt die in Schleswig-Holstein auf Haftvermeidung und Haftreduzierung abgestellte Kriminalpolitik als Modell für einen „systemischen Wandel in der Sozialen Strafrechtspflege” vor. Er schlägt die Einberufung einer fraktionsübergreifenden Enquetekommission im Bundestag vor, um Status Quo und zukünftige Wege für die Optimierung der stationären und ambulanten Resozialisierung vorzulegen. Für einen Ausblick bemüht Karl-Heinz Bredlow (ehemals JVA Iserlohn) als Autor im Schlussbeitrag einen detaillierten Rückblick zur Jugendstrafe und dessen Ausführung in den vergangenen 100 Jahren nebst politischer Einordnung. Auf dieser Basis plädiert er für einen „neuen Jugendvollzug” einer „guten Schule” ähnlich, der auf einer erziehungswissenschaftlichen Konzeption gründet und humanen Werten verpflichtet ist. Literaturverzeichnis Ahrbeck, B. & Willmann, M. (2010).(Hrsg.). Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Ein Handbuch. Stuttgart: Kohlhammer. Bach, H. (1989). Verhaltensstörungen und ihr Umfeld. In H. Götze & H. Neukäter (Hrsg.), Handbuch der Sonderpädagogik, Band 6 – Pädagogik bei Verhaltensstörungen (S. 3-35). Berlin: Spiess. Beelmann, A. & Raabe, T. (2007). Dissoziales Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Erscheinungsformen, Entwicklung, Prävention und Intervention. Göttingen: Hogrefe. Bernfeld, S. (1973). Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bielefeldt, H. (2009). Zum Innovationspotenzial der UN–Behindertenrechtskonvention. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. Bihs, A. (2013). Grundlegung, Bestandsaufnahme und pädagogische Weiterentwicklung des Jugendarrests in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Jugendarrestvollzuges in Nordrhein–Westfalen zugl. Dissertation Universität zu Köln. Abgerufen von http://kups.ub.uni–koeln.de/5322/ [06.07.2020] Bundeskriminalamt (BKA) (2009). Polizeiliche Kriminalstatistik 2009. Wiesbaden. Abgerufen von https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/pksJahrbuecherBis2011/pks2009.html?nn=52408 [06.07.2020] Bundeskriminalamt (BKA) (2019). Polizeiliche Kriminalstatistik. Jahrbuch 2019. Band 3 Tatverdächtige. Wiesbaden. Abgerufen von https://www.bka.de/SharedDocs /Downloads/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/2019/Jahrbuch/pks2019 Jahrbuch3TV.pdf?__blob=publicationFile&v=4 [06.07.2020]
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B Interdisziplinäre Perspektiven auf Erziehung und Delinquenz bei jungen Menschen
Zu einem Erziehungsbegriff der Sonderpädagogik emotionaler und sozialer Entwicklung Roland Stein & Thomas Müller
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Einleitung
Erziehung als Kernaufgabe pädagogischer Handlungsfelder und zugleich theoriebildende Kernfigur der Erziehungswissenschaften wird in der Sonderpädagogik und gerade auch im Fachgebiet Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Pädagogik der Erziehungshilfe oder auch Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung – wie man es auch nenne –, erstaunlich wenig grundgelegt, diskutiert und problematisiert (vgl. Müller & Stein, 2013; Müller & Stein, 2018). Dabei gibt es durchaus eine Tradition der intensiveren Auseinandersetzung seit dem 17. Jahrhundert, auch verbunden mit den Namen bedeutsamer Pädagogen wie beispielsweise Francke, Pestalozzi, Wichern, Trüper sowie Aichhorn, Bettelheim und anderen (vgl. ebd., S. 7). Auch in der genuinen sonderpädagogischen Fachszene finden sich durchaus bedeutsame Auseinandersetzungen (z. B. Kobi, 2004; Speck, 1996, 1997; Ahrbeck, 2004). Aber es bleiben wenige, und gerade in den letzten zwanzig Jahren lässt die Diskussion zu wünschen übrig – sowohl in der Theoriebildung als auch für die relevanten (speziellen) Institutionen der Erziehungshilfe (vgl. Müller und Stein, 2013) und – ähnlich wie auch im Feld Unterricht und Didaktik – für die genuine Fachszene Pädagogik bei Verhaltensstörungen, die sich bevorzugt Fragen einer Förderung durch strukturierte Programme und Trainings widmet (ohne diese Themen gegeneinander ausspielen zu wollen). In diesem Beitrag soll versucht werden, ein sonderpädagogisches (und damit pädagogisches) Verständnis von Erziehung zu skizzieren. Dieser Auftrag zu den nachfolgenden Überlegungen soll geschärft werden an besonderen ‚Ernstfällen‘ von und prägnanten Herausforderungen an Erziehung: Jugenddelinquenz als Phänomen sowie den darauffolgenden gesellschaftlichen Reaktionen, mit der verschärftesten Variante der Jugendstrafe. Dies soll dazu dienen, besondere Kernelemente von Erziehung stärker herauszuarbeiten, auch die damit verbundenen Schwierigkeiten und Dilemmata (neuere Impulse zur Prävention und Frühintervention liefern Wallner, Weis, Reinecke & Stemmler, 2019).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_2
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Roland Stein & Thomas Müller
Zu einem Verständnis von Erziehung aus sonderpädagogischer Perspektive
Seit jeher gibt es verschiedenste Auffassungen von Erziehung, wobei darunter ganz allgemein Interaktionsprozesse zwischen mindestens zwei Personen verstanden werden können, welche durch ein Reifegefälle gekennzeichnet sind. Böhm (2005, 186) bestimmt Erziehung als „Maßnahmen und Prozesse […], die den Menschen zu Autonomie und Mündigkeit hinleiten und ihm helfen, alle seine Kräfte und Möglichkeiten zu aktuieren und in seine Menschlichkeit hineinzufinden“. Darüber hinaus sind aus sonderpädagogischer Perspektive neben Autonomie und Emanzipation auch soziale und personale Integration als Ziele von Erziehung zu benennen (Willmann, 2010, S. 211). Gerade im Zusammenhang von und mit Verhaltensstörungen liegen einerseits Probleme der sozialen Integration, andererseits aber auch der Exklusion vor: Oft kommt es zu Etikettierungsprozessen als gestört, übergriffig, auffällig, verletzend oder – eben – delinquent. Damit wird deutlich, dass sich Erziehung nicht beschreibend darstellen lassen kann, sondern Ziele bestehen, die von zeitgeschichtlichen, kulturellen und sozialen Vorstellungen geprägt sind. Auch das oben herausgestellte Ziel der Autonomie und dessen Verständnis ist keinesfalls unumstritten – nicht zuletzt, weil sich mit ihm unterschiedliche Sichtweisen verbinden. Benner (vgl. 2012) beispielsweise formuliert Selbsttätigkeit als Ziel, worauf man kritisch einwenden könnte, dass daraus Ansprüche zum Schaden anderer entstehen könnten. Für Klafki (vgl. 1985) gehören zur Selbstbestimmungsfähigkeit immer auch Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit. Specks differenzierte Sicht von Autonomie (Speck, 1997) berücksichtigt dies, wenn Autonomie als Ziel „des rechten Gebrauchs der Freiheit“ und damit „das Befolgen von Regeln (Disziplin)“ verstanden wird (ebd., S. 83). Es geht also gerade nicht nur um individuelle Unabhängigkeit und Freiheit, sondern zugleich um „die Kultivierung der eigenen Urteilskraft und eigenen sittlichen Maximen als Gewissensbildung“ (ebd., S. 84). Speck verweist zudem auf einen Aspekt, der insbesondere für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen von Bedeutung ist: das Kind mache im Erziehungsprozess sein autonomes Selbst geltend und wird damit nicht erzogen, sondern geht aus dem Erziehungsprozess mit einem „eigenen Resultat“ (ebd., S. 112) hervor. Gerade bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten scheint dieses Geltendmachen, aber auch das Artikulieren erlebter Autonomieverletzungen in ihren Verhaltens- und Erlebensweisen eine zentrale Rolle zu spielen. Es könnte daher zentral darum gehen, Situationen zu gestalten, in denen sich das Erzieherische gerade darin zeigt, dass es im Sinne Kobis (vgl. 2004) ausgehandelt wird und im besten Falle in eine gemeinsame „Daseinsgestaltung“ (ebd., S. 89) führt. Nach Brezinka (vgl. 1990) nehmen die Erziehenden über ihre Handlungen
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Einfluss auf die Zu-Erziehenden, um sie in ihrer Persönlichkeit zu fördern (Winkler, 1995, S. 55) – eine Vorstellung, die sicherlich richtig ist, sich im Erziehungsgeschehen selbst aber als stark einseitig erweist, denn „Erzieher und Zögling […] müssen zusammenwirken, weil Erziehung sonst gar nicht geschieht“ (ebd., S. 65). Autonomie „steht nicht nur für die Entwicklung von Authentizität, Aktivität, eigenem Willen, eigener Motivation und Kompetenz, sondern auch für die Akzeptanz des Anderen, für kooperative Bezogenheit, für Gemeinschaftlichkeit und für Verantwortlichkeit für andere“ (Speck, 1997, S. 148). Damit wird als ein wesentliches Ergebnis des Erziehungsprozesses der Entwicklung eines ‚inneren Gesetzes‘ der Verantwortlichkeit für andere Rechnung getragen. Ein Erziehungsbegriff der Sonderpädagogik emotionaler und sozialer Entwicklung müsste die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Autonomie eröffnen und zudem zu ihr auffordern (Benner, 2012), da wo diese in Gefahr sind. Dies gilt gerade für Fälle massiv delinquenten Verhaltens, in denen es an Bewusstsein sozialer und moralischer Regeln mangelt oder aber auch der Umsetzung eines solchen Bewusstseins in sozialmoralisches Handeln. Brezinka (vgl. 1990) macht an vier Spannungsverhältnissen deutlich, weshalb sich Erziehung so unterschiedlich auffassen lässt: -
Der Prozess kann ebenso im Fokus stehen wie das Ergebnis von Erziehung. Die sachliche Beschreibung eines Tatbestandes steht der Bestimmung über Normsetzungen und Wertungen gegenüber. Die erzieherische Absicht und die Wirkung als Effekt von erzieherischen Einflüssen sind keinesfalls stets deckungsgleich und können sich kontraproduktiv gegenüberstehen. Konkrete Handlungen sind im Erziehungsgeschehen ebenso bedeutsam wie das Geschehen im Rahmen einer Fülle von Einflüssen.
Dennoch besteht letztlich zumindest wissenschaftlich Konsens darüber, den Menschen als „erziehungsbedürftig“ anzusehen (Kant, 1776/77, 1997). Nicht nur die Erziehung selbst, sondern insbesondere auch überdauernde Herausforderungen und Erschwernisse mit dieser werden mit bestimmten Begriffen gekennzeichnet, die insbesondere für den Erziehungsbegriff einer Sonderpädagogik der emotionalen und sozialen Entwicklung bedeutsam sind: Mit ‚Unerziehbarkeit‘ werden dem Menschen grundsätzlich Aspekte seiner existentiellen Potentialität und seiner anthropologischen Freiheit abgesprochen (Kobi, 2004, S. 77). Die so genannte ‚Schwererziehbarkeit‘ weist dem zu Erziehenden meist unreflektiert die volle Verantwortung an bestehenden Herausforderungen zu und ‚Erziehungsschwierigkeiten‘ deuten eine Sichtweise an, bei der nur scheinbar selbstverständlich auf die Zu-Erziehenden geblickt wird. Darüber hinaus sind
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solche Begriffe insofern problematisch, als aus ihnen heraus vorschnell ein Fokus auf Erziehung bei externalisierenden Problematiken wie Aggressivität oder Gewalt gelegt wird und internalisierende Problematiken wie Ängstlichkeit oder Depressivität trotz möglicherweise erheblicher Erziehungsbedarfe vernachlässigt werden. Eine derartig eindimensionale Sicht von Erziehung verweist von Anfang an nur auf bestimmte Vorstellungen, die man verwirklicht sehen will. Sie rückt dabei für die Entfaltung des Menschen notwendige Ziele von Erziehung ins Abseits. Erziehung wird gerade im Umgang mit straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen allzu oft mit Disziplinierung verwechselt. Erzieherisches Denken und Handeln hätte sich weitaus weniger an der Frage nach dem ‚Was‘ im Sinne von pädagogischen oder juristischen Maßnahmen auf ein bestimmtes Verhalten zu orientieren als am ‚Wozu‘ im Sinne der subjektiven Bedeutsamkeit dieses Verhaltens, auch wenn schädliche Auswirkungen auf andere Menschen und die Umwelt damit nicht ‚unter den Tisch‘ fallen können. Dennoch ließe sich daraus ein Verständnis von Erziehung als Haltung erarbeiten, die ganz im Sinne Kobis (vgl. 2004) nicht auf die einseitige Durchsetzung von Machtansprüchen konzentriert ist. Gerade Erfahrungen zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Ausgeliefert-Sein und Angewiesen-Sein dürften zur Delinquenz mancher Kinder und Jugendlicher beitragen. Erziehung findet ihre Existenzgrundlage nicht im An-Sich-Seienden, sondern erst im Für-jemand-Werdenden. Erziehung gründet in einer intersubjektiven Beziehung, innerhalb derer eine wertorientierte Handlungsfähigkeit zu einer als sinnvoll erachteten Form der Lebensbewältigung und Daseinsgestaltung erworben und vermittelt wird. Erziehung ist ein psychosoziales Arrangement, in welchem ein verbindendes Muster, eine Textur, zur gemeinsamen Daseinsgestaltung gesucht wird. (Kobi, 2004, S. 92)
Unter den institutionellen Gegebenheiten von Jugendarrest und (Jugend-)Strafvollzug dürfte es eine immense, aber daher umso mehr anzunehmende Herausforderung sein, die oben genannten Erfahrungen nicht mit den gleichen Mitteln an anderen Orten fortzuschreiben, sondern in eine wertorientierte Handlungsfähigkeit hineinzuführen. Zugleich ergibt sich allerdings die Frage einer Begrenzung der Kobi’schen Sicht von zwei Menschen ‚auf Augenhöhe‘: Kann und sollte gerade im Feld Jugenddelinquenz und Jugendstrafe alles ausgehandelt werden? Wie lässt sich nun „die Freiheit bei dem Zwange“ (Kant, 1803; 1983, S. 711) kultivieren? Wie kann ‚von außen anstoßend‘ ein Prozess hin zu Autonomie in Gang kommen, gerade dann, wenn sich die Zu-Erziehenden auf Institutionen einlassen müssen, die ihre Freiheit beschränken und für die sie sich nicht freiwillig entschieden haben? Ist es nicht widersinnig, jemanden ‚autonom machen‘ zu wollen? Angesichts dieses Dilemmas begründet Benner (2012) Erziehung als „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“, womit Formen pädagogischer Einwirkung bezeich-
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net sind, die die Bestimmung des Zu-Erziehenden nicht festlegen oder auch einengen sollen. Erziehung als Kern einer Sonderpädagogik der emotionalen und sozialen Entwicklung hat es gerade im Kontext von Delinquenz mit einer schmalen Gratwanderung zwischen individueller Arbeit einerseits und gesellschaftlichem Auftrag andererseits zu tun. Dies zeigt sich besonders am Beispiel des Erziehungsauftrags in allen Formen geschlossener Unterbringung, in welchen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nicht nur vor sich selbst, sondern auch andere vor ihnen geschützt werden sollen und müssen. Derartige Zwangssituationen führen dazu, dass die Zu-Erziehenden durch den Freiheitsentzug (zunächst) ihrer Eigenverantwortung enthoben werden, die pädagogischen Institutionen aber gleichzeitig mit dem Anliegen und dem Ziel auftreten, förderlich für die positive und eigenverantwortliche Entwicklung tätig zu werden und das Selbstwirksamkeitserleben der Betroffenen auf einer legalen und konstruktiven Basis nachhaltig zu stärken (Conen, 2007; Schwabe, 2011). Aus erzieherischer Sicht entsteht hier eine Fragestellung, die es verunmöglichen könnte, eine freiheitsentziehende Maßnahme pädagogisch zu legitimieren, sofern Mündigkeit und Selbstverantwortung als unverzichtbare Ziele und Grundlagen von Erziehung angesehen werden. Die Intention, Menschen in Gefährdungssituationen autonom für ein Leben außerhalb des Freiheitsentzugs zu ‚machen‘, ist angesichts des damit einhergehenden Verantwortungsentzugs im Rahmen der Zwangsmaßnahme des Fragens würdig – nicht zuletzt auch deshalb, weil die Erfahrung zeigt, dass derartige Maßnahmen delinquentes oder anders abweichendes Verhalten verfestigen oder gar erst erzeugen können (Böhnisch, 1999, 166 f.). Möglicherweise besteht aber auch gerade darin das besondere, Erziehung immanente Wagnis (Bollnow, 1959), auf das sich die an Erziehung Beteiligten einzulassen haben. Aus diesen Überlegungen heraus wird aber auch deutlich, dass eine rein dialogische, kooperative oder auszuhandelnde Idee von Erziehung, wie sie Kobi (vgl. 2004), zunächst gut nachvollziehbar, vertritt, letztlich zu kurz greift. Erziehung erfüllt eben auch eine gesellschaftliche Funktion jenseits des Verhältnisses von Erziehenden und Zu-Erziehenden (vgl. Winkler, 1995). Beide wirken zwar unmittelbar zusammen, aber gleichzeitig auch im kulturell-sozialen Kontext einer Gesellschaft, welcher die Bedingungen der Möglichkeit von Erziehung überhaupt erst schafft. „Auch die unmittelbar erfahrene Konflikthaftigkeit von Erziehungssituationen steht nicht im Gegensatz zur Annahme von einem dritten Faktor, geht es doch in diesen meist um soziale Regelungen, die für einen Zusammenhang unabhängig von den Beteiligten gelten“ (ebd., S. 65). Aus diesem Kontext heraus spielt die Frage der Interpretationen von Realität durch Macht eine entscheidende Rolle – und wird damit zu einem Faktor, der sozusagen ‚von außen‘ in die Dualität der Situation mit beiden im Erziehungsgeschehen direkt beteiligten Personen hineinkommt, auch wenn dieses Außen letztlich relativ anzusehen ist, weil es ‚in‘ den Beteiligten immer schon enthalten ist (vgl. Wolf, 1999).
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Erziehung und Moralität
Specks „Kultivierung der eigenen Urteilskraft und eigenen sittlichen Maximen als Gewissensbildung“ (1991, S. 84) stellt eine zentrale Herausforderung für Erziehung in intensiven Kontexten wie etwa Jugenddelinquenz dar. Prozesse der Erziehung basieren und entfalten sich keineswegs nur auf einer Verhaltensebene. Sie beinhalten stets auch bedeutsame Momente von Moralität. Erziehung basiert auf der Thematisierung von Werten – gesellschaftlichen, soziokulturellen (und kulturbezogen verschiedenen) sowie individuellen. In Frage gestellt sind damit zum einen die Ziele von Erziehung (im Sinne von relevanten Werten), aber auch deren Eingang in den Vorgang und Prozess von Erziehung selbst – sowie schließlich die Frage der Folgen von Erziehung, der Entwicklung menschlicher Persönlichkeit des ‚Zu-Erziehenden‘ im Rahmen seiner autonomen Eigengesetzlichkeit. All dies muss in gesellschaftlichen Kontexten gesehen werden, die von einer starken Diversifizierung der Lebensformen, vielfältigen Unsicherheiten und Risiken der Orientierungslosigkeit (vgl. Stein, 2018) gekennzeichnet sind – bis hin zu einem „Chaos“ (Speck, 1996) der (erzieherischen) Verhältnisse. Zu fragen ist, wer die Deutungshoheit hat und haben darf – und wie zugleich eine moralische Urteilsfähigkeit und eine dahinterstehende moralische ‚Instanz‘ als Grundlage sozialen Handelns als „Teil unseres alltäglichen Orientierungswissen“ (Nida-Rümelin, 2015, S. 82) entstehen und wirksam werden kann. Bedingungen eines solchen ‚Wirkens‘ von Erziehung stellen sicher das erzieherische Verhältnis und seine Qualität, auch die Vorbildfunktion der Erziehenden, die Offenheit und Bereitschaft der Zu-Erziehenden, die Umwelten und Milieus, in denen sich das erzieherische Geschehen abspielt, sowie die gesellschaftlichen Hintergründe und Kultur(en) dar. Kulminationspunkt all dieser Faktoren und Aspekte sind die erzieherischen Geschehnisse, insbesondere auch die in diesem Rahmen stattfindenden Diskurse und (wechselseitigen) Auseinandersetzungen aller Beteiligten mit Werten. Dabei wird ein ‚Spagat‘ professioneller Pädagogen und Pädagoginnen darin bestehen, Werte zu vertreten, ohne dabei zu indoktrinieren. Aber im erzieherischen Prozess ist zu erwarten, dass solche Werte und Positionierungen von den Zu-Erziehenden ‚gefordert‘ werden. Speck (1991, S. 157) folgend dürften entscheidende Grundwerte der Respekt gegenüber dem Leben, gegenüber dem Anderen sein – sowie eine demokratische Grundorientierung, die sich nicht selbstverständlich als Recht der Mehrheit, aber auch nicht dem unbedingten Recht der Minderheit, sondern als Aushandlungsprozess verstehen. Erziehung als ‚moralische Erziehung‘ zu an Werten orientiertem Denken und Handeln vollzieht sich zunächst im erzieherischen Verhältnis – und damit auch direkt auf den Zu-Erziehenden bezogen. Hier sind die bahnbrechenden Arbeiten
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von Kohlberg (vgl. 1995) zu moralischem Urteilen und zu dessen Förderung zu berücksichtigen, allerdings ergänzt durch Weiterentwicklungen, die, über moralisches Urteilen als kognitive Leistung, auf motivationale und insbesondere auch emotionale Aspekte hinweisen (vgl. Aschhoff-Hartmann, 2019). Erziehung als ‚moralische Erziehung‘ fordert damit zugleich in besonderer Weise die Erziehenden als Personen, denn, wie oben beschrieben, sind ihre (aktiv erarbeiteten) Grundhaltungen ebenso gefordert wie deren konsequente Umsetzung in den Grenzen des Menschlichen. Erziehung als ‚moralische Erziehung‘ nimmt zugleich die Familie und die Eltern der jungen Menschen mit in den Blick, da gerade im familiären Kontext Grundstrukturen moralischen Urteilens und Handelns gebildet werden (vgl. Stein, 2018, S. 41 f.). Ein direkter Einfluss auf dieses private Erziehungsfeld wird kaum möglich sein, wohl aber eine möglichst enge Zusammenarbeit. Nicht zu übersehen ist dabei die Rolle der Peers als ‚heimliche Mit-Erzieher‘ (vgl. Stein, 2010). Dies ist in zweifacher Weise ein neuralgischer Aspekt im Rahmen von Jugenddelinquenz: zum einen der beeinflussende Rahmen einer sich sozial abweichend verhaltenden Jugendgruppe, wie ihn etwa die Subkulturtheorie und die Theorien des differentiellen Lernens beschreiben und untersuchen (vgl. Böhnisch, 1999; Stein, 2019, S. 107 ff.) – aber zum anderen auch die Einflüsse gleichaltriger Mitinhaftierter in Jugendarrest- und Jugendstrafanstalten, deren Macht fatal und bekannt ist. Erziehung als ‚moralische Erziehung‘ erfordert auch eine entsprechende Lernkultur, welche Werte vertritt und sie zugleich lebt (vgl. Stein, 2018, S. 54 ff.). Dies hat Kohlberg ebenfalls mit seinem „Just Community“-Modell angebahnt und umzusetzen versucht (vgl. Kuhmerker, Gielen & Hayes, 1996). Damit ist die Kultur jeglicher Einrichtung gemeint, beispielsweise einer Schule – aber auch einer Jugendstrafanstalt, welche auch erzieherische Ziele verfolgt. Gerade hier zeigen sich aber die massiven Spannungsfelder zwischen institutionellen Bedingungen und Zwängen zum einem – und der Realisierung einer erzieherisch wirkenden Lernkultur zum anderen. 4
Erziehung und Delinquenz
Der Kulminationspunkt des spannungsreichen Verhältnisses von Erziehung und Delinquenz in unserer Gesellschaft findet sich im deutschen Jugendstrafrecht, festgelegt in den Bestimmungen des Jugendgerichtsgesetzes (JGG; vgl. Jugendrecht, 2007, S. 405 ff.; Walkenhorst, 2014). Im Rahmen dreifach gestaffelter Maßnahmen werden ‚Erziehungsmaßregeln‘ bestimmt. Neben Weisungen fallen darunter auch die sozialpädagogischen Maßnahmen der „Hilfen zur Erziehung“. Aber auch im Rahmen der höherschwelligen „Zuchtmittel“ wie etwa Jugendarrest wird
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vermerkt, dass Richter nachträglich Auflagen ändern könnten, „wenn dies aus Gründen der Erziehung geboten ist“ (Jugendrecht, 2007, S. 408). Hier geraten Richter in eine (mittelbare) erzieherische Rolle. Und auch der höchstschwellige Bereich der Jugendstrafe wird bestimmt für Fälle, in denen die niederschwelligen Maßnahmengruppen „zur Erziehung nicht ausreichen“ (ebd.). „Durch den Vollzug der Jugendstrafe soll der Verurteilte dazu erzogen werden, künftig einen rechtschaffenen und verantwortungsvollen Lebenswandel zu führen. […] Ordnung, Arbeit, Unterricht, Leibesübungen und sinnvolle Beschäftigung in der freien Zeit sind die Grundlagen dieser Erziehung“ (§ 91 JGG; Jugendrecht, 2007, S. 431). Starke Zielbestimmung ist damit durchgängig: Erziehung. Hier soll Erziehung zugleich in einem Feld von Sanktionierung stattfinden – und durch Sanktionierung. Gerade die Verhängung von Jugendarrest wird als ‚Warnschuss‘ betrachtet. Verschiedene Spannungsfelder von Erziehung treten hier besonders prägnant in den Vordergrund. Einige wesentliche dieser Felder sollen im Folgenden am ‚Ernstfall‘ Delinquenz und ihrer gesellschaftlichen Sanktionierung diskutiert werden – zuvörderst steht das Verhältnis von Erziehung und Strafe im Raum: 4.1 Erziehung und Strafe Ein Aspekt von Erziehung ist Konsequenz – das ist der Kerngedanke eines Gerichtsurteils, in dessen Rahmen eine Strafe verhängt wird. Dahinter steht Behaviorismus: Auf ein nicht erwünschtes Verhalten erfolgt eine negative Konsequenz; dies soll in der Folge bewirken, dass das unerwünschte Verhalten nicht mehr auftritt. Dies muss nicht zu einer Kritik des Behaviorismus führen, der nachweislich ablaufende basale Lernprozesse nüchtern beschreibt. Aber der Anspruch von Erziehung, nicht nur, aber gerade auch aus sonderpädagogischer Perspektive, ist ein deutlich anderer als (nur) dies – wie in diesem Beitrag erörtert. Die Grundlagen des Jugendgerichtsgesetzes argumentieren allerdings durchaus auch komplexer: Es geht hier nicht nur um die Strafe als Konsequenz, sondern um die Realisierung der gesamten Maßnahme um die Strafe herum in erzieherischer Absicht. Die Diskussion, inwiefern ein Justizsystem mit seinen Settings und seinem Personal dies im Sinne von Erziehung zu realisieren vermöge, ist differenziert und führt hier zu weit. Aber spätestens an diesem Punkt geht es nicht um eine simple Veränderung des Verhaltens, sondern um Autonomie, Selbsttätigkeit, Moralität und Werte – mit entsprechenden Anforderungen auf Ebene der einzelnen in den Jugendstrafvollzugsanstalten tätigen Professionellen – bis hin zur Ebene der Einrichtung und ihrer Kultur. Inwiefern könnte eine solche Anstalt etwa zu einer Förderung moralischen Urteilens (und dann erst Handelns) beitragen? Solche Fragen fördern starke institutionelle Widersprüche zutage.
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Jenseits von Delinquenz und Strafe sieht Bastian (1995) Strafe als „Schattenseite“ der Pädagogik: „Die Ablehnungsgründe für Strafen sind bekannt, die selbstgesetzten Normen für pädagogisches Handeln sind hoch. (…) Auf der anderen Seite gibt es – insbesondere angesichts der aktuellen Diskussion um Gewalt, Rassismus und anderer als Verschärfung des Schulalltags wahrgenommener Probleme – eine große Ratlosigkeit“ (S. 9). Ein erster Schritt sei es, diesen Widerspruch ins Bewusstsein zu führen, zu betrachten und zu diskutieren. Dieser Bedarf ergibt sich in besonderer Weise für das Feld Delinquenz, Strafe und Erziehung. Dabei wäre nicht nur das Verhältnis von Erziehung und Strafe differenziert auszuloten (und in jedem Falle ist der erzieherische Bezug und Dialog ein Bindeglied), sondern auch die für das Erziehungsgeschehen entscheidende Frage, was als Strafe erlebt bzw. empfunden und wie dieses Erleben im Individuum weiterarbeitet wird. Gerade Zurücksetzungen und Kränkungen wirken in dieser Hinsicht (vgl. etwa Jansen-Hochmuth & Warnke, 1995, S. 113 f.); hier kann eine juristische Sanktion bei jungen Menschen sehr unerwünschte Effekte zeitigen. 4.2 Macht und Ohnmacht Die Definition und der Vollzug von strafrechtlichen Konsequenzen bei delinquentem Verhalten repräsentieren den Staat mit seinem Machtmonopol, ausgeübt durch die Gerichte sowie ausführende Institutionen: Jugendarrest- und Jugendstrafanstalten sowie die Jugendhilfe. Zugleich bergen aber die Umsetzung von Maßnahmen sowie deren Wirkungen und Folgen in erheblichem Maße auch Aspekte der Ohnmacht – wie es etwa die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig (vgl. 2010) aus ihrer eigenen Perspektive heraus eindrucksvoll beschrieben und diskutiert hat. Denn gerade die Geschichte der institutionellen Erziehung ist voll von „Unfällen der Erziehung“ (Ertle & Möckel, 1981), in denen Macht missbraucht wurde und Kinder und Jugendliche nicht zur Autonomie geführt wurden, sondern Demütigung und Beschämung mit Erziehung verwechselt wurden – eine Gefahr, die gerade in der stark hierarchischen Struktur des Strafvollzugs besonders groß ist. Die Totalität von Institutionen und ihre Wirkungen auf Betroffene sind hinreichend bekannt, beschrieben und vielfältig negativ belegt (Goffman, 1973; Göbel, 2012). Dies führt die Erziehung in ein Dilemma: Einerseits scheint sie existentiell nötig zu sein und zu ihrem Gelingen ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Erziehendem und Zu-Erziehendem wesentlich beizutragen, andererseits gefährdet sie über dieses Verhältnis die Zu-Erziehenden. Gerade deshalb gilt es für (auch) erziehende Institutionen wie den Strafvollzug, Erziehungsziele so zu begründen, anzustreben, zu operationalisieren und zu reflektieren, dass die Antizipation von Symmetrie (Zirfas, 1999) gerechtfertigt erscheint.
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Gelingt Erziehung, so die Erwartung, löst sich das asymmetrische Verhältnis nach und nach auf und wird in ein symmetrisches überführt, dass sich durch Verantwortung für sich und das eigene Leben, aber auch für die Menschen, mit denen man in Gemeinschaften und als Gesellschaft lebt, auszeichnet. (Müller, 2018, S. 31)
Dies deckt sich mit dem grundsätzlichen Ziel von Jugendstrafvollzug. Aus Sicht der Pädagogik bei Verhaltensstörungen hat es der Jugendstrafvollzug mit jungen Menschen zu tun, die des Öfteren aus Erziehungsmilieus und Familien zu kommen dürften scheinen, in denen Ohnmachtsgefühle und -erleben am unteren Ende einer familiär-biografischen Asymmetrieachse die Realität zu sein scheinen – und in denen zugleich Macht oft in unseliger Weise die Verhältnisse bestimmt. 4.3 Grenzen und Scheitern Erziehung wird immer wieder mit dem Zielanspruch versehen, dass sich Menschen verantwortungsvoll sich und anderen gegenüber verhalten und moralisch handeln. Gerade unmoralisches Verhalten im Zusammenspiel mit der Verletzung von Normen führt dazu, dass junge Menschen im Jugendstrafvollzug ‚landen‘. Muss Erziehung hier als gescheitert und der Jugendstrafvollzug als Endpunkt dieses Scheiterns angesehen werden? Eher nicht, denn auch Menschen, denen man unterstellt, sie seien gut erzogen, können sich unmoralisch verhalten und tun dies auch. Oelkers (2001, S. 23) verweist vielmehr darauf, dass Erziehung „immer eine positive Wirkungsbehauptung“ ist, die zumeist in Verbindung mit besonderen Zielen steht. Und obwohl neben anderen Faktoren gerade Erziehung bei jungen Menschen, die sich im Strafvollzug befinden, misslungen zu sein scheint, wird an Erziehung als solcher in ihrer Wirksamkeit, aber auch ihrer Notwendigkeit kaum gezweifelt. Das Gegenteil ist der Fall: Je erziehungsbedürftiger ein junger Mensch erscheint, umso mehr rückt Erziehung ins Blickfeld – stets verbunden mit der Erwartung, es möge im Ergebnis sittliche Verantwortlichkeit und die Akzeptanz der geltenden Normen entstehen (Walkenhorst, 2016). Dies zeigt, weshalb Erziehung gerade für den Jugendstrafvollzug, aber auch für eine Sonderpädagogik bei emotionaler und sozialer Entwicklung und ihren Beitrag zum Jugendstrafvollzug ein zentrales Thema ist: Sie ist eine notwendige Aufgabe unter „erschwerten Bedingungen“ (Speck, 1987, S. 15), die gerade dort beginnt, wo das Scheitern besonders offensichtlich ist. Allerdings kann sie in neues Scheitern führen, was in diesem Feld allzu häufig geschieht – aus komplexen Gründen heraus. Es gälte dann nicht zu resignieren, sondern die Erziehungsarbeit in diesem Feld weiterzuentwickeln, am Scheitern kontinuierlich zu lernen.
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4.4 Anerkennung und Beschämung Beschämung in vielfältigen Formen ist möglicherweise eine Erfahrung, die viele junge Menschen im Jugendstrafvollzug miteinander teilen, beispielsweise durch „Verächtlichmachung und Verachtung, Zurückweisung, Erniedrigung, Missachtung, Abwertung, Demütigung, Diskriminierung, Häme und Spott sowie negative Anerkennung“ (Hafenegger, 2013, S. 113). Die darüber erlebten Verletzungen versuchen die Betroffen nicht selten (vergeblich) dadurch zu kurieren, indem sie mit den gleichen Formen der Beschämung untereinander interagieren. Aber natürlich birgt auch die Institution Gefängnis ausreichend strukturelle Gegebenheiten in sich, um Beschämung eher zu erzeugen als zu verhindern. „Die Folgen dieser Erfahrungen sind Unsicherheit, Unzulänglichkeitsgefühle, Misstrauen, Bindungsunsicherheit oder Angst, die durch […] Rückzug hinter eine bedürfnislose Maske aus Coolness […], aggressives Verhalten oder die Bevorzugung verletzender Sprache und Demütigung von anderen maskiert werden“ (Dederich, 2018, S. 165). Die Anerkennung derartiger Beschämungserfahrungen und – damit verbunden – die Anerkennung der biografischen Wunden sowie der grundsätzlichen, zumeist erhöhten Vulnerabilität der jungen Inhaftierten ist Grundvoraussetzung für gelingende, beschämungskorrigierende Erziehungsprozesse. Sozusagen noch ‚darüber‘ steht die Anerkennung des Menschen als solchem, jenseits seiner kriminellen Taten, auch in einem System der Strafe, weil es zugleich Resozialisierung bergen und ermöglichen soll. Einzuwenden bleibt, dass Anerkennung immer mit der Macht derjenigen einhergeht, denen Anerkennung möglich ist. Zu dieser Macht gehört auch, Anerkennung zu versagen. Zudem vernachlässigt Anerkennung „die faktischen Bedingungen, an die die Handlungsfähigkeit in einer Dominanzgesellschaft geknüpft ist (a) und weiterhin bestätigen sie dominante Unterscheidungen und hegemoniale Differenzierungen (b)“ (Mecheril, 2005, S. 323). Dies könnte insbesondere für Erziehungsprozesse in Haftanstalten bedeutsam werden, da die eingesperrten Menschen in besonderem Maße auf Anerkennung angewiesen zu sein scheinen – und sich zugleich die Frage der eigenen Anerkennungserfahrungen des Personals stellt – oder auch des Bedürfnisses nach Beschämung, weil man selbst beschämt wurde. Führt Anerkennung zu negativer Anerkennung im Sinne einer Bestätigung existierender ‚Bilder und Vorstellungen‘ von Inhaftierten, so führt sie zu Beschämung statt in gelingende Erziehungsprozesse. 4.5 Selbsttätigkeit und Fremdbestimmung Es wurde bereits deutlich, dass gelingende Erziehungsprozesse auf die Selbsttätigkeit der Zu-Erziehenden wesentlich angewiesen sind. Dies jedoch schränkt der
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Jugendstrafvollzug aus guten und juristischen Gründen stark ein. Ganz im Gegenteil: Fremdbestimmung ist charakterisierend für das Verbüßen einer Haftstrafe. Aus sonderpädagogischer Sicht ist der Jugendstrafvollzug eine Fortsetzung des Bekannten mit anderen Mitteln an anderem Ort: Fremdbestimmung. Um Erziehungsprozesse zu ermöglichen und potentielle Ergebnisse wie Autonomie überhaupt in greifbare Nähe zu rücken, müssten Erziehungsprozesse in Haftanstalten der institutionell gegebenen Fremdbestimmung etwas entgegensetzen, weil es aufgrund der Lebensverläufe der jungen Menschen Anlass gibt, sich um ihre personale Freiheit zu sorgen. Hier könnte sich Erziehung inspirieren lassen durch eine Begrifflichkeit, die von Hentig (vgl. 2006) beschrieben hat und welche gerade dem Jugendstrafvollzug bekannt ist: Bewährung! Bewährung statt Belehrung und die damit verbundene Erfahrung, als Individuum in einer Gemeinschaft gefragt zu sein. Es gilt demnach, Erziehung so zu realisieren, dass auch im Jugendstrafvollzug Aufgaben bereitgehalten werden, an denen sich die inhaftierten jungen Menschen für sich und andere bewähren können und die über sie hinausführen. 4.6 Nähe und Distanz sowie deren Balance Insbesondere der Jugendstrafvollzug scheint durch seine institutionelle Struktur das Verhältnis von Nähe und Distanz deutlich entschieden zu haben. Dies manifestiert sich im Umgang der Vollzugsbeamten mit den Inhaftierten in den üblichen Formen der Ansprache, den erwarteten Verhaltensweisen und nicht zuletzt in der ‚Schlüsselgewalt‘. Aber Grenzen markieren nicht nur Distanz und Abstand, sie sind immer auch Berührungspunkte, an denen Reibung und Auseinandersetzung entstehen könnte. Wie ‚nahe‘ Jugendstrafvollzug sein kann und darf, ist eine schwierige Frage, die u. a. von Sicherheitserwägungen abhängig ist. Will der Jugendstrafvollzug jedoch seiner Erziehungsaufgabe gerecht werden, muss er sich zumindest um jene Berührungspunkte als minimalen Ausgangspunkt erzieherischer Interaktionen mühen und sich dieser auch bewusst sein. Hinzu kommt, dass viele junge Menschen im Jugendstrafvollzug mit der Balance von Nähe und Distanz im Alltag erhebliche Schwierigkeiten haben. Gerade das ‚Zunahe-Kommen‘, das Übergriffige und Grenzüberschreitende in ihren Verhaltensweisen ist es ja, was sie in den Vollzug führte. Aber auch ihre biografischen Erfahrungen sind nicht selten von frühester Kindheit an mit Erfahrungen eines Übermaßes an Nähe in Formen von Gewalt und Aggression oder mit der Distanz in Formen psychischer Misshandlung und emotionaler Vernachlässigung unheilvoll verbunden. Daher kann ein klar strukturiertes, hierarchisches und sachliches Nähe-Distanz-Verhältnis im Jugendstrafvollzug entlastend und damit auch erzieherisch wirken. Zugleich wäre aber die (erhebliche Sensibilität erfordernde) Brückenbildung‘ wichtig, mehr menschliche Nähe da zuzulassen, wo es im
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rechtlichen Rahmen der Justizvollzugsanstalt realisierbar ist und die oben erwähnten Berührungspunkte sozialer Interaktion ermöglicht. 5
Fazit
Erziehung im Jugendstrafvollzug ist und bleibt eine schwierige Aufgabe; hier treten die großen Herausforderungen von Erziehung besonders prägnant zutage. Ziele wie Verantwortungsbereitschaft, Mündigkeit, Autonomie, Rücksichtnahme und viele mehr unter den Bedingungen des institutionellen Zwanges gemeinsam mit den Betroffenen erarbeiten zu wollen kann wohl nie widerspruchsfrei gelingen. Zugleich ist es aber wohl auch genau dieser Zwang, der mit manchen der Inhaftierten erzieherische Prozesse überhaupt erst ermöglicht, da sie sich diesen zuvor stets zu entziehen wussten. Für die Sonderpädagogik ist dies ein Auftrag, vor allem aber ein legitimer Ausgangspunkt, gerade wenn und weil alle anderen „pädagogischen Felder“ zusammengebrochen sind (Möckel, 1982). Dieser Auftrag, hier als Auftrag der Erziehung, implantiert in ein System der Strafe und Konsequenz, droht allerdings zugleich ganz generell zum ‚Nebenwerk‘ zu werden in einem System, welches zunächst (oder auch nur) einfach auf die Verhinderung neuer Straftaten ausgerichtet ist, sprich auf die reine Verhaltensebene fokussiert (vgl. Walkenhorst, 2014, S. 29). Zudem besteht die Gefahr, sich unter Verweis auf die […] Möglichkeiten gelingender institutionsbezogener Förderstrukturen allzu leicht aus der Wirklichkeit zu verabschieden und die Devianz mitbedingenden gesellschaftlichen Strukturvariablen wider besseren Wissens außen vor zu lassen. So deutet nichts auf eine Trendwende in der Polarisierung der sozialen Verhältnisse in dieser Gesellschaft hin, weil weder konjunkturelle Entwicklungen noch exorbitante Kapitalerträge Perspektiven für eine verbesserte Teilhabe für viele derjenigen erschließen, die von Arbeitslosigkeit, Armut und anderen Formen der Ausgrenzung betroffen und bedroht sind. (Walkenhorst, 2007, S. 389)
… und sich auch daher allzu oft im Jugendstrafvollzug antreffen lassen. Literaturverzeichnis Ahrbeck, B. (2004). Kinder brauchen Erziehung. Stuttgart: Kohlhammer. Aschhoff-Hartmann, S. (2019). Das moralische Urteil von Schülerinnen und Schülern mit Verhaltensstörungen. Baltmannsweiler: Schneider. Bastian, J. (1995). „Strafe muß sein“? Einführende Gedanken zum Strafproblem in der Erziehung. In J. Bastian (Hrsg.), „Strafe muß sein“? Das Strafproblem zwischen Tabu und Wirklichkeit (S. 7-28). Weinheim: Beltz.
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Erziehung und Soziale Arbeit in strafrechtlichen Zwangskontexten Heinz Cornel
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Einleitung
In diesem Beitrag geht es weder um die Legitimationen strafrechtlichen Zwangs mit ihren vergeltenden und zweckgerichteten Varianten und damit verbundenen empirischen sozialwissenschaftlichen Disziplinen und Professionen noch um grundsätzliche Konzeptionen der Pädagogik und Sozialen Arbeit samt ihrer Wirksamkeit, sondern allein um den spezifischen Aspekt des Zwangskontextes in unterschiedlichen Arbeitsfeldern strafrechtlicher Sozialkontrolle, die im folgenden Abschnitt benannt werden. Deshalb bedarf es auch keiner allgemeinen Auseinandersetzung mit den Begriffen der Erziehung1 und Sozialen Arbeit2, eigentlich gehört auch die Sozialpädagogik dazu, sondern es geht hier nur um den Bezug zur strafrechtlichen Sozialkontrolle. Hinzu kommt, dass der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht eher eine Chiffre darstellt, ein allgemeiner Platzhalter für spezialpräventive Beeinflussungen mit dem Ziel der Straffreiheit bzw. Nichtrückfälligkeit ist. Damit sind Erziehungsziele genannt, die nicht in der sozialpädagogischen Beziehung zwischen Fachkraft und Klient*in aushandelbar sind. Es ist unbestritten, dass es um Lernprozesse geht und dabei Fachkompetenzen der Pädagogik und vor allem Sozialpädagogik tangiert werden.3 Gleichzeitig wird aber das Setting, das Lernfeld, das ohnehin schon durch die Hierarchie von ‚Erzieher und Zögling’ bestimmt ist, 1 Siegfried Bernfeld hat 1925 formuliert, dass Erziehung „die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“ darstelle (Bernfeld, 1967, S. 51). Vgl. auch Walkenhorst, 2003, S. 166, der Erziehung als „zielgerichtete Aktivität von Menschen“ bezeichnet und mit Giesecke betont, dass Erziehung „Lernen ermöglichen“ heißt. Vielleicht sollte man statt von ‚Erziehung‘ besser von ‚Lernen in Beziehung‘ sprechen, denn das vermeidet das Bild des Ziehenden (Subjekt) und Gezogenen (Objekt) und betont die menschliche Beziehung als Grundlage. Aber in diesem Beitrag ist kein Platz, das grundsätzlich zu diskutieren und die Chancen, den Begriff der Erziehung zu ersetzen sind gering. Immerhin kann ein kritischer Hinweis auch für den hiesigen Kontext produktiv sein. 2 Mühlum definiert die Aufgabe der Sozialen Arbeit als Hilfe zur Befähigung (besonders sozial Deprivierter) mit dem Ziel optimaler Entfaltung und befriedigender Lebensweise durch professionelle Interventionen. Vgl. auch Definition Sozialer Arbeit der International Federation of Social Workers, deutsche Fassung, beschlossen auf dem Fachbereichstag Soziale Arbeit und DBSH, Berlin 2016. 3 Einzelne Argumentationsschritte und Literaturbezüge beziehen sich im Folgenden mehr auf ‚Erziehung‘ andere mehr auf die ‚Soziale Arbeit‘. Es wird davon ausgegangen, dass vieles in diesem Kontext austauschbar bzw. übertragbar ist.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_3
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nichtpädagogisch festgelegt durch seine Funktion im Rahmen des Strafrechts, der Tatvergeltung und der Strafvollstreckung. 2
Entwicklung der Ziele und Aufgaben der Erziehung
Wenn auch nicht breit auf die gegenwärtigen Theorien der Erziehungswissenschaften und Sozialen Arbeit eingegangen werden muss und kann, so soll doch kurz auf die Entwicklung der Pädagogik der Aufklärung hingewiesen werden, weil in ihr der gesellschaftliche Auftrag mit seinen Bildern und Metaphern entstand und deutlich wird, der noch heute von Bedeutung ist und auch im strafrechtlichen Kontext eine Rolle spielt. Seit dem 17. und 18. Jahrhundert erforderten neue Produktionsformen in Manufakturen und die spätere Industrialisierung auch eine neue Vorbereitung der Folgegeneration auf die Anforderungen des Lebens und insbesondere Arbeitens. Die Pädagogik der Aufklärung hatte insofern einen ambivalenten Charakter: Indem sie sich der zielgerichteten Beeinflussung junger Menschen zuwendete, ermöglichte sie nicht nur das Ausschöpfen von Entwicklungspotentialen junger Menschen, sondern leistete auch Sozialdisziplinierungen für die entstehende bürgerliche Gesellschaft (vgl. ähnlich Tenorth, 2008, S. 80 f.).4 Tenorth sprach davon, „das Individuum der Brauchbarkeit und Nützlichkeit, den gesellschaftlichen Erwartungen und den Zwängen von Stand und Beruf aufzuopfern“ (Tenorth, 2008, S. 81). Kant hat mit den folgenden Worten einerseits die Bedeutung der Erziehung besonders gewürdigt und gleichzeitig einen hohen Anspruch formuliert für das, was Erziehung leisten soll: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht“ (Kant, 1968, S. 443). Kants Pädagogik sieht die Erziehung zum einen als Machen, als Herstellen eines Produktes, nämlich des erzogenen Menschen mit ganz gewissen Eigenschaften, Fertigkeiten und Fähigkeiten und zum anderen als beschützendes Wachsen lassen, als Garantie eines Schonraums, der Wachstum ermöglicht.5 Diese zwei metaphorischen Formulierungen haben wesentliche Auswirkungen auf das Menschenbild, die Erziehungsstile und Erziehungsziele: Einerseits geht es um Zwang und Disziplinierung und andererseits um Freiraum für Entwicklungsprozesse.
4 Das Erlernen von Selbstkontrolle wurde damit zum zentralen Anliegen aller gezielten Sozialisationsprozesse und stellte zugleich einen Schritt auf dem Weg des von Elias so genannten „Prozesses der Zivilisation dar (vgl. Elias, 1976 und Rutschky, 1977, die dies Jahrhunderte später als Schwarze Pädagogik bezeichnete). 5 Vgl. Koller, 2008, S. 33 mit Bezug auf Kant, 1968, S. 445 „Die Menschheit aus ihren Keimen zu entfalten“ und „Zu machen, dass der Mensch seine Bestimmung erreiche“; vgl. auch Bernfeld, 1969, S. 120.
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Schleiermacher spitzt die pädagogische Theorie auf die Fragen zu: „Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“ (Schleiermacher, 1957, S. 9) oder „Was kann durch Erziehung bewirkt werden?“ und „Was soll durch Erziehung bewirkt werden?“ (Schleiermacher, 1957, S. 13). Eine erste allgemeine Antwort lautet für ihn wie folgt: „Die Erziehung… soll den Menschen abliefern als ihr Werk an das Gesamtleben im Staate, in der Kirche, im Allgemeinen freien geselligen Verkehr, und im Erkennen und Wissen“ (Schleiermacher, 1957, S. 28 f.). Was bei Kant das Machen ist, ist bei Schleiermacher das Werk. Ein weiterer relevanter Aspekt der historischen Pädagogik des frühen 19. Jahrhunderts soll kurz angerissen werden. Schleiermacher stellte fest, dass Strafen vermieden werden können „wenn die unterstützende Tätigkeit zur rechten Zeit geübt wird“ (Schleiermacher, 1957, S. 240). Er meint, dass man die Strafe nicht als Erziehungsmittel gebrauchen dürfe und sie bestenfalls entschuldigen könne. „Jede Strafe beweist, dass früher schon hätte auf die Gesinnung gewirkt werden sollen“ (Schleiermacher, 1957, S. 241). Auch wenn sich hier Neues zeigt im Verständnis der Erziehung, so blieb doch viel Zwang und Gewalt im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, Lehrenden und Kindern und diese Gewaltanwendung wurde als notwendig gerechtfertigt. Kant (1968) sprach eben nicht nur vom Wachsen, sondern er unterteilte die Erziehung in Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung (S. 449 f.) und die zu erlernende Selbstkontrolle als soziale Kompetenz begnügte sich nicht mehr allein mit der Befolgung der Normen, sondern erforderte Einsicht und Akzeptanz. Genau das machte die schwarze Pädagogik aus – sie bereitete neue Generationen auf neue Formen der Sozialtechnologie und Sozialdisziplinierung vor und tat dies durch gewalttätige Erziehung, die erwachsene Arbeiter und Arbeiterinnen ‚freiwillig‘ und diszipliniert in die Fabriken gehen ließ und erwachsene Soldaten ‚freiwillig‘ für König, Kaiser und Vaterland auf die Schlachtfelder. Diese Zeit der Pädagogik mit diesen Erziehungszielen ist vorbei. Die Erziehungswissenschaften benennen als Ziel den mündigen Bürger, der selbstständig seine Rechte und Pflichten wahrnehmen kann unter Wahrung der Rechte anderer (Walkenhorst, 2003, S. 166). Menschenrechte und Grundgesetz sowie die Neuorientierung einer sozialwissenschaftlichen, demokratischen und kritischen Pädagogik seit den sechziger Jahren haben diesbezüglich neue Ansprüche formuliert und die Formen der Disziplinierung und der Anwendung direkten Zwangs in Familien und Schulen haben sich gewandelt. Schleiermachers Frage aber, was denn die ältere Generation von der jüngeren wolle, worauf diese wie vorbereitet werden soll, bleibt aktuell. Dabei geht es um die Vermittlung von Werten, Normen und Disziplin sowie die Fähigkeit, diese einzuhalten und direkte Bedürfnisbefriedigung zu Gunsten späterer Gratifikationen zurückzustellen. Diese Gratifikation kann der höhere Bildungsabschluss nach Zeiten des Lernens in Schule und Hochschule sein, der Lohn nach einem Monat der Lohnarbeit oder das Nichtbestrafen nach Befolgen der Straf-
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rechtsnormen. Wer dies nicht lernt, kann nicht in stabilen Beziehungen leben, wird wirtschaftlich nicht erfolgreich sein und kann auch die Strafgesetze nicht einhalten. Auch die Soziale Arbeit, die sich aus den Traditionen der Armenfürsorge und Sozialpädagogik als Teil der Erziehungswissenschaften seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte und heute eine eigene Disziplin und Profession darstellt, ist nicht allein als helfend und unterstützend zu begreifen, sondern Teil sozialer Kontrolle und spricht selbst von ihrem doppelten Mandat, also einem zweiten Auftrag, der nicht von dem Klienten oder der Klientin kommt und damit auch nicht immer deren Willen und Interessen entspricht. Wer die Praxis der Fürsorgeerziehungsanstalten im 19. Jahrhundert bis in die frühen sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts betrachtet und auch die zur Schau gestellte moralische Überlegenheit gegenüber Menschen mit Suchtproblemen oder solchen, die straffällig geworden waren, der versteht die Ambivalenzen der Hilfeleistung und Annahme von Hilfe und Unterstützung durch Soziale Arbeit. 3
Erziehung und Soziale Arbeit im Kontext strafrechtlicher Sozialkontrolle
Erziehung, persönliche Förderung zur Entwicklung von Kompetenzen und Fähigkeiten und soziale Hilfen waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weder in den Strafrechtstheorien noch in der Strafrechts- und Strafvollzugspraxis vorgesehen und möglich.6 Erst die Überwindung des Pauperismus im letzten Drittel des l9. Jahrhunderts, das Entstehen einer eigenen Jugend- und Ausbildungsphase, der modernen Strafrechtsschule und der Jugendgerichtsbewegung machten Armut und Sozialisationsdefizite unter dem Begriff der Verwahrlosung zum Thema und entwickelten neue Strategien der sozialen Kontrolle durch staatliche (Fürsorge-)Erziehung und die Anfang des 20. Jahrhunderts entstehende Soziale Arbeit. Eine völlige Abkehr von der strafrechtlichen Sozialkontrolle in Bezug auf junge Menschen setzte sich jedoch trotz heftiger Diskussionen um die Strafmündigkeitsgrenzen in Deutschland nicht durch (vgl. dazu Webler, 1929; Simonsohn, 1969, S. 8 und 28 f.; Cornel, 2009; Cornel, 2010).
6 Allerdings kam die ‚Erziehung‘ mit dem Ziel der Vermittlung von Arbeitsdisziplin im 17. Jahrhundert zunächst in den Niederlanden und England und später im 18. Jahrhundert in Deutschland in das Gefängnis (vgl. Cornel, 1984 und Cornel 2018b bzw. in die Zucht und Arbeitshäuser. (vgl. Hippel, 1898, S. 424; Borchers, 1923, S. 15; Howard, 1780, S. 52; Kriegsmann, 1912, S. 6). 1786 gab es schon mindestens 60 Zucht- und Arbeitshäuser in Deutschland (vgl. Hippel, 1898, S. 422). Aus Institutionen der Vernichtung und Sicherung wurden Spinn- und Raspelhäuser, in denen Delinquente, Bettler, Waisen und teils auch einkommenslose Witwen arbeiteten und an Arbeit gewöhnt werden sollten. Diese Phase war aber schon mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beendet.
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Im Zuge der Jugendgerichtsbewegung entstanden die ersten Jugendgerichte (Cornel, 2008), die erste Jugendstrafanstalt (Cornel, 1984, S.97 ff.), die ersten Jugendgerichtshilfen (Cornel 2008, S.236) und letztlich das Reichsjugendgerichtsgesetz, das Jugendgerichtshilfen durch die Jugendämter, die etwa zeitgleich durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz geschaffen wurden, vorschrieb (§§ 22 und 42 RJGG in der Fassung vom 16.2.1923, RGBl I, S.135 ff.). Dieses erste Jugendgerichtsgesetz regelte in § 7 Erziehungsmaßregeln, sah darin unter anderem Fürsorgeerziehung, Überweisung in die Zucht der Erziehungsberechtigten oder der Schule und Schutzaufsicht vor, wie das Gesetz den Vorläufer der Bewährungshilfe nannte. § 16 des Reichsjugendgerichtsgesetzes bestimmte, dass der Strafvollzug gegen einen Jugendlichen so zu bewirken ist, „daß seine Erziehung gefördert wird.“ Heute bringen Jugendgerichtshilfen der Jugendämter, die § 52 SGB VIII „Mitwirkung in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz “ nennt, in denen Jugendhilfe geleistet wird, die erzieherischen, sozialen und fürsorgerischen Gesichtspunkte in allen Phasen des Verfahrens ein und § 2 JGG bestimmt, dass die Rechtsfolgen und das Verfahren des Jugendstrafrechts vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten sind. Entsprechend den gesetzlichen Möglichkeiten im JGG werden die meisten Jugendstrafen zur Bewährung ausgesetzt7 und in der Bewährungshilfe sind Fachkräfte der Sozialen Arbeit tätig. Alle Jugendstrafvollzugsgesetze und Jugendarrestvollzugsgesetze der Länder beinhalten Regelungen zur Erziehung, Förderung, Unterstützung und Sozialen Hilfe während des Vollzugs. Schon in den zwanziger Jahren entstanden Gerichtshilfen in einigen Landgerichtsbezirken, die teilweise in Abgrenzung zur Jugendgerichtshilfe Erwachsenengerichtshilfe oder soziale Gerichtshilfe genannt wird. Seit 1975 kann diese Gerichtshilfe als Ermittlungshilfe für die Staatsanwaltschaften und Gerichte gem. § 160 Abs.3 StPO oder im Strafvollstreckungsverfahren gem. § 463d StPO zur Vorbereitung von Entscheidungen eingesetzt werden, beispielsweise wenn es um die Strafrestaussetzung zur Bewährung oder den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung geht (Cornel & Trenczek, 2019, S.170 ff.). Zwar ist die Zusammenarbeit mit der Gerichtshilfe und damit durchweg mit Fachkräften der Sozialen Arbeit für die Beschuldigten, Angeklagten oder Verurteilten freiwillig. Sie werden insofern nicht zum Kontakt und Zusammenarbeit mit der Gerichtshilfe gezwungen. Gleichwohl werden die betroffenen Personen angesichts der drohenden Strafen oder Strafvollstreckungen, die für sie gegebenenfalls nach den gerichtlichen Entscheidungen folgen, die Besuche der Gerichtshilfe nicht allein als Hilfe leistend und unterstützend wahrnehmen. Seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts gibt es in Deutschland nach Vorläufern im Jugendstrafrecht und auf dem Gnadenweg die Möglichkeit der 7 Von insgesamt 59.668 Verurteilungen mit Hauptstrafe nach Jugendstrafrecht wurden 16 % (9.685) zu Jugendstrafe verurteilt. Bei 60 % (5.804) davon wurde die Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt; vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, Rechtspflege, Strafverfolgung 2017, S. 292.
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Strafaussetzung zur Bewährung und die Unterstellung unter die Aufsicht der Bewährungshilfe (Cornel, 2011, S. 380 ff.; Cornel & Trenczek, 2019, S. 179 f.). Die Mehrheit aller Freiheitsstrafen wird zur Bewährung ausgesetzt und heute stehen mehr als dreimal so viele Personen unter Bewährungsaufsicht als im Gefängnis inhaftiert sind. Den Probandinnen und Probanden der Bewährungshilfe ist aber von Beginn an klar, dass sie sich an die Auflagen und Weisungen des Gerichtes halten müssen, wenn nicht die Aussetzung widerrufen werden soll und damit die Strafvollstreckung droht. Der Kontakt zur Bewährungshilfe kann also nicht als freiwillig bezeichnet werden, auch wenn es zu den Standards fachlicher Sozialer Arbeit in der Bewährungshilfe gehört, möglichst schnell eine Primärmotivation und professionelle Beziehung zu erarbeiten. Das Problem der Unfreiwilligkeit gilt noch mehr in der 1975 eingeführten Führungsaufsicht gemäß § 68 f. StGB, die aus der Polizeiaufsicht entstand und gegenüber Personen verhängt wird, die ihre Strafe voll verbüßt haben. Erziehung, Behandlung und soziale Hilfe durch Soziale Arbeit spielen auch im Strafvollzug eine große Rolle – zumindest als in allen Landesstrafvollzugsgesetzen vorgeschriebene Aufgabe. Zum einen gibt es spezifische Zielsetzungen im Jugendstrafvollzug und Erwachsenenstrafvollzug mit – je nach Landesgesetz – Mitwirkungspflichten für die inhaftierten Menschen oder Soll-Bestimmungen zur Mitwirkung sowie der Aufforderung, dass die Mitwirkungsbereitschaft zu wecken und zu fördern sei. Zum zweiten gibt es – nach einzelnen Vorläufern durch die Gefangenenfürsorge im 19. und frühen 20. Jahrhundert – spätestens seit dem Bundesstrafvollzugsgesetz von 1977 eine geregelte soziale Hilfe durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit. In den Ländern, in denen eine Mitwirkungspflicht zur Gestaltung der Behandlung und Erfüllung des Vollzugsziels der Befähigung der Gefangenen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen besteht,8 kann die Mitwirkung letztlich ebenso wenig erzwungen werden, wie in den anderen Ländern, die dazu nur motivieren wollen. Völlig unabhängig von den unterschiedlichen Formulierungen in den Landesstrafvollzugsgesetzen wird jeder inhaftierte Mensch wissen, dass sich eine mangelnde Mitwirkung oder eine Verweigerung der Kooperation mit dem pädagogischen, psychologischen oder sozialen Dienst der Anstalt auf die Chancen von Lockerungen, Verlegungen in den offenen Vollzug oder vorzeitigen Entlassungen auswirken wird. Nicht nur die justizielle Straffälligenhilfe (Cornel, 2018a, S. 64) leistet Soziale Arbeit mit Berichtspflichten an das System strafrechtlicher Sozialkontrolle. Zur Vermeidung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen bieten zahlreiche Freie Träger der Straffälligenhilfe Möglichkeiten der Ableistung gemeinnütziger Arbeiten an (Bögelein & Kawamura-Reindl, 2018; Cornel & Trenczek, 2019, S. 218 f.). Diese sinnvolle und erfolgreiche vermittelnde und organisatorische 8 Vgl. beispielsweise § 5 Hamburgisches Strafvollzugsgesetz vom 14. Juli 2009 in: Hamburger GVBl. 2009, S. 257.
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Tätigkeit zur Vermeidung von Inhaftierungen und damit von Haftschäden kann nur geleistet werden, wenn die Freien Träger der Straffälligenhilfe die geleistete Arbeit registrieren und darüber an die Strafvollstreckungsbehörde berichten. Das erspart den Verurteilten die Strafvollstreckung durch Haft, lässt die Fachkräfte der Sozialen Arbeit des Freien Trägers aber gleichzeitig in eine Doppelrolle mit einen Kontrollauftrag schlüpfen. Die Beispiele und genannten Arbeitsfelder machen deutlich, wie umfangreich die pädagogischen und sozialen Tätigkeiten im Kontext strafrechtlicher Sozialkontrolle sind. Im Folgenden soll der Begriff des Zwangskontextes genauer definiert und dann die Auswirkungen und Folgerungen erörtert werden. 4
Erziehungsbedarf, Hilfsbedürftigkeit, Zwangslage und Zwangskontexte
Kähler zählt zu den Zwangskontexten in der Sozialen Arbeit „alle nicht von den Klienten/innen selbst ausgehenden Einflüsse zum Aufsuchen von Einrichtungen der Sozialen Arbeit“ (Kähler, 2007, S. 1071). Lindenberg und Lutz unterscheiden zwischen engem und weitem sowie rechtlichem Zwangsbegriff (Lindenberg & Lutz, 2014, S. 116 f.) und thematisieren unterschiedliche Grade der Nicht-Freiwilligkeit (Lindenberg & Lutz, 2014, S. 120; Kähler, 2005, S. 16 ff.). Es liegt auf der Hand, dass es einen Unterschied macht, ob Soziale Arbeit von Zwang gerahmt ist, oder ob sie Zwang im engen Sinne ausdrücklich und absichtsvoll anwendet und organisatorisch in ihre Erbringung einlagert, wie dies beispielsweise in der geschlossenen Unterbringung, in Time-Out-Räumen oder Zwangsbehandlungen (Fixierung, Meditation) in der Psychiatrie geschieht. Mit ‚Zwangskontexten‘ wären dann Formen des organisierten und institutionalisierten Zwangs gemeint, die nicht – wie der ausgeführte, gängige Begriff – den Zugang zu Sozialer Arbeit beschreiben, sondern die Orte und die Gestaltung sozialarbeiterischer Interaktionen und Situationen. (Lindenberg & Lutz, 2014, S. 121)
In diesem Sinne steht Soziale Arbeit oder entsprechend auch Erziehung beispielsweise in Einrichtungen stationärer Jugendhilfe nicht im Zwangskontext, sondern wendet selbst Zwang in einer Art und Weise an, die dem Selbstverständnis und der Zielsetzung Sozialer Arbeit und Pädagogik widerspricht. Obwohl diese Definition von Lindenberg und Lutz besonders klar ist und eine eindeutige ethische Positionierung zulässt, so ist doch hier – wie bisher im Diskurs üblich – Zwangskontext im Sinne der institutionellen und rechtlichen Rahmung der Sozialen Arbeit gemeint. Es geht also inhaltlich darum, ob dieser Rahmen selbst Erziehung und Soziale Arbeit zulässt oder nicht, ob die Autonomie in der Phase der Entstehung des Kontakts mit Klientinnen und Klienten nur eingeschränkt oder völlig missachtet wird. Die Begrifflichkeit von Lindenberg und Lutz ist gleichwohl
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wertvoll, denn sie definiert die Fälle, in denen Soziale Arbeit ihr eigenes Professionsverständnis verlässt. Unter Zwangswirkung soll hier verstanden werden eine Einschränkung der Freiwilligkeit durch Androhung eines bedeutsamen Nachteils bzw. empfindlichen Übels für den Fall, dass ein Kontakt oder ein Mitwirken bei einer sozialen oder erzieherischen Hilfe nicht zustande kommt, gemieden oder abgebrochen wird. Dazu bedarf es keines direkten körperlichen Zwangs (das gibt es meines Wissens nicht, abgesehen davon, dass ein Gefangener nicht über seinen Aufenthaltsort frei entscheiden darf), sondern es genügt, dass aus einer Machtsituation heraus die Entscheidungsfreiheit der Person eingeschränkt wird. Es ist hier nicht der Raum die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs Zwang in der Soziologie zu würdigen – sprachlich etymologisch bedeutet Zwingen zusammenpressen. Als Zwang bezeichnet man eine psychische oder physische Nötigung zu Handlungen, die nicht mit der freien Entscheidung einer Person übereinstimmen. Es kann hier nicht über Determinismus und Willensfreiheit gestritten werden – begrifflich ist aber von Bedeutung, dass Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit nicht ein Gegensatzpaar sind, sondern eher die Extreme eines Kontinuums darstellen. „Nirgends im Leben geht es ganz rein zu. Die konsensorientierten Handlungen, welche die Rechtsgesellschaft prägen, sind sämtlich getrübt durch latente Momente von Nötigung, durch soziale Strukturen und Zwangsläufigkeiten in der individuellen Sozialisation“ (Lüderssen, 1983, S. 84). Karl Marx sprach vom stummen Zwang ökonomischer Verhältnisse (Marx, 1968, S. 765). Für die Soziale Arbeit und ihr Verhältnis zwischen Fachkraft und Klient bzw. Klientin ist die Freiwilligkeit des Kontaktes nicht so selbstverständlich, wie es zunächst den Anschein hat. „Unfreiwilligkeit heißt: Den Klienten wird die Kontaktaufnahme von Dritten (Gericht, Behörden, Angehörigen…) aufgezwungen, unter Androhung von Sanktionen vorgeschrieben. Die daraus resultierende Pflichtklientschaft weist einige psychodynamische Besonderheiten auf…“ (Gehrmann & Müller, 2007, S. 24 f.), auf die noch eingegangen werden wird. Unfreiwillig in diesem engeren Sinne ist beispielsweise auch die Teilnahme eines Täters häuslicher Gewalt an einer Gruppenarbeit mit gewalttätigen Männern, wenn die Partnerin droht, ansonsten die Scheidung einzureichen. Es ist hier kein Raum, breit auf unterschiedliche Strategien sozialer Kontrolle einzugehen (Peters, 2002, S. 115 ff.) und dabei insbesondere die Rolle der Sozialisation und der Sozialen Arbeit zu beleuchten (dazu insbesondere schon früh Peters & Cremer-Schäfer, 1975). Soziale Kontrolle funktioniert bekanntlich nicht hauptsächlich durch Androhung und Vollstreckung von Sanktionen, sondern vor allem durch Sozialisation und (nach sichtbar gewordener Devianz und insbesondere Delinquenz) Hilfen zur Integration und Resozialisierung durch Soziale Arbeit
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(Cornel, 2018).9 Nicht direkter Zwang und Sanktion bzw. deren Androhung sind die wichtigsten Methoden zur Einhaltung der Normen einer Gesellschaft und ihres Rechtsfriedens, sondern Sozialisation in Familien, Kitas und Schulen sowie die Soziale Arbeit in ihren unterschiedlichen Formen, die zumeist im Einvernehmen mit den Klienten und Klientinnen geleistet wird (Peters, 2002, S. 179; vgl. auch Conen & Cecchin, 2007, S. 61). Das ändert aber nichts daran, dass Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen zu den Instanzen sozialer Kontrolle gehören und einen entsprechenden Auftrag haben. Der Doppelauftrag von Hilfe und Kontrolle10 ist bekannt und wird seit langem als Problem und Aufforderung, ihn offen zu legen diskutiert (Mühlum, 2001, S. 138 ff.; Peters, 2002, S. 143; Conen & Cecchin, 2007, S. 27 f.; Wendt, 1997, S. 15 f.). Es ist ohnehin ein weit verbreitetes Missverständnis, dass erwachsene Menschen persönliche Entwicklungen und Veränderungen gerne und freiwillig auf der Basis eigener Einsicht vornehmen. Möglicherweise wird dieses Missverständnis auch durch das erwünschte Selbstbild pädagogischer und helfender Berufe gefördert. Selbstverständlich ist die ethische Entscheidung für ein größtmögliches Maß an Selbstbestimmung und Freiwilligkeit zu teilen. Aber es ist durchaus fraglich, ob sich die Ablehnung von Erziehung, Förderung und Sozialer Arbeit im Zwangskontext zum einen darauf stützen kann, dass Hilfe so grundsätzlich nicht möglich sei und zum anderen auf die Annahme, dass faktisch die meisten Hilfebeziehungen auf reiner Freiwilligkeit basieren. Conen hält es für einen Mythos, dass sich die meisten Klienten und Klientinnen selbst melden (Conen, 2007, S. 370) und macht dies plausibel mit dem Hinweis, dass die meisten Menschen auf die Aufforderung, sich zu verändern nicht mit Begeisterung, sondern mit Reserviertheit, Befremden oder Ablehnung reagieren. Kähler hat in einer Befragung von 99 hauptberuflich tätigen Fachkräften aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit zum Thema Zwangskontext herausgefunden, dass nur etwa ein Drittel der Kontaktaufnahmen auf Freiwilligkeit und Selbstinitiative beruhten (Kähler, 2005, S. 9 und S. 14). Plewig hält es für einen unbewiesenen Glaubenssatz „in Pädagogik, Strafrecht und Therapie, dass Kontrolle Hilfe behindere und Zwang die Freiwilligkeit“ (Plewig, 2007, S. 356). In diesem Zusammenhang ist es auch zweifellos sinnvoll zu unterscheiden, ob sich die Freiwilligkeit auf die Kontaktaufnahme oder eine Verhaltensänderung bzw. Veränderung der Lebenslage bezieht. Niemand kann eine Verhaltensänderung erzwingen durch Soziale Arbeit, aber die Herstellung eines Kontaktes durch das Androhen von Rechtsnachteilen ist durchaus möglich. Ob daraus eine 9 Schon 1975 haben Peters und Cremer-Schäfer beschrieben, dass auch durch Sanktionsverzicht soziale Kontrolle ausgeübt werden kann und dadurch die Helferrolle aktiviert wird; vgl. a.a.O., S.63; vgl. auch Walkenhorst, 2003, S. 166. 10 Vgl. auch zum so genannten Tripelmandat Staub-Bernasconi, die gute Gründe anführt, neben dem Mandat des Klienten oder der Klientin und des staatlichen Auftraggebers auch das der Menschenrechte und Ethik der Profession zu berücksichtigen (Staub-Bernasconi, 2015, S.153 f.).
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professionelle Beziehung wird und Motivation zur persönlichen Entwicklung und Veränderung entsteht, ist dann aber noch längst nicht entschieden und bedarf des professionellen Handelns und Achtung der Lebenswelt des Klienten oder der Klientin. Wer die Ethik der Erziehung, Förderung und Sozialen Arbeit im Kontext von Zwang und Sanktionen beurteilen will, muss die Konsequenzen und Alternativen mit bedenken. Der Mangel an Primärmotivation kann auch dazu führen, dass ein möglicher Klient oder eine Klientin in ihrer Zwangslage und Hilflosigkeit verbleibt – möglicherweise dadurch auch bald wieder inhaftiert wird. Mangelnde Motivation zur Veränderung und zur Mitwirkung wird quasi als Charaktereigenschaft oder zumindest als unabänderliche Entscheidung hingenommen. Was wie die Achtung der Würde und Willensfreiheit daherkommt, bedeutet aber gerade in der Arbeit mit Delinquenten keineswegs die Botschaft: „Dann bleibe halt wie Du bist und mach weiter so, folge in Deinem Handeln Deiner freien Entscheidung als autonomes Individuum“, sondern Einschluss und Ausgrenzung. Um im Gefängnis verwahrt zu werden, muss niemand motiviert sein – allerdings wird dort auch nicht die Selbstbestimmung großgeschrieben. Im Übrigen sei auch darauf hingewiesen, dass der Klient oder die Klientin nicht selbstverständlich davon ausgehen kann, dass die Annahme von Hilfe oder die Teilnahme an einem Behandlungsprogramm tatsächlich seine bzw. ihre Lebenslage verbessert oder sonst in einer Weise für ihn oder sie positiv wirksam ist. Professionelle Fachkräfte werden nur gut evaluierte Programme anbieten oder solche Unterstützungsleistungen, deren Nutzen für die Klientel zumindest plausibel erscheint. Aber ein Klient oder eine Klientin darf durchaus kritisch sein, persönlich Aufwand und Nutzen abwägen und dies mag sich auf die Motivation auswirken. Dies darf jedenfalls kein Anlass sein, der straffällig gewordenen Person Unerziehbarkeit, Unverbesserlichkeit oder Untherapierbarkeit zu unterstellen.11 Problematisch ist zweifellos, dass die Ablehnung von Sozialer Arbeit im Zwangskontext in der Regel nicht zu der wünschenswerten Konsequenz führt, ein Angebot zu unterbreiten, welches auf Freiwilligkeit beruht und zur Lebenslagenverbesserung und Problemlösung führt, sondern dass entweder die Hilfeleistung mit der Begründung, der Klient bzw. die Klientin sei unbehandelbar oder habe es eben nicht anders gewollt, unterbleibt oder aber dass Zwang ausgeübt wird ohne jegliche Angebote der sozialen Hilfe. Zynisch formuliert: Berufsethisch einwandfrei verbringt die Person dann den Rest des Lebens im Strafvollzug. 11 „Statt dem Prozess zwischen Klient und professionellem Helfer zu nutzen, um die Motivation zu erweitern, wird die ‚unzureichende’ Motivation als Grund genommen, mit ‚bestimmten’ Klienten nicht zusammen zu arbeiten“ (Conen, 2007, S. 370); zur Therapie- und Behandlungsmotivation im Kontext von Freiwilligkeit und Zwang im Jugendstrafvollzug vgl. Hinrichs & Köhler, 2007, insbes. S. 383 und Gutmann, 1993 zu Freiwilligkeit und Soziotherapie. Gustav Radbruch wies bereits 1933 darauf hin, dass man in der angeblichen Unverbesserlichkeit nicht ein Unvermögen des Zöglings, sondern des Erziehers erblicken solle (Radbruch, 1957, S.69).
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Bei der Interpretation der frühen Debatte um die Alternativen Erziehung oder Strafe zu Beginn der Jugendgerichtsbewegung muss berücksichtigt werden, dass unter dem Etikett der Erziehung eine ganze Reihe von mit Zwang und Repression verbundenen spezialpräventiven Maßnahmen nebeneinander gestellt wurden. Neben dem Jugendgefängnis war dies vor allem die Fürsorgeerziehung, die damals nicht nur gegen den Willen des bzw. der Jugendlichen und seiner bzw. ihrer Eltern verhängt werden sollte, sondern mit Mauern, Gittern und Schlägen verbunden war. Die Sozialpädagogik selbst entwickelte sich in dieser Zeit stürmisch und sammelte auch Erfahrungen und entwickelte Konzeptionen im Umgang mit delinquenten Jugendlichen (Aichhorn, 1969; Bernfeld, 1967). Immer wieder wurde in der kriminalpolitischen Debatte um das Jugendstrafrecht das Verhältnis von Erziehung bzw. Jugendhilfe und Strafe, insbesondere mit Freiheitsentzug verbundene Strafvollstreckung neu diskutiert. Erinnert sei an die Strafmündigkeitsgrenzen, die Einführung der Zuchtmittel mit dem Jugendarrest durch den nationalsozialistischen Gesetzgeber bis zu Forderungen nach Abschaffung des Jugendstrafvollzugs. Unter dem Titel „Erziehung hat Vorrang!“ präsentierte eine Arbeitsgruppe aus Praktikerinnen und Praktikern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Vorschläge zur Abschaffung des geschlossenen Jugendstrafvollzugs und des Vorrangs der Jugendhilfe, die auch bei Delinquenz junger Menschen zuständig sei und sich dieser Zuständigkeit bewusst sein und entsprechend verhalten müsse (Cornel, 2009; Cornel, 2010). Dass erzieherische Prozesse eine Basis der Beziehung und insbesondere Bindung (Bowlby, 1975; Winkler, 2006, S. 147) brauchen, dass dann Ausprobieren und Fehler möglich sein müssen, ist im Alltag kindlicher Sozialisation den meisten bekannt. Wenn es also auch im Jugendstrafrecht um Erziehungsbedürftigkeit, einen Prozess der Erziehung, um Lernen in Beziehung und damit um ‚Vorgänge der Selbstkonstitution’ (Winkler) geht, dann muss auch hier ein Lernfeld zur Verfügung gestellt werden, das Fehler zulässt, ohne gleich mit Strafe, Einschluss und Beziehungsabbruch zu drohen (Cornel, 2018, S. 52). Soziale Arbeit, verstanden in der Tradition sowohl der klassischen Sozialarbeit als auch der Sozialpädagogik ist aufgrund ihres Bezuges auf die Menschenrechte und die soziale Gerechtigkeit der Freiwilligkeit der Annahme ihrer Angebote, der Partizipation und der Erhöhung der Entscheidungsfreiräume ihrer Klienten und Klientinnen verpflichtet. Gleichwohl würde man die Realität verleugnen, verschlösse man sich der Einsicht, dass Soziale Arbeit nicht nur eng mit Hilfsbedürftigkeit und damit der Einschränkung von Handlungsfreiheiten korrespondiert, sondern explizit in Zwangskontexten angeboten wird. Im Folgenden sollen fünf Grundformen unterschiedlicher Varianten dieser Zwangskontexte und Grade der Freiwilligkeit genannt werden, um in Bezug auf die Soziale Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen die konzeptionellen, handlungsrelevanten Konsequenzen durchzuspielen.
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Wem es weder an einschlägigen Kompetenzen und Ressourcen mangelt, wer keine Hilfsbedürftigkeit für sich oder Angehörige wahrnimmt und sich in seinen Handlungsfreiheiten nicht eingeschränkt sieht, wird – unbeschadet der Ausweitung präventiver Arbeitsansätze – zumindest als Erwachsener wenig Kontakt zur Sozialen Arbeit haben. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass – egal ob langfristige Lebenslagenverschlechterung oder kurzfristige Krise – ein Bezug zur Sozialen Arbeit meist dann hergestellt wird bzw. zustande kommt, wenn der Handlungsspielraum eingeschränkt ist und die eigenen Ressourcen nicht ausreichen. Man könnte von einer Zwangslage sprechen. Professionelle Soziale Arbeit wird alles daran setzen, den Klienten bzw. die Klientin als Subjekt alle Entscheidungen über die notwendigen Schritte im Hilfeprozess selbst treffen zu lassen – aber der erste, mehr oder weniger bewusste, Schritt ist in der Regel die Einsicht, dass man es alleine nicht schafft und keine anderen Ressourcen (z. B. durch Familie oder Freunde) zur Hilfe mobilisieren kann. In dieser Konstellation gibt es eine Entscheidung des freien Willens in einer Situation, die kaum eine andere Entscheidung zulässt, wodurch die Freiwilligkeit faktisch stark eingeschränkt ist. Insbesondere im Kontext von Kindeswohlgefährdung, Kinder- und Jugendschutz gibt es rechtlich legitimierte und legitime Entscheidungen, dass zum Schutz eines Schutzbedürftigen in das elterliche Personensorgerecht eingegriffen werden darf und bei Kindeswohlgefährdungen Hilfe auch gegen den Willen der Sorgeberechtigten geleistet wird. Eine strafbare Handlung ist dafür nicht Voraussetzung. In dieser Variante ist die Entscheidungsfreiheit des autonomen Subjekts mit Bedacht und nach festen rechtsstaatlichen Regeln eingeschränkt. In einer dritten Konstellation werden direkt staatliche Zwangsmaßnahmen – oft als Sanktionen – verhängt und diese mit Angeboten Sozialer Arbeit, sozialen Lernens und Erziehungsmaßnahmen in einer Art kombiniert, dass der Betroffene sich freiwillig für oder gegen eine Mitwirkung entscheiden kann, aber bei Ablehnung mit Rechtsnachteilen, z. B. einer Inhaftierung oder Verlängerung des Einschlusses rechnen muss. Bewährungshilfe12, Führungsaufsicht, Teilnahme an Sozialen Trainingskursen innerhalb und außerhalb des Vollzugs und auch die Kooperation mit den Sozialdiensten im (Jugend-)Strafvollzug wären hier zu nennen.
12 Bei den Weisungen für die Dauer der Bewährungszeit, die den Probanden oder die Probandin zweifelsfrei einschränken und damit im Zwangskontext stehen, verlangt der Gesetzgeber in § 56c StGB immerhin, dass bei Heilbehandlungen mit einem körperlichen Eingriff, Entziehungskuren und Anstaltsaufenthalten die Einwilligung des Verurteilten vorliegen muss. Allerdings müssen Verurteilte, die die Einwilligung verweigern, damit rechnen, dass die Strafaussetzung zur Bewährung unterbleibt und die Strafe oder der Strafrest vollstreckt wird. Was wie Achtung der Willensfreiheit und Autonomie des Subjekts aussieht, betont nur seine Zwangslage.
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Zwangsmaßnahmen sind auch zu rechtfertigen und werden vorgenommen, wenn der Klient oder die Klientin selbst nicht mehr die Fähigkeit hat, von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch zu machen, wozu es gesetzlich eng umrissene Eingriffsbefugnisse zur Gefahrenabwehr und Prävention gibt.13 Dies betrifft vor allem den Maßregelvollzug und psychiatrische Landeskrankenhäuser. Allerdings kann von der Schuldunfähigkeit bei Begehung der Tat gem. § 20 StGB nicht direkt auf sonstige Steuerungsfähigkeiten geschlossen werden. Es ist also auch hier zur freiwilligen Zusammenarbeit zu motivieren und gleichzeitig transparent zu machen, inwieweit sich die Verweigerung einer Mitwirkung an Behandlungsmaßnahmen, pädagogischen Programmen oder sozialen Hilfen nachteilig auf die Fortdauer der Zwangsmaßnahme auswirken kann. Als fünfte Stufe der Erziehung und Sozialer Arbeit im Zwangskontext könnte man die direkte Erzwingung der Mitwirkung abstrakt konstruieren – faktisch gibt es das nicht, wäre dies ethisch und verfassungsrechtlich nicht vertretbar und wohl auch nicht Erfolg versprechend.14
Ich hoffe gezeigt zu haben, dass Zwangskontexte in der Sozialen Arbeit sich nicht exklusiv auf Gefängnisse und sonstige strafrechtliche Sanktionen und Maßnahmen beziehen. Dies gilt entsprechend auch für pädagogische Maßnahmen. Einerseits steht Pädagogik und Soziale Arbeit mit durch Delinquenz auffällig gewordenen Menschen damit immer in der Gefahr sich die Hände schmutzig zu machen, weil – gerade in der Wahrnehmung der Klientel – die Trennlinie zum strafenden Staat schwierig zu sehen ist, vor allem wenn der Bewährungshelfer oder die Bewährungshelferin einen folgenschweren Bericht an das Gericht schreibt oder wenn die Sozialarbeiterin und die Lehrerin im Vollzug einen Schlüssel haben. Aber andererseits bestehen gerade bei solchen Zielgruppen Perspektiven und Möglichkeiten, Handlungsspielräume zu erweitern, das Wegsperren im Strafvollzug und Maßregelvollzug zu vermeiden, potentielle Opfer zu schützen und eine rationale Kriminalpolitik ohne das Bedienen archaischer Strafbedürfnisse durchzusetzen. Schon heute wird Soziale Arbeit im ambulanten Setting dadurch mit Personen konfrontiert, die vor Jahrzehnten die Gefängnisse und psychiatrischen Anstalten kaum verlassen hätten. Zwangskontexte haben also für die Pädagogik und Soziale Arbeit mit durch Delinquenz auffällig gewordene Menschen eine vielschichtige Bedeutung – sie schränken nicht nur Freiwilligkeit ein, sondern machen Untersuchungshaftvermeidung, Strafaussetzungen zur Bewährung, Alternativen zum 13 Missbrauchsmöglichkeiten von zu langen oder nicht zu rechtfertigenden Einweisungen widersprechen nicht grundsätzlich der Legitimität dieses gesellschaftlichen Schutzes – sie mahnen aber zu großer Vorsicht hinsichtlich der Diagnosen und insb. der Gefährlichkeitsprognosen. 14 Conen und Cecchin unterscheiden zwei Untergruppen der „unfreiwilligen Klienten“: Gerichtlich gezwungene Klienten und unfreiwillige Klienten, auf die Druck und Zwang aus anderen Kontexten (etwa vom Jugendamt) ausgeübt wird (vgl. Conen & Cecchin, 2007, S. 61).
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Jugendarrest und zur Freiheitsstrafe allgemein erst möglich – zu einem Preis, der fachpolitisch und ethisch zu diskutieren ist. 5
Folgerungen für die (Sozial-)Pädagogik und Soziale Arbeit in strafrechtlichen Zwangskontexten
Zu aller erst müssen (Sozial-)Pädagogik und Sozialarbeit entsprechend ihren eigenen Disziplinen und Professionen handeln, mit ihren Methoden, ihren Zielsetzungen und ihrer Ethik. Auch wenn sie in einem strafrechtlichen Zwangskontext tätig ist, in der Jugendhilfe im Strafverfahren, in der Untersuchungshaftanstalt, im Jugendstrafvollzug oder Erwachsenenstrafvollzug sowie der Gerichts- oder Bewährungshilfe, dann muss sie sich eine sozialpädagogische Haltung bewahren und darf niemals zur Sanktionsverschärfung beigetragen. Aus der Sicht der Klienten und Klientinnen mag das manchmal schwer zu erkennen und zu ertragen sein – umso wichtiger sind Transparenz, Rollenklarheit und die deutlich erkennbare Förderungsabsicht. Pädagogik und Soziale Arbeit im Zwangskontext ist nicht zu verwechseln mit der Anwendung von Zwang in Prozessen der Hilfe, der Förderung und der Ermöglichung von Lernen. Es bleibt zum Zweiten ein verfassungsmäßiges und ethisches Gebot, wo immer möglich, auf Freiwilligkeit als Grundlage der helfenden Beziehung zu bestehen. Nicht zuletzt Rogers, dessen Bedeutung für Konzepte der Beratung und Therapie kaum zu überschätzen ist, hat die Bedeutung der Selbstbestimmung immer betont (Conen, 2007, S. 370). Daraus kann aber nicht abgeleitet werden, auf sozialarbeiterische Angebote zur Integration im Zwangskontext zu verzichten und es gibt auch keinen allgemeinen empirisch begründeten Erfahrungssatz, dass wirksame Hilfe in Verbindung mit Kontrolle und Zwang völlig unmöglich ist. “Autonomie wird durch Zwang zwar eingeschränkt, allerdings nicht verhindert. Indem man Klienten die Grenzen ihrer Autonomie erfahren lässt und ihnen Alternativen aufzeigt, kann bei Ihnen ein Gefühl von Autonomie bestehen bleiben… Zwang ist – ebenso wie Freiheit – relativ zu sehen“ (Conen & Cecchin, 2007, S. 75; ähnlich Conen, 2007, S. 372). Pädagogik und Soziale Arbeit im Kontext von Zwang und Kontrolle bedeutet zum Dritten nicht notwendigerweise, dass zur Annahme von Förderung und Hilfe selbst gezwungen wird oder alle Elemente vermischt werden müssten. Der Bewährungshelfer bzw. die Bewährungshelferin kann durchaus seinen bzw. ihren Kontrollauftrag für das Gericht wahrnehmen, um Haft zu vermeiden und dem Probanden bzw. der Probandin gleichwohl die Freiheit lassen, persönliche Hilfe abzulehnen oder anzunehmen. Zwar ist der Proband oder die Probandin nicht frei, den Kontakt aufzunehmen oder nicht, aber inwieweit darüber hinaus eine helfende Beziehung entsteht, ist offen. Die Professionalität in der Hilfeleistung besteht
Erziehung und Soziale Arbeit in strafrechtlichen Zwangskontexten
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gerade darin, diese Differenz transparent zu machen und gleichwohl dazu zu motivieren, wo es Bedarf an persönlichen Änderungsprozessen gibt. Dass es eine starre Trennung meist nicht gibt, ist weniger ein Problem als ein Indikator der praktischen Lösung. Im gesamten Hilfeprozess der Sozialen Arbeit im Zwangskontext bedarf es schließlich viertens immer wieder der Selbstreflexion. Die eigene Rolle kann aber immer nur reflektiert werden im Verhältnis zu anderen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen mit ihren unterschiedlichen Funktionen. Einschränkungen der Selbstbestimmung der Klienten und Klientinnen sind grundsätzlich nur gerechtfertigt, wenn die Rechte eines Individuums im Widerspruch zu den berechtigten Interessen und Rechten eines anderen stehen oder der Klient oder die Klientin selbst nicht mehr die Fähigkeit hat, von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch zu machen. Klienten und Klientinnen sind selbst dann in ihren Entscheidungen zu respektieren, wenn sie sich trotz Erfolg versprechender Angebote und genügender Aufklärung für Handlungsweisen entscheiden, die professionelle Helfer und Helferinnen für unvernünftig halten. Der Klient oder die Klientin bleibt für sich selbst verantwortlich, muss gegebenenfalls dann aber auch die Konsequenzen dieser Entscheidungen tragen. Dass der Staat selbst Legalverhalten erzwingen will, hat mit Zwangskontexten bezüglich der Pädagogik und Sozialen Arbeit wenig zu tun – das erwartet er von allen Menschen und setzt es gegebenenfalls mit Zwangsmitteln durch. 6
Schluss
Wer straffällig gewordene Menschen einerseits weniger marginalisieren und einsperren und andererseits Resozialisierungshilfen anbieten will – und sei es unter Androhung von Nachteilen bei Kontaktverweigerung oder Ankündigung von Vorteilen bei Mitwirkung – der wird mit Klientinnen und Klienten, deren Lebenslagen und Verhaltensweisen konfrontiert, die nicht nur den allgemeinen gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprechen, sondern professionelle Helfer und Helferinnen Ohnmacht spüren lassen (Cornel, 1990; Cornel, 2002, S. 174). Wer darauf nicht reflexartig mit erneuter Androhung von Haft oder Inhaftierung selbst reagieren will, muss neue Wege und Formen der Interaktion finden, muss die Wahrnehmung, die Lebenswelt und Menschenbilder der Klientinnen und Klienten verstehen (nicht übernehmen!) und vor allem eine Haltung einnehmen, die ein Lernen ermöglicht, auch wenn man weiß, dass solche Veränderungsprozesse auch aus Beharren und Enttäuschungen bestehen. Das gilt für die Jugendgerichtshilfe, Diversionsprojekte und Weisungen gem. JGG, Projekte der Untersuchungshaftvermeidung und Haftentlassenenhilfe, für Gerichtshilfe und Bewährungshilfe, für die Erziehung, Förderung und Soziale
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Arbeit im Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug (Cornel, 2007), für Soziotherapie mit Delinquenten im offenen stationären Setting (Cornel, 1985; Cornel, 1994a; Cornel, 1998) und im Maßregelvollzug und natürlich auch für Drogenabhängige im Rahmen von Therapie statt Strafe gem. §§ 35 ff. Betäubungsmittelgesetz. Bei aller Sensibilität für Zwangskontexte sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Lebenslagen vieler Klientinnen und Klienten durch Zwangslagen gekennzeichnet sind und dass Hilfeverweigerung gegenüber Unmotivierten diese in ihrem Status der Marginalisierung allein lässt. Das stellt keine Legitimation des Zwangs dar, der gesellschaftlich anderen Ursprungs ist, sollte aber die Perspektive der ethischen Debatte erweitern. Erziehung und Soziale Arbeit – selbst wenn sie in Kontexten von Sanktionen und in entsprechenden Institutionen zu leisten ist – dürfen selbst nie Strafe sein und sie legitimieren auch nicht die Strafvollstreckung. Zwar soll die Erziehung bzw. Resozialisierung das Ziel im Strafvollzug sein – aber die Strafe wird nicht deshalb im Strafvollzug vollstreckt, damit resozialisiert werden kann, sondern bei gegebener Freiheitsstrafe wird die Gelegenheit zu Erziehungs-, Förderungs- und Resozialisierungsangeboten genutzt. Sozialpädagogik und Soziale Arbeit selbst bleiben den Zielen der Förderung, des Ermöglichens von Lernprozessen, der Lebenslagenverbesserung und Erweiterung der Handlungsalternativen verpflichtet und ordnen sich so ein in eine Kriminalpolitik der Entkriminalisierung und Entpönalisierung (Cornel, 1983, S.1463 ff.). Sie müssen und können zum Ziel haben, Menschen zu helfen, sich aus Zwangskontexten zu lösen. Literaturverzeichnis Aichhorn, A. (1969). Kann der Jugendliche straffällig werden? Ist das Jugendgericht eine Lösung? In B. Simonsohn (Hrsg.), Jugendkriminalität, Strafjustiz und Sozialpädagogik (S. 100-121). Frankfurt a. M.: suhrkamp. Bernfeld, S. (1967). Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt a. M.: März. Bernfeld, S. (1969). Kinderheim Baumgarten. In L. v. Werder & R. Wolff (Hrsg.), Antiautoritäte Erziehung und Psychoanalyse (Bd. 1, S. 94-215). Frankfurt a. M.: Ullstein. Bögelein, N. & Kawamura-Reindl, G. (2018). Gemeinnützige Arbeit zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen. In H. Cornel, G. Kawamura-Reindl & B.R. Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung (S. 246-261). Baden-Baden: Nomos. Bolwlby, J. (1975). Bindung. München: Kindler. Borchers, R. (1923). Die Gefangenenarbeit in den deutschen Strafanstalten. Blätter für Gefängniskunde, 54, 7-144. Conen, M.-L. & Cecchin, G. (2007). Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden. Heidelberg: Carl Auer. Conen, M.-L. (2007). Eigenverantwortung, Freiwilligkeit und Zwang. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 18, 370-375. Cornel, H. (1984). Geschichte des Jugendstrafvollzugs. Weinheim: Beltz.
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Erziehung im Jugendstrafrecht Heribert Ostendorf
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Historie des jugendstrafrechtlichen Erziehungsgedankens
Die Herausgeberinnen dieser Festschrift haben mit der Anfrage um einen Festschriftbeitrag für Philipp Walkenhorst das Thema „Erziehung im Jugendstrafrecht“ vorgeschlagen. Ich will mich dieser Aufgabe für den von mir hoch geschätzten Erziehungswissenschaftler, dem ich seit vielen Jahren herzlich verbunden bin, stellen, obwohl die Literatur zu dieser Thematik nicht mehr überschaubar ist und ich selbst vielfach hierzu Position bezogen habe. Der Beitrag stellt somit auch ein Resümee meiner Beschäftigung mit dem Jugendstrafrecht dar. Einen guten Überblick verschafft die von mir betreute Dissertation von Inga Stolp „Die geschichtliche Entwicklung des Jugendstrafrechts von 1923 bis heute“ aus dem Jahr 2015 mit dem Untertitel „Eine systematische Analyse der Geschichte des Jugendstrafrechts unter besonderer Berücksichtigung des Erziehungsgedankens“. Seit den Anfängen des eigenständigen deutschen Jugendstrafrechts steht dieser Erziehungsgedanke im Mittelpunkt der Diskussion. Dementsprechend wird das Jugendstrafrecht auch traditionell als Erziehungsstrafrecht bezeichnet. Es wurde in Abgrenzung zum Erwachsenenstrafrecht, das auf Schuldvergeltung und Abschreckung ausgerichtet war, konzipiert. Bereits im ersten Jugendgerichtsgesetz von 1923 hieß es in § 6: „Hält das Gericht Erziehungsmaßregeln für ausreichend, so ist von Strafe abzusehen“. In § 7 wurden die damals zulässigen Erziehungsmaßregeln aufgelistet. Zuchtmittel im Sinne des heutigen § 13 JGG gab es noch nicht, damit auch nicht den Arrest, um dessen „erzieherische Ausgestaltung“ sich Philipp Walkenhorst in besonderer Weise bemüht hat. Ich nehme Bezug auf seinen Beitrag „Jugendarrest als Jugendbildungsstätte?! – Pädagogische Möglichkeiten und Grenzen des Jugendarrestes“ (Walkenhorst, 2015). Der Arrest wurde erst 1940 als nationalsozialistische Neuschöpfung durch Verordnung zur Ergänzung des Jugendstrafrechts (RGBl. I, 1336) eingeführt. Der jugendstrafrechtliche Erziehungsgedanke fand auch in § 16 JGG 1923 seinen Niederschlag: „Der Strafvollzug gegen einen Jugendlichen ist so zu bewirken, dass seine Erziehung gefördert wird“. Allerdings wird mit dem zitierten § 6 JGG 1923 auch deutlich, dass neben der vorrangigen Erziehung des jugendlichen Delinquenten auch Strafen ihre Bedeutung behielten (vgl. auch Francke, 2018, S. 50). So ist das Verhältnis von Erziehungsmaßnahmen und „Strafresten“ im Jugendstrafrecht von Anfang an umstritten gewesen, verdeutlicht mit den Slogans „Erziehung durch Strafe“ und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_4
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Heribert Ostendorf
„Erziehung statt Strafe“ (Stolp, 2015, S. 37 ff.) Obwohl somit der Erziehungsgedanke das Besondere, das Zentrale des Jugendstrafrechts darstellt und strafrechtliche Erziehung bei erwachsenen Straftätern sowohl aus faktischen als auch aus rechtlichen Gründen ausscheidet, sollte das Jugendstrafrecht auch Vorreiter für Reformen im Erwachsenenstrafrecht sein (vgl. von Liszt, 1905, S. 400; vgl. Francke, 1926, S. 15; vgl. Walter & Neubacher, 2011, Rn. 26) Mittlerweile entwickelt sich allerdings das Jugendstrafrecht im Mainstream einer Strafverschärfungspolitik als Nachahmer des Erwachsenenstrafrechts (vgl. Ostendorf, 2015, S. 319 ff.) Der Blick auf das Erwachsenenstrafrecht macht bereits an dieser Stelle deutlich, dass für einen Großteil der Klientel der Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte der Erziehungsgedanke aus rechtlichen Gründen begrenzt ist, wenn nicht ausscheidet, nämlich für die Heranwachsenden, die gemäß § 2 BGB volljährig sind, auch wenn auf sie gem. § 105 JGG Jugendstrafrecht angewendet wird. Das primäre elterliche Erziehungsrecht als elterliche Sorge gem. § 1626 BGB bezieht sich auf das minderjährige Kind, dementsprechend muss auch die sekundäre staatliche Erziehung ab der Volljährigkeit von 18 Jahren Halt machen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht bei Volljährigen ausdrücklich erkannt (BVerfGE 22. Band, S. 180). Auch wenn die Entwicklungspsychologie uns lehrt, dass die Entwicklung junger Menschen keineswegs mit dem Alter von 18 Jahren abgeschlossen ist und dementsprechend gem. § 105 JGG auch jugendstrafrechtliche Sanktionen zur Anwendung kommen, so dürfen diese doch nicht zum Zwecke von Erziehung eingesetzt werden. 2
Ziel jugendstrafrechtlicher Erziehung
Wenn unbestreitbar der Erziehungsgedanke einen zentralen Topos des Jugendstrafrechts darstellt, so ist dessen Inhalt aber höchst umstritten. Allgemein geht es um Beeinflussung, um Förderung zu anerkannten moralischen Werten, die das Leben des Menschen bestimmen. „Gute“ Eigenschaften sollen gefördert, unterstützt werden, „schlechte“ Eigenschaften vermieden, unterbunden werden. Immer wird auch der Schutz der Kinder und Jugendlichen mitbezweckt (siehe § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII). Aber schon die Frage, was „gute“, was „schlechte“ Eigenschaften sind, wird in einer offenen, multikulturellen Gesellschaft höchst unterschiedlich beantwortet. Empathie steht gegen Durchsetzungskraft. Erfolg haben geht nicht selten auf Kosten anderer. Unsere Großeltern haben unter einem „guten“ Menschen etwas anderes verstanden als wir es heute tun. Gehorsam vs. Kritikfähigkeit. Ebenso ist offen, mit welchen Mitteln erzogen werden soll, mit welchen Mitteln die als richtig erkannten Erziehungsziele angestrebt werden sollen. Jahrhundertelang war die Prügelstrafe anerkannt. Im Jahr 2000 wurde sie gesetzlich gem. § 1631 Abs. 2 BGB verboten: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie
Erziehung im Jugendstrafrecht
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Erziehung. Körperliche Bestrafung, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“. Es gilt als Erstes zwischen Erziehungszielen und Erziehungsmitteln zu unterscheiden (vgl. Walkenhorst, 2015, S. 101) Als Zweites ist zu differenzieren zwischen privater und staatlicher Erziehung, bei Letzterer zwischen Erziehung als Erziehungshilfe im Sinne des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) und Erziehung mit strafrechtlichem Zwang unter Anwendung des JGG. Im (jugend-)strafrechtlichen Kontext geht es immer auch um Zwang. Im Strafverfahren bis hin zur Strafvollstreckung wird Zwang ausgeübt, der delinquente Bürger muss Zwangsmittel erdulden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner epochalen Entscheidung zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für den Jugendstrafvollzug vom 31.5.2006 das Erziehungsziel als „Ziel der Befähigung zu einem straffreien Leben in Freiheit“ definiert (veröffentlicht in ZJJ, 2016, S. 196) Das Vollzugsziel ist die soziale Integration. Das höchste deutsche Gericht hat aus der Verfassung eine Vollzugsgestaltung abgeleitet, „die in besonderer Weise auf Förderung – vor allem auf soziales Lernen sowie die Ausbildung von Fähigkeiten und Kenntnissen, die einer künftigen beruflichen Integration dienen – gerichtet ist“. Was hier für die „härteste“ Sanktion im Jugendstrafrecht, für die Jugendstrafe formuliert wurde, gilt entsprechend für alle jugendstrafrechtlichen Sanktionen. „Das primäre Ziel des Jugendstrafverfahrens sowie seiner Maßnahmen ist nicht die Strafvergeltung, sondern die Befähigung des Jugendlichen oder Heranwachsenden zu einem straffreien Lebenswandel“ (Walkenhorst 2015, S. 101). Gesetzlich hat diese Konkretisierung des Erziehungsbegriffs in § 1 Abs. 1 SGB VIII seinen Niederschlag gefunden: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“. Für das Jugendstrafrecht hat der Bundesgesetzgeber mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes und anderer Gesetze vom 13.12.2007 (BGBl. I, 2894) das Hauptziel im Sinne einer Individualprävention bestimmt: „Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken“ (§ 2 Abs. 1 S. 1 JGG). Der Erziehungstopos wird auf die Mittelanwendung begrenzt: „Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten“ (§ 2 Abs. 1 S. 2 JGG). Der Hinweis auf das elterliche Erziehungsrecht unterstützt den dargestellten Ausschluss des Erziehungsgedanken bei Heranwachsenden.
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Grenzen jugendstrafrechtlicher Erziehung
Dass die erzieherischen Mittel in der Praxis nur sehr begrenzt „greifen“, hat Philipp Walkenhorst am Beispiel des Jugendarrestes überzeugend herausgearbeitet (2015, S. 96 ff.) Gerade auch die Entwicklung des Jugendarrestes „von der nationalsozialistischen Short-Sharp-Shock zum stationären sozialen Trainingskurs“1 zeigt, dass Erziehung im Jugendstrafrecht zur Verhinderung neuer Straftaten abhängig ist von gesellschaftlichen Bedingungen, von der Umsetzung wissenschaftlich-empirischer Erkenntnisse in die Praxis, letztlich vom politischen Wollen der Machtträger, die die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Vollzug stationärer Sanktionen festsetzen, die mit dem Haushaltsplan über die Ausgestaltung, die in den Ministerien über Leitung und das Vollzugspersonal bestimmen mit Einschluss der Bewährungshilfe. Die Kommunen bestimmen, welche erzieherischen Angebote zum Täter-Opfer-Ausgleich, zum sozialen Trainingskurs und zur Einzelbetreuung der Jugendstrafjustiz angeboten werden. Machtträger sind auch die Entscheider im Jugendstrafverfahren, sind die Jugendstaatsanwälte und Jugendrichter, die über die Auswahl der Sanktionen und ihre Dauer bestimmen. Damit sind die Grenzen der Erziehung im Jugendstrafrecht angesprochen. Es gibt faktische und rechtliche Grenzen. Jugendstrafrechtliche Sanktionen konzentrieren sich auf den delinquent gewordenen jungen Menschen. Der Straftäter bzw. die Straftäterin wird zur Verantwortung gezogen, gegen ihn bzw. sie werden Sanktionen ausgesprochen, die zum Teil zwar auch andere treffen, so regelmäßig die Familienangehörigen, die Freundin. Diese anderen erleiden zum Teil auch das Strafübel; fördernde, erzieherische wie auch repressive Sanktionen treffen aber zuallererst den Verurteilten. Eine (Re-)Sozialisierung des Täters ohne eine (Re-)Sozialisierung seines Umfeldes kann nur einen begrenzten Erfolg haben. Philipp Walkenhorst (2015, S. 106) fordert für den Arrest insoweit eine „indirekte“ Erziehung der Bezugsgruppen des Arrestanten bzw. der Arrestantin Für den Jugendstrafvollzug hat er mit den Herausgeberinnen dieser Festschrift die Bedeutung der Außenkontakte für die Gefangenen sowie die Öffnung der Anstalten kommentiert (Walkenhorst, Roos & Kaplan, 2016, S. 404 ff.). Die faktischen Grenzen von erzieherischen sowie von repressiven Sanktionen im Jugendstrafrecht zeigen sich in den Rückfallquoten (siehe Ostendorf & Drenkhahn, 2017, Rn. 297), wobei wir allerdings nicht wissen, wie hoch die Rückfallquoten ohne strafjustizielles Eingreifen sein würden. Trotzdem: Der Glaube an die Effizienz jugendstrafrechtlicher Sanktionen wird damit erschüttert. So ist für die Verhängung von Jugendstrafen immer zu bedenken, dass zu den angestrebten (re-)sozialisierenden Effekten zum Beispiel durch berufliche Maßnahmen immer auch entsozialisierende Wirkungen durch Deprivation und Prisonisierung 1 So der Titel meines Beitrages (2015, S. 71); allgemein zum Schockziel im Jugendstrafrecht siehe Kühndahl-Hensel, 2014; siehe hierzu die Rezension von Breymann, 2015, S. 86.
Erziehung im Jugendstrafrecht
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hinzutreten (Ostendorf, 2016a, S. 139) und ab einer gewissen Dauer überwiegen (Ostendorf, 2016b, §18, Rn. 11). So ist im ambulanten Sanktionenbereich der erzieherische Einsatz eines Fahrverbotes bei Delikten, die nicht im Zusammenhang mit dem Führen eines Kfz stehen, gem. § 44 Abs. 1 S. 2 StGB höchst problematisch, zum Beispiel die Anordnung des Fahrverbotes bei einer Körperverletzung, -
weil eine so tatfremde Sanktion vom Verurteilten schwerlich akzeptiert wird, weil stattdessen eine tatursachenbezogene Sanktion wie Täter-Opfer-Ausgleich, Anti-Aggressions-Kurs eine größere Chance verspricht, neue Straftaten zu verhindern, weil mit einem Fahrverbot eine Strafbarkeitsfalle für einen Verstoß gem. § 21 StVG eröffnet wird (Ostendorf, 2017, S. 336)
Ausgehend vom Gesetzesziel, eine Straftatwiederholung des bzw. der überführten Jugendlichen/Heranwachsenden zu verhindern, muss die Sanktion im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips notwendig, geeignet und angemessen sein. Das ist die rechtsstaatliche Trias für die Sanktionierung: Notwendigkeit, Geeignetheit, Angemessenheit. Die Angemessenheitsprüfung deckt sich insoweit mit der Prüfung der Tatschuld, wobei dieser nur eine Begrenzungsfunktion nach oben zukommt. Im Hinblick auf die Notwendigkeit und Geeignetheit der Sanktionen kann unterhalb der Tatschuld reagiert werden.2 4
Verführungen und Implikationen des Erziehungsgedankens
Hinsichtlich der Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das den Einsatz auch von erzieherisch gemeinten Straftaten durch das ultima-ratio-Prinzip3 beschränkt, gilt es schließlich, auf Verführungen durch den Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht aufmerksam zu machen. Dies scheint auf den ersten Blick verwunderlich, operieren doch regelmäßig Strafverteidiger und nicht selten auch die Jugendgerichtshilfe mit dem „Erziehungsstrafrecht“, um eine mildere Sanktionierung zu erreichen: „Es geht um Erziehung, nicht um Strafen!“ Auch manche Jugendrichter wehren damit überzogene Strafanträge der Staatsanwaltschaft ab, wie viele Jugendstaatsanwälte auch selbst dieses Motto beherzigen, um höheren Straferwartungen von Polizei und Öffentlichkeit entgegenzutreten.4 Das Verhältnis der 2
Zu den Sanktionsmaßstäben ausführlicher Ostendorf & Drenkhahn, 2017, Rn. 291 ff. Dazu habe ich auf dem 30. Deutschen Jugendgerichtstag in Berlin vorgetragen, siehe Ostendorf, 2017, S. 332. 4 Zur Diskrepanz von Straferwartungen und jugendstrafjustiziellen Strafen siehe Ostendorf, 2018, S. 159 ff. 3
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Strafanträge der Staatsanwaltschaft, der Anträge der Verteidigung sowie von richterlichen Strafentscheidungen wäre im Übrigen ein lohnendes Forschungsprojekt, eventuell mit Einschluss von Rechtsmittelentscheidungen. Auch kriminalpolitisch wird mit dem Slogan „Erziehungsstrafrecht“ Strafverschärfungen im Jugendstrafrecht entgegengetreten. Das Erziehungsstrafrecht ist „eine Chiffre“ für jugendangemessene Strategien im Strafrecht geworden (vgl. Pieplow, 1989, S. 5 ff.; vgl. auch Ostendorf, 2016b, Grdl.zu §§ 1 und 2, Rn. 6).5 Trotz dieser Tendenz, mit Hilfe des Erziehungsgedankens Strafverschärfungen zurückzuweisen und Strafmilderungen durchzusetzen, gibt es Verführungen zu Fehlannahmen und falschen Konsequenzen. So verführt der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht zu der Annahme, dass Straftaten Jugendlicher/Heranwachsender auf ein Erziehungsdefizit zurückzuführen sind. Dem ist in der eindeutigen Mehrzahl der Fälle keineswegs so. Delinquentes Verhalten bei jungen Menschen ist, nach gesicherten Erkenntnissen nationaler wie auch internationaler jugendkriminologischer Forschung, weit überwiegend als episodenhaftes, d. h. auf einen bestimmten Entwicklungsabschnitt beschränktes, ubiquitäres, d. h. in allen sozialen Schichten vorkommendes, und zudem im statistischen Sinne normales, d. h. bei der weit überwiegenden Mehrzahl junger Menschen auftretendes Phänomen zu bezeichnen. Fast 90 % der männlichen Jungerwachsenen haben irgendwann einmal im Kindes- und Jugendalter gegen strafrechtliche Vorschriften verstoßen. Jugendliche Delinquenz ist insofern nicht per se Indikator einer dahinterliegenden Störung oder eines Erziehungsdefizits. Im Prozess des Normlernens ist eine zeitweilige Normabweichung in Form von strafbaren Verhaltensweisen zu erwarten. Dies hängt mit zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters, nämlich der Herstellung sozialer Autonomie, sozialer Integration und Identitätsbildung, zusammen. Damit ist Normübertretung ein notwendiges Begleitphänomen im Prozess der Entwicklung einer individuellen und sozialen Identität. Es ist von einem Kontinuum auszugehen, an dessen einem Ende die massenhafte und gelegentliche Begehung von Straftaten durch junge Menschen steht, quasi der Pol der Normalität, und an dessen anderem Ende sich die nur selten auftretende, länger andauernde und gehäufte Begehung schwerer Straftaten befindet. (Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 357 f.)6
Die Trias der Jugendkriminalität lautet somit: bagatellhaft, ubiquitär, passager (vgl. Ostendorf & Drenkhahn, 2017, Rn. 13) Die gegenteilige Annahme, dass Jugendkriminalität in der Regel auf ein Erziehungsdefizit, auf falsche Erziehung zurückzuführen ist, kann in der Praxis zu einem überflüssigen strafrechtlichen Einsatz verführen, zumal dann, wenn der strafende Charakter, das Strafübel geleugnet 5
Siehe auch Streng (1994, S. 88), der für einen multifunktionalen Systembegriff eintritt. Anmerkung: Leider ist die Beurteilung der Sicherheitslage aus kriminologischer Sicht keine Periode geworden. Möglicherweise auch deshalb nicht, weil eine derartig aufhellende Beurteilung nicht – mehr – in den kriminalpolitischen Mainstream passt. 6
Erziehung im Jugendstrafrecht
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oder nicht ernst genommen wird. So kann man vermuten, dass der relativ hohe Anteil des Arrestes bei jugendstrafrechtlichen Sanktionen auch darin begründet ist, dass das Übel der kurzzeitigen Freiheitsentziehung mit erheblicher Interesseneinbuße gerade im Freizeitbereich mit der Bezeichnung „Kinderknast“ verniedlicht wird, wobei in der Praxis auf einen Abschreckungseffekt gesetzt wird, der aber nach empirischen Untersuchungen nicht eintritt.7 Umgekehrt verliert der Freiheitsentzug mit der Arrestverbüßung seinen Schrecken. Die zum Teil „begeisterte“ Aufnahme des Warnschussarrestes gem. § 16a JGG in der Praxis weist auf diese fälschliche Annahme hin. Eine Verführung des Erziehungsgedankens kann auch in der Praxis gesehen werden, Sanktionen gem. § 8 Abs. 1 S. 1 JGG miteinander zu koppeln, insbesondere wenn neben einer Betreuungsweisung oder einem Anti-Aggressions-Kurs noch eine Arbeitsmaßnahme oder eine Geldbuße verhängt wird. Die Motivation, an der erzieherischen Maßnahme aktiv mitzuwirken, kann durch die repressive Sanktion der Arbeitsmaßnahme oder der Geldbuße verloren gehen. Insbesondere lassen sich ambulante Sanktionen regelmäßig nicht mit stationären Sanktionen vereinbaren.8 Schließlich wird nach Urteilsanalysen der Erziehungsgedanke gerade auch zur Begründung höherer Jugendstrafen herangezogen (vgl. Meier, 1994, S. 74; vgl. Buckhold, 2009, S. 278 f.)9 Es ist zu vermuten, dass hinter Strafverschärfungen im Kleide der Erziehung in der Regel ganz andere Determinanten sich verbergen: Die subjektive Beurteilung von Kriminalitätsbedrohungen im sozialen Umfeld und in der Gesamtgesellschaft, das Wissen bzw. Nichtwissen über die Kriminalitätsentwicklung und deren Ursachen sowie über die Wirkungen über Sanktionen, die Annahme von tatsächlichen oder vermeintlichen Anforderungen der Gesellschaft an die Justiz. Streng spricht von der „offenbar ideologisch geprägten Verkleidung von Strafbedürfnissen der Mitbürger als Erziehungsbedürfnisse des Täters“ (Streng, 1994, S. 68). Um Ausuferungen bei jugendstrafjustiziellen Reaktionen auf Straftaten Jugendlicher und Heranwachsender unter Bezugnahme auf den Erziehungsgedanken zu vermeiden, spreche ich anstelle von Erziehungsstrafrecht von einem jugendadäquaten Präventionsstrafrecht, erstmalig 1987 in der 1. Auflage meines JGGKommentars (Grdl. zu §§ 1 bis 2, Rn. 4). Die gesetzlich verbindlich vorgegebene Zielsetzung gem. § 2 Abs. 1 S. 1 JGG im Sinne von Rückfallverhinderung verlangt bei schwer sozialisationsgestörten Jugendlichen/Heranwachsenden die freiheitsentziehende Sicherstellung mit einem Angebot zur Resozialisierung, bei weniger 7
Nachweise bei Ostendorf, 2016b, Grdl. zu §§ 13 bis 16a, Rn. 6. Siehe Ostendorf, 2016b, Grdl. zu §§ 9 bis 12, Rn. 7. 9 Siehe auch Ostendorf, 2016b, Grdl. zu den §§ 1 und 2, Rn. 4; auch Streng (2007, S. 456, 458) räumt eine Diskriminierung junger Täter ein: „Denn es spricht einiges dafür, dass die Erziehungsorientierung des Jugendstrafrechts und die entsprechend ausgeprägte Sanktionseskalation bei Rückfällen sich zu Lasten des sich unter Schuldaspekten eigentlich angemessenen Jugendlichenrabatts auswirkt.“. 8
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sozialisationsgestörten Jugendlichen/Heranwachsenden die Anweisung zu einer ambulanten Sozialisationsmaßnahme, häufiger wird die Verdeutlichung des Normbruchs genügen, noch häufiger wird der Verzicht auf jugendstrafrechtliche Reaktion geboten sein, um eine Überreaktion und Stigmatisierung zu vermeiden. Die Respektierung des Persönlichkeitsrechts sowie die Ziele der Tatwahrheit und der Sanktionsgerechtigkeit zwingen hierbei, die verfahrensrechtliche Gegenintervention sowie einen Rechtsfolgendiskurs des bzw. der Beschuldigten und seiner bzw. ihrer Beistände zuzulassen. Die bei Jugendlichen/Heranwachsenden eingeschränkte Handlungskompetenz bedingt hierbei eine besondere Berücksichtigung des Fair-Trial-Prinzips. Nach wie vor aktuell lautet das Vorwort in der polizeilichen Dienstvorschrift (PDV) 382 „Bearbeitung von Jugendsachen“ aus dem Jahre 1996: Der Erziehungsaspekt ist auch Grundlage und Leitlinie des heutigen Jugendgerichtsgesetzes. In dieser Orientierung liegt gleichzeitig der größte Kontrast zum allgemeinen Strafrecht. Der Erziehungsgedanke will strafrechtliche Orientierungen begrenzen und so zu einer der Entwicklung angemessenen Behandlung straffällig gewordener junger Menschen beitragen. Vergeltung, Sühne und Generalprävention haben keine Bedeutung. Ziel des Erziehungsaspektes im Jugendstrafrecht ist ausschließlich die Verhinderung von künftigen strafrechtlichen Auffälligkeiten des Betreffenden (Individualprävention). Erziehung in diesem Sinne verlangt somit Beschränkung der Strafzwecke und -ziele, Zurückhaltung bei strafrechtlichen Zwangsmaßnahmen und Vermeidung schädlicher Eingriffe strafrechtlicher Sozialkontrolle in den Prozess des Erwachsenwerdens. Es geht um Befähigung statt Strafe.
Ob wir mit strafrechtlichen Maßnahmen junge Menschen befähigen können, mag man bezweifeln, mehr als Grenzen setzen und Anstöße zu Einstellungs- und Verhaltensänderungen geben, ist in der Regel nicht leistbar. Wir können und dürfen nicht mit jugendstrafjustiziellen Sanktionen einen „guten“ Menschen erziehen.10 Wir sollten uns bescheiden, das Ziel Rückfallvermeidung „ist anspruchsvoll genug“. Mit den Worten von Philipp Walkenhorst: „So wenig Schaden wie möglich und so viel konstruktive ‚Entwicklungshilfe‘ wie möglich im jeweiligen Einzelfall“ anstreben (2015, S. 97). Literaturverzeichnis Buckhold, O. (2009). Die Bemessung der Jugendstrafe. Baden-Baden: Nomos. Bundesministerium des Innern/ Bundesministerium der Justiz (Hrsg.).(2006). Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht. Berlin. 10 Zu verfassungsrechtlichen Grenzen der Erziehung siehe Ostendorf, 2016b, Grdl. zu den §§ 1 und 2, Rn. 4.
Erziehung im Jugendstrafrecht
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Delinquenz im Jugendalter – (Bildungs-) Benachteiligung als mögliche Ursache und Anknüpfungspunkt: Eine sonderpädagogische Perspektive Annika Krause & Manfred Wittrock
Delinquenz im Jugendalter: Veröffentlichungen zu dieser Thematik sind relativ zahlreich und sie behandeln partiell auch den Teilaspekt (Jugend-) Strafvollzug aus unterschiedlichen theoretischen Fundierungen und Perspektiven. Darunter fallen beispielsweise Veröffentlichungen zum Thema „Bildung im Strafvollzug“ (Walkenhorst, 2010) oder zu pädagogischen Handlungspraktiken im Jugendstrafvollzug (u. a. Walkenhorst, 2013; Walkenhorst, 2015). Ein möglicher Konnex von Delinquenz und Bildung (-sbenachteiligung) hat in diesem Zusammenhang bisher jedoch unzureichende Betrachtung gefunden, weswegen dieser Artikel besonders (Bildungs-) Benachteiligung als mögliche Ursache von Delinquenz im Jugendalter fokussiert und Anknüpfungspunkte bzw. Perspektiven für die (sonder-) pädagogische Praxis aufzeigt. Dabei soll einleitend ausdrücklich betont werden, dass die Argumentation für eine sonderpädagogische Sichtweise nicht als Kritik an den im Strafvollzug tätigen Menschen oder an der individuellen Arbeit (-sleistung), die dort im Rahmen der totalen Institution (Goffman, 1980) tagtäglich von den unterschiedlichen Professionen geleistet wird, missinterpretiert werden darf. Es geht um einen planvollen Umgang mit den von den Adoleszenten mitgebrachten Ausgangslagen, welche im Rahmen der Institutionen des Justizwesens bedeutsame sonderpädagogische Bedarfe bereithalten. Dies haben bereits Myschker und Hoffmann 1993 herausgestellt. Mit dem Tag der Veröffentlichung dieses Artikels und somit knapp drei Jahrzehnte später – sowie in Zeiten der Inklusion – ist diese Forderung relevanter denn je. 1
Bildungsbenachteiligung
Die Grundannahme dieses Beitrages ist, dass Bildung einen vorbeugenden Charakter, welche als Prävention zur Verhinderung der Verfestigung eines „maladaptiven“ Verhaltens dient (Myschker & Stein, 2018), hat – wobei letzteres von der Gesellschaft definiert wird und somit die Betrachtung der gesellschaftlichen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_5
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Rahmung und, nach Boudon (1974), der sekundären Herkunftseffekte, bedarf. In der Annahme, dass der Begriff ‚Bedarfe‘ als konkretisierte Bedürfnisse verstanden wird, welche eine perspektivistische Materialisierung erfordern und somit Ressourcen wie Geld oder messbare Zeit inkludieren (Andresen, Wilmes & Möller, 2019, S. 11) und zu einer Gewährleistung einer gelebten Teilhabe gehören, die es, in Bezug auf das Aufwachsen aller junger Menschen, zu beachten gilt. 1.1 Benachteiligungsbegriff Im Rahmen der englischsprachigen Fachliteratur wird für das Konstrukt der ‚Benachteiligung‘ der Begriff ‚disadvantaged‘ verwendet, welcher unter linguistischer Perspektive in Bezug auf die Semantik für die Übersetzung „zu kurz kommen“ oder „unverhältnismäßig“ steht. In Anlehnung dazu würde dies für Jugendliche, die zu der Gruppe der (Bildungs-) Benachteiligten zählen, bedeuten, dass sie später zum sprichwörtlichen „Zuge kommen“ bzw. erst später einen Teil erhalten und ihnen somit ein direkter Zugang zur Bildung verwehrt war, ist und in diverser Hinsicht sogar bleibt. Es entsteht damit eine Dissoziation zwischen (kulturellen) Zielen und dem Zugang (bestimmter) sozialer Schichten zu den erforderlichen Ressourcen (Meier, 2016). Dieser Zustand der schwachen bis hin zur fehlenden sozialen Ordnung sowie der abschwächenden Bindung zwischen Mittel und Ziel, bezeichnet Merton als Anomie (1938 nach Meier, 2016, S. 59) die er in fünf denkbare Anpassungsmuster konkretisiert: Konformität, Innovation, Ritualismus, Rückzug und Rebellion. Meier (2016, S. 59) hebt hervor, dass vor allem aus „kriminologischer Sicht [...] diejenigen Anpassungsmuster von Interesse [sind], die mit der Ablehnung bzw. Ersetzung der institutionalisierten Mittel einhergehen: Innovation, Rückzug und Rebellion.“, da sich in Form dieser drei Typen „eine Vielzahl von Erscheinungsformen der Kriminalität erklären“ (ebd.) lassen. Denn auch im Feld der Herausbildung delinquenter Verhaltensweisen gilt zuerst einmal der Grundgedanke, dass jedes menschliche Verhalten ein subjektiv problemlösendes ist (Wittrock, 2008). 1.2 Bildungsbegriff Bildungsbenachteiligung bezieht sich im Verständnis dieses Artikels somit primär auf ein Bildungsverständnis, welches, in Anlehnung an den Bildungsbericht 2018 (S. 1 f.), die Dimensionen individuelle Regulationsfähigkeit, gesellschaftliche Teilhabe, Chancengleichheit und Humanressourcen umfasst. Die soziale Herkunft definiert in diesem Artikel gemäß dem Verständnis des International Socio-Economic Index of Occupational Status (Ganzeboom, 2003),
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welcher die personenspezifischen Angaben zum Bildungsniveau, Beruf und dem Einkommen hierarchisch disponiert. „Die wesentliche Norm des Aufwachsens ist heute mit dem Begriff der Bildung verbunden. Doch gute Bedingungen für Bildung und Teilhabe sind noch immer höchst unterschiedlich verteilt.“ (Andresen, Wilmes & Möller, 2019, S. 12). Die Abhängigkeit von Bildungschancen steht in Deutschland in Bezug zur sozialen Herkunft (Börsch-Supan & Stumpf, 2014, S. 20 f.), welches eine Ungerechtigkeit darstellt sowie eine „Gefahr für Solidarität und Zusammenhalt“ (ebd., S. 21) in der Gesellschaft. Die OECD (2019a) verweist auf Basis der Daten der PISA-Studie 2018 besonders auf die Abhängigkeit des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler und attestiert dem deutschen Bildungssystem eine fehlende Chancengerechtigkeit. Dieser daraus resultierende fehlende gesellschaftliche Zusammenhalt lässt einen Nährboden für delinquentes Verhalten entstehen. Dem gilt es, sowohl institutionell als auch gesellschaftlich, kooperativ entgegenzuwirken. Besonders die Sonderpädagogik kann in diesem Zusammenhang, durch die multiprofessionelle Vernetzung in benachbarte Fachrichtungen, einen entscheidenden Beitrag hierzu leisten, um sowohl die Ursachen zu ergründen, zu prophylaktischen sowie korrigierenden Maßnahmen mehr Erkenntnisse zu gewinnen und in die Praxis zu adaptieren. Die Komplexität in Bezug auf die Erörterung der Ursachen von Ungleichheiten im Bildungserwerb erscheint komplementär zu dem Versuch der Quadratur des Kreises, jedoch heben Dumont et al. (2014) besonders die familiären Herkunftsbedingungen sowie das Umfeld des Kindes hervor, welches nach Boudon (1974) den primären Herkunftseffekt darstellt. Sozialschichtübergreifende Leistungs- und Kompetenzniveaus fasst Boudon zu den sekundären Herkunftseffekten zusammen, welche eine Analyse des klassenspezifischen Entscheidungsverhaltens fokussiert. Einige Entscheidungen haben einen distinktiven Charakter in Bezug auf die Bildung und in Kombination mit einer steigenden Heterogenität der Schülerinnen und Schüler sowie einem signifikanten soziökonomischen Bildungsgefälle stellt dies ein brisantes Konglomerat dar. 2
Schule als Sozialisationsinstanz
Die sonderpädagogische Perspektive, die im Rahmen dieser Betrachtung eingenommen wird, basiert auf den historiografischen Linien (Myschker & Stein, 2018) der Sozialpädagogik, Kriminalpädagogik, Schulpädagogik sowie der Berufspädagogik und beschreibt eine interdisziplinär-fundierte Sichtweise. Dies implementiert gleichermaßen unterschiedliche Begrifflichkeiten, die in der einschlägigen Fachliteratur für die Zielgruppe verwendet werden. Im Kontext Schule wird von „Schülerinnen und Schülern mit einem ‚Förderbedarf in der emotional und
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sozialen Entwicklung‘“ (KMK, 2000, S. 10) gesprochen, in der fachwissenschaftlichen Sonderpädagogik sind es Jugendliche mit einer „Verhaltensstörung“ (Myschker, 2002, S. 49) oder einer „Gefühls- und Verhaltensstörung“ (Opp & Unger, 2003, S. 45). Die Kriminologie verwendet Begrifflichkeiten wie „kriminell“ oder weiter gefasst und in Orientierung an dem im angelsächsischen Sprachraum verwendeten Terminus „juvenile delinquency“, „delinquent“. Aus der kriminologischen Perspektive ist der Begriff ‚Kriminalität‘ „enger als der der Strafbarkeit“ (Hellmer, 1966, S. 12) und bei einer individuellen subjektiven Betrachtung „hängt (…) der Begriff der Kriminalität von Tat- und persönlichen Voraussetzungen ab“ (ebd.). Nach Hellmer (1966, S. 12) ist der Verstoß gegen das Strafgesetz und die daraus resultierende strafrechtliche Verantwortlichkeit besonders bei Jugendlichen problematisch, da die Kriminalität dieser Personengruppe in doppelter Hinsicht Bedeutung hat (ebd., S. 13): Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind in ihrer Entwicklung Umwelteinflüssen in erhöhtem Maße ausgesetzt. Hellmer leitet bereits 1966 ab, dass eine monumentale Jugendkriminalität „auf ein in kultureller Hinsicht >wertdünnes< Klima und auf ein Nichtgenügen kultureller und sozialer Maßstäbe“ (ebd.) hindeutet und die delinquenten Jugendlichen der Gesellschaft somit den Spiegel vorhalten – „ein Spiegel der den Jugendlichen umgebenden und auf ihn einwirkenden Verhältnisse ist, darüber hinaus der Situation und Zeit überhaupt“ (ebd.). Jugendliche sind das erste Opfer sozialer Mängel und somit stellt die Delinquenz im Jugendalter einen Indikator für „die kulturellen Verhältnisse der Zeit“ (ebd., S. 14) dar und lässt sich als ein Appell der Veränderung lesen (Hellmer, 1966). Charakteristisch für die Zielgruppe ist, in Anlehnung an Dollinger und Schmidt-Semisch (2018, S. 3 f.), dass das kriminelle Verhalten im Jugendalter ubiquitär ist und somit „fast alle Jugendlichen“ (ebd.) betrifft. Außerdem ist davon auszugehen, dass es häufig ein vorübergehendes Phänomen ist, welches sich „verwächst“ und somit einen transitorischen Charakter aufweist sowie meist „spontan“ und „gruppenbezogen“ auftritt und „weniger wirtschaftlichen Schaden“ (ebd.) anrichtet. Dollinger und Schmidt-Semisch verweisen darauf, dass Jugendkriminalität „nicht erfolgreich mit „harten“ Maßnahmen“ bekämpft werden“ (ebd., S. 4) kann, da diese in Korrelation zu hohen Rückfallquoten stehen. „Ursächliche Erklärungen für die Genese kriminellen Verhaltens bei jungen Menschen lassen sich nur bei einer Betrachtung aus ökologischer, systemischer bzw. ganzheitlicher Sicht adäquat finden“ (Myschker & Hoffmann, 1993, S. 46). Myschker und Hoffmann (ebd.) weisen besonders darauf hin, dass das „Subsystem Elternhaus mit seiner Einbettung in kleinere und größere gesellschaftliche Bezüge, die schulischen Verhältnisse, der berufliche Bildungsweg sowie die Instanzen sozialer Kontrolle (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht)“ (ebd.) besonders zu beachten sind und basierend auf multiplexen Vernetzungen, die vielfältige kausale
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Kombinationen ergeben, als ‚kriminogen‘ etikettiert werden (Myschker & Hoffmann, 1993, S. 46): 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Sozialisationsschwäche der primären Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, Verhältnisse mit unzureichenden Lebensbedingungen, Desorganisierte Familienverhältnisse Schulschwierigkeiten, Schuleschwänzen, Schulversagen, geringe Leistungsbereitschaft, Abbruch von Ausbildungsverhältnissen, Mangelhafte berufliche Qualifikation.
Zu den ersten beiden Punkten liefern die Ergebnisse der KiGGS-Studie (Klipker et al., 2018) anhand der Querschnittdaten der zweiten Folgeerhebung der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS Welle 2, 2014-2017) einen Überblick. Kinder und Jugendliche, die in sozial schlechtergestellten Familien aufwachsen, sind häufiger von psychischen Auffälligkeiten betroffen als Gleichaltrige aus sozial besser gestellten Familien. (Klipker et al., 2018, S. 37). Zahlreiche Veröffentlichungen (z. B. Myschker & Stein, 2018) weisen ebenfalls auf die Bedeutung ‚desorganisierter Familienverhältnisse‘ für die Herausbildung von delinquenten Verhaltensmustern. Der vierte Punkt, „Schulschwierigkeiten, Schuleschwänzen, Schulversagen“ wurde bereits 2006 durch Ricking in einer Metastudie thematisiert und ist auch im Rahmen der aktuellen Forschungsliteratur im Gespräch. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat in einer Schülerbefragung im 9. Jahrgang herausgefunden, dass die subjektive Lebenszufriedenheit niedersächsischer Jugendlicher mit einer höheren Schulform korreliert – Jugendliche am Gymnasium sind „zufriedener als Jugendliche an niedrigeren Schulformen“ (Bergmann et al., 2019, S. 102). In Bezug auf das zwischenmenschliche Vertrauen hat das Niedersachsensurvey ergeben, dass „Schüler/innen niedrigerer und mittlerer Schulformen seltener ein hohes zwischenmenschliches Vertrauen angeben als dies bei Schüler/innen höherer Schulformen der Fall ist“ (ebd., S. 116). Basierend auf der Umfrage zeigt sich, dass bereits „seltenes Schwänzen [...] mit erhöhter Delinquenz in Beziehung“ (Bergmann et al., 2019, S. 79) steht. Besonders signifikante Delinquenzraten weisen Schülerinnen und Schüler auf, die mehr als fünf Tage im letzten Schulhalbjahr geschwänzt haben („Mehrfachschwänzer/innen“): „Beispielsweise ist der Anteil an Gewalttäter/innen in dieser Gruppe rund fünfmal so hoch wie in der Gruppe der Schüler/innen, die nie im letzten Jahr geschwänzt haben.“ (ebd., S. 79). Diese intensive Form des Schulschwänzens ist bereits einigen
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wissenschaftlichen Arbeiten mit delinquenten Verhaltensformen assoziiert worden (beispielsweise Baier et. al., 2006). Und auch im Rahmen der aktuellen Shell-Studie (Albert et al., 2019) fällt der Kontrast bei den Jugendlichen auf, die im Vergleich zu ihren Peers, bereits Brüche in ihrer Bildungskarriere und kritische Bildungsereignisse erlebt haben. Jene Jugendliche blicken nur zu 47 % und diejenigen, die Unsicherheiten in der Qualifikationsphase erwarten, sogar nur zu 30 % zuversichtlich in die Zukunft. (S. 27). Besonders hervorzuheben ist jedoch die Aussage, dass sich Jugendliche aus der untersten Herkunftsschicht deutlich stärker benachteiligt fühlen (S. 22) und dass die soziale Herkunft und Bildung noch immer miteinander korrelieren (S. 27). Schule und somit auch Bildung kann dementsprechend (indirekt) als Sozialisationsinstanz auf Delinquenz wirken oder als direkter relevanter sozialräumlicher Kontext in Form eines Tatortes von Bildung mit situativen Einflüssen dienen. 2.1 Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung Verhaltensstörung ist ein von zeit- und kulturspezifischen Erwartungsnormen abweichendes maladaptives Verhalten, das organogen und/ oder milieureaktiv bedingt ist, wegen der Mehrdimensionalität, der Häufigkeit und des Schweregrades die Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie das Interaktionsgeschehen in der Umwelt beeinträchtigt und ohne besondere pädagogisch-therapeutische Hilfe nicht oder nur unzureichend überwunden werden kann. (Myschker & Stein, 2018, S. 56)
Besonders in der zuvor aufgeführten Definition bedarf es einer Hervorhebung der kulturspezifischen Rahmung. Im Rahmen des Strafvollzuges sind die leitenden Einflüsse der Subkultur (Maelicke, 2019) für die inhaftierten Menschen von großer Bedeutung. Die Entstehungsbedingungen der subkulturellen Rahmung können durch die Verinnerlichung von subkulturellen Normen und Verhaltensweisen als Reaktion auf die Haftdeprivation in der totalen Institution sowie der Reduzierung akuter Stressfaktoren gesehen werden. Dies bezweckt, die eigene Selbstachtung und individuelle Würde zurückzugewinnen (Deprivationsmodell nach Morris und Morris, 1963, S. 176 ff.) oder die sich basierend auf den latenten sozialen Identitäten der Insassen im Sinne der kulturellen Übertragungstheorie (Becker & Geer, 1960, S. 306 ff.) und die im Rahmen des Zusammentreffens „ein Produkt aus extramuralen Einflüssen und vorinstitutioneller Biographie“ (Laubenthal, 2019, S. 130) ergeben. Die Verbindung beider Theorien erfolgt im Integrationsmodell nach Schwartz (1971, S. 532 ff.) und integriert für die Entstehung von Insassensub-
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kulturen die Bedeutung der vorinstitutionellen Erfahrungen sowie anstaltsspezifische Einflüsse für die kompetitive Anpassung der Inhaftierten. Die Subkultur hat eine bedeutende Rolle und Maelicke weist besonders darauf hin, welche „schädliche Folgen“ (Maelicke, 2019, S. 187) hinsichtlich der Resozialisierung diese mit sich führt. Beispielsweise führt er auf, dass sein Fallbeispiel Timo in „vielen unkontrollierten Freizeitstunden [lernt], wie man mit welchen Werkzeugen möglichst leise und schnell Fenster und Türen aufbricht und wie man an welche Hehler welche geklauten Sachen zu welchen Preisen verhökern kann“ (Maelicke, 2019, S. 38 f.). Eine Inhaftierung kann somit einen Wissenserwerb darstellen sowie einen Kompetenzzuwachs ermöglichen, jedoch nicht in einem gesellschaftlich gewünschten Sinne. Informelles delinquentes Wissen wird erworben, weswegen der Erwerb von formellem Wissen, welches zur Erreichung eines Abschlusses benötigt wird, den es bedarf, um eine Ausbildung sowie Geld zu erlangen, immer irrelevanter in der Lebenswelt der Jugendlichen wird. Nicht unbeachtet bleiben sollten dabei die Ergebnisse der PISA-Studie 2018 (OECD 2019a), die u. a. belegen, dass das Lese- und Schreibverständnis der männlichen Studienteilnehmer (nicht aber der weiblichen) gegenüber der PISA-Studie 2015 nachgelassen hat, insbesondere wenn man bedenkt, dass die allermeisten Inhaftierten männlichen Geschlechts sind. Aus „Jugendlichen mit sozialisiert delinquenten Verhaltensmustern“ (Myschker & Stein, 2018) werden dennoch immer kompetentere, literate, kriminelle Jugendliche, wobei die Bedeutung des sozialen Lernens von der eigenen Bezugsgruppe (Peers), gerade in der Justizvollzugsanstalt, nicht unterschätzt werden darf (Schmitz-Feldhaus & Wittrock, 2015). Gerade das sogenannte „maladaptive Verhalten“ (Myschker & Stein, 2018) ist in der Rahmung, in der die Jugendlichen gelernt haben zu leben, ein literates Verhalten. Sie sind literat in ihrem Verhalten und somit informell überaus hoch gebildet. Die inhaltliche Füllung einer Literalität (Literacy) wird übertragen auf eine „Literalität des Verhaltens“ (Behavioral Literacy), verstanden als das Lesen und Verstehen von Verhalten und sozialen Rahmungen (Schmitz & Wittrock, 2010). Ausgehend von den Bedingungen ihrer Sozialisation und den damit verbundenen Rahmungen stehen die delinquenten Jugendlichen in der totalen Institution Justizvollzugsanstalt in einer für sie unverständlichen Rahmung. Gut verständlich für sie sind aber weiterhin die Peers, von denen sie nahezu unbegrenzt lernen können. Somit kann die These von Maelicke, dass wir gut daran tun, „jeden Straffälligen, der im Gefängnis einsitzt, bereits zu Beginn seiner Freiheitsstrafe auf den Tag seiner Entlassung vorzubereiten“ (Maelicke, 2019, S. 34) auch und gerade aus sonderpädagogischer Bildungsperspektive unterstützt werden. Ohne (sonder-) pädagogische Intervention erzeugt die Inhaftierung keine Motivation für formelle
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Bildung, sondern konzentriert die Perfektion und den Wissensaustausch der informellen-delinquenten Bildung. Es geht darum, mit einem weiten Bildungsbegriff zu arbeiten und die Jugendlichen und jungen Erwachsenen darin zu unterstützen, dass sie während der Inhaftierung Coping-Kompetenzen auf- bzw. ausbauen und formelles und legales informelles Wissen erwerben, um nach der Entlassung ein straffreies Leben zu beginnen bzw. zu führen. Jedoch muss auch explizit darauf verwiesen werden, dass die jungen delinquenten Menschen nicht bildungsfern sind – im Gegenteil sogar: Sie sind streetsmart bzw. streetwise. Dieser Begriff beinhaltet im angloamerikanischen Slang die Bedeutung, dass über mehr praktisches Wissen, für das tägliche Leben im Viertel, auf der Straße, verfügt wird, als über theoretisches Wissen, welches im Setting des Klassenraums erworben werden sollte (street smart & book smart girl, 2010; Cambridge University Press, 2020). 3
Bildungsangebote im Strafvollzug
Im Kontext von Bildungsangeboten in Jugendstrafanstalten ergeben sich pauschalisierend an der institutionellen Rahmung im Sinne von Goffman als totale Institution (Goffman, 1958) besondere Anforderungen. Dies ist besonders daran festzumachen, dass eine Abgrenzung zur Außenwelt besteht, das Leben durch Verfügungen, Vorschriften und Gesetze reglementiert wird, eine spezifische Subkultur herrscht und das Sicherheits- sowie Ordnungsdenken im Haftalltag den Alltag des Individuums dominiert (Myschker & Hoffmann, 1993, S. 46 f.). Ein Ansatz, um die Dysbalance des formellen und informellen Wissens der bildungsbenachteiligten Jugendlichen aufzugreifen, kann durch ein sonderpädagogisch ausgerichtetes schulpädagogisches Setting erreicht werden, welches „von vielen Defiziten im kognitiven, emotionalen und psychomotorischen Bereich der Inhaftierten“ (Myschker & Hoffmann, 1993, S. 49) ausgeht und die „Aufarbeitung dieser Defizite mit dem Ziel der Verhaltensänderung zu einem sozial verantwortlichen, selbstständigen Leben“ (ebd.) beinhaltet. Durch Defizite im Hinblick auf den schulischen Fächerkanon und eine fehlende sonderpädagogische Ausbildung der Lehrkräfte konnte bereits 1993 nach Myschker und Hoffmann die Schulpädagogik im Strafvollzug nicht als sonderpädagogisch ausgerichtet betrachtet werden. Und auch gegenwärtig gestaltet sich die vollzugliche Schulpädagogik noch deutlich defizitär in Hinblick auf eine sonderpädagogische Ausrichtung (Bihs 2013; Borchert 2016). Zielführend ist an dieser Stelle ein Verweis auf die von Myschker und Hoffmann (1984, S. 84) veröffentlichten Elemente didaktischer, methodischer sowie therapeutisch-pädagogischer Bedingungen zu geben, die hinsichtlich der institutionellen Rahmenbedingungen zu beachten sind (Myschker & Hoffmann, 1984, S. 84):
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1. Didaktische Elemente - Bezug der Bildungsinhalte zur Lebenssituation vor der Inhaftierung (Vergangenheitsaspekt), - Bezug der Bildungsinhalte zur Lebenssituation in der Vollzugsanstalt (Gegenwartsaspekt), - Bezug der Bildungsinhalte zur Lebenssituation nach der Entlassung (Zukunftsaspekt) 2. Methodische Elemente - Angepaßte zeitliche Planung (von relativ kurzen zu längeren Zeiteinheiten), angemessener Wechsel der Aktivitäten, - Differenzierung der Anforderungen (individualisiertes Lernen), Einsatz motivierender Materialien und Medien, Kleingruppenarbeit. 3. Pädagogisch-therapeutische Elemente - Schaffung einer förderlichen Lernatmosphäre, - Pädagogischer Bezug (emotional positive Schüler-Lehrer-Beziehung), - Positive Verstärkung (Ermutigung), - Hilfreiche Gesprächsführung (im Sinne der Prinzipien der Gesprächspsychotherapie), - Life-space-interview (Konfliktbearbeitung in der konkreten Situation), - Metakommunikation (Reflexion über Verhalten), gruppendynamische Übungen, - Einsatz spezieller Techniken (z. B. Rollenspiel, Videofeedback, kunst-, musik-, bewegungstherapeutische Verfahren). All dies sind Aspekte, die besonders für die Resozialisierung bereits 1984 von Bedeutung waren und noch bis heute hoch aktuell sind. Ergänzend sollte auch eine Betrachtung der didaktischen Grundfragen nach Klafki (1991) hinzugefügt werden, um die Gegenwartsbedeutung, Zukunftsbedeutung, exemplarische Bedeutung des Lerngegenstandes sowie des thematischen Zugangs explizit hervorzuheben. Besonders die Zukunfts- und Alltagsbedeutung (für diese inhaftierten Jugendlichen!) haben auch in Hinblick auf die Digitalisierung große Relevanz, um in einer (‚offiziell‘) Smartphone- und Wifi-freien Institution das Erlernen eines legalen Umgangs mit social media-Plattformen nicht auszuklammern. So verweist der OECD-Vizegeneralsekretär Schuknecht in diesem Zusammenhang besonders darauf, dass in der Schule niemand zurückgelassen werden darf, sondern dass in Schule allen Schülerinnen und Schülern die Kompetenzen vermittelt werden müssen, „die sie brauchen, um in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu bestehen.“ (OECD 2019b), was besonders darauf fokussiert, dass im Umgang mit der digitalen Welt Fakten von Meinungen unterschieden, Informationen verknüpft und eigene Lösungswege gefunden werden können (ebd.).
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Annika Krause & Manfred Wittrock
3.1 Informelle und formelle Bildungsangebote Das Jugendstrafrecht setzt auf Erziehung statt Strafe und da zusammen mit dem allgemeinen Begriffsverständnis von ‚Erziehung‘ gleichzeitig auch ein weiter Bildungsbegriff einhergeht, bleibt im Rahmen dieses Artikels festzuhalten, dass die Implementierung eines weiten Bildungsbegriffs mit entsprechenden Adaptionen in den (Vollzugs-) Alltag einhergehen muss. Des Weiteren sind sonderpädagogische Förder- und Unterstützungsmaßnahmen samt Sichtweisen in Zeiten der Inklusion für die Zukunft unabdingbar für einen Vollzug, der auf Erziehung fokussiert und einen Bruch in der bisherigen (Bildungs-) Biografie von bildungsbenachteiligten jungen Delinquenten anstrebt. Der Strafvollzug und die damit verbundene Inhaftierung darf und soll nicht zum apokalyptischen Reiter für die (Bildungs-) Biografie der Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen werden und das Gefängnis darf sich somit nicht inoffiziell von der „Schule des Verbrechens“ (Maelicke, 2019, S. 33) zu einer Hochschule des Verbrechens weiterentwickeln. Die Bildungsangebote des Strafvollzuges bedürfen einer Verknüpfung von formeller sowie informeller Bildung. Sie müssen gekennzeichnet sein sowohl von informell-attraktiver formeller Bildung als auch von einer Auseinandersetzung mit Selbstsorge/Selbstversorgung und sozial verantwortlicher Lebensführung. Auf der formalen Ebene greifen Schul(abschluss)kurse all das auf, was vor der Inhaftierung im Rahmen von Schule nicht vermittelt werden konnte. Das Aufgreifen von Lebensweltnähe (in Bezug auf diese Zielgruppe von Schüler*innen) und im Sinne der lebensproblemzentrierten Didaktik, der Frage „Wo kann ich ansetzen, um dort anzusetzen, wo diese Gruppe steht?“ (Schulze & Wittrock, 2003) sind bezogen darauf von großer Bedeutung sowie einer gruppenbezogenen methodischen Aufarbeitung des Unterrichts. Und auch Antonovskys Aspekte der Salutogenese (1997) lassen sich hinsichtlich der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit, Machbarkeit und Sinnhaftigkeit als Ausschlaggebend für gelungenen Unterricht in dieser Rahmung anwenden. 3.2 Nachhaltigkeit Wenn die Inhaftierten trotz ihres erworbenen Bildungsabschlusses nach ihrer Entlassung, basierend auf gesellschaftlicher Stigmatisierung, keine Aussicht auf einen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplatz haben, ist eine Anpassung der Nachhaltigkeit in Bezug auf die Verbindung des kriminalpolitischen Resozialisierungsauftrags und einem sozialpolitisch-begründeten Reintegrationsauftrags (Maelicke, 2018, S. 327) gefordert. Dies muss mit Elementen der sonderpädagogischen Zielsetzung der Inklusion ergänzt werden, um eine positive Sozialprognose der aus der
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Strafhaft entlassenen Jugendlichen fördern zu können. Denn das sind aktuell und basierend auf der Position dieses Artikels einige der (signifikanten) Hindernisse des Vorhabens der Reintegration und Resozialisierung von bildungsbenachteiligten, delinquenten Jugendlichen. Wobei aus sonderpädagogischer Perspektive die Frage bleibt, ob es sich überhaupt um eine Reintegration oder eher um eine grundsätzliche Integration von Desintegrierten handelt, die jedoch auf eines abzielt: Der Bewahrung vor einem Entlassungsloch und der Prävention eines – im übertragenen Sinne – ‚KnastKaters‘. Literaturverzeichnis Albert, M., Hurrelmann, K, Quenzel, G., Schneekloth, U., Leven, I., Utzmann, H. & Wolfert, S. (Hrsg.).(2019). Jugend 2019 – 18. Shell Jugendstudie. Eine Generation meldet sich zu Wort. Weinheim: Beltz. Andresen, S., Wilmes, J. & Möller, R. (2019). Children’s Worlds+. Eine Studie zu Bedarfen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. Antonovsky, A. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018). Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung. Bielefeld: wbv Publikation. Baier, D., Pfeiffer, C., Windzio, M. & Rabold, S. (2006). Schülerbefragung 2005: Gewalterfahrungen, Schulabsentismus und Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen in Thüringen. Abschlussbericht über eine repräsentative Befragung von Schülerinnen und Schülern der 4. und 9. Jahrgangsstufe. Hannover: KFN. Becker, H. & Geer, B. (1960). Latent Culture: A Note on the Theory of Latent Social Roles. Administrative Science Quarterly, 5, 304 ff. Bergmann, M.C., Kliem, S., Krieg, Y. & Beckmann, L. (2019). Jugendliche in Niedersachsen. Ergebnisse des Niedersachsensurveys 2017. (KFN-Forschungsberichte No. 144). Hannover: KFN. Bihs, A. (2013). Grundlegung, Bestandsaufnahme und pädagogische Weiterentwicklung des Jugendarrests in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Jugendarrestvollzuges in Nordrhein-Westfalen. Dissertation: Universität zu Köln. Börsch-Supan, J. & Stumpf, T. (2014). Die offiziellen Zahlen – ein Überblick zur sozialen Ungleichheit in der Bildung in Deutschland. In Vodafone Stiftung (Hrsg.), Love you Goethe. Berlin: Tempus Corporate. Boudon, R. (1974). Education, Opportunity and Social Inequality. Changing Prospects in Western Society. New York: John Wiley & Sons. Borchert, J. (2016). Pädagogik im Strafvollzug. Weinheim: Beltz. Cambridge University Press (2020). Streetwise. Aufgerufen von https://dictionary.cambridge.org/de/worterbuch/englisch/streetwise Dollinger, B. & Schmidt-Semisch, H. (2018). Sozialpädagogik und Kriminologie im Dialog. Einführende Perspektiven zum Ereignis „Jugendkriminalität“ In B. Dollinger &
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C Jugenddelinquenz und institutionelle Kontexte
Jugenddelinquenz – (k)ein Thema der Schule für Erziehungshilfe? Clemens Hillenbrand & Marie-Christine Vierbuchen
Die Berichterstattung über delinquente Taten von jungen Menschen erregt regelmäßig große Aufmerksamkeit, daraus resultiert ein wahrnehmbarer Handlungsdruck bei politisch Verantwortlichen. Dem steht die Datenlage entgegen: Die statistisch erfasste Häufigkeit von Straftaten in der Kategorie Jugendkriminalität nimmt, weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit, in den letzten Jahren kontinuierlich und deutlich ab (Pfeiffer, Baier & Kliem, 2018). Braucht es daher, so könnte die Grundsatzfrage lauten, überhaupt eine Beschäftigung mit dem Thema Jugenddelinquenz? Und sollte es überhaupt ein Thema der schulischen Erziehungshilfe als Teildisziplin der Sonderpädagogik sein? Im Gegensatz dazu steht die Entwicklung der Häufigkeit psychischer Störungen und aus schulischer Perspektive die starke Zunahme von festgestelltem Unterstützungsbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2018). Gerade im Rahmen der aktuellen Bemühungen um ein inklusives Bildungssystem (Kultusministerkonferenz, 2011) wirkt die Beobachtung der Zunahme von Diagnosen eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs emotionaler und sozialer Entwicklung inzwischen alarmierend. Allerdings stehen die beiden Beobachtungen zunächst einmal in keinem direkten Zusammenhang: Wenn etymologisch der Delinquent jemand ist, der sich vergeht, der eine Straftat oder Verfehlung begeht (Kluge, 1999, S. 169), so ist damit keineswegs eine direkte Verbindung zu schulischem Fehlverhalten angezeigt. Zudem fehlt es an deutschsprachigen Studien über einen Zusammenhang von diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung und delinquenten Verhaltensweisen der so identifizierten Personen. Also nur eine Blase mit viel heißer Luft? Der folgende Beitrag geht der Frage nach, welche Bedeutung das Phänomen der Jugenddelinquenz für die Arbeit der Schule für Erziehungshilfe besitzt. Nach einer kurzen Rückschau auf die Bedeutung jugendlicher Delinquenz für die Entwicklung des Fachdiskurses wird ein knapper Überblick über die Forschungen zum Zusammenhang von Beeinträchtigungen und Delinquenz im Jugendalter herangezogen, um die Relevanz anhand wichtiger Befunde zu belegen. Anschließend geht der Beitrag der Frage nach fundierten Handlungsmöglichkeiten nach, die für die schulische Praxis hilfreich sein können. Abschließend wird am Beispiel der Multisystemischen Therapie, eine der wenigen positiv evaluierten Ansätze der © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_6
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Clemens Hillenbrand & Marie-Christine Vierbuchen
Unterstützung delinquenter Jugendlicher, verdeutlicht, welche Chancen und Grenzen die Schule für Erziehungshilfe besitzt. 1
Jugenddelinquenz – ein historischer Strang der Erziehungshilfe
Für die Entstehung der Pädagogik bei Gefühls- und Verhaltensstörungen sind vier verschiedene Institutionen zu unterscheiden, die jeweils eigene Entwicklungen durchliefen. Es lassen sich die Heimerziehung, der Jugendstrafvollzug, die Entwicklung einer eigenen Form von Schule sowie die Kinder- und Jugendpsychiatrie unterscheiden (Hillenbrand, 2008; Myschker & Stein, 2014). Obwohl oft gemeinsame Probleme und die gleiche Zielgruppe in den verschiedenen Institutionen behandelt wurden, lassen sich keine Hinweise zu Formen der Kooperation zwischen diesen Einrichtungen finden. Der Umgang mit delinquenten Jugendlichen im Strafvollzug war dabei oft von harschen Maßnahmen geprägt (Myschker & Stein, 2014), eine konsequente Trennung des Jugendstrafvollzugs von den Erwachsenen gab es erst seit Ende des 19. Jahrhunderts. Durch den eigenen Strafvollzug für delinquente Jugendliche, wie beispielsweise in Wittlich an der Mosel, erhielt der erzieherische Akzent eine Chance (Schweder, 2014). Die Fürsorgeerziehungsanstalt Lindenhof in Berlin wurde von Karl Wilker ab 1919 nach reformpädagogischen Intentionen umgestaltet, ganz ähnlich versuchten Curt Bondy und Walter Herrmann in der Jugendstrafanstalt Hahnöfersand (Hamburg) auf neue Weise mit den Jugendlichen zu leben. Diese Modelle scheiterten in der Regel nach kurzer Zeit, nach der Wahrnehmung ihrer Initiatoren standen die politischen Vorgaben, starren Rahmenbedingungen der Institution oder die Einstellungen der Mitarbeitenden dem innovativen Erziehungsmodell entgegen (Hillenbrand, 1994). Die nationalsozialistische Diktatur ab 1933 verschärfte die Normen für jugendliches Verhalten, so dass bereits das Hören bestimmter Musikformen als Abweichung galt. Die Situation für delinquente Jugendliche wurde gefährlich, sie galten als „Gemeinschaftsschädlinge“ und wurden in strengen Formen des Strafvollzugs und der stationären Unterbringung misshandelt. Der Freiheitsverlust bis hin zur Einrichtung eines eigenen Konzentrationslagers für jugendliche Straftäter*innen sowie die Durchführung von Zwangssterilisationen stellten eine Gefahr für Leib und Leben der Jugendlichen dar. Auch in der DDR (Methner, 2014) konnten abweichende Verhaltensweisen als Schwererziehbarkeit und Delinquenz verfolgt und mit einem System rigider Erziehungsanstalten, z. B. im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, geahndet werden. Die Beschulung von delinquenten Jugendlichen spielte in diesen Einrichtungen eine nachrangige Rolle. Der Unterricht im Jugendstrafvollzug wird bis heute nicht als spezifische Schulform mit sonderpädagogischem Auftrag und Selbstverständnis gesehen (Schweder, 2014) und die Bemühungen um Bildung und
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Erziehung für diese Jugendlichen werden wissenschaftlich höchst marginal thematisiert. Auch wenn der neuere Fachdiskurs für den Umgang mit jugendlicher Delinquenz das Prinzip der Erziehung, Bildung, Unterstützung und Therapie in den Vordergrund stellt (Walkenhorst & Bihs, 2011), sind diese historischen Ideen durchaus in öffentlichen Debatten weiterhin wirksam. 2
Zum Forschungsstand
Die Faktoren, die zur Entstehung delinquenten Verhaltens beitragen, werden bereits seit Jahrzehnten in internationalen Studien empirisch erforscht und in validen Modellen, die auch in ihrer Praxisrelevanz überzeugen, zusammengefasst. Schon seit den 1980er Jahren machen insbesondere Studien aus den USA auf die erstaunliche Überrepräsentanz von Jugendlichen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in strafrechtlichen Maßnahmen aufmerksam (Montada, 1983; Turner, Vanderminden, Finkelhor, Hamby & Shattuck, 2011). Der Zusammenhang von Beeinträchtigung und Delinquenz wird in deutschen Studien nicht thematisiert, hingegen finden die internationalen Studien konsistent eine deutliche Überrepräsentanz von Jugendlichen mit Beeinträchtigungen in Einrichtungen und Maßnahmen des Strafrechtssystems, wie in einer der größten Studien mit insgesamt über 230.000 Jugendlichen differenziert ermittelt werden konnte (Kincaid & Sullivan, 2019). Allerdings gilt diese Beobachtung nicht für alle Formen von Beeinträchtigungen, vielmehr zeigen sich deutliche Unterschiede je nach Beeinträchtigungsform: Jugendliche mit emotionalen Störungen, spezifischen Schulleistungsschwierigkeiten und anderen gesundheitlichen Störungen (Kincaid & Sullivan, 2019, S. 464) werden deutlich häufiger in Verfahren des Strafrechts involviert und Maßnahmen der Strafjustiz unterworfen. Eine Studie mit über 4000 Proband*innen belegt in gleicher Richtung, dass insbesondere Jugendliche mit ADS oder ADHS sowie mit Lernbeeinträchtigungen aktiv delinquente Taten ausüben (Turner, Vanderminden, Finkelhor, Hamby & Shattuck, 2011). In einer weiteren Studie (Zhang, 2011) wurden insbesondere emotionale Störungen als Risikofaktoren für Delinquenz identifiziert. Schulische Probleme wie niedriger Schulerfolg, Klassenwiederholungen, hohe Fehlzeiten, Absentismus und Dropout hängen mit Delinquenz zusammen (Vacca, 2008) und insbesondere schlechte Lesefähigkeiten zeigen sich als starker Prädiktor (ebd., S. 1055). Zugleich erhält die Gruppe delinquenter Jugendlicher mit solchen Beeinträchtigungen härtere Strafen als Jugendliche mit anderen oder ohne vorliegende Behinderungen (Kincaid & Sullivan, 2019). Die langfristigen Folgen sind ebenfalls deutlich: Der erstmalige Kontakt mit dem Strafvollzug ist ein Prädiktor für rezidivierende Strafvollzugsmaßnahmen (Kincaid & Sullivan, 2019; Zhang, 2011) und Jugendliche mit Beeinträchtigungen
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tragen ein erhöhtes Risiko des Rückfalls in delinquentes Verhalten (Zhang, Hsu, Katsiyannis, Barrett & Ju, 2011). Zugleich bietet erfolgreiches Lernen einen tragfähigen Ansatzpunkt für die Rehabilitation bei jugendlicher Delinquenz: „Prior research has established that academic achievement is an important factor in combating delinquency and recidivism“ (Zhang et al., 2011, S. 284). Diese US-amerikanischen Befunde sind sicher geprägt durch die spezifische Sozialstruktur der Vereinigten Staaten mit ihrer höchsten Jugendkriminalität in Industriestaaten weltweit. Dennoch weisen die Befunde auf den starken Zusammenhang psychischer Störungen und schulischer Probleme mit der Delinquenz von Jugendlichen hin, woraus ein Auftrag für die schulische Erziehungshilfe abzuleiten ist. Auch deutschsprachige Befunde weisen implizit diesen Zusammenhang nach. Schon 2001 betonen Lay und Kollegen (2001) als Ergebnis ihrer Längsschnittstudie neben der Bedeutung widriger familiärer Lebensbedingungen die Bedeutung von umschriebenen Entwicklungsstörungen mit dissozialen und hyperkinetischen Verhaltenstendenzen, die sich oft schon im Alter von acht Jahren zeigen. Deren Bedeutung steigt im Jugendalter deutlich an. Frühe Regelverletzungen, ADHS und niedrige schulische Leistungen finden sich in einer medizinischen Studie bei Proband*innen einer Jugendstrafanstalt im Saarland (Zelinka, 2010). Insbesondere die Bedeutung von ADHS, die bei mehr als zwei Dritteln der Probandinnen und Probanden gefunden wurde, wird herausgestellt (ebd., S. 6). In weiteren medizinischen Untersuchungen zur Risikobelastung delinquenter Jugendlicher zeigen sich sehr hohe Belastungen im Hinblick auf schulischen Misserfolg: Mit einem Anteil von jeweils über 88 % zeigten sich bei Mädchen und Jungen gleichermaßen verschiedene Arten von Schulproblemen. […] Eine besonders hohe Belastung in beiden Gruppen zeigte sich vor allem in den Kategorien Leistungsstörungen mit jeweils über 66 %, Schulschwänzen mit jeweils über 56 % und Konzentrationsstörungen mit jeweils über 53 %. Ebenso beachtliche Werte ergaben sich in den Kategorien Kontaktstörungen, Aggressionen und Wiederholen. (Miller, 2009, S. 59 f.)
In einem zusammenfassenden Überblicksartikel gehen Lehmkuhl, Lehmkuhl und Döpfner auf die langfristige Entwicklung von dissozialen Verhaltensweisen ein. Eine Hälfte der Kinder mit hoher Risikobelastung für Delinquenz durchläuft einen positiven Pfad und entwickelt gesunde Verhaltensweisen, „die andere Hälfte aber entwickelt dissoziales Verhalten, und es gibt – umgekehrt – wenige dissozial auffällige Jugendliche, die in der Kindheit nicht durch oppositionell-aggressives Verhalten aufgefallen sind“ (Lehmkuhl, Lehmkuhl & Döpfner, 2002, S. 986). Auch hier spielt die Schulleistung eine nicht zu vernachlässigende Rolle: „Kinder und Jugendliche mit aggressiv-dissozialen Verhaltensstörungen weisen darüber hinaus gehäuft Schulleistungsdefizite auf“ (ebd., S. 985). Welche theoretischen Modelle bieten zu den einzelnen empirischen Befunden einen schlüssigen Erklärungsansatz? Hierzu bieten sich verschiedene Ansätze
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Jugenddelinquenz – (k)ein Thema der Schule für Erziehungshilfe?
Jugendalter
an (ebd., 2002). Unter Rückbezug auf Loeber (1990) schlägt Tröster (2011) insbesondere ein Modell der Entwicklung aggressiv-dissozialen Verhaltens vor (vgl. Abb. 1), in dem der Zusammenhang und die Interaktion komplexer Risikofaktoren deutlich wird (ebd., S. 341).
Bündnis mit dissozialen Jugendlichen
Delinquenz
Aggression
Schulprobleme
Kindheit
Oppositionelles Trotzverhalten
Soziale Defizite Probleme mit Gleichaltrigen
Soziale Isolation
Hyperkinetische Störung
Geburt
Schwieriges Temperament Prä- und perinatale Risikofaktoren
Störungsverlauf
Abb. 1.: Transaktionales Entwicklungsmodell aggressiv-dissozialen Verhaltens (Tröster, 2011).
Ein solches Entwicklungsmodell weist mit den Risikofaktoren im Entwicklungsverlauf zugleich auf die besondere Dringlichkeit intensiver Entwicklungsförderung zu bestimmten Entwicklungsphasen hin. Ziel ist die Steigerung der Schutzfaktoren. Viele Risikofaktoren können nicht von extern und auch nicht durch die Schule für Erziehungshilfe beeinflusst werden. Aber diesen Risikofaktoren und ihrer ungünstigen Beeinflussung Ressourcen gegenüber zu stellen ist ein wirksamer Weg. Auf Basis der vorliegenden Befunde stellt sich aus diesem Grund die Aufgabe für die Schule für Erziehungshilfe einerseits entwicklungsbezogen die sozial-emotionalen Kompetenzen zu unterstützen und andererseits das schulische Lernen von Kindern und Jugendlichen mit Risikobelastungen erfolgreich zu gestalten. Welche Möglichkeiten pädagogischen Handelns bieten sich für diese anspruchsvolle Aufgabe an?
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Clemens Hillenbrand & Marie-Christine Vierbuchen
Wirksame Unterstützung
Die Aufgabe für die Schule für Erziehungshilfe angesichts der brisanten Ausgangslage, dass nämlich ihre Schüler*innen in hohem Grad unter Risikofaktoren der Delinquenz leben und lernen, erfordert ein strukturiertes und systematisches Handeln für die bestmögliche Unterstützung ihrer Schüler*innenschaft. Strukturell lässt es sich nach der Weltgesundheitsorganisation WHO in die Formen gezielter Prävention einteilen (Beelmann & Rabe, 2007; Brezinka, 2003). Während die universelle Prävention auf unbelastete Zielgruppen fokussiert, ist die selektive Prävention ausgerichtet auf Gruppen mit erhöhter Risikobelastung, beispielsweise auf Kinder, die unter widrigen familiären Bedingungen oder mit Hinweisen auf bestehende psychosoziale Probleme in ihrem Lernen belastet sind. Die meisten Schüler*innen der Schule für Erziehungshilfe sind jedoch als Gruppe mit hohem Risiko und sich bereits abzeichnenden Symptomen zu verstehen, für die durch wirksame Maßnahmen eine Ausweitung der Problematik vermieden und möglichst eine Reduktion vorhandener Schwierigkeiten erreicht werden soll (indizierte Prävention). Während unimodale Prävention nur ein Setting berücksichtigt, sollten bei der Gefahr einer Entwicklung zu delinquentem Verhalten multimodale Programme und damit mehrere soziale Situationen, etwa Schule und zugleich das Elternhaus, in die sonderpädagogische Arbeit einbezogen werden (Lehmkuhl et al., 2002). Grundsätzlich versprechen multimodale Programme eine höhere Wirksamkeit gerade bei mehrfacher Risikobelastung. Zur Frage wirksamer Verfahren liegt inzwischen ein breiter Forschungsüberblick vor. Eine umfassende Metaanalyse zur schulbasierten Prävention (Durlak et al., 2011) bezieht 213 schulbasierte universelle Maßnahmen sozial-emotionalen Lernens ein und umfasst 270.034 Kinder und Jugendliche. Einer der für Lehrkräfte wichtigsten Befunde zeigt, dass mittels der überprüften Maßnahmen geförderte Schüler*innen auch im akademischen Lernen profitieren: Sie gewinnen durchschnittlich elf Prozent im Bereich schulischer Leistungen! Die überprüften Verfahren zur Förderung emotional-sozialer Kompetenzen erreichen zudem Steigerungen um ca. 10 bis 15% in verschiedenen Verhaltensdimensionen. Als besonders wirksam erweist sich dabei die Umsetzung präventiver Verfahren durch die Klassenlehrkraft. Erfolgreiche Maßnahmen der schulbasierten Prävention folgen zwei grundlegenden Aspekten: -
der Etablierung positiver, sicherer Lernumgebungen, und der gezielten Förderung sozial-emotionaler Fertigkeiten in der Schule
Zur Förderung positiver Lernumgebungen sind insbesondere Maßnahmen des Classroom Management heran zu ziehen (Hennemann & Hillenbrand, 2010). Classroom Management wird in einer wichtigen Metaanalyse als eine der
Jugenddelinquenz – (k)ein Thema der Schule für Erziehungshilfe?
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wirksamsten Maßnahme bei aggressiven Verhaltensweisen identifiziert (Wilson, Lipsey & Derzon, 2003). Ein gutes Classroom Management (vgl. Abb. 2) orientiert sich in Planung, Organisation, motivierender Gestaltung des Unterrichts und Geltung klarer Verhaltensregeln an einer optimalen Lernaktivierung und Zeitnutzung für den Lernerfolg der Schüler*innen (Helmke, 2007). Nicht die Reaktion von Lehrkräften auf Störungen, vielmehr die präventive Gestaltung des Unterrichts zur Vermeidung von Störungen führt demnach zu positiven Entwicklungsfortschritten. Gutes Classroom Management erhöht zugleich die Erfolgschancen für das akademische Lernen. Die Lernenden profitieren davon in ihrem Lernfortschritt, einem insgesamt höheren Leistungsniveau und einer geringeren Anzahl von Störungen des Unterrichtsprozesses (Wang, Haertel & Walberg, 1993). Eine der am besten evaluierten Maßnahmen stellt in diesem Kontext das Good Behavior Game (Barrish, Saunders & Wolf, 1969) dar, das als KlasseKinderSpiel auch in deutschen Schulen erfolgreich Verwendung findet (Hillenbrand & Pütz, 2008). Auf Basis der Evaluationsstudien lässt sich zudem eine Zuordnung der Maßnahmen gemäß des Bedarfs an Unterstützung herstellen (Sayeski & Brown, 2011).
Indizierte Stufe Selbst‐Monitoring, differentielle Verhaltensdiagnostik, individualisierte Förderprogramme, Krisen‐/ Interventionsplan Selektive Stufe Regeln, Verstärkersystem, Token‐Programme, Verhaltenskontrakte, gezielte Förderprogramme, systematisches Elterninformationssystem, Interventionstechniken, Monitoring und Förderplan Universelle Stufe Peer Tutoring, Aktivierung der Lernenden, klare Kommunikation, Strukturierung von Lernprozess und Klassenraum, Modellierung positiven Verhaltens, Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler*in, Routinen, Monitoring Abb. 2: Maßnahmen des Classroom Managements zur emotionalen und sozialen Unterstützung nach Intensität (Sayeski & Brown, 2011, S. 11).
Weitere konkrete Maßnahmen finden sich in einer Reihe von praxisnahen Publikationen (bsp. Hartke et al., 2018, Blumenthal et al., 2020).
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Ein weiterer Ansatz wirksamer schulbasierter Prävention besteht in der gezielten Förderung sozial-emotionaler Fertigkeiten in der Schule (Durlak et al., 2011). Insbesondere die seit einigen Jahren auch in deutscher Sprache vorliegenden Förderprogramme und Trainings zur sozial-emotionalen Entwicklungsförderung sind hier einzuordnen. Der Grundgedanke verfolgt das Ziel, durch die systematische Förderung sozialer und emotionaler Kompetenzen potentielles Problemverhalten, das zu Delinquenz führen könnte, zu vermeiden. Meist finden solche Programme ihre Verwendung in universeller und selektiver Prävention, durch Intensivierung in Kleingruppen, Wiederholungen oder eine gezielte Anleitung können sie jedoch auch Verwendung für die indizierte Ebene finden. Die Programmdurchführung ist meist so strukturiert, dass Manuale vorliegen, die genaue Auskunft über den Ablauf, die Materialien und die Vorgehensweise geben. Dadurch erlangen die durchführenden Lehrkräfte eine Handlungssicherheit, die zur Wirksamkeit beiträgt. Modifikationen für die eigene Klasse sind natürlich unter Umständen trotzdem sinnvoll, aber gut umsetzbar. Zurzeit liegen fünf wirksame Programme für das Vorschulalter, 15 Programme für die Grundschule und 28 Programme für die Sekundarstufe vor (Casale et al., 2018). Einen hilfreichen Überblick über die vorliegenden Förderprogramme im deutschen Sprachraum mit der Einschätzung ihrer Wirksamkeit bietet seit 2011 die vom niedersächsischen Justizministerium initiierte Grüne Liste Prävention (http://www.grueneliste-praevention.de/). Sehr sinnvoll ist, insbesondere bei selektiven und indizierten Unterstützungsbedarfen, die Kombination der nachgewiesenermaßen wirksamen Förderprogramme mit den Maßnahmen wirksamen Classroom Managements, die in aller Regel gut durchführbar ist. Wie sollte die Umsetzung solcher Maßnahmen erfolgen? Ein effektiver Einsatz wirksamer Methoden folgt dem SAFE-Prinzip (Durlak et al., 2011, S. 408): -
Sequenzen: Bauen die Lernschritte im Programm strukturiert aufeinander auf? Aktivität: Verwendet das Programm aktive Lernformen und Übungen, die das gewünschte Verhalten einüben? Fertigkeiten: Hat das Programm mindestens eine Komponente, die speziell soziale Fertigkeiten fördert? Explizierte Ziele: Sind die Programmziele des sozial-emotionalen Lernens explizit formuliert?
Diese Kriterien fordern zur systematischen und konzentrierten Unterstützung von Schüler*innen unter Risikobelastungen auf, die den Entwicklungspfad zur Delinquenz abwendet.
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Maßnahmen der Intervention
Wenn die Schule für Erziehungshilfe eine wichtige Aufgabe in der Vermeidung von Entwicklungen zur Delinquenz hat, werden angesichts gegebener hoher Risikobelastungen Maßnahmen der Intervention, die in multiprofessioneller Kooperation zum Erfolg führen, unverzichtbar bleiben. Zur Organisation und Strukturierung von Maßnahmen der Intervention und der Kooperation eignet sich ein mehrstufiges Rahmenmodell (z. B. Huber, 2015), wie Abbildung 3 darstellt.
Weitere Intensivierung des Unterrichts Stufe 3 ca. 5 %
Stufe 2
Individuelle Hilfen Regulärer Unterricht
Differential‐ diagnostik Prozessdiagnostik
Präventive Kleingruppenförderung Multiprofessionelle Problemlöseteams Individuelle Hilfen
ca. 20 %
Regulärer Unterricht
Stufe 1
Regulärer Unterricht
Prozessdiagnostik
2‐3x pro Schuljahr
ca. 100 % Abb. 3.: Mehrstufiges Rahmenmodell zur Organisation von Diagnostik und Förderung (Huber, 2015).
Hier wird auf der ersten Stufe der reguläre, gut strukturierte und wirksame Unterricht der Schüler*innen im Alltag mit begleitender regelmäßiger, aber nicht engmaschiger Diagnostik angesiedelt. Wie in Abbildung 2 sollen hier alle Maßnahmen der universellen Stufe Verwendung finden. Die zweite Stufe ist für diejenigen Schüler*innen vorgehalten, die in der ersten Stufe nicht ausreichend am Unterrichtsgeschehen partizipieren können, sei es auf Ebene des Lernens oder des Verhaltens. Hier intensiviert sich die Kooperation der Lehrkräfte und weiterer Beteiligter, die Intensität der Förderung und die Intensität der Diagnostik, immer mit dem Ziel, die Partizipation der Schüler*innen zu steigern und eine bestmögliche
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Lernumgebung bereitstellen zu können. Die dritte Stufe wird dann für diejenigen vorgehalten, deren Teilhabe trotz der Stufe 2 noch nicht ausreichend gesichert werden kann. Hier kommen intensive und engmaschige Förderansätze und diagnostische Prozesse zum Einsatz, die absolut individuell adaptiert sein müssen. Angesichts der Risikobelastung und des dargestellten Theorie-Modells (Transaktionales Entwicklungsmodell, vgl. Abb. 1) ist leicht nachvollziehbar, dass erfolgversprechende Interventionen die Mehrdimensionalität der Belastungen aus verschiedenen Feldern berücksichtigen müssen. Die beiden bestevaluierten und daher erfolgversprechendsten Verfahren setzen genau hier an: Die verschiedenen Ökosysteme, in denen der Jugendliche lebt, insbesondere die Familie und deren Zusammenwirken mit den Peers, der Schule und weiteren Lebensbereichen stehen im Mittelpunkt der Intervention! Während die Family Functioning Therapy in ihrer Intervention stärker in einem therapeutischen Setting bleibt, setzt die Multisystemische Therapie (Multisystemic Therapy, MST) in den Systemen der Lebensrealität des Jugendlichen, also auch in der Schule, an. Die MST ist das effektivste der Verfahren, die den wissenschaftlichen Anforderungen unterworfen und als erfolgreich überprüft worden sind. Allerdings existieren wenige Einsatzorte im deutschsprachigen Raum (z. B. Schweiz, im Thurgau oder auch Deutschland, in Mainz, Heilbronn und in Hamburg). Diese Interventionsform wurde insbesondere für straffällige Jugendliche entwickelt, das Konzept wurde jedoch auch für weitere Zielgruppen, wie z. B. drogenabhängige und hochgradig psychisch erkrankte Jugendliche adaptiert (Heekerens, 2006; Vierbuchen, Albers & Hillenbrand, 2010). MST geht nach einer sehr klaren Strategie vor, die zu einer hohen Intensität der Förderung führt. Sie arbeitet zugleich aufsuchend und aktiv in den verschiedenen Lebenssystemen des Jugendlichen, also neben der Familie beispielsweise mit den Freunden (Peers), mit der Schule und der Gemeinde. Oberstes Ziel ist hier der Verbleib der Jugendlichen in der Familie, weiterhin sollen ein Schulabschluss und die Vermeidung von Straftaten und nachfolgender Inhaftierung im Fokus stehen. Somit spielt Schule im Kontext der MST zwar eine bedeutsame Rolle, allerdings nur als ein Setting unter mehreren. Die Frage wäre hier: Was kann die Schule für Erziehungshilfe von dieser wirksamen Intervention lernen und umsetzen? Was ist bereits verankert und könnte erneut verstärkt in den Fokus rücken? Wo sind relevante Aspekte innerhalb der Schule und in der Kooperation mit dem außerschulischen Netzwerk?
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Tab. 1.: Prinzipien der MST (aus Swenson & Henggeler, 2005, S. 134; Vierbuchen & Hillenbrand, 2011) und deren Bedeutsamkeit für die Schule für Erziehungshilfe.
Prinzip 1
Prinzip 2
Prinzip 3
Prinzip 4
„Primär geht es in der Diagnostik darum, den Zusammenhang zwischen den offensichtlichen Problemen und dem breiteren systemischen Kontext zu verstehen“ (Swenson & Henggeler, 2005, S. 134). Die eingesetzte Diagnostik hat einerseits das Ziel, sehr eng am Lernbereich oder Verhalten eine Entwicklung zu verfolgen und gezielte Unterstützung anbieten zu können. Aber umgebende Faktoren/ Personen und deren Wirkstrukturen sind absolut bedeutsam zur Identifizierung und Einbindung von Risiken und Ressourcen in den Unterstützungsprozess und müssen Teil des Unterstützungsprozesses werden. Ziel ist, das „Verhalten des Jugendlichen multisystemisch und multifaktoriell zu konzeptualisieren“ (Eigenheer et al., 2016, S 108). „In therapeutischen Kontakten wird das Positive hervorgehoben, und der Hebel zur Veränderung wird bei systemischen Stärken angesetzt“ (Swenson & Henggeler, 2005, S. 134). Das lässt sich auf (sonder-)pädagogische Kontakte transferieren. Es ist wichtig, vorhandene Ressourcen erkennen zu können, auch wenn teilweise aufgrund der komplexen Problemlagen die Suche nach Ressourcen aufwändig ist. Das Finden von Ressourcen hilft jedoch zu einem notwendigen Perspektivwechsel und eröffnet neue Optionen für den Alltag und die Interaktion. Mehr von dem tun, was gut funktioniert; den Jugendlichen mehr in Situationen bringen, die positiv verlaufen. „Interventionen sollen im Rahmen der Familie verantwortungsvolle Verhaltensweisen fördern und unverantwortliche Verhaltensweisen verringern“ (ebd., S. 134). Hier sind zwei für die Schule für Erziehungshilfe relevante Aspekte erkennbar: Einerseits die systematische Einbindung der Familie (z. B. auch kurze Kontakte, wenn ein Tag ohne besondere Ereignisse verlief, positive Rückmeldungen), andererseits die Förderung verantwortungsvoller Verhaltensweisen im Klassenkontext, in dem z. B. erst individuell mit dem Jugendlichen erarbeitet werden kann: Was sind in seinem Kontext verantwortliche Verhaltensweisen? Was bewirken sie? Woran erkennt er selber, wenn er sich verantwortungsbewusst verhält? Daran anknüpfen muss ein stringentes Feedbacksystem innerhalb des Schulalltags. „Interventionen sind handlungsorientiert und beziehen sich auf aktuelle und gut definierte Probleme“ (ebd., S. 134). Die gezielten Unterstützungsmaßnahmen, die am besten mit den Jugendlichen erarbeitet werden, müssen eine hohe persönliche Bedeutsamkeit besitzen. Alltagsrelevante und erreichbare zwei bis drei Förderziele, die schrittweise erreichbar sind (SMARTE Ziele, vgl. z. B. Popp, Melzer & Methner, 2017), bewähren sich immer wieder. Eine Erreichung der Ziele muss kurzfristig möglich sein (langfristige Ziele in mehrere kurzfristige unterteilen) und mit spürbaren Veränderungen
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Prinzip 5
Prinzip 6
Prinzip 7
Prinzip 8
bezüglich der als problematisch identifizierten Situationen einhergehen. „Die Interventionen zielen auf Handlungsmuster, die innerhalb eines Systems und zwischen den einzelnen Systemen wiederkehren und die offensichtlichen Probleme aufrechterhalten“ (Swenson & Henggeler, 2005, S. 134). Lehrkräfte der Schule für Erziehungshilfe erkennen häufig, wie schnell Schüler*innen in sehr ähnlichen Situationen in festen Handlungsmustern der Eskalation verstrickt sind. Der erste Schritt ist das Erkennen solcher Teufelskreise, die Identifikation der Funktion, die dadurch erfüllt wird und dann die Planung und das schrittweise Training der Erreichung der Funktion (z. B. von den Mitschüler*innen oder der Lehrkraft wahrgenommen zu werden) ohne das ‚alte‘ Handlungsmuster. Die neuen Handlungsmuster dürfen dabei nicht zu komplex sein. Es gilt zuerst die offensichtlichen und nachvollziehbaren, naheliegenden Probleme zu bewältigen, ohne alle Problembereiche zeitglich in den Fokus zu rücken. Stetiges Feedback der Lehrkraft, der Familie, der Klasse, sowie Reflexion durch die Schüler*innen selbst verstärken systematisch (Fefer & Vierbuchen, 2019). „Die Interventionen sind auf den Reifegrad und die Bedürfnisse des Jugendlichen abgestimmt“ (Swenson & Henggeler, 2005, S. 134). Welche Fähigkeiten und Kompetenzen sind vorhanden? Eine Unterstützung, die entwicklungsgemäß agiert, passt sich sowohl in der verwendeten Sprache, den anvisierten Zielen, der Methodenwahl bis hin zur Auswahl passender Verstärker an. Hier sind standardisierte Altersziele fehl am Platz. Rückmeldungen sollten anhand der individuellen Bezugsnorm stattfinden. „Die Interventionen verlangen den Familien täglichen oder wöchentlichen Einsatz ab“ (ebd., 2005, S. 134). Verhaltensmuster, die kontinuierlich eingesetzt werden, weil sie stetig gefragt sind, gewinnen schnell einen gewissen Grad an Automatisierung oder Verselbstständigung. Je mehr Training in verschiedenen Kontexten, desto besser. Die Alltagsrelevanz und Häufigkeit des Einsatzes des ‚neuen‘ Verhaltens und damit verbundener Erfolgserlebnisse ist bedeutsam. „Der Behandlungserfolg wird beständig aus mehreren Perspektiven beeinflusst, und es obliegt den professionellen Helfern, Hindernisse auf dem Weg zum Erfolg zu überwinden“ (ebd., 2005, S. 134). Begrifflichkeiten wie ‚therapieresistent‘ existieren im Konzept der MST nicht, man muss die richtige Intervention finden. Die Verantwortlichkeit liegt bei den Therapeut*innen. Verantwortung übernehmen ist ein wichtiges Stichwort: Durch multiprofessionelle Problemlöseteams und zuverlässige Kooperationen, in denen jeder Beteiligte Verantwortung trägt, existiert viel Wissen und Erfahrung. Gemeinsam wird nach funktionierenden Lösungen gesucht. Es werden überall im Prozess
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Prinzip 9
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Reflexions- und Feedbackschleifen zur frühen Identifikation und Beseitigung von Barrieren eingebaut. „Die Familie soll die Interventionen möglichst breit anwenden können. Veränderungen sollen von Dauer sein und die Betreuungspersonen dazu befähigen, die verschiedenen Bedürfnisse der Familienmitglieder in ihren multiplen Systemen zu befriedigen“ (ebd., 2005, S. 134). Empowerment ist das grundlegende Prinzip hinter dieser Aussage. Wie können der Jugendliche (sowohl in der Klasse, als auch zu Hause und in der Freizeit) und die Familie dazu befähigt werden, selbst in Zukunft die Verantwortung zu tragen und auftauchende Probleme proaktiv zu erkennen und zu lösen? Generalisierung von Verhaltensänderungen ist schwierig und auch für die Schule für Erziehungshilfe ein relevantes Thema. Die Wahrscheinlichkeit der nachhaltigen Wirksamkeit der Unterstützungen steigt, je mehr die vorhergehenden Prinzipien Anwendung finden.
Viele Aspekte erinnern an bekannte Inhalte: z. B. die Qualitätskriterien von Förderplänen (Popp, Melzer & Methner, 2017), Perspektiven der funktionellen Verhaltensanalyse, die Wirksamkeit von Verstärkung und Feedback und die Übernahme von Verantwortung für Verhaltensveränderung. Der Fokus der MST liegt deutlich auf dem Verhalten des Jugendlichen und dem Erziehungsverhalten der Eltern. In der Schule für Erziehungshilfe sollten hier sowohl das (Sozial-)Verhalten wie auch das (fachliche) Lernen im Fokus stehen. Diese Prinzipien sind zwar für den therapeutischen Kontext entwickelt worden, treffen aber in hohem Maße das Selbstverständnis und die Arbeitsweise in der Erziehungshilfe. Sie sollten als „Wegweiser“ (Eigenheer et al., 2016) dienen. Hier sind jedoch die Systematik und Unumstößlichkeit der Prinzipien und deren Umsetzung ausschlaggebend. 5
Ergebnis
Sind Jugenddelinquenz und die Schule für Erziehungshilfe untrennbar miteinander verbunden? Zusammenfassend lässt sich festhalten: Schüler*innen, die eine Schule für Erziehungshilfe besuchen, wurde ein Förderbedarf der sozial-emotionalen Entwicklung bescheinigt. Die empirischen Befunde im Kontext von Delinquenz machen darauf aufmerksam, dass ein großer Teil der Lernenden der Schule für Erziehungshilfe einen erhöhten Umfang an Risikofaktoren auf verschiedenen Ebenen aufweist, die sich zu einem Konglomerat an ungünstigen Konditionen verbinden können. Beispielsweise liegen auffällige Verhaltensweisen in mehreren Settings vor, die sozialen Kompetenzen sind gering ausgeprägt, die Peergroup ist häufig von ähnlichen Problemlagen und Auffälligkeiten gekennzeichnet, das Elternhaus kann sich durch ungünstiges Erziehungsverhalten auszeichnen. Sowohl
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die spezifischen psychosozialen Belastungen wie ADHS, Aggression oder widrige familiäre Lebensbedingungen wie auch die benachteiligenden schulischen Lernmöglichkeiten stellen empirisch nachgewiesene Risikofaktoren für die Entwicklung delinquenter Verhaltensweisen dar. Die Schule für Erziehungshilfe hat also sowohl die Pflicht als auch die Möglichkeit, präventiv systematisch zu handeln und das Thema Jugenddelinquenz in den Fokus zu rücken. Für die Schule für Erziehungshilfe resultiert daraus die Aufgabe, systematisch und präventiv die Risikofaktoren zu minimieren sowie unterstützende Maßnahmen zur Stärkung sozial-emotionaler wie auch akademischer Kompetenzen (Leidig, Hennemann & Hillenbrand, 2020) auszubauen. Je nach Bedarf und Partizipationsmöglichkeiten der Schüler*innen sollten verschiedene Stufen an Intensivität der Maßnahmen vorgehalten werden. Die Prinzipien der MST können hier eine gute Orientierung bieten, die jedoch individuell auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Zielen umgesetzt werden müssen. Oftmals wird es für die Schule kaum nachvollziehbar sein, ob sie tatsächlich erfolgreich gearbeitet hat, denn die „Stunde der Wahrheit“ kommt oft erst im Übergang zur nächsten oder übernächsten Entwicklungsaufgabe. Eine enge Begleitung, intensive Kooperation, die Suche nach Beziehung und Möglichkeiten zum vertrauensvollen Dialog mit den Schüler*innen können jedoch diese Bewährung deutlich machen. Die Pionierin der Resilienzforschung, Emmy Werner, machte in ihren Studien deutlich, dass Lehrkräfte oftmals eine besondere Wirkung auf die jungen Menschen in Risikobedingungen haben – diese Chance können Lehrkräfte der Schule für Erziehungshilfe nutzen. Literaturverzeichnis Autorengruppe Bildungsberichterstattung. (2018). Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: wbv. Barrish, H. H., Saunders, M. & Wolf, M. M. (1969). GOOD BEHAVIOR GAME: Effects of individual Contingencies for Group consequences on Disruptive Behavior in a Classroom. Journal of Applied Behavior Analysis, 2(2), 119-124. Beelmann, A. & Raabe, T. (2007). Dissoziales Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Göttingen: Hogrefe. Blumenthal, Y., Casale, G., Hartke, B., Hennemann, T., Hillenbrand, C. & Vierbuchen, M.C. (2020). Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und emotional-sozialen Entwicklungsstörungen - Förderung in inklusiven Schulklassen. Stuttgart: Kohlhammer. Brezinka, V. (2003). Zur Evaluation von Präventivinterventionen für Kindermit Verhaltensstörungen. Kindheit und Entwicklung, 12(2), 71-83. Casale, G., Hövel, D., Hennemann, T. & Hillenbrand, C. (2018). Prävention und psychische Gesundheitsförderung in der Schule. In B. Röhrle, H. Christiansen & D.D. Ebert
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„Geschlossene Unterbringung“ in Heimen der Kinder- und Jugendhilfe als Reaktion auf Delinquenz? Sabrina Hoops
Prolog Man könnte diesen Beitrag kurz halten: Die „Geschlossene Unterbringung“1 in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe stellt, salopp gesprochen, keine Reaktion auf Delinquenz dar. Punktum. Warum also dennoch einen Text verfassen, den vermutlich mehrheitlich diejenigen lesen werden, die einen solchen Zusammenhang ohnehin nicht sehen und gar nicht überzeugt werden brauchen, dass es so einfach nicht ist? Die Antwort liegt auf der Hand: Es ist die Hoffnung, dass dieser Text vielleicht doch den ein oder anderen erreicht, der an diesen Zusammenhang glaubt (oder glauben will). Denn: Auch heute, im Jahr 2020 gibt es trotz der Verfügbarkeit von empirisch geprüftem Wissen viel zu viele hartnäckige Fehleinschätzungen in diesem Kontext. Fehleinschätzungen, die fachlich und individuell folgenreich sind, weil sie dazu führen können, dass den Bedarfen von Kindern und Jugendlichen nicht bestmöglich entsprochen wird. Wenn dieser Text es vermag, einige dieser Fehleinschätzungen zu revidieren, dann ist es Grund genug, ihn zu verfassen. So würde es vermutlich auch Philipp Walkenhorst sehen, der mit dieser Festschrift geehrt werden soll. Philipp Walkenhorst ist ein Kollege, der es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, sich für junge Menschen gerade auch in schwierigen Lebenskonstellationen einzusetzen. Ich schätze Philipp Walkenhorst seit vielen Jahren als einen Menschen, der an den Schnittstellen der Disziplinen Sozialpädagogik, Sonderpädagogik und Kriminologie und der Handlungsfelder Jugendhilfe, Polizei und Justiz mit dem ihm ganz eigenen Enthusiasmus „bei der Sache“ ist und dabei in für mich geradezu beispielgebender Weise nicht 1
Zur m. E. irreführenden Begrifflichkeit „Geschlossene Unterbringung“ (GU) ist schon vieles geschrieben worden. In Kürze: Ich bevorzuge den Begriff der Freiheitsentziehenden Unterbringung, da er präziser ist und den verschiedenen Graden von Geschlossenheit, die konzeptionell für dieses Setting charakteristisch sind, besser gerecht wird als der Terminus „GU“, der einen Dauereinschluss suggeriert und entsprechend falsche Assoziationen auslöst.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_7
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zurückschreckt, auch „gegen Windmühlen“ anzukämpfen und dabei immer Optimist geblieben ist. Drei Aspekte sind dabei für mich verbunden, nämlich die Hoffnung, dass… -
-
…Delinquenz im Kindes- und Jugendalter so wahrgenommen wird, wie die einschlägigen kriminologischen Forschungserkenntnisse es zeigen: Kinderund Jugenddelinquenz ist v. a. im Bagatellbereich zu verorten, überwiegend ein episodenhaftes und ubiquitäres Phänomen und damit in erster Linie ein „normaler“, altersangemessener, wenn auch mit Risiken behafteter Bestandteil der Entwicklung. ….es noch besser gelingt, mit unterschiedlichen zielgruppenspezifischen Konzepten zwischen jugendtypischen Grenzüberschreitungen und massiven Problemkonstellationen zu differenzieren. …und, last but not least: Dass flächendeckend passgenaue, d. h. adressat*innengerechte Angebote und Settings im Zuständigkeitsbereich der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt und zeitnah umgesetzt werden.
Für mich ist damit verknüpft eine grundsätzliche Bereitschaft der Kinder- und Jugendhilfe gegenüber auch regional zur Verfügung stehenden spezialisierten, intensiv-pädagogischen Maßnahmen sowie im zu begründenden Einzelfall die Aufgeschlossenheit, bei Bedarf auf geeignete Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe nach §§ 34 oder 35a SGB VIII in Verbindung mit (i. V. m..) § 1631b BGB zurückgreifen zu können. Dabei muss unmissverständlich klar sein: Auftrag und Intention der Kinder- und Jugendhilfe ist es nicht, irgendwelche „Straferwartungen“ aufzugreifen und Sanktionierungen durchzusetzen. Wenn ein Kind im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe unter Beachtung aller gesetzlichen Vorgaben freiheitsentziehend untergebracht wird, geht es nicht um die Bestrafung unerwünschten Verhaltens, sondern um die mit anderen Mitteln nicht durchsetzbare Sicherung des Kindeswohls und Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung – und nur allein darum. Demnach ist wiederkehrenden Forderungen nach „Geschlossenen Heimen“ im Sinne von „Kinderknästen“ seitens ordnungs- und sicherheitspolitischen „Hardlinern“ eine Absage zu erteilen, wie auch solchen Verlautbarungen mit Entschiedenheit entgegenzutreten, die u. a. unter dem Vorzeichen der Verletzung von Kinderrechten Einrichtungen pauschal unter einen Generalverdacht stellen, ihnen systematisch „Disziplinierungs- und Degradierungstechniken“ (Degener et al., 2020, Klappentext) unterstellen und mögliche positive Effekte von Grund auf verneinen (IGfH-Arbeitsgruppe, 2013).
„Geschlossene Unterbringung“ in Heimen der Kinder- und Jugendhilfe
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Zwischen Dramatisierung und steten Versuchen der Versachlichung: Kinder- und Jugenddelinquenz und die Frage nach dem „Was tun?“
Bevor der Fokus auf die leitende Frage (Stichworte: Kinder- und Jugenddelinquenz und Freiheitsentziehende Unterbringung) gerichtet werden kann, ist es für das Gesamtverständnis notwendig, inhaltlich ein wenig auszuholen und den relevanten Kontext mit einigen grundlegenden Voraussetzungen zu umreißen. Die alte Debatte um eine vermeintliche „Verrohung der Jugend“, die die Menschheit mindestens seit den Zeiten des griechischen Philosophen Sokrates (469 v. Chr. bis 399 v.Chr.)2 konstant begleitet, erreicht heute in großen Lettern regelmäßig die Medien, politische Debatten und damit auch die Fachdiskurse. „Kriminelle Kids“ bestimmen immer wieder die Schlagzeilen und rufen neben Betroffenheit und Sorge auch manche zweifelhafte Reaktion hervor. Dazu zwei Beispiele: Neben der Forderung, das Strafmündigkeitsalter zu senken, sind Rufe nicht überhörbar, die Jugendhilfe möge schneller und auch „härter“ durchgreifen (Hoops, 2020a, S. 50). Ungeachtet vorliegender empirischer Befunde zu Delinquenzbelastung und -entwicklung, die aufs Ganze gesehen eigentlich Anlass zu Entdramatisierung geben (Boers & Reinecke, 2019; Bundeskriminalamt, 2019; Heinz, 2019), sind es vor allem besonders schwerwiegende Einzelfälle, bisweilen auch durch Gruppen von Jugendlichen oder – seltener – von Kindern, die Aufsehen erregen und den Ruf nach Strafverschärfungen oder „Geschlossenen Heimen“ laut werden lassen. Zuletzt konnte dieses Phänomen Ende letzten Jahres beobachtet werden, als ein Passant auf dem Heimweg vom Augsburger Weihnachtsmarkt tödlich angegriffen wurde. Davor war es im Sommer 2019, als eine Gruppe von Jungen in Mülheim eine Frau vergewaltigt haben soll. Die BILD forderte unter Bezugnahme auf einen CDU-Politiker: „Steckt Brutalo-Kids in Geschlossene Heime!“ (o.V., 2019a) und der MDR fragte: „Wie soll der Staat reagieren?“ (Jakobi, 2019). Die ZEIT schließlich konkretisierte: „Wie gehen Jugendämter mit kriminellen Kindern um?“ (Thurm, 2019) und fokussierte damit auf das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe, das – neben den für Erziehungsangelegenheiten zuvörderst zuständigen Eltern – den mit zentralen institutionellen Kontext im Fall von Kinder- und Jugenddelinquenz darstellt (Hoops, Permien & Rieker, 2000). 2 In einschlägigen Diskursen oft zitiert ist z. B. folgende, Sokrates zugeschriebene Aussage: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ Die Kritik an der Jugend geht jedoch noch weiter zurück, sie ist schon 5.000 Jahre alt (Gilfert, o.J.).
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Bevor z. B. strafrechtliche Reaktionen, aber auch intensivere Hilfen im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe folgen, muss nach den Möglichkeiten und Bedarfen der Eltern, genauer: den Personensorgeberechtigten als erster Erziehungsinstanz gefragt werden. Dann ist es vor allem an der Kinder- und Jugendhilfe zu prüfen, inwieweit sich aus einem Delinquenzverhalten3 ein Beratungsbedarf, ein erzieherischer Bedarf oder sogar eine Gefährdung ableitet (Holthusen & Hoops, 2015).4 Hierfür steht im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe ein breites Spektrum an Leistungen und Maßnahmen zur Verfügung, die sich im Blick auf ihr Zustandekommen mit Ausnahme der Jugendhilfe im Strafverfahren auch gar nicht vorrangig am Kriterium der Delinquenz ausrichten. Die als Forderung oben angesprochene „Geschlossene Unterbringung“, korrekt: eine Unterbringung in einer besonderen Einrichtung mit der Möglichkeit der Freiheitsentziehenden Unterbringung, kommt dabei nur in besonderen, jeweils zu begründenden Einzelfällen in Betracht (Hoops, 2020a, S. 55). Für welche Kinder und Jugendlichen in welchen Konstellationen dies der Fall sein kann, welchen Stellenwert dabei der Faktor Delinquenz bei den Einweisungsund Aufnahmeprozessen5 hat, welche (rechtlichen) Voraussetzungen hierfür zwingend vorliegen müssen und worum es sich bei der Unterbringung mit der Möglichkeit des Freiheitsentzugs genau handelt (und worum nicht) – diese Aspekte werden im nachfolgenden Beitrag beleuchtet. Die virulente „Wirkungsfrage“ wird abschließend aufgegriffen. 2
Die Freiheitsentziehende Unterbringung gemäß § 1631b BGB für begründete Einzelfälle: ultima ratio, aber auch optima ratio
So schnell und blindgläubig bisweilen eine „Geschlossene Unterbringung“ eingefordert wird, in der Fachpraxis begleitet den Themenkomplex „Freiheitsentzug“ und „Zwangskontext“ immer auch ein kritisch-aufmerksamer Grundtenor. Zu recht, denn immerhin geht es um einen gravierenden Eingriff in 3 Aus der kriminologischen Forschung weiß man: Ganz überwiegend bleibt es bei einzelnen, wenig gravierenden Auffälligkeiten wie z. B. einfachen Ladendiebstählen, die nach der polizeilichen Strafanzeige auf informeller Ebene im Rahmen der Familie oder vom sozialen Umfeld aufgegriffen werden, und aus denen heraus sich – auch ohne weitergehende institutionelle Mitwirkung – keine Delinquenzkarriere entwickelt (Boers und Reinecke, 2019; Hoops, 2009). 4 Bei Jugendlichen (14-17 Jahre) und Heranwachsenden (18-20 Jahre) übernimmt die Jugendhilfe zudem Aufgaben der Mitwirkung in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz (§ 52 SGB VIII). 5 Meine Hypothese ist, dass bezogen auf Indikationsstellungen z. B. Aufnahmeanfragen (der Jugendämter) und tatsächlich stattgefundene Aufnahmeanlässe (bei den Einrichtungen) divergieren; ein empirischer Nachweis dieser Hypothese steht jedoch noch aus. Es ist zu vermuten, dass nicht zuletzt aufgrund eines öffentlichen Drucks dem Faktor „Delinquenz“ zunächst einmal mehr Bedeutung zugeschrieben wird, als er dann in der wohlüberlegten Gesamtabwägung der Gefährdungslage hat.
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die Persönlichkeitsrechte eines Menschen. Ohne im Detail auf alte Grundsatzdebatten, Polemiken und ideologisch aufgeladene Positionierungen eingehen zu wollen (diese entstammen teilweise noch einer Vor-KJHG-Zeit und sind in den letzten 30 Jahren zu Genüge wiederholt worden), soll an dieser Stelle nur kurz festgehalten werden: Es gibt in der Kinder- und Jugendhilfe keine Maßnahme, die in der Vergangenheit so kontrovers diskutiert wurde und mitunter auch heute noch wird, wie eine stationäre Unterbringung unter freiheitsentziehenden Bedingungen.6 Schmid fasst mit Bezug auf die vorliegenden Daten pointiert zusammen: „Die Kritiker sehen den Freiheitsentzug mit einem pädagogischen Zugang unvereinbar und weisen darauf hin, dass es gerade in der geschlossenen Unterbringung zu unethischem Verhalten und Machtdemonstrationen der pädagogischen Fachkräfte gegenüber den Heranwachsenden gekommen ist, was auch auf das geschlossene System zurückzuführen sei“ (Schmid, 2018, S. 376). Und weiter: „Die Befürworter sehen in ihr oft die letzte Möglichkeit, besonders belastete Jugendliche zu erreichen, die sich allen offenen Hilfsmaßnahmen entziehen, und zeigen auf, dass sie sehr erfolgreich mit besonders hoch belasteten Jugendlichen arbeiten“ (ebd.). Die hier vorgenommene Einteilung in „Kritiker“ und „Befürworter“ mag zwar etwas vereinfachend sein, im Kern zielen jedoch beide Positionen, so gegensätzlich sie sein mögen, auf die strikte Orientierung am Kindeswohl und die Abwendung einer Kindeswohlgefährdung. Angesprochen ist damit ein hochsensibles, keinesfalls unstrittiges Thema. Denn das „Wohl des Kindes“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, d. h. er ist nicht eindeutig definiert, sondern auslegungsbedürftig. Eine Freiheitsentziehende Unterbringung nach § 1631b Abs. 1 BGB i. V. m.. §§ 34 oder 35a SGB VIII begründet sich nicht durch Delinquenz, sondern ihre Legitimität bezieht sie aus der Gefährdung des Kindeswohls, genauer: der Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung und darauf aufbauend der Eröffnung von Entwicklungschancen. Eine Freiheitsentziehende Unterbringung im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe ist nur zulässig, wenn sie zur Gewährleistung des Kindeswohls erforderlich und verhältnismäßig ist (Zinsmeister, 2015). Die Unterbringung bedarf der familienrichterlichen Genehmigung, die nur erteilt wird, wenn nach sorgfältiger Prüfung des Einzelfalls keine geeigneten offenen Angebote mehr zur Verfügung stehen und die 6 Auch wenn die Debattenkultur heute insgesamt von Versachlichung geprägt ist, was nicht zuletzt der zunehmend vorhandenen Empirie und der überwiegenden Transparenzkultur der FU-Einrichtungen in den letzten Jahren zu verdanken ist, so erfährt die Kritik bei jedem neuen Einrichtungsskandal wieder Aufwind (selbst wenn es, wie zuletzt im Fall einiger Einrichtungen in Schleswig-Holstein, gar nicht um eine betriebserlaubte Freiheitsentziehende Unterbringung nach § 1631b BGB geht). Insgesamt erscheint der Diskurs heute jedoch weniger „apodiktisch über das grundsätzliche Für und Wider“ im Allgemeinen, sondern „stärker fokussiert auf die Jugendlichen selbst“ (Engelbracht, 2019, S. 131).
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Freiheitsentziehung für das Wohl des Kindes unumgänglich und angemessen erscheint (ultima ratio). Die Formulierung des § 1631b Abs. 1 BGB lautet:7 Eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, bedarf der Genehmigung des Familiengerichts. Die Unterbringung ist zulässig, solange sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.
Bezogen auf die Frage, welche Rolle hierbei Delinquenz zuzumessen ist, bedeutet dies: Bestimmte Formen von Delinquenzverhalten können mit zu den Auslösern einer Unterbringung gehören, müssen es aber nicht. Veranlasst ist eine Unterbringung, darauf verweisen Aktenanalysen und Expert*innengespräche mit Fachkräften aus Jugendämtern sehr deutlich, vielmehr durch multiple Problemlagen, vor allem vorausgegangene Maßnahme- und Grenzgängerkarrieren zwischen verschiedenen Angeboten und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie (Hoops & Permien, 2006, S. 42 ff.). Aus klinischer Sicht wird eine Empfehlung zur GU […] in der Regel ausgesprochen für Jugendliche, die einen Schutzraum benötigen, der ihnen das Erlernen neuer Verhaltensweisen ermöglicht, um aus ihrem erlernten Verhalten von Dissozialität, Beziehungsabbrüchen und auch Substanzabusus ausbrechen zu können. Eine GU wird demnach insbesondere empfohlen, wenn es einen längerfristigen pädagogischen Bedarf gibt, die pädagogische Beziehung jedoch (noch) nicht möglich ist, da die Jugendlichen sich der Beziehungskontinuität durch Weglaufen entziehen (Waltereit, Kühne, Waltereit & Roessner, 2019, S. 551 mit Bezug auf Kölch, Roessner & Adam, 2014).
Es sind die in der Literatur bereits vielfach mit dem Etikett „systemsprengend“, „grenzverletzend“ und „erziehungsverweigernd“ beschriebenen Kinder und Jugendlichen, die sog. „Multi-Problemkids“, die gemeinhin die „typische“ Adressat*innengruppe einer Freiheitsentziehenden Unterbringung darstellen. Auch diesen Jugendlichen verbindlichen Schutz und Halt zu geben und sie nicht zu leichtfertig an andere Handlungsfelder, wie z. B. Kinder- und Jugendpsychiatrie oder Justiz, „zu delegieren“, ist eine wichtige Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe. Geht es um eine längerfristige pädagogische Perpektive, ist die 7 Im Genehmigungsverfahren sind zusätzlich zentrale Verfahrensvorgaben als Rechtsstandards festgelegt, z. B. die zeitliche Befristung, die Anhörung des Jugendlichen und der Personensorgeberechtigten, die Begutachtung des Jugendlichen oder die Bestellung eines Verfahrensbeistands.
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Kinder- und Jugendhilfe zuständig. Entsprechend handelt es sich bei einer Unterbringung in der Jugendhilfe, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, auch nicht um eine „Strafe“ für Delinquenz- oder anderes Fehlverhalten. Vielmehr handelt es sich hier um eine hochschwellige spezifische Hilfeform, die neben konzeptionellen Gemeinsamkeiten durchaus unterschiedliche intensivpädagogische und therapeutische Ausrichtungen aufweist. Für die gemäß § 45 SGB VIII speziell betriebserlaubten Heime konzeptionell leitend ist das Prinzip der „sukzessiven Öffnung“ bzw. der „individuellen und temporären Geschlossenheit“, d. h. die Jugendlichen werden in Phasenmodellen oder Stufenplänen ihrem Entwicklungsstand entsprechend schrittweise zum eigenverantwortlichen Umgang mit immer größeren Freiräumen geführt. Die Vorstellung einer grundsätzlichen Erfolgsaussicht ist damit unabdingbar. Neben dem gesetzlich angelegten Gedanken der ultima ratio, also dem letzten Mittel, um eine (weitere) Gefährdung abzuwenden, ist es also auch immer die Auffassung von einer optima ratio, die mit einer Unterbringung in einer geeigneten Einrichtung einhergeht. Mit speziellen Konzepten geht es um die schrittweise Eröffnung von Entwicklungschancen sowie die Befähigung zu einer gelungenen Lebensführung. 3
Problemlagen der Jugendlichen in Freiheitsentziehender Unterbringung
Analysen der öffentlich zugänglichen Einrichtungskonzeptionen und diverse empirische Studien (Hoops & Permien, 2006; Menk, Schnorr & Schrapper, 2013; Oelkers, Feldhaus & Gaßmöller, 2015) zeigen: Die meisten Einrichtungen nehmen Kinder und Jugendliche im Aufnahmealter zwischen zwölf und 16 Jahren auf, wobei einige Heime ihr Angebot auf Kinder im Alter von zehn bis 13 Jahren fokussiert haben. Gefragt nach den „typischen Indikationenstellungen“ wird von einem breiten Spektrum von fallimmanenten Problemen berichtet.8 In einer aktuell am Deutschen Jugendinstitut (DJI) durchgeführten Recherche9, deren Befunde in 8 Neben diesen fallimmanenten Kriterien sind es eine Reihe weiterer Aspekte, die auf eine Unterbringung einwirken. So sind nicht nur individuelle Problemlagen und fachliche Indikationsstellungen entscheidend, sondern auch externe Faktoren bis hin zu sog. „Schmetterlingseffekten“ und „zirkuläre Entscheidungsschlüsse“ (Baumann, 2019, S. 258 ff.; Hoops & Permien, 2006, S. 33 ff.). Vor dem Hintergrund, dass es insgesamt deutlich mehr richterliche Beschlüsse und Aufnahmeanfragen als Kapazitäten gibt, dürfte vor allem die Verfügbarkeit von Plätzen sowie die Passung (einer*eines Jugendlichen in eine bestimmte Wohngruppe) ein entscheidender Faktor sein. (Antholz, 2017, S. 41; Hoops, 2018, S. 346). 9 Die Recherche, die Telefoninterviews in den bekannten Einrichtungen sowie Abfragen in den Landesjugendämtern umfasste, wurde von Sabrina Hoops durchgeführt und von Anna Paulsteiner als studentischer Hilfskraft unterstützt.
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einem sog. „FAQ“ zum Thema Freiheitsentzug in der Kinder- und Jugendhilfe veröffentlicht wurden (Hoops, 2018), ist von den Fachkräften vor allem das weite Spektrum der „Störungen des Sozialverhaltens (SSV)“10 benannt, aber auch Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen, Traumatisierungen und Schulphobien (ebd., S. 346).11 Viele Jugendliche waren Opfer von familialer Gewalt und emotionaler und körperlicher Vernachlässigung, einige sogar von Missbrauch. Zudem hatte ein Großteil zum Zeitpunkt einer Aufnahme eine Vielzahl vorgängiger Hilfen, zum Teil sogar eine wahre Maßnahmenkarriere hinter sich, mitunter mit raschen Wechseln zwischen verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe, Aufenthalten zu Hause und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bindungsstörungen waren den Fachkräften zufolge entsprechend häufig festzustellen (ebd.).12 Insofern decken sich die Befunde weitgehend mit Ergebnissen aus früheren Studien, die nach Aufnahmeanlässen und Vorgeschichten der Jugendlichen gefragt haben (z. B. Menk et al., 2013, S. 58 ff.; Oelkers et al., 2015, S, 11). Es gibt aber auch Hinweise auf neue Problemkonstellationen: Die Rede ist hier z. B. von sexuell grenzverletzenden jungen Menschen und von eher sozial zurückgezogenen, introvertierten Jugendlichen. Auch von vermehrten psychischen Problemen mit depressiven Anteilen der Jugendlichen wird berichtet (Hoops, 2018, S. 346).
10 Gemäß ICD 10, der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten der WHO, sind Störungen des Sozialverhaltens durch ein sich wiederholendes und anhaltendes Muster dissozialen, aggressiven und aufsässigen Verhaltens charakterisiert (Diagnoseschlüssel: F91). „Dieses Verhalten übersteigt mit seinen gröberen Verletzungen die altersentsprechenden sozialen Erwartungen. Es ist also schwerwiegender als gewöhnlicher kindischer Unfug oder jugendliche Aufmüpfigkeit“ (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, 2020). 11 Wie in anderen stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gibt es auch in den Einrichtungen mit Freiheitsentziehender Unterbringung bestimmte Problemlagen, die dazu führen, dass eine Unterbringung für nicht sinnvoll erachtet wird und eine Aufnahme deshalb nicht erfolgen kann. Als Ausschlusskriterien gelten u. a. eine akute Selbstgefährdung, eine gravierende Suchtproblematik, eine vorgängige Brandstiftung bzw. das Androhen einer solchen Tat, sowie eine höhergradige geistige oder körperliche Behinderung. Begründet wird eine Ablehnung damit, dass bei diesen Störungsbildern ein engmaschiges Gruppensetting nicht angezeigt ist, zudem auch als riskant und wenig aussichtsreich erscheint (Hoops, 2018, S. 347). 12 In einem aktuellen Fachbeitrag verweisen Bolz, Albers & Baumann (2019) auf die Bedeutung der professionellen Beziehungsgestaltung in (intensiv-)pädagogischen Kontexten. Gerade in der Arbeit mit sog. „Systemsprengern“ stellten sich hier besondere Anforderungen: „Aufgabe innerhalb der pädagogischen Beziehungsgestaltung muss es sein, [entgegen dieser Erfahrungen] Kontinuität, Verlässlichkeit und Stabilität zu bieten, die für den jungen Menschen aber erkennbar und anschlussfähig sein muss – dies kann bei Kindern und Jugendlichen mit sehr destruktiven Vorerfahrungen eine große Herausforderung darstellen“ (Bolz et al., 2019, S. 302). Entsprechend wird als ausschlaggebendes Beziehungselement „aktives Aushalten“ beschrieben (ebd.).
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Ein kursorischer Blick auf die Einrichtungen
Wenn man über die Freiheitsentziehende Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe spricht, so sollte man wissen, dass es hier um eine geringe Anzahl von Plätzen in speziell betriebserlaubten Einrichtungen geht.13 Mit gegenwärtig 325 Plätzen14, verteilt auf 26 Einrichtungen, bildet die Freiheitsentziehende Unterbringung im Gesamtspektrum der Kinder- und Jugendhilfe zahlenmäßig nur eine sehr randständige Größe (Hoops, 2018).15 Blickt man auf die Entwicklung der Platzzahlen in den letzten 15 Jahren, zeigt sich eine moderate Zunahme. Anders als mancherorts zu lesen, kann man dabei kaum von einen neuen „Boom“ sprechen (vgl. Abb. 1).16 Der Blick auf die regionale Verteilung der Plätze zeigt, dass gegenwärtig in sieben Bundesländern die Möglichkeit besteht, Kinder und Jugendliche gemäß § 1631b BGB unterzubringen.17 Mit Einrichtungen in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz, und Nordrhein-Westfalen sind dies überwiegend die westlichen Bundesländer. Zumeist handelt es sich dabei um große freie Träger, die ein breites Spektrum von Leistungen im Kontext der Jugendhilfe anbieten.18 Insofern gibt es zwar nicht überall, aber zumindest an einigen Standorten die Möglichkeit heiminterner Übergänge und Betreuungsketten. Alle Einrichtungen arbeiten mit stationären Gruppensettings und weisen neben konzeptionellen Gemeinsamkeiten auch Unterschiede in den Zielgruppen und in der Durchführung auf (Hoops, 2018, S. 347). Die meisten Einrichtungen werden bundesweit belegt, einige haben auch eine teilweise oder überwiegende regionale Belegungspraxis. 13 Die Freiheitsentziehende Unterbringung heute ist mit den Praktiken des Einschlusses, wie sie z. B. von Wolffersdorff-Ehlert und Sprau-Kuhlen (1990) beschrieben und zu Recht kritisiert wurden, konzeptionell nicht mehr vergleichbar. 14 Zentrale Daten (Plätze, Einrichtungen) im Feld der Freiheitsentziehenden Unterbringung werden am DJI seit Jahren fortlaufend aktualisiert (neueste Daten s. Hoops, 2020b). 15 Zum Vergleich: Derzeit sind laut amtlicher Kinder- und Jugendhilfestatistik bundesweit rund 91.000 Kinder und Jugendliche (beendete Hilfen und Bestand am 31.12.2018, Statistisches Bundesamt, 2019) zwischen 0 und 27 Jahren in Heimen und sonstigen betreuten Wohnformen fremduntergebracht. 16 Die Beobachtung, dass teilweise sehr unterschiedliche Zahlen kursieren und entsprechend eine Konfusion oder Unübersichtlichkeit in diesem Feld konstatiert wird, kann im Grunde genommen auf eine einfache Ursache zurückgeführt werden: Unterschiedliche Zahlen beziehen sich zumeist auf unterschiedliche Sachverhalte (vgl. auch Antholz, 2017). Beispiele hierfür wären etwa a) verfügbare Plätze in Einrichtungen, die betriebserlaubt sind, b) Anzahl untergebrachter Kinder und Jugendlicher zu einem bestimmten Stichtag, c) Anzahl begonnener Hilfen zu einem bestimmten Stichtag, d) Anzahl der familienrichterlichen Beschlüsse. 17 Vgl. Hoops, 2020b. 18 14 Einrichtungen gehören gegenwärtig dem Arbeitskreis GU 14+ an. Der Arbeitskreis dient dem fachlichen Erfahrungsaustausch und hat sich auf ein gemeinsames Selbstverständnis und auf Qualitätsstandards verpflichtet.
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Abb. 1:
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Entwicklung der Platzzahlen in Einrichtungen mit § 1631b BGB (2005-2020), Stichtagszählungen (DJI, eigene Berechnungen).
Die Selbstbeschreibungen der Konzeptionen weisen darauf hin: „Die“ Freiheitsentziehende Unterbringung gibt es nicht. Vielmehr ist es so, dass die einzelnen Heime, die nach § 1631b BGB unterbringen, zwar alle mit dem Instrument des zeitweiligen Freiheitsentzugs arbeiten und einen intensivpädagogischen Fokus haben. Zugleich weisen sie aber konzeptionell und in der Durchführung eine Reihe von Divergenzen auf bzw. haben eigene Schwerpunktsetzungen und therapeutische Ansätze (vgl. bereits Permien, 2010, S. 6). Auch die konzeptionell festgelegte ungefähre Dauer der Unterbringung in der Gruppe19 sowie das Selbstverständnis unterscheiden sich (zumindest graduell) vor allem in der Frage der Geschlossenheit. Entsprechend gibt es Heime, die sich in dieser Frage als „geschlossen“, „fakultativ geschlossen“, „individuell teilgeschlossen“, „individuell und fakultativ freiheitsentziehend“, „Clearing“, „geschützt“ oder „verbindlich“ beschreiben (Hoops, 2018, S. 347). Mitunter gibt es bei den Landesjugendämtern hierzu eigene Positionspapiere, und es wurden besondere Vereinbarungen getroffen.20 Es würde den hier gesetzten Rahmen sprengen, nun auf die Details und Fokussierungen im Einzelnen einzugehen, daher erfolgt die weitere Beschreibung 19 Während in den auf Krisenintervention und Clearing setzenden Einrichtungen die Unterbringungszeit auf wenige Monate begrenzt ist, wird die durchschnittliche Unterbringungsdauer in den meisten anderen Heimen mit einer Spanne zwischen 18 und 24 Monaten angegeben. 20 Zu nennen wäre etwa das „Rheinische Stufenmodell“ (LVR-Landesjugendamt Rheinland, 2016).
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hier nur kursorisch und angelehnt an Hoops (2018): Was die Heime insgesamt charakterisiert, ist die Betonung von Verbindlichkeit in Beziehung und Alltag sowie die enge räumliche Struktur (ebd.): Eine Einrichtung bringt die Essenz ihrer konzeptionellen Haltung so auf den Punkt: `Klare Linie mit Herz´ Dies bedeutet konkret: viel Personal, viel Struktur, viel Konfrontation, viel Einfühlung, viel Beziehung – oder wie es ein Einrichtungsleiter bei der Recherche geschildert hat: `Von allem viel´. (ebd., S. 347)
Betreut werden die Jugendlichen in Wohngruppen (die abgeschlossen sind). Zumeist stehen den Jugendlichen Einzelzimmer mit eigenem Duschbad zur Verfügung. Zweierbelegungen sind die Ausnahme. Die Zimmer sind in der Regel offen und können nachts sowie im Einzelfall und bei Bedarf – auch auf Wunsch der Jugendlichen selbst – verschlossen werden. Der Wohnbereich ist für alle zugänglich. Zudem gibt es neben einem zumeist größeren Innenhof oder einer Gartenanlage eine Reihe von Funktionsräumen (z. B. Turnhalle, Kraftraum, Musikraum, Kunstraum), die im Rahmen der Gruppen- und Einzelangebote genutzt werden können. Die Einrichtungen haben das Ziel, im Laufe des Prozesses der Unterbringung beim jungen Menschen eine freiwillige Mitarbeit bzw. Akzeptanz des Aufenthalts in der Einrichtung zu erreichen. Mit anderen Worten: Es muss gelingen, dass sich die Jugendlichen auf das Setting „einlassen“.21 Die Geschlossenheit (der Gruppentür) hat dabei vor allem zu Beginn der Unterbringung die Funktion, dass die Jugendlichen geschützt werden und sich nicht entziehen können. Auch Ausgänge sind in dieser Phase z. B. nicht erlaubt. Wichtig ist: Diese Phase der Geschlossenheit muss individuell angepasst erfolgen und kann auch nur zeitlich befristet andauern. Ziel ist es immer, dass die Jugendlichen dieses Mittel möglichst bald nicht mehr brauchen. Hierzu wird ganz überwiegend nach Stufenplänen oder Belohnungs- oder Verstärkersystemen gearbeitet. Dabei wird z. B. unerwünschtes Verhalten kritisiert oder auch sanktioniert (indem z. B. ein Ausgang gestrichen wird) und sozial erwünschtes Verhalten bestärkt (durch Ermutigung und positive Rückmeldung). Damit ist in Bezug auf die Frage der Freiheitsentziehung das Modell der individuellen Öffnung Dreh- und Angelpunkt: Die Jugendlichen sollen sukzessive – Schritt für Schritt – „Eigenverantwortung“, welche z. B. in Ausgängen und Familien-Heimfahrten geübt wird, erproben. Die jungen Menschen sollen – zunehmend auch außerhalb des Gruppenalltags – lernen, mit nachlassender Außenkontrolle umzugehen und sich und andere auch in Situationen außerhalb der Heimalltags nicht zu gefährden. 21 Um die treffende Formulierung von Schmid (2018) aufzunehmen: Gemeinsam mit den Jugendlichen muss der „gute Grund herausgearbeitet werden, warum ein fürsorglicher Freiheitsentzug zeitweise notwendig ist/war“ (Schmid, 2018, S. 377).
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Es ist somit durchaus möglich, dass ein*e Jugendliche*r, dessen*deren familienrichterlicher Beschluss auf sechs Monate terminiert ist, schon nach kurzer Zeit Ausgang haben und Besuch bekommen kann. Die Beschulung der Jugendlichen erfolgt (vor allem in den ersten Wochen und Monaten) zumeist heimintern, d. h. die Jugendlichen, von denen viele schon über längere Zeit keine Schule mehr besucht haben, werden in sehr kleinen Klassen sukzessive an ein schulisches Lernmilieu herangeführt.22 Ein letzter Punkt soll hier noch Erwähnung finden: Einen zusätzlichen Time-Out-Raum zur Isolierung der Jugendlichen gibt es heute nur noch vereinzelt.23 Auch wenn der empirische Nachweis hierzu aussteht, so stützt diese Entwicklung die Vermutung, dass es mit den Jahren sowohl einen Zuwachs an Kompetenzen in Deeskalationsstrategien (Schwabe, 2019) gegeben hat (durch intensive Fortbildungen der Fachkräfte), als auch die fachliche Zusammenarbeit mit den Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie in akuten Krisen verbessert wurde. 5
Cui bono? Zum Erfolg einer Freiheitsentziehenden Unterbringung
Es soll an dieser Stelle nicht die – berechtigte – Frage weiter vertieft werden, welche Effekte das Vorhalten von freiheitsentziehenden Plätzen z. B. für das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe oder ihre Nachbarsysteme hat. Unter den Stichworten „Delegationsmechanismus“, „Verschieben“, „Sogwirkung“ oder „Prinzip des Durchreichens“ haben hier nicht nur die Kritiker*innen der Freiheitsentziehenden Unterbringung (z. B. IGfH-Arbeitsgruppe, 2013; Degener et al., 2020), sondern fachlich fundiert vor allem die Arbeitsgruppe um Baumann bereits mehrfach Stellung bezogen und publiziert (z. B. Baumann, 2014; Bolz et al., 2019, S. 299). Auch die Frage, ob der hohe Kostenaufwand durch eine Freiheitsentziehende Unterbringung24 nicht Konsequenzen hat für eine stärker präventiv ausgerichtete Kinder- und Jugendhilfe – einfach ausgedrückt: „ob das Geld nicht besser in offene Angebote gesteckt werden müsste“ – soll hier nicht Gegenstand sein. Vielmehr soll nun zumindest kurz beleuchtet werden, welche empirischen Befunde es bezogen auf die Adressat*innen der Unterbringung gibt. Dabei ver22
Später ist – je nach erreichter Stufe – auch externer Schulbesuch möglich. Einrichtungen, die noch einen Time-Out-Raum vorhalten, verweisen in ihren Konzeptionen darauf, dass diese Möglichkeit nur in bestimmten Sondersituationen und, so die Aussagen der Fachkräfte, insgesamt deutlich seltener als es früher der Fall war, genutzt wird (Hoops, 2018, S. 347). 24 Der Tagessatz für eine Freiheitsentziehende Unterbringung ist im Vergleich zu vielen anderen stationären Hilfen der Kinder- und Jugendhilfe (v. a. aufgrund der hohen Personalkosten) relativ hoch angesetzt. In der DJI-Recherche von 2018 wurden von den Einrichtungen Beträge zwischen 290 EUR und 500 EUR angegeben (Hoops, 2018, S. 347). 23
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steht sich von selbst, dass sich der Fragehorizont nicht darauf beschränken kann, zu untersuchen, ob es messbare Effekte bezogen auf das Delinquenzverhalten respektive die Legalbewährung gibt. Zu fragen wäre vielmehr: Ist es gelungen, an den zumeist sehr vielschichtigen Problembereichen der Jugendlichen anzusetzen und eine Stabilisierung zu erreichen, kurz: konnte die erhebliche Selbst- und Fremdgefährdung abgewendet werden? Konnten Entwicklungschancen eröffnet und genutzt werden, sind die Ziele der Jugendlichen erreicht worden? Konnten die Jugendlichen für sich einen Kompetenzzuwachs verbuchen und subjektive Gewinnerfahrungen, z. B. in den wichtigen Bereichen „Konfliktmanagement“, „Autonomie“ und „Bildung“, sammeln (vgl. auch Jenkel & Schmid 2018, S. 367 ff.)? Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass es sich bei der Freiheitsentziehenden Unterbringung um eine Hilfeform handelt, die von vielen Erwartungen, aber auch Befürchtungen begleitet ist, und zumeist als ultima ratio, als zu diesem Zeitpunkt sprichwörtlich „letzte Chance“ für die Jugendlichen in Erwägung gezogen wird, ist mit Blick auf die Frage nach den Erfolgen der Unterbringung v. a. auch die Perspektive auf die Adressat*innen geboten. Hier gibt es zwischenzeitlich, auch einige Jahre nach der bundesweit durchgeführten DJI-Studie (Hoops & Permien, 2006; Permien, 2010), eine Reihe von aufschlussreichen Befunden. Mehrere methodisch und inhaltlich unterschiedlich angelegte Untersuchungen kommen – aufs Ganze gesehen – zu dem Schluss, dass eine Freiheitsentziehende Unterbringung durchaus positive Effekte hat bzw. haben kann. Allem voran konnte die Auffassung, dass sich unter Bedingungen eines Freiheitsentzugs grundsätzlich keine tragfähigen pädagogischen Beziehungen entwickeln können, nicht bestätigt werden (ebd.). Im Gegenteil: Es ist durchaus möglich, dass es gerade durch den besonderen Kontext der Unterbringung auch in problematischen Konstellationen gelingen kann, dass ein vertrauensvoller Zugang zu den Adressat*innen erfolgt25, wobei ein vertrauensvoller Zugang gemeinhin als basale Voraussetzung für gelingende erzieherische Prozesse gelten kann. Jenkel und Schmid (2018) haben, nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen empirischen Ergebnisse, belegen können, dass die Kritik, Jugendliche würden in einer Freiheitsentziehenden Unterbringung lediglich mit „freiheitsversprechenden Verstärkerplänen gedrillt“, und Erfolge seien entsprechend nur kurzfristig und als eine erzwungene Anpassungsleistung zu sehen, nicht verfängt (Jenkel & Schmid, 2018, S. 365). Neben der eigenen Studie der Baseler Autorengruppe, einer Studie mit Daten zu über 100 Hilfeverläufen von untergebrachten Jugendlichen, verweisen die 25 Zwei empfehlenswerte, weiterführende Literaturhinweise sind: zu wesentlichen professionellen „Haltungselementen“ in Freiheitsentzug und Zwangsmaßnahmen vgl. Schmid 2018; zur professionellen Beziehungsgestaltung in der Arbeit mit „Systemsprengern“ vgl. Bolz et al., 2019.
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Autoren auf Befunde von weiteren Forschungsprojekten, die im Kontrast zu solchen Annahmen stehen (ebd.). Zu nennen wären hier sowohl die auf relevante Wirkfaktoren fokussierenden quantitativen EVAS-Daten des Mainzer Instituts für Kinder- und Jugendhilfe (z. B. Macsenaere & Schittler, 2011; Macsenaere, 2018), wie auch Evaluationsberichte zu einzelnen Einrichtungen, die in den letzten Jahren vorgelegt wurden (z. B. Menk, Schnorr & Schrapper, 2013; Oelkers, Feldhaus & Gaßmöller, 2015). Alles in allem wird hier aktuell in erster Linie von „Neuorientierungen und Fortschritten in Selbststeuerung und sozialen Kompetenzen, einer besseren gesellschaftlichen Teilhabe“ (Jenkel & Schmid, 2018, S. 366), sowie von „Verbesserungen in den Beziehungen zu ihren Herkunftssystemen, welche durch die Maßnahmen ermöglicht wurden“ (ebd.), berichtet. Auch wenn hier einschränkend konzediert werden kann, dass v. a. längsschnittlich angelegte Verlaufsstudien in der Forschung in diesem Kontext noch weitgehend fehlen und hier ein deutliches Forschungsdefizit und -desiderat formuliert werden muss (vgl. schon Kindler, Permien & Hoops, 2007, S. 43 ff.) – gefragt nach den Effekten im biografischen Kontext einerseits und nach Erfahrungen der Adressat*innen mit den institutionellen Prozessen und Strukturen andererseits – steht aus Sicht von befragten Jugendlichen und Fachkräften am Ende einer Freiheitsentziehenden Unterbringung eine überwiegend positive Bilanz. Unter der Prämisse, dass die Unterbringung die passende Hilfe war und sich die Jugendlichen auf das Setting einlassen konnten, wird die Zeit im Heim häufig – bei allen Ambivalenzen – als positiver Wendepunkt („turning point“, vgl. Kindler et al., 2007, S. 44) im Leben beschrieben, gleichsam richtungsweisend im Sinne einer Schutzfunktion, einer Förderfunktion und einer Befähigungsfunktion (Permien, 2010, S. 65). „Es war hart, aber es hat mir viel gebracht“ lautet das hier immer noch sehr eindrückliche Zitat eines Jugendlichen aus der DJI-Studie (ebd., S. 61). Wie nachhaltig diese Erfolge sind, darüber könnten vor allem Verlaufsuntersuchungen Auskunft geben. Bislang liegen diese nur punktuell vor. Interessant ist hier v. a. ein Befund aus dem DJI-Follow-Up, demzufolge Jugendliche, die entlassen werden, ganz überwiegend weiterhin von der Jugendhilfe betreut werden (Permien, 2010). Eine Freiheitsentziehende Unterbringung ist demnach in den seltensten Fällen tatsächlich die letzte Hilfe. In der Retrospektive hat sich gezeigt, dass die Entlassung aus der Unterbringung vielfach ein neuralgischer Punkt ist, der sowohl Chancen, aber auch Risiken beinhaltet. Entsprechend ist die Frage nach dem Erfolg immer auch an die Frage nach passenden Anschlusssettings gekoppelt, die die Aufnahme und Gestaltung neuer Beziehungen und einen begleiteten Transfer des Erlernten in den neuen Lebenskontext ermöglichen. Die 2018 durchgeführte Recherche bei den Einrichtungen gibt deutliche Hinweise darauf, dass diese Erkenntnis inzwischen in der Fachpraxis angekommen ist und weitgehend auch aufgegriffen wurde: So wurde von den befragten Expert*innen berichtet, dass es inzwischen mehrheitlich
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verschiedene Übergangsmodule (auch im intensivpädagogischen Bereich) beim gleichen Träger gibt, wenn eine Rückführung nach Hause nicht möglich ist (Hoops, 2018). 6
Bilanz
Zum Ausgangspunkt des Beitrags zurückkehrend soll nochmals der Aspekt der Kinder- und Jugenddelinquenz und die Frage nach der Freiheitsentziehenden Unterbringung als angemessene Reaktion aufgegriffen werden. Festzuhalten gilt: Bei Delinquenz im Kindes- und Jugendalter handelt es sich um ein Phänomen mit unterschiedlichen Facetten, zwischen entwicklungsbedingter „Normalität“ und hohen Risiko- und Gefährdungspotenzialen. Das bedeutet, dass ein institutionelles Vorgehen immer abgewogen und mit Blick auf seine (nicht-intendierten, auch schädlichen) Effekte reflektiert werden muss. „Nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen“ lautet das geläufige Sprichwort, das für ein Gebot für verhältnismäßige Umgangsweisen steht und auch für das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe leitend ist (vgl. z. B. Hoops & Permien, 2002, S. 68). Wenn Jugendliche mit delinquenten Verhaltensweisen auffällig werden, so kann dies eine Signalfunktion für die Jugendhilfe haben, muss es aber nicht. Keinesfalls zwangsläufig ist Kinder- und Jugenddelinquenz als ein hinreichender Indikator für eine so massive Gefährdung einzuschätzen (Hoops & Holthusen, 2011, S. 49), die eine eingriffsintensive Maßnahme wie eine Freiheitsentziehende Unterbringung ratsam erscheinen lässt. Dabei ist Delinquenz nicht isoliert aus dem situativen und biografischen Kontext zu betrachten. Das Augenmerk sollte darauf gerichtet sein, dass es vor allem komplexe Problemverflechtungen sind, die kritische Entwicklungsdynamiken befördern können und einen Unterstützungsbedarf anzeigen. Für die Frage, welche Angebote und Hilfesettings dies erforderlich machen, bedeutet dies, dass auch intensiv-pädagogische Maßnahmen im Bedarfsfall zeitnah zur Verfügung zu stehen haben. Auch eine Freiheitsentziehende Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe kann in begründeten Einzelfällen erforderlich und angemessen sein. Zu berücksichtigen ist hier jedoch – das soll abschießend noch einmal betont werden –, dass Delinquenz nicht per se eine Indikation für eine Unterbringung darstellt, sondern sich die familienrichterliche Genehmigung der Hilfe am Kindeswohl, insbesondere an der Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung orientiert. Um es, mit den vielen kritischen Stimmen, die sich hierzu seit vielen Jahren bereits positioniert haben, offen zu sagen: Delinquenz im Kindes- und Jugendalter primär unter ordnungspolitischen oder strafend-repressiven Gesichtspunkten zu verhandeln,
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führt dazu, dass besonders gefährdete junge Menschen, die ggf. Unterstützung benötigen, als Bedrohung wahrgenommen und kriminalisiert werden. Diese Jugendlichen dann vorschnell oder auch, weil keine geeigneten Betreuungsformen (mehr) gefunden werden, in den Systemen von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Justiz zu verorten, ist der falsche Weg, denn die Kinder- und Jugendhilfe steht in der Verantwortung für alle Kinder und Jugendlichen (vgl. auch Waltereit et al., 2019). Zugleich sind hohe fachliche Qualitätsstandards und regelmäßige Qualitätskontrollen ein unabdingbarer Maßstab gerade auch im sensiblen Feld der Freiheitsentziehenden Unterbringung in Einrichtungen der Jugendhilfe. Literaturverzeichnis Antholz, B. (2017). Geschlossene Unterbringung. Zeitschrift für das Fürsorgewesen (ZfF), 69(2), 38-43. Baumann, M. (2014). Jugendliche Systemsprenger – zwischen Jugendhilfe und Justiz (und Psychiatrie). Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 25(2), 162-166. Baumann, M. (2019). Was wissen wir über Zwang in erzieherischer Absicht? Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 30(3), 254-262. Bundeskriminalamt (Hrsg.) (2019). Polizeiliche Kriminalstatistik 2018. Ausgewählte Zahlen im Überblick. Abgerufen von https://www.bka.de/SharedDocs /Downloads/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/2018/pks2018Imk Bericht.pdf [20.03.2020]. Boers, K. & Reinecke, J. (Hrsg.) (2019). Delinquenz im Altersverlauf. Erkenntnisse der Langzeitstudie Kriminalität in der modernen Stadt. Münster: Waxmann. Bolz, T., Albers, V. & Baumann, M. (2019). Professionelle Beziehungsgestaltung in der Arbeit mit „Systemsprengern“. Unsere Jugend, 71(7/8), 297-304. Degener, L., Kunstreich, T., Lutz, T., Mielich, S., Muhl, F., Rosenkötter, W. & Schwagereck, J. (Hrsg.) (2020). Dressur zur Mündigkeit? Über die Verletzung von Kinderrechten in der Heimerziehung. Weinheim: Beltz. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Hrsg.) (2020). Kapitel V: Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99). Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F90-F98). F91: Störungen des Sozialverhaltens. Abgerufen von https://www.dimdi.de/static/de /klassifikationen/icd/icd-10-who/kode-suche/htmlamtl2019/block-f90-f98.htm [20.03.2020]. Engelbracht, M. (2019). Jugendliches Alltagsleben in freiheitsentziehenden Maßnahmen. Erziehungsprozesse bei Jugendlichen in multikomplexen Problemlagen. Wiesbaden: Springer VS. Gaßmöller, A. & Oelkers, N. (2019). Zwischen Einschluss und Ausschluss. Junge Menschen in freiheitsentziehenden Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe. In A. Neuber & F. Zahradnik (Hrsg.), Geschlossene Institutionen – Theoretische und empirische Einsichten (S. 107-127). Weinheim: Beltz.
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Jugendarrest statt Jugendbildungsstätte? Rechtliche Grundlagen und Daten einer empirischen Untersuchung zum Jugendarrest nach Verletzung der Schulpflicht Stephanie Ernst & Theresia Höynck
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Einleitung
Der Jugendarrest und seine Ausgestaltung beschäftigen Philipp Walkenhorst schon lange. So beteiligte er sich auch umfassend an der Entwicklung einiger Landesjugendarrestvollzugsgesetze und gab – mündliche oder schriftliche – Stellungnahmen zu verschiedenen Gesetzentwürfen ab.1 Bei seinen Überlegungen ging es dem Jubilar immer darum, keine kriminalpolitisch sowieso nicht durchsetzbaren Forderungen aufzustellen, sondern „mögliche Spielräume aus[zu]loten“ (Walkenhorst, 2015, S. 108). Diese Spielräume sieht Philipp Walkenhorst zum einen in Bezug auf das Zusammenwirken von Akteur*innen im Verfahren und zum anderen in der Ausgestaltung des Jugendarrestvollzugs, wobei seine wohl zentrale Forderung die Ausgestaltung des Jugendarrestes als Jugendbildungsstätte ist (z. B. Walkenhorst, 2015; Bihs und Walkenhorst, 2009). Dieser Beitrag knüpft an diese Idee an und stellt die provokative Frage „Jugendarrest statt Jugendbildungsstätte?“ Genauer gesagt geht es im Folgenden um Verfahren wegen Verletzung der Schulpflicht – am Ende dieses Verfahrens kann ein Jugendarrest von bis zu einer Woche stehen. Dabei wird insbesondere eine Perspektive beleuchtet, mit der sich auch Philipp Walkenhorst befasst hat: die Nutzung von Handlungs- und Ermessensspielräumen durch die handelnden Akteur*innen. Dazu werden zunächst die zentralen Rechtsgrundlagen zum Verfahren wegen Verletzung der Schulpflicht dargestellt und dabei insbesondere ein Blick auf die involvierten Akteur*innen und die dort jeweils zu treffenden Entscheidungen geworfen.2 An den Verfahren sind – anders als in anderen (jugendstrafrechtlichen) Verfahren – neben der Jugendarresteinrichtung, dem Jugendgericht und der Jugendhilfe auch die Schule und die Verwaltungsbehörde (die Schulämter) beteiligt. 1 Eine Übersicht über Publikationen und Vorträge von Philipp Walkenhorst findet sich unter https://www.hf.uni-koeln.de/37298. 2 Einzelne Aspekte des Beitrags wurden übernommen aus Ernst und Höynck, 2018.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_8
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Dabei müssen sich alle Akteur*innen in Verfahren wegen Verletzung der Schulpflicht ganz besonders eng abstimmen, unterliegen dabei aber anderen Rechtsgrundlagen und blicken aus jeweils anderen Perspektiven auf eine Schulpflichtverletzung. Im Anschluss werden im zweiten Teil des Beitrags Ergebnisse einer Aktenerhebung in einer Jugendarresteinrichtung dargestellt, durch welche sich die zuvor (theoretisch) dargestellten Aspekte und getroffenen Entscheidungen konkret nachzeichnen lassen.3 In einem abschließenden Fazit erfolgt eine kritische Diskussion unter Berücksichtigung der geltenden Rechtslage; zudem werden Ansätze für Verbesserungen des Verfahrens – insbesondere innerhalb des geltenden Rechts – vorgestellt. Darüber hinaus ermöglichen die Daten einen Blick auf die Vollzugspopulation und stellen damit Anknüpfungspunkte für die Frage der Ausgestaltung des Arrestvollzugs dar. 2
Das Verfahren bis zur Verhängung von Jugendarrest nach § 98 II OWiG infolge der Verletzung der Schulpflicht
Auf die Verletzung der Schulpflicht,4 die in Deutschland in aller Regel nicht in Zweifel gezogen wird und auch vom Bundesverfassungsgericht wiederholt als verfassungsgemäß bestätigt worden ist (z. B. BVerfG, Beschluss vom 15.10.2014 – 2 BvR 920/14), kann ein mehrstufiges Verfahren folgen, das sich aus dem Zusammenspiel von Schulrecht, Ordnungswidrigkeitenrecht, Jugendhilferecht und Jugendstrafrecht ergibt. Am Ende dieses Verfahrens kann ein Jugendarrest von bis zu einer Woche stehen, also justizieller Freiheitsentzug, den Schulabsent*innen zusammen mit jungen Menschen verbüßen, die Straftaten begangen haben. Charakteristisch für dieses Verfahren ist das Zusammenwirken unterschiedlicher Institutionen, die die jeweiligen Fälle bearbeiten. An den Verfahren sind daher Akteur*innen verschiedener Berufsgruppen beteiligt, die diversen institutionellen Logiken verpflichtet sind und jeweils für das Verfahren grundlegende Entscheidungen treffen. Im Folgenden werden die rechtlichen Grundlagen und jeweiligen Aufgaben der beteiligten Institutionen – Schule, Verwaltungsbehörde, Jugendgericht und Jugendarresteinrichtung – vorgestellt.
3 Einzelne Teile der Darstellung entstammen der noch nicht veröffentlichten Dissertation von Ernst, im Erscheinen. 4 Dies wird z. B. auch bezeichnet als „Schulschwänzen“, „Schulabsentismus“, „Schulverweigerung“, wobei die Begriffe manchmal synonym, häufig aber auch unterschiedlich verwendet werden; teilweise verbinden sich mit ihnen verschiedene Intensitäten des Nicht-Schulbesuchs oder verschiedene Annahmen zu deren Motiv. Im vorliegenden Beitrag wird der Terminus „Verletzung der Schulpflicht“ verwendet.
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a) Schule Die initiierende Institution für konkrete Verfahren ist die Schule, welche nach Maßgabe ihrer landesspezifischen Rechtslage5 sowie der pädagogischen Interventionsstruktur eine Ordnungswidrigkeit infolge von Schulpflichtverletzungen bei der sachlich zuständigen Verwaltungsbehörde anzeigen kann. b) Verwaltungsbehörde/Schulamt Die nach §§ 35 I, 36 I Nr. 1 OWiG (Ordnungswidrigkeitengesetz) sachlich zuständige Verwaltungsbehörde ist teilweise in den Landesschulgesetzen bestimmt; ansonsten richtet sich die Zuständigkeit nach § 36 I Nr. 2 OWiG.6 Die zuständige Verwaltungsbehörde muss prüfen, ob nach § 1 OWiG eine vorwerfbare, rechtswidrige Handlung vorliegt, die den Tatbestand eines Gesetzes erfüllt. Die Voraussetzungen des § 1 OWiG werden in der Regel durch die dokumentierte Fehlzeit der Schule erfüllt. Zusätzlich normiert § 12 I Satz 2 OWiG, dass ein*e Jugendliche*r nur unter den Voraussetzungen des § 3 Satz 1 JGG (Jugendgerichtsgesetz) vorwerfbar handelt, die praktische Bedeutung dieses Prüfschrittes dürfte allerdings marginal sein (Eisenberg, 2018, § 2 Rn. 24; Fromm, 2016, S. 58).7 Eine dem § 105 JGG entsprechende Prüfung bei Heranwachsenden sieht das OWiG nicht vor. Die Höhe des festzulegenden Bußgeldes ist in einigen Landesschulgesetzen festgelegt, siehe z. B. § 42 II des Gesetzes über die Schulen im Land Brandenburg. Wenn keine Regelungen getroffen worden sind, bestimmt sich die Höhe nach den allgemeinen Regelungen im OWiG und liegt gemäß § 17 I OWiG zwischen 5 und 1.000 Euro.8 Wird die festgesetzte Geldbuße auch nach Ablauf der in § 95 I OWiG bestimmten Frist von zwei Wochen seit dem Eintritt der Fälligkeit nicht gezahlt, so kann die Vollstreckungsbehörde gemäß § 98 I Satz 1 OWiG einen Antrag auf
5 In Deutschland haben alle Bundesländer außer Berlin die Möglichkeit geschaffen, neben Bußgeldern gegen Dritte wie Eltern und Ausbilder*innen, eine Schulpflichtverletzung gegenüber dem*der Schulpflichtigen selbst bußgeldrechtlich zu verfolgen, siehe z. B. für Hessen § 181 I Nr. 1 SchG. 6 In Hessen ist z. B. gemäß § 181 IV Satz 2 SchulG die untere Schulaufsichtsbehörde Verwaltungsbehörde im Sinne des § 36 I Nr. 1 OWiG, also die staatlichen Schulämter, von denen es insgesamt 15 gibt. 7 Die wohl zumeist nicht erfolgende Prüfung dürfte auch damit zusammenhängen, dass zur Frage der Verantwortlichkeit zum Entscheidungszeitpunkt keine Informationen vorliegen. Selbst wenn sich ein*e Jugendliche*r im Rahmen der Gelegenheit zur Stellungnahme nach § 55 OWiG i. V. m.. § 46 I OWiG äußert, dürfte dies in aller Regel nicht diesen Punkt betreffen. 8 Zur Bemessung siehe § 17 III OWiG. Es wird davon ausgegangen, dass das Alter bzw. mit dem Alter verbundene Eigenschaften bei der Bemessung zu berücksichtigen sind, siehe Eisenberg, 2018, § 2 Rn. 26.
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Umwandlung der Geldbuße in eine Ersatzmaßnahme bei der*dem zuständigen Jugendrichter*in stellen. c) Jugendgericht Gemäß § 98 OWiG kann der*die Jugendrichter*in auf Antrag der Vollstreckungsbehörde oder, wenn ihm*ihr selbst die Vollstreckung obliegt, von Amts wegen dem*der Jugendlichen auferlegen, an Stelle der Geldbuße eine Leistung zu erbringen, § 98 I 1 OWiG. In Betracht kommen die Erbringung von Arbeitsleistungen (Nr. 1), die Schadenswiedergutmachung (Nr. 2), bei einer Verletzung von Verkehrsvorschriften an einem Verkehrsunterricht teilzunehmen (Nr. 3) und die Erbringung einer sonstigen Leistung (Nr. 4). Wird weder das Bußgeld gezahlt noch die ersatzweise Auflage nach § 98 I OWiG erfüllt, kann, wie bei Weisungen und Auflagen nach §§ 11 III bzw. 15 III JGG, im Falle einer schuldhaften Nichterfüllung nach § 98 II OWiG Jugendarrest von bis zu einer Woche pro Bußgeldentscheidung angeordnet werden. Vor der Verhängung von Jugendarrest ist der*dem Jugendlichen Gelegenheit zur mündlichen Äußerung vor dem*der Richter*in zu geben, § 98 II Satz 3 OWiG. Allerdings räumt § 98 I Satz 2 OWiG dem Gericht ein, die getroffene Ersatzanordnung nachträglich zu ändern. Damit besteht auch an dieser Stelle die Möglichkeit, Besonderheiten des Einzelfalls gerecht zu werden; denkbar ist z. B. die Verlängerung der Frist zur Erfüllung von Arbeitsleistungen oder auch die Auswahl einer anderen Ersatzmaßnahme. d) Jugendgerichtshilfe/Jugendhilfe im Strafverfahren Gemäß § 46 I OWiG gelten für das Bußgeldverfahren, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, sinngemäß die Vorschriften der allgemeinen Gesetze über das Strafverfahren, z. B. des Jugendgerichtsgesetzes. So ist auch die Heranziehung der Jugendgerichtshilfe/Jugendhilfe im Strafverfahren (im Folgenden: JGH/JuhiS) in OWi-Verfahren möglich, allerdings kann davon gemäß § 46 VI OWiG abgesehen werden, wenn ihre Mitwirkung für die sachgemäße Durchführung des Verfahrens entbehrlich ist. Die Rolle der JGH/JuhiS kann in diesen Verfahren vor allem darin liegen, erzieherische Gespräche zu führen sowie Vorschläge für die individuelle Ausgestaltung der Ersatzmaßnahmen nach § 98 I OWiG zu unterbreiten (siehe dazu auch Lampe in KK-OWiG, 2018, § 46 Rn. 48). e) Vollstreckung des Jugendarrestes Gemäß § 98 III Satz 2 OWiG sieht die*der Richter*in von der Vollstreckung des Jugendarrests ab, wenn der*die Jugendliche nach Verhängung der Weisung
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nachkommt oder die Geldbuße zahlt. Ist Jugendarrest vollstreckt worden, so kann der*die Jugendrichter*in die Vollstreckung der Geldbuße ganz oder zum Teil für erledigt erklären, § 98 III Satz 3 OWiG. Darüber hinaus finden sich im OWiG keine Regelungen zur Vollstreckung des Jugendarrestes. Wie bereits erwähnt, gelten gemäß § 46 I OWiG allerdings die Vorschriften des JGG im Bußgeldverfahren entsprechend, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt. So wird auch ganz allgemein angenommen, dass die Vorschriften des JGG zur Vollstreckung des Jugendarrestes gelten. Dies umfasst insbesondere, dass die*der Vollstreckungsleiter*in gemäß § 87 III Satz 1 JGG von der Vollstreckung des Jugendarrestes ganz oder, ist Jugendarrest teilweise verbüßt, von der Vollstreckung des Restes absieht, wenn seit dem Arrestbeschluss Umstände hervorgetreten sind, die allein oder in Verbindung mit den bereits bekannten Umständen ein Absehen von der Vollstreckung aus Gründen der Erziehung rechtfertigen.9 Sind seit Eintritt der Rechtskraft sechs Monate verstrichen, sieht sie*er von der Vollstreckung ganz ab, wenn dies aus Gründen der Erziehung geboten ist, § 87 III Satz 2 JGG. Von der Vollstreckung des Jugendarrestes kann sie*er gemäß § 87 III Satz 3 JGG ganz absehen, wenn zu erwarten ist, dass der Jugendarrest neben einer Strafe, die gegen die*den Verurteilte*n wegen einer anderen Tat verhängt worden ist oder die sie*er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, seinen erzieherischen Zweck nicht mehr erfüllen wird. Gemäß § 87 IV Satz 1 JGG ist die Vollstreckung des Jugendarrestes außerdem unzulässig, wenn seit Eintritt der Rechtskraft ein Jahr verstrichen ist. f) Zwischenfazit Die Betrachtung der zentralen gesetzlichen Regelungen zum Verfahren wegen Verletzung der Schulpflicht zeigt, dass an dem Verfahren ganz unterschiedliche Akteur*innen beteiligt sind, die – schon durch ihre jeweiligen Systeme und entsprechenden rechtlichen Grundlagen – unterschiedliche Perspektiven auf die Verletzung der Schulpflicht haben und dennoch gerade in diesen Verfahren eng zusammenarbeiten müssen. Deutlich wurde außerdem, dass den verschiedenen Akteur*innen jeweils ein Handlungsspielraum bei der Frage eingeräumt ist, ob das Verfahren bzw. eine Vollstreckung ein- oder weitergeleitet werden soll. Da eben im Umkehrschluss das Verfahren auch an verschiedenen Stellen beendet werden kann, handelt es sich im Ergebnis um eine trichterförmige Anordnung, bei der in jeder Verfahrensstufe Fälle ausgefiltert werden, so dass am Ende des Prozesses, der hier im Vordergrund steht, nur ein Bruchteil der zuvor in Frage kommenden Fälle ankommt, siehe 9 Teilweise wird argumentiert, dass die Anwendung der Vorschriften des JGG dann ausgeschlossen sein soll, wenn sie eine (allein) erzieherische Funktion haben, da dies nicht dem Zweck des § 98 II OWiG entspreche (Mitsch in KK-OWiG, 2018, § 98 Rn. 34).
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Abbildung 1. Neben der generellen Entscheidung, ob das Verfahren weitergeführt wird, müssen die Akteur*innen inhaltliche Entscheidungen treffen, da die Normen an vielen Stellen Handlungsspielräume eröffnen, wie bspw. zur Höhe der Geldbuße oder zur Form der Ersatzmaßnahme. Tatsächliche/tatsächlich bekannt gewordene Verstöße gegen die Schulpflicht Anträge der Schulen auf Einleitung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens bei den zuständigen Verwaltungsbehörden Eingeleitete Bußgeldverfahren Nicht gezahlte Bußgelder bzw. geleistete Ersatzmaßnahmen Vollstreckungsersuchen Jugendarrest Ladungen zum Arrestantritt Vollstreckte Arreste nach § 98 OWiG Abb. 1: Trichtermodell für Verfahren wegen Verletzung der Schulpflicht; Quelle: Eigene Darstellung.
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Erhebung in der Jugendarresteinrichtung Gelnhausen
Zu den Verfahren insgesamt und speziell zur Arrestverbüßung wegen Verletzung der Schulpflicht existiert v. a. anekdotisches Wissen, es fehlt aber an belastbaren differenzierten Erkenntnissen. Die relevanten Punkte werden in amtlichen Statistiken nicht systematisch erfasst, nur wenige Daten sind im wissenschaftlichen oder politischen Kontext erhoben und publiziert worden. Insbesondere fehlen Verlaufsstatistiken bzw. Längsschnittuntersuchungen. Um sowohl das Verfahren, welches – wie dargestellt – von diversen Entscheidungen verschiedener Beteiligter geprägt ist, zumindest für die am Ende des Prozesses angelangten Fälle nachzuzeichnen, als auch einen Blick auf die Vollzugspopulation zu werfen, wurden im Rahmen eines den Jugendarrest insgesamt betreffenden Forschungsvorhabens (Ernst, im Erscheinen) u. a. Arrestakten zu angetretenen Arresten nach § 98 II OWiG in der Jugendarresteinrichtung Gelnhausen über den Zeitraum von einem Jahr erhoben.
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Im Folgenden werden zunächst die wenigen verfügbaren amtlichen Daten und der Forschungsstand zur quantitativen Relevanz von Arresten wegen Verletzung der Schulpflicht vorgestellt, um anschließend auf die Aktenerhebung sowie zentrale Ergebnisse einzugehen. a) Die quantitative Relevanz von Arresten wegen Verletzung der Schulpflicht Bisher existieren, soweit ersichtlich, keine empirischen Kenntnisse über die Anzahl der Bußgeldanzeigen der Schulen bundesweit. In einigen Untersuchungen hat sich allerdings angedeutet, dass Schulen von dieser Möglichkeit sehr unterschiedlich Gebrauch machen (siehe z. B. Weiß, 2007, S. 53). Vereinzelt können Daten zur quantitativen Relevanz von Verfahren wegen Verletzung der Schulpflicht politischen Dokumenten entnommen werden,10 verlässliche bundesweite Daten liegen allerdings nicht vor.11 Speziell für die Frage, wie viele Personen einen Arrest wegen Verletzung der Schulpflicht verbüßen, hat sich in einer Untersuchung in Nordrhein-Westfalen gezeigt, dass diese einen Anteil von 6,5 % an der Vollzugspopulation im Untersuchungszeitraum ausgemacht haben (Lobitz, Wirth und Langenhoff, 2017, S. 20). Ein ähnliches Ergebnis hat sich auch in einer 2018 durchgeführten Befragung aller Jugendarresteinrichtungen deutschlandweit gezeigt: Diese ergab, dass der durchschnittliche Anteil der vollstreckten Arreste wegen Schulpflichtverletzungen unter allen vollstreckten Arresten in fast allen 17 teilnehmenden Jugendarresteinrichtungen in den Jahren 2012 bis 2017 unter 10 %, oft sogar unter 5 % lag (Ernst & Höynck, 2018, S. 318), wobei deutliche regionale Unterschiede bestanden. b) Datengrundlage: Vollzugsakten in der Jugendarresteinrichtung Gelnhausen Um neben der quantitativen Relevanz Informationen über die Verfahren sowie weitere Daten zur Vollzugspopulation zu erlangen, wurden Vollzugsakten in der Jugendarresteinrichtung Gelnhausen erhoben, in welcher der Jugendarrest an allen männlichen und weiblichen Arrestant*innen des Landes Hessen vollstreckt wird (weiterführend zu Arrestvollzugsakten als Datenquelle siehe Ernst, im Erscheinen). Für die Untersuchung insgesamt (Ernst, im Erscheinen) wurden alle 10 In Hessen wurden im Jahr 2015 insgesamt 3.210 Verfahren von den Staatlichen Schulämtern eingeleitet, wobei die Zahlen zwischen den 15 Staatlichen Schulämtern deutlich variieren, Hessischer Landtag, Drucksache 19/4288 vom 19.01.2017, S. 1. 11 Schon die Zahl der Beschlussarreste insgesamt, also aller Arreste, die nicht auf einem Urteil beruhen, sondern wegen der Nichterfüllung von Weisungen oder Auflagen ergehen, ist amtlichen Daten nicht zu entnehmen. Untersuchungen, die z. T. älter bzw. regional begrenzt sind, gehen von einem Anteil an Beschlussarresten insgesamt unter den vollstreckten Arresten von zwischen 40 % und 70 % aus (siehe z. B. Seidl, Holthusen & Hoops, 2013; Ostendorf, 1995).
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Vollzugsakten, bei denen der Arrestantritt zwischen dem 01.07.2016 und dem 31.12.2016 erfolgte, erhoben (N = 485); davon betrafen 61 Akten Arrestantritte nach § 98 II OWiG. Zusätzlich wurden für die Arreste nach § 98 II OWiG auch Akten mit Arrestantritt zwischen dem 01.01.2017 und dem 30.06.2017 erhoben; dies waren weitere 45 Akten. Von diesen insgesamt 106 Akten im einjährigen Untersuchungszeitraum (01.07.2016 bis 30.06.2017), in denen ein Arrest nach § 98 II OWiG in der Jugendarresteinrichtung Gelnhausen angetreten wurde, betrafen 101 Akten Verfahren wegen Verletzung der Schulpflicht, welche im Folgenden dargestellt werden.12 Die Akten wurden vor Ort in der Jugendarresteinrichtung eingesehen und erfasst. Da eine Vollzugsakte für eine Verurteilung bzw. einen Beschluss angelegt wird, kann es vorkommen, dass Personen mehrfach in die Auswertungen eingegangen sind. Da weder die Namen der Personen noch das genaue Geburtsdatum aus Datenschutzgründen erfasst wurden, konnte diesbezüglich kein Abgleich erfolgen. Daher kann nicht angegeben werden, wie viele Personen in die Untersuchung eingeflossen sind; eine Akte impliziert folglich immer einen Fall. Zu beachten ist bei den Ausführungen außerdem, dass sich alle Ergebnisse nur auf die Verfahren beziehen, die auch mit einem Jugendarrest endeten. c) Deskriptive Auswertungen aa) Quantitative Relevanz Im einjährigen Untersuchungszeitraum wurden insgesamt 101 Jugendarreste wegen Verletzung der Schulpflicht in der Jugendarresteinrichtung Gelnhausen angetreten. Eine Berechnung der Anteile an solchen Arresten unter allen Arrestantritten ermöglicht die Belegungsübersicht des Bundesamtes für Justiz: Danach wurden in Hessen in den letzten Jahren stets knapp über 1.000 Jugendarreste insgesamt angetreten (Bundesamt für Justiz, 2018, 2019 und 2020), was auf einen ungefähren Anteil von knapp unter 10 % an Schulordnungswidrigkeitenarresten unter allen angetretenen Arresten hindeutet. Dies entspricht auch von der Größenordnung den o. g. Ergebnissen anderer Erhebungen. bb) Soziodemographische Daten bei Arrestantritt In den 101 Fällen waren 66 Personen (65,3 %) männlich und 35 (34,7 %) weiblich. Im Vergleich zu den Personen, die generell einen Arrest antreten, zeigt sich, dass es unter den Arresten wegen Verletzung der Schulpflicht einen deutlich höheren Anteil an weiblichen Personen gibt. Ausweislich der Belegungsstatistiken der letzten Jahre lag der Anteil an weiblichen Personen deutschlandweit unter allen Arrestformen deutlich niedriger; bspw. für 2018 bei 14,7 % in Jugendarrest12
In vier Fällen konnte den Akten die Ordnungswidrigkeit nicht entnommen werden, da sie nicht weiter bezeichnet war und in einem Fall lag ein Verstoß gegen das Waffengesetz vor.
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einrichtungen und bei 14,5 % insgesamt – also unter Einbeziehung der Freizeitarresträume (Bundesamt für Justiz, 2020). Auch in Bezug auf das Alter bei Arrestantritt zeigen sich für diese Gruppe Besonderheiten: Von den 101 Akten waren die Personen in 91 Fällen Jugendliche (90,1 %) und in 10 Fällen Heranwachsende (9,9 %). Untersuchungen im Arrestvollzug und auch die Übersicht über die Belegung der Jugendarrestanstalten und Freizeitarresträume weisen einen insgesamt deutlich höheren Anteil an heranwachsenden und erwachsenen Personen aus: Von den 19.275 Personen, die laut der Statistik 2018 einen Jugendarrest antraten, waren nur insgesamt 7.789 Personen zwischen 14 und unter 18 Jahren und damit jugendlich (40,4 %); der überwiegende Anteil war bereits 18 Jahre und älter (59,6 %) (Bundesamt für Justiz, 2020). Des Weiteren wurde der Tätigkeitsstatus bei Arrestantritt erfasst. Hier zeigte sich, dass von den 101 Fällen 59 Personen bei Arrestantritt angaben, Schüler*in zu sein (58,4 %)13 – wobei dies natürlich keine Aussage darüber zulässt, ob die Personen auch zur Schule gehen. cc) Zum Verfahren Die Arrestakten gaben außerdem Auskunft über einige Aspekte des Verfahrens, die die Entscheidungen der beteiligten Akteur*innen dokumentieren, allerdings nur – und hierauf sei an dieser Stelle erneut hingewiesen – von denjenigen, die am Ende des Verfahrens einen Arrest verbüßen mussten. Wie bereits gesagt, handelte es sich bei fast allen Ordnungswidrigkeitenarresten um Arreste wegen eines Verstoßes gegen das (hessische14) Schulgesetz. In diesen Verfahren folgt, wie oben erläutert, die Festsetzung einer Geldbuße. Im Hessischen Schulgesetz findet sich – anders als in anderen Schulgesetzen, siehe oben – keine Angabe zur Höhe der Geldbuße; allerdings existiert ein Erlass des Kultusministeriums zur Vereinheitlichung des Verfahrens zur Bearbeitung von Ordnungswidrigkeiten nach § 181 Hessisches Schulgesetz (ABl. 2013, S. 423 vom 15.08.2013), welcher Vorgaben zur Berechnung der Höhe der Geldbuße enthält. Danach beträgt das Bußgeld für Schüler*innen von Allgemeinbildenden Schulen pro unentschuldigtem oder nicht ausreichend entschuldigtem Fehltag 5 Euro und im Wiederholungsfall 7,50 Euro; fünf Fehlstunden werden dabei zu einem Tag addiert. Der Höchstsatz für Schüler beträgt 250 Euro bzw. 300 Euro im Wiederholungsfall. Berufsschüler*innen zahlen 7,50 Euro bzw. 10 Euro pro Fehltag und der Höchstsatz liegt bei 300 Euro bzw. 400 Euro (siehe dazu weiterführend Ernst, im Erscheinen). Tabelle 1 zeigt die in den Akten genannten Geldbußen, die
13 Hierunter wurden auch Personen erfasst, die einen Schulabschluss nannten, weil davon ausgegangen wird, dass sie diesen gerade anstreben. 14 In den Akten stand in der Regel nur ganz allgemein „Verstoß gegen das Schulgesetz“. Es ist davon auszugehen, dass sich die Verstöße auf das hessische Schulgesetz beziehen.
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insgesamt 95 Akten entnommen werden konnten. Diese betrug in fast zwei Dritteln der Fälle unter 200 Euro (60,0 %). Tab. 1: Höhe der Geldbuße.
N = 95
%
unter 100 Euro
16
16,8 %
100 bis unter 150 Euro
22
23,2%
150 bis unter 200 Euro
19
20,0 %
200 bis unter 250 Euro
11
11,6 %
250 bis unter 300 Euro
11
11,6 %
300 bis 310 Euro
15
15,8 %
427,50 Euro
1
1,1 %
Auf Grundlage der Geldbuße können Annahmen über die Anzahl an Fehltagen getroffen werden, da auf dieser Anzahl die Geldbuße gemäß des o. g. Erlasses berechnet wird. In diesem Erlass wird – wie bereits gesagt – zwischen verschiedenen „Kategorien“ unterschieden. Legt man die Geldbußen für die beiden mittleren Gruppen „Schüler*innen Allgemeinbildende Schule, Wiederholer*innen“ bzw. „Berufsschüler*innen“ zugrunde, so zeigt sich, dass die Mehrzahl der Personen schon mehrere Wochen in der Schule fehlten. Was mit dieser groben Annäherung jedenfalls deutlich wird, ist, dass es sich bei denjenigen, die einen Jugendarrest nach § 98 II OWiG auf Grundlage der Verletzung der Schulpflicht verbüßen, um Personen handelte, die nicht nur kurzzeitig nicht am Unterricht teilgenommen haben. Was über das Bußgeldverfahren hinaus an Aktivitäten seitens der Schule unternommen wurde, war den Akten leider nicht zu entnehmen. Nach Festsetzung einer Geldbuße kann diese gemäß § 98 I OWiG in eine dort genannte Maßnahme („Ersatzmaßnahme“) umgewandelt werden. Interessanterweise war allen 101 Akten zu entnehmen, dass der Person auferlegt wurde, eine Arbeitsleistung nach § 98 I Nr. 1 OWiG zu erbringen; die anderen Nummern des § 98 II OWiG hatten keine praktische Relevanz. Auch wenn diesbezüglich einschränkend zu beachten ist, dass bei der Verletzung der Schulpflicht die Anordnung einer Schadenswiedergutmachung nach § 98 I Nr. 2 OWiG genauso wenig einschlägig ist wie die Anordnung, an einem Verkehrsunterricht nach § 98 I Nr. 3 OWiG teilzunehmen, so ist doch überraschend, dass auch die Anordnung „an Stelle der Geldbuße sonst eine bestimmte Leistung zu erbringen“ nach § 98 I Nr. 4 OWiG nie genutzt wurde.
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Die Höhe der auferlegten Arbeitsstunden betrug laut der analysierten Akten zwischen fünf und 85 Stunden (vgl. Tabelle 2). In fast der Hälfte der Fälle lag die Höhe der Arbeitsstunden zwischen zehn und unter 30 Stunden (47,5 %); in rund einem Fünftel der Fälle wurden 40 und mehr Arbeitsstunden angeordnet (21,8 %). Im Durchschnitt wurden knapp über 26 Stunden angeordnet. Tab. 2: Höhe der Arbeitsstunden nach § 98 I OWiG.
N = 101
%
5 bis unter 10 Stunden
13
12,9 %
10 bis unter 20 Stunden
27
26,7 %
20 bis unter 30 Stunden
21
20,8 %
30 bis unter 40 Stunden
18
17,8 %
40 bis unter 50 Stunden
9
8,9 %
50 bis 61 Stunden
12
11,9 %
85 Stunden
1
1,0 %
Den Beschlüssen war außerdem zu entnehmen, ob die Personen mit der Erfüllung der Arbeitsstunden begonnen haben. In der Regel wurde mit der Erfüllung der Arbeitsstunden nicht begonnen (85,1 %), in nur 10,9 % waren die Arbeitsstunden teilweise erfüllt worden und vier Fällen ließ sich den Akten diesbezüglich keine Angabe entnehmen (4,0 %). Tab. 3: Dauer des Arrestes nach § 98 II OWiG.
N = 101
%
2 Tage
29
28,7 %
3 Tage
9
8,9 %
4 Tage
7
6,9 %
55
54,5 %
1
1,0 %
7 Tage 15
Sonstiges
15 In einem Beschluss war eine Arrestdauer von 14 Tagen angegeben; dies wurde der Erhebung zugrunde gelegt. Allerdings beträgt die Höchstdauer gemäß § 98 II OWiG sieben Tage. In diesem Fall war es so, dass der Arrest nach sechs Tagen wegen Untersuchungshaftantritt unterbrochen wurde.
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Der nächste Schritt im Verfahren ist die Verhängung von Jugendarrest. Kommt der*die Jugendliche der Anordnung schuldhaft nicht nach und zahlt er*sie auch nicht die Geldbuße, so kann gemäß § 98 II Satz 1 OWiG Jugendarrest (§ 16 JGG) gegen ihn*sie verhängt werden, wenn er*sie entsprechend belehrt worden ist. Hiernach verhängter Jugendarrest darf bei einer Bußgeldentscheidung eine Woche nicht übersteigen, § 98 II Satz 2 OWiG. Es zeigte sich, dass die angeordnete Arrestdauer überwiegend eine Woche betrug (54,5 %); ebenfalls häufig hatte der verhängte Arrest eine Dauer von zwei Tagen (28,7 %) (vgl. Tabelle 3). Interessant ist außerdem ein Blick auf den Zeitraum zwischen Erlass des Bußgeldbescheides und Arrestantritt, also die Dauer des gesamten Verfahrens; der Zeitraum zwischen der Verletzung der Schulpflicht (welche sich über einen längeren Zeitraum erstrecken kann) und dem Erlass des Bußgeldbescheides war den Akten nicht zu entnehmen. Dieser Zeitraum konnte in 95 Fällen berechnet werden und betrug zwischen knapp über 5 Monaten bis zu über zwei Jahren. Tabelle 4 zeigt, dass das Verfahren vom Erlass des Bußgeldbescheids bis zum Arrestantritt in jeweils fast der Hälfte der Fälle zwischen sechs und unter 12 Monaten (48,4 %) bzw. zwischen 12 und unter 24 Monaten (46,3 %) dauerte. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass § 98 OWiG (wie auch die Verfahren im JGG) die Möglichkeit einer Änderung der Maßnahme (§ 98 I Satz 2 OWiG) sowie die Gelegenheit zur mündlichen Äußerung des Jugendlichen vor dem*der Richter*in (§ 98 II Satz 3 OWiG) vorsieht, wodurch sich das Verfahren auch in die Länge ziehen kann. Tab. 4: Zeitraum Verfahren OWiG insgesamt.
4
N = 95
%
Ein Monat bis unter drei Monate
-
-
Drei bis unter sechs Monate
4
4,2 %
Sechs bis unter zwölf Monate
46
48,4 %
12 bis unter 24 Monate
44
46,3 %
Mehr als 24 Monate
1
1,1 %
Zusammenfassung und Fazit
Insgesamt handelt es sich bei Arrestvollstreckungen wegen Verletzung der Schulpflicht um ein quantitativ nicht sehr bedeutendes Phänomen, der Anteil unter der Vollzugspopulation liegt in den Arresteinrichtungen in der Regel zwischen ca. 5 % und 10 %. Allerdings sind einige wesentliche Aspekte in dem Beitrag
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deutlich geworden, die trotz der relativ kleinen Gruppe wichtig sind und der Beachtung bedürfen, da es um Freiheitsentzug an jungen Menschen geht. Insbesondere wurde deutlich, dass die Normen für die Verfahren wegen Verletzung der Schulpflicht bereits jetzt eine Vielzahl von Möglichkeiten für gestaltende Entscheidungen der handelnden Akteur*innen vorsehen. Dennoch scheint es, als würden diese Möglichkeiten von der Praxis nicht ausreichend und einzelfallbezogen genutzt, was sich auf verschiedenen Ebenen des Verfahrens zeigt. Schon die Tatsache, dass nicht selten lange Phasen des Fernbleibens von der Schule Anlass für die Einleitung des Verfahrens waren, wirft die Frage auf, ob in den Schulen wirklich ausreichende Bemühungen unternommen wurden, den Schulbesuch herzustellen und diesbezügliche Schwierigkeiten zu bearbeiten. Zudem wird die Verhängung der Geldbuße – zumindest in Hessen – nach einem allgemeinen Schema bestimmt. Auch die Tatsache, dass Arbeitsstunden die einzige genutzte Ersatzmaßnahme sind,16 zeigt, dass Spielräume nicht genutzt werden, immerhin bietet § 98 II Nr. 4 OWiG die Möglichkeit für kreative Ansätze („sonst eine bestimmte Leistung zu erbringen“). Hinzu kommt eine hohe Anzahl an Stunden, die neben durchzusetzendem Schulbesuch praktisch kaum zu bewältigen sind. Besonders widersprüchlich erscheint auch die Arrestvollstreckung, wenn die Schule längst wieder besucht wird, aber auch diesbezüglich deutet sich auch in den durch die Arrestant*innen im Vollzug ausgefüllten Fragebögen an, dass der Schulbesuch zumindest nicht in allen Bußgeldverfahren ausreichend Berücksichtigung findet.17 Dies ist insbesondere problematisch, da sich gezeigt hat, dass die Verfahren lange dauern. Zwar ist Verfahrensbeschleunigung kein Wert an sich, allerdings scheint der Grund nicht darin zu liegen, dass in den Phasen zwischen den einzelnen Verfahrensschritten konstruktiven Prozessen Raum gegeben wird, sondern dass in diesen Zeiten, insbesondere im Zeitraum zwischen Umwandlung der Geldbuße in eine Ersatzmaßnahme und Arrestbeschluss, bis zum Ablauf von Wiedervorlagefristen nichts passiert. Natürlich beleuchtet die Betrachtung der Vollzugsakten nur Ausschnitte aller für die genannten Fragen relevanten Gesichtspunkte. Sie setzt am äußersten Ende des Verfahrens an, gibt aber einige Hinweise darauf, an welchen anderen Stellen Weichen gestellt werden. Insgesamt betrachtet, so scheint es, werden die Verfahren jedenfalls nicht selten eher schematisch „durchgereicht“ als einzelfallbezogen gestaltet, obwohl Spielräume auf allen Stufen des Verfahrens bestehen. Diese Erkenntnisse müssen – noch einmal: es geht um Freiheitsentzug an jungen Men16
Der pädagogische Wert der innerhalb von Arbeitsstunden zu verrichtenden Tätigkeit wird fachlich und kriminalpolitisch immer wieder in Frage gestellt (siehe z. B. jüngst Landtag Nordrhein-Westfalen, Drucksache 17/7554 vom 02.10.2019, S. 2). 17 Diesbezüglich hat Philipp Walkenhorst auch mehrfach betont, dass „die Arrestdurchführung [keinesfalls den] vorhandenen Schulbesuch und bestehende Ausbildungs- oder Beschäftigungsverhältnisse beeinträchtigen“ darf (Walkenhorst, 2013, S. 40).
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schen – Anlass zur Diskussion sein, wobei eine Diskussion um Verbesserungsperspektiven unterscheiden muss, ob innerhalb des geltenden Rechts argumentiert wird oder mit Blick auf mögliche Gesetzesänderungen. Wie in der Einleitung erwähnt, hat Philipp Walkenhorst, auch im Interesse einer Unterstützung der Praxis, immer Wert darauf gelegt, Gestaltungsspielräume im geltenden Recht auszuloten, weshalb diese Perspektive auch im weiteren eingenommen werden soll (zu Perspektiven für Gesetzesänderungen siehe Ernst und Höynck, 2018, S. 319 f.). Innerhalb des geltenden Rechts ist insbesondere nach Möglichkeiten zu suchen, auf früheren Stufen auch durch eine enge Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule den Schulbesuch zu fördern und möglichst den ordnungsrechtlichen Weg gar nicht erst zu beschreiten (siehe dazu auch Kantak, 2016, S. 158 ff.; Sextro, 2016, S. 165 ff.). Allerdings ist ebenso wichtig, das Staatliche Schulamt sowie die Jugendrichter*innen in die Überlegungen einzubeziehen und sich mit deren Aufgaben und Rollen im Verfahren zu befassen. Insbesondere kann nur in Zusammenarbeit mit dem*der zuständigen Jugendrichter*in sichergestellt werden, dass eine sinnvolle Ersatzmaßnahme angeordnet wird, die bestenfalls im Zusammenhang mit dem Ziel des Schulbesuchs steht und die Flexibilität des § 98 I Nr. 4 OWiG nutzt. Ein weiterer Ansatz, um diesen Problemen gerecht zu werden und die Flexibilität des Verfahrens zu nutzen, ist § 87 III Satz 1 JGG, der vor jedem Arrestantritt einen zwingenden Prüfschritt vorsieht. Danach sieht der*die Vollstreckungsleiter*in von der Vollstreckung des Jugendarrestes ab, wenn seit Erlass des Urteils (hier Beschlusses) Umstände hervorgetreten sind, die ein Absehen von der Vollstreckung aus Gründen der Erziehung rechtfertigen (dazu ausführlich Ernst, im Erscheinen). Die Frage, was genau hier und in den anderen Verfahrensstadien „erzieherische“ Erwägungen genau bedeuten können, ist natürlich alles andere als trivial, bietet aber große Gestaltungsmöglichkeiten (so auch Rose und Friese, 2016, S. 10 ff.). An dieser Stelle muss zumindest geprüft werden, ob die Person der Schulpflicht wieder nachkommt. Fragen wirft auch § 90 I Satz 1 JGG auf, der normiert, dass der Vollzug des Jugendarrestes das Ehrgefühl des Jugendlichen wecken und ihm eindringlich zum Bewusstsein bringen soll, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat (kritisch dazu auch Walkenhorst, 2011, S. 97). Auch wenn gemäß Satz 2 und 3 der Vollzug des Jugendarrestes erzieherisch gestaltet werden soll und die Landesarrestvollzugsgesetze teilweise die erzieherische Komponente deutlicher hervorheben (weiterführend dazu Walkenhorst, 2015, S. 99 ff.), fällt es gleichwohl schwer, sich Fernbleiben vom Unterricht als „begangenes Unrecht“ in diesem Sinne vorzustellen; damit ist einmal mehr darauf verwiesen, dass die ordnungsrechtliche Rahmung an sich wenig plausibel ist. Die Widersprüchlichkeit des Erziehungsgedankens zeigt sich hier in besonderer Weise: Nach der Logik des Verfahrens müsste die Erwartung bestehen, dass
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durch die Vollstreckung von Jugendarrest ein Schulbesuch des Arrestanten bzw. der Arrestantin wieder hergestellt werden kann, was in den meisten Fällen zumindest höchst fraglich anmutet, wenn man sich vor Augen führt, dass längerfristiges Fernbleiben von der Schule in der Regel komplizierte und vielfältige Ursachen haben kann. Auch aus diesem Grund wird der Arrest wegen Verletzung der Schulpflicht rechtspolitisch immer wieder in Frage gestellt (siehe z. B. Breymann, 2013, S. 75 zur Diskussion in Sachsen-Anhalt) und in der Fachdiskussion überwiegend kritisch gesehen (statt vieler siehe Thalmann, 2011, S. 83); mehrere Stimmen fordern die Abschaffung dieser Arrestform (siehe z. B. Dünkel, 2014, S. 296). Solange Schulordnungswidrigkeitenarreste allerdings vollstreckt werden, bleibt die Frage nach einer praktischen Ausgestaltung, die sich um positive Effekte bemüht. Diesbezüglich konnte die Erhebung zeigen, dass es sich bei Personen, die einen Arrest wegen Verletzung der Schulpflicht verbüßen, um eine besondere Gruppe unter der Vollzugspopulation handelt: Sie verbüßen den Arrest nicht wegen einer Straftat, sind durchschnittlich jünger und häufiger weiblich; dies bietet Ansatzpunkte für eine besondere Ausgestaltung des Vollzugs. Denn auch wenn einschränkend die bei Arresten nach § 98 II OWiG gesetzlich normierte Höchstdauer von einer Woche zu beachten ist, erübrigen sich solche Überlegungen zur Ausgestaltung des Vollzugs nicht. Zu Recht hat Philipp Walkenhorst in Bezug auf die teilweise kurze Dauer von Jugendarresten ganz generell davor gewarnt, dass diese auf keinen Fall „zu einer ungeliebten Verwahrungszeit ohne jeden gestalterischen Anspruch verkommen“ (Walkenhorst, 2013, S. 56) dürfen. Sein Ansatz, den Arrest als Bildungseinrichtung zu denken, ist hier von besonderer Plausibilität, da, wie beschrieben, mehr als die Hälfte der Betroffenen bei Arrestantritt angaben, Schüler*innen zu sein. Die Verbüßung von Jugendarrest statt des Schulbesuchs aus Anlass früheren Fernbleibens vom Unterricht aber erscheint durch keinen noch so gut gestalteten Jugendarrest ernsthaft zu rechtfertigen zu sein. Es bleibt trotz des jahrelangen Wirkens von Philipp Walkenhorst noch viel zu tun im Feld (nicht nur des Jugendarrests), praktisch und forschend. Mit unserem Dank für sein bisheriges immer anregendes, gern kritisch querdenkendes, gleichzeitig praktisch konstruktives Wirken verbindet sich daher der Wunsch, dass Philipp Walkenhorst sich auch nach seiner Emeritierung in diesem Feld noch lange mit der ihm eigenen Expertise und Leidenschaft einbringt.
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Der Erziehungsauftrag im Jugendstrafvollzug Frank Arloth & Tobias Witzigmann
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Erziehung als Ziel und Aufgabe des Jugendstrafvollzugs
„Der Vollzug von Freiheitsstrafe muss auf das Ziel ausgerichtet sein, dem Inhaftierten ein künftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen“1. Diese bundesverfassungsgerichtliche Vorgabe gilt unabhängig davon, ob der Vollzug nach Maßgabe der Regelungen für den Erwachsenen- oder den Jugendstrafvollzug erfolgt. Die häufig mit dem Begriff der Resozialisierung2 umschriebene soziale Integration der Inhaftierten, die insbesondere auch dem Schutz der Allgemeinheit nach Haftentlassung dient, stellt dabei nicht lediglich eine Zielvorgabe, sondern – verstanden als positive Spezialprävention – zugleich eine Aufgabe dar. Als solche wird sie durch die staatliche Aufgabe ergänzt, die Allgemeinheit während der Zeit der Inhaftierung durch eine sichere Unterbringung sowie sorgfältige Beaufsichtigung der Gefangenen vor weiteren Straftaten zu schützen (negative Spezialprävention).3 Auch insoweit unterscheiden sich Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug nicht wesentlich.4 Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass der Jugendstrafvollzug maßgeblich durch den Erziehungsauftrag geprägt ist. Ebenso wie die Resozialisierung muss auch der Erziehungsauftrag gleichermaßen als Ziel und Aufgabe verstanden werden.5 Resozialisierung und Erziehungsauftrag sind eng miteinander verknüpft: Erziehung stellt letztlich vor allem ein besonderes Mittel der Resozialisierung dar und erzieherische Maßnahmen im Jugendstrafvollzug sollen die jungen Gefangenen primär6 dazu befähigen, künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen. 1 BVerfG NJW 2006, S. 2093 (2095); BVerfG, Beschluss vom 18.09.2019, 2 BvR 1165/19, juris Rn. 16. 2 Bei jungen Gefangenen ist der Begriff der „(Nach-)Sozialisierung“ häufig treffender, s. u. Ziff. 3.3. 3 Um ein Vollzugsziel handelt es sich hierbei nach zutreffender Auffassung nicht; zur Unterscheidung zwischen Ziel und Aufgabe s. Arloth/Krä, 2017, § 2 StVollzG Rn. 10. 4 Kontrovers diskutiert wird allerdings das Verhältnis der beiden Aufgaben. In den einschlägigen landesgesetzlichen Regelungen stößt man insofern auf unterschiedliche Akzentuierungen (vgl. Schneider, 2010, S. 97 ff.). Sachgerecht erscheint es, im Bereich des Erwachsenenvollzugs die Resozialisierung und den Schutz der Allgemeinheit als gleichrangige Aufgaben zu betrachten, vgl. Arloth/Krä, 2017, § 2 StVollzG Rn. 10 sowie Art. 2 BayStVollzG Rn. 1. Im Jugendstrafvollzug tritt hingegen die Resozialisierung durch Erziehung in den Vordergrund, BeckOK-Arloth, Art. 121 Bay-StVollzG Rn. 1; Eisenberg, 2018, § 92 JGG Rn. 26. 5 BeckOK-Arloth, Art. 121 BayStVollzG Rn. 1. 6 Zur Legitimität etwaiger darüber hinausreichender Ziele s. u. Ziff. 3.2.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_9
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In seiner Grundsatzentscheidung zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für den Jugendstrafvollzug vom 31. Mai 2006 hat das Bundesverfassungsgericht dem – damals noch in § 91 JGG alter Fassung verankerten – Erziehungsziel Verfassungsrang eingeräumt.7 Daran anknüpfend entschieden sich nach der Föderalismusreform sämtliche Länder, die Erziehung junger Gefangener als wesentliches Ziel bzw. zentralen Auftrag des Jugendstrafvollzugs beizubehalten.8 Am (weitgehenden) Gleichlauf von Sanktionierung und Vollzug wurde damit festgehalten: Für den Bereich der Sanktionierung normiert § 2 Abs. 1 JGG, dass das primäre Ziel der Verhängung jugendstrafrechtlicher Sanktionen darin besteht, erneuten Straftaten entgegenzuwirken, wobei zu diesem Zweck die Rechtsfolgen und das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten sind. 2
Kritik am Erziehungsgedanken
In der Literatur wird die Bedeutung des Erziehungsgedankens für den Jugendstrafvollzug vielfach hervorgehoben9 und auch der Bundesgerichtshof hat mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass der Jugendstrafvollzug der „Gesamterziehung“ des Verurteilten diene10. Ungeachtet der verbreiteten Zustimmung gibt es jedoch seit jeher auch Kritik am Erziehungsgedanken.11 So wird teils behauptet, aufgrund der im Jugendstrafvollzug herrschenden Zwangssituation sei eine echte, den Maßstäben der Pädagogik genügende Erziehung überhaupt nicht möglich.12 Überdies wird verbreitet der Vorwurf erhoben, ein am Erziehungsgedanken ausgerichteter Jugendstrafvollzug knüpfe einseitig an (vermeintliche) Defizite der jungen Gefangenen an, die bereits vor der Inhaftierung zu einer Stigmatisierung geführt hätten. Geboten sei es stattdessen, die vorhandenen Fähigkeiten und Begabungen der Gefangenen zu entdecken und zu fördern.13 Verschärfter Kritik sieht sich der Erziehungsgedanke als Leitbild des Jugendstrafvollzugs ausgesetzt, sofern es um junge Gefangene geht, die bereits das Erwachsenenalter erreicht haben. Ins Feld geführt werden insofern vor allem verfassungsrechtliche Bedenken. Die Erziehung von (mittlerweile) Erwachsenen greife in unzulässiger Weise in deren allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. 7
BVerfG NJW 2006, S. 2093 (2095). Überblick bei Schneider, 2010, S. 97 ff.; vgl. auch Ostendorf, 2016a, § 1 Rn. 16 ff. Laubenthal, 2019, Rn. 867; Sußner, 2009, S. 68 ff. 10 BGH NStZ-RR 2015, S. 155. 11 Umfassend zu den einzelnen Kritikpunkten: Kreideweiß, 1993, S. 27 ff. 12 Besonders drastisch Nickolai, 2013, S. 371: „Das Instrument des Jugendstrafvollzugs kann pädagogischem Handeln keinen adäquaten Raum bieten. […] Der Jugendstrafvollzug ist eine Institution, die physisch und psychisch Gewalt ausübt […]“. 13 Eisenberg, 2018, § 92 JGG Rn. 34; Walter, 2006, S. 93 (95). 8 9
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V. m.. Art. 1 Abs. 1 GG) ein.14 Erwachsene hätten das Recht, ausschließlich selbstbestimmt über das Ob und Wie ihrer persönlichen Entwicklung zu entscheiden. Eine ganz ähnliche Kontroverse wird im Bereich des Jugendstrafrechts geführt, wenn es um die Sanktionierung von Täterinnen und Tätern geht, die zwar gemäß § 1 JGG nach Jugendstrafrecht zu ahnden sind, im Verurteilungszeitpunkt das 21. Lebensjahr jedoch bereits vollendet haben: Umstritten ist, ob der Erziehungsgedanke in derartigen Fällen im Rahmen der Strafzumessung überhaupt noch Berücksichtigung finden darf. Von der Rechtsprechung wurde dies bislang grundsätzlich bejaht, wenngleich konzediert wurde, dass erzieherische Aspekte mit fortschreitendem Alter des bzw. der Angeklagten an Bedeutung verlören.15 In der Literatur gab es hingegen schon immer gänzlich ablehnende Stimmen.16 Durch zwei obiter dicta des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in Beschlüssen vom 20. August 2015 sowie vom 8. März 201617 hat der Streit neue Aktualität erhalten: „Insbesondere auch verfassungsrechtliche Vorgaben“ – so die Richter – könnten Anlass dazu geben, „die bisherige Rechtsprechung dahin weiter zu entwickeln, dass bei der Verhängung von Sanktionen gegen Straftäter, die zum Zeitpunkt ihrer Verurteilung bereits das 21. Lebensjahr vollendet haben und im strafrechtlichen Sinne als erwachsen gelten, der Erziehungsgedanke nicht mehr nur von geringem Gewicht sein kann, sondern insgesamt kein taugliches Strafzumessungskriterium mehr.“ Mit Blick auf § 89b Abs. 1 S. 2 JGG könne dies „jedenfalls für solche Täter“ gelten, die im Zeitpunkt der Verurteilung „das 24. Lebensjahr vollendet haben und deren Jugendstrafe deshalb regelmäßig im Strafvollzug für Erwachsene zu vollziehen ist“.18 Während die dargestellten Erwägungen des 3. Strafsenats in der Literatur auf ein geteiltes Echo stießen19, hat der 2. Strafsenat in einem Urteil vom 29. November 2017 deutlich gemacht, dass er keinen Anlass sieht, von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen.20 Die Tragweite der aufgeworfenen Frage, ob der Jugendstrafvollzug auch hinsichtlich erwachsener Gefangener der Erziehung dienen darf, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, welche Strafen nach den gesetzlichen Vorgaben in Jugendstrafvollzugsanstalten vollzogen werden und wie sich die Altersstruktur der Gefangenen dort darstellt: Grundsätzlich werden sämtliche Jugendstrafen nach Maßgabe der jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften in Einrichtungen des Jugendstrafvollzugs vollzogen (vgl. § 17 Abs. 1 JGG), wobei die Verhängung einer Jugendstrafe bekanntlich 14
Markert, 2012, S. 139; Ostendorf, 2016a, § 1 Rn. 25; Sußner, 2009, S. 69. BGH NStZ 2006, S. 587 (588). 16 Eisenberg, 2018, § 17 JGG Rn. 34b; Ostendorf, 2016b, Grundlagen zu §§ 1 und 2 JGG, Rn. 4. 17 NStZ 2016, S. 101 u. S. 680. 18 BGH NStZ 2016, S. 101 (102). 19 Zustimmend Bachmann, 2019, S. 759 (761 ff.); ablehnend Beulke, 2017, S. 403 ff. 20 BGH NStZ 2018, S. 662 (664). 15
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bei sämtlichen Straftäterinnen und Straftätern in Betracht kommt, die im Zeitpunkt der Tat das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten (§§ 1 Abs. 1 und Abs. 2, 17 Abs. 1, 105 Abs. 1 JGG).21 Mit Vollendung des 18. Lebensjahres kann der Jugendrichter in seiner Funktion als Vollstreckungsleiter (§ 82 Abs. 1 Satz 1 JGG) jedoch im Einzelfall anordnen, dass (der Rest) eine(r) Jugendstrafe nach den Vorschriften des Strafvollzugs für Erwachsene vollzogen wird, sofern sich der Verurteilte nicht für den Jugendstrafvollzug eignet (§ 89b Abs. 1 Satz 1 JGG). Es handelt sich bereits dem Wortlaut nach um eine – restriktiv zu handhabende – Ausnahmevorschrift.22 Mit Vollendung des 24. Lebensjahres wird eine entsprechende Anordnung hingegen zum gesetzlich vorgesehenen Regelfall, § 89b Abs. 1 Satz 2 JGG.23 Auch Freiheitsstrafen, die nach allgemeinem Strafrecht verhängt worden sind, dürfen im Einzelfall gemäß § 114 JGG in Einrichtungen für den Vollzug der Jugendstrafe vollzogen werden, solange der Verurteilte das 24. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und sofern er sich für den Jugendstrafvollzug eignet.24 Das System Strafvollzug stellt sich mithin bei jungen Gefangenen als deutlich durchlässiger dar, als die starren Reifestufen des Sanktionenrechts erwarten lassen. Statistisch betrachtet hat die weit überwiegende Mehrheit der Gefangenen in Einrichtungen des Jugendstrafvollzugs das Erwachsenenalter bereits erreicht. Zum 31. März 2018 waren bundesweit rund 11,89 % dieser Gefangenen Jugendliche (14-17 Jahre), circa 46,88 % Heranwachsende (18-20 Jahre) und etwa 41,23 % hatten das 21. Lebensjahr bereits vollendet.25 Die Quote der Minderjährigen liegt seit Mitte der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts konstant unterhalb von 15 %.26 In weiten Teilen erweist sich der Jugendstrafvollzug somit de facto als „Jungerwachsenenvollzug“. Wäre eine Resozialisierung junger Erwachsener mit dem Mittel der Erziehung im Jugendstrafvollzug ein illegitimes oder gar verfassungswidriges Ziel, hätte dies folglich – jedenfalls mit Blick auf die Zahl der Betroffenen – überaus 21
Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch § 32 JGG, wonach für mehrere Straftaten, die gleichzeitig abgeurteilt werden und auf die teils Jugendstrafrecht und teils allgemeines Strafrecht anzuwenden wäre, einheitlich das Jugendstrafrecht gilt, wenn das Schwergewicht bei den Straftaten liegt, die nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären. 22 Zum 31. März 2018 befanden sich bundesweit lediglich 110 Gefangene im Alter zwischen 18 und 21 Jahren aufgrund einer entsprechenden Anordnung im Erwachsenenstrafvollzug, s. Statistisches Bundesamt, 2018, Fachserie 10 Reihe 4.1, S. 19 (www.destatis.de). 23 Insgesamt befanden sich zum 31. März 2018 bundesweit 836 Gefangene im Alter zwischen 18 und 25 Jahren aufgrund einer Anordnung gemäß § 89b Abs. 1 GG im Erwachsenenstrafvollzug, s. Statistisches Bundesamt, 2018, Fachserie 10 Reihe 4.1, S. 19 (www.destatis.de). 24 Zum 31. März 2018 befanden sich bundesweit lediglich 24 Gefangene nach Maßgabe dieser Norm in einer Einrichtung des Jugendstrafvollzugs, s. Statistisches Bundesamt, 2018, Fachserie 10 Reihe 4.1, S. 20 (www.destatis.de). 25 Statistisches Bundesamt, 2018, Fachserie 10 Reihe 4.1, S. 13 (www.destatis.de). In bayerischen Jugendvollzugsanstalten waren am 31. August 2019 etwa 13 % der Gefangenen Jugendliche, rund 52 % Heranwachsende und circa 35 % hatten das 21. Lebensjahr bereits vollendet. 26 Ostendorf, 2016a, Vorbemerkungen Rn. 14; vgl. auch Eisenberg, 2018, § 92 JGG Rn. 14.
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weitreichende Folgen. Aber vermag diese Auffassung wirklich zu überzeugen? Zur Beantwortung dieser Frage erscheint es zunächst unverzichtbar, das abstrakte Konzept des „Erziehungsauftrags“ mit Blick auf seine Bedeutung im Jugendstrafvollzug zu konkretisieren und mit Leben zu füllen. 3
Inhalt des Erziehungsauftrags im Jugendvollzug
Wer sich mit dem Begriff der Erziehung näher befasst, stößt auf ein überaus breites Spektrum von Definitionen und Interpretationen durch Pädagoginnen und Pädagogen, Psychologinnen und Psychologen, Soziologinnen und Soziologen und Juristinnen und Juristen.27 Setzt man sich mit diesen im hiesigen Kontext auseinander, sollte zunächst bedacht werden, dass sich Erziehung im Rahmen des Jugendstrafvollzugs naturgemäß deutlich von anderen Erziehungsformen, insbesondere der elterlichen Erziehung unterscheidet. Dies folgt primär aus den besonderen Umständen des Vollzugs, die sich aus dem Charakter einer Justizvollzugsanstalt als „totale Institution“ ergeben, beruht aber auch auf (verfassungs-)rechtlichen Vorgaben und Beschränkungen im Hinblick auf die Erziehungsziele und -methoden. 3.1
Ausgangspunkt
Die Gefangenen in den Einrichtungen des Jugendstrafvollzugs befinden sich „biologisch, psychisch und sozial in einem Stadium des Übergangs, das typischerweise mit Spannungen, Unsicherheiten und Anpassungsschwierigkeiten, häufig auch in der Aneignung von Verhaltensnormen, verbunden ist“.28 Die Identitätsund Persönlichkeitsentwicklung sowie die Sozialisation sind mithin noch nicht abgeschlossen. Dieser Prozess dauert anerkanntermaßen nicht nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres an, sondern setzt sich auch bei jungen Erwachsenen fort und verläuft zudem höchst individuell. Insofern unterscheiden sich junge Gefangene nicht von anderen jungen Menschen. Charakteristisch für junge Gefangene ist hingegen, dass im Rahmen ihrer bisherigen Sozialisation Fehlentwicklungen eingetreten sind, die sich sodann in der Begehung von (schweren bzw. zahlreichen) Straftaten geäußert haben.
27 Vgl. Eisenberg, 2018, § 2 JGG Rn. 5 ff.; Walkenhorst, 2015, S. 482 ff. Teils wird die jugendstrafrechtlich intendierte Erziehung daher als Aliud zur familiären Erziehung betrachtet, s. Walter & Wilms, NStZ 2004, 600 (602). 28 BVerfG NJW 2006, S. 2093 (2095).
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Die noch nicht abgeschlossene Persönlichkeitsentwicklung sowie die bestehenden Sozialisationsdefizite bilden die maßgeblichen Anknüpfungspunkte für den Erziehungsauftrag im Jugendstrafvollzug. 3.2
Ziele
Wie eingangs bereits erwähnt, sollen erzieherische Maßnahmen die jungen Gefangenen dazu befähigen, künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen. Dass hierin das vorrangige Ziel der Erziehung im Jugendstrafvollzug besteht, ist unzweifelhaft. Kontrovers diskutiert wird demgegenüber bereits seit Jahren, ob die Verfolgung weiterer Erziehungsziele verfassungsrechtlich zulässig und sachdienlich ist.29 Hilfreich erscheint es insoweit, das Augenmerk auf die soeben definierten Anknüpfungspunkte für den Erziehungsauftrag im Jugendstrafvollzug zu richten: Bei den jungen Gefangenen handelt es sich um Menschen, deren bisherige Sozialisation von Fehlentwicklungen geprägt ist, welche dazu geführt haben, dass sich kriminelle Verhaltensmuster verfestigt haben. Gleichzeitig dauern der Sozialisationsprozess sowie die Persönlichkeitsentwicklung an. Durch die Inhaftierung greift der Staat in massiver Weise in diesen Entwicklungsprozess ein. Hieraus resultiert – was auch das Bundesverfassungsgericht betont30 – eine besondere, gesteigerte Verantwortung für dessen Fortgang. Mit einer bloßen Ausrichtung des Jugendstrafvollzugs auf das Ziel der Legalbewährung würde der Staat dieser Verantwortung nicht gerecht. Denn der alleinige Blick auf die der Inhaftierung unmittelbar zugrunde liegende Straffälligkeit, deren Wiederholung es zu verhindern gilt, ist viel zu beengt: Er blendet die Umstände aus, welche die Begehung von Straftaten in der Vergangenheit gefördert haben und auch zukünftig zu begünstigen drohen. Soll das Ziel der Legalbewährung ernsthaft und nachhaltig verfolgt werden, müssen einerseits die eine Straffälligkeit begünstigenden Faktoren zurückgedrängt und andererseits ein straffreies Leben fördernde Entwicklungen angestoßen bzw. unterstützt werden. Möglich ist dies jedoch nur, wenn bei der Ausgestaltung des Vollzugs die gesamte, in der Entwicklung befindliche Persönlichkeit der jungen Gefangenen und ihre soziale Verankerung in der Gesellschaft in den Blick genommen werden. Geboten ist mithin eine umfassende Lebenshilfe. Deren Ziel muss darin bestehen, die jungen Gefangenen zu befähigen, ein Leben als selbstverantwortliche Personen innerhalb unserer Gemeinschaft zu führen.31 Nur wenn dieses weitergehende Ziel angestrebt wird, bestehen regelmäßig auch hinreichende 29 Ablehnend Ostendorf, 2016a, § 1 Rn. 24; vert. zum Meinungsstand Kreideweiß, 1993, S. 37 ff.; Schwirzer, 2008, S. 43 ff. 30 BVerfG NJW 2006, S. 2093 (2095). 31 Kreideweiß, 1993, S. 41.
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Erfolgsaussichten, das Primärziel, eine erneute Straffälligkeit zu verhindern, dauerhaft zu erreichen. Im Interesse einer wirksamen Rückfallprävention ist es also bei jungen Gefangenen geboten, die Entwicklung hin zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern. Dies wiederum ist schwerlich möglich, ohne die grundlegenden Werte menschlichen Zusammenlebens zu vermitteln und auf diese Weise einen Orientierungsrahmen zur Verfügung zu stellen. Wer hinter diesem Ansatz eine zwangsweise, ideologisierte Umerziehung zu „tadelfreien“, unkritischen Duckmäusern wittert,32 unterliegt einem schweren Irrtum. Vielmehr geht es schlicht darum, dass die Verurteilten lernen, die Grundwerte, die das Zusammenleben in der Rechtsgemeinschaft ermöglichen, anzuerkennen. Welche Grundwerte dies sind, ergibt sich hinreichend deutlich aus der Verfassung. Denn auch das Grundgesetz ist nicht wertneutral, sondern etabliert vielmehr – insbesondere durch die Grundrechte – eine objektive Wertordnung.33 Dieses Wertsystem findet – so das Bundesverfassungsgericht – seinen Mittelpunkt in der „innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde.“34 Nichts liegt daher näher, als die staatliche Erziehung junger Gefangener ebenfalls an diesem Leitbild auszurichten. Das hier propagierte Erziehungsziel einer selbstverantwortlichen, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit, das im Übrigen in § 1 Abs. 1 SGB VII einfachgesetzlich verankert ist, ist folglich auch aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden; mehr noch: es wird durch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes intendiert.35 Folgerichtig erscheint vor diesem Hintergrund letztlich auch, wenn etwa in Art. 121 Satz 2 BayStVollzG – in Anlehnung an die frühere Fassung des § 91 Abs. 1 JGG – ein „rechtschaffener Lebenswandel in sozialer Verantwortung“ als Erziehungsziel deklariert wird.36 Denn im Kern bedeutet dies nichts anderes, als die am Leitbild verfassungsrechtlicher Werte orientierte Entwicklung einer selbstverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Erziehung beinhaltet – wie nicht zuletzt Walkenhorst betont – stets die „ambivalente […] Doppelaufgabe von Sozialisation und Personalisation, das heißt den Versuch, in unserer Gesellschaft geltende Normen, Werte und Regel bewusst zu machen bzw. zu vermitteln („Sozialisation“) und gleichzeitig die Verselbständigung, Individualität und Unabhängigkeit der jungen Menschen zu fördern („Personalisation“).37
32
Kritisch etwa Ostendorf, 2016a, § 1 Rn. 24; Sußner, 2009, S. 70 f. St. Rspr. seit BVerfGE 7, 198 (205); zuletzt in BVerfGE 148, 267. 34 BVerfGE 7, 198 (205). 35 Ebenso Schwirzer, 2008, S. 35. 36 Im Ergebnis ebenso Schneider, 2010, S. 84ff; anders Eisenberg, 2007, S. 152 (153); ob Gleiches für die vielfältigen in § 2 Abs. 2 JVollzGB IV BW sowie § 3 Abs. 1 Satz 3 SächsJStVollzG genannten Erziehungsziele gilt, erscheint fragwürdig. 37 Walkenhorst, 2017, S. 33 (39). 33
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Methoden
Aus dem soeben definierten, über die bloße Legalbewährung hinausgehenden Erziehungsziel folgt, dass die erzieherischen Maßnahmen primär am jeweiligen Entwicklungsstand der betroffenen jungen Gefangenen, ihrem individuellen Förderungsbedarf, ihrer Persönlichkeit und darin verfestigter devianter Verhaltensmuster auszurichten sind. Um die Entwicklung einer differenzierten, stabilen Persönlichkeitsstruktur zu ermöglichen, bedarf es zweifelsohne der Förderung. In den Blick zu nehmen sind hierbei regelmäßig die kognitiven, sozialen und personalen Kompetenzen der jungen Gefangenen. Zu fördern sind also etwa die Konzentrations- und Kommunikationsfähigkeit, die soziale Handlungskompetenz, die Fähigkeit zu Toleranz und Empathie, die Teamfähigkeit, die Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls sowie das Erlernen von Strategien und Techniken, um Konflikte in sozial anerkannter Weise zu bewältigen und auf diese Weise mit Rückschlägen und Misserfolgen angemessen umzugehen. Die jungen Gefangenen sind beim Erwerb derjenigen schulischen und beruflichen Qualifikationen zu unterstützen, die es ihnen ermöglichen, eine ihren Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bedürfnissen entsprechende Arbeit zu verrichten, um sich eine materielle Lebensgrundlage zu sichern und soziale Anerkennung zu finden. Nicht zuletzt gilt es, das Interesse für eine altersund sozialadäquate Freizeitgestaltung zu wecken und zu fördern. Auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kann der Staat seiner gesteigerten Verantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Gefangenen nur durch eine Vollzugsgestaltung gerecht werden, die „in besonderer Weise auf Förderung – vor allem auf soziales Lernen sowie die Ausbildung von Fähigkeiten und Kenntnissen, die der beruflichen Integration dienen – gerichtet“ ist.38 Bisweilen wurde und wird die Förderung der jungen Gefangenen als hinreichendes (und damit auch einzig verhältnismäßiges) Mittel angesehen, um eine positive Persönlichkeitsentwicklung und damit ein künftiges Leben ohne Straftaten zu erreichen.39 Diese Sichtweise verkennt jedoch, dass bei den in Jugendstrafvollzugseinrichtungen Inhaftierten in aller Regel nicht allein die Notwendigkeit besteht, bereits vorhandene Fähigkeiten und Anlagen zu Tage zu fördern und fortzuentwickeln. Wie dargelegt, ist die bisherige Sozialisation junger Gefangener typischerweise von Fehlentwicklungen gekennzeichnet. Die ganz überwiegende Mehrheit weist massive Defizite auf, die häufig – so das Bundesverfassungsgericht zutreffend – in „besonders dichtem und oft auch besonders offensichtlichem Zusammenhang“ mit dem Umfeld und den Umständen stehen, welche die
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BVerfG NJW 2016, S. 2093 (2095). Vgl. §§ 3 und 5 der Entwürfe des Bundesministeriums der Justiz für ein Jugendstrafvollzugsgesetz vom 28. April 2004 sowie 7. Juni 2006; Ostendorf, 2016a, § 1 Rn. 24. 39
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Betroffenen geprägt haben.40 Nahezu alle jungen Gefangenen stammen aus desolaten Familienverhältnissen und wurden durch ihr Elternhaus und ihr soziales Umfeld mit Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Suchtmittelmissbrauch und Gewalt konfrontiert. Vielfach war die bisherige Erziehung – soweit hiervon überhaupt die Rede sein kann – von Gleichgültigkeit, übermäßiger Strenge oder erheblicher Inkonsistenz sowie von emotionaler Vernachlässigung geprägt. Auch und vor allem infolge dieser Rahmenbedingungen weisen viele junge Gefangene eine rudimentäre schulische oder berufliche Vorbildung auf, sind alkohol- oder drogenabhängig, in ihren kommunikativen und kognitiven Möglichkeiten beeinträchtigt sowie sozial und kulturell entwurzelt. Hinzu kommt bei vielen eine erhebliche Neigung zu aggressivem Verhalten, eine geringe Selbst- und Impulskontrolle, eine erhebliche emotionale Labilität sowie ein Mangel an Empathie. Führt man sich dies vor Augen, wird klar, dass es im Jugendstrafvollzug häufig streng genommen nicht um Resozialisierung, sondern um Nachsozialisierung geht.41 Die teils vertretene Auffassung, die genannten Defizite, die bereits vor Inhaftierung häufig zu sozialer Ausgrenzung geführt hätten, sollten im Rahmen der Vollzugsgestaltung im (vermeintlichen) Interesse der jungen Gefangenen in den Hintergrund gerückt oder gar ausgeblendet werden,42 überzeugt nicht. Um eine positive Persönlichkeitsentwicklung ernsthaft und nachhaltig zu unterstützen, erscheint es vielmehr geboten, vorhandene Defizite sowie erfolgte Fehlentwicklungen zu identifizieren und klar zu benennen, um sodann – unter Berücksichtigung der vorhandenen Fähigkeiten und Begabungen des Betroffenen – wirksam gegensteuern zu können. Ohne intensive Auseinandersetzung mit den individuellen Ursachen devianten Verhaltens, aber auch den Folgen begangener Straftaten für die Opfer sind die Chancen deutlich vermindert, das Primärziel der Legalbewährung zu erreichen. Der den Jugendstrafvollzug prägende Erziehungsauftrag umfasst – neben der bloßen Förderung vorhandener Fähigkeiten und Potentiale – auch diese Komponente: erst durch das Erkennen und die Beseitigung vorhandener Defizite werden die grundlegenden Voraussetzungen für ein selbstverantwortliches Leben und ein soziales Miteinander geschaffen. Ausgehend von einem derartigen Begriffsverständnis erübrigt sich die häufig zu beobachtende, von Walkenhorst als „fachwissenschaftlicher Unsinn“ bezeichnete43 Praxis, „Förderung“ und „Erziehung“ nebeneinander oder gegenüber zu stellen.44 Schließlich folgt aus dem Erziehungsauftrag eine – in allen Ländern gesetzlich verankerte45 – Mitwirkungspflicht der jungen Gefangenen, die ein wesent40
BVerfG NJW 2016, S. 2093 (2095). Statt vieler: Kreideweiß, 1993, S. 24. 42 Eisenberg, 2007, S. 155; Tondorf & Tondorf, 2006, S. 242. 43 Walkenhorst, 2016, S. 473. 44 In diesem Sinne etwa Markert, 2012, S. 138 ff. 45 In Bayern regelt Art. 123 Abs. 2 BayStVollzG die Pflicht der jungen Gefangenen, an der Erfüllung des Erziehungsauftrags mitzuwirken. 41
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liches Unterscheidungsmerkmal zum Erwachsenenvollzug darstellt.46 Es handelt sich um die Kehrseite der staatlichen Pflicht, die konkrete Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs an der Persönlichkeit des jeweiligen Gefangenen auszurichten und diesem in hinreichendem Maße erzieherische Angebote zu unterbreiten. Abhängig von den individuellen erzieherischen Bedürfnissen kann die Mitwirkungspflicht insbesondere die Teilnahme an schulischen und beruflichen Maßnahmen, speziellen Maßnahmen zur Förderung der schulischen, beruflichen oder persönlichen Entwicklung sowie an Arbeit, arbeitstherapeutischer oder sonstiger Beschäftigung umfassen.47 Anders als teils angenommen48 ist eine derartige Pflicht verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden: Die mit ihr verbundene Beschränkung der Autonomie beruht auf der vorangegangenen Fehlentwicklung der jungen Gefangenen, die zeigt, dass diese gerade noch nicht in der Lage sind, ihre Interessen angemessen wahrzunehmen, sondern erst zu einer verantwortlichen Entscheidungsfindung befähigt werden müssen. Die – jedenfalls auf den ersten Blick – nachteilige Abweichung vom Erwachsenenstrafvollzug beruht darauf, dass der Erziehungsauftrag insgesamt eine andersartige Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs gebietet.49 Auch mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot bestehen keine Bedenken, wenn man berücksichtigt, dass Verstöße gegen die allgemeine Pflicht zur Mitwirkung anerkanntermaßen keine disziplinarische Ahndung nach sich ziehen können.50 Selbstverständlich entbindet die Mitwirkungspflicht der jungen Gefangenen die Vollzugsbediensteten nicht von der Pflicht, mit diesen immer wieder in Dialog zu treten, ihnen die angebotenen erzieherischen Maßnahmen zu erläutern, ihr Interesse zu wecken und sie – nicht zuletzt mit Hilfe geeigneter Anreize – zur Wahrnehmung adäquater Angebote zu motivieren. Dies gilt insbesondere auch für diejenigen Gefangenen, die zunächst jedwede Mitwirkung verweigern. Unter dieser Prämisse erscheint die Auferlegung einer Pflicht zur Mitwirkung auch aus pädagogischer Sicht keinesfalls kontraindiziert:51 Es lässt sich schlicht nicht leugnen, dass viele der jungen Gefangenen (zunächst) nicht in der Lage sind, die mit den erzieherischen Maßnahmen verbundenen Chancen für ihre weitere Entwicklung selbst zu erkennen und auf dieser Grundlage verantwortlich über ihre Teilnahme zu entscheiden. Nicht verkannt werden darf schließlich, dass die elterliche oder 46 § 4 Abs. 1 Satz 1 StVollzG betont lediglich die Notwendigkeit der Mitwirkung des Gefangenen zur Erreichung des Vollzugsziels (vgl. Arloth & Krä, 2017, § 4 Rn. 2); Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG enthält einen bloßen Appell zur Mitwirkung. 47 Eine entsprechende Konkretisierung enthält Art. 123 Abs. 3 Satz 1 BayStVollzG. 48 Vgl. etwa Markert, 2012, S. 153 ff.; Ostendorf, 2016a, § 1 Rn. 29 ff. 49 Es handelt sich mithin um ein „Aliud“, weshalb keine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung und damit kein Verstoß gegen ein etwaiges, teils bejahtes „Schlechterstellungsverbot“ anzunehmen ist. 50 BeckOK-Arloth, Art. 123 BayStVollzG Rn. 3; Schneider, 2010, S. 96. 51 Anders Laubenthal, 2019, Rn. 869; Sußner, 2009, S. 63 ff.
Der Erziehungsauftrag im Jugendstrafvollzug
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schulische Erziehung auch außerhalb des Vollzugs nicht ohne jeden Zwang auskommt. 4
Erziehung Erwachsener im Jugendstrafvollzug?
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG). Mit dieser lakonischen Feststellung vereint das Grundgesetz das elterliche Erziehungsrecht und die damit korrespondierende Pflicht zum Rechtsinstitut der Elternverantwortung.52 Oberste Richtschnur für deren Wahrnehmung ist das Kindeswohl.53 Da die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Elternrechts in erster Linie dem Kindeswohl dient, stößt es in sachlicher Hinsicht an seine Grenze, sofern dieses gefährdet ist. Sind die Eltern – und sei es auch schuldlos – nicht in der Lage, das Kindeswohl in hinreichendem Maße zu gewährleisten, ist der Staat berechtigt und verpflichtet, im Rahmen seines „Wächteramts“ (vgl. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) als „Erziehungshelfer“54 einzugreifen, soweit dies erforderlich ist, um eine drohende, erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes abzuwenden.55 Die Begehung schwerer oder wiederholter Straftaten durch Jugendliche zeugt in aller Regel von einer akuten, erheblichen Gefährdung des Kindeswohls, das ein staatliches Eingreifen in das elterliche Erziehungsrecht rechtfertigt. Dies gilt insbesondere bei Verhängung einer Jugendstrafe wegen „schädlicher Neigungen“ (§ 17 Abs. 1 Alt. 1 JGG), die nur in Betracht kommt, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel feststellbar sind und eine längere Gesamterziehung notwendig erscheint.56 Aber auch Täter und Täterinnen, die wegen „Schwere der Schuld“ (§ 17 Abs. 1 Alt. 2 JGG) mit einer Jugendstrafe belegt werden, weisen regelmäßig signifikante Sozialisationsdefizite auf, die eine Gefährdung des Kindeswohls begründen.57 Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Auch bei jugendlichen Straf-
52 BVerfG NJW 1981, S. 1201; BVerfG NJW 2003, S. 2151 (2153); BVerfG NJW 2008, S. 1287 (1288); BeckOK-Uhle, 2018, Art. 6 GG Rn. 48. 53 BVerfG NJW 1982, S. 1379 (1381); BVerfG NJW 2008, S. 1287 (1288); BVerfG NJW 2013, S. 847 (849); Maunz/Dürig-Badura, 2019, Art. 6 GG Rn. 94 u. 110. 54 BVerfG NJW 1988, S. 45 (47). 55 Einfachgesetzlich bringt dies insbesondere § 1666 BGB zum Ausdruck. Gerechtfertigt ist eine staatliche Intervention nur, wenn eine „schwerwiegende Beeinträchtigung“ des Kindeswohls droht. Ist dies der Fall, gilt es überdies, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten; vgl. BVerfG NJW 1968, S. 2233 (2235); BVerfG NJW 1982, S. 1379 (1380), BVerfG NJW 2014, S. 2936f. 56 BeckOK-Brögeler, § 17 JGG Rn. 5 ff. und 14; MüKo-StGB-Radtke, 2017, § 17 JGG Rn. 28 f., 31 ff. und 47 ff. 57 Vgl. BGH NStZ-RR 2016, S. 325 (326). Der Streit darüber, ob der Erziehungsgedanke bereits bei der Entscheidung über die Verhängung oder lediglich bei der Bemessung einer Jugendstrafe wegen
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täterinnen und Straftätern folgt aus dem Gebot eines effektiven, strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes die Notwendigkeit, wiederholte oder schwerwiegende Delinquenz mit Freiheitsentziehung zu sanktionieren.58 Diese ist bei jugendlichen Straftäterinnen und Straftätern jedoch zwangsläufig mit einem massiven Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht verbunden: Obgleich die Eltern über maßgebliche Vollzugsschritte zu unterrichten59 und in die Planung und Gestaltung des Vollzugs nach Möglichkeit einzubeziehen sind60, können sie ihre Erziehungsverantwortung während des Vollzugs einer Jugendstrafe naturgemäß nur in sehr eingeschränktem Umfang wahrnehmen. Diese Beschränkung des elterlichen Erziehungsrechts ist – ebenso wie der Eingriff in das Freiheitsrecht des Betroffenen – durch das Verfassungsgebot effektiven, strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes gerechtfertigt.61 Soweit also die Eltern ihre Erziehungsverantwortung infolge der Inhaftierung ihres Kindes nicht wahrnehmen können, ist der Staat im Rahmen seines „Wächteramts“ berechtigt und verpflichtet, gewissermaßen als „Erziehungshelfer“ im Interesse des Kindeswohls erzieherische Maßnahmen im Vollzug der Jugendstrafe zu ergreifen. Wie bereits erwähnt, wird nicht selten und teils ohne nähere Begründung behauptet, in zeitlicher Hinsicht ende das verfassungsrechtlich verbürgte Erziehungsrecht mit Erreichen der Volljährigkeit. Erzieherische Maßnahmen, die zu einem späteren Zeitpunkt erfolgten, griffen in nicht gerechtfertigter Weise in das allgemeine Persönlichkeitsrecht junger Erwachsener ein und seien daher verfassungswidrig.62 Dabei ist zunächst zu konstatieren, dass in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG lediglich der Begriff „Kinder“ Verwendung findet. Die konkrete Festlegung, unter welchen Voraussetzungen von einem Eintritt ins Erwachsenenalter auszugehen ist, in dessen Folge das Erziehungsrecht erlischt, hat der Verfassungsgeber mithin dem einfachen Gesetzgeber überlassen. Diesem steht ein Beurteilungsspielraum zu. Dass die Frage stets durch gesetzliche Festsetzung einer bestimmten Altersgrenze zu beantworten wäre, erscheint keineswegs zwingend. Eine entsprechende NotwenSchwere der Schuld Beachtung finden darf (vgl. BGH NStZ 2013, 658 (659); Bachmann, 2019, S. 759 f.; MüKo-StGB-Radtke, 2017, § 17 JGG Rn. 60 f.), ist insofern ohne Relevanz. 58 Zur verfassungsrechtlichen Legitimität der Jugendstrafe s. MüKo-StGB-Radtke, 2017, § 17 JGG Rn. 10 f. 59 Ein Informationsrecht der Eltern besteht zum Beispiel in der Regel bei Aufnahme ihres Kindes in eine Einrichtung des Jugendstrafvollzugs (vgl. Art. 128 Satz 3 BayStVollzG), bei geplanter Verlegung in eine andere Einrichtung (vgl. Art. 131 Abs. 4 Satz 2 BayStVollzG) sowie bei anstehender Entlassung (vgl. Art. 136 Abs. 1 Satz 3 BayStVollzG). 60 Vgl. Art. 126 Abs. 2 BayStVollzG sowie Art. 130 Abs. 2 BayStVollzG. 61 Vgl. BVerfG NJW 2003, S. 2004 (2005 f.), wonach das Verfassungsgebot strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes Eingriffe in das elterliche Erziehungsrecht im Rahmen des Jugendstrafverfahrens zu rechtfertigen vermag. 62 Markert, 2012, S. 139; Ostendorf, 2016a, § 1 Rn. 25; Sußner, 2009, S. 69; ebenso im Hinblick auf erzieherische Maßnahmen nach Vollendung des 21. Lebensjahres: Bachmann, 2019, S. 750 (761 ff.).
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digkeit besteht vielmehr nur, sofern dem Aspekt der Rechtssicherheit prioritäre Bedeutung zukommt.63 Bei primär historischer Auslegung des Art. 6 Abs. 2 GG liegt es nahe, mit Vollendung des 21. Lebensjahrs von einem Erlöschen des Erziehungsrechts auszugehen, da bei Ausarbeitung der Verfassung noch diese Altersgrenze einfachgesetzlich verankert war: Erst mit Wirkung zum 1. Januar 1975 wurde die Grenze für den Eintritt ins Erwachsenenalter in der Bundesrepublik auf 18 Jahre abgesenkt.64 Nicht zuletzt unter Hinweis auf diesen Aspekt hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1987 festgestellt, der Gesetzgeber habe seinen Handlungsspielraum nicht überschritten, indem er unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG auch bei Delinquenten, die im Tatzeitpunkt bereits das Heranwachsendenalter erreicht hatten (§ 1 Abs. 2 JGG), die Anwendung des Jugendstrafrechts angeordnet hat.65 In teleologischer Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass die verfassungsrechtliche Gewährleistung des (zuvörderst elterlichen) Erziehungsrechts in erster Linie dem Schutz des Kindes dient:66 Dieses bedarf des Schutzes und der Hilfe, „um sich zu einer eigenverantwortlichen Person innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht“67. Es liegt daher nahe, dass das Erziehungsrecht fortwirkt, solange die Entwicklung einer derartigen Persönlichkeit andauert und ohne fremde Unterstützung gefährdet erscheint. Wie lange dies der Fall ist, kann nicht mit Hilfe einer starren Altersgrenze, sondern nur individuell bestimmt werden, da der Reifungsprozess junger Menschen höchst unterschiedlich verläuft. Im Bereich des Jugendstrafvollzugs ist dabei zu berücksichtigen, dass bei jungen Straftäterinnen und Straftätern – wie dargelegt – regelmäßig Reifeverzögerungen zu konstatieren sind. Diesen Überlegungen hat der Gesetzgeber im Rahmen des § 89b JGG sowie des § 114 JGG Rechnung getragen. Jugendstrafen sind demnach bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres stets, zwischen dem 19. und dem 24. Lebensjahr regelmäßig und nach Vollendung des 24. Lebensjahres ausnahmsweise in Einrichtungen des Jugendstrafvollzugs zu verbüßen. Freiheitsstrafen, die nach Erwachsenenstrafrecht verhängt wurden, können – ausnahmsweise – bis maximal zur Vollendung des 24. Lebensjahres in Einrichtungen des Jugendstrafvollzugs vollzogen werden. Die Altersgrenzen dienen dabei – mit Ausnahme der letztgenannten – 63
Dies ist etwa der Fall, wenn es um den Eintritt der (vollen) Geschäftsfähigkeit (§§ 2, 106 BGB) geht. Gesetz zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters vom 31.07.1974, BGBl. I, S. 1713. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch der Umstand, dass das Kinder- und Jugendhilfegesetz jungen Menschen bis zur Vollendung des 26. Lebensjahres ein Recht auf Erziehung zubilligt (§§ 1 Abs. 1 i. V. m.. § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII). 65 BVerfG NJW 1988, S. 45 (47); zustimmend Bachmann, 2019, S. 759 (763); Schwirzer, 2008, S. 36 ff. 66 Maunz/Dürig-Badura, 2019, Art. 6 Rn. 95. 67 BVerfG NJW 1968, S. 2233 (2235); BVerfG NJW 2003, S. 2004 (2005). 64
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lediglich als Orientierungspunkte. Maßgeblich ist stets die einzelfallbezogen zu prüfende Eignung der Betroffenen für den Jugendstrafvollzug.68 Nach dem soeben Gesagten darf eine solche Eignung bei verfassungskonformer Auslegung der genannten Normen nur dann bejaht werden, wenn die Entwicklung des Betroffenen zu einer selbstverantwortlichen, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit noch nicht abgeschlossen ist, ohne Unterstützung in Form erzieherischer Maßnahmen gefährdet wäre und wenn derartige Maßnahmen Erfolg versprechen.69 Sofern die (vermeintliche) Verfassungswidrigkeit erzieherischer Maßnahmen gegenüber Volljährigen unter Hinweis auf deren allgemeines Persönlichkeitsrecht begründet wird, ist darauf hinzuweisen, dass dieses Grundrecht mitnichten erst mit Erreichen der Volljährigkeit zum Tragen kommt. Vielmehr begrenzen sich das (elterliche) Erziehungsrecht und das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kindes bereits ab dessen Grundrechtsmündigkeit gegenseitig.70 Das elterliche Erziehungsrecht wird dabei in gleichem Maße zurückgedrängt, in welchem die Fähigkeit des Kindes zu einem selbstbestimmten Leben in sozialer Verantwortung wächst und – korrespondierend hierzu – seine Hilfs- und Schutzbedürftigkeit abnimmt.71 Es kann kein Zweifel bestehen, dass dieser Aspekt auch bei erzieherischen Maßnahmen im Rahmen des Jugendstrafvollzugs zu berücksichtigen ist: Diese sind stets am individuellen Entwicklungsstand auszurichten. Weshalb jedoch für das – im Jugendstrafvollzug primär staatlich wahrgenommene – Erziehungsrecht ungeachtet der individuellen Persönlichkeitsentwicklung just mit Erreichen des 18. bzw. 21. Lebensjahres ausnahmslos kein Raum mehr sein soll, vermag nicht einzuleuchten. Maßgeblich muss – auch mit Blick auf das Primärziel der Legalbewährung – vielmehr sein, ob im konkreten Fall die Entwicklung zu einer selbstverantwortlichen, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit bereits so weit fortgeschritten ist, dass sie auch ohne fremde Unterstützung nicht mehr gefährdet erscheint.
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Jugendrichter bzw. Jugendrichterinnen handeln bei Entscheidungen gemäß § 89b JGG im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung, ohne von Weisungen der Justizbehörden abhängig zu sein, vgl. Ostendorf, 2016a, § 1 Rn. 10. 69 Gemäß Nr. 1 der Richtlinie zu § 114 JGG (Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz vom 14./15. April 1994, in Kraft getreten am 1. August 1994) ist maßgeblich, ob „die erzieherische Einwirkung in der Jugendstrafanstalt Erfolg […] verspricht“. Die Literatur folgt dem ganz überwiegend (statt aller BeckOK-Gertler, § 114 JGG Rn. 9; Eisenberg, 2018, § 89b JGG Rn. 3). Daneben ist zu berücksichtigen, ob von der Anwesenheit des Betroffenen in einer Jugendvollzugseinrichtung Nachteile für die Erziehung anderer Gefangener zu befürchten sind. 70 Maunz/Dürig-Badura, 2019, Art. 6 Rn. 30 und 135. 71 BVerfG NJW 1982, S. 1375 (1377); BVerfG NJW 1986, S. 3129 (3130); BeckOK-Uhle, 2018, Art. 6 GG Rn. 51.
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Fazit
Jede Begrifflichkeit, jedes Prinzip, mit dem uns der Gesetzgeber konfrontiert, kann letztlich erst Gegenstand einer zielführenden Auseinandersetzung sein, nachdem es im Wege der Normauslegung und -anwendung konkretisiert und mit Leben erfüllt wurde. Nichts anderes gilt auch für den Begriff der Erziehung, dessen sich der Gesetzgeber bedient hat, um ein zentrales Ziel und gleichzeitig eine wesentliche Aufgabe des Jugendstrafvollzugs festzulegen. Im Rahmen dieses Beitrags haben wir daher den Versuch unternommen, Ausgangspunkt, Ziele, Inhalte und Grenzen der Erziehung im Kontext des Jugendstrafvollzugs unter Berücksichtigung anerkannter Auslegungsmethoden zu konkretisieren. Dass hierbei auch etwaige verfassungsrechtliche Vorgaben und Auslegungsgrenzen zu berücksichtigen sind, ist letztlich eine Selbstverständlichkeit. Die auf diese Weise gewonnene Einsicht ist erstaunlich simpel: Bar jeglicher dogmatischer Verbrämung ist der Erziehungsgedanke nichts weiter als der kleine Bruder der Resozialisierung – zugeschnitten auf die spezifische Situation junger Menschen, bei denen „Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam“72 sind. Aus der noch nicht abgeschlossenen, bislang in der Regel in mancherlei Hinsicht defizitär verlaufenen Persönlichkeitsentwicklung junger delinquenter Menschen folgt das Recht des Staates, im Interesse der Allgemeinheit, aber auch des betroffenen jungen Menschen erzieherisch einzugreifen. Das primäre Ziel, ein Leben in Freiheit ohne Straftaten zu ermöglichen, lässt sich hierbei nur nachhaltig und effektiv erreichen, sofern eine am Leitbild verfassungsrechtlicher Grundwerte orientierte Entwicklung hin zu einer selbstverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit angestrebt wird. Dies wiederum erfordert zum einen die Förderung kognitiver, sozialer und personaler Kompetenzen, zum anderen aber auch eine intensive Auseinandersetzung mit erkannten Defiziten. Die insoweit unverzichtbare Mitwirkung der jungen Gefangenen ist motivatorisch zu fördern, aber auch einzufordern. Die Frage, wann das vom elterlichen Erziehungsrecht abgeleitete, subsidiäre staatliche Erziehungsrecht im Hinblick auf junge Gefangene in zeitlicher Hinsicht endet, lässt sich vor diesem Hintergrund nicht mit Hilfe starrer Altersgrenzen beantworten. Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht besteht hierzu keine Notwendigkeit. Entscheidend ist vielmehr, wann die höchst individuell verlaufende Entwicklung zu einer selbstverantwortlichen, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit so weit fortgeschritten ist, dass sie auch ohne fremde Unterstützung nicht mehr gefährdet erscheint. Bis zu diesem Zeitpunkt wirkt das Erziehungsrecht fort, wobei es mit zunehmender Fähigkeit des Betroffenen zu einem selbstbestimmten Leben in sozialer Verantwortung immer weiter zurückgedrängt wird. 72
BGH NStZ 2013, 289; BGH NStZ 2015, 230 (231).
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Entsprechend der Prägung und Profession der Autoren wurde der Erziehungsbegriff im Kontext des Jugendstrafvollzugs im Rahmen dieses Beitrags vornehmlich aus der juristischen Perspektive beleuchtet. Dies darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass sich die gesamte Tragweite und Bedeutung des Erziehungsgedankens, namentlich in der Vollzugspraxis, erst bei interdisziplinärer Betrachtung offenbart. Der pädagogischen Sichtweise kommt hierbei naturgemäß besondere Bedeutung zu. Es ist daher ein besonderes und bleibendes Verdienst von Philipp Walkenhorst, dass er durch seine zahlreichen Publikationen und Vorträge ganz maßgeblich dazu beigetragen hat, dieser Perspektive Geltung und Anerkennung in der Diskussion um die Bedeutung des Erziehungsbegriffs im Jugendstrafvollzug zu verschaffen. Mehr noch: Jeder seiner Beiträge zeugt von seinem hohen ideellen Anspruch und Impetus, die Situation junger Gefangener konkret zu verbessern und vor allem ihre Zukunft hoffnungsvoller zu gestalten, ohne dabei wirklichkeitsfremd zu sein.73 Literaturverzeichnis Arloth, F. & Krä, H. (2017). StVollzG - Strafvollzugsgesetze Bund und Länder, Kommentar (4. Aufl.). München: C.H.Beck. Arloth, F., (Hrsg.) (2019). BeckOK Strafvollzugsrecht Bayern, Kommentar (12. Ed.). München: C.H. Beck. Bachmann, M. (2019). Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht: Wohin steuert der BGH? JuristenZeitung, 74(15/16), 759-765. Badura, P. (2019). Kommentierung zu Art. 6 GG. In T. Maunz, & G. Dürig, (Begründer), Grundgesetz. Loseblatt-Kommentar. München: C.H. Beck. Beulke, W. (2017). Jugendstrafe bei lange zurückliegenden Taten gegenüber inzwischen erwachsenen Straftätern. In C. Safferling, G. Kett-Straub, H. Kudlich & C Jäger (Hrsg.), Festschrift für Franz Streng zum 70. Geburtstag (S. 403-416). Heidelberg: C.F. Müller. Eisenberg, U. (2007). Neue Gesetze – Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 18(2), 152-158. Eisenberg, U. (2018). Jugendgerichtsgesetz, Kommentar (20. Aufl.). München: C.H. Beck. Kreideweiß, T. (1993). Die Reform des Jugendstrafvollzuges. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Laubenthal, K. (2019). Strafvollzug, Lehrbuch (8. Aufl.). Heidelberg: Springer. Markert, S. (2012). Der bayerische Jugendstrafvollzug in Theorie und Praxis. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Nickolai, W. (2013). Warum der Jugendstrafvollzug abgeschafft gehört. Forum Strafvollzug, 62(6), 371-372. 73
Exemplarisch zeigt sich dies etwa, wenn Walkenhorst, 1999, S. 251, formuliert: „An dieser Stelle geht es nicht um die (zweifelsohne häufig ernüchternde) Realität der Klientel, sondern um die Hoffnung und die Erwartungen, die ihm als erzieherische und ethische Grundhaltung immer wieder neu entgegengebracht werden müssen.“
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Ostendorf, H. (Hrsg.) (2016a). Jugendstrafvollzugsrecht, Handbuch (3. Aufl.). Baden-Baden: Nomos. Ostendorf, H. (Hrsg.) (2016b). Jugendgerichtsgesetz (10. Aufl.). Baden-Baden: Nomos. Radtke, H. (2017). Kommentierung zu § 17 JGG. In W. Joecks, K. Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band VI (3. Aufl.). München: C.H. Beck. Schneider, R. (2010). Strafvollzug und Jugendstrafvollzug im Bayerischen Strafvollzugsgesetz – Eine Analyse ausgewählter Aspekte im Vergleich mit den Regelungen der anderen Bundesländer unter besonderer Berücksichtigung der Sozialtherapie. BadenBaden: Nomos. Schwirzer, S. (2008). Jugendstrafvollzug für das 21. Jahrhundert? Der Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Jugendstrafvollzuges (GJVollz) Stand: 7. Juni 2006. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Statistisches Bundesamt (Destatis) (2018). Fachserie 10 Reihe 4.1, Rechtspflege - Strafvollzug - Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.3. Abgerufen von https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Strafverfolgung-Strafvollzug/strafvollzug2100410187004.pdf?__blob=publicationFile [08.11.2019]. Sußner, C. (2009). Jugendstrafvollzug und Gesetzgebung – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Kontext aktueller Entwicklungen und dessen gesetzgeberische Umsetzung. Hamburg: Dr. Kovač. Tondorf, G. & Tondorf, B. (2006). Plädoyer für einen modernen Jugendstrafvollzug. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 17(4), 236-243. Uhle, A. (2018). Kommentierung zu Art. 6 GG. In: Epping, V.; Hillgruber, Ch. (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Kommentar (41. Ed.). München: C.H. Beck. Walkenhorst, P. (1999). Sicherheit, Ordnung und Disziplin im Jugendstrafvollzug. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 10 (3), 247-261. Walkenhorst, P. (2015), Pädagogisches Denken und Handeln im Jugendstrafvollzug. In: M. Schweder (Hrsg.), Handbuch Jugendstrafvollzug (S. 482-506). Weinheim: Beltz. Walkenhorst, P. (2016). Überlegungen zur Bestimmung von Erziehung und Förderung im Jugendvollzug. Recht der Jugend und des Bildungswesens, 64(4), 469-485. Walkenhorst, P. (2017), Der Jugendstrafvollzug als nachhaltiges pädagogisches Handlungsfeld. In: M. Schweder (Hrsg.), Jugendstrafvollzug - (k)ein Ort der Bildung!? (S. 33-49). Weinheim: Beltz. Walter, J. (2006). Optimale Förderung oder was sollte Jugendstrafvollzug leisten? Neue Kriminalpolitik, 18(3), 93-98. Walter, M. & Wilms, Y. (2004). Kriminalrechtlicher Erziehungsgedanke und elterliches Erziehungsrecht – Zur Zulässigkeit und den Voraussetzungen jugendrechtlicher Weisungen gemäß § 10 I JGG. Neue Zeitschrift für Strafrecht, 24(11), 600-607.
Befähigung zur Gewaltlosigkeit? – Die Gewaltprobleme des Jugendstrafvollzugs Frank Neubacher
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Erziehung in Unfreiheit: Auftrag, Widerspruch, Problem
Nach wie vor ist es die Frage aller Fragen, die an den Strafvollzug zu stellen ist: Wie ist Erziehung zur Freiheit in Unfreiheit, wie ist Befähigung zur Gewaltlosigkeit in einer von Gewalt geprägten Umgebung möglich? Ist sie überhaupt möglich? Und geht es alleine um die Gewalt, die von und gegen Inhaftierte ausgeübt wird oder muss nicht auch die Freiheitsentziehung an sich, muss nicht auch die Anwendung unmittelbaren Zwangs, müssen nicht auch Disziplinarmaßnahmen als – wenn auch legitime und rechtmäßige – Gewaltanwendung im Rahmen des staatlichen Gewaltmonopols verstanden werden? Diese Fragen umschreiben Gewaltprobleme (Plural!) des Strafvollzugs, die sich vom Problem der Gewalt unter den Gefangenen kaum ablösen lassen. Sie überschatten das Vollzugsgeschehen und damit auch die Behandlungsbemühungen des Vollzugs. Dieser setzt mit seiner „Resozialisierungsarbeit“ deshalb nicht bei „Null“ an. Die widrigen Umstände in Haft haben den Gesetzgeber in § 3 Abs. 2 StVollzG von 1976 zu dem bemerkenswerten Satz veranlasst, dass schädlichen Wirkungen des Freiheitsentzuges entgegen zu wirken sei (Gegenwirkungsgrundsatz). Dieser Grundsatz ist 2008 ins neu geschaffene Jugendstrafvollzugsgesetz NRW übernommen worden (§ 3 Abs. 2 Satz 3 JStVollzG). Im Jugendstrafvollzug stellen sich die aufgeworfenen Fragen in besonderer Weise, denn junge Inhaftierte gelten zum einen als impulsiver und undisziplinierter – kurzum als „schwieriger“. Tatsächlich kommen gewalttätige Übergriffe unter Gefangenen im Jugendstrafvollzug häufiger vor als im Erwachsenenvollzug (Bieneck & Pfeiffer 2012, S. 11; Wirth, 2006). Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht in seinem viel beachteten Urteil zur Verfassungswidrigkeit des Jugendstrafvollzugs vom 31. Mai 2006 (BVerfG 2 BvR 1673/04) gefordert, der Gesetzgeber müsse ein modernes Konzept für die jugendgemäße Behandlung im Jugendstrafvollzug entwickeln und sei verpflichtet, das in der Vollzugspraxis verfügbare Erfahrungswissen auszuschöpfen und sich am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu orientieren. In Bezug auf die gesetzliche Festlegung konkreter Vorgaben wurden sogar einzelne Vollzugsbereiche benannt, z. B. die Ausstattung mit den personellen und finanziellen Mitteln, Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, pädagogische und therapeutische Betreuung, eine gezielte Ent© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_10
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Frank Neubacher
lassungsvorbereitung sowie „Formen der Unterbringung und Betreuung, die soziales Lernen in Gemeinschaft, aber auch den Schutz der Inhaftierten vor wechselseitiger Gewalt ermöglichen“. Die pädagogischen Herausforderungen sind also gerade im Jugendvollzug besonders groß! Es ist deshalb kein Zufall, dass sich Philipp Walkenhorst gerade dort unermüdlich engagiert hat. Fragen des Jugendarrests und des Jugendstrafvollzugs gehör(t)en seit jeher zu den Forschungsbereichen seines Lehrstuhls (siehe beispielhaft Walkenhorst, 2015a; Walkenhorst 2015b). Außerdem hat er an der Verbesserung der Ausbildung von Strafvollzugsbediensteten mitgewirkt. Ich bin ihm über die Universität zu Köln, aber auch über die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ) eng verbunden, wo wir in der Regionalgruppe Nordrhein zusammenarbeiten. Ich möchte ihm hier von Herzen gratulieren, indem ich nach den vollzugspolitischen Folgerungen eines Forschungsprojektes frage, welches in den Jahren 2010-2017 am Kölner Institut für Kriminologie durchgeführt wurde.1 Im Folgenden fasse ich die wichtigsten Ergebnisse zusammen und frage nach ihrer Relevanz für die erzieherische Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs. Dabei ist auch zu erörtern, ob und inwiefern der Vollzug auf Veränderungen vorbereitet erscheint. Aus Platzgründen muss ich leider davon absehen, die methodische Anlage und Einzelheiten der Durchführung des Projekts vorzustellen; sie wurden anderenorts ausführlich beschrieben (siehe Boxberg et al., 2016; Boxberg, Neubacher & Wolter, 2013; Neubacher et al., 2011). 2 2.1
Gewalt im Jugendstrafvollzug – Ergebnisse des Kölner Forschungsprojekts Verbreitung unterschiedlicher Formen von Gewalt
Obwohl es, wie Tötungsdelikte unter jungen Inhaftierten in Ichtershausen 2001, Siegburg 2006 und Wuppertal-Ronsdorf 2016 gezeigt haben, immer wieder zu Gewaltexzessen kommt und tödliche Gewalt deshalb eine Gefahr darstellt, können diese Verbrechen nicht als typisch gelten. Gewalt unter Gefangenen, die in der Regel zu leichteren Verletzungen führt (Wirth, 2006), besteht vornehmlich darin, dass sie einen Gefangenen jederzeit treffen kann. Gewalt wird auf diese Weise zu einem täglichen Begleiter, selbst wenn sich die Gefahr nicht aktualisiert. Wissenschaftlich ist die Verbreitung von Gewalt unter Gefangenen in den vergangenen 1 Genau genommen handelt es sich um zwei, jeweils von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Projekte: „Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug – Phänomen, Ursachen, Prävention“ (2010-2013) und „Gewalt und Suizid unter weiblichen und männlichen Jugendstrafgefangenen – Entstehungsbedingungen und Entwicklungsverläufe im Geschlechtervergleich“ (2013-2017). Mein Dank gilt dem gesamten Forschungsteam.
Befähigung zur Gewaltlosigkeit? – Die Gewaltprobleme des Jugendstrafvollzugs
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Jahren verstärkt erforscht worden (Baumeister, 2016; Boxberg et al., 2016; Bieneck & Pfeiffer, 2012; Ernst, 2008). Sie betrifft insbesondere den Jugendstrafvollzug, ist eng mit subkulturellen Normen und Einstellungen verwoben und beeinträchtigt das Sicherheitsempfinden der Gefangenen nicht unerheblich. In einem Forschungsprojekt der Universität zu Köln, das auf den geschlossenen Jugendstrafvollzug fokussierte und erstmals längsschnittlich angelegt war, wurden quantitative und qualitative Verfahren kombiniert. Die 882 männlichen Jugendstrafgefangenen, die im ersten Projektabschnitt an der Studie in NordrheinWestfalen (Heinsberg, Herford) und Thüringen (Ichtershausen, Weimar) teilnahmen, waren zum Zeitpunkt der Befragung im Durchschnitt 20 Jahre alt und zu 70 % wegen Gewaltdelikten verurteilt. Der Anteil der Nichtdeutschen belief sich auf 18 %, knapp 30 % waren deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund. Danach befragt, welche Formen von Gewalt sie in den zurückliegenden drei Monaten selbst ausgeübt hatten, räumten – je nach Messzeitpunkt – zwischen 80 und 90 % der Gefangenen psychische Gewalt (z. B. Ignorieren, Hetzen, Lästern) ein. Auf physische Gewalt (einschl. Schlägerei anfangen, Gewalt androhen) hatten zwischen 62 % und 68 % der Befragten, also rund zwei Drittel, zurückgegriffen. Fast jeder zweite Gefangene (zwischen 42 % und 47 %) gab zu, einen anderen Gefangenen körperlich verletzt zu haben. Auch der Anteil von 42 % bis 44 % der Gefangenen, die „Zwang“ oder „Erpressung“ einräumten, war beträchtlich. Sexuelle Gewalt (einschl. sexueller Belästigung) trat indes vergleichsweise selten auf; hier lagen die Täterangaben zwischen 1 % und 4 % (vgl. Neubacher & Schmidt, 2017). 2.2
Die Gewaltkulisse
Die hohen Prävalenzraten kontrastierten für die jeweils abgefragten Drei-MonatsZeiträume mit niedrigeren Raten in Bezug auf die einschlägigen Ereignisse (Inzidenz). Obwohl sehr viele männliche Gefangene eigene Gewaltausübung einräumten, gaben sie ganz überwiegend an, dies sei „selten“ geschehen. In diesem Sinne ist ein Gefangener zwar täglich von Gewalt umgeben, er übt sie aber nicht oft aus und erleidet sie auch in eigener Person nicht täglich. Diese latente Gewalt, die sich nicht ständig manifestiert, aber gleichwohl sehr gegenwärtig ist, umschreibe ich mit dem Bild der „Gewaltkulisse“. Eine gewisse Relativierung ergibt sich daraus, dass eine Kontrollgruppe aus Bewährungsprobanden durchgehend stärker mit Gewalt belastet war als die Gefangenengruppe (Boxberg et al., 2013). Offenbar sorgt die Situation in Haft dafür, dass gewaltaffine Gefangene aufeinander treffen, doch gelingt es den Vollzugsbediensteten gleichzeitig, durch ein relativ hohes Maß an Aufsicht, Kontrolle und Konfliktregelung die Gelegenheiten zu reduzieren, wovon bei vergleichbaren jungen Männern auf freiem Fuß nicht die Rede sein kann.
168 2.3
Frank Neubacher
Längsschnittliche Veränderungen und Verfahrensgerechtigkeit
Rund 70 % der jungen Gefangenen machten sowohl Täter- als auch Opferangaben. Es gibt somit in der Regel keine feste Rollenverteilung, sondern eine große Schnittmenge und eine hohe Austauschdynamik zwischen der Gruppe der Opfer und jener der Täter. Die Rollen müssen gleichsam ständig neu „ausgehandelt“ werden. Mit Hilfe eines Strukturgleichungsmodell ließ sich überdies nachweisen, dass eine über die Zeit zunehmende Ausübung von Gewalt der Gefangenen kausal auf eine Viktimisierung zu einem früheren Messzeitpunkt zurückzuführen war. Wer Opfer wird, tritt später also mit höherer Wahrscheinlichkeit als Täter hervor, selbst wenn er sich möglicherweise auf Androhung von Gewalt, Einschüchterung und Beleidigung beschränkt. Dabei war ein Anstieg der Gewalt insbesondere in den ersten drei Vierteln des 12-monatigen Untersuchungszeitraums festzustellen. Anscheinend erlangen Gefangene mit der Zeit eine Position, die immer weniger in Frage gestellt wird und es ihnen erlaubt, den Einsatz von Gewalt zu reduzieren. In Übereinstimmung damit berichteten viele Gefangene, dass sie eigentlich nur ihre „Ruhe haben“ wollten und dass „man“ sich erst einige Male „beweisen“ müsse, damit man diese Ruhe bekomme. Durch die Ausübung von Gewalt verfestigen sich bestimmte Einstellungen, nämlich Gewaltakzeptanz, Männlichkeitsvorstellungen sowie eine positive Einstellung zu subkulturellen Werten und Verhaltensweisen (Häufle, Schmidt & Neubacher, 2013). Gleichzeitig stieg mit der Dauer der Inhaftierung auch die Zahl derer, die auf massive Formen der Gewalt zurückgegriffen hatten. Von den 100 männlichen Jugendstrafgefangenen, die zu allen Messzeitpunkten (Mai 2011, August 2011, November 2011, Februar 2012) an der Befragung teilnahmen, hatten drei Viertel nach eigenen Angaben wenigstens einmal in zwölf Monaten eine Körperverletzung begangen. 28 Inhaftierte räumten bei jedem der vier Messzeitpunkte ein, in den zurückliegenden drei Monaten einen anderen Gefangenen am Körper verletzt zu haben; weitere 13 gaben das bei drei der vier Messzeitpunkte zur Antwort. Eine multivariate Korrespondenzanalyse ergab, dass diejenigen, die Körperverletzungen angaben, ungleich auf die Anstalten verteilt waren und dass die ausgeübte Gewalt in deutlichem Zusammenhang mit der Zustimmung zur Gefangenensubkultur stand (Ernst & Neubacher, 2014). Anstaltsspezifischen Umständen bzw. einem lokalen „Anstaltsklima“ kommt also durchaus große Bedeutung zu (siehe auch Liebling, 2004). In eine ähnliche Richtung weisen die Befunde zur Rolle der „Verfahrensgerechtigkeit“ („procedural justice“). Drei Faktoren wirkten sich in etwa gleichem Maße auf das Ausüben „physischer Gewalt“ aus, nämlich Autonomieverlust, ein junges Alter der Inhaftierten sowie die Dauer ihrer Inhaftierung. Fügte man in dieses Modell die Variable „Verfahrensgerechtigkeit“ ein (erfasst durch Items wie „die Gefangenen werden von den Bediensteten mit Respekt behandelt“, „die Bediensteten erklären den Gefangenen ihre Entschei-
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dungen“), so wurde nicht nur der ungünstige Einfluss des Autonomieverlusts abgemildert, sondern es ergab sich ein davon unabhängiger negativer Effekt der „Verfahrensgerechtigkeit“ auf „physische Gewalt“. Wenngleich Wechselwirkungen nicht auszuschließen sind, legt dies nahe, dass Gefangene, die sich fair behandelt fühlen, trotz ansonsten widriger Umstände weniger gewalttätig sind. 2.4
Missachtungserfahrungen und Selbstbehauptung
Die qualitativen Interview-Daten bestätigten darüber hinaus die subjektive Notwendigkeit, sich (auch) in Haft mit den erforderlichen Mitteln zu „beweisen“. Die Demonstration physischer Stärke ist die häufigste Selbstbehauptungsstrategie – und auch jene, die den eigenen Status wahrt. Dagegen wird die Alternative, sich in einer „geschützten Abteilung“ unterbringen zu lassen, eher als stigmatisierend und der eigenen Reputation abträglich angesehen (Häufle, Schmidt & Neubacher, 2013). Verknüpft man die in Haft ausgeübte Gewalt mit der vorinstitutionellen Biografie der jungen Männer, so zeigt sich, dass vor allem die im familiären Kontext erlittenen Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen von Bedeutung sind (Schmidt, 2013). Die Interviewerzählungen legen nahe, dass die in der Familie missachteten Anerkennungsbedürfnisse mitunter in gewaltsam eingeforderte Anerkennungsansprüche umschlagen und es während der Freiheitsstrafe zu einem Wiederaufleben habitualisierter Handlungsmuster kommt: Die jungen Männer fordern Respekt ein, verteidigen sich „ehrhaft“ gegen Beleidigungen und erfahren auf diese Weise einen Reputationsgewinn. Die hierarchische Gefangenensubkultur scheint dabei besonders von jenen Gefangenen als anerkennungsstiftendes Identitätsangebot wahrgenommen zu werden, die wiederholte und schwere innerfamiliäre Viktimisierungen erlitten haben. Die Gefangenen beschreiben die Gewalt hinter Gittern überdies als normal, berechenbar und regelgeleitet. Ihrer Aussage nach weiß man, „wie Haft läuft“. Dies steht in einem Kontrast zu der oft als überfallartig und zunächst unerklärlich geschilderten Gewalt in Kindheit und Jugend. 2.5
Weibliche Jugendstrafgefangene
In einem weiteren Projektabschnitt wurden mit der gleichen Methodik zunächst die weiblichen Jugendstrafgefangenen an den Standorten Aichach, Chemnitz, Köln und Schwäbisch Gmünd befragt. Diese wiederholte Befragung wurde um eine einmalige querschnittliche Befragung im gesamten Bundesgebiet ergänzt. Insgesamt nahmen 269 junge Frauen an der Befragung teil, 38 von ihnen stammten aus den fünf zusätzlichen Anstalten in Vechta, Frankfurt a. M., Berlin,
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Zweibrücken und Luckau-Duben. Sie waren im Durchschnitt 19,5 Jahre alt und zu 51 % wegen Gewaltdelikten verurteilt worden. Bei der Auswertung der Daten fiel auf, dass die Prävalenzraten der jungen Frauen unterhalb des Niveaus ihrer männlichen Altersgenossen lagen. Der Abstand war bei psychischer bzw. verbaler Gewalt gering, bei Formen von unmittelbarer körperlicher Gewalt (insbesondere bei „Körperverletzung“: Treten oder Schlagen einer Mitgefangenen bzw. absichtliches Verletzen) indes deutlich – die Frauen waren insoweit nur halb so gewalttätig. Diese Abweichungen konnten auf die besonderen Haftumstände bei den jungen Frauen zurückgeführt werden (Boxberg & Neubacher, 2019). Die recht geringe Zahl weiblicher Jugendstrafgefangener2 ist überwiegend in kleinen, überschaubaren Anstalten bzw. Abteilungen untergebracht, wo das Verhältnis zu den (weiblichen wie männlichen) Bediensteten besser ist und den subkulturellen Erscheinungen offenbar besser entgegengewirkt werden kann. Tatsächlich berichteten die inhaftierten jungen Frauen weniger von subkulturellen Erfahrungen und häufiger von fairem und respektvollem Verhalten der Bediensteten (Verfahrensgerechtigkeit) als die inhaftierten jungen Männer. Die Unterschiede zwischen beiden Gefangenengruppen hinsichtlich des Ausmaßes der ausgeübten Gewalt konnten sogar vollständig mit der Erfahrung von Verfahrensgerechtigkeit und mit den schwächer ausgeprägten subkulturellen Einstellungen der weiblichen Inhaftierten erklärt werden (Boxberg & Neubacher, 2019, S. 457). Dieser Befund unterstreicht erneut, welch großes Gewicht „weiche“ Faktoren wie das Erleben von Respekt und Verfahrensgerechtigkeit sowie – noch weiter gefasst – das Anstaltsklima haben. 2.6
Hell- und Dunkelfeld
Um die Hellfeld-Dunkelfeld-Relation näher zu bestimmen, wurden durch Los 223 Gefangenenpersonalakten von männlichen Gefangenen (Hellfeld) gezogen und mit den Fragebögen derselben Gefangenen (Dunkelfeld) abgeglichen. Der Untersuchungsgegenstand wurde möglichst präzise eingegrenzt, indem eine Beschränkung auf drei Items aus dem Fragebogen erfolgte, die sich alle auf strafrechtlich relevante Vorfälle bezogen („einen anderen Gefangenen absichtlich verletzt“, „einen anderen Gefangenen getreten oder geschlagen“, „absichtlich eine Schlägerei angefangen“). Die Häufigkeit der im Fragebogen berichteten Taten ließ sich dabei nicht exakt bestimmen, weil die Antwortvorgaben die Häufigkeit nur ungefähr bezeichneten („nie“, „selten“, „manchmal“, „oft“). Die Antwort „selten“ wurde deshalb als eine Tat gezählt, bei der Antwort „manchmal“ oder „oft“ wurde von zwei Taten ausgegangen. Bei der Abschätzung der Hellfeld-Dunkelfeld-Relation wurde 2 Zum Stichtag 31. März 2018 befanden sich ausweislich der Strafvollzugsstatistik insgesamt 3.701 Gefangene im deutschen Jugendstrafvollzug; 144 davon waren weiblich, 3.557 männlich.
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also sehr konservativ vorgegangen. Im Ergebnis gaben sich 84 der Gefangenen als Täter zu erkennen, von denen 25 als solche in den Akten erfasst waren, aber nur 16 mit Gewalt gegen einen Mithäftling (die restlichen 9 Fälle betrafen Vorkommnisse im Verhältnis zu Bediensteten). Das entspricht einer Relation von 1 zu 5,3, d. h. auf einen bekannt gewordenen Täter kommen 5 unerkannt Gebliebene. Bei den Taten bzw. Vorfällen ist das Dunkelfeld noch größer: Hier entfielen auf 23 bekannt gewordene Fälle bei sehr zurückhaltender Bestimmungsweise mindestens 149 Fälle von Gewalt, so dass die Relation mit 1 zu 6,5 anzusetzen ist (Boxberg, Neubacher & Wolter, 2013; Neubacher, 2014; Wolter & Häufle, 2014). Bei den weiblichen Jugendstrafgefangenen betrug die Relation bezüglich der in Erscheinung tretenden Personen („Täterinnen“) ebenfalls 1 zu 5,3. Damit war das Dunkelfeld der unentdeckt gebliebenen Personen exakt genauso groß wie bei den männlichen Jugendstrafgefangenen. Allerdings blieben die von den jungen Frauen begangenen Körperverletzungen („Taten“) deutlich häufiger im Dunkelfeld als bei den jungen Männern, nämlich im Verhältnis 1 zu 13. Den unterschiedlichen Gründen, die dafür ausschlaggebend sein können, kann hier nicht weiter nachgespürt werden; das ist an anderer Stelle geschehen. Am wahrscheinlichsten ist ein Zusammenhang mit dem Umstand, dass unter den weiblichen Gefangenen die Verletzungsfolgen weniger schwerwiegend und weniger sichtbar sind (Beecken & Neubacher, 2020). 3 3.1
Maßnahmen, Leitsätze und die Veränderungsbereitschaft des Vollzugs Die Notwendigkeit von Veränderungen
Wenn durch das Geschehen im Vollzug junge Gefangene, auch solche, die nicht zur Gewalt neigen und nicht wegen eines Gewaltdelikts verurteilt wurden, in den Sog der Gewalt hineingezogen werden, wenn Gefangene vor die Wahl gestellt sind, sich entweder an der Subkultur zu orientieren oder wegen Missachtung subkultureller Normen von Mitgefangenen drangsaliert zu werden und wenn diese Gefangenen durch die Macht der Umstände eher lernen, sich an diese Verhältnisse anzupassen, anstatt ihre Fähigkeit zu gewaltfreier Konfliktlösung und einvernehmlicher Streitbeilegung zu entwickeln (wie es § 7 Abs. 5 Satz 3 JStVollzG NRW fordert), dann muss der Vollzug aktiv werden und Konzepte entwickeln, wie er der Subkultur begegnen will, wie das Dunkelfeld von Gewalt verringert und das Vertrauen von Gefangenen in die Problemlösungsfähigkeiten des Vollzugs gestärkt werden können. Die präsentierten Forschungsbefunde zur Bedeutung von Anstaltsklima und Verfahrensgerechtigkeit unterstreichen dabei, wie wichtig der angemessene Umgang mit den Gefangenen auch im Hinblick auf die Zurückdrängung von Gewalt und Aggression ist.
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Disziplinierung statt Befähigung?
Die intraprisonäre Gewalt einzudämmen bedeutet, die Gefängnisgewalt und mit ihr die Macht der Subkultur zurückzudrängen und gewaltfördernde Strukturen der Anstalten zu ändern, um dadurch ein Klima des Miteinanders zu fördern. Aus den Reihen von Vollzugspraktikerinnen und -praktikern war oft zu hören, es gebe „Null Toleranz“ gegenüber Gewalt, jede Tat werde gemeldet und ziehe ein Disziplinarverfahren, unter Umständen auch eine Strafanzeige, nach sich. Es ist jedoch zu fragen, ob mit dieser Vorgehensweise das Gewaltproblem einfach nur unterdrückt wird. Wird nicht eine (legitime und sublime) Form der Gewalt gegen eine andere gesetzt? Hilft diese Demonstration, wer das Sagen hat und der Stärkere ist, den Gefangenen wirklich zu verstehen, warum Gewalt im Umgang miteinander der falsche Weg ist? Wozu wird er bzw. sie durch diese Lektion befähigt? Wird dieses Vorgehen dem erzieherischen Auftrag des Jugendstrafvollzugs gerecht (siehe Neubacher & Boxberg, 2018, S. 208)? Zur Disziplinierung im Jugendstrafvollzug liegen nur wenige Daten vor; einige davon wurden im Kontext des hier vorgestellten Forschungsprojektes erhoben. Sie zeigen, dass von Bundesland zu Bundesland und von Anstaltsleitung zu Anstaltsleitung die Anordnung von Disziplinarmaßnahmen sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Vor allem aber lassen die Daten erkennen, dass Disziplinarmaßnahmen im Hinblick auf die erwünschten Verhaltensänderungen (nämlich keine gewalttätigen Übergriffe mehr) weitgehend unwirksam sind (Bachmann & Ernst, 2015). Es erscheint also überaus fraglich, ob konstruktive Lernprozesse dadurch in Gang gesetzt werden können, dass man der Gewalt der Gefangenen mit einer sublimeren Form von Gewalt durch die Anstalt begegnet. Entscheidend wird es vielmehr sein, dass die Gefangenen nicht mehr Gewalt, sondern gewaltfreies Verhalten als Statusgewinn erfahren. Das setzt einiges voraus, v. a. die Befähigung des Gefangenen zur Konfliktbearbeitung. In diesem Zusammenhang kommt auch den Verhaltens- und Umgangsweisen der Bediensteten große Bedeutung zu. Hier liegen die entscheidenden erzieherischen Aufgaben des Vollzugs. § 7 Abs. 5 JStVollzG NRW mahnt in diesem Zusammenhang zu Recht, „ein gewaltfreies Klima [zu] fördern und die Gefangenen vor Übergriffen Mitgefangener [zu] schützen.“ Hierzu „sollen Möglichkeiten aufgezeigt werden, Einstellungen und Fertigkeiten für sozial angemessene Verhaltensweisen zu entwickeln.“ Ferner seien bei den Gefangenen die „Fähigkeit zu gewaltfreier Konfliktlösung und einvernehmlicher Streitbeilegung sowie ihr Bewusstsein für Gefährdungen, die durch Fehlverhalten im Gewalt- oder Drogenbereich entstehen, […] zu entwickeln und zu stärken.“ Es zeichnet sich hier ein Zielkonflikt ab: Konsequente Bestrafung und gleichzeitiges soziales Lernen (im Sinne eines sozialkognitiven Modells) schließen sich
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weitgehend aus. Wie soll die Atmosphäre gestaltet sein, in der gleichzeitig (von oben nach unten) gestraft und (auf gleicher Höhe) miteinander geredet werden soll? Woher soll die Motivation des Gefangenen kommen, sich auf einen u. U. mühsamen Prozess der Infragestellung der eigenen Handlungsmaximen einzulassen, wenn ihm das mit einem strafenden Verfahren gedankt wird? 3.3
Leitsätze zur Gewaltprävention
Die Vollzugsverantwortlichen sind sich der Probleme von Gewalt und Unterdrückung unter den Gefangenen durchaus bewusst. 2008 haben die Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter im nordrhein-westfälischen Justizvollzug auf der Grundlage einer Anstaltsbefragung des Kriminologischen Dienstes zwölf Leitsätze zur Gewaltprävention3 erarbeitet. Sie werden hier in aller Kürze, d. h. ohne die jeweils ein oder zwei erläuternden Sätze wiedergegeben: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Gewalt reduzierendes Klima schaffen Binnendifferenzierung erweitern Diagnostik und Verhaltensbeobachtung verfeinern Betreuungsteams mit festem Personalstamm einrichten Behandlungsmaßnahmen ausbauen Beschäftigungssituation verbessern Alltagsstrukturierende Freizeitangebote intensivieren Deeskalations- und Schlichtungsstrategien trainieren „Null-Toleranz-Haltung“ konsequent verwirklichen Gewaltvorkommnisse aufarbeiten Aus Gewaltvorkommnissen lernen Probleme und Lösungsbeispiele öffentlich machen.
Obwohl diese Leitsätze Zustimmung verdienen, vermögen sie nicht, den angesprochenen Zielkonflikt zu lösen. Wie sollen denn Gewaltvorkommnisse lernend aufgearbeitet werden, wenn gleichzeitig eine „Null-Toleranz-Haltung“ praktiziert wird, die „grundsätzlich“ und „unverzüglich“ zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens und – soweit „rechtlich geboten oder sachangemessen“ – zur Strafanzeige führt? Kritik an einer „allein formal-disziplinarisch[en]“ Reaktion hat Philipp Walkenhorst (Walkenhorst, 2007) schon vor Jahren geübt, und es bedarf gewiss spezieller pädagogischer Expertise, um den gordischen Knoten zu lösen. Feste Ansprechpartner (Nr. 4) sind unentbehrlich, um eine größere Nähe zu den Gefangenen herzustellen. Zentral ist darüber hinaus die Vermittlung von 3
Ein Dutzend Leitsätze zur Gewaltprävention, Papier vom 11.11.2008 (liegt dem Autor vor).
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Deeskalations- und Schlichtungsstrategien durch Schulung der Bediensteten (Nr. 8), weil erst dadurch die Voraussetzungen für eine konstruktive Bearbeitung von Konflikten und ihren Ursachen geschaffen werden. Als Ergänzung zu Nr. 1 wäre festzuhalten, dass nach wissenschaftlichen Befunden vor allem Verfahrensgerechtigkeit (procedural justice) geeignet ist, ein gewaltreduzierendes Klima zu schaffen. Gefangene nehmen aufmerksam wahr, wer ihnen mit welcher Haltung begegnet, und gelangen zu durchaus differenzierten Aussagen über die Bediensteten in Justizvollzugsanstalten. Was die Verbesserung des Anstaltsklimas betrifft, ist der Vollzug keineswegs so machtlos wie er oft meint. Über die „Verfahrensgerechtigkeit“ sind Verbesserungen möglich. Umso dringlicher ist es, einem Missverständnis vorzubeugen: „Verfahrensgerechtigkeit“ stellt auf die Interaktionen und die Fairness im Verhältnis zwischen Gefangenen und Bediensteten ab. Keinesfalls ist damit – in einem straftheoretischen Sinne – eine „ausgleichende“, vergeltende Gerechtigkeit gemeint oder das unerbittliche Nichtausbleiben einer Sanktion. Gerade juristisch ausgebildete Anstaltsverantwortliche oder leitende Ministerialbeamtinnen und -beamte neigen dazu, den Begriff der Verfahrensgerechtigkeit in diesem Sinne umzudeuten. Die Erfahrung aus Diskussionen über unsere Forschungsergebnisse hat leider auch gezeigt, dass sich Verantwortliche in abwehrend-beschwichtigender Weise besonders jene Einzelergebnisse „herauspicken“, die sich aus ihrer Sicht als eher günstig darstellen (z. B. niedrige Inzidenz, Vergleich mit Bewährungsprobanden, s. o. unter 2.2). Um die Gewaltprobleme des Jugendstrafvollzugs anzugehen und ein AntiGewalt-Konzept zu entwickeln, sind Veränderungen in den Denk- und Handlungsroutinen unumgänglich. So sollte ein Konzept das Ergebnis eines bilateralen Verständigungsprozesses darüber sein, was Gewalt ist (Schwingenheuer & Wirth, 2011), welche Regeln insofern zu beachten sind und wie auf Regelverletzungen reagiert werden sollte. In diesen Prozess sind die Gefangenen einzubeziehen. Zum einen besitzen die meisten von ihnen in diesem Kontext ohnehin Expertise, zum anderen darf eine größere Verbindlichkeit von Regeln unterstellt werden, an deren Formulierung die Gefangenen beteiligt waren. Der regelmäßige Austausch über das Miteinander in der Anstalt eröffnet den Gefangenen die Möglichkeit, Angelegenheiten anzusprechen und zu diskutieren, die sie selbst als Missstände, Enttäuschungen und Ungerechtigkeiten wahrnehmen. Die Bedingungen des Vollzugsalltags mitzugestalten wird helfen, unnötige Frustrationen zu vermeiden und Eigeninitiative zu üben. Die bzw. der Gefangene kann auf diesem Weg Selbstwirksamkeit erleben. Eine solche Erfahrung kann dazu ermutigen, sich zu öffnen, eigene Handlungsweisen zu reflektieren und auch das Gefängnis als veränderbare und lernende Organisation wahrzunehmen. In der Anstalt erfordern diese Strategien, dass die Leitungsebene vorangeht und die Bediensteten, wo nötig, in Personalentwicklungs- und Weiterbildungsmaßnahmen vorbereitet (Walkenhorst, 2007).
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Nicht zuletzt ist auch unter den Bediensteten sowie im Verhältnis zwischen Bediensteten und Anstaltsleitung ein wertschätzender, respektvoller Umgang zu fördern. 4
Schluss
Es gibt Gewalt und Subkultur auch im deutschen Jugendstrafvollzug der Gegenwart. Dieser bleibt trotz aller Bemühungen hinter den selbst gesteckten Zielen und dem gesetzlichen Auftrag zurück. Dennoch erscheinen seine Gewaltprobleme nicht unausweichlich. Fortschritte bei der Verfahrensgerechtigkeit, ein günstigeres Anstaltsklima und kleinere Vollzugseinheiten, die all dies begünstigen, können Gewalt unter Gefangenen reduzieren und die Ausgangssituation für Erziehung und soziales Lernen erheblich verbessern. Um das Blatt zu wenden, müssten indes auch spezielle Anti-Gewalt-Konzepte entwickelt werden, die die Überwindung eingefahrener Denk- und Handlungsgewohnheiten erfordern. Ob der Jugendstrafvollzug schon so weit ist? ‒ Zweifel sind erlaubt. Deshalb schließt dieser Beitrag auf der Grundlage des Status quo mit der Forderung, wo möglich die Inhaftierung im Jugendstrafvollzug zu vermeiden. Die Möglichkeiten der Haftvermeidung sind noch nicht ausgereizt, wenn immerhin 30 % der untersuchten männlichen Jugendstrafgefangenen und 49 % der weiblichen Jugendstrafgefangenen nicht wegen Gewaltdelikten verurteilt wurden. Diese Frauen wurden vielmehr wegen Diebstahl, Vermögens- und Betäubungsmitteldelikten inhaftiert; bei 42 % aller untersuchten Frauen betrug das Strafmaß lediglich bis 1 Jahr. Außerdem sollte die Vollzugspolitik den Mut finden, den offenen Vollzug weiter auszubauen und den Vollzug in freien Formen (siehe § 14 Abs. 5 JStVollzG NRW) wieder zum Leben zu erwecken, der in Nordrhein-Westfalen nicht über das Stadium eines nur kurze Zeit währenden Modellprojekts hinausgelangt ist. Literaturverzeichnis Bachmann, M. & Ernst, A. (2015). Disziplinarmaßnahmen im Jugendstrafvollzug: Ergebnisse einer Länderbefragung sowie eines längsschnittlichen Projektes zum Jugendstrafvollzug in Nordrhein-Westfalen und Thüringen. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 98(1), 1-15. Baumeister, B. (2017). Gewalt im Jugendstrafvollzug. Baden-Baden: Nomos. Beecken, J. & Neubacher, F. (2020). Realitäten eigener Art: Ein Abgleich von Gefangenenpersonalakten mit Befragungsdaten junger Frauen und Männer im Jugendstrafvollzug. In K. Drenkhahn et al. (Hrsg.), Festschrift für Frieder Dünkel (S. 737-755). Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg.
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Übergänge aus hoch strukturierten Hilfen für junge Menschen - eine integrierende Betrachtung von Intensivpädagogischen Jugendhilfemaßnahmen, Jugendstrafvollzug und Kinder- und Jugendpsychiatrie Anna Stossun & Luisa Flihs
Hoch strukturierte Hilfen für junge Menschen, wie Intensivpädagogische Hilfen nach §§ 34 und 35 SGB VIII inklusive der Geschlossenen Unterbringung und Individualpädagogischen Auslandsmaßnahmen1, der Jugendstrafvollzug und die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie2, werden meistens dann in Betracht gezogen, wenn weniger intensive Hilfeformen als nicht mehr ausreichend für die Erziehung, Therapie oder Resozialisierung junger Menschen erachtet werden. Erziehung im Sinne des §1 SGB VIII dient als Mittel der Persönlichkeitsentfaltung, bei der vorhandene Erfahrungen und Fähigkeiten positiv verstärkt werden, um so den Aufbau einer eigenständigen, selbstbewussten und sozial verantwortlichen Persönlichkeit zu fördern (Münder, 2013, § 1 Rn. 8 ff.). „Dieser Anspruch fordert Fachkräfte, Träger, Organisationen und Politik, Einrichtungen und Settings (soziale Orte) zu schaffen und zu gestalten, in denen junge Menschen sich positiv
1 Auch wenn in diesem Beitrag aufgrund der unterschiedlichen konzeptuellen Ausgestaltung zwischen der Geschlossenen Unterbringung und Individualpädagogischen Auslandsmaßnahmen unterschieden wird, können auch IAM zum „Grau-Bereich von freiheitsentziehenden Maßnahmen gezählt werden“ (Engelbracht, 2015, S. 55). Es wird bewusst der Begriff „Geschlossene Unterbringung“ statt des mittlerweile gebräuchlicheren der „freiheitsentziehenden Maßnahmen“ (z. B. Hoops, Permien, 2006, S. 11) verwendet, um zu verdeutlichen, dass hier, in Abgrenzung von z. B. dem ebenfalls betrachteten Jugendstrafvollzug, Jugendhilfemaßnahmen gemeint sind. Zudem wird in den meisten Forschungen zum Übergang aus der Heimerziehung und sonstigen betreuten Wohnformen in der Regel nicht zwischen verschiedenen Settings unterschieden, obwohl aufgrund der ausdifferenzierten Hilfelandschaft kaum noch von „der“ Heimerziehung die Rede sein kann (Hamberger, 2014, S. 231). Entsprechend beziehen sich die Forschungsbefunde zum Übergang auf alle stationären Hilfen zur Erziehung, es liegen bisher kaum Erkenntnisse zum Übergang aus Intensivpädagogischen Hilfen vor. 2 Im Folgenden werden aus Gründen der Übersichtlichkeit in den differenzierenden Literaturangaben folgende Abkürzungen für die Hilfesysteme verwendet: HE (Heimerziehung), GU (Geschlossene Unterbringung), IAM (Individualpädagogische Auslandsmaßnahmen), JStVollz (Jugendstrafvollzug), KJPP (Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_11
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entwickeln und entfalten können“ (Rätz, 2014, S. 36) – und zwar in jeder der oben genannten Institutionen. Auch wenn die noch näher zu definierende hohe Strukturierung von Hilfen etwa intendiert, den jungen Menschen durch Verlässlichkeit Sicherheit zu bieten, sie daran zu hindern, sich dem (oftmals nicht freiwilligen) „Angebot“ zu entziehen, um so pädagogisch (oder therapeutisch) mit ihnen arbeiten zu können oder aber auch, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen, so gilt dabei zu berücksichtigen, dass gerade eine moderne und liberale Gesellschaft es erfordert, den jungen Menschen die nötigen Kompetenzen auf den Weg zu geben, die es ihnen ermöglichen, sich als selbstständige und gemeinschaftsfähige Menschen in dieser Gesellschaft auch zurechtzufinden: Es genügt nicht mehr, Kindern und Jugendlichen eine Tagesstruktur anzubieten, in die sie sich ebenso hineinfügen können wie im späteren Leben in vorgegebene gesellschaftliche Strukturen wie Geschlecht, Sexualität, Berufswahl, Rollenbild, Werte und Normen ihres sozialen Nahraumes etc. Diese Strukturen und Zwänge gehören immer mehr der Vergangenheit und Lebensformen vergangener Generationen an. (Engelbracht, 2019, S. 245)
Hilfen müssen also so gestaltet sein, dass die jungen Menschen am Ende dieser eine gute Chance haben, selbstbestimmt und im Rahmen des geltenden Rechts der demokratischen Gesellschaft leben zu können. In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie die Übergänge aus diesen Hilfen mit einem hohen Grad an Alltagsstrukturierung in freiere Lebensformen vollzogen werden können. Dabei werden die genannten Hilfesysteme, soweit möglich, integriert betrachtet und allgemeine Herausforderungen und hilfreiche Faktoren im Übergang aus der Hilfe herausgearbeitet. 1
Zielgruppe hoch strukturierter Hilfen
Die genannten Hilfen richten sich an Kinder und insbesondere Jugendliche, die in den Hilfesystemen als „besonders schwierig“ gelabelt werden: junge Menschen mit belastenden Lebenserfahrungen, die häufig bereits verschiedene Hilfesysteme durchlaufen haben und denen diese zunehmend ratlos gegenüberstehen (allgemein zur Zielgruppe: Baumann, 2012; GU: Permien, 2010, S. 22; IAM: Klawe, 2017, S. 18; JStVollz: Bereswill, 2012, S. 128 f.). Zusammengenommen wird ein ganzes Bündel von Verhaltensweisen je nach disziplinärem Blickwinkel als zu bestrafen/ zu bessern, als zu therapieren/ zu behandeln und/ oder als (wenn auch schwer) erzieherisch zu bearbeiten kategorisiert. Mit diesen unterschiedlichen Kategorien wird in der Regel auch eine je eigene (oder fremde) Zuständigkeit transportiert und bestimmt. Die Bearbeitungsweisen sind dement-
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sprechend dann juristisch, medizinisch-psychiatrisch oder (sozial)pädagogisch und spielen sich institutionell zwischen Schul-, Justiz-, Gesundheits- und Sozialsystem (Kinder- und Jugendhilfe) ab. (Oelkers, Feldhaus & Gaßmöller, 2013, S. 162)
Hoch strukturierte Hilfen werden meist dann in Betracht gezogen, wenn weniger intensive Hilfen als nicht mehr erfolgreich eingeschätzt werden und/oder nicht mehr zur Verfügung stehen. Dabei ist grundsätzlich von einer Überschneidung der Zielgruppen in den verschiedenen Hilfesystemen auszugehen. So hält sich etwa ein großer Anteil der jungen Menschen in der Psychiatrie bzw. im Jugendstrafvollzug auch in Hilfen zur Erziehung auf (KJPP: Buchard & Diebenbusch, 2017, S. 16; JStVollz: Bereswill, 2018, S. 734); Auslandsmaßnahmen können u. a. als Weisung nach § 10 JGG oder als Bewährungsauflage nach § 23 JGG auferlegt werden. Die Indikation für eine Geschlossene Unterbringung erscheint oft nicht trennscharf (Hoops & Permien, 2006, S. 113) und unterscheidet sich nicht grundsätzlich von derjenigen für offene Gruppen (Menk, Schnorr & Schrapper, 2013, S. 59). Neben einer meist recht individuumszentrierten Betrachtung der Zielgruppe gilt zu berücksichtigen, dass auch die jeweiligen Hilfesysteme eine erhebliche Rolle bei der Produktion „der Schwierigsten“ spielen. So hebt etwa Ader (2005) die Bedeutung der öffentlichen und freien Jugendhilfe bei der Entstehung von Jugendhilfekarrieren hervor; es ist die Rede vom „Verschiebebahnhof der Zuständigkeiten“ (Holthusen, 2011, S. 9) und von „strukturelle[r] Verantwortungslosigkeit“ (v. Freyberg & Wolff, 2017, S. 16). Peters beschreibt diesen Mechanismus am Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe folgendermaßen: „Kinder und Jugendliche durchlaufen verschiedenste Hilfeangebote und werden – wenn die Hilfe zu scheitern droht – weiter verwiesen, wobei zumeist ihnen noch das Scheitern zugeschrieben wird“ (Peters, 2014, S. 44). Auch in Baumanns Definition von „Systemsprengern“ wird die Bedeutung des Hilfesystems, das sich sprengen lässt, deutlich (Baumann, 2012, 13 f.). Die betrachteten Hilfen bilden somit folgerichtig die „ultima ratio“ des jeweiligen Hilfesystems, der die Logik zugrunde zu liegen scheint, im Zuge der sich zuspitzenden Hilfebiografie der Zielgruppe und der damit einhergehenden zugeschrieben Nichtgeeignetheit offenerer Hilfen immer ein bisschen enger, exklusiver und exkludierender zu werden (GU: Hoops & Permien, 2006, S. 32; IAM: Klawe, 2011, S. 38; JStVollz: Laubenthal, Bauer & Nestler, 2010, S. 311 ff.; KJPP: Streeck-Fischer, 2002, S. 354).
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Hohe Strukturierung, aber unterschiedliche Systemlogiken
2.1 Hoch strukturierte Hilfen – was ist damit gemeint? Intensivpädagogische Hilfen zur Erziehung zeichnen sich größtenteils aus durch eine pädagogisch enge, aushaltende Betreuung, die durch Tages- und Wochenpläne strukturiert wird und ggf. auch ein hohes Ausmaß an Aufsicht und Kontrolle aufweist3 (Schwabe, 2014, S. 284 ff.). Ebenso wie im Jugendstrafvollzug, in der Geschlossenen Unterbringung, Individualpädagogischen Auslandsmaßnahmen und der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird mit Methoden der Kontrolle und Disziplinierung (Clark, 2018) sowie Macht- und Zwangsaspekten (Wolf, 1999) gearbeitet; auch auf Verhaltensanpassung abzielende Stufen- und Verstärkersysteme finden ihren Einsatz (HE: Kunstreich & Lutz, 2018; GU: Engelbracht, 2015, S. 63 ff.; JStVollz: Rathert, 2011). Die genannten Hilfeformen weisen somit alle einen hohen Grad äußerer Strukturierung auf: Sie verfügen über alltagsstrukturierende Elemente wie z. B. eine vorgegebene Tagesstruktur und Regeln (HE: Baumann, 2019, 23; KJPP: Klees & Witte, 2006, S. 223) sowie räumlich (JStVollz: Wagner, 2019, 67; KJPP: Klees & Witte, 2006, S. 224), geographisch (IAM: Wendelin, 2010, S. 174) und/oder sozial exkludierende Elemente, einige zudem über eine besonders enge Betreuung der jungen Menschen. Den Hilfen werden teilweise Merkmale einer totalen Institution nach Goffman (1973) zugeschrieben (KJPP: Hensel, 2020, S. 76; JStVollz: Wagner, 2019, S. 233; GU: Lindenberg & Lutz, 2018, S. 66). Die jungen Menschen halten sich in den Hilfen überwiegend nicht freiwillig auf und meist erfolgt der Weg in die Hilfen im Rahmen einer Krise4 (GU: Menk, Schnorr & Schrapper, 2013, 63 f.; IAM: Witte, 2009, S. 74; KJP: Buchard & Diebenbusch, 2017, S. 16). Grob unterschieden werden kann zwischen freiwilligen und zwangsweisen, informierten und nicht-informierten Zugängen zu den Institutionen, wobei diese Unterscheidung nicht als binär, sondern als breites Kontinuum begriffen werden muss. Während beim Jugendstrafvollzug aufgrund der Verurteilung infolge des Begehens einer Straftat nach § 17 JGG von einem Zugang unter Zwang auszugehen ist, kann auch in intensivpädagogischen Hilfen trotz der rechtlich festgeschriebenen Beteiligung der Kinder und Jugendlichen (§ 8 SGB VIII) die Freiwilligkeit zur Teilnahme grundsätzlich in Frage gestellt werden (Seithe, 2007, S. 571 f.). Der Vorschlag für eine Jugendhilfemaßnahme kommt oft nicht von den jungen Menschen selbst, sondern von pädagogischen oder medizinischen Fachkräften (HE: Seithe, 2007, S. 574), für die KJPP kommt auch den Eltern eine große Bedeutung hinsichtlich der Einweisung zu 3 Intensivpädagogische Hilfen, die mit eher offenen, unstrukturierten Angeboten arbeiten (z. B. Schwabe, Stallmann & Vust, 2013), werden an dieser Stelle nicht betrachtet. 4 Unklar bleibt hier jedoch meist, was überhaupt mit „Krise“ gemeint ist.
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(Remschmidt, 2005, S. 39). Im Falle einer Geschlossenen Unterbringung sowohl in der Jugendhilfe als auch in der Psychiatrie wird zudem eine Genehmigung durch das Familiengericht (§ 1631b BGB) benötigt. Die jungen Menschen erleben sich hinsichtlich ihrer Aufnahme oft als fremdbestimmt (GU: Menk, Schnorr & Schrapper, 2013, 64 f.; KJPP: Rothärmel et al., 2006, S. 187; IAM: Witte, 2009, S. 236) und verfügen über wenig Informationen bezüglich der Ausgestaltung der Hilfe (KJPP: Dippold et al., 2003, S. 120; IAM: Flihs & Stossun, 2020, S. 55). Abgesehen von der übergreifend geltenden UN-Kinderrechtskonvention, ist in der Psychiatrie die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen nicht näher spezifiziert und festgeschrieben (Wiethoff et al., 2003, S. 89). Formal bedarf es somit nicht der Einwilligung der Jugendlichen (Brünger, 2004, S. 356). Gemeinsam ist allen genannten Hilfen somit, dass es sich in den meisten Fällen um „unfreiwillige Lebensorte“ (Lochner & Täubig, 2019, S. 304) der jungen Menschen handelt. Kurz zusammengefasst: In allen genannten Hilfen geht es darum, junge Menschen mit einer meist schon recht langen und vielfältigen Hilfebiografie, die ihre oftmals belastenden Lebenserfahrungen auf eigenwillige Art und Weise zu bewältigen versuchen (Böhnisch, 2012), zu eigenverantwortlichen und zugleich gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu erziehen. Dabei bedient sich das Hilfesystem überwiegend – teilweise aus angenommener Geeignetheit, teilweise aus Ratlosigkeit, teilweise aus Gewohnheit – hoch strukturierter Settings, in denen die jungen Menschen sich größtenteils nicht freiwillig aufhalten und die ihnen einen klaren Rahmen hinsichtlich Alltagsgestaltung und geltender Regeln vorgeben. 2.2 Unterschiedliche Systemlogiken der Hilfen In allen Systemen wird darauf hingearbeitet, dass die jungen Menschen nach Verlassen der Hilfen möglichst eigenverantwortlich, selbstbestimmt und gleichzeitig im Rahmen des geltenden Rechts der demokratischen Gesellschaft leben können (§ 1 SGB VIII). Gleichzeitig unterliegen Zugang sowie Ausgestaltung der Hilfen unterschiedlichen systemimmanenten Logiken: So ist die Aufgabe der Hilfen zur Erziehung insbesondere die Förderung der Entwicklung und die Erziehung; Anliegen ist es, lebensweltorientiert den Eigensinn des Individuums und gesellschaftliche Anpassungsforderungen so auszuhandeln, dass die jungen Menschen sich zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten entwickeln können (§ 1 SGB VIII). Die Kinder- und Jugendpsychiatrie wiederum dient der Erkennung, Behandlung, Prävention und Rehabilitation psychischer Störungen, die als normierter Standard, z. B. nach ICD-10, festgestellt werden (Klees & Witte, 2006,
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S. 211). Der Jugendstrafvollzug verfolgt als Ziel das Verhindern zukünftiger Straftaten (Legalbewährung), hierbei soll sich vorranging am Erziehungsgedanken orientiert werden (§ 2 Abs. 1 JGG). Auch die Aufenthaltsdauer in den einzelnen Systemen sowie das Alter der jungen Menschen in den Hilfen differieren erheblich: Während stationäre Hilfen zur Erziehung grundsätzlich von Geburt an bis zum 27. Lebensjahr gewährt werden können, sind Kinder und Jugendliche in der Geschlossenen Unterbringung durchschnittlich 14 Jahre alt (Hoops & Permien, 2006, S. 49), in IAM beträgt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer ca. 20 Monate bei einem Durchschnittsalter von 15 Jahren (Klein et al., 2011). Der durchschnittliche Aufenthalt in der Kinderund Jugendpsychiatrie beträgt nunmehr 34 Tage (Statistisches Bundesamt, 2018a, S. 26). Nach JGG ist eine Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe von einer Dauer von 6 Monaten bis 10 Jahren möglich, die meisten inhaftierten jungen Menschen sind zu Haftstrafen von 1 bis 5 Jahren verurteilt und überwiegend junge Volljährige zwischen 18 und 25 Jahren (Statistisches Bundesamt, 2018b, S. 15 f.). Während im Rahmen der Heimerziehung seit einigen Jahren bereits über den Übergang aus der stationären Jugendhilfe diskutiert (z. B. Sievers, Thomas & Zeller, 2014) und für die Herausforderungen, mit denen die jungen Menschen dabei konfrontiert sind, sensibilisiert wird, sind bisher lediglich einzelne erziehungswissenschaftliche Arbeiten zum Übergang aus dem Jugendstrafvollzug zu finden (z. B. Wagner, 2019). Demgegenüber scheint der Übergang aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie bisher wissenschaftlich kaum thematisiert zu sein, so findet in Grundlagenartikeln (Klees & Witte, 2006, S. 214) das Ende des Aufenthalts und der Übergang aus der Klinik erst gar keine Erwähnung oder das Behandlungsende wird als „Abschlussphase“ (Streeck-Fischer, 2002) beschrieben. Dennoch scheint es lohnenswert, aufgrund der ähnlichen Zielgruppe und Strukturierung der Hilfen diese nun nicht nur gegenüberzustellen, sondern die Übergangsgestaltung und -erfahrungen und damit einhergehende Herausforderungen und hilfreiche Faktoren gemeinsam zu betrachten, um so gemeinsame Anforderungen an die pädagogische Begleitung von Übergängen aus hoch strukturierten Hilfen für junge Menschen formulieren zu können. 3
Übergänge aus den Hilfen – eine allgemeine Betrachtung
Übergänge werden allgemein verstanden als „sozial prozessierte, verdichtete und akzelerierte Phasen in einem im permanenten Wandel befindlichen Lebenslauf“ (Welzer, 1993, S. 37). Sie sind somit nicht als linear zu verstehen, sondern beinhalten immer auch Schleifen und Umwege, verlaufen multipel und beeinflussen einander gegenseitig. Sie werden für diesen Beitrag nicht nur konzipiert als Über-
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gänge aus einer Hilfeinstitution hinaus, sondern auch als oftmals parallel zubewältigender Übergang in das Erwachsenenalter, insbesondere für junge Menschen in den stationären Hilfen zur Erziehung und im Jugendstrafvollzug. Das junge Erwachsenenalter konstituiert sich durch seine „Übergangshaftigkeit“ (Walther & Stauber, 2007, S. 20), durch Übergänge in verschiedenen Lebensbereichen, die die jungen Menschen zu bewältigen haben. Obwohl die einzelnen o.g. Hilfesysteme klare Vorschriften haben, wann der Übergang ins Erwachsenenalter bewältigt ist (z. B. HE: 21. bzw. 27. Lebensjahr (§ 41 SGB VIII); JStVollz: 21. bzw. 24. LJ (§§ 1; 89b JGG)), ist aufgrund der Pluralisierung von Lebensformen kaum mehr vom Erreichen bestimmter Status als direktem Indikator für den Eintritt in das Erwachsenenalter auszugehen (Ferchhoff & Dewe, 2016, S. 40). Stauber und Walther (2016, S. 139 f.) beschreiben den Übergang ins Erwachsenenalter als “Yoyo-Übergänge”, die reversibel, fragmentiert, diversifiziert und individualisiert sind. Entsprechend werden sie nicht einmal vollzogen, sondern können stets auch wieder zurückgezogen werden (etwa der Auszug aus dem Elternhaus), sie können mit einigem zeitlichen Abstand zueinander bewältigt werden, bleiben aber aufeinander bezogen. Dabei entsprechen die Lebensvollzüge nur noch selten der um die Erwerbsarbeit organisierten Normalbiografie (Kohli, 1987), während die diversen im Übergang zu treffenden Entscheidungen von den jungen Menschen selbst verantwortet werden müssen (Stauber & Walther, 2016, S. 139 f.). Diese Lebensphase des jungen Erwachsenenalters, im internationalen Diskurs auch als “emerging adulthood” (Arnett, 2007) bezeichnet, scheint jedoch insbesondere für die oben skizzierte Zielgruppe hoch strukturierter Hilfen nur bedingt zu gelten: Durch die klar definierten Altersgrenzen der Hilfen und die grundsätzliche Autonomieunterstellung am Ende dieser, scheint ein direkter Übergang in den Erwachsenenstatus gefordert zu sein; man muss es sich sozial und finanziell leisten können, sich beim Erwachsenwerden Zeit zu lassen (Krüger & Reißig, 2011, S. 21; Côté & Bynner, 2008, S. 256). 4
Herausforderungen und hilfreiche Faktoren im Übergang aus hochstrukturierten Hilfen
Nach den vorangegangenen Betrachtungen werden nun unter Bezugnahme zur aktuellen Forschungsliteratur Herausforderungen und hilfreiche Faktoren im Übergang aus hoch strukturierten Hilfen herausgearbeitet. Dafür wurden Forschungsarbeiten recherchiert, in denen die Übergänge aus den o.g. Institutionen betrachtet werden, und die Forschungsergebnisse thematisch geordnet. Zu erwähnen ist, dass sich die Logiken der Systeme auch in den Forschungsschwerpunkten widerspiegeln; so wird der Übergang aus dem Jugendstrafvollzug meist mit dem Aspekt der Resozialisierung verknüpft und im Bereich der Psychiatrie existieren bisher fast
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ausschließlich medizinische Studien. Für beide Institutionen ist somit ein Mangel an erziehungswissenschaftlichen Studien festzustellen. 4.1 Herausforderungen 4.1.1
Parallele Übergänge
Insbesondere wenn das Verlassen der Hilfe mit Erreichen der Volljährigkeit einhergeht, müssen Hilfeempfänger*innen nicht nur den Übergang aus der Hilfe, sondern parallel eine Reihe weiterer Übergänge bewältigen (HE: Köngeter & Zeller, 2011, S. 6; KJPP: Klees & Witte, 2006, S. 220; JStVollz: Stelly & Thomas, 2004, S. 115 f.), beispielsweise Übergänge aus der Jugendhilfe, aus der Schule, in die Ausbildung oder das Studium sowie in eigenständige(re) Wohnformen. Ein Großteil der jungen Menschen scheint sich nicht mit Erreichen der Volljährigkeit bzw. am Tag der Entlassung auf ein eigenständiges und selbstverantwortliches Leben vorbereitet zu fühlen, muss jedoch trotzdem damit rechnen, dass Anschlusshilfen nicht gewährt werden (HE: Strahl & Thomas, 2014, S. 134; JStVollz: Walsh, 2014). 4.1.2
Erwartete Selbstständigkeit zum Hilfeende als Gegensatz zur hohen Strukturierung in der Hilfe
Hilfen enden zumeist zu definierten Zeitpunkten, die sich nicht primär nach den Bedarfen der jungen Menschen richten, sondern z. B. nach dem Entlassungszeitpunkt aus dem Jugendstrafvollzug oder, in den Hilfen zur Erziehung, der erreichten Volljährigkeit5. Von den jungen Volljährigen wird nach Verlassen der Hilfen Selbstständigkeit erwartet (JStVollz: Walsh, 2014, 279 f.). Dabei wird insbesondere die dafür erforderliche eigenverantwortliche Tagesstrukturierung als herausfordernd erlebt (HE: Sierwald et al., 2017, S. 17; JStVollz: Bereswill, Koesling & Neuber, 2007, S. 304) – unter anderem, weil die während der Hilfe vorhandenen Alltagsstrukturen, aber auch erlernte Verhaltensweisen, häufig nicht oder nur schwierig auf ein Leben außerhalb des Hilfealltags übertragbar sind (HE: Erhard & Seyboldt, 2015, S. 281 f.; JStVollz: Bereswill, 2006, S. 253 f.; GU: Permien, 2010, S. 66). Zudem begünstigen Stufen- oder Verstärkerpläne sowie das Pendeln zwischen verschiedenen Hilfesystemen eher die Anpassung an die jeweiligen Settings als eine nachhaltige Verhaltensänderung (HE: Gaßmöller, 2019; KJPP: Ader & Klein, 2011, S. 26; GU: Lunz, 2019, S. 89). 5
Hilfen zur Erziehung enden oftmals mit Erreichen der Volljährigkeit entweder, da seitens des Jugendamts keine Anschlusshilfen nach § 41 SGB VIII gewährt werden oder weil die jungen Menschen selbst diese ablehnen (Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik, 2016, S. 15; Nüsken, 2014, S. 29).
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4.1.3
Abrupte Übergänge
Schlussendlich besteht eine große Herausforderung darin, dass Übergänge häufig abrupt erfolgen. In den Hilfen zur Erziehung beispielsweise wird eine positive Entwicklung oftmals als Grund für ein frühzeitiges Hilfeende gewertet, gleichzeitig werden Hilfeanträge abgelehnt, wenn junge Menschen den eigenen Hilfebedarf nicht prägnant formulieren können (Sievers, Thomas & Zeller, 2014, S. 24). Im Anschluss an den Jugendstrafvollzug besteht bei jungen Entlassenen zwar häufig ein grundsätzlicher Anspruch auf Hilfen zur Erziehung, jedoch gestaltet sich v. a. ein Ersteintritt nach Erreichen der Volljährigkeit schwierig (Tammen, 2019, § 41, Rn. 25). Hinzu kommt, dass junge Volljährige aufgrund mangelnder Mitwirkung aus dem Adressat*innenkreis ausgeschlossen werden können und danach keine „Rückkehroptionen“, d. h. Möglichkeiten einer weiteren Betreuung im Rahmen der Hilfen zur Erziehung, bestehen (Sievers & Thomas, 2014, S. 148). Insbesondere im Jugendstrafvollzug werden die Inhaftierten oftmals nicht über den genauen Entlassungszeitpunkt informiert und es kommt häufig zu sog. Blitzentlassungen (Wagner, 2019, S. 195f). Dies führt in vielen Fällen wiederum zu den eigentlich zu vermeidenden abrupten Übergängen und zur Verschärfung sozialer Ungleichheit durch den frühzeitigen, institutionalisierten Übergang in ein eigenständiges Leben (Mangold & Schröer, 2014, S. 437). 4.1.4
Orientierung an Normalitätsvorstellungen und Stigmatisierungsängste
Viele der ehemaligen Hilfeempfänger*innen scheinen sich bei Verlassen der Hilfesysteme deutlich an „gesellschaftlich hegemonialen Normalitätsvorstellungen“ zu orientieren (Mangold & Rein, 2014, S. 144; siehe auch IAM: Flihs & Stossun, 2020, S. 58). Dazu gehören beispielsweise höhere formale Bildungsabschlüsse, aber auch Wohn- und allgemeine Lebenskonzepte, die mitunter – beispielsweise aufgrund einer Diskrepanz zwischen dem erreichten Bildungsabschuss und den Voraussetzungen für den Wunschberuf oder prekärer finanzieller Verhältnisse nach Verlassen der Hilfen – schwierig zu erreichen sind und daher von den jungen Menschen teilweise als Druck erlebt werden (JStVollz: Bereswill, Koesling & Neuber, 2007, S. 303). Auf der anderen Seite äußern junge Menschen vor Verlassen der Hilfeeinrichtungen oftmals Sorge vor Stigmatisierung und Diskriminierung im Zusammenhang mit ihrem Aufenthalt in den Hilfesystemen oder berichten von solchen Erlebnissen (JStVollz: Wagner, 2019, S. 235; GU: Lunz, 2019, 69; KJPP: Hensel, 2020, S. 79).
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Beziehungsabbrüche
Oftmals geht das Ende einer Hilfe mit Abbrüchen längerfristiger Beziehungen einher. Daraus folgt, dass den Adressat*innen nicht nur die Unterstützung durch das Hilfesystem fehlt, sondern, sollten diese nicht konzeptionell verankert und im Hinblick auf den Übergang aufgebaut worden sein, auch Begleitung durch soziale Kontakte außerhalb der Hilfe (HE: Sievers, Thomas & Zeller, 2014, S. 28; JStVollz: Wößner, Wienhausen-Knezevic & Gauder, 2014, S. 15). Entsprechend stellt der Aufbau stabiler sozialer Beziehungen eine weitere Herausforderung dar, mit denen junge Menschen konfrontiert sind (JStVollz: Stelly & Thomas, 2004, S. 115 f.; HE: Sierwald et al., 2017, S. 17). 4.1.6
Unklare Zuständigkeiten in der Übergangsgestaltung und mangelnde Kooperation verschiedener Institutionen
Hilfeübergreifend scheinen ungeklärte Zuständigkeiten für die Übergangsbegleitung kritisiert zu werden (sowohl zwischen unterschiedlichen Einrichtungen als auch im Übergang aus dem jeweiligen Hilfesystem). Insbesondere nach freiheitsentziehenden Maßnahmen scheint es schwierig, überhaupt geeignete Anschlussperspektiven im Hilfesystem zu finden (GU: Permien, 2010, S. 67 f.). Strukturell gesehen scheint es kaum möglich, für junge Menschen eine einrichtungs- bzw. systemübergreifende konstante Begleitung zu organisieren, es sei denn, dies geschieht auf ehrenamtlicher Basis. Kritisiert wird ein Mangel an Konzeptionen zur kontinuierlichen Begleitung im Übergang und an fachlichen Standards für die Beziehungspflege (HE: Thomas, 2017, S. 148; JStVollz: Wagner, 2019, S. 230). Weiterhin wird die Organisation einer frühzeitigen Kooperation unterschiedlicher am Übergang beteiligter Institutionen als Herausforderung benannt (GU: Hoops & Permien, 2006, S. 98 f.; JStVollz: Wagner, 2019, S. 230). Insbesondere im Jugendstrafvollzug scheint ein Mangel an Teilnahmemöglichkeiten an entlassungsvorbereitenden Angeboten zu bestehen (Walsh, 2014, S. 278 f.). Durch die Ausdifferenzierung der Hilfesysteme in unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche kommt es zudem oftmals eher zu einer Fokussierung einzelner Teilübergänge statt zur Betrachtung der Gesamtsituation (HE: Köngeter & Zeller, 2011, S. 6).
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4.2 Hilfreiche Faktoren 4.2.1
Erwerb alltagspraktischer Fähigkeiten und Entwickeln von Anschlussperspektiven
Obwohl kritisch aufgezeigt wird, dass die Vorbereitung auf ein Leben außerhalb der Hilfen sich nicht allein auf das Erlernen alltagspraktischer Fähigkeiten beschränken sollte (z. B. Sievers & Thomas, 2014), wird dieser Punkt im Übergang aus der Jugendhilfe von jungen Menschen als hilfreich wahrgenommen, beispielsweise wenn die Vorbereitung mit dem Wohnen in einem Verselbstständigungsapartment einhergeht und alltagspraktische Fähigkeiten in realitätsnahen Settings erprobt werden können (Strahl & Thomas, 2014, S. 133). Im Übergang aus dem Jugendstrafvollzug und aus Individualpädagogischen Auslandsmaßnahmen profitieren die jungen Menschen insbesondere von Unterstützung bei der Wohnungs-, Arbeits- und Ausbildungsplatzsuche bzw. der Suche nach einer berufsvorbereitenden Maßnahme und von Unterstützung bei der Kontaktaufnahme zu Familienmitgliedern und Peers sowie bei der Entwicklung von Ideen zur Freizeitgestaltung (JStVollz: Pruin, 2011; IAM: Stossun & Flihs, 2019). 4.2.2.
Kontinuierliche Kontakte zu Bezugspersonen
Übergreifend wird der kontinuierliche Kontakt zu Bezugspersonen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Hilfesysteme als hilfreich im Übergang benannt, insbesondere wenn diese auch „über die Grenzen einzelner Einrichtungen und Maßnahmen hinweg“ (Gaßmöller & Oelkers, 2020, S. 93) ansprechbar sind und zur Verfügung stehen (HE: Rätz-Heinisch, 2005, S. 315; JStVollz: Milán, Blume & Kittler, 2018, S. 21). Neben Familie, Freund*innen und Fachkräften (HE: Sierwald et al., 2017, S. 17) sind hier ebenso nicht-professionelle Patenschaften (HE: Rätz-Heinisch, 2005, S. 317) sowie Ehemaligenarbeit denkbar (HE: Sievers & Thomas, 2014, S. 150). Auch Konzepte einer durchgehenden (professionellen) Betreuung, die über die Dauer des Aufenthalts in der Institution hinausgeht, erscheinen hilfreich (JStVollz: Matt, 2012, S. 31 ff.). 4.2.3
Sukzessive, reversible Übergänge
Wie u. a. durch das Plädoyer für den Vollzug in freien Formen der Enquetekommission III des Landtags NRW „Für eine effektive Präventionspolitik“ (Die Präsidentin des Landtags NRW, 2010, S. 145 ff.) oder den als hilfreich wahrgenommenen Aufenthalt in einem Verselbstständigungsapartment deutlich wird, stellt ein sukzessiver Abbau der Hilfeintensität durch reduzierten Betreuungsumfang und erweiterte Partizipationsmöglichkeiten im Übergang einen hilfreichen Faktor
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dar. So sollen die jungen Menschen auf eigenständige Tagesstrukturierung und das Treffen eigener Entscheidungen durch Erweiterung der eigenen Verantwortung allmählich vorbereitet werden und sind nicht nach Hilfeende plötzlich mit diesen Anforderungen konfrontiert (HE: Strahl & Thomas, 2014, S. 134). Hinzu kommt beispielsweise die Forderung reversibler Übergänge (HE: Sievers, Schröer & Zeller, 2014, S. 16). Letztere werden jungen Haftentlassenen – unter stark eingegrenzten Bedingungen – ermöglicht, indem sie innerhalb von sechs Monaten nach der Entlassung für einen Monat auf freiwilliger Basis in die Einrichtung zurückkehren können (§ 62 JStVollzG NRW). 4.2.4
Flexible, individuelle Begleitung
Forschungsergebnisse aus allen Hilfesystemen weisen darauf hin, dass eine flexible, individuelle Begleitung den wichtigsten hilfreichen Faktor im Übergang darstellt. Dazu gehört einerseits die Kooperation unterschiedlicher Institutionen und auch der Eltern/Personensorgeberechtigten (JStVollz: Matt, 2012, S. 31 ff.; KJPP: Wertgen, 2009), andererseits wird eine kontinuierliche Begleitung über den gesamten Verlauf der Hilfe gefordert (JStVollz: Matt, 2012; Wagner, 2019, S. 239 f.). 5
Anforderungen an die pädagogische Begleitung von Übergängen
Zusammenfassend kann für die pädagogische Begleitung von Übergängen aus hoch strukturierten Hilfen festgehalten werden, dass -
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diese Hilfen geplant und langfristig begleitet werden müssen, um ggf. anstehende parallele Übergänge zu entzerren und abrupte Strukturbrüche zu vermeiden. Hierfür müssen Anschlusshilfen vorgehalten werden. auf den Übergang bereits während der Zeit in der Hilfe hingearbeitet werden muss. Durch eine sukzessive Öffnung der Hilfe kann ein abrupter Strukturwegfall vermieden und die Übertragbarkeit des Erlernten auf andere Kontexte bereits in einem „sicheren Rahmen“ erprobt werden. Wichtig ist dabei, dass mögliche Fehltritte als Reflexions- und Lerngelegenheiten interpretiert werden und nicht zur Rückführung in höher strukturierte Hilfen führen müssen. die Vorbereitung auf den Übergang sich auf möglichst viele Lebensbereiche beziehen sollte. es eines Netzwerks bedarf, durch das junge Menschen im Übergang flexibel und bedarfsentsprechend begleitet werden können. Dies betrifft sowohl ein Netzwerk auf institutioneller als auch auf individueller Ebene.
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Möglichkeiten geschaffen werden sollten, um einerseits den Umgang mit erwartbaren Diskriminierungs- oder Stigmatisierungserfahrungen, andererseits eventuelle „Rückfälle“ in frühere Verhaltensweisen reflektieren zu können und ggf. hilfreiche Faktoren im Umgang damit zu erarbeiten, z. B. indem frühzeitig die Nähe zum ehemaligen und/oder zukünftigen Wohnumfeld gesucht wird. die jungen Menschen im Kontext der Übergangsvorbereitung Perspektiven für die eigene Zukunft entwickeln, sich thematisch mit ihren Plänen und Wünschen auseinandersetzen und entsprechende Angebote nutzen können. Widersprüchlichkeit zwischen hoher Strukturierung und Erziehung zur Selbstständigkeit erfordert Verantwortungsübernahme der Hilfeplanenden und gemeinsame Arbeit an Lösungen
Nicht nur die Zielgruppe und die übergeordneten Ziele der unterschiedlichen hochstrukturierten Hilfen für junge Menschen scheinen sich zu ähneln, sondern ebenfalls die Herausforderungen und hilfreichen Faktoren im Übergang aus diesen Hilfen. Sowohl Herausforderungen als auch Lösungsansätze scheinen also zu großen Teilen für den Übergang aus hoch strukturierten Hilfen verallgemeinerbar zu sein. Nach wie vor liegt eine große Herausforderung in dem paradoxen Anspruch, einerseits für eine vulnerable Zielgruppe eine als notwendig erachtete intensive Hilfeform vorzuhalten, andererseits darauf hinzuwirken, dass die Adressat*innen zum Hilfeende, insbesondere wenn dieses mit Erreichen der Volljährigkeit einhergeht, eine gute Chance haben, selbstständig leben können. Diesem paradoxen Anspruch kann auf verschiedene Weisen begegnet werden: -
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durch eine kritische Reflexion der Notwendigkeit der derzeit praktizierten Steigerungslogik der Hilfesysteme, durch das Vorhalten innovativer Ansätze, die einen Strukturabbau bei gleichzeitig vorhandenem „Auffangnetz“ ermöglichen und sowohl Erprobungs- als auch Rückkehrmöglichkeiten bieten, durch eine rechtliche und strukturelle Stärkung der Unterstützungsmöglichkeiten für junge Erwachsene im SGB VIII unter Berücksichtigung der nichtlinearen Übergänge insbesondere aus hoch strukturierten Hilfesystemen und ins Erwachsenenalter, damit einhergehend durch eine Änderung der Erwartungen gegenüber jungen Menschen, nach ihrer Odyssee durch die Hilfesysteme am Ende dieser Reise rechtzeitig selbstständig zu sein.
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D Pädagogisches Handeln bei Jugenddelinquenz – Konzeptionelles und Praxisbeispiele
Das Jugendgefängnis als Lebensschule Michael J. Mentz „Wer die Menschen so behandelt wie sie sind, der macht sie damit schlechter. Wer aber die Menschen so behandelt, wie sie sein könnten, der macht sie damit besser.“ (Goethe, 1795)
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Der Jugendstrafvollzug als pädagogisches Handlungsfeld
Am 18. Mai 2004 wurde vom damaligen hessischen Justizminister Christean Wagner in einer Landespressekonferenz der Abschlussbericht „Einheitliche Konzeption im hessischen Jugendstrafvollzug“ (vgl. Wagner, 2002, S.34 f.) der Öffentlichkeit vorgestellt. Dieser Entwurf war das Ergebnis der Beratungen einer vom Verfasser geleiteten Arbeitsgruppe aus hochrangigen Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaft und Vollzugspraxis aus Hessen und Mitarbeitern des Hessischen Ministeriums der Justiz. Die mit diesem Arbeitspapier verbundene Erwartung ging dahin, durch eine verbesserte Ausgestaltung der Haftbedingungen des Jugendstrafvollzugs und eine intensivere Betreuung die Rückfälligkeit der jungen inhaftierten Menschen zu vermindern. Bei der Erarbeitung der Konzeption begegnete ich erstmals dem Erziehungswissenschaftler Philipp Walkenhorst. Mit ihm lernte ich einen engagierten Verfechter der nachholenden Entwicklungsförderung für junge Menschen, denen mangels der gebotenen Unterstützung ein belastbarer Start ins Leben bisher nicht gelungen ist, kennen. Er hegte jedoch große Zweifel, ob der Jugendstrafvollzug die ihm anvertrauten jungen Menschen auf ein Leben in sozialer Verantwortung vorbereiten könne. Ich hielt ihm, gestärkt durch die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes in seiner Entscheidung vom 31. Mai 2006 (vgl. BVerfG, 2006, S. 2093) entgegen, dass eine Jugendstrafanstalt (JSA) weniger ein Ort des Strafens denn einer des nachholenden Erlernens eines gelingenden Lebens, d. h. eine Lebensschule sein sollte. Als mir Anfang 2007 die Leitung der hessischen JSA Rockenberg, in der die 14- bis 18-jährigen jungen Inhaftierten untergebracht sind, übertragen wurde, begann ich mit Unterstützung meiner Mitarbeiter*innen die Anstalt als Ort des Lernens auszugestalten. Ein augenfälliger Hinweis für die Besucher*innen der Anstalt war, dass sich unmittelbar hinter der Anstaltspforte ein großes Plakat befand, auf dem unser Leitbild abgedruckt war. Darunter befand sich ein Willkommensgruß
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_12
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Michael J. Mentz
folgenden Inhalts: „Herzlich Willkommen in der JVA Rockenberg, der Lebensschule für junge Gefangene in Hessen.“ Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käsmann, wurde auf den Begriff „Lebensschule“ aufmerksam, der im Zusammenhang mit einer JSA doch eher ungewöhnlich schien, und fragte an, ob sie im Herbst 2011 eine Folge ihrer Fernsehserie "Mitten im Leben" in Rockenberg abdrehen dürfe. Nach der Genehmigung durch das Hessische Justizministerium fanden die Dreharbeiten statt, der Beitrag selbst wurde am Buß- und Bettag 2011 im ZDF gesendet. Während der Dreharbeiten haben wir uns tiefgehend über die sinnhafte Ausgestaltung des Jugendstrafvollzuges ausgetauscht. Diesen Diskurs griff sie in ihrem Buch „Sorge dich nicht, Seele“ unter Hinweis auf ihren Besuch auf: Vor einiger Zeit habe ich die JSA Rockenberg besucht. Michael J. Mentz, der damalige Leiter, war ungeheuer engagiert, um das ehemalige Kloster Marienschloss für die jungen Gefangenen nicht zu einem Ort des Strafens, sondern zu einem Ort des Lernens, der positiven Selbstfindung zu machen. Er schrieb mir seine Hoffnung: „Eine Lebensschule, in der sie gelingendes Leben und Zusammenleben lernen, damit sie in der schwierigen, gefährlichen, verführerischen Freiheit ein Leben mit Freude in sozialer Verantwortung und ohne Straftaten führen können. Ein Ort, an dem sie – behutsam begleitet – das Leid, das sie anderen zugefügt haben, aber zugleich auch die schmerzhaften Erfahrungen ihres bisherigen Lebens aufarbeiten können. Ein Ort der Ermutigung, an dem sie mit sich selbst und ihrer Verantwortung aussöhnen lernen und dadurch den Zugang zu ihrer Würde erlangen. Letztlich ein Ort, der sie befriedet und aufwertet. Nur wer ein belastbares Selbstwertgefühl entwickelt hat, verfügt über die Stärke, sich mit der eigenen Schuldhaftigkeit auseinanderzusetzen. Nur wer die eigene Schuld anzuerkennen vermag, dem eröffnet sich die Chance, die eigene Würde wiederzuerlangen. Schuldverarbeitung befriedet und eröffnet die Realisierung von Lebenschancen. Nur wer den Zugang zum eigenen Schmerz findet, vermag das Leid anderer empathisch zu teilen. Der Brief spiegelt große Lebenserfahrung und mich haben der Leiter der Einrichtung und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damals sehr beeindruckt. (Käsmann, 2016, S.116 f.)
Die Forderung, dass eine JSA wegen des spezifischen Entwicklungsstandes der jungen inhaftierten Menschen vordringlich als Ort des Lernens und weniger als Ort des Strafens auszugestalten ist, findet sich sinngemäß bereits 1980 in dem Schlussbericht, der vom ehemaligen Leiter der JSA Rockenberg, Professor Dr. Alexander Böhm, geleiteten Jugendstrafvollzugskommission. Dort wird die Dringlichkeit der Fortentwicklung des Jugendstrafvollzuges zu einer Einrichtung deutlich, die straffällig gewordenen jungen Menschen Chancen und vielfältige Hilfen für ein künftig straffreies Leben anbietet.
Das Jugendgefängnis als Lebensschule
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Die Ausgestaltung und Weiterentwicklung des Jugendstrafvollzugs […] zu einem sozialen Trainingsfeld für junge Menschen hat die Kommission am ausführlichsten beschäftigt. Eine besondere Struktur der JSA, die das Entstehen eines therapeutischen Klimas begünstigt, ermöglicht die Entfaltung und Förderung der Persönlichkeitsentwicklung ebenso wie den Erwerb der zur sozialen Tüchtigkeit beitragenden schulischen und beruflichen Fähigkeiten. Dieses Soziale Training erfordert ein Klima, das Anforderungen an die Lebensverhältnisse im Vollzug, etwa hinsichtlich der baulichen Gestaltung, aber auch an die Art und Weise stellt, wie die Bediensteten zusammenarbeiten. So kann ein in jeder Hinsicht versorgter junger Mensch keine Verantwortung für das eigene Verhalten übernehmen. Kann ihm indessen etwa überlassen werden, wie er die tägliche freie Zeit nutzt [...], so werden Schwierigkeiten deutlicher, bieten sich Ansätze für Beratung und Hilfe, erweitert sich das Übungsfeld. Ein junger Mensch wird aber weniger Verständnis für die Bedeutung von Eigenverantwortung und Zusammenarbeit entwickeln, wenn er Bedienstete beobachtet, denen keinerlei Entscheidungsspielraum in ihrer Arbeit gewährt ist, die ungefragt und nicht unterrichtet Weisungen befolgen müssen und unkoordiniert nebeneinander oder gar gegeneinander arbeiten. Die Beispiele sollen andeuten, dass die Leitungs- und Personalstruktur der Anstalt, die Art des Zusammenwirkens, die baulichen Verhältnisse und das Niveau der Bildungsangebote untrennbar zusammenhängen und gemeinsam entwickelt werden müssen. (Schlussbericht der Jugendstrafvollzugskommission, 1980, S.11 f.)
So regelt die gemeinsame Konzeption für den Hessischen Jugendstrafvollzug, dass die JSAen in Vollzugsabteilungen mit maximal 60 jungen inhaftierten Menschen, die wiederum in Wohngruppen mit 10 bis 12 Personen, gegliedert sind. Durch fest eingesetzte Bedienstete für diese Vollzugseinheiten ist sichergestellt, dass die jungen Gefangenen, deren bisheriges Leben regelmäßig von Beziehungsabbrüchen geprägt war, häufig erstmalig Beziehungskontinuität erleben. Diese Erfahrung stärkt die psychische Widerstandskraft (Resilienz) der jungen Inhaftierten. 2
Lernfelder der Lebensschule
Erziehung als dialogische, zugleich auch Grenzen setzende, nachholende Entwicklungsförderung erfolgt in einer JSA, die sich als Lebensschule versteht, neben der schulischen und beruflichen Aus- und Fortbildung, in verschiedenen Inhaltsbereichen (Walkenhorst, 2017, S.36 f.). Zu diesen gehören die zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit den eigenen Straftaten und ihren Folgen sowie die soziale Rehabilitation im Sinne von Menschenrecht bezogener, wertorientierter Sozial- und Gemeinschaftserziehung. Ebenso spielen die Gesundheitserziehung, Gesundheitspflege und Gesundheitsvorsorge in diesem Rahmen eine Rolle. Dazu zählt auch die Übernahme der Verantwortung für Sauberkeit und
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Hygiene des eigenen Haftraumes und der gemeinsam genutzten Räume der Wohngruppe. Ein weiteres Feld der nachholenden Entwicklungsförderung stellt die verantwortliche Gestaltung des alltäglichen Zusammenlebens und die strukturierte Gestaltung der freien Zeit dar. Sport fungiert dabei als Mittel der Körperertüchtigung, aber auch zur Persönlichkeitsentwicklung und -stabilisierung. Abgerundet wird die Erziehung in der Lebensschule durch die Gestaltung und ggf. Revitalisierung der Außenkontakte sowie der Religionsausübung und Seelsorge (vgl. Mentz, 2007, S. 413 f.). Neben diesen Bereichen, in denen die jungen Inhaftierten während des Aufenthaltes in der JSA befähigt werden sollen, ist es zur Erreichung des Vollzugszieles unabdingbar, dass sie ernst genommen werden. Dabei ist darauf zu achten, dass ihr Fehlverhalten, aber auch Pflichtverstöße mit „zugewandter Lästigkeit“ (vgl. Geldermann, 2013, S. 128) und gelassener Konsequenz registriert und aufgearbeitet werden. Der Begriff der „zugewandten Lästigkeit“ beschreibt eine der zentralen Erfahrungen in der Arbeit mit jungen inhaftierten Menschen. Wenn wir über Widerstände der jungen Inhaftierten hinweg (sogenannter „Pitbull-Vollzug“: Zupacken und nicht loslassen!) deren Lernen ermöglicht haben, erlebten wir nicht selten, dass diese versuchten, die im Entstehen befindliche Arbeitsbeziehung durch destruktives Verhalten zu beschädigen und letztendlich zu zerstören. Es dauerte eine geraume Zeit, bis wir dieses vermeintlich undankbare Verhalten verstanden: Durch unsere zugewandte Arbeit erlebten die uns anvertrauten jungen Menschen eine ihnen bis dahin unbekannte, intensive Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Diese wurde anfänglich von ihnen als wohltuend empfunden, löste jedoch mit der Zeit bei ihnen einen tiefgehenden Schmerz aus, da sie sich diese Zugewandtheit von den Menschen, die sie am meisten liebten – nämlich ihren Eltern –, häufig vergeblich ersehnt hatten. Deshalb versuchten sie die Arbeitsbeziehung zu uns zu zerstören, damit wir sie – ebenso wie ihre Eltern – aufgeben sollten. Diese vordergründig nicht nachvollziehbare Strategie sollte die Auseinandersetzung mit ihrer Biografie und deren schmerzliche Aufarbeitung verhindern. Sie hätte im „Erfolgsfalle“ nämlich eine Gleichstellung der Mitarbeiter*innen unserer JSA und den Eltern zur Folge gehabt. So wäre der Schmerz der uns anvertrauten jungen Inhaftierten vermindert, wenn nicht gar beendet worden, weil dadurch ihre Eltern aufgewertet worden wären, um deren Liebe und Aufmerksamkeit sie vergeblich gekämpft hatten. Nachdem wir diesen Grund für ihren Widerstand erkannt hatten, arbeiteten wir weiter mit den jungen Menschen unter Beachtung des Vollzugszieles einer gelungenen Wiedereingliederung über den oben dargestellten Schmerz hinweg. So gelang es zumeist, die Arbeitsbeziehung zu bewahren und auszubauen. Während aller Interventionen wurde dabei stets das Prinzip beachtet: das Verhalten missbilligen, zugleich aber die Person respektieren. Nur wenn der junge inhaftierte
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Mensch erkennt bzw. fühlt, dass diese Eingriffe erfolgen, um seine nachholende Entwicklung zu fördern, können diese Prozesse zielführend sein, indem sie Verhaltensänderungen ermöglichen bzw. herbeiführen. Die „zugewandte Lästigkeit“ definiert die DNA – die Haltung – einer konsequent auf Wiedereingliederung ausgerichteten Jugendanstalt als Lebensschule, d. h. eines Ortes des Lernens. Insbesondere da viele junge inhaftierte Menschen mit Bezugspersonen aufgewachsen sind, die hauptsächlich auf der Machtebene agiert haben, muss das Prinzip der Förderung durch erzieherische Grenzsetzung immer als tragende Botschaft der Intervention erkennbar und spürbar sein. Grundsätzlich müssen die förderlichen Lernangebote das gesamte Anstaltsleben durchziehen. Die JSA muss zur „guten Schule“ (Walkenhorst, 2002, S. 290) werden. Diese nachholende positive Entwicklungsförderung wird dadurch ermöglicht, dass den jungen Inhaftierten eine Vielzahl an Lernfeldern zur Verfügung gestellt wird. Die Wohngruppe fungiert als wichtigstes Lernfeld und ist der zentrale Ort zum Erwerb sozialer Kompetenz. Im Lernfeld „Wohngruppe“ üben die jungen Gefangenen die Einordnung in eine Gemeinschaft, ggf. unter Zurückstellung eigener Belange. Hier werden in räumlich abgetrennten Einheiten insbesondere Werte wie gegenseitiger Respekt aber auch Solidarität, ohne die ein sozialverträgliches Zusammenleben nicht möglich ist, gewaltfreie Konfliktlösungen, gegenseitige Toleranz und Verantwortung für den eigenen Lebensraum vermittelt und eingeübt. So erlebt der junge Inhaftierte das Selbstwert stiftende Gefühl, Mitglied einer funktionierenden Gemeinschaft zu sein. Die Grundlage des Zusammenlebens ist ein von den inhaftierten Jugendlichen gemeinsam mit den Betreuer*innen erarbeitetes Regelwerk (Böhm, 2003, S. 97). Die feste Zuordnung von Mitarbeiter*innen aus dem Sozialdienst und dem AVD schafft die Grundlage für das Erleben dauerhafter, tragfähiger sozialer Beziehungen, die viele der jungen Inhaftierten in dieser Form noch nie gelebt und erlebt haben. Diese langanhaltenden, festen Beziehungen stärken die Resilienz der jungen inhaftierten Menschen und bilden ein weiteres Lernfeld. Da sie häufig ein vertrauensvolles, verantwortliches Miteinander noch nicht kennengelernt und demgemäß noch nicht eingeübt haben, werden die Gruppenprozesse mit großer Aufmerksamkeit begleitet, um schädigende Übergriffe zu vermeiden. Das gelingende Lernen in der Wohngruppe setzt voraus, dass Konflikte zwischen den jungen Inhaftierten aufgegriffen und – falls nötig – unter Anleitung aufgearbeitet werden. Der Wohngruppenvollzug mit seiner insbesondere im Freizeitbereich hohen Beziehungsdichte sowie den damit verbundenen Entwicklungschancen, aber auch Konfliktpotentialen, erfordert namentlich in den Nachmittags- und Abendstunden die Anwesenheit einer angemessenen Anzahl von qualifizierten Mitarbeiter*innen, welche durch Honorarkräfte und Ehrenamtliche ergänzt werden. Eine den Entwicklungsstand der jungen inhaftierten Menschen berück-
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sichtigende Betreuungs- und Kontrolldichte bei der aktiven und aktivierenden Freizeitgestaltung ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine entwicklungsfördernde Alltagsgestaltung, nicht zuletzt um den schädlichen Wirkungen unstrukturierter und diffuser Freizeit sowie der Entstehung von Subkulturen vorzubeugen (vgl. Böhm, 2003, S. 97). Die Mitarbeiter*innen verrichten ihre Arbeit mit professioneller Nähe und berücksichtigen dabei die Prinzipien der zielbewussten und intellektuell anspruchsvollen „zugewandten Lästigkeit“ und der gelassenen Konsequenz. Sofern sich junge Inhaftierte vorübergehend als gruppenunfähig erweisen und dadurch die Weiterentwicklung anderer Gruppenmitglieder gefährden, genießt deren Schutz Vorrang. Der vorübergehende Ausschluss von Gruppenangeboten, erforderlichenfalls auch die Herausnahme aus der Wohngruppe, erfolgt immer mit dem Ziel, die Gruppenfähigkeit des „Störers“ wiederherzustellen. Aufgrund der regelmäßig noch nicht abgeschlossenen Persönlichkeitsentwicklung und einer häufig nicht ausreichend ausgebildeten Kommunikationsfähigkeit gehören körperbetonte Durchsetzungsstrategien seitens der inhaftierten Jugendlichen zum Alltag in der Wohngruppe. Diesen Pflichtverstößen begegnen wir durch die erzieherische Ausgestaltung der JSA durch die Einübung gewaltfreier Problemlösungstechniken. Interventionen werden grundsätzlich so gewählt, dass sie nicht den Entzug von Lernfeldern herbeiführen. Durch regelmäßige Wohngruppenaussprachen, aber auch Wohngruppen übergreifende Vollversammlungen, erlangt der junge inhaftierte Mensch die Befähigung zur Teilhabe an einer demokratischen Gemeinschaft. Durch gemeinsame Wohngruppenessen erlebt er die Einnahme der Speisen als kommunikativen Akt, wobei alle Bewohner der Wohngruppe in die Vor- und Nachbereitung – Tisch decken sowie Spülen des Geschirrs – einbezogen werden. Durch das Lernfeld „Schule“ als wichtige Erziehungsinstitution werden die sozialen Bezugsfelder der jungen Inhaftierten erweitert. Zudem dient es zum Erlernen eines strukturierten Tagesablaufes. Die Schule kann neben ihrem originären Bildungsangebot für alle jungen inhaftierten Personen biografisch bedingte Lerndefizite ausgleichen. Da der überwiegende Teil der jungen Inhaftierten über keine belastbare schulische Ausbildung und Sozialisation verfügt, besteht die Gefahr, dass die weniger guten Schüler mit mangelndem Selbstwertgefühl die Bereitschaft entwickeln, ihre schulischen Misserfolge, die sie als ständiges Versagen erleben, durch Erfolgserlebnisse in negativ besetzten Lebensbereichen zu kompensieren. Schulischer Erfolg kommt insbesondere bei denjenigen Inhaftierten, die bisher keine Entfaltungsmöglichkeiten, also keine Form der legitimen Anerkennung realisieren konnten, eine besondere Bedeutung für die Rückfallvermeidung zu. Gelungene Schulabschlüsse, die erstaunlich viele junge Gefangene erwerben, werden deshalb gebührend u. a. mit Büchergutscheinen und Geldprämien gefeiert. Die Schulangebote werden zudem durch die
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Zuordnung einer*s Lerntrainers*in ergänzt. Um die Qualität der Anstaltsschule sicher zu stellen, wird diese zertifiziert. Dadurch erhält sie eine pädagogische Grundordnung, die nicht nur benennt, was nicht sein darf, sondern auch festschreibt, was erwünscht oder erwartet wird. Eine gemeinsam von Schülern und Lehrkräften erarbeitete Schulordnung sichert als Selbstverpflichtung eine demokratische Teilhabe am eigenen Lernumfeld. Im Lernfeld „berufliche Aus- und Fortbildung“ stellen die Angebote eine unerlässliche Grundlage zum Erreichen des Erziehungszieles dar. Eine gelingende Berufsausbildung bezieht ihre stabilisierende Wirkung aus dem – häufig erstmaligen – positiven Selbstwerterleben der jungen Inhaftierten. Ein junger Mensch, der seine Gesellenprüfung mit Erfolg absolviert hat, festigt zugleich seine Ich-Stärke. Das Erleben, eine berufliche Herausforderung erfolgreich bewältigt zu haben, also die eigene Selbstwirksamkeit zu erfahren, stärkt den jungen inhaftierten Mensch darin, kriminellen Versuchungen besser widerstehen zu können und eröffnet andere Sichtweisen (vgl. Böhm, 2003, S. 154 f.). Bei den Angeboten der beruflichen Aus- und Weiterbildung wird berücksichtigt, dass sich die Verweildauer der jungen Inhaftierten häufig unterhalb des Zeitrahmens befindet, der zur Absolvierung einer Vollausbildung erforderlich ist (BVerfG, 1673, Absatz 61). Deshalb wird ein differenziertes, gegebenenfalls auch niedrigschwelliges Lernangebot mit modularer Ausbildung und Teilzertifikaten vorgehalten. Durch ein begleitendes Übergangsmanagement werden die beruflichen Wiedereingliederungschancen verbessert. Zum Abschluss begonnener Bildungsmaßnahmen kann den Inhaftierten gestattet werden, über den Entlassungszeitpunkt in der JSA zu verbleiben oder nach der Entlassung weiterhin die Anstalt aufzusuchen. Beim Lernen durch Fördertrainer*innen unterstützt, erhalten die jungen Inhaftierten fachliche Hilfe und damit zugleich exklusive Aufmerksamkeit und emotionale Zuwendung. Dieses Erleben erfolgreichen Lernens führt zur Entwicklung und zur Stabilisierung des eigenen Selbstwertgefühles. Diese positive Selbstwahrnehmung trägt nicht unwesentlich zur Befriedung gewalttätiger junger Männer bei. Außerdem: Wer erfolgreich Lernprozesse bewältigt hat, steigert damit zugleich seinen Mut und damit seine Bereitschaft, sich auf neue Lernabenteuer einzulassen. Es folgt: „Wer sich beruflich qualifiziert, schafft damit eine tragfähige Grundlage zum Erwerb des Lebensunterhaltes und verbessert damit seine Wiedereingliederungschancen“ (Ostendorf, 2013, S. 355). Sämtliche Lernerfolge in Schule und Berufsausbildung werden zertifiziert und enden regelmäßig mit offiziellen Abschlussfeiern – einem offiziellen, nicht subkulturellen Ritual – (vgl. Walter, 2007, S. 196), in denen die vollbrachten Leistungen der Lernenden, aber auch der Lehrenden gebührend gewürdigt werden. Ein ganz besonderer Stellenwert kommt in der Lebensschule dem Lernfeld der Freizeitgestaltung zu. Die Biographien der jungen inhaftierten Menschen belegen, dass ihre Straffälligkeit häufig im ursächlichen Zusammenhang mit
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unstrukturiertem Freizeitverhalten steht (vgl. Enquetekommission, 2010, S.28 f.; Bihs, 2013, S. 48 f.). Deshalb stellt die nachhaltige Einübung eines gelingenden Umgangs mit der freien Zeit ein tragendes Element für die erfolgreiche Wiedereingliederung dar (Bundesminister der Justiz, 1980, S. 36 f.). Deshalb wird die sinnvolle Ausgestaltung der freien Zeit als ein tragendes Element für die Lebensführung nach der Entlassung eingeübt. Die Teilnahme an begleiteten Freizeitangeboten gerade unter den Bedingungen des Jugendstrafvollzuges trägt dazu bei, Gewalt auslösende und Gewalt bedingende Situationen zu vermeiden. Deshalb werden auch am Wochenende und an Feiertagen bis zum Einschluss in den Wohngruppen begleitete Freizeitangebote vorgehalten. Diese Freizeitgestaltung ist daran auszurichten, spontan geäußerte Bedürfnisse und Vorschläge der jungen Inhaftierten aufzugreifen, ihre Interessen zu fördern sowie ihre Neigungen und Bedürfnisse zu wecken (vgl. Bundesminister der Justiz, 1980, S.36 f.). Die für diese Angebote erforderliche verstärkte Betreuungsdichte ist schon deshalb angezeigt, weil in den JSAen – wenn auch nur in geringem Anteil – Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren untergebracht sind. Zwei bis vier Jahre Altersunterschied stellen in dieser Lebensphase schon bei behütet aufgewachsenen Jugendlichen einen erheblichen Unterschied in der Entwicklung dar. Für Jugendliche aus zerrüttetem Umfeld, mit Dauerstress, Lernverweigerung, Aggressivität und krimineller Auffälligkeit, häufig in der Tristesse betonierter Außenbezirke aufgewachsen, kann dieser Altersunterschied die knochentrockene Lunte am Pulverfass Pubertät darstellen. Mit begleiteten Freizeitangeboten wird die Kreativität der jungen Inhaftierten gefördert und stärkt so zugleich ihr Selbstwertgefühl. Dadurch werden sie darauf vorbereitet, nach ihrer Entlassung am kulturellen Leben in Vereinen etc. teilzuhaben. Da viele der jungen inhaftierten Menschen erst zu einer die Persönlichkeit fördernden Teilnahme an Freizeit angeleitet werden müssen, sind diesem Personenkreis zunächst Gruppenaktivitäten anzubieten, zumal diese neben der Einübung gegenseitigen Respektes zugleich das Erlernen und Erproben von Gruppenverhalten ermöglicht. Aber auch die Bedeutung der individuellen Betreuung junger Inhaftierter gilt es zu beachten. Diese häufig und gezielt praktizierte Einzelbetreuung gewährt einen geschützten Rahmen für junge inhaftierte Menschen mit noch nicht belastbarem Selbstwertgefühl. Die Einzelbetreuung gewährt ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und persönlicher Zuwendung, die den jungen Inhaftierten seine Bedeutsamkeit erleben lässt und so zur Entwicklung seiner Ich-Stärke beiträgt. Die aktivierenden Freizeitangebote motivieren die jungen Inhaftierten dazu, sich der für eine gelingende Freizeitgestaltung erforderlichen Anstrengung zu unterziehen. Zugleich wirkt ein animierendes Freizeitangebot einem der Entwicklung der jungen inhaftierten Menschen nicht zuträglichem Rückzugsverhalten entgegen.
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Dem Sport kommt als Lernfeld im Jugendstrafvollzug eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Er reduziert die negativen Folgen der Inhaftierung, indem er dem Bewegungsmangel und den Stress-Symptomen mit ihren negativen psychosozialen unerwünschten Folgen entgegenwirkt. Sportliche Aktivitäten entsprechen dem jugendlichen Bewegungsdrang. Sport ermöglicht zudem die spielerische Einübung von Regeln als unverzichtbare Grundlage für ein gedeihliches Zusammenleben. Gerade bei jungen Inhaftierten stellt der Sport ein wichtiges Übungsfeld dar. Er vermittelt spielerisch einen angemessenen Umgang mit Erfolg und Niederlage, die rationale Aufarbeitung von Konflikten und die Einsicht in die Notwendigkeit von Regeln. Die Aufgabe des Jugendstrafvollzuges ist die, dem inhaftierten Menschen zu einem eigenverantwortlichen Leben in der Gemeinschaft unter der Achtung der Rechte anderer zu befähigen (vgl. Bundesminister der Justiz, 1980, S.11). Der Sport stellt demgemäß neben den für die Entfaltung und Förderung der zur Persönlichkeitsentwicklung ebenso wie zur sozialen Tüchtigkeit beitragenden Angebote im schulischen und beruflichen Bereich einen wichtigen Schwerpunkt dar. Neben den genannten Lernfeldern haben wir mit gut vorbereiteten Zusammentreffen der jungen Inhaftierten mit Jugendlichen aus Vereinen, Schulen etc. aus Gemeinden der Nachbarschaft der Jugendanstalt gute Erfahrungen gemacht. In jedem jungen inhaftierten Mensch schlummern Entwicklungspotentiale, die es durch Animation und Ermutigung zu wecken gilt. Dabei gilt es nicht auf die jungen Inhaftierten einzuwirken, sondern deren positive Entwicklung durch die Begegnung mit Gleichaltrigen, denen regelmäßig der Start ins Leben besser gelungen ist, im Sinne eines Modelllernens zu fördern. Als besonders geeignet hat sich dabei die gemeinsame Beschäftigung (Literaturprojekte, Sport, gemeinsame Musikprojekte etc.) gezeigt. Ziel dieser Begegnungen ist die Ermutigung der jungen Inhaftierten durch das voneinander Lernen von Jugendlichen mit unterschiedlichen Biografien, aber gleichen Entwicklungsaufgaben. Die Entwicklung von Jugendlichen befindet sich in einer Übergangsphase vom Kind zum Erwachsenen und zwar in körperlicher, seelischer und sozialer Hinsicht. Diese ist typischerweise mit Spannungen, Unsicherheiten und Anpassungsschwierigkeiten verbunden (vgl. Bihs, 2013, S.70 f.). Unter professioneller Begleitung (die einen geschützten Raum sicherstellt) sollen sich die jungen Inhaftierten mit Jugendlichen von „draußen“ über ihre Lebenssituation austauschen. Dabei erfahren sie regelmäßig, wie diese mit ihren Entwicklungsaufgaben umgehen. Dabei können sie im besten Fall von Gleichaltrigen (also ohne das übliche Machtgefälle im Umgang mit erwachsenen Betreuer*innen) lernen, dass es viele unterschiedliche Formen des Herangehens für diese Herausforderungen des Erwachsen-Werdens gibt und dass das Scheitern bei der Erreichung der Entwicklungsziele ungeachtet sozialer und ethischer Herkunft regelmäßig unvermeidbare Episoden darstellt.
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Die Akzeptanz unter den Jugendlichen, das Entdecken der eigenen Möglichkeiten und die vorurteilsfreie Begegnung stellt für alle Beteiligten, insbesondere für die jungen inhaftierten Menschen ein lehrreiches Erlebnis dar, das sie in ihrer Entwicklung fördert. Es bleibt festzuhalten, dass sich unter den Bedingungen einer geschlossenen JSA in Rockenberg auch bei diesen Projekten niemals unbeherrschbare Situationen ergeben haben. Vermutlich, weil wir in der Arbeit mit inhaftierten jungen Menschen konsequent das Prinzip beherzigt haben: „Erziehung ist aber nicht möglich ohne das Wagnis, dessen Grenzen Sorge und Liebe und tiefstes Wissen um die Verantwortung bestimmen müssen“. 3
Haltung der Mitarbeitenden
Der Staat muss den Jugendstrafvollzug nicht nur so ausstatten, wie es zur Realisierung des Vollzugszieles erforderlich ist. Er muss dafür Sorge tragen, dass die dazu erforderliche Ausstattung nicht nur mit den organisatorischen, sondern ebenso den finanziellen und personellen Mitteln kontinuierlich gesichert ist (vgl. Walter, 2007, S.200). Dies bedeutet ausreichende Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten sowie Formen der Unterbringung und Betreuung, die soziales Lernen in der Gemeinschaft, aber auch den Schutz der jungen Inhaftierten vor wechselseitiger Gewalt möglich machen. Innerhalb des Jugendstrafvollzuges sind neben den Anstaltsleitungen, den Fachdiensten (sozial- und psychologischer Dienst) der Werkdienst und der AVD für die Ausgestaltung des Anstaltslebens und die gelingende Förderung der jungen Inhaftierten die bedeutendste Mitarbeitendengruppe (vgl. Böhm, 2003, S. 57). Dabei stellen die Beamten des AVDs regelmäßig die zahlenmäßig größte Personalgruppe dar (Mentz, 2013, S. 151). Böhm bringt es auf die kurze Formel: Der Weg einer Verbesserung des Strafvollzuges und einer zielführenden Beeinflussung der jungen Inhaftierten geht nur über den AVD. „Diese Beamten tragen nicht nur den Schlüssel, sie sind auch der Schlüssel für die Institution“ (Böhm, 1992). Während der Werkdienst den jungen inhaftierten Menschen überwiegend auf der weniger Konflikt belasteten Arbeitsebene begegnet, teilt der AVD das tägliche Leben, die Sorgen und Nöte, aber auch das Glück und die Freude mit ihnen. Die Rolle des AVD´s im Rahmen der Freiheitsentziehung beschäftigt das einschlägige Schrifttum seit alters her: Wäre es auch wol gut, wenn die Pflichten der Officianten [des AVDs] gegen die Gefangenen, in Gegenwart jener sowol als dieser, öfters...vorgelesen würden; weil diese Gefangenen, als Menschen, doch immer gewisse Rechte behalten, die jedem Aufseher heilig seyn müssen und nicht verletzt werden dürfen, wenn man sich anders nicht an jenen versündigen will. (Wagnitz, 1791, S. 102)
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Auch Heine forderte im gleichen Sinne: Der Aufseher muss einen hohen Grad von Energie besitzen […]. Und dennoch kann er alle diese Tugenden besitzen und er ist für den Strafvollzugsdienst doch völlig unbrauchbar, wenn ihm ein gewisses Wohlwollen, eine gewisse Umgänglichkeit – um nicht zu sagen Liebenswürdigkeit – gebricht. Es gibt eine gewisse Sorte von Menschen, die ewig sauer sehen, die ewig unzufrieden sind, die jedem Ding die schwärzeste Seite abzugewinnen wissen, die in der unschuldigsten Sache einen Dolus wittern, und die Alles, was um sie her geschieht, als auf sie gemünzt ansehen. Gott tröste den unglücklichen director, der einige Aufseher der beschriebenen Art in seiner Anstalt hat! Solch ein Aufseher provocirt mehr Disciplinarvergehen unter den gefangenen, als sonst die Untugenden von einem Dutzend Taugenichtsen zu Wege bringen würden. (Heine, 1866, S. 58)
Es stellt sich somit die Dringlichkeit der Beantwortung der Frage dar, welchen Leitlinien eine JSA folgen soll und muss und welches Menschenbild die Bediensteten vom AVD bis zur Anstaltsleitung in sich tragen sollten, wenn sie ethisch verantwortlich im Sinne der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes handeln wollen? Unter fachkundiger Mithilfe von Philipp Walkenhorst wurden unter Beteiligung der Rockenberger Mitarbeiter*innen die Beziehungsfelder herausgearbeitet, die abgedeckt sein müssen, damit der Jugendstrafvollzug gelingt. Dazu bedarf es Bediensteter, die über folgende Fähigkeiten verfügen: Menschen, an denen sich die – ungeachtet ihrer Straftaten – regelmäßig in einer schwierigen Lebensphase befindlichen jungen Männer reiben können, ohne in Ungnade zu fallen. Die Mitarbeiter*innen benötigen die Fähigkeit zu erkennen, dass sich hinter der großen Klappe ein kleines Herz, häufig zugleich ein fragiles Selbstwertgefühl verbirgt, das es durch positive Selbsterfahrung aufzuwerten gilt. Sie müssen wissen und verstanden haben, dass die sich aus dieser für junge Menschen schwierigen Entwicklungsphase ergebende Aufsässigkeit kein Indiz für kriminelle Neigungen darstellt. Diesen Verhaltensweisen gilt es im Sinne des Erziehungszieles entwertungsfrei Einhalt zu gebieten – wohl wissend, dass das altersbedingte Aufbegehren der Jungen gegen die Erwachsenen „der Brennstoff der Evolution unserer Gesellschaft“ ist. Es benötigt Menschen, die verstanden haben, dass in jedem jungen Inhaftierten Entwicklungspotentiale schlummern, die es durch Animation und Ermutigung zu wecken gilt. Zudem darf nicht im Sinne des Bearbeitens von Werkstücken auf Jugendliche und Heranwachsende eingewirkt, sondern deren positive Eigenentwicklung muss nachhaltig gefördert werden. So wird von den Mitarbeiter*innen die Auffassung verlangt, zu wissen, dass die jungen Männer jeden Tropfen Schweiß ihrer Arbeit wert sind und zu erkennen, dass dieser Schweiß den jungen inhaftierten Menschen den Selbstwert vermittelt, nach dem sich diese zutiefst sehnen. Die Mitarbeiter*innen müssen die Mentalität von „Trüffelschweinen“ entwickeln und trotz übelriechendem modrigem Laub und muffeliger Erde von der
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Gewissheit geleitet werden, dass darunter Kostbarkeiten verborgen sind und diese finden und fördern. Zu guter Letzt bedarf es Mitarbeiter*innen, die um die Sinnhaftigkeit von Erziehungsstrafen (vgl. Geißler, 1982, S. 149 f.; Bihs, 2013, S. 136) wissen, d. h. erzieherischen entwertungsfreien Interventionen, die ein Überdenken des eigenen Verhaltens, aber auch das Empfinden von Scham ermöglichen. Als Orientierungshilfe bezüglich der Beantwortung der Frage nach der Haltung diente dabei folgende Erkenntnis: Es gibt kein besseres Mittel, das Gute in den Menschen zu wecken, als sie so zu behandeln, als wären sie schon gut. 4
Leitbild einer Lebensschule
Professor Philipp Walkenhorst hat bei der Erarbeitung des Leitbildes tatkräftig mitgewirkt, in das die Philosophie der Jugendstrafanstalt als Lebensschule eingeflossen ist. Das erarbeitete Leitbild zeugt vom Verständnis einer Lebensschule und spiegelt die Haltung, die benötigt wird, um die jungen Inhaftierten auf ihrem Weg bestmöglich begleiten zu können. 1.
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Während ihres Aufenthaltes im Jugendvollzug sollen unsere jungen Gefangenen erleben und einüben, was „gelingendes“ Lernen bedeutet. Deshalb wird der Alltag in unserer Anstalt, die sich als Lebensschule versteht, konsequent erzieherisch im Sinne der Hilfe bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben ausgestaltet. Erzieherische Auseinandersetzungen, schulische und berufliche Aus-und Weiterbildung, Anleitung zu aktivierender Freizeitgestaltung sowie ein gestaltetes Zusammenleben in der Wohngruppe sind die maßgeblichen Lernfelder, mit denen wir die Persönlichkeitsbildung, aber auch die Persönlichkeitsstabilisierung der jungen Gefangenen fördern. Eine zielorientierte Arbeit im Jugendstrafvollzug bedingt, die jungen Gefangenen mit ihren Stärken und Fähigkeiten, aber auch mit ihren Mängeln und Schwächen wahrzunehmen, anzunehmen und mit ihnen ein System des entwicklungsorientierten Förderns und Forderns zu leben. Eine wesentliche Voraussetzung für die Förderung im Jugendstrafvollzug besteht darin, klare, erzieherisch begründete Strukturen vorzugeben und die Einhaltung der damit verbundenen Regeln einzufordern. Soweit möglich, beteiligen wir die jungen Gefangenen an diesem Prozess der Strukturierung und Regelentwicklung. Unsere im Entwicklungsprozess naturgemäß erforderlichen grenzsetzenden Interventionen dürfen niemals den Charakter einer Strafe im Sinne einer Übelzufügung haben. Bei unserem Eingreifen muss immer das zu einer
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Verhaltensverbesserung notwendige Hilfsangebot im Vordergrund stehen (entwertungsfreie Intervention!). 6. Für die Entwicklung der jungen Gefangenen hat die Beziehung zu Eltern und Angehörigen eine besondere Bedeutung. Deshalb versuchen wir, diesen Beziehungen für die Zeit nach der Entlassung eine belastbare Struktur zu geben. 7. Wir geben keinen jungen Gefangenen auf, sondern lassen selbst großen Rückschlägen und Enttäuschungen immer wieder einen Neuanfang folgen. Wir vermitteln den Gefangenen, dass Misserfolge unvermeidbare, aber zugleich überwindbare Bestandteile jedes Entwicklungsprozesses sind und niemals gleichbedeutend mit dem Entzug an persönlicher Wertschätzung. 8. Wir bringen unsere persönlichen Fähigkeiten und Begabungen in unsere Arbeit ein und erfüllen unsere Vorbildfunktion gegenüber den jungen Gefangenen gemäß den Werten des Grundgesetzes. 9. Wir fühlen uns unserem gesetzlichen Auftrag verpflichtet und leisten unseren Beitrag zur Sicherheit in der Gesellschaft. Deshalb arbeiten wir in dem Bewusstsein, dass jede Rückfallvermeidung zugleich die Lebenschancen eines jungen Menschen fördert. 10. Der absehbare Mangel an Fachkräften gebietet es, dass wir die infolge ihrer Biographie häufig bildungsfernen jungen Gefangenen aus menschlichen, aber auch aus volkswirtschaftlichen Erwägungen auf ihrem Weg zurück in die Gesellschaft nach besten Kräften unterstützen. 11. Wir binden Ehrenamtliche, Studierende und weitere in der Straffälligenhilfe Engagierte sowie externe Fachkräfte in unsere Alltagsarbeit ein, begleiten sie mit Wohlwollen, Unterstützung und konstruktiver Kritik. Die Arbeit in der Lebensschule hat mir und den meisten meiner Mitarbeiter*innen eine tiefe Freude bereitet, auch wenn unsere Entwicklungsförderung nicht immer erfolgreich war – wir sind nicht selten gescheitert! Aber häufig erlebten wir bei den jungen Inhaftierten Entwicklungsfortschritte, die wir nicht für möglich gehalten haben. Dies war der Lohn für unsere zugewandte Beziehungsarbeit (professionelle Nähe!) und zugleich die Ermutigung, ohne Verzagen mit Zuversicht weiter mit den jungen Menschen zu arbeiten. Deshalb gilt ein besonderer Dank Philipp Walkenhorst. Philipp Walkenhorst ist ein glühender Verfechter der nachholenden Entwicklungsförderung für junge Menschen, denen mangels der gebotenen Unterstützung der Start ins Leben bisher nicht gelungen ist. Die gegenseitige Bereicherung, die sich aus der Praxis des Jugendstrafvollzuges und der Theorie der Erziehungswissenschaften ergab, war ein nie versiegender Quell für eine gemeinsame und kontinuierliche Weiterentwicklung von Ideen, Projekten und Konzepten für die erzieherisch ausgestaltete Arbeit mit inhaftierten jungen Menschen. Bei dieser schwierigen, aber zugleich schönen Arbeit mit jungen Menschen einen außerordentlich klugen, extrem fachkundigen
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Freund an meiner Seite zu wissen, war für mich als Juristen bereichernd, ermutigend und hilfreich. Literaturverzeichnis Bihs, A. (2013). Grundlegung, Bestandsaufnahme und pädagogische Weiterentwicklung des Jugendarrests in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Jugendarrestvollzuges in Nordrhein-Westfalen. Köln: Universitäts- und Stadtbibliothek Köln. Böhm, A. (2003). Strafvollzug (3.Aufl.). Neuwied: Luchterhand. Böhm, A. (1992). Das Berufsbild der Strafvollzugsbediensteten im Wandel der Zeit. Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, 41(5), S. 275-280. Bundesminister der Justiz (1980). Tagungsberichte der Jugendstrafvollzugskommission: Schlussbericht. Bonn. Bundesverfassungsgericht (2006). Neue Juristische Wochenschrift, 2093. Geißler, E. (1982). Erziehungsmittel. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Geldermann, J. (2013). Gefängnisseelsorge: Arbeit mit den „verlorenen“ Söhnen unserer Gesellschaft. In W. Reininger, & I. Reidt, (Hrsg.), Kirche an der Seite der Armen: Ein Praxisbuch zur Sozialpastoral (S. 127-133). Freiburg: Lambertus. Goethe, J. W. von (1795). Wilhelm Meisters Lehrjahre. 8. Buch, 4. Kap. Heine, W. (1866). Die Besserung als Strafzweck und das Aufsichts-Personal der Strafanstalten: Ein Beitrag zur Gefängnislehre. Leipzig: Johann Ambrosius Barth. Käsmann, M. (2016). Sorge Dich nicht, Seele. Warum wir nicht verzagen müssen. Asslar: Adeo. Landtag NRW (2010) Bericht der Enquetekommission zur Erarbeitung von Vorschlägen für eine effektive Präventionspolitik in Nordrhein-Westfalen. Bönen: Kettler. Mentz, M. (2013). Der AVD aus der Sicht eines Anstaltsleiters. Forum Strafvollzug (3), 151-159. Mentz, M. (2007). Die JVA Rockenberg im Umbruch – Eine Jugendstrafanstalt auf dem Weg zur Lebensschule. In J. Gördeler & P. Walkenhorst (Hrsg.): Jugendstrafvollzug in Deutschland. Neue Gesetze, neue Strukturen, neue Praxis? (S. 413-435). Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg. Ostendorf, H. (2013). Jugendstrafrecht (7. Aufl.). Baden-Baden: Nomos. Wagnitz, H.B. (1791). Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland. 1. Band. Halle: Gebauer. Wagner, C. (2002). Einheitliche Konzeption im hessischen Jugendstrafvollzug. Zeitschrift für Rechtspolitik, 34 ff. Walkenhorst, P. (2002). Jugendvollzug als „Gute Schule“. DVJJ -Journal, 13(3), 290300. Walkenhorst, P. (2017). Der Jugendstrafvollzug als nachhaltiges pädagogisches Handlungsfeld. In M. Schweder (Hrsg.), Jugendstrafvollzug – (k)ein Ort der Bildung?! (S. 33-49). Weinheim: Beltz. Walter, J. (2007). Bedingungen bestmöglicher Förderung im Jugendstrafvollzug. In J. Gördeler & P. Walkenhorst, (Hrsg.), Jugendstrafvollzug in Deutschland. Neue Ge-
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setze, neue Strukturen, neue Praxis? (S. 184-221). Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg.
Politische Bildung in Zwangskontexten – (didaktische) Überlegungen zu einer Kritischen politischen Bildung im Kontext des Jugend- und Jugendarrestvollzugs Lisa Schneider
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Einleitung
Politische Bildung hat in Deutschland aufgrund der historischen Entwicklung in Folge von zwei Weltkriegen und der Erfahrung der Singularität der faschistischen NS-Diktatur einen besonderen Stellenwert und eine hohe Vielgestaltigkeit. War noch vor einigen Jahren von ihrer Krise die Rede, verfügt sie zurzeit „über eine recht gute Infrastruktur“ (Lösch & Eis, 2018, S. 502), es kann sogar von einer Revitalisierung im Sinne einer politischen Bildung als Bildung gegen Radikalisierung und Extremismus gesprochen werden. Seit einer Reihe rechts“extremer“1 Übergriffe, Gewaltstraftaten und Tötungsdelikte (z. B. der Mord an CDU- Politiker Lübcke im August 2019, terroristische Angriffe auf eine Synagoge in Halle im Oktober 2019 und zuletzt die rechtsterroristisch motivierten Morden an Hanauer Bürger*innen im Februar 2020) sowie insbesondere der Selbstenttarnung des NSU-Komplexes 2011 wird mit dem Ziel der Abkehr und der Prävention von (angenommenen) demokratiefeindlichen und extremistischen Einstellungen auch im Kontext der (Jugend-)Strafrechtspflege vermehrt der Einsatz von Politischer Bildung als Beitrag zur Prävention von Radikalisierung (u. a. Mücke, 2016) diskutiert2. Auch der hier vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit (Un-)Möglichkeiten politischer Bildungsprozesse im Jugendvollzug und Jugendarrest, geht dabei aber nicht von einem präventiven Verständnis politischer Bildung mit dem Zweck der Zähmung der jungen Menschen aus (kritisch Lösch & Eis, 2018) sondern von einem grundsätzlichen Anrecht auf politische Bildung aller. Die praktisch-
1 Die Anführungszeichen um den Begriff „Extremismus“ kennzeichnen eine Kritik und Distanzierung vom Hufeisenmodell von Backes, das Links- und Rechtsextremismus gleichsetzt. Gleichzeitig ist es der gängige Begriff der politischen Bildung und wird hier aus Gründen der begrifflichen Klarheit und aus Ermangelung an Alternativen genutzt. 2 Gleichzeitig sei an dieser Stelle auch auf kritisch zu hinterfragende Förderpolitiken und -logiken des Kinder- und Jugendhilfeplans, diverser Stiftungen und auf die strukturelle Schwächung von Jugendbildungsträgern aufmerksam gemacht, die Bildungsträger und Jugendhilfeträger in die Lage bringt, Bildungsangeboten bestimmte besonders förderfähige Namen zu geben (vgl. Widmaier, 2019).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_13
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pädagogische Ausgestaltung der stationären Räume der Jugendstrafrechtspflege als Orte Kritischer Jugendbildung soll dabei im Fokus stehen. Dabei werden Gestaltungsmerkmale und Kriterien kritisch-politischer Bildung aus bestehenden Konzeptionen entwickelt und mit Überlegungen zu einer unfreiheitssensiblen (Sonder-)Pädagogik ergänzt. Im Folgenden wird zunächst (2) Kritische politische Bildung hinsichtlich ihrer Merkmale und Ziele näher ausgeführt. Darauf aufbauend wird diskutiert, inwieweit dieses Verständnis von politischer Bildung im Kontext der geschlossenen Jugendstrafrechtspflege sinnstiftend sein kann oder nicht. Dazu wird (3) fußend auf klassischen Gefängnisforschungsarbeiten besprochen, welche Zwangsmerkmale (Jugend-)Gefängnisse und -arrestanstalten aufweisen. Kontrastiv hierzu wird (4) dargestellt, warum der Jugendstrafvollzug und der Jugendarrest auf normativer Ebene durchaus Orte Kritischer politischer Bildung sein könnten. Anschließend werden (5) Kriterien und Gestaltungsmerkmale einer Kritisch-emanzipativen politischen Bildung, so wie sie in Freiheit gelten, auf die Bereiche des Jugend- und Arrestvollzugs übertragen und abschließend (6) in einem kurzen Fazit reflektiert. 2
Kritische politische Bildung…?
Unter politischer Bildung werden Detjen (2007) folgend alle Lernprozesse verstanden, die Politisches zum Thema haben und junge Menschen als politische Subjekte anrufen. In dem hier angelegten Verständnis soll politische Bildung zudem in einem kritischen Sinne verstanden werden. Diese verfolgt das Ziel der Förderung der politischen Urteils-, Kritik und Handlungsfähigkeit der Teilnehmer*innen (Lösch, 2011) sowie der Ermächtigung zu einer informierten und reflektierten Auseinandersetzung mit sich selbst und den gesellschaftlichen Lebensbedingungen (Scherr, 2011). Weiter will eine Kritisch-emanzipatorische politische Bildung „ermöglichen […], dass die Subjekte die Macht- und Herrschaftsverhältnisse begreifen, in die sie eingebunden sind“ und andererseits dabei unterstützen, dass die Subjekte (hier: die jungen inhaftierten Menschen) „Handlungsmöglichkeiten entwickeln können, diese Verhältnisse zu gestalten und zu verändern“ (Lösch & Thimmel, 2013, S. 8). Im Sinne einer Kritischen politischen Bildung gilt es dann auch danach zu fragen, welche gesellschaftlichen Bedingungen dazu beitragen, dass ein Großteil der Gesellschaft von den politischen Diskursen und der Willensbildung ausgeschlossen wird. Während Politik im engeren Sinne verstanden wird „als Sache von Expert_innen und Berufspolitiker_innen, als Aufgabe des etablierten ‚politischen Feldes‘ (Bourdieu)“ (Lösch & Eis, 2018, S. 506), wird sie im Sinne einer Kritischen politischen Bildung in den politischen Alltagsverhältnissen verortet, die mit Macht und Herrschaftsverhältnissen durchsetzt ist (ebd.). Kritisch ist politische Bildung, wenn sie auf die „Veränderbarkeit
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der Verhältnisse“ (Lösch, 2013, S. 174) hinweist. Kritische politische Bildung, die an einem „nicht-triviale[n]“ (Bünger, 2013, S. 58) Verständnis von Kritik festhalten will, darf sich selbst nicht als Antwort auf gesellschaftspolitische Fragen, als Versprechen einer Lösung verstehen, sondern prozessiert vielmehr eine Problemstellung. Kritische politische Bildung rekurriert zudem auch auf Kritische Gesellschaftstheorien, die bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse untersuchen, mit dem Ziel diese abzubauen und zu überwinden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden darin als vom Menschen gestaltet erachtet und können damit (politisch) verändert werden. Kritische Gesellschaftsforschung eröffnet in ihren Analysen Alternativen und Perspektiven, wie eine (zukünftige) Gesellschaft gestaltet sein könnte (Demirovic, 2010; für den Kontext des (Jugend-)Vollzugs auch Kaplan & Schneider, 2020; Schneider & Kaplan, 2020). In Anlehnung an Hammermeister (2016, S. 172 ff.) können die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse zum Referenzpunkt politischer Bildung (im Zwangskontext) gemacht werden. In einer Kritischen politischen Bildung ist weiter eine Kritische Perspektive auf Demokratie zielführend, die die gegenwärtige Verfasstheit der bürgerlichliberalen Demokratie sowie ihre Grenzen in Form von gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen in den Blick nimmt (Lösch, 2011, S. 120 ff.). Weitreichende Demokratisierung meint hier die Aneignung von Politik, die Ausweitung politischer Teilnahme und sozialer Teilhabe sowie den Abbau von Herrschafts-, Ausgrenzungs- und Unterdrückungsverhältnissen (Lösch, 2013, S. 174). Auch wenn in gegenwärtigen (medialen) Diskursen konsensualistische Politik- und Demokratiekonzeptionen die Begriffsbildung und die realen politischen Projekte maßgeblich bestimmen, kann mit einer Kritischen Demokratieperspektive, die sich gerade nicht auf Konsens, sondern auf Konflikt und die Austragung dessen richtet, den Antagonismus, das eigentlich Politische, den „Kern“ der Politik als für Demokratie grundlegend definiert werden (Wohnig, 2017). 3
…in Zwangskontexten?
Jugendvollzugs- und -arrestanstalten sind komplexe Organisationen, in denen straffällig in Erscheinung getretene junge Menschen (zwangsweise) untergebracht sind und (mit-)arbeiten (müssen). Sie können als Zwangskontexte gekennzeichnet werden, in denen sich die jungen Menschen gezwungenermaßen aufhalten (für den Jugendarrest Kaplan & Schneider, 2016). Die ihnen dort zur Verfügung gestellten Angebote nehmen sie nur unfreiwillig wahr – auch, wenn das pädagogisch Professionellen mitunter nicht unweigerlich so erscheinen wird, so sind auch sie an diesem Zwang beteiligt, darauf weist etwa Wolf explizit hin (vgl. Wolf, 2009; Schneider & Kaplan, 2020). Diese Charakteristika kennzeichnen den Jugend-
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vollzug als totale Institution, wie von Foucault (1994) und Goffman (1973) beschrieben. Foucault diskutiert aus sozialgeschichtlicher und machtanalytischer Perspektive den Wandel im Diskurs über Strafen und die Entstehung der Institution Gefängnis an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert (Kühnel, Hiebe & Tölke, 2005, S. 236). Ihm folgenden stellt das Gefängnis eine „Apparatur des Gefügigund Nützlichmachens von Individuen“ (Foucalt, 1994, S. 295.) und ein „Unternehmen zur Veränderung von Individuen“ (S. 297) dar. Das Gefängnis erteilt über den „Zwang einer totalen Erziehung […] eine fast totale Macht über die Häftlinge“ (S. 132). Goffman legte 1973 seine Studie „Asyle“ vor, in der er nachzeichnet, wie totale Institutionen dazu beitragen, dass „Insassen” – wie er sie nennt – durch die vollzuglichen Maßnahmen wie Kontrollen und Unterwerfungspraktiken ihr bürgerliches Ich verlieren. Etwa zur gleichen Zeit zeigte der amerikanische Gefängnisforscher Sykes in seiner Studie „Schmerzen des Freiheitsentzugs” (2007), wie stark sich die Entbehrungen und Entblößungen einer Inhaftierung auf das Selbst der in Haft lebenden Menschen auswirkt. Die drei hier umrissenen Forschungen gelten nach wie vor als hoch aktuell und zeigen, dass Gefängnisse aufgrund ihrer strukturellen Beschaffenheit als Orte der Bestrafung und Übelzufügung (vgl. Bredlow, 2015) nicht einfach zu Orten der Jugendbildung gemacht werden können. Die Ergebnisse konnten zudem auf den deutschen Sprachraum übertragen und erweitert werden (u. a. Bereswill, 2018; Maeder, 1995; Negnal, 2016; Kaplan & Schneider, 2016). Gleichzeitig sind (Jugend-)Gefängnisse und Arrestanstalten nicht ausschließlich totale Institutionen und Zwangskontexte: Gesetzlich haben sie u. a. auch den Auftrag zu Erziehung und Bildung (§ 2 JGG). Zieht man das auch während der Unterbringung junger Menschen bis zu einem Alter von 27 Jahren in einer Haftoder Arrestanstalt weiterhin gültige SGB VIII hinzu, können Orte der Jugendstrafrechtspflege auf rechtlicher Basis als Orte der Jugendbildung legitimiert werden. Im Folgenden soll dieser Legitimationsraum dargelegt werden. 4
Legitimation politischer Bildung in Zwangskontexten aus gesetzlich-normativer und pädagogisch-humanistischer Perspektive
Für ein Verständnis des Jugendvollzugs und -arrests als politische Bildungsräume sprechen die rechtlichen Bestimmungen, die entwicklungspsychologischen Besonderheiten des Jugendalters und die marginalisierten Lebensbedingungen der jungen Menschen in Haft und Arrest sowie die grundsätzliche Beschaffenheit der Demokratie (Kaplan & Schneider, 2019). Bezüglich der gesetzlichen Regelungen ist zunächst zu konstatieren, dass weder die Schulgesetze noch das SGB VIII durch eine Inhaftierung oder Arrestierung
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an Gültigkeit verlieren, womit die Schulpflicht, ebenso wie das Recht der jungen Menschen auf Förderung der Entwicklung ihrer Persönlichkeit (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) grundsätzlich bestehen bleiben (vgl. Schneider, Kaplan & Fereidooni, 2018). Das Bundesverfassungsgericht weist in seiner für den Jugendvollzug wegweisenden Entscheidung vom 31. Mai 2006 darauf hin, dass das im SGB VIII formulierte Recht auf Entwicklungsförderung bei der Unterbringung junger Menschen in Einrichtungen der Jugendstrafrechtspflege nicht nur nicht suspendiert ist, sondern die zentrale Leitlinie der inhaltlichen Ausgestaltung der Haft und der Arrestzeit darstellt (vgl. Schneider, Kaplan & Fereidooni, 2018, für den Jugendarrest Kaplan, 2018, S. 78 f.). Die Gesamtheit der formalen, non-formalen und informellen Förderangebote in Einrichtungen der Jugendstrafrechtspflege intendieren folglich, die legalen Teilhabechancen der jungen Menschen zu gewährleisten bzw. zu verbessern (Schneider, Kaplan & Fereidooni, 2018). Letztlich sind alle Bildungs- und Erziehungsbemühungen auf das Erweitern, Erlernen und Einüben legaler Gestaltungskompetenzen für das bevorstehende Leben in Freiheit ausgerichtet (ebd.). Unter der Annahme der Unveräußerlichkeit und Unteilbarkeit der Menschen- und Kinderrechte – letztere gelten für alle jungen Menschen in Haft vor Vollendung des 18. Lebensjahrs – können auch im Kontext von Gefangenschaft und Arrestierung die relevanten Artikel der völkerrechtlich bindenden Konventionen angeführt werden (z. B. Artikel 26 der AMRE bzw. Artikel 28 der CRC „Recht auf Bildung“). Mit dem Paradigmenwechsel von einem medizinischen Bild von Behindert-Sein zu einem sozialen Bild von Behindert-Werden, wie es sich im Zuge der UN-BRK vollzogen hat, kann auch die UN-BRK herangezogen werden, um einem entsprechend weiten Inklusionsverständnis folgend die Forderung nach der Ermöglichung politischer Bildung für junge Menschen in Haft und Arrest zu begründen (Bihs et al., 2015; Degener, 2009). Dies ist nicht nur schlüssig, weil ein Großteil von ihnen die Zuweisung zu Förderschulen mit Schwerpunkt Lernen und Emotional-Soziale Entwicklung erlebt hat (Bihs, 2013), sondern weil sie spätestens durch ihre Inhaftierung oder Arrestierung massiv von (Bildungs-)Benachteiligung und Exklusion betroffen sind (Bihs et. al., 2015). Darüber hinaus findet sich mit Anlegen eines breiten Bildungsbegriffs ein expliziter Bildungsauftrag für die Jugendstrafrechtspflege – nicht nur für den Bereich Schule, sondern für die gesamte Lebenswelt in Inhaftierung und Arrestierung (Kaplan & Schneider, 2016; Kaplan & Schneider, 2019; Borchert, 2017). Demokratische Gesellschaften sind fragil und müssen von all ihren Bürger*innen mitgetragen und mitgestaltet werden, um die demokratische Werteordnung für die Zukunft bestätigen zu können (Butterwegge, 2015; Lösch, 2018). Lösch arbeitet heraus, dass (außerschulische) politische Bildung vor allem dann auch sozial marginalisierte junge Menschen erreichen muss, wenn sie zur „soziale[n] Ausweitung der Demokratie“ (Lösch, 2008, S. 170) beitragen will. Die hier präsentierten Überlegungen zum Verhältnis von pädagogischer Ausgestaltung und
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politischer Bildung im (Jugend-)Strafvollzug und Arrest folgen dem Leitgedanken, dass eine demokratische Gesellschaft mündige Bürger*innen braucht und fordert, was eine Perspektive auf Erziehung als Erziehung zur Mündigkeit voraussetzt. Damit ist politische Bildung auch – oder gerade – im Rahmen des Jugendstrafvollzugs zu ermöglichen (Adorno, 1971). Die hier zutage tretenden Widersprüche zwischen Zwangskotext und Bildungsauftrag, zwischen institutioneller Unfreiheit und politischem Lernen in und für Freiheit lassen sich an dieser Stelle nicht auflösen. Gleichzeitig sind (Jugend-)Gefängnisse und Arrestanstalten für (junge) Menschen totale Institutionen und gleichzeitig auf rechtlich normativer Grundlage als Ort politischer Jugendbildung auszugestalten. Anzunehmen ist, dass hier ein Kritisches Verständnis politischer Bildung, das Widersprüche und Eingebundenheiten in Macht- und Herrschaft immer mitdenkt, bei diesen Überlegungen hilfreich sein kann. Im Folgenden sollen in groben Strichen Kriterien und Gestaltungsmerkmale Kritischer politischer Bildung umrissen werden und auf den Jugendvollzug- und Jugendarrestvollzug übertragen werden. 5
Kriterien und Gestaltungsprinzipien einer Kritischen emanzipatorischen politischen Bildung
Um nun theoriebasiert Kriterien und Prinzipien ableiten zu können, werden im Folgenden einige bestehende Ansätze der Kritischen politischen Bildung, die sich allerdings nicht auf den Zwangskontext (Jugend-)(arrest-)Vollzug beziehen, verbunden und mit unfreiheitssensiblen Überlegungen ergänzt. 5.1
Der Dreischritt: Analysieren – Beurteilen – Handeln
In der politischen Bildung geht es in der Regel um den Dreischritt Analysieren (Verstehen) – Beurteilen – Handeln. Innerhalb der verschiedenen Verortungen der Disziplin (Kritische politische Bildung/politische Bildung) wird diskutiert, ob diese Reihenfolge notwendigerweise linear zu verstehen ist (vgl. Sander, 2009) oder ob diese Reihung aufgebrochen werden könne, da beispielsweise durch politisches Handeln das Politische besser verständlich und erfahrbar werden kann als durch rein theoretisch-abstrakte Überlegungen. Die Verfasserin geht davon aus, dass hieran auch spezifisch reformpädagogische Ansätze anschlussfähig sind, die erfahrungsbasiert und handlungsorientiert vorgehen und auch in der sonderpädagogischen Praxis relevant sind (vgl. u. a. Pestalozzi, Dewey, vgl. Jank & Meyer, 2002, S. 314 ff.). In Anlehnung an Lapp (2011) muss ein pädagogisches Anliegen so formuliert sein, dass alle Lerner*innenvoraussetzungen berücksichtigt werden.
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In der politischen Bildung wird ebenfalls postuliert, dass politische(s) Handeln bzw. Aktion allein noch keine politische Bildung sei, vielmehr sei der anschließende oder begleitende Reflexionsprozess entscheidend. In der Frage, was Inhalt der Reflexion bzw. Analyse sein soll, gehen die Auffassungen auseinander: Geht es um die gesellschaftliche Verfasstheit oder um Herrschafts- und Gesellschaftskritik? Letzteres impliziert im Sinne einer Kritischen politischen Bildung auch eine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung. De Moll, Kirschner, Riefling und Rodrian-Pfennig machen darauf aufmerksam, dass es in Anbetracht der Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge und damit verbundener Uneindeutigkeiten sowie Widersprüche im Rahmen einer Kritischen politischen Bildung nicht darum gehen kann, Eindeutigkeiten zu erlernen, sondern eher darum, Zusammenhänge zu „veruneindeutigen“ (2013, S. 307), um damit der genannten Komplexität gerecht zu werden. Im Kontext der politischen Bildung in Haft und Jugendarrest kann es beispielsweise auch basal darum gehen, bestimmte Regeln und Verfahrensweisen des Zusammenlebens in der jeweiligen Institution in einem demokratischen Prozess zu hinterfragen und möglicherweise gemeinsam neu zu formulieren. Ebenso kann gerade das „Veruneindeutigkeitsprinzip“ dabei unterstützen die Hierarchien etwas abzuflachen, weil eine Vielstimmigkeit möglich wird. 5.2
Inhaltlichkeit einer Kritischen politischen Bildung
Bezüglich der Inhaltlichkeit einer Kritischen politischen Bildung ist die Analyse von Macht- und Herrschaftsbedingungen zu nennen. Lösch (2019) sieht hier Subjektorientierung und Lebensweltbezug als Ausgangspunkte. Politische Bildung geht nach Lösch (2019) nicht darin auf, fachliche Expertise zu vermitteln, sondern soll Menschen dazu befähigen, sich das Politische selbst anzueignen. Lösch fokussiert dabei die unterschiedlichen lebensweltlichen Erfahrungen und Alltagsverständnisse und erkennt das Wissen unterschiedlicher gesellschaftlicher – explizit auch marginalisierter – Gruppen an. Übertragen auf den hier fokussierten Kontext bestünde dies etwa in der Anerkennung des Wissens der jungen Menschen in Haft und Arrest über ihr Leben und ihre Lebens- und Aneignungspraktiken in Haft (etwa kreative Formen der wohnlichen Aneignung des Haftraums). Zu den Inhalten einer Kritischen politischen Bildung nennen de Moll, Kirschner, Riefling und Rodrian-Pfennig (2013) u. a. die Ausgeschlossenenorientierung, also die Orientierung an den Grenzziehungen zwischen privilegierten und weniger privilegierten Mitgliedern der Gesellschaft sowie deren Gestaltbarkeit und Veränderbarkeit. Wieder übertragen auf den hier angesprochenen Bereich des (Jugend-)Vollzugs und -arrests als Bildungsraum wären dann Fragen danach interessant, wie sich die Lebensbedingungen der jungen Menschen unterscheiden, wem es gerade wie geht,
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wem was gut tut, was das ihnen Gemeinsame ist und wie die Haft- bzw. Arrestbedingungen die Lebensumstände verändert haben. Betrachtet man das Gefängnis und den Arrest und ihre historische Gewordenheit werden auch Möglichkeiten der (punktuellen) Veränderung möglich – etwa in der Gestaltung der Lernräume. Die Autor*innen der FEKpB sehen Inhalte politischer Bildung insbesondere in den „Krisen unserer Zeit“ (FEKpB, 2015, o. S.). So heißt es in der ersten These der Frankfurter Erklärung: „Eine an der Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse interessierte Politische Bildung stellt sich den Umbrüchen und vielfältigen Krisen unserer Zeit“ (ebd.), was bedeutet, dass politische Bildung auf inhaltlicher Ebene auch Unzulänglichkeiten innerhalb der Demokratie und mangelnde Zufriedenheit mit der demokratischen Gesellschaft aufgreifen kann. Damit wendet sich eine Kritische politische Bildung gezielt auch den Themen der jungen inhaftierten Menschen zu und kann gemeinsam mit ihnen die politischen Dimensionen herausarbeiten. Ganz aktuell können in diesem Zusammenhang die während der Corona-Krise noch stärker als sonst eingeschränkten Besuchs- und Kontaktrechte während der Inhaftierung und Arrestierung bearbeitet werden. 5.3
Kontroversität
An Kontroversität sind innerhalb der jeweiligen Praxisfelder der politischen Bildung verschiedene Ansprüche gestellt, so können Bildner*innen je nach Kontext und curricularer Einbindung (z. B. Schule oder VHS-Kurs), je nach Alter der Teilnehmer*innen (z. B. Erwachsenenbildung oder Schulbildung in der Unterstufe) unterschiedlich ausgeprägt eigene weltanschauliche und politische Positionen transparent machen. Für de Moll et al. (2013, S. 307) wird Kontroversität unter dem oben bereits angesprochenen Prinzip der „Veruneindeutigung“ gefasst, indem die Pluralität der (demokratischen) Positionen offen dargestellt wird, die für die Gesellschaft und die gesellschaftlichen Verhältnisse kennzeichnend ist. Es soll hierbei darum gehen, politisch zu streiten und Dissens auszuhalten, eben ohne durch das (vorschnelle) Herbeiführen eines Konsenses neue Schließungen vorzunehmen und Positionen zu delegitimieren. Inwiefern dieser Dissens und diese Kontroversität im Kontext des (Jugend-)Vollzug und Jugendarrest tatsächlich erwünscht und auszuhalten ist, kann hier nicht abschließend diskutiert werden – es sei an dieser Stelle aber durchaus auf Eberles Mahnungen (2015) verwiesen, dass die dem Gefängnis spezifische Orientierung an Sicherheit und Ordnung pädagogischen Überlegungen und Bildungsprozessen mitunter diametral entgegensteht. Die Autor*innen der Frankfurter Erklärungen machen darauf aufmerksam, dass innerhalb von „gesellschaftlichen Debatten und Kontroversen […] Machtgefälle und ungleiche Ressourcen eine wichtige, oft nicht ausreichend wahrgenommene Rolle [spielen]“ (FEkpB 2015, o. S.). Sie leiten daraus die Aufgabe einer
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Kritisch-emanzipatorischen politischen Bildungsarbeit ab, die ausgeschlossenen und marginalisierten Positionen sichtbar zu machen. Auch im Sinne des Modells von Lapp können Fragen hilfreich sein, die analysieren, welche gesellschaftlichen Grundprobleme innerhalb einer Lerner*innengruppe thematisiert werden und wer dazu sprechen darf und gehört wird (vgl. Lapp, 2011, S. 380). Kritische politische Bildung thematisiert explizit, wie solche Ausschlüsse bewusst getroffen werden: etwa zwischen privat und öffentlich, sozial und politisch, illegitim und legitim, Expert*innen und Laien (FEekpB, 2015, o. S.). Nach de Moll et al. (2013, S. 304) kann dabei begonnen werden, das Bildungssetting machtkritisch zu reflektieren. Übertragen auf den hier angesprochenen Kontext des (Jugend-)(arrest-)Vollzugs könnte Machtkritik und Kontroversität dann so gestaltet sein, dass klare Möglichkeiten und Orte geschaffen werden, etwa durch bestimmte Organe oder Wege, über die diese Kritik geübt werden kann und Inhalte und Darstellungen auch kontrovers behandelt werden können. Hierzu können die aktuell bestehenden Möglichkeiten (z. B. die Gefangenenmitverantwortung. Zeitungen, die von Menschen in Haft oder Arrest herausgegeben werden, andere (freie) Bildungsgelegenheiten, das Ombudssystem) noch deutlicher nach dem bisher Dargelegten ausgebaut und durch weitere Möglichkeiten ergänzt werden (etwa Gremien, politische Gesprächsgruppen, Petitionen, Abstimmungen, Arbeitskreise zu bestimmten Themen des Zusammenlebens etc.). 5.4
Reflexivität
Eine Kritische emanzipatorische politische Bildung versteht sich selbst als Teil des Politischen. Wie unter Bezug auf ein Kritisches Verständnis gezeigt wurde, sind Lernverhältnisse nicht herrschaftsfrei, weshalb eine politische Bildung im hier verstandenen Sinne diese Einbindung offenlegt und diskutiert (FEekpB, 2015, o. S.). Nach Lösch (2019) geht es hier um die Reflexion der Eingebundenheit der eigenen Denk- und Handlungsprozesse in Herrschafts- und Machtverhältnisse und deren Reproduktion. Folgt man der Frankfurter Erklärung, beginnen Kritischemanzipatorische politische Bildungsprozesse dort, „wo solche Normsetzungen und Konstruktionen sichtbar gemacht, kritisiert und infrage gestellt werden. Politische Bildner_innen sind sich ihrer gesellschaftlichen Einbindung bewusst und nehmen dazu eine kritisch-reflexive Position ein, die sie transparent und damit kritisierbar macht“ (ebd., o. S.). Auch Lapp betont die Notwendigkeit der Reflexivität (2011, S. 380 ff.), etwa bezüglich der Beziehungen der Teilnehmer*innen untereinander, der Teilnehmer*innen und der Bildner*innen und der Teilnehmer*innen zum Thema sowie der Einrahmung durch den jeweiligen Ort. Im Kontext einer Kritischen politischen Bildung in Haft könnten dann nicht nur Fragen zur Gestaltung und der
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prinzipiellen Gestaltbarkeit des Lernorts (hier der totalen Institution) in den Blick genommen werden, sondern auch Fragen nach dem Verhalten der jungen Menschen und der Mitarbeiterschaft und darüber hinaus Fragen nach dem generellen Umgang mit Straffälligkeit (junger Menschen). 5.5
Ermutigung, Anerkennung und Respekt
Politische Bildung soll eine ermutigende Lernumgebung schaffen, die von Anerkennung und einem respektvollen Miteinander geprägt ist (vgl. Lösch, 2019, S. 23). Politisches Lernen beschränkt sich nicht auf rationale Analysen, Entscheidungen und kognitive Prozesse, sondern hat immer auch eine leibliche (vgl. Lösch, 2019, S. 23) und emotionale Seite (vgl. Besand, Overwien & Zorn, 2019) und ist mit den konkreten „Lebensbedingungen, also auch mit Kämpfen um materielle Güter und soziale Anerkennung verbunden“ (FEKpP, 2015, o. A.). Die Mündigwerdung als Ziel politischer Bildung ist dabei kein gradliniger, sondern vielmehr ein brüchiger Prozess, der einhergeht mit Errungenschaften und Erfolgen ebenso wie mit dem Erleben des Scheiterns, mit Wut, Enttäuschung und Ohnmachtsgefühlen (Lösch, 2019, S. 23; FEKpP, 2015, o. A.). Diese Macht- und Ohnmachtserfahrungen können als Inhalte politischer Bildung thematisiert, hinterfragt und zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht werden. Damit kann auch verbunden sein, einmal gelerntes, verinnerlichtes, in unseren Körpern eingeschriebenes – nach Bourdieu: inkorporiertes (1989) - Wissen über soziale Ordnungen wieder zu verlernen. Teil des gemeinsamen Prozesses ist die Beteiligung der Teilnehmer*innen an Planung und Reflexion des Lernens. Für den Kontext des (Jugend)(arrest-)Vollzugs könnte man hierfür bei den Themen der jungen Menschen ansetzen, sie ermutigen, sich mit komplexen (politischen) Fragen auseinanderzusetzen, ihre Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, einhergehend mit der Bereitschaft, von ihnen und ihrem Wissen zu lernen und sie durch Prozesse des Scheiterns emphatisch zu begleiten. 5.6
Veränderung, Handlungsfähigkeit und Visionen
„Kritisch-emanzipatorische politische Bildung zeigt Wege auf, um die Gesellschaft individuell und kollektiv handelnd zu verändern.“ (FEKpB, 2015, o. S.) Kritische politische Bildung soll zur Urteilsbildung, aber auch zu politischem Handeln, zum aktiven Eingreifen in gesellschaftliche Verhältnisse befähigen; sie soll Beteiligung, Selbst- und Mitbestimmung stärken. Subjekte sind den gesellschaftlichen Verhältnissen zwar unterworfen, zugleich aber auch in der Lage, diese zu gestalten (vgl. FEKpB, 2015, o. S.). Nach den von de Moll et al.
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formulierten Prinzipien ist mit dem „Aktivitätsprinzip“ die Möglichkeit angesprochen, „gegenwärtige Machtformationen“ nicht mehr länger als Informationen zu gegebenen Zuständen hinzunehmen, sondern sie zu kritisieren und den Lauf der Dinge zu unterbrechen (vgl. de Moll et al., 2013, S. 304). Ziel Kritischer politischer Bildung ist es, dass sich die Menschen ihrer eigenen Interessen bewusst werden und sie zu Gemeininteressen ins Verhältnis setzen, artikulieren und einbringen können (vgl. Lösch, 2019, S. 23). Die Auseinandersetzung mit den eigenen Interessen kann sich durch Kritik, Widerspruch und Protest gegenüber bestehenden sozialen Herrschaftsverhältnissen ausdrücken. Diese praktizierte Mündigkeit vermag die eigenen und kollektiven Denkweisen und Handlungsräume in konkreten Kontexten zu erweitern. 6
Fazit
Wie dargelegt, bleibt fraglich, ob politische Bildung an einem Ort wie dem Jugendstrafvollzug überhaupt möglich sein kann. Gleichzeitig erscheint die aktive Einbindung des Politischen in den Vollzugsalltag längst überfällig: Im Sinne eines weiten Bildungsverständnisses kann davon ausgegangen werden, dass (politische) – informelle, non-formale – Bildungsprozesse ohnehin stattfinden werden: in der Freistunde, beim Fernsehen, im Briefwechsel mit Freund*innen, beim „Umschluss“3, im Ärger über institutionelle Regelungen und konkretes Mitarbeiter*innenverhalten. Es ist letztlich eine pädagogische Entscheidung, den politischen Bildungsraum aktiv – demokratisch – zu gestalten und nicht dem Zufall – oder schlimmer: jenen, die am Abbau der Demokratie interessiert sind – zu überlassen. Kritische politische Bildung eröffnet Räume, durch die sich auch junge Menschen in Haft Politik als gesellschaftliches Handlungsfeld aneignen können. Sie ermöglicht Lernprozesse der Selbst- und Weltaneignung in der Auseinandersetzung mit anderen, um Wege zu finden, das Bestehende (den Haftalltag, das Leben in Marginalisierung) nicht nur mitzugestalten und zu reproduzieren, sondern individuell und kollektiv handelnd zu verändern. In diesem Handeln entsteht die Möglichkeit, etwas Neues zu erfahren, zu denken und zu begründen (vgl. FEKpB, 2015, o.S).
3 Umschluss bezeichnet jene „Freizeit“ während der Haft- oder Arrestunterbringung, die die (jungen) Menschen gemeinsam mit ausgewählten anderen auf ihrem Haft- oder Arrestraum verbringen dürfen und dort eingeschlossen – umgeschlossen – werden.
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Politische Bildung in Zwangskontexten
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Der Jugendstrafvollzug: Strafende Räume oder gute Schule? Ein Plädoyer Sarah E. Fehrmann
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Einleitung
Hohe Mauern und Stacheldraht, Schlüsselklappern und Türenschlagen, räumliche und sinnbildliche Begrenzungen, eine „Kultur der Unfreiheit“ (Bredlow, 2015, S. 356) – all diese Merkmale von Justizvollzugsanstalten erleben auch die inhaftierten Menschen im Jugendstrafvollzug. Sie erhielten für ihre Straftat(en) eine Jugendstrafe und befinden sich für Wochen, Monate, manche sogar für Jahre in den Räumlichkeiten des Jugendstrafvollzugs. Genauer: im „verschlossenen, unfreien Raum“, geprägt durch „Trennung und Abgeschlossenheit“ (ebd.). Die räumliche Gestaltung einer Justizvollzugsanstalt (JVA) ist aus Sicht der Architektur zunächst einmal eine komplexe Aufgabe und damit eine besondere Herausforderung. Auf den ersten Blick erscheint es so, als ob für Vollzugsanstalten in Empfehlungen, Richtlinien, und Gesetzen1 alles genau geregelt sei. Allerdings geht mit der durch die föderale Struktur gekennzeichneten bundesländerspezifischen inhaltlichen Ausgestaltung des Strafvollzuges einher, dass auch die räumliche Gestaltung der Vollzugsanstalten sehr individuell ist. Alle Justizvollzugsanstalten eint jedoch, dass sie der Ort sind, an dem Menschen ihre Freiheitsstrafe verbüßen. Helmhold (2015, S. 213) bezeichnet die Strafvollzugsarchitektur als „Kerninstrument von Strafe“. Der folgende Beitrag thematisiert, welche Funktion(en) ein Vollzugsbau hat und ob Vollzugsanstalten als strafende Räume gelten und ausgestaltet werden (sollten). Der moderne Jugendstrafvollzug orientiert sich an spezialpräventiven Grundsätzen (vgl. Brunner & Dölling, 2011, S. 34), mit einer individualisierten und erzieherischen Ausrichtung. Diese Ausrichtung zeigt sich im Jugendstrafvollzugsgesetz in der Formulierung des Vollzugsziels, wie beispielsweise in Nordrhein-Westfalen (NRW)2: „Der Vollzug der Jugendstrafe dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Er trägt durch eine an den Entwicklungspotentialen der Gefangenen 1 Z. B. Empfehlungen für den Bau von Vollzugsanstalten, Musterbauordnung, Strafvollzugsgesetz, Jugendstrafvollzugsgesetze. 2 Hier wie im Folgenden werden, wenn keine bundeseinheitlichen rechtlichen Grundlagen bestehen, beispielhaft die gesetzlichen Bestimmungen aus NRW angeführt.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_14
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orientierte Förderung dazu bei, individuelle Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen.“ (§ 2 JStVollzG NRW) Anhand dieser Formulierungen wird deutlich, dass für den modernen Jugendstrafvollzug die Idee der Vergeltung keine Rolle spielt (dazu die präventive Vereinigungstheorie). Allein diese Tatsache weist darauf hin, dass eine „strafende Architektur, die Vergeltung kommuniziert“ (Helmhold, 2020, o. S.) weder zeitgemäß noch der Erreichung des Vollzugsziels förderlich ist. Im Gegenteil: Der moderne Jugendvollzug ist, bei strenger Auslegung der Jugendstrafvollzugsgesetze, primär eine Bildungseinrichtung. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) definiert den Jugendvollzug als Ort des sozialen Lernens (vgl. BVerfGE 116, 69). Ähnlich ist Philipp Walkenhorsts Sicht auf den Jugendvollzug als „gute Schule“ (Walkenhorst, 2002, S. 290; auch Walkenhorst, 2005, S. 83). Damit plädiert er für die inhaltliche Füllung des gesetzlich normierten Erziehungsauftrages, unter anderem durch die inhaltlich-organisatorische Ausgestaltung des Vollzugsalltags, ein pädagogisches Curriculum und die professionell-pädagogische Beziehung des Vollzugspersonals zu den jungen inhaftierten Menschen. Im folgenden Beitrag führe ich Walkenhorsts Überlegungen bezüglich des Jugendvollzugs als „gute Schule“ weiter, indem ich die sächlich-räumliche Gestaltung als wichtigen Bestandteil dieses Konstrukts fokussiere. Aus zahlreichen Settings der Erwachsenenbildung und der schulischen sowie außerschulischen Jugendbildung ist bekannt, dass neben sozialen auch räumliche Faktoren einen enormen Einfluss auf die Lernenden und deren Lernprozesse sowie darüber hinaus auf deren Wohlbefinden haben (vgl. Hubeli et al., 2017, S. 36). Dementsprechend ist auch klar, dass neue Lernkulturen entsprechend passende bzw. angepasste räumliche Lernsettings erfordern (vgl. ebd., S. 26 f.). Der moderne Schulbau entwickelt sich, analog des pädagogischen Paradigmenwechsels, immer unter der Prämisse, dass alte Schulbauten, deren Grundrisse und Bauweisen dem gewandelten Verständnis von Schule nicht genügen können. 2
Architektur im Jugendstrafvollzug
Im Kontext Jugendstrafvollzug hingegen lässt sich eine derartige parallele Entwicklung von pädagogischen Konzepten und Architektur nur marginal feststellen. Dementsprechend unterscheiden sich geschlossene Vollzugsanstalten hinsichtlich ihrer Architektur und Raumgestaltung von anderen Bildungseinrichtungen. Drei Erklärungsansätze scheinen denkbar: Erstens spielt das „bauliche Erbe“ eine Rolle, so Seelich (2009, S. 12): Der Strafvollzug findet zu etwa 50 % in vor Jahrhunderten erbauten Gebäuden statt, die zum Teil auch anderen Zwecken dienten. Dies ist aus zwei Gründen problematisch: Zum einen sind derart alte Gebäude hinsichtlich ihres baulichen
Der Jugendstrafvollzug: Strafende Räume oder gute Schule? Ein Plädoyer
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Zustandes oftmals sanierungsbedürftig; gekennzeichnet durch überholten Brandschutz und Elektrik, teilweise Schimmel sowie in Wänden oder Böden verbautem gesundheitsschädlichen Asbest. Sie bieten weder für die inhaftierten Menschen einen würdigen Lebensraum noch für das Personal einen akzeptablen Arbeitsplatz. Zum anderen verkörpern alte Gebäude eine zum damaligen Bauzeitpunkt aktuelle, in der Gegenwart jedoch überholte Strafphilosophie und können so dem in den Jugendstrafvollzugsgesetzen formulierten Vollzugsziel nicht gerecht werden. Es stellt sich die Frage, wie sich Erziehung im Jugendstrafvollzug konstituieren soll, „wenn Bauformen und -materialien ein solches Zustandekommen aus phänomenologischer Sicht mitunter massiv behindern“ (Hasse, 2014, S. 307). Selbst Neubauten orientieren sich an den veralteten Raumtypologien und deren vollzugstypischen Baumerkmalen: eine hohe Umwehrungsmauer, vergitterte Haftraumfenster, aneinandergereihte Hafträume und lange Gänge. Trotz des Wandels der Strafphilosophie und des Verwendungszwecks von Vollzugsanstalten von der reinen Verwahrung zur Förderung der inhaftierten Menschen bilden selbst moderne Anstalten diesen Wandel baulich nicht hinreichend ab, obwohl gesetzlich geregelt ist, dass die bauliche Gestaltung der Vollzugseinrichtungen „in Einklang mit dem Ziel der anstaltsinternen Förderung und Erziehung [steht].“ (§ 59 Abs. 4 S. 1 JStVollzG NRW) Zudem regelt § 59 Abs. 3 JStVollzG sogar, dass Ruhe-, Freizeit sowie Gemeinschafts- und Besuchsräume „wohnlich und zweckentsprechend“ auszustatten sind.3 Jedoch wird nur bei wenigen Neubauten oder Umbauten bestehender Strukturen gezielt auf die Auswirkung der Architektur geachtet. „Die modernen Bauten beschränkten sich meist auf formal übernommene Zitate alter Typologien“, so Seelich (2009, S. 42), ohne den pädagogischen Paradigmenwechsel zu beachten. Nur wenige Ausnahmen, wie das Justizzentrum im österreichischen Loeben oder die JVA Heidering, integrieren architektonische Merkmale der Moderne (v. a. Licht) in die Strafvollzugsarchitektur (ausführlicher hierzu Helmhold, 2015, S. 221) und setzen so die Vision eines modernen Strafvollzugs baulich um.4 Zweitens gehört der Jugendstrafvollzug zu den „vergessenen Bildungseinrichtungen“ (Fehrmann, 2018, S. 33). Er scheint nicht als Institution wahrgenommen zu werden, in der Lernen stattfindet und in der die Räumlichkeiten entsprechend angepasst werden müssten. Die aus dem Schulbau bekannte Innovationsfreude und die Selbstverständlichkeit, dass ein neues Verständnis von Pädagogik zwingend auch andere Räumlichkeiten erfordert, sind nicht feststellbar. Zwar ist der Erziehungsauftrag seit Inkrafttreten der Jugendstrafvollzugsgesetze formuliert 3
Näher operationalisiert sind die beiden zitierten Begrifflichkeiten jedoch nicht. Allerdings immer mit Einschränkungen: Zwar wird z. B. in der JVA Heidering die sonst übliche Betonmauer zum Großteil durch einen sechs Meter hoher Doppelzaun ersetzt, auf die Gitter vor den Hafträumen wurde jedoch nicht verzichtet. 4
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(§ 3 Abs. 1 JStVollzG NRW), vor allem werden die „[p]ersonelle Ausstattung, sachliche Mittel und Organisation der Einrichtungen des Jugendstrafvollzuges … an dessen Zielsetzung und Aufgaben sowie den altersspezifischen besonderen Bedürfnissen der Gefangenen ausgerichtet“ (§ 3 Abs. 5 JStVollzG NRW). Die räumliche Ausstattung und architektonische Gestaltung scheinen an dieser Stelle nicht gemeint zu sein, denn diese haben ungeachtet der gesetzlichen Regelung eine funktionalistische und sicherheitsorientierte, statt erzieherische Ausrichtung. Die baulich-technischen Aspekte einer JVA werden als wesentlich zum Erhalt der Sicherheit angesehen (siehe § 7 Abs. 2 JStVollzG NRW). Zwar sollen die Räumlichkeiten den Belangen der jungen inhaftierten Menschen angepasst sein (§ 7 Abs. 3 S. 3 JStVollzG NRW), allerdings folgen die meisten Jugendvollzugsanstalten „keinem eigenen ästhetischen Programm in der architektonischen Gestaltung, welches sie von Haftanstalten im Erwachsenenvollzug unterscheiden würden“ (Helmhold, 2015, S. 215). In den meisten deutschen Jugendstrafvollzugsanstalten sind z. B. Hafträume gekennzeichnet durch eine (Fein-)Vergitterung der Fenster, eine spartanische Ausstattung mit möglichst unkaputtbaren und unbeweglichen Möbeln, karge Wände und schallende Stahltüren. Dies ist problematisch, da das BVerfG (2006) ausdrücklich unterstrich, dass Erziehung und Förderung, und nicht Verwahrung, als Ziel des Jugendvollzuges stehen müssen (BVerfGE 116, S. 69 ff.). Drittens wird die Strafvollzugsarchitektur im (deutschsprachigen) Wissenschaftsdiskurs vernachlässigt5; vordergründig werden soziale Faktoren thematisiert, wie die Beziehung des Personals zu den jungen inhaftierten Menschen sowie die Beziehungen der inhaftierten Menschen untereinander. Allerdings wäre es ein Irrtum zu glauben, es sei nur wichtig, welche Interventionen und Angebote von wem im Strafvollzug umgesetzt werden, ohne die räumlichen Umgebungsfaktoren und die baulichen Bedingungen zu beachten. Die Vollzugsarchitektur, bislang stark gekennzeichnet durch baulich-technische Vorkehrungen (Mauern, Gitter, Schlösser, Überwachungs- und Alarmvorrichtungen), trägt zur instrumentellen Sicherheit (vgl. Stumpf, 2008, S. 103) bei, die vor allem durch verhindernde Elemente charakterisiert ist. Ziel einer modernen Vollzugstypologie muss sein, durch die Architektur nicht allein zur instrumentellen, sondern auch zur sozialen und damit dynamischen Sicherheit beizutragen, indem ihr Hauptmerkmal die Ermöglichung von Lernen und Entwicklung ist. Eine gute Anstaltsatmosphäre, die erheblich zur Sicherheit beiträgt und Lernen überhaupt ermöglicht, wird nicht allein durch das soziale Miteinander aller Beteiligten bestimmt, sondern auch durch die Räume, die edukativ wirken. Idealerweise unterstützen Räume die Kommunikation und tragen zum Wohlfühlen aller Nutzergruppen bei. 5
In der angelsächsischen Humangeografie z. B. gewinnt das Thema (dort unter dem Stichwort „carceral geography“, einer Kombination aus Kriminologie und Geografie) zunehmend an Bedeutung.
Der Jugendstrafvollzug: Strafende Räume oder gute Schule? Ein Plädoyer
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Bereits Joerges (1977, S. 14) vertrat die Ansicht, „Architektur, […] sei sozialwirksam und ihre Veränderung modifiziere Verhalten“. Ähnlich sieht es Seelich (2009, S. 117): „Mit Hilfe der Architektur, das heißt mit dem zur Verfügung gestellten Raum, kann man Konflikte >vorprogrammieren< oder ihnen vorbeugen.“ Es wäre anmaßend zu behaupten, dass sich die verantwortlichen Architekt*innen, Anstaltsleitungen, Personen im Ministerium der Justiz sowie im Bauund Liegenschaftsbetrieb hinsichtlich der räumlichen Gestaltung von Vollzugsanstalten bislang keine Gedanken gemacht hätten.6 Durchaus haben sie sich bei Entwurf und Umsetzung mit Aussehen sowie Funktionsweisen der zu bauenden oder zu sanierenden Vollzugsgebäude beschäftigt. Kern solcher Baumaßnahmen sind dann jedoch häufig technisch-konstruktive Details und die Erhöhung des Sicherheitsniveaus der JVA.7 Mithilfe teilweise massiver sicherheitsrelevanter Erneuerungen oder Erweiterungen der baulichen Kennzeichen einer JVA, wie beispielsweise Umwehrungsmauern, elektronischer Detektionsanlagen und Fahrzeugschleusen, werden ältere Anstalten technisch oftmals zu Hochsicherheitsgefängnissen aufgerüstet. Die technischen Lösungen zum Erhalt der Sicherheit zielen im Wesentlichen auf die Überwachung der inhaftierten Menschen sowie den Schutz der Allgemeinheit ab. An dieser Stelle ist anzumerken, dass dieser Fokus nicht dem gesetzlich formulierten Vollzugsziel entspricht, da dieses die Resozialisierung als alleiniges oder zumindest primäres Ziel formuliert. „Systematische ästhetische Konzepte von zeitgemäßer Strafvollzugsarchitektur im Jugendstrafvollzug gibt es bundesweit ebenso wenig wie im Erwachsenenvollzug“ (Helmhold, 2015, S. 214). Bei Planung und Umsetzung von Strafvollzugsbauten werden vordergründig zweckrationale Aspekte der Sicherheit, der Praktikabilität und der Finanzierung berücksichtigt. Pädagogische Überlegungen sind zumeist nicht ausschlaggebend oder fehlen. Zudem werden die Räumlichkeiten meist als gegebene und unabänderliche institutionelle Rahmenbedingung angesehen, in deren starren Rahmen die inhaltliche Ausgestaltung des Vollzugs stattfinden kann. Wie sie darüber hinaus im eigentlichen und übertragenen Sinn ‚Räume‘ für Lern- und Entwicklungsprozesse bereitstellen, wird in den Humanwissenschaften bislang nur selten konkretisiert. Und das, obwohl das Thema bereits im Jahr 1791 Beachtung fand, als Bentham die Idee formulierte, die Besserung von inhaftierten Menschen und deren Wohlbefinden sei zumindest in Teilen abhängig von der Architektur (vgl. Moran & Jewkes, 2015, S. 163). Dementsprechend ist es nicht ausreichend, lediglich Mindeststandards hinsichtlich der Haftraumgröße einzuhalten, den gesetzlich geforderten Wohn6 Ein positiv hervorzuhebendes Beispiel liefert die JVA Iserlohn, die für den geplanten Neubau ein umfassendes Konzept vorlegt, in dem explizit pädagogische Impulse in das Bauvorhaben einfließen. 7 Beispielsweise ist einer Pressemitteilung des bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 22.07.2019 zu entnehmen: Mithilfe der Investitionen „erhöhen wir vor allem das Sicherheitsniveau der Justizvollzugsanstalt noch weiter.“ (Bayrisches Staatsministerium der Justiz 2019)
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gruppenvollzug räumlich möglich zu machen (siehe § 59 Abs. 4 S. 2 JStVollzG NRW), oder die Wände der Abteilungen mit unterschiedlichen Farben zu gestalten. Darüber hinaus ist zu fragen, ob es beispielsweise genügend und ausreichend große Gruppenräume gibt. Sind die Ausstattung und Ausgestaltung der Räume auf das jugendspezifische Raumaneignungsverhalten der Klientel und deren Bewegungs-, Spiel-, aber auch Ruhebedürfnis zugeschnitten? Dienen die Freistundenhöfe lediglich der Ermöglichung des gesetzlich vorgeschriebenen Aufenthalts im Freien (§ 35 Abs. 3 JStVollzG NRW), oder sind sie aus pädagogischer Perspektive wirklich sinnvoll für Bewegung und Erholung nutzbar? Können sich die jungen Menschen im Sinne des Grundsatzes der Partizipation an der Gestaltung der sie umgebenden Vollzugsräume beteiligen? Wünschenswert ist daher eine ebenso akribische Beschäftigung mit den pädagogischen Anforderungen an Vollzugsgebäude(-teile) wie beispielsweise mit brandschutztechnischen Anforderungen8 oder mit Regelungen bezüglich Haftraumtüren (Mindestblechstärke, Öffnungswinkel usw.)9. Auch gibt es Fachtagungen, die sich explizit der „Sicherheit in der JVA“, u. a. mit dem Fokus Brandschutz und Sicherheitstechnik, widmen. An dieser Stelle soll nicht die eine Anforderung (Funktionalität, Sicherheit) gegen die andere (pädagogische) ausgespielt werden, sondern ein Hinweis auf die Wichtigkeit der pädagogischen Perspektive im Vollzugsbau gegeben werden. Zusammenfassend können viele Vollzugsgebäude als strafende, abschreckende, abgenutzte Funktionsbauten bezeichnet werden, die den jungen Menschen eine „unnatürliche primäre Umwelt“ (von Spiegel, 2003, S. 97) bieten. Gegenwärtig kommunizieren die deprimierenden und deprivierenden räumlichen Rahmenbedingungen, wie verschlossene Türen, Sicherheits- und Überwachungstechnik, Misstrauen gegenüber den jungen inhaftierten Menschen (analog dazu in der Heimerziehung: Günder, 2015, S. 151). Zudem zeigen sich vermeintlich vergangene Strafvollzugsformen, wie der Verwahrvollzug, immer noch in der Typologie der Hafträume, die „mit ihren landläufigen Proportionen von etwa 2x4m an Lagerräume [erinnern]“ (Seelich, 2009, S. 74). Eine Bezeichnung als „gute Schule“ scheint angesichts solcher zum Teil prekärer räumlicher Rahmenbedingungen zunächst utopisch. Sollen sich in Zukunft das Vollzugsziel der Resozialisierung und die erzieherische Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs auch baulich abbilden, dann sind Veränderungen notwendig. Voraussetzung dafür ist zwingend die Einsicht, dass zur Ausgestaltung der JVA als erziehungsförderlicher Lernort nicht allein qualifiziertes Personal und um8 Auf 180 Seiten beschäftigt sich beispielsweise Otto (2012) mit dem „Brandschutz in Justizvollzugsanstalten“. 9 Dazu die Richtlinie (2004) „Haftraumtüren und Türen für Verwahrungsräume – Anforderungen, Prüfung, Klassifizierung“. Zusätzlich erforderlich ist die Beachtung von DIN EN 1627 (ironischerweise zum Thema „Einbruchhemmung“).
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fassende Förder-, Freizeit-, Schul- und Ausbildungsangebote, sondern ebenfalls förderliche (und nicht strafende) Räume notwendig sind. Im Vergleich zu Deutschland sind andere Länder, insbesondere skandinavische, fortschrittlicher, wenn es darum geht, über innovative Bauweisen von Gefängnissen nachzudenken und diese umzusetzen. Norwegen ging beispielsweise im Jahr 2010 mit der Errichtung des sogenannten „Halden Prison“ voran, welches sich durch die bauliche Besonderheit auszeichnet, ein Hochsicherheitsgefängnis zu sein, jedoch ohne die üblichen Sicherheitsmerkmale, z. B. Fenstervergitterungen. Ähnlich innovativ ist das das „Storstrøm Prison“ in Dänemark (ausführlicher dazu Fehrmann, 2018, S. 32 ff.). Der Fokus auf die Rehabilitation der inhaftierten Menschen manifestiert sich in diesen Beispielen in der für Vollzugsanstalten ungewöhnlichen Architektur und Ausstattung. Die Frage, inwiefern solche Innovationen in den nächsten Jahren in Deutschland (flächendeckend und nicht nur in den bereits geschilderten Einzelfällen) denkbar sind und vor allem, wer für den Anschub verantwortlich wäre, bleibt offen. Eine Idee, das Thema voranzubringen, könnte sein, im Jugendstrafvollzug neben den bisherigen Bildungsangeboten auch baukulturelle Bildung zu etablieren. Ein Projekt, analog zu dem bereits bestehenden Projekt „Architektur macht Schule“10, könnte den jungen Menschen Architektur als Thema näher bringen und die Basis für ein Folgeprojekt sein, in dem mit den jungen Menschen gemeinsam über die Räume im Jugendstrafvollzug nachgedacht wird und Ideen entwickelt werden. 3
Fazit
Die gesetzlich geforderte Resozialisierung junger inhaftierter Menschen muss in bestmöglich gestalteten Räumen stattfinden. Dazu ist es zukünftig erforderlich, Jugendvollzugsbaurichtlinien zu entwickeln, die zentral die pädagogischen Aspekte und die Auswirkungen der gebauten Umwelt auf die darin lebenden Menschen berücksichtigen. Der Bau einer JVA ist kein technisches Problem, das es zu lösen gilt, sondern eine anspruchsvolle Tätigkeit im Spannungsfeld von Justiz, Wissenschaft und Menschenrechten. Zunächst mag die Aufgabenstellung technischer Natur sein, die Lösungsimpulse müssen aber multidisziplinärer Art sein. Es geht um Räumlichkeiten, die nicht das Strafen im Sinn haben, sondern eine angenehme, aktivierende, lernförderliche Atmosphäre schaffen. Derartige humane Räume nützen allen Nutzergruppen, die sich tagtäglich, regelmäßig oder zeitweise in ihnen aufhalten (müssen). Auch Helmhold (2015, S. 226) fordert, den Einfluss der Räume „auf die Inhaftierten nicht nur punitiv, sondern fördernd zur Wirkung kommen zu lassen.“ 10
Ein Projekt der Lavesstiftung, Link: https://www.aknds.de/architektur/schule [08.12.2019].
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Diese Forderung ist keinesfalls als revolutionär zu bezeichnen. Für andere Bildungseinrichtungen ist sie heutzutage eher konventionell und wird unter dem Stichwort der pädagogischen Architektur umgesetzt. Der Jugendstrafvollzug darf sich, will er sich denn räumlich gesehen von einer Anstalt mit Aufbewahrungscharakter zu einer differenzierten pädagogischen Institution entwickeln, also eine „gute Schule“ sein, dieser Idee nicht verschließen. Letztlich plädiere ich mit diesem Beitrag für einen Wandel der Strafvollzugsarchitektur, weg vom „Kerninstrument von Strafe“ (ebd., S. 213) hin zum „Kerninstrument von Erziehung“. Literaturverzeichnis Bayrisches Staatsministerium der Justiz (2019). Amtschef des bayerischen Justizministeriums gibt Startschuss für Baumaßnahmen in der Justizvollzugsanstalt Niederschönenfeld. Abgerufen von https://www.justiz.bayern.de/presse-und-medien/pressemitteilungen/archiv/2019/37.php [25.09.2019] Bredlow, K.-H. (2015). Freiheit in der Unfreiheit - Subkultur als Strukturelement im Jugendstrafvollzug. In M. Schweder (Hrsg.), Handbuch Jugendstrafvollzug (S. 354371). Weinheim: Beltz. Brunner, R. & Dölling, D. (2011). Jugendgerichtsgesetz. Kommentar (12. Aufl.). Berlin: de Gruyter. BVerfG (2006): Entscheidung vom 31.05.2006. In BVerfGE 116, 69 ff. Fehrmann, S.E. (2018). Bildungsorte auf den zweiten Blick. Schulbau Magazin (2), 32-35. Gesetz zur Regelung des Jugendstrafvollzuges in Nordrhein-Westfalen (Jugendstrafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen - JStVollzG NRW) vom 07.04.2017. Abgerufen von https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_bes_detail?bes_id=36725&aufgehoben=N&det_id=432153&anw_nr=2&menu=1&sg=0 [30.11.2019] Günder, R. (2015). Praxis und Methoden der Heimerziehung. Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der stationären Erziehungshilfe (5., überarb. u. erg. Aufl.) Freiburg: Lambertus. Hasse, J. (2014). Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes. Freiburg: Karl Alber. Helmhold, H. (2015). Strafvollzugsarchitektur. Funktionale und symbolische Merkmale sowie Strategien ihrer Nutzung. In M. Schweder (Hrsg.), Handbuch Jugendstrafvollzug (S. 213-227). Weinheim: Beltz. Helmhold, H. (2020). Strafende Räume: Wohnpraxen in der Gefängniszelle. Bielefeld: transcript. Hubeli, E., Pampe, B., Paßlick, U., Reich, K., Schneider, J. & Seydel, O. (2017). Schulen planen und bauen 2.0 – Grundlagen, Prozesse, Projekte (2. Aufl.). Berlin: Jovis. (Herausgeber: Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft) Joerges, B. (1977). Gebaute Umwelt und Verhalten. Über das Verhältnis von Technikwissenschaften und Sozialwissenschaften am Beispiel der Architektur und der Verhaltenstheorie. Baden-Baden: Nomos.
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EXIT – EnterLife e. V. – Von einer Studierendeninitiative zum freien Jugendhilfeträger – Entstehungsgeschichte, Arbeitsgrundlagen, Irrwege und Ausblick Lisa Schneider & Rainer Zimmermann
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Einleitung
EXIT - EnterLife e. V. (im Folgenden EXIT) ist ein gemeinnütziger Verein und ein freier Träger der Jugendhilfe mit Sitz in Köln. Dieser Artikel dokumentiert die Entwicklung von einer studentischen Initiative im Jugendstrafvollzug hin zur Etablierung eines freien Jugendhilfeträgers, der unter anderem Bildungsangebote im Jugendstrafvollzug realisiert. Wir zeichnen hier die bisherige Laufbahn von EXIT in groben Strichen nach, um daran anknüpfend unser Selbstverständnis und unsere Arbeitsgrundlagen darzustellen sowie die verschiedenen Angebote zu beschreiben. Abschließend werden wir nach mehr als einer Dekade der pädagogischen Arbeit mit jungen Menschen in Jugend- und Jugendarrestvollzug eine “reflektorische Rolle rückwärts” wagen: Was nehmen wir mit aus dieser Zeit, was irritierte uns und wohin kann und wird es gehen? 2
Hinführung: Geschichte von EXIT - Enter Life e. V.
Entstanden ist unsere heutige Arbeit aus einer studentischen Initiative dreier Sonderpädagogikstudent*innen der Universität zu Köln – Vera Barkhausen, Rainer Zimmermann und Lisa Schneider. Kennengelernt haben wir uns im Kontext einer erlebnispädagogischen Ausbildung der Montag Stiftung für Jugend und Gesellschaft in Köln unter Leitung unseres späteren Mentors Frank Stähler. Den Abschluss der Ausbildung bildete ein Anerkennungsprojekt, das eigenständig entwickelt, organisiert und durchgeführt werden sollte. Gemeinsam hatten wir die Idee, ein Angebot im geschlossenen Jugendstrafvollzug zu realisieren. Beseelt mit dieser Vision und auf der Suche nach Möglichkeiten zur konkreten Umsetzung wandten wir uns damals an unseren Prof. Dr. Philipp Walkenhorst, den wir im Rahmen des Studiums als Gatekeeper für den Jugendstrafvollzug als pädagogisch äußerst relevantes Handlungsfeld kennenlernten. Unsere Visionen allein reichten ihm nicht aus; wir sollten unser Vorhaben wissenschaftlich und rechtlich fundiert © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_15
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darlegen und an verantwortlicher Stelle präsentieren. “Ich spiel’ den advocatus diaboli”, pflegte er dabei immer zu uns zu sagen. Philipp Walkenhorst setzte sich bei den Leiter*innen der verschiedenen Jugendstrafvollzugsanstalten dafür ein, dass wir unser Vorhaben im Rahmen ihrer 40. Arbeitstagung im Mai 2008 in Herford vorstellen konnten. Dort begeisterten sich einige Anstaltsleiter*innen für die Durchführung des Projekts und signalisierten Bereitschaft, uns zu unterstützen. Bereits einen (!) Monat später fand die erste Projektdurchführung in der JVA Herford statt. Im Vergleich zur heutigen Arbeit war alles noch etwas improvisiert und chaotisch: Unsere Materialien waren geliehen oder selbst gebastelt, die Teilnehmer*innen von unserem pädagogischen Angebot vollkommen unterfordert, so dass wir bis spät in die Nacht ein neues, auf die Teilnehmer*innen zugeschnittenes und stärker herausforderndes Programm planen mussten. Aufgrund der positiven Resonanz und verstärkten Nachfrage weiterer JVAs, ebenfalls das Projekt durchzuführen, werteten wir unsere ersten pädagogischen Gehversuche in der JVA als Erfolg: Es folgten, zunächst weiterhin ehrenamtlich, Projekte in verschiedenen JVAs. Daneben ermöglichte die Zusammenarbeit mit Philipp Walkenhorst und seiner damaligen wissenschaftlichen Mitarbeiterin Anne Kaplan immer wieder die Teilnahme an verschiedenen Projekten und Vorträgen, insbesondere auf Jugendgerichtstagen, Exkursionen oder im Rahmen von Kooperationen, bspw. mit dem mittlerweile emeritierten Prof. Dr. Frieder Dünkel und seinem Lehrstuhl für Kriminologie (Universität Greifswald). Im November 2009 bewarben wir unser Projekt bei dem Ideenwettbewerb „Generation-D – erfinde Deutschland neu“ der Bayerischen Elite Akademie. Im Finale wurde das Projekt im Allianz Stiftungsforum in Berlin vorgestellt. Gewonnen haben wir diesen Wettbewerb nicht, sammelten aber wichtige Erfahrungen, die nicht unbedingt Bestandteil einer pädagogischen Ausbildung sind. Erstens: Wir brauchten einen Namen, ein Label und eine Internetpräsenz. Seitdem heißen wir EXIT-EnterLife, zu Deutsch: “Raus – rein ins Leben” – und zwar im doppelten Sinne, denn es markierte nicht nur unseren Übergang vom Studium in die Erwerbstätigkeit, sondern enthielt (und enthält) zugleich unsere Nachricht an die Gefängnisse: Wir wollten und wollen – im Sinne des Angleichungsgrundsatzes des § 3 JStrVollzG NRW – so viel Leben dort hineintragen, wie es nur möglich ist. Unsere zweite Erkenntnis im Rahmen des Wettbewerbs war unbequemer: Pädagogische Arbeit, insbesondere an einem Ort wie der JVA, ist Schwerstarbeit und kostet neben unserer Zeit viel Geld. Gleichzeitig mussten wir schmerzlich erkennen, dass junge Menschen in Haft nicht unbedingt zu einer werbeträchtigen Zielgruppe gehören und kaum eine Lobby haben. Scheinbar haften an ihnen Stereotype und Vorverurteilungen, die selten in das Image eines Unternehmens passen: Klar, fanden alle, die wir fragten, unsere Ideen schön. Natürlich sollte es pädagogische Arbeit im Gefängnis geben – nur bezahlen wollte diese niemand. Unklare Zuständigkeiten (Landesjugendämter vs. Ministerien der Justiz der Länder)
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erschwerten uns die Finanzierung weiter. Wir mussten also lernen, wie man Anträge schreibt und Spenden akquiriert1. Anfang 2011 „wühlten“ wir uns durch die mühsamen Bürokratien des Gründungsprozesses eines gemeinnützigen Vereins – noch etwas, was man im Studium der Sonderpädagogik gemeinhin nicht lernt. Seit der Gründung werden alle Projekte unter dem Dach von EXIT zusammengefasst. Fortlaufend entstanden neue Kooperationen, bspw. mit der DFB Sepp-Herberger-Stiftung, mit der damals neu gebauten JVA in Wuppertal-Ronsdorf sowie der Jugendarrestanstalt Remscheid. Wir erweiterten unsere Angebotspalette um rassismuskritische Bildung, Zirkuspädagogik und Poetry Slam. Zum Kick-Off des Vereins veranstalteten wir im Oktober 2011 an der Universität zu Köln eine feierliche Veranstaltung: Die Grußworte sprachen unsere beiden Mentoren, Philipp Walkenhorst und der Erlebnispädagoge Frank Stähler. Karl-Heinz Bredlow, ehemaliger Leiter der JVA Iserlohn und Prof. Dr. Michael Walter, der mittlerweile verstorbene Kriminologe, Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie und Strafrecht der Universität zu Köln und ehemalige Justizvollzugsbeauftragte des Landes NRW, hielten beide kurze Vorträge: KarlHeinz Bredlow sprach über die Art und Weise, wie pädagogische Arbeit in “Totalen Institutionen” (Goffman, 1973, S. 11; Foucault, 1994, S. 301) von ihren Rahmungen konstituiert wird und schenkte uns Foucaults “Überwachen und Strafen” (1994). Er sagte, wer im geschlossenen Jugendstrafvollzug arbeiten möchte, muss Foucault gelesen und seine mahnenden Worte verstanden haben: „Man kennt alle Nachteile des Gefängnisses: dass es gefährlich ist, dass es vielleicht sogar nutzlos ist. Und dennoch ‚sieht‘ man nicht, wodurch es ersetzt werden könnte. Es ist eine verabscheuungswürdige Lösung, um die man nicht herumkommt“ (Foucault, 1994, S. 296). Michael Walter betrachtete in seinem Vortrag das Bild eines Gebäudes einer JVA und sagte sinngemäß: „Wenn man sich den Jugendstrafvollzug so anschaut, dann fragt man sich, ob das eigentlich sein muss“. Damals wussten wir noch nicht, wie sehr uns diese Überlegungen noch beschäftigen sollten. Seither hat sich vor allem die Angebotspalette (Mitarbeiter*innenschulungen, Projekte sexueller Bildung, “kritisch-Mann-sein”-Projekte, künstlerische Projekte und Psychomotorik) und das Einsatzgebiet (u. a. Einrichtungen für Geflüchtete, Jugendzentren, Jugendwerkstätten) von EXIT erweitert. Wir sind im Dachverband des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV) organisiert, wirken am Arbeitskreis Straffälligenhilfe mit und stehen in regem Austausch mit verschiedenen Kölner Trägern. Außerdem arbeiten wir eng mit vielen JVAs und 1 An dieser Stelle sei unseren Förderern gedankt: WIR HELFEN, die Gustav-Radbruch Stiftung, die LAG Bildung und Kultur, die DFB Sepp-Herberger Stiftung, Zirkus macht stark, der GLS Treuhand, der Dohle Stiftung, der Rhein Energie Stiftung, dem Fliednerverein sowie den vielen privaten Geldspender*innen, die unsere Arbeit mit ihren Spenden ermöglichen.
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JAAs zusammen, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, Niedersachen und Hessen. Als Jugendhilfeträger gestalten wir die Landschaft der Jugendbildungsarbeit in Köln aktiv mit und kooperieren mit verschiedenen anderen Trägern der Stadt sowie zahlreichen Stiftungen. Unsere Konzepte haben wir zu Fortbildungseinheiten für Mitarbeiter*innen ausgearbeitet und in Jugendarrest- und Jugendstrafvollzug sowie für freie Jugendhilfeträger und -verbände Fortbildungen gegeben, Artikel geschrieben und auf zahlreichen Konferenzen Vorträge gehalten. 2015 initiierten wir gemeinsam mit Dr. Anne Kaplan – mittlerweile freie pädagogische Mitarbeiterin des Vereins – das Forschungsprojekt “AIFF - Arrest in freien Formen” in einer nordrhein-westfälischen JAA und erprobten dabei, ob und inwiefern der Jugendarrestvollzug als Ort der Jugendbildung ausgestaltet werden könnte (vgl. Bihs, Schneider, Tölle & Zimmermann, 2015; Kaplan & Schneider, 2016; 2019). 3
Überlegungen zur Zielgruppe und rechtlichen Grundlagen
Mittlerweile hat sich unser Fokus von den Einsatzorten Jugendstrafvollzug und Jugendarrest stärker zu unserer Zielgruppe hin verschoben. Wir verstehen unsere heutige Arbeit im Sinne des § 11 SGB VIII als Beitrag im Rahmen einer nonformalen, außerschulischen Jugendbildung (vgl. Hafeneger, 2013; Rauschenbach, 2005) insbesondere für junge Menschen in marginalisierten Lebenslagen. Demnach ist als Zweck des Vereins in unserer Satzung festgeschrieben: [D]ie pädagogische Arbeit, insbesondere die Förderung der Entwicklung (i.S. des §1 Abs. 1 SGB VIII) von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, insbesondere von Menschen, die in marginalisierten Lebensbedingungen leben und von derartigen Angeboten häufig ausgeschlossen sind. Dies sind beispielsweise geflüchtete, wohnungslose, drogenabhängige, suchtbedrohte, illegalisierte, inhaftierte, arrestierte oder von Haft bedrohte junge Menschen, junge Menschen in Jugend(förder)einrichtungen u.dgl.m. Die Angebote werden an allen Orten realisiert, an denen Menschen des zuvor beschriebenen Adressatenkreises anzutreffen sind, dies sind bspw. Wohnheime, Jugend(förder)einrichtungen, Einrichtungen der Jugendstrafrechtspflege, (Förder-)Schulen und andere Bildungseinrichtungen usw.
Das Leben von Menschen, die von sozialer Marginalisierung betroffen sind, ist geprägt von Ausschlüssen von gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten in Bezug auf Bildung, Gesundheit, Wohnen, Mitbestimmung, Freizeit und Kultur (vgl. Neef & Keim, 2007, S. 284). Auf junge Menschen, die von Jugendstrafvollzug oder -arrest bedroht oder betroffen sind, treffen Merkmale der Marginalisierung in besonderem Maße zu (vgl. Bihs. et al., 2015, S. 304; Lukas, 2011, S. 43). So wuchsen sie häufig von struktureller Ungleichheit betroffen, überwiegend in ökonomisch unsicheren Verhältnissen in marginalisierten Quartieren (Ottersbach,
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2004, S. 58 f.) auf. Bezüglich ihrer Bildungssituation sind sie gegenüber nichtarrestierten bzw. nicht-inhaftierten jungen Menschen massiv schlechter gestellt, sie erreichen vergleichbar niedrigere formale Bildungsabschlüsse (vgl. Walter, 2015; Rheinheckel, 2015; Holz, Laubstein & Sthamer, 2013, S. 106 f.; Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2018, S. 52 ff.) und sind häufiger von der Zuweisung zu Förderschulen betroffen (vgl. Bihs, 2013, S. 338). Stelly, Thomas, Vester und Schaffer beschreiben ihre (Bildungs-)Biografien als problembelastet (2014). In seinem Grundsatzurteil vom 31.05.2006 legt das BVerfG fest, dass das Ziel des Jugendstrafvollzugs darauf ausgerichtet sein muss, den jungen darin untergebrachten Menschen künftig zu einem straffreien Leben in Freiheit und damit in sozialer Integration zu befähigen. Aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik sind die Landesjustizministerien mit der Regelung und Durchführung des (Jugend-)Strafvollzugs beauftragt. Die Rechtsgrundlagen des Jugendstrafvollzugs bilden zum einen das JGG, das in § 2 Abs. 1 und 2 die Ausrichtung aller jugendstrafrechtlichen Instrumente am Erziehungsgedanken festschreibt sowie die Jugendstrafvollzugsgesetze der Länder, die den Vollzug der Jugendstrafe in den dafür vorgesehenen Einrichtungen, die Ziele, Aufgaben und Gestaltungskriterien regeln. § 2 Abs.1 JStVollzG NRW weist als Ziel des Jugendstrafvollzugs die Befähigung zu einem straffreien Leben in sozialer Verantwortung aus. Weiterhin sollen “individuelle Benachteiligungen” vermieden oder abgebaut werden. Der Jugendstrafvollzug ist zur Erreichung dieser Zielsätze “erzieherisch nach anerkannten Grundsätzen der Jugendpädagogik zu gestalten” (§ 3 Abs. 1 JStrVollzG NRW). Das Leben im Vollzug ist zudem “den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit wie möglich anzugleichen” und den “[s]chädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegenzuwirken” (§ 3 Abs. 2 JStrVollzG NRW). Dabei ist auch die “Persönlichkeit und [die] Würde der Gefangenen [sind] zu achten” (§ 3 Abs. 3 JStrVollzG NRW). § 6 JStVollzG NRW verpflichtet die Jugendstrafvollzugsanstalten zur Einbeziehung Dritter, d. h. dass sie zur Kooperation mit freien Trägern der Jugendhilfe, mit Schulen, Ausbildungszentren, Arbeitsagenturen, Therapieeinrichtungen, Heimen, Bildungsstätten, Beratungs- und Forschungseinrichtungen (§108 JStVollzG NRW), die im Bereich der Erziehung, Bildung und Jugendhilfe tätig sind, und der Polizei angehalten sind. Nach Walter ist der Vollzug im Sinne des Angleichungsgrundsatzes zu öffnen (vgl. Walter, 2007, S. 216). Bei der Auslegung und Anwendung des Jugendstrafrechts sind weiterhin Verfassungs- und Grundrechte, das SGB VIII sowie völkerrechtliche Konventionen – also Menschen- und Kinderrechtskonventionen, Behindertenrechtskonventionen, nationale und internationale Empfehlungen und (Mindest-)Standards zu beachten (vgl. Goerdeler, 2015, S. 198; Dünkel, 2014). Die rechtliche Grundlage für den Auftrag zur Erziehung, Bildung und Förderung der Entwicklung junger von Arrest oder Haft betroffener Menschen ergibt sich neben den oben bereits erwähnten Vorschriften aus dem SGB VIII, das allen
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jungen Menschen bis zu einem Alter von 27 Jahren (§ 7) gemäß § 1 Abs.1 nicht nur das Recht auf Entwicklungsförderung zuspricht, sondern gleichzeitig auch das Ziel von Bildungsarbeit deutlich macht: die Befähigung zu Eigenverantwortlichkeit und gesellschaftlicher Teilhabe. Ebenso hat öffentliche Erziehung den Auftrag, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen (§ 1 Abs. 3, S.1 SGB VIII). Die Leitlinien des SGB VIII sind während der Zeit in Haft nicht nur nicht suspendiert, sondern, dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2006 folgend, das auf Entwicklungsförderung der jungen Menschen abstellt, zentrale Leitlinie aller pädagogischen Angebote für die Zeit in Haft oder Arrest (vgl. Kaplan & Schneider, 2019). Auch das weite Inklusionsverständnis der UN-Behindertenrechtskonvention2, das den Abbau sämtlicher gesellschaftlicher Differenz- und Herrschaftskategorien und den Ausgleich entstandener Nachteile fordert, kann hier herangezogen werden, nicht nur weil ein Großteil der jungen Menschen die Zuweisung zu Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Lernen sowie emotionale und soziale Entwicklung (vgl. Bihs, 2013, S. 338) erlebt hat, sondern weil sie bereits vor ihrer Inhaftierung bzw. Arrestierung von Marginalisierung und spätestens danach massiv von Benachteiligung und Exklusion betroffen waren und sind. 4
Menschenbild und Selbstverständnis
Bevor das erste Projekt realisiert wurde, galt es ein Menschenbild und Selbstverständnis als Grundlage unserer Arbeit zu entwickeln, denn pädagogisches Handeln ist immer eingebettet in gesellschaftliche Verhältnisse und darin geltende normative Positionierungen (vgl. Eberle 2015, S. 558). Das zugrunde liegende Menschenbild orientiert sich u. a. am Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sowie an Grundannahmen der humanistischen Psychologie und Pädagogik (nach Rogers, 1978). Diese dienen als Orientierungspunkte für alle unsere pädagogischen Angebote (nicht nur) im Strafvollzug und sollen nachfolgend expliziert werden. Die pädagogische Ausgestaltung der im Grundgesetz festgelegten Freiheit (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) und Gleichheit (Art. 3 Abs.1) aller Menschen bedeutet für unser Selbstverständnis in Bezug auf die jungen Menschen zum einen, sie, auch und gerade unter der Bedingung von Unfreiheit, so frei es nur geht zu behandeln: Auch wenn wir im Rahmen eines Zwangskontextes, wie bspw. der Jugendstrafvollzug bzw. Jugendarrest davon ausgehen müssen, dass niemand völlig freiwillig an unseren Angeboten teilnimmt, so ist es doch konzeptionell vorgesehen, dass 2 Mit Unterzeichnung der UN-BRK war ein Paradigmenwechsel vom medizinischen bzw. individuellen Modell von Behinderung zu einem menschenrechtlichen Modell verbunden, welches gesellschaftliche Bedingungen, die Menschen mit Behinderung stigmatisieren und ausgrenzen, kritisiert (Degener, 2009, S. 272 f.; diese Argumentation findet sich auch bei Bihs et al., 2015).
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sich die Teilnehmenden auf Basis der ihnen vorliegenden Informationen zum jeweiligen Angebot von EXIT bewusst für oder gegen eine Teilnahme entscheiden können. Diese Wahlfreiheit wird von den Anleiter*innen auch während der Angebote aufrechterhalten und gegen mögliche restriktivere Verfahren innerhalb der JVA und JAA verteidigt. Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass der grundsätzliche Einflussbereich der für den Träger tätigen Akteur*innen begrenzt ist: Reaktionen auf die Nutzung der Wahlfreiheit bzw. auch ein “frühzeitiges” Ausscheiden aus einem Angebot kann aus Sicht der Teilnehmer*innen zwar subjektiv sinnstiftend sein, gleichzeitig aber auch entsprechende institutionell festgelegte Konsequenzen nach sich ziehen, wie u. a. Einschluss, negative Fortschreibung der Akten, zukünftiger Ausschluss aus ähnlichen Projekten. Doch bei allen Restriktionen des Zwangskontextes: Die Teilnehmenden sind frei in ihrem Denken und der Äußerung ihrer Meinung, sie sind frei darin, Pausen und Projektabläufe so zu gestalten, wie es unter den Rahmungen einer totalen Institution (Goffman, 1973) eben möglich ist. Folgt man Rogers Gedanken zu Lernen in Freiheit (1974), so ist es gerade die Pflicht von Bildner*innen, ein Klima zu schaffen, das Lernen in Freiheit ermöglicht. Für die Bildungsarbeit muss ein Stück Freiheit in die institutionell bedingte Unfreiheit hineingetragen werden. Zum anderen bemühen wir uns alle jungen Menschen im Gefängnis gleich und respektvoll zu behandeln und in ihrem “So-Sein” (Thiersch, Grunwald, & Köngeter, 2012, S. 177) anzunehmen. Das heißt jedoch nicht, dass biografische Episoden und konstituierende Elemente in der oben explizierten marginalisierten Lebenswelt, die mitunter zur Straffälligkeit, Kriminalisierung und letztlich zum Entzug der Freiheit geführt haben, von den Bildner*innen von EXIT ignoriert werden. Selbstverständlich werden diese in die konzeptionellen, pädagogischen Überlegungen miteinbezogen. Doch: wir sprechen nicht von und nicht über Kriminelle, Strafgefangene oder Insassen – für uns sind die jungen Menschen in Haft oder Arrest vor allem junge Menschen. Straffälliges Verhalten ist nur ein Teil ihrer Biografie und die Strafe hierfür ist im Entzug der Freiheit zu sehen, nicht in geringschätziger Ansprache oder Behandlung. Nach dem humanistischen Grundverständnis gehen wir davon aus, dass jeder Mensch einen konstruktiven Kern hat: Das gezeigte Verhalten ist also aus Sicht des handelnden Subjekts grundsätzlich sinn- und zielorientiert (vgl. Rogers, 1978, S. 283). Die Konzepte von EXIT werden dementsprechend von einem Grundvertrauen in die Ressourcen und Selbstentwicklungskräfte von Menschen getragen. Als Bildner*innen glauben wir an die Fähigkeiten der jungen Menschen und begleiten sie liebevoll und konsequent wertschätzend durch die Projekte. Wir verstehen unsere Arbeit im Sinne von Winkler (2018) als kritische Pädagogik mit einem entsprechend kritischen Verständnis von Bildung als „selbsttätige[n] Prozess der Bewusstseinserweiterung [...], der die Überführung von Kenntnissen in das innere Eigentum der Person, der selbsttätigen, reflektierenden Verarbeitung gesellschaftlicher Wissensbestände“ (Bernhard, 2008, S. 75)
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miteinschließt. Bildung ist somit eine prozesshafte und "aktive Tätigkeit des Subjekts" (Deinen & Reutlinger, 2004, S.11) in Wechselbeziehung von Subjekt und Gesellschaft. Wir denken die stationären Einrichtungen der Jugendstrafrechtspflege als Orte kritischer Jugendbildung (vgl. Kaplan & Schneider, 2019, S. 206) ohne Bildung “damit insofern [zu] überhöhen, als dass ihr allein die Rolle zugesprochen wird, soziale Ungleichheiten abzubauen, obwohl sie im Gegenteil gesellschaftliche – ungleiche – Verhältnisse reproduziert.” (ebd.) Weiterhin beziehen wir Erkenntnisse der Kriminalitätstheorien und deren pädagogische Interpretation in unsere Arbeit mit ein (vgl. Bihs, 2013). So zeigen beispielsweise Lerntheorien, dass jede Art von Verhalten (also auch kriminelles) gelernt und damit auch wieder verlernt werden kann. Die Zeit in einer Jugendvollzugseinrichtung kann – neben allen informellen Lernangeboten der Subkultur (vgl. Bredlow, 2015; Borchert, 2016, S.22) – also dazu genutzt werden, durch die Teilnahme an Bildungsprojekten gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweisen zu erlernen und zu festigen. Nach der Anomietheorie (Merton, 1995) kann davon ausgegangen werden, dass junge straffällig gewordene Menschen nicht grundsätzlich anders sind, sondern vielmehr die gleichen kulturellen Ziele verfolgen, nur nicht über ausreichend legale Mittel zur Zielerreichung verfügen. Demnach können die Projekte als Versuchsraum für neue (legale) Mittel gesehen werden. Besonders bedeutsam sind für uns als externe Mitarbeiter*innen einer JVA die Konsequenzen, die sich aus dem Labeling Approach (vgl. Sack, 1972, S. 23) ergeben. Dementsprechend arbeiten die Bildner*innen mit den jungen Menschen, die sich ihnen präsentieren. Die Akten vorher nicht zu kennen und die jungen Menschen niemals nach Straftatbeständen zu fragen, ist eines der pädagogischen Prinzipien, das bezweckt, Etikettierungen zu vermeiden. Stattdessen soll den Teilnehmer*innen mit hohen Erwartungen und mit „Vorschusslorbeeren“ begegnet werden - in diesem Punkt sind wir beeinflusst von Walkenhorsts Überlegungen zum Strafvollzug als gute Schule (vgl. ebd. 2002). Von den Teilnehmenden wird regelmäßig rückgemeldet, dass sie es sehr schätzen, nicht nach ihrer Tat befragt zu werden. Ein Teilnehmer fasste es einmal treffend in Worte: „So wie ihr zu uns seid…wir müssen uns ja benehmen, weil ihr uns ja vertraut.“ Unser Ansatz ist explizit und bewusst nicht konfrontativ, was nicht heißen soll, dass Konflikte und Probleme übersehen werden und die Anleiter*innen nicht in Konfrontation gehen. Durchaus werden als unsozial bewertete Verhaltensweisen gespiegelt und konfrontiert, Grenzen gesetzt und um ihre Einhaltung gerungen. Die Anleiter*innen folgen dabei der Grundhaltung des No-Blame-Approaches, der ursprünglich zur Bekämpfung von Mobbing in Schulen ohne Bestrafung entwickelt wurde, mittlerweile aber auch Einzug in andere pädagogische Settings erhält (vgl. Blum & Beck, 2008). Dementsprechend geht es um eine zutiefst wertschätzende Haltung, ein “tiefe[s] Vertrauen auf die Ressourcen” (ebd. S. 62)
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eines*einer jeden*jeder Teilnehmer*in gegenüber und dem Vermeiden von Beschämung und Bloßstellung (vgl. ebd.). Weiterhin betonen all unsere Angebote im Sinne erlebnispädagogischer Ansätze die Gruppenbeziehung der jungen Menschen untereinander, ihre Kontakte zu Gleichaltrigen, ihre Rolle im alltäglichen Miteinander – ihre Themen und Aufgaben im Hier und Heute anstatt ausschließlich eine Bearbeitung von Kindheit, Biografie und Straffälligkeit zu fokussieren (Nickolai, Quensel & Rieder, 1991). Die Bildner*innen verstehen sich als Pädagog*innen und Begleiter*innen und auch selbst als Lernende (vgl. Freire, 1984, S. 58) – nicht als Behandler*innen oder Therapeut*innen (Nickolai et al., 1991, S. 7). Betont wird außerdem der besondere Stellenwert von Freizeit, Spaß und Freude am Lernen und Spiel als bedeutsame Faktoren neben Arbeit, Schule und Pflichtbewusstsein. Die Projekte werden mit jungen Menschen durchgeführt, die Spaß und Freude haben dürfen und die eine eigene Freizeitkultur entwickeln sollen (ebd., S. 8). Besonders bedeutsam für die Projekte ist die Verantwortungsübergabe an die jungen Menschen: In den Angeboten erhalten sie Gelegenheit, praktisch zu planen, zu organisieren, eigene Regeln und Grenzen zu setzen, die zu akzeptieren sind – oder wieder verworfen werden müssen. Sie erhalten die Möglichkeit, etwas zu gestalten, selbst aktiv zu werden und Verantwortung (auch für Misserfolge) zu übernehmen, statt – wie im Haftalltag aller anders lautenden Regeln zum Trotz häufig immer noch Praxis – als Objekt verwaltet zu werden (ebd., S. 10). Nach unserem sonderpädagogisch begründeten Selbstverständnis versuchen wir unter den exkludierenden Bedingungen des Jugendstrafvollzugs möglichst inklusive Bildungsprojekte zu gestalten. Das bedeutet, dass jede*r teilnehmen kann, egal ob er*sie lesen oder schreiben kann, Deutsch spricht oder nicht und ungeachtet der Labels, die er*sie in der bisherigen Zeit in der Institution Jugendstrafvollzug bekommen hat – zu unseren Angeboten darf zunächst jede*r dazukommen. Unabhängig von vergangenen Erfahrungen erlaubt jeder Tag und jedes Projekt Gelegenheit für einen Neuanfang. Im Vorfeld versuchen wir so viel wie möglich über die Bedürfnisse und die Ressourcen der jungen Menschen zu erfahren, unsere Bildner*innen sind aber auch in der Lage, die Angebote ad-hoc je nach Stand der Gruppe zu differenzieren. Hierzu bedienen wir uns ebenfalls an Grundlagen der (außerschulischen) Jugendpädagogik – und gestalten die Angebote stets handlungs-, (selbst-)erfahrungs- und subjektorientiert und arbeiten mit Anerkennung und Ermutigung (vgl. Sturzenhecker, 2003; Hafeneger, 2013; Scherr, 1997). Um möglichst sorgsam mit den durchaus vorhandenen Störungen und dem mitunter herausfordernden Verhalten sämtlicher Akteur*innen einer totalen Institution umgehen zu können, nutzen wir eine von Schneider und Kaplan (2019) weiterentwickelte Form des machtkritischen Classroom Managements (ursprüngl. Emmer und Evertson, 2013). Diese nutzt einen Störungsbegriff der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn (1997), der davon ausgeht, dass Störungen
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bedeutsame Interaktionsangebote sind, die nicht passieren würden, wenn sie nicht wichtig wären. In einem weiten Sinne können sie bspw. von jedem anwesenden Menschen, der Raumkonstellation und dem Wetter ausgelöst werden – es wäre verkürzt zu denken, dass Störungen einseitig dem Fehlverhalten junger Menschen zuzuschreiben wären. Die Aufgabe von Pädagog*innen ist es deshalb, professionell, deeskalierend und sensibel mit Störungen umzugehen. Gleichzeitig gehen wir im Sinne des Classroom Managements (Emmer & Evertson, 2013) davon aus, dass eine möglichst sorgsame Vorbereitung des Bildungsinhaltes und des Arbeitsraumes sowie eine Etablierung eines professionellen Verhaltensrepertoires zum Umgang mit herausfordernden Situationen auch dazu führt, dass diese weniger auftreten (vgl. Mays, Schneider, Zielemanns, Wichmann & Metzner, 2018). Wir verstehen unser Angebot nicht als verklärte Programmatik, deren einziges Ziel es ist, pädagogisch-idyllische Inseln als Gegennarrativ zum sonst so tristen Jugendstrafvollzugsalltag zu installieren, mit dem wir möglichst wenig zu tun haben wollen. Im Gegenteil: Nach Eberle (2015) hat pädagogisches Handeln im (Jugend-)Strafvollzug (und Arrest) immer den Anspruch kritisch zu sein, sich einzumischen und zu verändern: -
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kritisch (1) gegenüber gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen, die zur Kriminalisierung der marginalisierten Menschen im Strafvollzug führen; kritisch (2) gegenüber gesetzlichen Bestimmungen und Regeln, die bestimmte Lebensstile kriminalisieren (BTMG, Fahren ohne Fahrschein, Containern als Diebstahl, Graffiti etc.) oder auch junge Menschen, die sich in psychischen und physischen Ausnahmezuständen befinden, einsperrt (hier beispielsweise junge Menschen, die in einer Psychiatrie behandelt werden müssten, junge Frauen, die schwanger sind etc.); kritisch (3) gegenüber dem Strafvollzug als Institution – denn es gibt bessere Alternativen z. B. die Unterbringung in der Jugendhilfe (vgl. Cornel, 2009) – aber auch kritisch (4) gegenüber allen, die eine pädagogische Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs und Jugendarrests ablehnen, weil sie fürchten, ihn zu adeln – die pädagogische Ausgestaltung ist alternativlos, solange die jungen Menschen darin untergebracht sind (Walkenhorst, 2017, S 33); kritisch (5) gegenüber den im Strafvollzug dominierenden Überlegungen von Sicherheit und Ordnung, die in vielen Fällen pädagogischen Bemühungen diametral entgegen wirken und kritisch (6) gegenüber den realen Herausforderungen die u. a. im Verhalten der jungen Menschen begründet sind.
Was bietet der Verein also an? Nachfolgend geben wir einen Überblick über das aktuelle Angebotsspektrum des Vereins, das sich in den letzten Jahren sehr stark
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ausdifferenziert hat. Die Entwicklung der verschiedenen Angebote speist sich einerseits aus den hier angestellten Vorüberlegungen, andererseits auch aus Bedarfen und Bedürfnissen, die in regelmäßigen Vor- und Nachbereitungsgesprächen mit Teilnehmer*innen, den Mitarbeiter*innen des Vereins und Mitarbeiter*innen der Justiz kommuniziert wurden sowie den (fach-)wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit bestimmten Themen und Schwerpunkten. 5
Angebotsspektrum von EXIT - Enter Life e. V.
Erlebnispädagogik: Wer bei Erlebnispädagogik an atemberaubende Berggipfel, halsbrecherische Klettereinlagen oder Segeltörns denkt, wird von unserem Angebot überrascht sein, denn es findet über mehrere Tage im Jugendstrafvollzug oder Jugendarrest statt. Zwar gibt es kein „pittoreskes Gipfelidyll“, wohl aber werden erlebnispädagogische Methoden wie Problemlösespiele, Kooperationsaufgaben und Inszenierungen (vgl. Schneider, Zimmermann, Tölle & Barkhausen, 2014) verwendet und auf die Situation im Jugendstrafvollzug übertragen. Gruppenprozesse und -erfahrungen werden genutzt, um durch Selbsterfahrung Lernprozesse zu ermöglichen und so Selbstbildungsprozesse im oben beschriebenen Sinne in Gang zu setzen (vgl. auch Schneider, Zimmermann & Barkhausen, 2015b). Das Konzept basiert auf Freiwilligkeit – im Gegensatz zum vorstrukturierten Alltag im Jugendstrafvollzug. Es bereitet gezielt auf ein Leben in sozialer Verantwortung vor, indem Entscheidungsfähigkeit und sozial akzeptierte Verhaltensweisen erarbeitet und fortwährend reflektiert werden (vgl. Senninger, 2000). So können Selbstwirksamkeit und die Konsequenzen des eigenen Handelns bewusst gemacht werden. Poetry Slam: Als “Angebote zur Förderung der Kreativität im Rahmen kultureller Formen” (§ 39 Abs. 2 JStVollzG NRW) finden Poetry Slam Workshops über mehrere Tage im Jugendstrafvollzug oder Jugendarrest statt und können mit einer gemeinsam organisierten Aufführung vor Publikum abgeschlossen werden. Als Genre bietet Poetry Slam einen leichten, unterhaltsamen Zugang zu lyrischen Texten. Thematisch passt das Format in die Lebenswelt der Teilnehmenden, da mit humoristischen Mitteln die Gegenwart junger Menschen in ebenso junger, konkreter und damit greifbarer Sprache reflektiert wird. Das Potential des Angebots besteht darin, dass die Teilnehmer*innen über eigene Themen in eigener Sprache schreiben können. Neben Textproduktion ist die Performanz ein wesentlicher Bestandteil: Der gezielte Einsatz von Stimme, Mimik und Gestik sowie das sichere und offene Auftreten müssen ebenso geübt werden, wie schauspielerische Einlagen. Das gemeinsame Durchführen eines Poetry Slam Workshops und das abschließende, gemeinsame Veranstalten eines eigenen Poetry Slams können zur Stärkung und Verbesserung des Klimas einer Gruppe beitragen. Durch die
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Verarbeitung persönlich bedeutsamer Themen, findet auch eine intensive Auseinandersetzung mit den Biografien und dem Hafterleben der Teilnehmenden statt (Schneider & Zimmermann, Publ. in Vorbereitung). Zirkuspädagogik: Im Rahmen dieses Angebots erhalten die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich interessengeleitet in verschiedenen circensischen Disziplinen (Jonglage, Balance, Akrobatik, Fakir*innenkünste, Clownerie, Zauberei etc.) zu versuchen, bzw. bereits bestehende Expertisen auszubauen. Im Seminarverlauf werden eigene Sequenzen entwickelt und erprobt, die dann im Rahmen einer gemeinsam geplanten Abschlussaufführung einem Publikum präsentiert werden. Die Abschlussveranstaltung als gemeinsames Fernziel ist Motor für eine intensive Zusammenarbeit und fordert ein hohes Maß an Engagement, Teamarbeit und Konzentration. Die Teilnehmenden werden von erfahrenen Zirkuspädagog*innen angeleitet, begleitet und erhalten fortwährend Rückmeldungen zu den sich entwickelnden Beiträgen. Die erbrachte Leistung sowie das erlernte Können finden ihre Anerkennung und Bestätigung im Applaus des Publikums. Psychomotorik: Psychomotorik basiert auf der Annahme, dass die körperlich-motorischen und die psychisch-geistigen Prozesse eine Einheit bilden und Menschen sich die Welt durch Bewegungserfahrungen erschließen. Über körperliche Übungen und freies Spiel soll zu einer Verbesserung des physischen und psychischen Wohlbefindens und zu einer Förderung der Persönlichkeitsentwicklung beigetragen werden. Psychomotorik arbeitet mit dem Einsatz verschiedener Geräte und Angebote, welche spielerisch zur Bewegung und dem damit verbundenen Erleben anregen. Das Psychomotorikprojekt fördert handlungsorientiert die gruppeninterne Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft sowie das positive Selbstkonzept der einzelnen Teilnehmenden. Ziel ist es, die Freude am Spiel und der ungezwungenen Bewegung (wieder bzw. vertiefend) zu entdecken. Rassismuskritische, politische Bildung: Das rassismuskritische politische Bildungsprojekt zum „Vorgang Oury Jalloh“ wird in Kooperation mit dem NöTheater-Ensemble aus Köln durchgeführt. Behandelt werden Themen wie Menschenrechte, Flucht und Asyl, die Situation von Asylbewerber*innen, Rassismus und Diskriminierung sowie das Leben und der Tod von Oury Jalloh. Die Gruppe recherchiert zu jedem der genannten Schwerpunkte, wobei alle Bereiche von der menschenrechtlich hoch brisanten Geschichte Jallohs eingerahmt werden. Während der Bildungseinheiten werden Methoden und Materialien aus der rassismuskritischen Bildungsarbeit genutzt, bspw. Plenumsdiskussionen, Gruppenarbeit, Einzelarbeit und Rollenspiele. Die Teilnehmer*innen sollen befähigt werden, diese Themen kritisch zu diskutieren und Vorgänge zu hinterfragen, anstatt diese als festen Bestandteil der Gesellschaft hinzunehmen. Des Weiteren werden sie auf das Theaterstück „Der Vorgang Oury Jalloh“ vorbereitet und für das Thema sensibilisiert, um anschließend auch mit den Schauspieler*innen und dem Regisseur eine kritische Diskussion zu führen (vgl. Schneider et al., 2015a).
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Das sexuelle Bildungsprojekt3 begreift Sexualität als menschliches Grundbedürfnis und Entwicklungsaufgabe. Alle Räume, in denen Menschen miteinander arbeiten und leben, sind sexuelle Orte – so also auch der Jugendstrafvollzug, auch wenn das bisher so kaum thematisiert wird (vgl. Kaplan, Verlinden & Schneider, 2017) Das Angebot richtet sich an die Fragen, Bedürfnisse und die Neugier der jungen Menschen gegenüber sexuellen Fragestellungen. Es wird verhandelt, wer was und wen mag, welche sexuellen Erfahrungen die jungen Menschen bisher gemacht haben und welche (unerfüllten/unausgesprochenen) Wünsche es noch gibt. Es geht neben den schönen Seiten von Sexualität im Kontext des Jugendstrafvollzugs aber auch immer um sexuelle Gewalterfahrungen vor und während der Haftzeit, um sexuelle Rechte, um Ängste sowie um Elternschaft bzw. (häufiger) Mutterschaft und Schwangerschaft (vgl. ebd.). Der Kritisch-Mann-sein-Ansatz ist ein Bildungsangebot, welches hegemoniale Männlichkeitskonstruktionen aufgreift und zu dekonstruieren versucht. Hierzu wird sowohl am interaktiven Miteinander, am diskursiven Entwerfen von Geschlechterstereotypen und auch an biografischen So-Erfahren-Haben angesetzt. Die jungen Männer schreiben, lesen, basteln, erfahren und streiten über internalisierte und inkorporierte Geschlechteridentitäten und daraus abgeleiteten Verhaltensmustern und eröffnen so die Möglichkeit diese auch wieder – wo nötig – zu verlernen. Alle unsere Angebote sowie weitere pädagogisch-konzeptionelle Fragestellungen und Themen des Umgangs mit herausfordernden Situationen, (machtkritisches) Classroom-Management, Rassismuskritik und inklusive Jugendarbeit wurden als Fort- und Weiterbildungsangebote ausgearbeitet und werden so auch Mitarbeiter*innen von Jugendstrafvollzug und Jugendarrest, Jugendhilfe und der freien Jugendbildungsarbeit zugänglich gemacht4 (vgl. Schneider & Kaplan, 2019). 6
Was war gut? Was hat uns gefordert? Wo geht’s hin?
Reflexionen – oft stundenlang mit den jungen Menschen in Haft und auch teamintern im Anschluss an jeden Arbeitstag – sind immanente Teile unserer pädagogischen Arbeit. Mit einem kleinen reflexiven Einblick möchten wir unseren Beitrag schließen. 3 Dieses Projekt wird in einem größeren Zusammenhang um Sexualität junger Menschen im Kontext des Jugendstrafvollzugs begleitet und erforscht von Anne Kaplan, Karla Verlinden und Lisa Schneider - http://www.see.tu-dortmund.de/cms/de/Unser-Team/Wissenschaftliche-MitarbeiterInnen/Dr_Anne-Kaplan/index.html 4 Kooperation mit dem Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik (DBH) und dem Zirkus- und Artistikzentrums Köln (ZAK).
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Was war gut? Die Gemeinschaft, die wir geworden sind, die Netzwerke die wir geknüpft haben, die jungen Menschen, die wir wachsen sehen durften – all das möchte keine*r von uns missen. In jeder Justizvollzugsanstalt haben wir Mitstreiter*innen kennengelernt, engagierte Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen, DiplomPädagog*innen, Sportbeamt*innen, Seelsorger*innen, Abteilungsleiter*innen, und Mitarbeiter*innen vom allgemeinen Vollzugsdienst, die Lust darauf hatten mit uns etwas zu gestalten. Etwas zu wagen, was vielleicht nicht ganz alltäglich war im Jugendstrafvollzug: Eine „Horde“ junger und bunter Pädagog*innen einzuladen, die Knastalltag für ein paar Stunden in einen Zirkus verwandeln oder über Rassismus und Polizeigewalt reden wollten. Besonders schätzen wir all jene mutigen Kolleg*innen in den Jugendvollzugs- und -arresteinrichtungen, die uns so viel Vertrauen und Kraft geschenkt haben, ohne die sicher keines unserer Angebote jemals realisiert worden wäre. An dieser Stelle soll ihre Arbeit gewürdigt, den Anstaltsleitungen und auch jene*n Mitarbeiter*innen, die unsere Projekte und die oftmals entstehende Lautstärke ertragen haben, herzlich gedankt werden. Ein herzlicher Dank auch all den Menschen, die an uns glauben, uns Wege bereiten und mit uns kritisch-konstruktiv in den fachlichen Austausch gehen. Was hat uns gefordert? Gefordert waren wir sehr oft auch von den jungen Menschen – von herausfordernden Verhaltensweisen, schmerzlichen Biografien, ihrer Verzweiflung, ihrer Drogensucht und ihrer Gewalt. Wir haben mit den jungen Leuten gerungen, sie manchmal kaum ertragen, haben gestritten, geschrien, überreagiert und zu spät reagiert. Das waren jene Momente, in denen wir – im Sinne Foucaults – einfach nicht gesehen haben, wodurch Gefängnisse ersetzt werden können. Gefordert hat uns die Totale Institution, die in unserer Arbeit mitunter ihre voller Wucht entfaltet hat: Wenn Projekte in letzter Minute verboten, angemeldete Materialien wegen neuer Sicherheitsbedenken nicht erlaubt, unsere Mitarbeiter*innen in stundenlanger Kleinarbeit an der Pforte mit Spürhunden durchsucht wurden oder sich spöttische Bemerkungen über ihre Arbeit anhören mussten, wenn Mitarbeiter*innen mit roher Gewalt in unsere Projekte „gefunkt“, Abläufe und unsere pädagogische Arbeit und die jungen Menschen gestört haben. Das waren dann die Momente, in denen uns schmerzlich bewusst wurde, dass Gefängnisse nicht der geeignete Ort für junge Menschen sind, die sich noch in der Entwicklung befinden. Wir waren dann erschöpft und wütend, enttäuscht und müde. Im Team haben wir uns in solchen Momenten gegenseitig getröstet und darüber nachgedacht, was wir nächstes Mal anders machen können. All diese Erfahrungen aus allen Projekten, alle Feedback-, Reflexions- und Supervisionsgespräche mit unserem viel zu früh verstorbenen Freund, Supervisor und Gründungsmitglied Jens-Peter Preis – seiner Zeit evangelischer Seelsorger der JVA Siegburg – haben uns gelassener werden lassen und jedes Mal ein Stück professioneller gemacht.
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Wo geht es hin? Wir werden uns nicht abhalten lassen und uns – neben aller Gestaltungsaufgaben außerhalb der Jugendstrafrechtspflege – weiter für eine kritische Pädagogik und Bildung im Jugendstrafvollzug und -arrest im Sinne eines Abolitionismus im Sinne des Vorrangs der Jugendhilfe nach Cornel (2009) und einer gleichzeitig bestmöglichen pädagogischen Ausgestaltung einsetzten. Nicht zuletzt ist Philipp (Walkenhorst) in dieser Hinsicht ein bedeutsamer und unermüdlicher Vordenker und -kämpfer und ein Korrektiv für uns. Literaturverzeichnis Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018). Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung. Abgerufen von https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2018/pdf-bildungsbericht-2018/bildungsbericht-2018.pdf [15.10.2019] Bernhard, A. (2008). Pädagogisches Denken. Einführung in allgemeine Grundlagen der Erziehungs- und Bildungswissenschaften. Baltmannsweiler: Schneider. Bihs, A. (2013). Grundlegung, Bestandsaufnahme und pädagogische Weiterentwicklung des Jugendarrests in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Jugendarrestvollzuges in Nordrhein-Westfalen; zugl. Dissertation Universität zu Köln. Abgerufen von http://kups.ub.uni-koeln.de/5322/ Bihs, A., Schneider, L., Tölle, J. & Zimmermann, R. (2015). Kurzzeitpädagogische Bildungsarbeit mit marginalisierten jungen Menschen – ein Pilotprojekt im Jugendarrest. Rechtspsychologie), 1(3), 303-327. Blum, H. & Beck, D. (2008). Mobbing in der Schule – Von Tätern zu Helfern. UGB-Forum, 25(3), 62-64. Borchert, J. (2017). Bildung als Anspruch – Maßnahmenangebot zwischen Vielfalt und Beschränkung. In M. Schweder (Hrsg.), Jugendstrafvollzug – (k)ein Ort der Bildung!? (S. 18-32). Weinheim: Beltz. Bredlow, K.-H. (2015). Freiheit in der Unfreiheit – Subkultur als Strukturelement im Jugendstrafvollzug. In M.Schweder (Hrsg.), Handbuch Jugendstrafvollzug (S. 354371). Weinheim: Beltz. Cohn, R. C. (1997). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Von der Behandlung einzelner zu einer Pädagogik für alle (13. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Cornel, H. (2009). Den Vorrang der Erziehung bei delinquenten Jugendlichen ernst nehmen – Vorschläge zur Abschaffung des geschlossenen Jugendstrafvollzugs und Begründung. Unsere Jugend, (10), 402-415. Degener, T. (2009). Die neue UN-Behindertenrechtskonvention aus der Perspektive der Disability Studies. Behindertenpädagogik, 48(3), 263-283. Deinet, U. & Reutlinger, C. (2004). Einführung. In U. Deinet & C. Reutlinger (Hrsg.), „Aneignung“ als Bildungskonzept der Sozialpädagogik (S. 7-18). Wiesbaden: Springer VS. Dünkel, F. (2014). „Making standards work“ – Die „European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures” (ERJOSSM) und ihr Einfluss auf das
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Sozialpädagogische Bausteine im Jugendvollzug – eine Kooperation zwischen Jugendvollzug und Universität Sabine Schweer
1 1.1
Geschichtliche Entwicklung der Kooperation Von ersten Überlegungen zur konkreten Umsetzung
Bereits zu Beginn der 1990er Jahren haben die Bediensteten der Justizvollzugsanstalt Iserlohn (JVA Iserlohn) ihre Arbeit von dem pädagogischen Motto „alles so normal wie möglich“ begleiten lassen. Alle Ideen, Vorgänge, erzieherischen Maßnahmen und alltäglichen Begegnungen folgten dem Angleichungsgrundsatz: „Das Leben im Vollzug ist den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit wie möglich anzugleichen. […]“ (JStVollzG NRW § 3(3)). Aus diesem Grundverständnis entwickelte sich die Idee, möglichst regelmäßig interessierte Menschen von außerhalb in die Arbeit mit den jugendlichen und heranwachsenden Inhaftierten zu integrieren, um so den Austausch zwischen „drinnen und draußen“ zu beleben. Ein weiterer gewünschter Aspekt war es, eine Art “critical friend“ in die JVA hinein zu holen, der mit feinem objektiven (pädagogischen) Blick auf die Arbeit aller Vollzugsbediensteten schaut und in Gesprächen mit diesen kritisch reflektiert. Die damalige Anstaltsleitung stimmt dem Vorschlag des pädagogischen Dienstes zu, Kontakt zur Universität Dortmund aufzunehmen und dort nach einem*r Ansprechpartner*in zu fragen, der*die bereit ist, Vorstellungen zu einer Zusammenarbeit zu entwickeln und erste Schritte auszuprobieren. Studierende des Bereichs Erziehungsschwierigenpädagogik kommen zum ersten Mal zu Exkursionen in die JVA Iserlohn, um dieses pädagogische Handlungsfeld kennenzulernen. Der pädagogische Dienst (Lehrkräfte) der JVA steht als Ansprechpartner zur Verfügung. Früh zu Beginn dieser Exkursionen werden die Studierenden durch Philipp Walkenhorst begleitet und es finden erste studentisch angeleitete freizeitpädagogische Angebote mit jungen inhaftierten Menschen in der JVA statt. Mitte der 1990er Jahre bitten die Lehrkräfte der JVA um ein Treffen mit einem Vertreter bzw. einer Vertreterin der Universität Dortmund, um extern angeleitete Projekte ebenfalls in die Schulabteilung zu integrieren. Bereits mit der universitären Arbeit in einer Justizvollzugsanstalt vertraut und sehr interessiert findet sich Prof. Dr. Philipp Walkenhorst als Vertreter der Uni © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_16
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versität zu den Treffen ein. In vielen gemeinsamen Sitzungen mit einem interdisziplinär besetzten Gremium der JVA Iserlohn entstehen im Jahr 1995 theoretisch fundierte und nach praktischen Gesichtspunkten ausgewählte Projektabläufe. Eine dezidierte Zielsetzung wird formuliert. Im Oktober 1995 werden die Projekte (sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bereich) unter dem Titel der „Sozialpädagogischen Bausteine“ benannt und folgender Ablauf festgehalten: Die Universität bietet ein Seminar für maximal zehn Studierende der Erziehungswissenschaften (heute: Rehabilitationswissenschaften) an, vermittelt in mindestens acht Terminen im Semester theoretische Grundlagen und entwickelt mit den Studierenden ein Kurzkonzept zur Durchführung ihrer Projekte. Maximal zu zweit sollen die Studierenden ihre Hobbys in Freizeitangeboten an die Inhaftierten herantragen und als Anleiter*innen durchführen. Jedem Projekt steht ein*e Bedienstete*r der JVA Iserlohn als Kontaktperson zur Seite. Reflektiert werden die Projekte einerseits unmittelbar in der Anstalt und andererseits im Seminar an der Universität. Die Studierenden fassen ihre Vorbereitungen, Planungen, die Durchführung und damit einhergegangene Erfahrungen in Berichten kritisch zusammen. Die Berichte tragen zur endgültigen Benotung bei. Der große zeitliche Aufwand dieser Lehrveranstaltung und die damit verbundene Benotung sollen die Ernsthaftigkeit der Projekte für die Studierenden deutlich machen und Gewissenhaftigkeit und Achtung gegenüber dem pädagogischen Handlungsfeld Jugendvollzug unterstützen. Bis heute haben die Studierenden ein vielfältiges Angebot für die jungen Inhaftierten umgesetzt. Im Einzelnen waren das beispielsweise verschiedenste Kochprojekte, in denen die inhaftierten Jugendlichen und Heranwachsenden ihre kulturelle Herkunft mit der Anleitung der Studierenden zu Benimm-Regeln verbinden konnten. Meist entstand zum Ende auch ein buntes Kochbuch mit allen Rezepten. Hat die Umsetzung des Projektes im offenen Vollzug stattgefunden, gab es häufig zusätzlich die Möglichkeit, auch den Einkauf von den Studierenden gemeinsam mit den Inhaftierten vorzunehmen. Thematisch passend schließen sich mehrere Gentleman-Kurse an, in denen die männlichen Inhaftierten von Umgangsformen zu Tisch über höfliche Kommunikation mit Fremden bis hin zu ersten Tanzversuchen einiges erproben konnten. Die Inhaftierten erhielten zum Abschluss des Projektes ihren eigenen „Knigge“. Einige Studierende nahmen sich der Aufgabe an, – meist in enger Kooperation mit den zuständigen Bediensteten in der JVA –, ein Bewerbertraining vorzubereiten und umzusetzen. Auch hierbei erhielten die Inhaftierten ihre individuell ausgearbeitete Bewerbungsmappe. Viele sportliche Angebote ergänzten die Vielfalt der körperlichen Ertüchtigung in der JVA Iserlohn. Einige Studierende haben den jungen inhaftierten
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Menschen ihnen unbekannte Sportarten vorgestellt, wie zum Beispiel Speedstacking, Flagfootball oder Ultimate Frisbee. Begeistert haben sich die Inhaftierten auch immer in die musikalischen Angebote eingebracht. Zum Teil sind einzelne Instrumente vorgestellt und erlernt worden. Mit entsprechender Vorerfahrung der Teilnehmenden sind auch einzelne kleine Bandprojekte entstanden. Im Jahr 2017 haben beispielsweise vier Studierende Bodypercussion mit den männlichen Inhaftierten anlässlich der landesweiten Knastkulturwoche mit externen Besuchern an zwei Nachmittagen in der JVA angeboten. Die Inhaftierten haben im Team mit den Studierenden ihre erlernten Rhythmen vorgeführt und gemeinsam mit den Besuchern ausprobiert. In kreativ künstlerischen Projekten haben sich häufig besondere Talente auf den Seiten der Inhaftierten hervorgetan. In der Regel brachten die Studierenden eine Idee mit, die sie dann mit den jungen Menschen in der JVA umsetzten. Genannt werden sollen hier exemplarisch das Basteln von Piñatas, das Erstellen eines Musikvideos und eines Animationsfilms, die Gestaltung verschiedenster Wände bzw. Räume in der JVA, die Entwicklung eines eigenen Brettspiels, Improvisationstheater, Lederverarbeitung, Linoldruck und Korbflechten. Ebenfalls interessiert zeigten sich die Inhaftierten an den studentisch angeleiteten Erste Hilfe-Kursen, die ihnen eine Vorbereitung auf die Kurse für den Erwerb des Führerscheins boten. Gelegentlich ergab sich auch die Möglichkeit, dass Studierende ihre Hunde mit in die JVA brachten und vom Umgang und der Pflege des Hundes bis hin zu Hundesportarten unterschiedliche Themenfelder gemeinsam mit den Inhaftierten erarbeiteten. Nach den ersten Terminen an der Universität Dortmund, trafen sich die Studierenden gemeinsam mit Philipp Walkenhorst und mindestens einem*r Bediensteten der JVA Iserlohn in der JVA. Dort bekamen sie die Möglichkeit, Räumlichkeiten zu besichtigen, ihre entwickelten Projektideen vorzustellen und offene Fragen zu besprechen. Nachdem jedes Projekt einem*r Ansprechpartner*in der JVA zugeteilt war, mussten Termine abgestimmt und ein Teilnehmer*innenkreis ausgewählt werden. Je nach Projektthema ergaben sich unterschiedliche Zielgruppen bei den Jugendlichen und Heranwachsenden in der JVA. Meist handelte es sich um Gruppengrößen zwischen vier und acht jungen Inhaftierten. 1.2
Bedenken, Benefit und Erfahrungen
Für den Justizvollzug bedeuten externe Besucher immer ein Sicherheitsrisiko. Die Bedenken, die sich somit aus der hohen Fluktuation von Studierenden, die die Sozialpädagogischen Bausteine durchführen sollten, (zweimal im Jahr maximal zehn
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Personen) ergaben, erforderten vermehrt Gespräche und Vorgaben. Die Universität verpflichtete sich, die Studierenden auf die Regeln im Vollzug vorzubereiten und sie auf die Sensibilität aufmerksam zu machen, sich den Strukturen anzupassen und im Gespräch mit den Bediensteten offen zu sein. Die Erfahrungen der ersten durchgeführten Projekte vor der Namensfindung und Verschriftlichung der Kooperation zwischen Universität und Justizvollzugsanstalt bildeten die Basis für eine unbürokratische Organisation innerhalb der JVA. Die Studierenden, die Angebote im Rahmen der Sozialpädagogischen Bausteine durchführen würden, wurden keiner Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Praktikant*innen jedoch wurden wie jeher sicherheitsüberprüft, da sie eine längere Zeit in der Anstalt verbringen und nach einem positiven Ergebnis der Prüfung auch einen Schlüssel erhalten würden. Ebenso wie die ersten Erfahrungen zeigten, haben sich bis heute keine Sicherheitsrisiken bei der Durchführung der Projekte im Rahmen der Sozialpädagogischen Bausteine ergeben. Im Gegensatz zu wiederkehrenden Störungen kleineren Ausmaßes in extern angeleiteten Projekten, der Arbeit von Praktikant*innen und sonstigen Veranstaltungen unter der Beteiligung externer Besucher*innen, hat es bei den studentischen Projekten noch nie negative Folgen, geschweige denn einen Abbruch aufgrund eines mangelnden Sicherheitsverständnisses gegeben. Die engmaschige Betreuung innerhalb der Justizvollzugsanstalt und die umfangreiche Vorbereitung durch die Universität gewährleisten einen sensiblen, respektvollen und professionell distanzierten Umgang mit der Klientel und den von einem hohen Sicherheitsverständnis geprägten Gegebenheiten innerhalb der JVA. Die enge Zusammenarbeit der beiden Institutionen erforderte von Beginn an eine zusätzliche Koordination und Absprache zwischen der Universität und der Justizvollzugsanstalt, aber auch innerhalb der Einrichtungen. Den Mehraufwand, der dadurch entstand, ist von vielen Beteiligten stets motiviert und engagiert „aufgefangen“ worden. Einige Bedienstete der JVA traten den studentischen Projekten und auch der gesamten Kooperation skeptisch und zum Teil auch abwehrend gegenüber. Dieses Verhalten war ebenso in Verunsicherungen bezüglich der Abläufe begründet wie in der Sorge, das Sicherheitslevel nicht aufrechterhalten zu können, wenn sich Externe im geschlossenen Arbeitsbereich aufhielten. Einige Bedienstete waren besorgt, dass sie eine zusätzliche Aufsicht für die Studierenden bieten müssten, sich aber nicht in der Lage sahen, dies zu leisten. Auch diese Bedenken waren in den vergangenen Jahrzehnten unbegründet. Die Studierenden arbeiten respektvoll mit den Bediensteten und Inhaftierten zusammen und sind sich heikler Situationen bewusst. Im Justizvollzug ist es eine der obersten Prioritäten, sich des Umgangs mit sensiblen Daten bewusst zu sein und gewissenhaft mit diesen umzugehen. Bedenken im Hinblick auf diese Daten sind im Laufe der Jahrzehnte der Zusammenarbeit immer wieder aufgekommen, konnten aber von dem professionellen Umgang der
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Studierenden widerlegt werden. Sowohl von Seiten der Universität als auch von den begleitenden Bediensteten sind die Studierenden regelmäßig darauf aufmerksam gemacht worden, außerhalb der JVA keine Namen zu nennen, keine Abläufe preis zu geben und keine internen Absprachen zu erwähnen. In den Berichten, die auf die Projektdurchführung folgten, haben die Studierenden immer Alias-Namen oder Chiffren verwendet, um die inhaftierten jungen Menschen, die Bediensteten und die Abläufe zu beschreiben. Einige Bedienstete hegten Vorbehalten gegenüber den Berichten. Die Verschriftlichung und kritische Auseinandersetzung der Studierenden mit der Arbeit und ihren Erfahrungen im Vollzug, erzeugten ein Gefühl der Kontrolle des eigenen beruflichen Handelns bei manchen JVA-Mitarbeiter*innen. Einige haben den pädagogischen Input und die Sichtweise der Studierenden dann aber als konstruktives Mittel gesehen, die eigenen Einstellungen und Handlungsweisen zu überdenken und gegebenenfalls zu verändern. Der rege Austausch zwischen den Kooperationspartnern hat so immer zu einer Bereicherung im Vollzugsalltag geführt. Neue Erkenntnisse aus der Forschung sind ebenso in die Überprüfung des pädagogischen Leitbildes der JVA eingeflossen wie auch der persönliche Austausch der Lehrenden, Bediensteten, Studierenden und Inhaftierten. Die jeweiligen Wissensbestände aktualisieren sich so „ganz nebenher“. Nicht nur die pädagogische Arbeit innerhalb der JVA Iserlohn profitiert von der Kooperation. Auch die Universität bietet ihren Studierenden so – wie bereits beschrieben – die Möglichkeit, hilfreiche Erfahrungen in einem möglichen Arbeitsfeld zu sammeln. Auch beschreiben die meisten der Studierenden einen Zuwachs an pädagogischer Handlungskompetenz. Zuweilen ist die Auseinandersetzung mit jungen Straftäter*innen eine große Herausforderung; zumal der Altersunterschied zwischen den Studierenden und den Inhaftierten häufig wenige Jahre beträgt. Gelegentlich sind nach der Einführung von G8 die Studierenden sogar jünger als die ältesten Inhaftierten. Unter anderem deshalb ist eine enge und vertrauensvolle Begleitung sowohl von universitärer wie auch vollzuglicher Seite zwingend erforderlich. Für die Studierenden ist die Sichtung, Erschließung und Erprobung pädagogischer Interventionen bei Risikogruppen wie Inhaftierten ebenso wertvoll wie die Strukturierung und Organisation des eigenen Angebots. Die jungen Inhaftierten genießen die Projektzeit mit den Studierenden immer sehr. Sie bringt Abwechslung in ihren Alltag und bietet eine Chance, sich mit Interessierten auszutauschen. Der beidseitige respektvolle Umgang miteinander, den sie in den Maßnahmen erfahren, stärkt sie in der Kommunikation mit Fremden. Außerdem erfahren sie neue Lebenswelten und haben die Chance, ihren Blick auf ihre eigene Biografie zu verändern. Der gegenseitige Austausch verschiedener pädagogischer Professionen trägt dazu bei, Entwicklungen in der Forschung und Praxis abzugleichen, Ergebnisse
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zu transferieren und sich in seinem Beruf ständig selbst zu reflektieren und zu überprüfen. Jedes Mal, wenn neue Projekte beginnen, ergibt sich damit eine neue Aussicht, Nachwuchskräfte für den Justizvollzug zu generieren. Einige der Studierenden sind nach ihren Angeboten oder Praktika als ehrenamtliche Helfer*innen, aber zum Teil auch als Honorarkräfte weiter in der JVA beschäftigt. Für die Universität Dortmund ergab sich aus der intensiven Zusammenarbeit mit der JVA Iserlohn eine weitere Möglichkeit, einer Vielzahl Studierender regelmäßig einen Einblick in ein geschlossenes System im pädagogischen Handlungsfeld der Pädagogik bei Verhaltensstörungen zu gewähren. Die Studierenden erhalten in dem eng betreuten Rahmen die Chance, sich und ihre Vorstellungen zu erproben und sich mit der späteren Klientel reflektiert und von erfahrenen Bediensteten begleitet auszutauschen. Da der Justizvollzug auch im Bereich der rehabilitationspädagogischen Arbeit an der Universität nur einen geringen Anteil ausmacht, hat sich durch die Kooperation eine Bereicherung der Hochschuldidaktik um neue Lernfelder ergeben. Die positiven Erfahrungen aus den Sozialpädagogischen Bausteinen haben nicht nur für die Universität Dortmund, sondern auch für weitere – zum Teil deutschlandweite – Forschungsvorhaben den Weg geebnet und Kooperationen mit externen Trägern und Anbietern von Maßnahmen im Freizeitbereich vorbereitet. Regelmäßig finden Erhebungen für konstruktive Lern- und Forschungsvorhaben zur Verbesserung der vollzuglichen Fördermöglichkeiten in der Anstalt statt. 1.3
Organisatorische Erfordernisse für die Kooperation und weitere Ideen
Philipp Walkenhorst begleitete sowohl die Studierenden regelmäßig in Blockpraktika in der JVA Iserlohn wie auch zu einzelnen Terminen während der Sozialpädagogischen Bausteine. Zudem traf er sich mit einigen Bediensteten, um weitere Projekte im Einzelnen und die Zusammenarbeit im Ganzen zu reflektieren und Neues zu entwickeln. Aufgrund seiner ständigen Besuche innerhalb der JVA schien es daher angezeigt, ihn als externen Mitarbeiter aufzunehmen und ihm so die Gelegenheit zu geben, einen sogenannten Durchgangsschlüssel1 zu erhalten. Wege in der JVA können von ihm so selbstständig bewältigt werden, ohne dass er von einem*r Bediensteten begleitet werden muss. Im Vermerk vom 24.02.1998 zu einem unveröffentlichten Protokoll vom 27.10.1995 heißt es dazu:
1 Mit dem Durchgangsschlüssel hat man keinen Zugang zu den Hafträumen. Die Wege sind aber unabhängig einer ständigen Begleitung durch Bedienstete zu absolvieren.
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Im Gespräch am 24.02.1998 mit Herrn SR Neumann (JVAmt Westfalen/Lippe), Herrn AL Bredlow, Herrn Dr. Walkenhorst (Uni Dortmund) und Herrn Bucher wurde deutlich, daß es seitens der Justizvollzugsanstalt Iserlohn wünschenswert ist, daß Herr Walkenhorst als externer Mitarbeiter in der JVA tätig wird. Neben den laufenden Blockpraktika und den Sozialpädagogischen Bausteinen (SPB) für die Studenten, die durch Herrn Walkenhorst begleitet werden, bot Herr Walkenhorst an, beim theoretischen Unterricht, eingebunden in den Ausbildungsplan der Dienstanfänger, mitzuwirken. Gespräche hierzu fanden schon mit den Ausbildungsleitern in Absprache mit dem LAV statt. Um Herrn Walkenhorst die Möglichkeit zu geben, weitergehende strukturelle Einblicke in Anstalts- und Organisationsabläufe zu erhalten, soll er als externer Mitarbeiter einen Durchgangsschlüssel erhalten. Die von ihm gewonnenen Erkenntnisse dienen einerseits der Verbesserung des pädagogisch-erzieherischen Denkens innerhalb der Anstalt und andererseits dem handlungsorientierten Forschungsinteresse der Uni Dortmund. Die Uni Dortmund erhält als Dienststelle von Herrn Walkenhorst ein Schreiben (AL Bredlow und SR Neumann), in dem die von Herrn Walkenhorst hier geleistete Arbeit im Rahmen eines gemeinsamen Projektes Justiz (JVA Is) und Uni Dortmund als zu seinem Dienstgeschäft an der Uni zugehörig erklärt wird.2
Philipp Walkenhorst war damit als externer Mitarbeiter der JVA Iserlohn legitimiert und die erforderlichen organisatorischen Schritte eingeleitet, die Zusammenarbeit zu vereinfachen und eine Regelmäßigkeit zu implementieren. In den ersten Jahren der Projektdurchführungen fällt vermehrt auf, dass Räume fehlen, in denen vor allem Freizeitangebote außerhalb von Schule stattfinden können. Die Durchführung der studentisch angeleiteten Maßnahmen in den einzelnen Abteilungen gestaltet sich schwierig. Externe sind in den meisten Fällen nicht in die Arbeitsabläufe der Bediensteten involviert und sollen vor allem in schwierigen Situationen geschützt sein. Im Rahmen mehrerer Gespräche und Treffen zwischen den Vertreter*innen der Universität Dortmund und der JVA Iserlohn entsteht ein erster Gedanke, eine „Lernwerkstatt“ innerhalb der Mauern zu installieren. Dieser Ort soll eine materialreiche Lernumgebung für schulisches und außerschulisches Lernen schaffen. Im Zentrum stehen praktisches und eigeninitiatives Lernen und eigenen Erfahrungen. Zur Konkretisierung dieser Ideen bilden sich mehrere Arbeitsgruppen. Eine junge Studierende verfasst schließlich ein Rahmenkonzept zur Einrichtung einer Lernwerkstatt in der JVA Iserlohn im Rahmen ihrer Diplomarbeit. Interessierte und engagierte Bedienstete der JVA Iserlohn treffen sich in kleinen Arbeitskreisen, um die pädagogische Konzeption, die Benutzerkonzeption und die Raumausgestaltung niederzuschreiben. Zudem beschäftigen sie sich damit, Gelder und Mittel zur Einrichtung einer Lernwerkstatt zu beschaffen. In einem Gebäudetrakt der JVA entstehen schließlich folgende Räume: ein Café, eine Bücherei, ein Werkraum, zwei Schulungsräume, eine Küche und ein 2
Abkürzungen: SR – Schulrat, JVAmt – Justizvollzugsamt, AL – Anstaltsleiter, LAV – Leiter des allgemeinen Vollzugsdienstes
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Esszimmer. Im Laufe der Jahrzehnte ist die Nutzung der Räume den aktuellen Bedürfnissen angepasst worden. Die Durchführung der Sozialpädagogischen Bausteine als stärkste Säule der Kooperation läuft die ganzen Jahre in unveränderter Weise weiter. Lediglich organisatorische Abläufe müssen gelegentlich an akademische Veränderungen oder Neuerungen im Vollzugsalltag angepasst werden. Im Oktober 2006 kommt die damalige Justizministerin Frau Müller-Piepenkötter zu einem Besuch in die JVA Iserlohn. Mehrere Studierende nutzen die Möglichkeit, ihr ihre durchgeführten Projekte vorzustellen. Auch eine Diplomarbeit zur Freizeitgestaltung im Jugendvollzug wird präsentiert. Frau Müller-Piepenkötter zeigt sich beeindruckt von der Vielfalt der Angebote und des mannigfaltigen Profits von den Projekten sowohl auf Seiten des Jugendvollzugs wie auch auf Seiten der Universität. Im Jahr 2008 tritt das Gesetz zur Regelung des Jugendstrafvollzuges in Nordrhein-Westfalen (JStVollzG NRW) in Kraft. Auf dieser Grundlage erfolgt die Einstellung von zwölf Diplom-Pädagog*innen in vier der fünf Jugendstrafanstalten des Landes Nordrhein-Westfalen. In der JVA Iserlohn wird die Koordination der Sozialpädagogischen Bausteine von den neu eingestellten Pädagog*innen übernommen und die Studierenden von ihnen in der Praxis begleitet. Die von der Fakultät 13 der Universität Dortmund organisierten Kontakttage bieten Institutionen die Möglichkeit, den Studierenden sich, ihre rehabilitationspädagogischen Handlungsfelder und ihr Klientel vorzustellen und sich als mögliche Praktikumsstelle oder Arbeitgeber zu präsentieren. Die Sozialpädagogischen Bausteine gehörten bei der Vorstellung der JVA Iserlohn auf den Kontakttagen immer zum Präsentationsbild und boten einen ersten praktischen Einblick in die Möglichkeiten, dieses Arbeitsfeld kennenzulernen. Nach dem Wechsel Philipp Walkenhorsts von der Universität Dortmund an die Universität zu Köln ergab sich die Chance, weitere akademische Ressourcen in die Kooperation mit der JVA Iserlohn zu integrieren. Eine weitere Zusammenarbeit, die sich aus der Integration universitärer Gedanken in den Jugendvollzug ergab, war die Idee, eine Art „Akademischer Lehranstalt“ zu etablieren. Dazu sollten die JVA Iserlohn, die Universitäten Dortmund und Köln und die Justizvollzugsschule in Wuppertal3 kooperieren, um das menschlich wie fachlich vertrauensvolle und engagierte Zusammenwirken der Bediensteten (vor allem auch der Dienstanfänger), Studierenden, Gefangenen und Lehrenden weiterzuentwickeln und in die Ausbildung junger Menschen profitabel integrieren zu können. Konkret sind im Zusammenhang folgende Ideen entstanden:
3 An der Justizvollzugsschule (JVS) in Wuppertal findet der theoretische Unterricht für die Anwärter*innen des allgemeinen Vollzugsdienstes statt.
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Eine Öffnung von geeigneten universitär organisierten Lehrveranstaltungen für Dienstanfänger*innen und Bedienstete der JVA Iserlohn, die dann an den Universitäten Köln und Dortmund gemeinsam mit Studierenden stattfinden. Im umgekehrten Falle die Durchführung geeigneter (handlungs- und projektbezogener) Lehrveranstaltungen in der JVA Iserlohn. Bedienstete sollten dazu sowohl an den Veranstaltungen als auch an der praktischen Umsetzung des Gelernten in Freizeit und Schule beteiligt werden; wie beispielsweise bei den Sozialpädagogischen Bausteinen. Mitarbeiter*innen der Universitäten könnten zu speziellen Themen (vor allem Jugend- und Straffälligenpädagogik) an der Justizvollzugsschule unterrichten und Unterrichtsinhalte unterstützen. Tandem-Projekte, bei denen ein/e Dienstanfänger*in gemeinsam mit einem/r Studierenden Projekte in der JVA planen und durchführen oder sich um die Förderung eines ihnen zugeteilten Gefangenen kümmern. Forschungsvorhaben, die sich aus den pädagogischen Fragestellungen im Jugendvollzug ergeben und zwischen den Universitäten und der Anstaltsleitung abgestimmt werden. Theoretische Grundlagen und Resultate für die Kooperationspartner
Aus der Idee und dem Wunsch sowohl der JVA Iserlohn als auch der Universität Dortmund, die Zusammenarbeit aus den frühen 1990er Jahren zu intensivieren und auszubauen, ergab sich eine wichtige Möglichkeit, die pädagogische Arbeit im Jugendvollzug zu erforschen. Im Einzelnen ergaben sich daraus für Philipp Walkenhorst eine Vielzahl von Fragestellungen und Anregungen, die in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich behandelt und mit universitärer und vollzuglicher Unterstützung auch eine Ausweitung in den Bereich des Jugendarrests erfuhren. Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene ist Philipp Walkenhorst in einer Vielzahl von Gremien Mitglied und wird ebenso häufig als Berater hinzugezogen. Konkrete theoretische Überlegungen, die die Arbeit der Studierenden und Bediensteten im (außer)schulischen pädagogischen Bereich des Vollzugsalltags begründen können, fußen auf den grundsätzlichen „Überlegungen zum pädagogischen Handeln im Jugendstrafvollzug“, die Walkenhorst 1998 in einem Artikel im DVJJ-Journal veröffentlicht. (Walkenhorst, 1998) Der Gedanke einer „animativen Freizeitdidaktik“, des Jugendstrafvollzugs als „guter Schule“ und die Erschließung des (Vollzugs-)Alltags als zu gestaltender Lebensbereich sind drei Pfeiler, die die pädagogische Arbeitsgrundlage und das pädagogische Verständnis in der JVA Iserlohn maßgeblich prägen (vgl. Walkenhorst, 2000, 2002) Im Zusammenhang mit dem kritischen und selbstreflek-
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tierenden Austausch zwischen Theorie und Praxis, erhält die rehabilitationspädagogische Sicht einen neuen Stellenwert und wird in der vollzuglichen Arbeit mit den Gefangenen in der JVA Iserlohn selbstverständlich. Der Begriff der sinnvollen Freizeitgestaltung hat frühen Einzug in die theoretischen Überlegungen Philipp Walkenhorsts gefunden und bildete eine der Grundlagen für weitergehende Gedanken und Forschungsvorhaben. Mit der Intensivierung der Projekte in der JVA Iserlohn und dem Ausbau der Lernwerkstatt als neuem Lernort – vor allem im Freizeitbereich der jungen Inhaftierten – rückte die freie Zeit vermehrt in den Fokus und der Bedarf einer wissenschaftlichen Basis erhöhte sich. Bereits in den 1970er Jahren beschäftige sich Horst W. Opaschowski mit der Pädagogik der Freizeit (vgl. Opaschowski, 1976). Bis in die 1990er Jahre hinein bildeten seine Theorien und Forschungsergebnisse eine solide Grundlage für die Übertragung in den Jugendvollzug. Diesen Transfer der Freizeitforschung „draußen“ in den Freizeitbereich „drinnen“, also innerhalb der JVA, schafften sowohl die studentischen Projekte, Praktika und Abschlussarbeiten wie auch die Arbeit von Philipp Walkenhorst auf politischer und wissenschaftlicher Ebene. Besonders, dass viele der pädagogischen Leitgedanken Einzug zunächst in den Entwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein Jugendstrafvollzugsgesetz gehalten haben und sich schließlich auch in dessen Ausformulierung und mit dem Inkrafttreten des JStVollzG NRW 2008 in einer gesetzlichen Grundlage wiederfinden, ist eine Manifestierung der Zusammenarbeit von Justiz und Universität – von Praxis und Forschung. Zeitgleich mit einem eigenen Gesetz, das den Jugendstrafvollzug in Nordrhein-Westfalen regelt (JStVollzG NRW), entstehen – wie bereits erwähnt – zwölf Angestelltenstellen in vier der fünf Jugendanstalten des Landes für Diplom-Pädagog*innen. Die Aufgaben umfassen unter anderem die „Planung, Organisation und Evaluation anstaltsinterner, Freizeitkonzepte, die Durchführung sinnvoller Freizeitmaßnahmen, (…) pädagogische Intervention, (…) Zusammenarbeit namentlich mit dem allgemeinen Vollzugsdienst, anderen Fachdiensten und Dritten…“.4 Die Weiterführung der Kooperation mit der Fakultät 13 der Technischen Universität Dortmund ist somit in der JVA Iserlohn seit 2008 konkreter Teil des Arbeitsbereichs der Diplom-Pädagog*innen. Schwierigkeiten haben sich in der theoretischen Begründung für Maßnahmen im Freizeitbereich des Jugendvollzugs häufig ergeben, da der Freizeitbereich und das Freizeitverhalten junger Menschen grundsätzlich wenig erforscht sind. Im letzten Jahrzehnt ist die Wichtigkeit freizeitpädagogischer Angebote außerhalb der Justiz in den Fokus jugendspezifischer Themen geraten. Für die Arbeit im Jugendvollzug bedeutet das, wenige theoretische Grundlagen zur Verfügung zu haben, sinnvolle Freizeitgestaltung im geschlossenen System des Vollzugs begründbar zu 4
Übernommen aus der Stellenausschreibung aus 2007.
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machen. Konkrete Fragestellungen, die sich auf die Bedürfnisse und Gegebenheiten in einer JVA beziehen, sind daher noch immer wichtig und ihre Beantwortung erstrebenswert. 3
Fazit
Auch wenn die enge Kooperation zwischen der Universität Dortmund und der JVA Iserlohn nicht ohne Widerstände begann, so ist sie doch über die Jahrzehnte gewachsen und hat sich auf beiden Seiten verfestigt. Die Sozialpädagogischen Bausteine im Speziellen stehen für die mannigfaltigen Möglichkeiten, die eine totale Institution wie ein Gefängnis trotz aller Schwierigkeiten bieten kann. Eine der wichtigsten Voraussetzungen sind aber motivierte und frustrationsstarke Mitarbeitende auf beiden Seiten dieser Kooperation, die sich im regen Austausch neuen Entwicklungen anpassen können und wollen; diese Entwicklungen aber auch kritisch beleuchten und reflektieren. Eine immerwährende Zustimmung durch die verschiedenen Anstaltsleitungen hat ebenso zur Erhaltung der Sozialpädagogischen Bausteine beigetragen wie die Mitarbeit der Fakultät 13 der Universität Dortmund. Auch wenn sich die inhaltlichen Schwerpunkte innerhalb der Fakultät verändern und strukturelle Gegebenheiten eine Begleitung des notwendigen Seminars nicht in jedem Semester oder Jahr zulassen, so bleibt die Kooperation der beiden Institutionen Jugendvollzug und Universität weiter bestehen. Da pädagogische Handlungsfelder im Setting Jugendvollzug wenig erforscht und auch die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung überschaubar ist, ist es besonders bereichernd, regelmäßig interessierte Studierende und Lehrende zu finden, die sich dieser Thematik annehmen und sie in das Bewusstsein der Rehabilitationspädagogik implementieren. Bis heute werden die Sozialpädagogischen Bausteine in der JVA Iserlohn durchgeführt und unterstützen weiterhin den regen Austausch der Welten drinnen und draußen. Auch die Lernwerkstatt hat weiterhin Bestand und dient als Begegnungsstätte zwischen Bediensteten, Inhaftierten und Externen. Heute werden die Räume wie folgt genutzt: Café, Esszimmer und Küche, Bücherei, Seminarraum, PodKnast-Raum5 und Musikraum. Dieses Ergebnis der langjährigen Zusammenarbeit ist in den positiven Erfahrungen begründet, die beide Seiten erleben. Die Studierenden präsentieren sich stets hoch motiviert und sensibel für den Umgang mit jugendlichen Straftäter*innen und sind durch die universitären Lehrveranstaltungen theoretisch gut vorbereitet. Sie stehen in engem Kontakt mit ihren Anleiter*innen innerhalb der Anstalt und reflektieren ihre Projektarbeit kritisch.
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http://www.podknast.de.
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Bisweilen gestaltet sich trotz aller positiven Erfahrungen und wissenschaftlichen Forschungen zum Freizeitverhalten der Transfer der Forschung aus der Freizeitwelt/dem Freizeitverhalten junger Menschen draußen in die Alltagswelt der totalen Institution Gefängnis schwierig, da vor allem neue Medien (Nutzung von Internet und Mobiltelefonen) aus Sicherheitsgründen kaum genutzt bzw. besprochen werden können und damit ein wichtiger und zeitgemäßer Teil der Freizeitgestaltung wegfällt. Die Inhaftierten und Bediensteten profitieren von den Erfahrungen der Studierenden ebenso wie umgekehrt. Der Austausch trägt vor allem bei den JVAMitarbeiter*innen, aber in Anfängen sicher auch bei den Studierenden dazu bei, sich berufsethisch zu positionieren. Der Begriff der Sozialpädagogischen Bausteine hat sich in der Arbeit in der JVA Iserlohn etabliert und ist Teil des Wortschatzes der Bediensteten. Er bedarf keiner Erklärungen und Rechtfertigungen und erleichtert die Organisation und das gegenseitige Verständnis in der Institution. Die Ideen zur Akademischen Lehranstalt sind nicht in vollem Umfang umzusetzen, da sich vor allem die schulischen Intervalle in der Ausbildung der Anwärer*innen an der JVS nicht mit den Semesterzeiten der Studierenden überein bringen lassen. Eine Motivation, die akademische, vollzugliche und Seite der Ausbildung zu vereinen, besteht aber weiterhin. In einzelnen Projekten finden immer wieder Kooperationen statt. Literaturverzeichnis Gesetz zur Regelung des Jugendstrafvollzuges in Nordrhein-Westfalen (Jugendstrafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen – JStVollzG NRW) vom 07.04.2017. Opaschowski, H-W. (1976). Pädagogik der Freizeit. Grundlegung für Wissenschaft und Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Walkenhorst, P. (1998). Überlegungen zum pädagogischen Handeln im Jugendstrafvollzug- DVJJ-Journal. 9(2), 130-139. Walkenhorst, P. (2000). Animative Freizeitgestaltung im Strafvollzug als pädagogische Herausforderung. DVJJ-Journal, 11(3), 265-277. Walkenhorst, P. (2002). „Gute Schulen“ im Jugendstrafvollzug – Jugendstrafvollzug als „gute Schule“ – Überlegungen zu Voraussetzungen und Möglichkeiten.In M. Bereswill & Th. Höynck (Hrsg.), Jugendstrafvollzug in Deutschland – Grundlagen, Konzepte, Handlungsfelder: Beiträge aus der Forschung und Praxis (S. 319-355). Bonn: Forum Verlag Godesberg.
E Aktuelle Diskurse
Teilhabechancen und -barrieren von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Beeinträchtigungen in der Kinder- und Jugendhilfe Birgit Herz & Jan Hoyer
1
Einleitung
In der Bundesrepublik Deutschland ist eine deutliche Zunahme an Kindern und Jugendlichen mit spezifischen Beeinträchtigungen in der emotionalen und sozialen Entwicklung zu verzeichnen, die zukünftig auch weiterhin ansteigen wird. Ihre Sozialisation in signifikanten und hochkomplexen Risikokonstellationen schränkt ihre Bildungschancen und legitimen Teilhabeoptionen deutlich ein. Nach den Erkenntnissen der Trauma-, Bindungs-, Risiko- und Resilienzforschung weisen vor allem junge Menschen, deren Erziehung und Entwicklung in psychosozialen Problemlagen und dysfunktionalen Erziehungsmilieus – nicht nur ökonomisch prekär – stattfindet, ein hohes Risiko auf, mit und in ihrem emotionalen Erleben und sozialen Handeln zumindest zeitweise ausgegrenzt zu werden, auf Unverständnis und Ablehnung zu stoßen, in ihren Lernmöglichkeiten eingegrenzt und ggf. auch sanktioniert oder sogar strafrechtlich verfolgt zu werden. (Walkenhorst, 2019, S. 107)
Spezifische Exklusionsrisiken, beispielsweise Armut, physische und psychische Gewalterfahrungen bedingt durch „konfliktbeladene Familienzusammenhänge wie Überforderung, strukturell unvollständige Familien …, Alkohol und Drogen sowie Hafterfahrungen anderer Familienmitglieder“ (Meier, 2015, S. 19) verschärfen individuelle Benachteiligungsbiografien ebenso wie das Aufwachsen in ohnehin bereits desorganisierten und sozial randständigen Sozialräumen. Die sozialstaatlichen Steuerungsinstrumente in den verschiedenen Institutionen der öffentlichen und privaten Bildung und Erziehung weisen einen hohen Grad an zielgruppenspezifischen Strategien zur Differenzierung und Individualisierung ihrer Angebote auf; sie werden allerdings zugleich auch begrenzt durch Effizienz- und Effektivitätsforderungen sowie den hierdurch ausgelösten Standardisierungen und Konformismen. In diesem Beitrag soll das Konfliktpotential in einem dieser Segmente, nämlich der Kinder- und Jugendhilfe, mit Blick auf jene vulnerablen Adressat*innen spezifiziert werden, die in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung gefährdet bzw. beeinträchtigt sind. Diese Perspektive zwingt dazu, den Anteil der © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_17
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Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) und der von ihnen beauftragten und finanzierten Trägereinrichtungen im System der Verfestigung von normabweichendem Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu fokussieren. 2
Die Zielgruppe: Kinder und Jugendliche mit schwerwiegenden Verhaltensstörungen
Die Anzahl der Schüler*innen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung hat sich – trotz eines demografisch bedingten Rückgangs der Schüler*innen insgesamt im Zeitraum von 1999 bis 2015 – mehr als verdreifacht, wobei länderübergreifend in keinem anderen Förderschwerpunkt vergleichbare Zuwächse dokumentiert sind. Dabei erfolgt die inklusive Beschulung bei 51,4 Prozent der Heranwachsenden, wohingegen 48,6 Prozent eine Förderschule besuchen (vgl. Liesebach, 2019, S. 23). Die bundesweite Zunahme der Fallzahlen im ASD dokumentiert den erhöhten Erziehungshilfebedarf von primären Bezugspersonen (vgl. Beckmann, Ehlting, & Klaes, 2018). Auch in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie gab es von 1997 bis 2013 bei den stationären Maßnahmen einen Anstieg von 27 Prozent und um 43 Prozent bei den ambulanten Angeboten (vgl. Fegert, Kölch & Krüger, 2018). Auch hier ist eine deutliche Zuwachsrate bei der Inanspruchnahme psychiatrischer Hilfen zu verzeichnen. In der Gegenüberstellung der Prävalenzrate von etwa 20 Prozent psychisch auffälliger Heranwachsender (vgl. Klipker et al., 2018) mit den außerschulischen Unterstützungsangeboten der Kinder- und Jugendhilfe zeigt sich, dass lediglich 4,2 Prozent im Grundschulalter Hilfen zur Erziehung (HzE) nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz erhalten. Die Mehrzahl der Grundschüler*innen mit psychischen Störungen erhält keinerlei Unterstützung durch das bestehende Versorgungssystem, obwohl eine signifikante Korrelation zwischen psychischen Auffälligkeiten im Grundschulalter mit schulischen Schwierigkeiten in der Sekundarstufe I besteht (vgl. Hövel, Hennemann & Rietz, 2019, S. 40). Bei diesen HzE-Maßnahmen im Primarbereich handelt es sich zu 60 Prozent um Eingliederungshilfen aufgrund einer seelischen Behinderung gemäß §35a SBG VIII (vgl. Pothmann & Tabel, 2016, S. 123). Hier zeichnet sich eine fast schon explosionsartige Inanspruchnahme ab, was den Kostendruck der Kommunen erhöht (vgl. Herz, Meyer & Liesebach, 2018). Trotz der bestehenden pädagogischen, therapeutischen und medizinischen Hilfe- und Unterstützungsangebote ist für die letzten Jahren festzuhalten, dass auch eine wachsende Zahl von Heranwachsenden von diesen Institutionen nicht mehr erreicht werden und auch dort ausgegrenzt werden. Spätestens seit der Veröffentlichung von Menno Baumann aus dem Jahr 2012 wird diese Gruppe in der
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Fachsprache zunehmend als „Systemsprenger“ bezeichnet (vgl. Baumann, 2012; Baumann, Bolz & Albers, 2017). Allerdings ist hier mit Klaus Wolf kritisch anzumerken, dass der Begriff „Systemsprenger“ analog zu den Zuschreibungsetiketten „verhaltensgestört“, „erziehungsresistent“, „austherapiert“ u.ä. eine eindeutig negative und abwertende Stigmatisierung bedeutet. Systemsprenger ist ein Attributionsmuster, in dem ein interpersonales Merkmal konstruiert wird: Ein Mensch hat die Eigenschaften eines Systemsprengers. Das Weglaufen von Kindern aus Einrichtungen, ihre Verlegung und Abschiebung ist dann nicht das Ergebnis eines Interaktionsprozesses von Organisation und Adressaten, sondern die Folge eines stabilen, in der Person liegenden Merkmales. (Wolf, 2015, S. 212)
Diese Attributionsmuster verleiten dazu, die konkreten Lebenslagen und -nöte von Kindern und Jugendlichen aus dem Blick zu verlieren. Als zentrale Risikofaktoren für psychische Beeinträchtigungen und die Entwicklung von Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter gelten der sozioökonomische Status der primären Bezugspersonen, psychisch kranke oder alleinerziehende Eltern und deren niedriger Bildungsabschluss (vgl. Klipker et al., 2018). Da mittlerweile jedes fünfte Kind unter Armutsbedingungen aufwächst (vgl. Der Paritätische Gesamtverband, 2018), d. h. unter kumulativen Effekten in Bezug auf soziale, emotionale und kognitive Deprivation, sind die Bildungschancen und legale Teilhabemöglichkeiten dieser Heranwachsenden massiv beeinträchtigt (vgl. Herz, 2010; Müller, 2010; Bertelsmann Stiftung, 2016). Die existentiellen ökonomischen Belastungen von Familien zeigen sich überdeutlich bei der Beanspruchung der Hilfen zur Erziehung (vgl. Deutsches Jugendinstitut, 2009). Exemplarisch sei hier auf eine Studie von als „soziale Problemviertel“ in Hannover charakterisierten Stadtteilen verwiesen, wo im Vergleich zum städtischen Durchschnitt ein fast doppelt so hoher Bezug von staatlichen Transferleistungen sowie eine fast ebenso doppelt hohe Beanspruchung von Hilfen zur Erziehung besteht (vgl. Schubert & Veit, 2010). Soziale Benachteiligungen und schwierige Lebensverhältnisse (familiäre Gewalt, Suchtmittelabhängigkeit, Hafterfahrungen) sowie das Aufwachsen in belasteten Wohnvierteln mit vergleichbar benachteiligten Peers sind bedeutsame Einflussfaktoren für kriminelle Karrieren von Heranwachsenden (vgl. Meier, 2015; Hußmann, 2016). Sozialräumliche Kontexteffekte von Armut, wie defizitäre Infrastruktur, fehlende positive Rollenmodelle, kriminelle Dynamiken und kollektive Prekariatserfahrungen (vgl. Friedrichs, 2013), bestimmen den Grad der sozialen Desorganisation eines Stadtteils und damit die Gewaltbereitschaft ihrer jugendlichen Bewohner*innen (vgl. Rabold & Baier, 2013; kritisch: Oberwittler, 2013). So belegt die bereits zitierte Studie in der Altersgruppe der 14-21-Jährigen eine fast doppelt so
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hohe Kriminalitätsbelastung im Vergleich zur gesamtstädtischen Peergruppe. Derartige multiple und komplexe Risikokonstellationen in der primären Sozialisation von Kindern und Jugendlichen verstärken eine bereits bestehende physische und psychische Vulnerabilität (vgl. Brown, Ecclestone & Emmel, 2017). Sie triggern Schwierigkeiten und hieraus resultierende Krisen in Bezug auf Bildungsteilhabe und Bildungserfolg (vgl. Großkurt et al., 2015); sie verursachen aber auch deutlich höhere Kosten in den Kommunen. Psychisch belastete Heranwachsende sind zudem massiv eingeschränkt in ihren individuellen Teilhabechancen an beruflicher Bildung sowie am nachfolgenden Erwerbsleben (vgl. Kranert & Stein, 2019). Im Kontext eines zwar hochdifferenzierten, aber zugleich oftmals zu hochschwellig organisierten beruflichen Übergangsmanagements, bieten die Unterstützungsagenturen im Übergang von der Schule in selbständige Erwerbsarbeit bzw. berufliche Ausbildung nur wenig an Hilfen für die Stabilisierung fragiler Bildungs- und Lebenslaufbiografien. Die marktförmig organisierte Vergabe bspw. bei der überbetrieblichen Ausbildung bedingt einen hohen Konkurrenzdruck sowie Preisdumping zwischen den Trägern – mit nachteiligen Effekten in Bezug auf die Qualität der Angebote (vgl. Herz, 2018). So stellt Wolfgang Schröer 2017 fest: „Längst hat dieser diffuse Übergangsbereich keine transparente oder konsistente Struktur mehr, die sich jugendhilfepolitisch fassen ließe und die von jungen Menschen begriffen werden kann“ (Schröer, 2017, S. 39). Scheitern in diesem wichtigen Regelsystem zur Sicherung legaler sozialer Teilhabe in der Gesellschaft wird allerdings nach wie vor individualisiert und latent oder manifest sanktioniert (vgl. Heuer & Wohlfahrt, 2016). 3
Problembereich Adressierungspraxis
Die hier im Mittelpunkt stehende Risikopopulation – vulnerable Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Entwicklungsbeeinträchtigungen in ihrer physischen und psychischen Gesundheit – sind zumeist Adressat*innen unterschiedlicher staatlicher Unterstützungssysteme (vgl. Sehmer et al., 2011; Herz, 2018), ohne dass hier eine fachlich gebotene system- und ressortübergreifende Kooperation und Vernetzung stattfände – obschon sie von allen Beteiligten gefordert wird (vgl. Meiner & Fischer, 2013; Schubert, 2013; Herz, 2017). Kritik und Veränderungsimpulse kommen hier insbesondere aus dem Feld des Kinderschutzes, weil dort inzwischen die Kooperationsdefizite kommunalpolitisch diskutiert (vgl. Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg, 2012; Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutzzentren, 2017; Deutsches Institut für Urbanistik, 2017) und in der Sozialen Arbeit (vgl. Döring, 2011; Merten & Kaegi, 2015; Thieme & Silkenbeumer, 2017) zunehmend systematisch erforscht werden. Im Fokus steht hier einerseits vor allem die interprofessionelle
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Zusammenarbeit im Kontext einer hoch differenzierten Trägerlandschaft in der öffentlichen und privaten Kinder- und Jugendhilfe bei der Entwicklung eines inklusiven Schulsystems (vgl. Maykus, 2015; Bütow & Maurer, 2017; Kunze, 2018); und andererseits werden die Konsequenzen einer monetär bestimmten außerschulischen pädagogischen Praxis im Hinblick auf das Professionsprofil analysiert (vgl. Kommission Sozialpädagogik, 2018). Insbesondere Status- und Informationsasymmetrien, unterschiedliche Wissensbestände und Fachsprachen, „Praktiken der Hierarchisierung“, „unklare professionelle Verantwortungsverhältnisse“ (Sehmer, Marks & Thole, 2011, S. 50), „Zuständigkeitsunsicherheiten“ (Kunze, Bartmann & Silkenbeumer, 2018) und „mangelnde Transparenz“ (vgl. Schwab, 2012) werden als Hürden und Hemmnisse einer interprofessionellen Kooperation benannt. Die forschungsbezogene Aufmerksamkeit richtet sich insbesondere auf interund intrainstitutionelle Interaktions- und Kommunikationskulturen und -milieus, wohingegen die Adressat*innen in außerschulischen Bildungs- und Erziehungsbezügen allen politischen Partizipations- und Teilhabeparolen zum Trotz eher weniger forschungsbezogene und praxisrelevante Aufmerksamkeit erhalten.1 Dies trifft maßgeblich auf Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen zu, wo die Verwirklichung pädagogischer Leitbegriffe wie soziale Teilhabe, Partizipation und Kooperation eine besondere Herausforderung darstellen, die nach wie vor vernachlässigt werden (vgl. Opp & Otto, 2016, S. 72). Diese Leerstelle verwundert umso mehr, insofern Kinder und Jugendliche mit delinquenten Verhaltensweisen – und hier insbesondere die sog. „Intensivtäter“ in der Mehrzahl der Fälle von mehreren Erziehungshilfesystemen betreut werden, oftmals zudem parallel (vgl. Walkenhorst & Bihs, 2011, S. 255). Allerdings werden die multiplen Problemlagen von delinquenten Jugendlichen nur selten im Kontext interprofessioneller Kooperation unterschiedlicher Hilfesysteme adressiert, sondern stattdessen immer nur punktuell und temporär (vgl. Meier, 2015, S. 85). Bereits 2006 konnte Sabine Ader belegen, dass sich in den Hilfesystemen oftmals die für die Kinder bekannten Konflikt- und Krisenmuster, von den Fachkräften und ihren Institutionen nicht oder nicht früh genug verstanden werden, so dass diese die Probleme verschärfen, statt sie zu reduzieren (vgl. Ader, 2006). Notwendige Verstehensleistungen als Dialogbrücke mit Kindern und Jugendlichen mit schwerwiegenden Verhaltensstörungen bleiben offensichtlich relativ 1 Zu einer Adressat*innenperspektive von Kindern und Jugendlichen liegen vor allem Untersuchungsergebnisse im Kontext der Demokratiebildung in schulischen und außerschulischen Einrichtungen vor (vgl. ex. Betz et al., 2010); die Studie von Moser belegt, dass Partizipation und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in ihren zentralen Lebensräumen aus Sicht dieser Zielgruppe nicht zufrieden stellend realisiert wird (vgl. Moser, 2010).
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konstant und zeitüberdauernd eine Leerstelle in der pädagogischen Praxis des ASD und der freien Träger. Derartige Adressierungspraxen emotionaler Immunisierung gegenüber der existentiellen Sehnsucht dieser vulnerablen Klientel nach Liebe, Zuneigung, Fürsorge, Anerkennung u.v.m. bestärken deren emotionale Heimatlosigkeit. Es scheint vordergründig so, als ob das existentielle Lebensthema dieser Heranwachsenden von den pädagogischen Fachkräften unbewusst verdrängt wird: „Das Ideal liebender Eltern, ein Zuhause als vertrauensvoller und schützender Ort, tragen die meisten in sich, auch wenn es tatsächlich die wenigsten erfahren haben (Höfer et al., 2017, S. 211 ff.)“ (Mraß & Weinhandl, 2019, S. 174). Zwar ist die Bedeutung psychisch kranker Eltern als ein weiterer zentraler Faktor bei der Entstehung von emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen national und international hinreichend belegt (vgl. Murray, Cooper & Fearon, 2014; Stein et al., 2014; Lenz-Wiegand-Grefe, 2017), und auch die enorme Relevanz einer zielgruppenspezifischen Koordination der individuellen Hilfen für diese dysfunktionalen Familiensysteme ist gut untersucht (vgl. Schmeyer-Schmutz, 2018). Bedingt durch die latente Parentifizierung in der Adressat*innenpraxis bei den Hilfen zur Erziehung wird jedoch nur allzu oft gerade bei psychisch belasteten primären Bezugspersonen die Perspektive auf die betroffenen Kinder eher vernachlässigt, was das Fallbeispiel von Wutzler über die Psychodynamiken bei Kinderschutzverläufen eindrücklich belegt (vgl. Wutzler, 2017). Eine auf „Augenhöhe“ agierende Kinder- und Jugendhilfe bleibt „aufgrund des beziehungsimmanent angelegten Machtgefälles zwischen Jugendamt und Hilfeberechtigten eher ein idealtypisches Konstrukt, das selbst unter Einsatz bester Fachlichkeit oftmals im einzelnen Hilfekontext nicht herstellbar ist“ (Schönecker, 2018, S. 14). Als weiterer Problembereich in der Adressierungspraxis der Kinder- und Jugendhilfe entsteht aus dem hohen Beschämungspotential im Kontext staatlicher Transferleistungen und der Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung im Rahmen einer belastenden Familienkonstellation (vgl. Retkowski, Schäuble & Thole, 2011; Lorenz et al., 2018; Brückner, 2018). Dabei wird das Prinzip der Freiwilligkeit in der Sozialen Arbeit oft als Rechtfertigung für gescheiterte Hilfeplanverläufe missbraucht (vgl. Meier, 2015, S. 78). 4
Konflikt- und Ressourcenfelder
Im Kontext einer professionsbezogenen Kritik der Adressierungspraxis in den Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe müssen allerdings die ressourcenbezogenen Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit benannt werden. Eine ausgesprochen heterogene Kommunalpolitik führt dazu, dass in den 563 aktuell vorhandenen
Teilhabechancen und -barrieren von Kindern & Jugendlichen
279
Jugendämtern eine unterschiedliche personelle und finanzielle Ausstattung herrscht (vgl. Beckmann, Ehlting, & Klaes, 2018, S. 10). Aufgrund einer restriktiven Finanzierungsstruktur im System der sozialen Dienste besteht ein organisierter Wettbewerb zwischen den gewerblichen Trägern und eine Kostendeckelung bei den Kommunen – und hier insbesondere in strukturschwachen Regionen. Einspareffekte bei den vom Gesetzgeber vorgesehenen Leistungen durch die kommunalen Ämter ergeben sich bspw., indem Hilfen zur Erziehung vorzeitig beendet, Zeitkontingente bei den Familien reduziert und statt der teuren stationären Hilfen kostengünstigere ambulante installiert werden (vgl. Beckmann, 2016, S. 178)“ (Beckmann, Ehlting & Klaes, 2018, S. 27). Holger Ziegler betont in diesem Zusammenhang, dass, statistisch betrachtet, schlechte Arbeitsbedingungen in fachlich defizitären Einrichtungen mit pejorativen Adressat*innenbildern, Wohlfahrtsskepsis und Strafbereitschaft einhergehen (vgl. Ziegler, 2017, S. 11). Diese Strafbereitschaft zeigt sich als ausgeprägte Tendenz zu Repressionen am deutlichsten bei den sog. Bagatelldelikten von Kindern und Jugendlichen (vgl. Heuer, 2016). Trotz insgesamt rückgängiger Zahlen bei der Jugendkriminalität konnten Bernhard Villmow und Lara Sarinski bspw. für Hamburg belegen, „dass das Interesse an dem Thema „zurückgehende Jugendkriminalität“ eher gering ist …“ (Villmow & Sarinski, 2015, S. 173). Gegenwärtig kommt erschwerend hinzu, dass sich pädagogische Haltungen schlechthin verändert haben (vgl. Herz, 2020). Michael Winkler beschreibt diese Wende mit den Worten: „Härte macht den Kern der neuen Pädagogik aus, die sich selbst als autoritativ bezeichnet, in Wirklichkeit aber schlicht autoritär ausfällt“ (Winkler, 2016, S. 84). Diese Härte kommt einerseits in vielfältigen Maskierungen daher und andererseits eindeutig markiert und prononciert (vgl. Störmer, 2016). Helga Schäfer-Cremer hat diese Entwicklung jüngst pointiert in den folgenden Worten zusammengefasst: „Die Verweigerung von Anerkennung bzw. die Legitimierung gradueller Ausschließung reicht (mehr oder weniger unverändert) so von Defizitkategorien (unterentwickeltes Humankapital, Qualifikations- und Bildungsdefizit, Krankheit, Benachteiligung oder gar Unterprivilegierung) über Kategorien der Devianz (Psychische Krankheit, Hilfebedürftigkeit, Auffälligkeit, Problemgruppen, Risikogruppen und immer noch: Verwahrlosung oder dissozial) zu Kategorien der Asozialität (Unwürdigkeit, Minderwertigkeit, Wahnsinn, Degeneration, Bildungsunfähigkeit, Unerziehbarkeit, Verbrechen, Sozialschädlichkeit)“ (Cremer-Schäfer in Cremer-Schäfer & Lutz, 2019, S. 39). In diesen pejorativen Adressat*innenzuschreibungen zeigt sich das Kerndilemma einer Kinderund Jugendhilfe, die die Lebenserschwernisse ihrer Klientel – möglichst zuverlässig emotional immunisiert und trotz Einspardruck fachlich versiert – in das Format von Akten übersetzen, bzw. im Zeitalter der Digitalisierung mit dem damit
280
Birgit Herz & Jan Hoyer
einhergehenden Beschleunigungszwang einer bürokratischen Formalisierung (und Formatierung) zuführen müssen. Internationale Forschungsbefunde zeigen allerdings, dass die Implementierung und Stärkung lokaler institutionsübergreifender Netzwerke die Entwicklungschancen von Kindern, Jugendlichen und Eltern deutlich verbessern (vgl. Casale, Zlotowitz & Moloney, 2015). Dabei werden nachhaltige Effekte netzwerkbasierter lokaler Unterstützungsangebote insbesondere dort verortet, wo die Adressat*innenorientierung von Kindern, Jugendlichen und primären Bezugspersonen gewährleistet ist (vgl. Worton et al., 2014). Insbesondere familienunterstützende Angebote, die nicht primär den Schulerfolg der Kinder priorisieren, sondern auf eine Verbesserung der Lebensqualität innerhalb und außerhalb des Systems Familie zielen, zeichnen sich durch Partizipation und Beteiligung der Eltern aus (vgl. Friedmann et al., 2007). Das finnische Versorgungssystem mit seiner multiprofessionellen Begleitung und Unterstützung aller Kinder im lokalen Sozialraum von Geburt an (vgl. Linderoos, 2010) kann hier beispielhaft für eine individuums- und sozialraumbezogene Unterstützung ohne jegliche Stigmatisierungs- und/oder Exklusionseffekte angeführt werden. Dementsprechend besteht nur eine außerordentlich geringe Anzahl an segregierenden Einrichtungen für Heranwachsende mit Verhaltensstörungen (vgl. Herz & Kuorelahti, 2005; Herz & Kuorelahti, 2007; Grym & Borgermans, 2018).2 Ein gemeindeorientierter Ansatz, der beispielsweise derzeit in der BRD implementiert wird, ist das US-amerikanische CTC-Modell. Das „Communities That Care“-Modell zielt insbesondere auf Gewaltprävention bei Kindern und Jugendlichen (vgl. Groeger-Roth, 2012) und implementiert eine isolierte Konzentration auf wenige Handlungsfelder im kommunalen Sozialraum – unter den konkreten Bedingungen der bestehenden Finanzrestriktionen in den Kommunen. Was sich hier gemeindeorientiert nennt, ließe sich aber auch als eine Optimierungsstrategie interpretieren, bei der sich die adressatenbezogene Beteiligung, zugespitzt formuliert, auf das Ausfüllen von Fragebögen beschränkt. Beteiligungsorientierte, explizit eine Adressat*innenperspektive vulnerabler Kinder und Jugendlichen akzeptierende pädagogische Arbeit findet sich im strengen Sinn nur in der aufsuchenden niedrigschwelligen Straßensozialarbeit (vgl. Herz, 2007; Hußmann, 2013). Die Verwirklichung der anerkannten und rechtlich verankerten Partizipationsrechte scheint demnach noch immer abhängig von der Bereitschaft und dem Engagement der lokalen Akteure zu sein (vgl. Liebel, 2009; Haertel, 2016). Die Ergebnisse der Explorationsstudien von Atherthorn et al. (2009), Cefai und Cooper (2010) oder Hartas und Geoff (2011) sowie der lokalen Einzelfallstudien 2 Der zu zahlende ‚Preis‘ besteht freilich in einer Datenfülle und -transparenz aufseiten der involvierten Institutionen, wie sie hierzulande wohl kaum politisch realisierbar wären.
Teilhabechancen und -barrieren von Kindern & Jugendlichen
281
von Sellmann (2009) oder Michael und Friedrichson (2013) machen allerdings darauf aufmerksam, dass Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen ihren Ausschluss von Entscheidungs- und Mitbestimmungsprozess sehr wohl zu reflektieren in der Lage sind. 5
Ausblick
Für den professionellen Umgang und die Förderung beschriebener Adressat*innen beziehen sich Walkenhorst und Fehrmann auf das Modell der lernenden Organisation. Ausgangspunkt der organisationalen Entwicklung stellt bei ihnen das Befähigungskonzept Hermann Gieseckes dar. Ziel hierbei ist es, „die Menschen zur Mündigkeit, zur selbstständigen Wahrnehmung ihrer Rechte und Pflichten, zur Verselbstständigung in sozialer Verantwortung zu befähigen“ (Walkenhorst & Fehrmann, 2018, S. 276). In diesem Zusammenhang wird die Förderung auch schwer erreichbarer Adressat*innen als „unabdingbar und ethisch geboten“ (Walkenhorst & Fehrmann, 2018, S. 277) von ihnen definiert. Um dies sicherzustellen muss in lernenden Organisationen ein Umdenken stattfinden: „Misserfolge dispensieren dieses Bemühen (um Befähigung) nicht, sondern sind Anlass, die Förderplanung und -ansätze selbstkritisch zu hinterfragen“ (Walkenhorst & Fehrmann, 2018, S. 277). Erst diese Orientierung könnte Organisationen adressatenorientiert flexibilisieren. Misserfolge stellen dann nicht lediglich einen Anlass für die Aktivierung der beschriebenen Ausschlussdynamiken bzw. pejorativen Adressat*innenzuschreibungen dar, sondern auch den Anlass Hilfesysteme weiterzuentwickeln und sich folglich adressatenorientierter auszurichten. Wie erwähnt lässt der Systemsprengerbegriff zwar assoziieren, dass beim Scheitern von Hilfen die destruktive Aktivität vom Kinde ausgehe und die gesprengten (Hilfe-)Systeme beschädigt zurückbleiben. Wie gezeigt wurde, stehen moderne Hilfesysteme aber nicht nur vor der Aufgabe schwierigen Adressat*innen gerecht zu werden, sondern auch vor der Aufgabe sich in den beschriebenen Konfliktfeldern des ökomischen Drucks, der pejorativen Zuschreibungspraxis und der zunehmenden Strafbereitschaft zu behaupten. Hilfesysteme sind aus diesem Grund als ohnehin fragile Systeme zu verstehen, die die Umsetzung der beschriebenen organisationalen Lernprozesse im Sinne Walkenhorsts und Fehrmanns in den oben beschriebenen Konfliktfeldern nicht realisieren können. Erst diese Konfliktfelder machen (Hilfe-)Systeme zu sprengbaren Systemen, in denen Misserfolge nicht vorgesehen sind und nur über fortgesetzte Etikettierung von Kindern und Jugendlichen legitimiert werden können. Die Verwendung des Begriffs „Systemsprenger“ kann somit auch als sprachliches Symbol „institutioneller Abwehr“ (vgl. Datler, Funder & Hover, 2013) von Effizienz- und Effektivitätsforderungen zu Ungunsten der Adressat*innen verstanden werden. Hierdurch wird bei der
282
Birgit Herz & Jan Hoyer
Verwendung dieses Attributionsmusters, die Verantwortung für den fragilen Zustand von Hilfesystemen gleichzeitig hoch belasteten Kindern und Jugendlichen zugesprochen. Die Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen mit psychosozialen Entwicklungsbeeinträchtigungen und schwerwiegenden Verhaltensstörungen können nachhaltig gestärkt werden, wenn 1. 2. 3. 4.
die lokalen Erziehungs-, Bildungs-, Unterstützungs- und Hilfeeinrichtungen mit ihren unterschiedlichen Ressorts, Fachsprachen und -kulturen, Finanzierungslogiken etc. interinstitutionell kooperieren, die Perspektiven der vulnerablen Kinder und Jugendlichen als Adressat*innenbeteiligung und ihre Partizipation anerkannt und als Ressourcen gestärkt werden, positive Rollenvorbilder im lokalen Sozialraum als Brückenfunktion und Allianzpartner eine kooperative Verständigungskultur mit Kindern, Jugendlichen und Eltern unterstützen und die Gesellschaft in Bezug auf die Priorisierung zentraler Gestaltungsperspektiven der Notwendigkeit einer hinreichend gut ausgestatteten Kinder- und Jugendpolitik endlich gerecht wird.
Unter den Bedingungen einer multioptionalen und beschleunigten Lebensgestaltung bilden Selbstökonomisierung, Selbstmanagement und situative Selbstregulation (vgl. Ecarius, 2017, S. 26 ff.) Handlungszwänge, an denen die vulnerable Gruppe der Heranwachsenden mit schwerwiegenden Verhaltensstörungen innerhalb der von der Mehrheitsgesellschaft gesetzten Normen tendenziell scheitern muss (vgl. Herz, 2020). Literaturverzeichnis Ader, S. (2006). Was leitet den Blick? Wahrnehmung, Deutung und Intervention in der Jugendhilfe. München: Juventa. Atherthon, G., Cymbir, E., Roberts, K., Page, L., & Remedios, R. (2009). How Young People formulate their Views about the Future - Research Report DCSF-RR152. University of Westminster, S. 1-82. Baumann, M. (2012). Kinder, die Systeme sprengen. Hohengehren: Schneider. Baumann, M., Bolz, T., & Albers, V. (2017). >>Systemsprenger>Wo gehöre ich hin? 18 Jahre
n = 72 Abb. 2.: Altersstruktur der untersuchten Kinder und Jugendlichen.
5.4 Ressourcenpädagogische Förderung als Konzeptbestandteil Im überwiegenden Teil der Einrichtungen, die sport-/bewegungspädagogische Angebote machen, ist dieser Bereich als ein Bestandteil der Einrichtungskonzeption schriftlich fixiert und bleibt in seiner Durchführung somit nicht mehr allein der Beliebigkeit oder den persönlichen Interessen der pädagogischen Mitarbeitenden vorbehalten. Dieser Anteil fällt statistisch signifikant höher aus als für beide anderen untersuchten Formen ressourcenorientierter Pädagogik (siehe Abb. 4): -
Sport-/Bewegungspädagogik – Musikpädagogik: χ2df=1 = 17,825; p < .001 Sport-/Bewegungspädagogik – Kunstpädagogik: χ2df=1 = 14,601; p < .001
316
Eckhart Knab
100 97 80
Prozent
60
72
71
Musikpädagogik
Kunstpädagogik
40 20 0
n = 75
Sport-/Bewegungspädagogik
Abb. 3: Angebotsstruktur der beteiligten Einrichtungen.
100% 80%
26%
60% 40%
64%
60%
36%
40%
Musikpädagogik (n = 53)
Kunstpädagogik (n = 53)
74%
20% 0% Sport-/ Bewegungspädagogik nein (n = 72) ja
Abb. 4: Anteil Einrichtungen mit ressourcenpädagogischer Förderung als Bestandteil der Einrichtungskonzeption.
317
Ressourcenorientierung in der Heimerziehung – eine Pilotstudie
5.5 Stellenwert der Arten ressourcenpädagogischer Förderung Dementsprechend wird in den Einrichtungen auch der Stellenwert von Sport-/Bewegungspädagogik für das Erziehungs-/Bildungskonzept der Einrichtung signifikant höher bewertet als die beiden anderen Arten von Ressourcenpädagogik (siehe Abb. 5): -
Sport-/Bewegungspädagogik – Musikpädagogik: Tdf=120 = 5,547; p < .001 Sport-/Bewegungspädagogik – Kunstpädagogik: Tdf=118 = 5,757; p < .001
Sport-/Bewegungspädagogik (n = 70) Musikpädagogik (n = 52) Kunstpädagogik (n = 53)
50
Prozent
40
35 36
36
29
30
24
14
12 12 4
24
21
20 10
36
12 4
3
0 sehr gering eher gering
mittel eher hoch Stellenwert
sehr hoch
Abb. 5: Stellenwert ressourcenpädagogischer Förderung für die Einrichtungskonzeption.
5.6 Ziele der ressourcenpädagogischen Angebote Bei den Zielstellungen, unter denen ressourcenpädagogische Angebote gemacht werden, liegt die Priorität eindeutig im Bereich der Entwicklungsförderung (Persönlichkeits-, soziale, emotionale Entwicklung) (siehe Abb. 6). Die Möglichkeiten, ressourcenpädagogische Angebote zur Unterstützung schulischer Lern- bzw. Bildungsprozesse einzusetzen, werden dagegen in den Einrichtungen sehr selten genutzt.
318
Eckhart Knab
Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung Unterstützung der sozialen Entwicklung
41
Verbesserung theoretischen/praktischen Grundwissens
71 45 62
9
21 47 46
Unterstützung der emotionalen Entwicklung Strukturierung des Heim-/Gruppenalltags
43 44
35 32 37
Steigerung bewegungs-/musik/kunstbezogener Fähigkeiten
41 43
Steigerung der körperl./psych. Widerstandsfähigkeit
33
9
Prävention von Erkrankungen/Unfallgefahr
4
23 30
8 29
Entspannung
30
bewegungs-/musik-/kunstunterstütztes Lernen
26 22 26 19 19 22 23 19 17 28 16 17 28 16
Unterstützung der kognitiven Entwicklung Erwerb von Mitgestaltungskompetenzen Verbesserung schulischer Basisvoraussetzungen Reduzierung von individuellen Risiken
44
23
11
Hinführung zum (lebenslangen) Sport/Musik-/Kunsttreiben
4 9 3
Sonstiges:
1
Verbindung von Bewegung mit anderen Bildungsbereichen Sport-/Bewegungspädagogik (n = 73)
77
57 55
13 9 11 11
0
20
Musikpädagogik (n = 54) Kunstpädagogik (n = 53) Abb. 6: Ziele der sport-/bewegungspädagogischen Angebote.
40
60 Prozent
80
100
Ressourcenorientierung in der Heimerziehung – eine Pilotstudie
319
5.7 Inhalte der ressourcenpädagogischen Förderung Ballsportarten stellen als oftmals vergleichsweise einfach spontan zu organisierende Form des Sports die am häufigsten vorkommende Art von Sport- bzw. Bewegungspädagogik dar (94 %). Der erstaunlich hohe Anteil an Einrichtungen, die Angebote im Bereich Schwimmen machen (85 %), spricht für ein hohes sport/bewegungsorientiertes Engagement, da diese Angebote in der Regel mit der Nutzung externer Ressourcen und damit einem deutlich erhöhten zeitlichen Aufwand für die betreuenden Mitarbeitenden verbunden ist. Ähnliches gilt für die erlebnispädagogischen Angebote, die ebenfalls in einem beachtlich hohen Anteil von Einrichtungen durchgeführt werden (78 %). Die Angebotspalette im musikpädagogischen Bereich zeigt eine breite Streuung. Instrumentalmusikalische Aktivitäten werden zwar am häufigsten angeboten (82 %), jedoch liegen auch Rhythmik/Percussion (78 %) und Vokalmusik/Gesang (73 %) in einem ähnlich hohen Anteilsbereich. Allgemeingültige Präferenzen zu einer spezifischen Angebotsart sind dementsprechend in der musikpädagogischen Arbeit stationärer Erziehungshilfeeinrichtungen nicht erkennbar. Erwünschte mittelbare wie unmittelbare Effekte durch musikpädagogische Angebote scheinen sich demzufolge nicht auf spezifische Angebotsarten zu konzentrieren, sondern die Ergebnisse deuten vielmehr auf eine eher generelle Wirksamkeitserwartung in Bezug auf Musizieren bzw. musikpädagogische Aktivitäten. Bei den kunstpädagogischen Angeboten dominieren eindeutig Aktivitäten aus dem Bereich der Malerei bzw. grafischen Aufbereitung spezifischer Themen (90 %). Knapp zwei Drittel der Einrichtungen nutzen schauspielerische Angebote (65 %) bzw. Foto- oder Videografie (63 %). 5.8 Anbietende der Förderungen Die ressourcenpädagogischen Angebote werden hauptsächlich von den Mitarbeitenden der Wohngruppen oder des gruppenübergreifenden Dienstes geleitet (siehe Abb. 7). Im sport-/bewegungspädagogischen Bereich nutzen jedoch über die Hälfte der Einrichtungen auch Angebote externer Anbieter. Die musik- oder kunstpädagogische Förderung wird dagegen lediglich in rund einem Drittel der Einrichtungen zumindest zum Teil extern organisiert.
320
Eckhart Knab
Mitarbeiter/-innen der Gruppe
72 76
Mitarbeiter/-innen im übergreifenden Bereich
63
43 45
externe Anbieter
60
37 34 38 33 34
Schule 8
Sonstige
8
0
93
13
20
Sport-/Bewegungspädagogik (n = 73) Musikpädagogik (n = 54) Kunstpädagogik (n = 53)
40
60
80
100
Prozent
Abb. 7.: Anbieter ressourcenpädagogischer Förderung.
5.9 Qualifikationen In den Einrichtungen, die sport-/bewegungsbezogene Angebote machen, besitzen im Schnitt 16 % der Mitarbeitenden eine entsprechende (Zusatz-)Qualifikation. Dies ist im musik- und kunstpädagogischen Bereich nur in jeweils rund 6 % der Einrichtungen der Fall. In 13 % der Einrichtungen werden sport-/bewegungsbezogene Angebote gemacht, ohne dass Mitarbeitende eine entsprechende fachliche (Zusatz-)Qualifikation besitzen. Dies ist dagegen in rund einem Viertel aller Einrichtungen der Fall, die musik- oder kunstpädagogische Förderangebote machen. Eine (Zusatz-)Ausbildung als Erlebnispädagog*in ist mit 73 % die am häufigsten vorliegende Qualifikation im Bereich der sport-/bewegungspädagogischen Förderung. In der Hälfte der Einrichtungen werden sport-/bewegungsbezogene Angebote durch Personen geleitet, die keinen formalen Abschluss in diesem Bereich besitzen, aber eine sehr hohe persönliche Fachkompetenz aufweisen. Dieser Anteil ist im musikpädagogischen Bereich mit fast 70 % noch einmal deutlich höher und dabei mit weitem Abstand die häufigste Qualifizierung zur Durchführung dieser Art der Förderung. Eine formale Qualifikation spielt demzufolge hier nur eine untergeordnete Rolle. In der Kunstpädagogik liegt der Anteil zwar etwas darunter (45 %), ist allerdings wie im musikpädagogischen Bereich auch die am häufigsten zur Durchführung der entsprechenden Förderung angeführte „Qualifikation“.
Ressourcenorientierung in der Heimerziehung – eine Pilotstudie
321
5.10 Dokumentation und Wirkungsforschung Eine standardisierte Dokumentation der ressourcenpädagogischen Angebote erfolgt bereichsübergreifend lediglich sehr selten. Im sport- bzw. bewegungs- sowie im kunstpädagogischen Bereich liegt der Anteil bei rund einem Drittel aller Einrichtungen (30 % bzw. 36 %). In der Musikpädagogik wird sogar lediglich in rund einem Sechstel der durchführenden Einrichtungen (17 %) die Durchführung der eigenen Angebote standardisiert dokumentiert. Dennoch scheint in den befragten Einrichtungen ein hohes Interesse an der Durchführung von Wirkungsforschung zur ressourcenorientierten Pädagogik vorhanden zu sein: Mehr als 80 % der Einrichtungen, die sport- bzw. bewegungspädagogische Angebote machen, geben an, dass sie Interesse an Wirkungsforschung in diesem Bereich haben. Ähnlich hohe Anteile von Einrichtungen mit wissenschaftlichem Interesse an den Effekten der eigenen Arbeit gibt es auch bei den Anbietern im musik- bzw. kunstpädagogischen Bereich (76 % bzw. 69 %). Diese erfreulich hohen Zahlen können als Auftrag verstanden werden, den Fokus der wissenschaftlichen Evaluationsforschung in der Zukunft verstärkt auf den Bereich der ressourcenorientierten Pädagogik zu richten. 6
Resümee und Ausblick
Die Prozentzahlen, die die Angebotsbereiche als Bestandteil der Einrichtungskonzeption wiedergeben, sind für den Sport-/Bewegungsbereich beachtlich hoch, dagegen im Musik- und Kunstbereich erwartungsgemäß erkennbar niedriger. Auch in den Bewertungen zum Stellenwert der drei Bereiche für das Erziehungs-/Bildungskonzept der Einrichtungen sind die Unterschiede zwischen Sport-/Bewegungspädagogik einerseits und Musik- und Kunstpädagogik erheblich. Diese Werte spiegeln auch sicher die Bedeutung dieser Bereiche für die Hilfeplanung wider. Ballsportarten, Schwimmen und Erlebnispädagogik führen die sport-/bewegungspädagogische Angebotsstruktur eindeutig an. Die musikpädagogischen Angebotsarten sind erwartungsgemäß in der Instrumentalmusik, der Rhythmik/Percussion und Vokalmusik/Gesang am höchsten. Hier wäre in einer möglichen Folgestudie z. B. die Art der Instrumentalmusik (Tasten-, Saiten-, Blasinstrumente) nachzufragen, um eine differenziertere Einsicht in die Angebotsstruktur der Einrichtungen zu erhalten. Die Ranglisten der wichtigsten Ziele von sport-/bewegungs-, musik- und kunstpädagogischen Angebote sind über die drei Bereiche hinweg übereinstimmend (Persönlichkeitsentwicklung, soziale und emotionale Entwicklung). Auch hier erscheint eine differenziertere Untersuchung individueller Zielstellungen
322
Eckhart Knab
sinnvoll, um die genauen Intentionen der Angebote noch deutlicher sichtbar zu machen. Im Hinblick auf mögliche weitere Forschungsvorhaben in diesem Bereich ergibt die Befragung insbesondere zwei Punkte, die es berücksichtigen gilt: 1. Die Teilnehmenden in allen Angebotsbereichen sagen, dass sie nur in geringem Umfang standardisierte Dokumentationen zu ihren Angeboten durchführen, wobei hier allerdings noch zu hinterfragen wäre, in welcher Form diese standardisierte Dokumentation erfolgt bzw. was darunter verstanden wird. Zukünftige Forschungsplanungen müssten dementsprechend u. a. einen Fokus darauf richten, effiziente Instrumentarien zu entwickeln, die von den Praktiker*innen mit möglichst geringem zeitlichen Aufwand genutzt werden können, um die für die Untersuchung relevanten Informationen zu dokumentieren. 2. Das Interesse an Wirkungsforschung ist übergreifend über alle untersuchten Bereiche erstaunlich hoch. Dementsprechend sollten unbedingt vertiefende Untersuchungen zur Wirksamkeit der jeweiligen Angebote angestrebt werden. Es kann z. B. erwartet werden, dass in den sich zukünftig ergebenden fachlichen Diskussionen die Frage zunehmend von Bedeutung wird, welche Art der ressourcenorientierten Förderung für welche Klientel indiziert ist. Wirkungsorientierte Forschung kann dabei ein sinnvolles Hilfsmittel sein, um einen spezifischen Zuschnitt ressourcenorientierter Angebote auf die individuellen Kompetenzen und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen effektiv zu unterstützen. U. a. um der Fragestellung nach einer geeigneten Indikation ressourcenorientierter Förderung nachzugehen, wäre die Durchführung einer umfangreichen quantitativen Untersuchung mit einzelfallbezogener Datenerhebung sinnvoll. Der Förderverein European-Charity-University e. V. (ECU) versteht das in der oben beschriebenen Pilotstudie nachgewiesene hohe Interesse der Praktiker*innen an Wirkungsforschung als verbindlichen Forschungsauftrag und befindet sich aktuell in Kooperation mit dem Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) in den Planungen für die Durchführung einer weiterführenden Feldstudie zum Thema Wirksamkeit ressourcenorientierter Pädagogik. Die inhaltlichen Impulse der basalen Vorgängerstudie sollen dabei aufgegriffen und mithilfe einer umfangreich angelegten Untersuchung tiefer gehend analysiert werden. Mit der geplanten Untersuchung werden die folgenden zentralen Zielstellungen verfolgt: -
Untersuchung der Wirksamkeit von ressourcenorientierter pädagogischer Förderung
Ressourcenorientierung in der Heimerziehung – eine Pilotstudie
-
323
Identifizierung von Indikation und Wirkfaktoren von ressourcenorientierter pädagogischer Förderung
Hieraus ergeben sich die folgenden zu untersuchenden wissenschaftlichen Fragestellungen: -
Welche unmittelbaren Effekte auf die Kompetenz- und Verhaltensentwicklung von Kindern und Jugendlichen innerhalb der Fördereinheiten werden mithilfe der ressourcenorientierten Förderung erzielt? Welche Transfereffekte auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im gruppenpädagogischen Alltag werden mithilfe der ressourcenorientierten Förderung erzielt? Welche Faktoren haben im Rahmen der ressourcenorientierten Förderung positiven oder negativen Einfluss auf die Kompetenz- bzw. Verhaltensentwicklung von Kindern und Jugendlichen? Sind besonders erfolgversprechende Indikationen für die Durchführung spezifischer ressourcenorientierter Fördermaßnahmen identifizierbar?
Die vorgelegte Pilotstudie zeigt die Bedeutung der ressourcenorientierten Pädagogik in der Kinder- und Jugendhilfe eindrucksvoll auf, zugleich wird deutlich, dass die Forschung dieses zentralen Wirkungsbereiches der Kinder- und Jugendhilfe noch sehr am Anfang steht. Weitere Forschungen sind nötig, um die am Ende genannten Fragestellungen weiter zu untersuchen. 7
Schluss
Der Beitrag zeigt die hohe Bedeutung, die die Ressourcenorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe erlangt hat. Die Methodentrias Bewegungsförderung, Kunstpädagogik und Musikalische Förderung ist in den Einrichtungen vielfältig vorhanden. Die Pilotstudie zeigt die Rezeption der ressourcenorientierten Angebote in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und verdeutlicht den weiteren Forschungsbedarf. Konzepte und Methoden der Ressourcenorientierung bieten wichtige Impulse für die Prävention von Jugenddelinquenz, bieten aber zugleich auch wichtige methodische Ansätze im Rahmen der Intervention bei bereits vorhandener Jugenddelinquenz.
324
Eckhart Knab
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Ressourcenorientierung in der Heimerziehung – eine Pilotstudie
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Jugenddelinquenz – Prävention und Entstigmatisierung durch Inklusion!? Reinhard Markowetz
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Problemanzeige
1.1 Schulpflicht für alle = Inklusion für alle!? Über die Kulturhoheit der Länder ist in Deutschland gesetzlich geregelt, dass alle Kinder zur Schule gehen müssen, respektive deren Eltern dafür Sorge zu tragen haben, dass ihre Kinder im Alter von frühestens fünf bis spätestens sieben Jahren mit dem Schulbeginn starten und so lange eine Schule besuchen, bis die allgemeine Schulpflicht von neun bzw. zehn Schulbesuchsjahren erfüllt ist. An diese Vollzeitschulpflicht schließt sich die Berufsschulpflicht an, die mit dem Ablauf des zwölften Schulbesuchsjahres und jenseits möglicher Alternativen zum Erfüllen der Berufsschulpflicht, in der Regel mit dem Abschluss einer Berufsausbildung endet. Kindern und Jugendlichen, denen über medizinisch-psychologische und förderdiagnostische Gutachten ein sogenannter sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich ihrer emotional-sozialen Entwicklung attestiert wurde, werden heute im Bundesdurchschnitt sowohl an Förderschulen als auch an allgemeinen Schulen schulisch gefördert. Von den insgesamt knapp 10,8 Millionen Schüler*innen, die im Jahr 2018 an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen zur Schule gingen (KMK, 2020a, VII), wurden in Deutschland rund 556.300 Schüler*innen mit sonderpädagogischer Förderung sowohl an Förderschulen als auch an allgemeinen Schulen unterrichtet. Davon entfielen 95.765 Schüler*innen auf den Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Mit 17,2 % ist dies nach dem Förderschwerpunkt Lernen mit einem Anteil von 34,6 %, die zweitgrößte Gruppe an Förderschülerinnen und Förderschülern. Von den insgesamt 556.000 Förderschülerinnen und Förderschülern wurden 321.000 an Förderschulen schulisch gefördert und rund 235.300 Schüler*innen mit sonderpädagogischer Förderung und davon 54.300 (23,1 %) Schüler*innen mit einem Förderbedarf im Bereich emotionale und soziale Entwicklung an allgemeinen Schulen unterrichtet (KMK, 2020b, XV). Interessant ist dabei, dass die KMK (2020b, XII) selbst darauf aufmerksam macht, dass die Zahl der Kinder mit Verhaltensstörungen an allgemeinbildenden © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_20
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Schulen deutlich höher liegen dürfte, da Feststellungsverfahren im Primarbereich für den Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung zunehmend ausgesetzt werden, um politisch gewollt Etikettierungen bzw. Stigmatisierungen zu vermeiden, aber auch um für die Prävention und Inklusion nicht noch mehr Personal pauschal zuweisen und für eine angemessene sonderpädagogische Förderarbeit mehr Finanzen zur Verfügung stellen zu müssen. Damit weist die bundesdeutsche Schulstatistik für den Förderschwerpunkt für das Schuljahr 2018 eine Inklusionsquote von 56,73 % aus (vgl. KMK, 2020, XIX) und verweist damit zugleich darauf, dass sich das schulische (Er-)Leben dieser Schüler*innenschaft zwischen Aussonderung und Inklusion abspielt. Bei dieser Pattsituation bleibt offen, welcher Förderort für diese Kinder der richtige ist und mit Blick auf deren Rechte auf Erziehung und Bildung, Förderung und Therapie sowie rehabilitative Hilfen, persönliche Assistenz und auch deren Anspruch auf körperliche Pflege wie psychische Gesundheit deshalb das angemessene Haus des Lehrens und Lernens ist, weil die dort tätigen Pädagoginnen und Pädagogen mit ihren qua Ausbildung unterschiedlichen Expertisen diese Ansprüche qualitativ hochwertig gewähren und zum Wohle des Kindes professionell umsetzen können (z. B. Klöpper & Lehmann, 2017). Aus der Schulstatistik geht nicht hervor, wie viele Schüler*innen mit Verhaltens- und emotionalen Störungen bereits zwischen Regel- und Sonderbeschulung hin- und her gewechselt haben. So gesehen sind die Angaben auch Zahlen zum Staunen, die vor allem nicht wiedergeben, welche Schüler*innen aufgrund welcher Problematik bereits und bisweilen sogar mehrfach ausgesondert wurden. Die Kultusministerkonferenz (2000, S. 10) ging einst davon aus, dass Kinder und Jugendliche, die in ihren Bildungs-, Lern-, und Entwicklungsmöglichkeiten so eingeschränkt sind, dass sie im Unterricht der allgemeinen Schule auch mit Hilfe sonderpädagogischer Fachdienste und anderer Dienste, z. B. durch Schulbegleiter*innen nicht hinreichend gefördert werden können, besser eine Förderschule besuchen sollten. Bis heute fehlen hierzu überzeugende Wirksamkeitsstudien. Im Spiegel der Umsetzung der UN-BRK erweist sich Inklusion als ein Menschenrecht, das unteilbar ist (Muth, 1991). So gesehen fordert die kanadische Pionierin für eine vorbehaltlose Inklusion aller marginalisierten Gruppen Marsha Forest (1942-2000) zu Recht und unmissverständlich: „All Means All“ (Forest & Pearpoint, 1971, S. 18). Sie bringt damit zum Ausdruck, dass es keine Menschen jenseits aller Ungleichheiten, Unterschiede, Hilfe-, Förder- und Unterstützungsbedarfe geben darf, die sich für die Umsetzung von Inklusion besser oder schlechter eignen!
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1.2 Jugenddelinquenz und Inklusion Bei der bisweilen allzu naiv und dogmatisch geführten Diskussion um Inklusion genießen unter den Schüler*innen mit Verhaltens- und emotionalen Störungen, wie sie bereits in der frühen Kindheit beginnen, jene mit sozialisiert-delinquentem Verhalten ein vergleichsweise niedriges Ansehen. Während Kinder und Jugendliche entlang der von Peterson, Quay und Tiffany grundgelegten Klassifikation (vgl. Myschker & Stein, 2014, S. 58) mit sozial-unreifem Verhalten, internalisierendem, ängstlich gehemmten Verhalten und sogar auch noch mit externalisierendem, aggressiv-ausagierenden Verhalten in der Inklusion weitgehend willkommen sind und dort oft Mitleid mit ihnen und Wohlwollen auslösen, erfahren Kinder und Jugendliche mit sozialisiert-delinquentem Verhalten nicht nur ein Mehr an gesellschaftlicher Ächtung, sondern auch in Schule und Unterricht wohl deshalb die größte Ablehnung, weil sie sowohl die Lehrkräfte pädagogisch enorm herausfordern und psychisch stark belasten, als auch das gesamte System sprengen und dessen Rechtsrahmen missachten und zuwiderlaufen. Gerade sie gehören zu den Kindern mit ausgesprochen hohen Exklusionsrisiken, auch weil der Zustand, in den sie geraten sind, als ein selbstverschuldeter Zustand des So-Geworden-Seins gewertet wird, den es von gesellschaftlichen Systemen negativ zu quittieren gilt und der anscheinend zurecht mit Vorurteilen belegt werden darf, die als solche wiederum Stigmatisierungen rechtfertigen und die kulturell geprägten, deutlich ablehnenden sozialen Reaktionen auf die als deviant etikettierten Personen wie Gruppen legalisieren und zugleich die Stigmatisierenden für deren Unfähigkeit, mit dem Fremden und Anderssein souveräner und kompetent umgehen zu können, entlasten (z. B. Zick & Küpper, 2010). In Abgrenzung zur juristischen Definition des Begriffs Jugendkriminalität, bei dem das gezeigte abweichende Verhalten von Jugendlichen als eindeutig kriminell bewertet und deshalb strafverfolgt wird (z. B. Walter & Neubacher, 2011), erweist sich das Verständnis von Jugenddelinquenz dennoch breiter und auch moderater. Delinquente Jugendliche sind heranwachsende junge Menschen, die bis zur Volljährigkeit mit achtzehn Jahren sozialisationsbedingt alterstypische Entwicklungsaufgaben und entwicklungslogische Reifungsprozesse nicht hinreichend oder gar nicht bewältigen, so dass es in dieser Lebensphase zu episodenhaften, vorübergehenden aber stets normabweichenden Verhaltensweisen und krisenhaften Zwischenfällen kommt, die von Erwachsenen nicht toleriert, deshalb negativ bewertet und auch sanktioniert werden, obwohl sie unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit liegen (vgl. Heinz, 2000). Sie weisen auf ein Versagen oder nur unzureichendes Gelingen des erzieherischen Handelns in der Familie hin, aber auch auf ein NichtErkennen und Nicht-Wahrhaben-Wollen bestimmter Verhaltensweisen oder die Fehlinterpretation von Handlungen. So werden Verhaltensweisen als ein völlig normales sich erproben und beweisen Wollen oder als früher als sonst einsetzende
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Formen der Autonomiebestrebungen junger Menschen gewertet. Wenngleich das beobachtbare Fehlverhalten in Kindergärten, vorschulischen Tagesstätten und Grundschulen als gesellschaftlich institutionalisierte Sozialisationsinstanzen prinzipiell für nicht gut befunden und missbilligt wird, bleibt es weitgehend folgenlos. Ein Zeichen dafür, dass die Mehrheit der Pädagog*innen im Umgang mit Verhaltensstörungen weder geübt noch geschult ist und Inklusion gerade durch Kinder mit ‚Verhaltensauffälligkeiten’ zur Belastung wird (Reimann, 2014). Inklusion als „gut gemeinte Idee“ setzt unserem Bildungssystem Grenzen (Felten, 2017; Schicke, 2014), wird eine „unerfüllbare Vision“ (Graumann, 2018) und sogar schon von einem Kultusminister bereits für gescheitert erklärt (Tullner, 2017). Ahnungslosigkeit und Machtlosigkeit im Umgang mit solchen Handlungen führen dazu, dass angemessene frühe Hilfeleistungen ausbleiben und keine oder kaum, schon gar nicht evidenzbasierte Präventionsmaßnahmen ergriffen werden, was die Ausformung maladaptiven Verhaltens erleichtert und die Genese von Verhaltensstörungen und damit delinquenter Karrieren begünstigt, bei der die Jugendlichen immer öfter und mit Blick auf die Palette der Delikte zwischen leichten und schweren Straftaten, auch schwerwiegender mit dem Gesetz in Konflikt geraten können, dann zu Straftäter*innen werden, die verurteilt werden und dann auch die verhängten Jugendstrafen zu verbüßen haben (vgl. Lösel & Bliesener, 2003). Bis auf weiteres scheint es aber so, dass Jugendliche, deren Verhalten durch Delikte wie Erpressung, sexuelle Gewalt, Körperverletzungen, Vandalismus, Einbruch, Raub und Diebstahl bestimmt wird und die durch „Schwarzfahren“, Urheberrechtsverstöße, Umgang mit illegalen Drogen und strafbaren Handel mit Artikeln und unerlaubten Materialien z. B. aus der boomenden Pornolandschaft auffallen, als „Schmuddelkinder“ etikettiert werden, die sich nicht nur selbst, sondern das physische wie psychische Wohl der Mitschüler*innen gefährden und von denen ein hohes und unkalkulierbares Verführungs- und Nachmacherpotential ausgeht. Dabei scheint es so, dass solche Schüler das Klassenklimaan unseren Schulen negativ beeinflussen, Unmut bei den Lehrkräften auslösen und die Eltern der Klasse auf den Plan rufen, die das Wohl ihrer Kinder gefährdet sehen. Auch unter den Mitschüler*innen ändern sich mit oder ohne Einfluss der Erwachsenen die Einstellungen und das Verhalten gegenüber diesen Mitschüler*innen. Die devianten Personen selbst werden als unverbesserlich und in unerwünschter Weise anders etikettiert. Es kommt zu Stigmatisierungen, ja in den Interaktionen mit dem Normalen geradezu zu einer Sozialisation als Stigmatisierte, was nicht ohne Folgen bleibt (Cloerkes, 2007). Immer öfter kommt es zu Unterbrechungen im Schul- und Unterrichtsalltag, Schulleistungskontrollen werden verpasst und die üblichen Leistungen nicht mehr erbracht. Sitzenbleiben, Schulschwänzen und Schulverweigerung sind zwar damit nicht zwangsläufig vorprogrammiert, aber allzu oft natürliche Reaktionen auf anhaltende Probleme in der Schule, die mit belastenden Sequenzen des Sich-
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Unwohl-Fühlens, Frustrationen und zunehmenden Momenten des Sich-Deplatziert-Erlebens einhergehen. Lösen sich solche Schieflagen nicht auf, sondern treten immer öfter und verstärkt auf, folgen oft Schulausschlüsse, Ruhen und Aussetzen der Schulpflicht oder die Weiterführung der Schulpflicht in Förderschulen, Heimsonderschulen mit teil- und/oder vollstationärer Unterbringung, auch Klinikaufenthalte in Kinder- und Jugendpsychiatrien mit Beschulung in Klinikschulen aber auch Aufenthalte in Jugendvollzugsanstalten mit schulischer Förderung in Schulen des Jugendstrafvollzugs, dies oft mit ungewissem Ausgang, dafür schmerzlichen Einschnitten und sehr einschneidenden Veränderungen im Leben dieser schulpflichtigen jungen Menschen (vgl. Schumann, 2010). Die Ausführungen machen deutlich, dass die soziale Reaktion auf Jugendliche mit sozialisiert delinquenten Verhaltensweisen sehr rasch zu tiefgreifenden Teilhabeeinschränkungen in Schule und Unterricht führt, eine Kaskade mehrfacher Aussonderung auszulösen vermag und das Gelingen schulischer Inklusion jenseits des Vorstell- und Leistbaren rückt, sondern eher den Ruf nach einer Grenzen setzenden, autoritären Erziehung verstärkt, neo-behavioristische Konzepte auf den Plan ruft und eine Pädagogik der Abschreckung, Verwarnung und Strafe einfordert, die in Einklang mit gesellschaftlichen Forderungen, wie die der Anhebung der Höchststrafe, der Abschaffung des Jugendstrafrechts oder der Herabsetzen der Strafmündigkeitsgrenze kommt, weil – wie man dann oft lauthals hört – sie es gar nicht anders verdient haben! Oder doch? Gerade deswegen? Und weil Inklusion ein unteilbares Menschenrecht ist? 1.3 Prävention von Jugenddelinquenz und Entstigmatisierung Jugendlicher mit sozialisiert-delinquentem Verhalten durch konsequente Inklusion! Die knappe Auffaltung erster Zusammenhänge zwischen Jugenddelinquenz und Inklusion machen deutlich, dass neben anderen Mikrosystemen wie Familie und Kindergarten es vor allen Dingen unsere Schulen sind, die über nahezu zwölf Jahre hinweg in einer sehr entscheidenden Lebensphase mit der Entstehung, Aufrechterhaltung und dem Um- und Abbau delinquenten Verhaltens zu tun hat, quasi den sozialen Verkehr mit delinquenten Jugendlichen regeln und den gesellschaftlichen Umgang mit Jugenddelinquenz nachhaltig prägen. Schule und Jugenddelinquenz bedingen sich wechselseitig und haben aufeinander Einfluss (vgl. Oberwittler, 2018). Jugendliche mit sozialisiert delinquentem Verhalten sind zunächst einmal nichts anderes als Schüler*innen, die zur Schule gehen. Und Schule als Sozialisationsinstanz und Bildungseinrichtung mit einem Erziehungs- und Beziehungsauftrag ist nichts anderes als ein Haus des Lehrens und Lernens, das in Zeiten von Inklusion als ein normativ gesetzter Auftrag an unser Bildungssystem und eine
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gesellschaftlich bejahte Reformbewegung auch für diese Schüler*innen offen sein muss. Solche Schulen haben egalitär dafür zu sorgen, dass auch schwer erziehbare und widerspenstige Schüler*innen mit sehr herausfordernden Verhaltensweisen im Unterricht nicht nur effektiv und entwicklungslogisch nach anerkannten Kriterien einer modernen Didaktik binnendifferenziert lernen und sich entwickeln können, sondern insbesondere in ihrer Identität gestärkt statt beschädigt werden, soziale Kohäsion statt Isolation erleben, Wertschätzung und Anerkennung statt Stigmatisierung und Ablehnung erfahren. Im Vergleich zu stark homogenisierten Klassen und Gruppen am Förderzentrum emotional-soziale Entwicklung sind in inklusiven Settings deutlich mehr Mitschüler*innen ohne einen sonderpädagogischen Förderbedarf zu finden, die als positive Vorbilder zur Verfügung stehen und im sozialen Verkehr mit- und untereinander eine breiten Palette alternativer Verhaltensweisen und Handlungsmöglichkeiten zeigen. Im Spiegel von Positive Peer Culture (Opp & Teichmann, 2008) als Ansatz zur Förderung von Resilienz im Jugendalter und entgegen der Meinung, dass vom Gleichaltrigen im Jugendalter eher Gefahren ausgehen, bietet Inklusion hier echte Chancen. Auch Schüler*innen, die ohnehin schwer von vor allen Dingen zu oft moralisierenden Erwachsenen zu irgendetwas zu überzeugen sind, orientieren sich in ihrem Verhalten, in ihren Einstellungen und auch bei der täglichen Identitätsarbeit an anderen Jugendlichen. Deshalb ist die Kraft der Peer Group in inklusiven Settings nicht zu unterschätzen, vor allen Dingen wenn diese erkannt und gewinnbringend erzieherisch aufgegriffen und pädagogisch unterstützt wird. Transsituativ durch den Schulalltag und über die gesamte Schulzeit hinweg erfahren und erleben Jugendlichen, die als schwierig gelten in vielen für sie identitätsrelevanten Situationen (Markowetz, 2007a, b) von ihren Mitschüler*innen aber auch von den Lehrkräften verlässliche, dauerhafte und vielfältige Kostproben ihrer Valorisierung. Sie nehmen zur Nachahmung einladende Verhaltens- und Reaktionsmuster anderer als Steilvorlage der Normalisierung für ihr Verhaltens wahr, die dann, wenn sie diese positiv pädagogisch begleitet und unterstützt internalisieren zu tiefgreifenden Verhaltensänderungen führen und nachhaltigen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung nehmen können. Dies wäre sicherlich für Schüler*innen mit delinquenten Verhaltensweisen mehr als hilfreich, um sich, jenseits des bloßen Abwartens, bis der Scheitelpunkt und das natürliche Abflachen abweichender Verhaltensweisen mit zunehmendem Alter erreicht ist („aging-out-effect“), schon zu Schulzeiten in sozialer Integration ganz natürlich, aber – sofern sinnvoll und notwendig – auch unterstützt und angeleitet von professionell im System mit System mitarbeitenden und dabei therapeutisch wirkenden Pädagog*innen neu entdecken, einordnen und entwickeln zu können, ohne in ihrem So-Sein unnötig psychiatrisiert zu werden oder ständig zu spüren, dass sie Mängelwesen sind, die sich in kompensatorischer Absicht einseitig
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an die gesetzte Normalität anzupassen haben, um das Ihnen großzügig gewährte Aufenthalts- und Bleiberecht auf Zeit und Probe nicht zu verspielen! Inklusion geht anders und muss ohne solche Demonstrationen der Macht auskommen! Wenn delinquentes Verhalten ein sozialisiertes und eben auch in Schulen und in dieser Lebensphase rund um Schule von Jugendlichen erworbenes und zur Entfaltung gekommenes Verhalten ist, dann muss es doch gerade inklusiv arbeitenden Schulen als nachhaltig prägende Sozialisationsinstanz eigentlich im Kehrschluss auch gelingen, die Abweichungen des Verhaltens wieder zu rehabilitieren, die Träger*innen normabweichenden Verhaltens zu resozialisieren und die Akteur*innen ihres Verhaltens sozial zu integrieren, statt sich als Schule und als professionelle Expert*in für bankrott und für diese Schüler*innen nicht mehr zuständig zu erklären. Dieser Beitrag versucht aus der Perspektive der Soziologie als „Wissenschaft vom Zusammenleben und Zusammenhandeln der Menschen und der daraus resultierenden sozialen Wirklichkeit“ (Cloerkes, 2007, S. 3) zu reflektieren, ob entgegen aller und bisweilen und vorübergehend wohl auch noch berechtigter Kritik an der Inklusion (vgl. Ahrbeck, 2014; Giesecke, 2017; Speck 2011, 2019; Winkler, 2018; CONTRA zur Inklusionskritik von Wocken, 2018) Inklusion mehr ist als nur ein allmählich ernsthaft einzulösendes Menschenrecht, das von Anfang an in unseren Sozialisationsinstanzen über die Kindergärten und Kindertagesstätten hinweg endlich umzusetzen und in den Schulen konsequent fortzuführen gilt (Degener & Diehl, 2015) und belegt, dass wir die 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert verstanden haben (Harari, 2018). Kann Inklusion nicht zugleich auch ein strategisches Programm und eine zielgerichtete Präventionsmaßnahme mit einem Bündel typischer Aktivitäten der Früherkennung, Beratung und Rehabilitation sein, quasi ein komplexes sozialpädagogisch-therapeutisches Vorsorgepaket zur Vermeidung von Aussonderung, um sozialisiert-delinquentem Verhalten transdisziplinär und gut netzwerkend früh zu begegnen, dieses konstruktiv zu vermeiden und salutogenetisch abzuwenden? Kann sich die sich dabei konstituierende, allgemeine, humane und inklusive Pädagogik für wirklich ALLE lernenden Subjekte nicht auch als eine identitätsstiftende Pädagogik erweisen, die es endlich schafft, dass „kein Kind zurückgelassen wird“ (no child left behind!) und das making learning effective for every child (vgl. Markowetz 2019a, S. 66) didaktisch umzusetzen vermag? Eine Pädagogik, von der letztlich eine entstigmatisierende Kraft ausgeht und die hier vertretene These der Prävention von Jugenddelinquenz und der Entstigmatisierung Jugendlicher mit sozialisiert-delinquentem Verhalten durch konsequente egalitäre Inklusion auf den Plan ruft?
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Inklusion als pädagogischer Prozess – das 3P-Modell
Im Spiegel der UN-BRK (vgl. Degener & Diehl, 2015) bedeutet Inklusion im Bildungsbereich, dass alle Menschen einen uneingeschränkten Zugang und die vorbehaltlose Zugehörigkeit zu allen Bildungseinrichtungen von Städten, Kommunen wie Kreisen (insbesondere unseren Schulen) haben und selbstverständlich an allen Angeboten der Bildungsanbieter des sozialen Umfelds (frühkindliche Bildung, Schulbildung, Berufsbildung, Erwachsenenbildung) über die gesamte Lebensspanne teilnehmen und teilhaben können. Deshalb müssen alle Bildungseinrichtungen und alle Bildungsanbieter auf die Bildungsbedürfnisse aller Menschen so eingehen, dass jeder Mensch eine möglichst qualitativ hochwertige Bildung erfahren und dabei als selbstverständliches Mitglied der Gemeinschaft chancengleich anerkannt und von ihr wertgeschätzt werden kann! 2.1 Definitorischer Zugang Für den pädagogischen Bereich liegen zahlreiche wissenschaftliche Definitionen von Inklusion vor (z. B. Biewer, 2010; Markowetz, 2007a, 2007b, 2020b; Wansing, 2015), von denen einige einerseits scharfe Abgrenzungen zum Integrationsbegriff aufweisen und damit Hoffnungen auf rasche Veränderungen machen und ein Mehr an Teilhabe in Aussicht stellen. Die Gegenüberstellung der Praxis der schulischen Integration und der schulischen Inklusion von Hinz (2002, S. 359) verweist hierbei auf die fundamentalen Unterschiede zwischen Integration und Inklusion. Es werden aber auch fließende Übergänge von der Integration zur Inklusion angenommen, beide Begriffe bisweilen synonym wie parallel verwendet oder von Inklusion als optimierte und erweiterte Integration gesprochen (z. B. Sander, 2003). In dieser unübersichtlichen Situation wird mit Hillenbrand, Melzer und Sung (2014, S. 154 f.) zwischen einem Verständnis von Inklusion als „Full Inclusion“ und Inklusion als „Educational Inclusion“ als zwei Seiten einer Medaille unterschieden. Die eine Position nimmt für sich in Anspruch, das Schulsystem radikal zu reformieren, die andere denkt eher an Veränderungen in bestehenden Strukturen durch Schulentwicklungsprozesse, die alle Lehrkräfte mitnehmen und nicht überfordern. Die Unterschiede, wie sie in der Tabelle 1 zum Ausdruck kommen, charakterisieren in Abgrenzung zueinander diese beiden Positionen. Luhmann (1994) verwendet in seiner Systemtheorie den Terminus „Inklusion“ als nicht normativ besetzten Komplementärbegriff zur Beschreibung des gesellschaftlichen Tatbestands der „Exklusion“, ohne dabei Bezüge zur Bildungssituation von gesellschaftlichen Randgruppen hergestellt zu haben. Das soziologische Verständnis von Inklusion als Entstigmatisierung und ein auf Solidarität und
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Emanzipation ausgerichteter Interaktionsprozess (Markowetz, 2006, 2007a, b; 2014a, b, c; 2016b; Cloerkes & Markowetz, 2003) -
greift die Dialektik zwischen Inklusion und Exklusion auf (z. B. Bude & Willisch, 2008; Kronauer, 2013; Nassehi, 2008), nimmt die sozialen Wirklichkeiten in Schule wie die schulpädagogisch tradierten Schablonen im Unterricht in Blick und denkt Teilhabe am schulischen Geschehen als einen fluiden Zustand zwischen Inklusion und Exklusion (z. B. Wansing, 2005), ohne die Machbarkeit von Inklusion weder normativ in Frage zu stellen, noch als pädagogische Herausforderung des 21. Jahrhunderts ablehnen oder abbremsen zu wollen.
Tab. 1: Full Inclusion und Educational Inclusion (Hillenbrand, Melzer & Sung 2014, S. 154 f.).
Full Inclusion Inklusive Bildung bedeutet in erster Linie eine grundlegende Änderung des Bildungssystems und seiner Organisation. „Enges Verständnis“ Die Argumentation erfolgt auf allen Ebenen politisch mit dem Menschenrecht. Spezialisierte Organisationsformen (z. B. „special schools“, „special classes“) werden als Bruch der Menschenrechte verstanden. In der Konsequenz fordert diese Position die Abschaffung von Förderschulen und ähnlichen spezialisierten Formen. Die Professionalisierung für inklusive Bildung verlangt nach der Abschaffung eines eigenen Lehramts Sonderpädagogik. Eigenständige Studiengänge für das Lehramt Sonderpädagogik sind abzuschaffen.
Educational Inclusion Inklusive Bildung fordert in erster Linie eine wirksame Unterstützung aller Lernenden, die unterschiedlich organisiert sein kann. „Moderates Verständnis“ Die Argumentation erfolgt empirisch mit der Frage bestmöglicher Effekte bei Lernenden. Da empirische Befunde keine durchgängige Überlegenheit für eine bestimmte Organisationsform belegen, gelten verschiedene Angebote als hilfreich. In der Konsequenz werden evidenzbasierte Verfahren, Kooperationen, Förderpläne etc. als wichtiger betrachtet als die Schulorganisation. Die Professionalisierung verlangt nach einer evidenzbasierten Qualifizierung von Lehrkräften mit verschiedenen Abschlüssen, darunter auch dem Lehramt Sonderpädagogik. Eigenständige Studiengänge auf evidenzbasierter Basis sind unverzichtbar; Grundlagen der Sonderpädagogik sind für alle Lehrämter notwendig.
Im Gegenteil! Schulische Inklusion als ein über den Artikel 24 der UN-BRK völkerrechtlich bindendes Menschenrecht betont heute in Anerkennung der Vielfalt menschlichen Daseins (Diversity) die chancengleiche Unterrichtung und schulische Förderung von Schüler*innen mit und ohne einem sonderpädagogischen Förderbedarf in einer wohnortnahen Schule für alle (vgl. Biermann & Pfahl, 2015; Blanck, Edelstein & Powell, 2013; Motakef, 2006).
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2.2 Inklusive Schulentwicklung mit Strukturelementen In Ländern wie Deutschland mit einem stark gegliederten Bildungswesen ruft Inklusion als Begriff, Konzept und Reformprogramm tiefgreifende Schulentwicklungen auf den Plan und zielt auf einen grundlegenden Transformationsprozess des Erziehungssystems (Opertti, Walker & Zhang, 2014), wie er in den „Policy Guidelines for Inclusion“ von der UNESCO (2009) angestrebt und beschrieben wird. Das von Tomaševski (2004) entwickelte Analyse- und Steuerungsinstrument für inklusive Schulentwicklungen orientiert sich an folgenden vier Strukturelementen, die das Recht auf Bildung gemäß dem Sozialpakt der Vereinten Nationen (ICESCR) kodifizieren und als das „4A-Schema“ bekannt geworden sind: Availability, Accessibility, Acceptability und Adaptability. In der Übertragung des 4A-Schemas in ein 3P-Modell inklusiver Prozesse für das pädagogische Wahrnehmen, Denken und Handeln, angeregt von den Überlegungen zur Entwicklung inklusiver Schulsysteme von Ainscow (2005; 2007), Ainscow, Booth und Dyson (2006) sowie Ainscow, Dyson, Goldrick und West (2012) lässt sich schulische Inklusion als ein dynamischer Prozess und ein phasenhaftes Geschehen beschreiben, in dem verschiedene, aufeinander aufbauende und voneinander abhängige essentielle Dimensionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den Mittelpunkt rücken, dabei verschiedene zu erbringende Leistungen auf den Plan rufen und Qualitäten hervorbringen, die in ihren Interdependenzen als reale Stufenabfolge inklusiver Prozesse aufgefasst (siehe Abb. 1) werden können. So lassen sich die beiden Strukturelemente Availability und Accesibility im Prozess der Implementierung und Umsetzung von Inklusion als Stufe der Präsenz auffassen, die sich über den Indikator Zugang (Access) operationalisieren und messen lässt. Dem Verständnis von schulischer Inklusion als Teilhabe folgend liegt hier die Betonung auf dem Aspekt der räumlichen Teilhabe. Diese institutionelle Dimension von Inklusion zeigt an, ob Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen in den Grund- und Volksschulen, als Aufnahme- und Aufenthaltsort für alle Kinder und Jugendlichen, angekommen und dort eingeladen und willkommen sind. Das Strukturmoment Acceptability fokussiert und bilanziert über die egalitäre Zugehörigkeit und Willkommensbereitschaft hinaus, ob die Teilhabe- und Mitwirkungsmöglichkeiten für Schüler*innen mit Verhaltensstörungen dort angemessen sind und ihre Anwesenheit allseitig akzeptiert wird. Im 3P-Modell firmiert dafür als Bezeichnung für die zweite Stufe der Terminus Partizipation, der deutlich die soziale Dimension der Inklusion hervorhebt und über die räumliche Teilhabe hinaus diese vertiefte soziale Teilhabe sowie das soziale Integriert-Sein an der Akzeptanz und den Mitwirkungsmöglichkeiten am sozialen Leben in der Schule und den sozialen Vollzügen im Unterricht fest und messbar macht. Die Stufe der
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Partizipation ist ein Gradmesser dafür, ob Schule ein lebendiger Ort sozialpädagogisch kultivierter sozial-interaktiver Kontakte ist und zum Lebens-, Begegnungs- und Sozialraum für alle Kinder wird. Das Strukturelement Adaptabilty schließlich stellt die Frage nach der Anpassbarkeit und Veränderungsbereitschaft des Systems Schule. Nicht die Kinder mit Verhaltensstörungen haben sich an Schule anzupassen, sondern die Schule muss der Vielfalt der Kinder gerecht werden und diese neue Heterogenität professionell bewältigen. Über die bloße Anwesenheit, das nüchterne Dabeisein und das soziale Miteinander hinaus rückt damit die inhaltliche Teilhabe am Unterrichtsgeschehen in den Mittelpunkt und wirft die zentrale Frage auf, wie es möglich ist, dass alle Kinder trotz oder gerade wegen ihrer Förderbedarfe in einer Schule effektiv, chancengleich für sich allein als auch in Gruppen gewinnbringend und entwicklungslogisch lernen können. Die Dynamik der interdependenten inklusiven Prozesse fordert vorbehaltlos die Entfaltung einer Pädagogik für alle Kinder und Jugendlichen ein und begründet damit im 3P-Modell die Stufe der Pädagogik – in einem engeren Sinne der Schulpädagogik und als ihre „pulsierende Herzkammer“ (Klafki, 1964, S. 82) die Fachdidaktiken – und verweist damit explizit auf die didaktische Dimension der Inklusion. Das 3P-Modell inklusiver Prozesse, wie es in Abbildung 1 zusammengefasst ist, soll verdeutlichen, dass Inklusion ein prozessual-dynamisches Geschehen ist, das in zeitlicher Hinsicht in Stufen abläuft, verschiedene inhaltliche Dimensionen aufgreift und unterschiedliche Qualitäten als Entwicklungsaufgaben definiert, um inklusive Bildung hochwertig und nachhaltig für alle Schüler*innen und damit explizit auch für Schüler*innen aus dem gesamten Spektrum des Förderschwerpunktes emotional-soziale Entwicklung, also auch für Jugendliche mit sozialisiert delinquentem Verhalten in einem Haus des Lehrens und Lernens zu garantieren. Dabei sind die Interdependenzen zwischen räumlicher, sozialer und inhaltlicher Teilhabe (s. o.) zu sehen. Die institutionellen, sozialen und didaktischen Dimensionen der Inklusion bedingen sich wechselseitig, gehen fließend und ganz sicherlich mit Vorwärts- aber auch immer wieder Rückwärtsbewegungen (sozusagen auf einem ständig fluiden Kontinuum) dynamisch ineinander über und bestimmen Inklusion als einen ganzheitlich zu betrachtenden Schulentwicklungsprozess, der tatsächlich ein neues, also kein erweitertes, geringfügig optimiertes Regelschulsystem, sondern ein wahrhaft inklusives, wirklich qualitativ hochwertiges Schulsystem hervorzubringen vermag.
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Abb. 1: Das 3P-Modell inklusiver Prozesse (Präsenz - Partizipation - Pädagogik).
Ein solches System bringt u. a. mit Blick auf die Schüler*innenschaft im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung in diesem neuen Haus des Lehrens und Lernens folgende Aspekte geschickt zur Entfaltung (vgl. Markowetz, 2018): -
die spezifischen, in besonderer Weise auf Beziehung beruhenden, dialogischen Strukturen die bewährten Methoden der Fachdidaktik die Vielfalt der spezifischen Förderkonzepte der Pädagogik bei Verhaltensstörungen und rehabilitative Hilfen die personellen Expertisen der Fachdisziplin die sächliche Ausstattung die architektonisch-räumlichen Besonderheiten der Schulen für den Förderschwerpunk emotional-soziale Entwicklung
So könnten schließlich auch Schüler*innen mit Verhaltensstörungen und damit eben auch Jugendliche mit sozialisiert-delinquentem Verhalten nachteilsfrei inklusive Bildung und nachhaltig schulische Förderung erfahren und in ihrer Identität nicht beschädigt, sondern wieder aufgerichtet und gestärkt werden. Entgegen der
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Annahme, dass schulische Inklusion im Kern das sozialintegrative Miteinander als das alleinige fruchtbare Moment im inklusiven Bildungsprozess sieht, rücken heute bei allen Überlegungen, wie inklusive Bildung qualitativ hochwertig, chancengleich und nachhaltig im Zuge inklusiver Schulentwicklungsprozesse erreicht werden kann, Bedingungen, Prozesse und Ergebnisse des Lernens – im Sinne kategorialer Bildung (Klafki, 1959; 1964; 1976) für alle – als zentrale Dimensionen für das Gelingen inklusiver Unterrichtspraxis in den Mittelpunkt. Wie darf man sich die Umsetzung inklusiver Bildung für wirklich alle lernenden und sich entwickelnden Subjekte in Schule und Unterricht vorstellen? Was ist neu zu denken und neu zu machen, damit Inklusion endlich gelingen kann und wirklich alle von Inklusion profitieren? Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die provokante Annahme, dass die Anerkennung der Gleichheit und Verschiedenheit der lernenden Subjekte die Gleichberechtigung inklusiver wie exklusiver Lernsituationen und das gut synchronisierte Nebeneinander von gemeinsamem wie getrenntem Unterricht im System, mit System und vom System in einer Schule für alle einfordert. Inklusiver Unterricht ist also weit mehr als nur der bislang stets proklamierte und herbeigesehnte gemeinsame Unterricht! Inklusiver Unterricht muss auch ein Unterricht sein, der allen Schüler*innen ein diversifiziertes Lernen in exklusiven Lernsituationen ermöglicht. Zudem ein Unterricht, der statt pseudokooperativem Lernen ein diversitätssensibles Lernen für alle Kinder und Jugendliche einer heterogenen Lerngruppe ausdrücklich zulässt und dennoch allseitig und sinnstiftend für soziale Teilhabe am Schulleben sorgt, damit jedweder Gedanke an Aussonderung obsolet wird. 3 Inklusive Bildung – Lernen im gemeinsamen Unterricht und im getrennten Unterricht Schule ist ein Ort des Lebens und ein Haus des Lehrens und Lernens. Die didaktische Gestaltung einer lebendigen, humanen und demokratischen Schule und eines guten, sozial integrativen Unterrichts gehört zu den essentiellen Aufgaben, die professionell tätige Lehrpersonen Tag für Tag in den Bildungseinrichtungen zu bewältigen haben. Die inklusive Unterrichtung von Schüler*innen mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Entwicklungsausgangslagen und die didaktische Bewältigung einer so noch nicht dagewesenen Heterogenität in Regelschulen und im Fachunterricht gehören deshalb zweifelsohne zu den ganz großen pädagogischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
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3.1 Fachliche Herausforderung und Stolpersteine im Praxisfeld Eine inklusive Pädagogik und Didaktik, die sich vorbehaltlos dem Prinzip der Unteilbarkeit verpflichtet weiß, darf das Problem der Pseudokooperationen von Schüler*innen mit und ohne Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht nicht verschweigen. Maßnahmen der Inneren Differenzierung und Individualisierung oder der Inneren Differenzierung durch Individualisierung (vgl. Bönsch, 1995; Feuser, 1998; 2013) können das Problem durchaus auflösen, erweisen sich im Praxisalltag aber hochaufwändig. Noch aber können Lehrer*innen nicht zaubern und die ausgegebene Formel, dass inklusive Bildung ganz einfach durch das Portfolio an Maßnahmen der Individualisierung und Inneren Differenzierung (vgl. Markowetz, 2004; 2014a; 2016a, S. 271) didaktisch herzustellen, umfänglich umzusetzen und tiefgreifend auf ausnahmslos alle Schüler*innen anzuwenden ist. Gelingen solche Maßnahmen nicht, ist das durchgängig kooperative Lernen an einem gemeinsamen Lerngegenstand (Feuser, 1998; 2013) höchst störanfällig und ruft ad hoc, dazu oft unbemerkt-pragmatisch, aussondernde Maßnahmen auf den Plan. Innere Differenzierung schlägt in Äußere Differenzierung um und das inklusive gruppenpädagogische Spielen, Lernen und Arbeiten mündet in ein stark individualisiertes Lernen oder getrenntes Lernen in unterrichtlichen Parallelwelten. Nicht selten haben solche Lerninhalte dann kaum oder gar keine Bezüge mehr zum gemeinsamen Lerngegenstand. Stattdessen beschäftigt man sich mit völlig anderen, bestenfalls aber durchaus sinnvollen Lehr- und Lerninhalten, überbrückt solche Sequenzen mit wenig anspruchsvollen Bildungssurrogaten oder nimmt den Leerlauf im Unterricht bis hin zum zeitweiligen Bildungsstillstand billigend in Kauf. 3.2 Didaktische Ebene – die zweidimensionale Differenzierung Wenn krampfhaft und zeitraubend nach Beteiligungsformen gesucht wird, diese aber nicht wirklich gefunden und zielführend umgesetzt werden und in Folge dessen ein entwicklungslogisches, chancengleiches und effektives, d. h. für Schüler*innen mit Verhaltensstörungen gewinnbringendes Lernen aus- und wirkungslos bleibt und in pseudokooperativen Lernsituationen versandet, von denen niemand mehr überzeugend sagen kann, ob und welche Schüler*innen welchen Lerngewinn erzielen, dann spätestens darf man auch die Frage stellen, ob es bei der Umsetzung von inklusiver Bildung der Legalisierung der Maßnahmen der äußeren Differenzierung bedarf, die neben dem Lernen in inklusiven Lernsituationen im gemeinsamen Unterricht auch ein Lernen in exklusiven Lernsituationen im getrennten Unterricht ermöglichen. Vor allen Dingen dann, wenn Maßnahmen der Inneren Differenzierung nicht mehr greifen und das paradoxe Gesetz „Innere
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Differenzierung erzeugt mit zunehmender Dauer und Intensität selbst äußere Differenzierung!“ (Wocken, 2016, S. 204) seine Wirkung zeigt. Im Rückgriff auf das 3P-Modell (Abb. 1) bedeutet das, dass ausschließlich auf der 3. Ebene der Pädagogik und unterrichtsdidaktischen Ebene der Inklusion die curricularen und unterrichtlichen Kontakte ein exklusives Lernen sowohl als ein sozialräumliches Beieinander wie Nebeneinander zulassen, keinesfalls aber eine räumliche Separation auf der 1. Ebene der Präsenz und der 2. Ebene der Partizipation, die das sozialräumliche Da- und Beisammensein mit lockeren sozialen Kontakten wie das Zusammenleben und Zusammenhandeln bei intensiven sozialintegrativen Kontakten in einem für alle offenen Haus des Lehrens und Lernens in Frage stellen würde. Exklusive Lernsituationen sind also alles andere als exkludierend, sondern ein Persönlichkeitsentfaltungsrecht für alle lernenden Subjekte, um individuelle Förder- und subjektiv bedeutsame Bildungs- und Lernbedürfnisse zu befriedigen. Eine solche doppelte, sehr weitreichende Differenzierung bei der Umsetzung inklusiver Bildung auf zwei Differenzierungsdimensionen, nämlich die Differenzierung der sozialräumlichen Dimension und die der unterrichtlich-curricularen Dimension, lässt sich konzeptionell als eine „zweidimensional differenzierende Didaktik“ (Markowetz, 2016a, 2019c; kritische Würdigung hierzu Wocken, 2016, S. 200 f.) auffassen und in Grundzügen entlang der Abbildung 2 skizzieren. Heterogenität ist schlicht der Normalfall in Gemeinschaftsschulen, Inklusionsschulen, eben in jenen Schulen, die sich das Profil Inklusion schon gegeben haben oder es sich noch erarbeiten wollen. Zur Bewältigung der bunten Schüler*innenschaft muss grundsätzlich ein Mehrpädagog*innensystem zur Verfügung stehen. Lehrerpersonen aus Regel- und Sonderschule, Sozialpädagog*innen, Heilpädagog*innen, Therapeut*innen und Pflegekräfte arbeiten Hand in Hand, so dass das tägliche professionelle Arbeiten in Netzwerken von einer gut synchronisierten und synergetisch-zielführenden Kooperation, z. B. zwischen Jugendhilfe und Schule (Markowetz & Schwab, 2012) bestimmt wird und nach innen wie nach außen Kompetenztransfers stattfinden. Im gemeinsamen Unterricht lernen über weite Strecken des Schul- und Unterrichtsalltags, gruppenpädagogisch organisiert, alle in Kooperation an gemeinsamen Lerngegenständen (Feuser, 1998) und in vielfältigen gemeinsamen Lernsituationen (Wocken, 1998). Gemeinsames, zieldifferentes Lernen findet in betont kollektiv gestalteten Lernwelten mit der ganzen Klasse und binnendifferenziert und individualisiert in heterogenen Lerngruppen sowohl im Klassenzimmer als auch in Differenzierungsräumen oder an anderen Lernorten statt. Im Idealfall bestimmen der Bildungsplan der Regelschule und die Bildungspläne der Förderschulen geschickt und ausgewogen das Curriculum und die inklusiven Bildungsprozesse. Leider ist dies oft nicht der Fall, weil die aufnehmenden Schulen mit ihrem Bildungsplan die Vorfahrt für sich und die Mehrheit ihre Schüler*innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf beanspruchen!
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Abb. 2: Inklusive Bildung: Gemeinsamer Unterricht und getrennter Unterricht als dialektische Beschulungskultur zwischen Inklusion und Exklusion.
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Im Vollzug inklusiver Bildung muss es deshalb auch erlaubt sein, immer wieder Maßnahmen der äußeren Differenzierung einzuleiten, um neben dem gemeinsamen Unterricht im getrennten Unterricht auch ein Lernen in exklusiven Lernsituationen möglich zu machen. Dabei kann es sinnvoll wie notwendig sein, allein (exklusiv-individuell), zu zweit (exklusiv-partnerschaftlich) und in homogenen Kleingruppen (exklusiv-kollektiv) weitgehend zielgleich im Klassenzimmer und/oder Ausweichklassenzimmer bzw. Differenzierungsraum, d. h. sozialräumlich gedacht sowohl koexistent-beieinander als auch nebeneinander-da-seiend förderpädagogisch so zu arbeiten, dass individuelle Lernwelten beachtet, spezielle Lernbedürfnisse befriedigt und vom Störungsbild bzw. von gesicherten Diagnosen abhängige, aber noch „offen“ Entwicklungsaufgaben der lernenden Subjekte angenommen und gelöst werden können. Die sensible Übergangszone zwischen gemeinsamem und getrenntem Unterricht ist wegen seinen weitreichenden Folgen und Auswirkungen allerdings nicht unproblematisch, weil über den pädagogisch falschen Umgang mit exklusiven Lernsituationen im Unterricht Inklusion rasch und sogar vollständig in Exklusion kippen kann. Diese Inklusion-Exklusions-Schranke ist ein neues, so bislang in den didaktischen Modellen noch nicht beschriebenes, für inklusive Bildung aber außerordentlich zentrales didaktisches Entscheidungsfeld von Lehrkräften, das wohl begründet und nur für bestimmte Zeit den gemeinsamen Unterricht zugunsten eines getrennten Unterrichts aufhebt, ohne Inklusion grundsätzlich in Frage zu stellen! Die Inklusions-Exklusions-Schranke ist kein Instrument, um in naiver, ideologischer wie pragmatischer, gar hinterlistiger Absicht nun endgültig die ‚Aussonderung in die Inklusion zu integrieren’ und kein Konstrukt, um jedes pädagogische Handeln als inklusives Handeln aufzufassen und folgerichtig als Inklusion zu labeln (vgl. hierzu Feuser, 2015; 2016). Die Umsetzung inklusiver Bildung setzt unmissverständlich die durchgängige Existenz und Beachtung des Wesensmoments des Inklusiven voraus. Damit gemeint ist eine oberste „Sinn-Norm“, also eine über- und nicht nebengeordnete Haltung und zugleich ein handlungsleitendes Motiv, das all jenen Aspekten und Dimensionen, wie sie heute in der didaktischen Diskussion (vgl. hierzu Markowetz, 2012; Markowetz & Reich, 2016) didaktische Prinzipen, Unterrichtskonzepte, didaktische Modelle und Theorien zur Analyse, Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht bestimmen, nicht nachgeordnet ist, sondern diese fundamental überspannen und nachhaltig beeinflussen (hierzu Markowetz, 2007b). Damit wendet sich die bislang in Deutschland stark inhaltsbezogen geführte didaktische Diskussion deutlich stärker der Anwendung psychologischer Lehrund Lernprozesse und der Theorie der Steuerung von Lern-, Förder- und auch Therapieprozessen als Gegenstandsfelder der Didaktik (vgl. Kron, 2004, S. 42) zu. Vielmehr als bislang wird nun der Erfolg von Lehr- und Lernmodellen reflektiert, das didaktische Vorgehen lern- und entwicklungstheoretisch begründet und
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sozialkonstruktivistisch argumentiert. Exklusive Lernsituationen, in der inklusiven Didaktik von Reich (2014) als Lernlandschaft, auch Lernbüro, Lernwerkstatt bezeichnet, die insbesondere ein individuelles Lernen und gezieltes Fördern ermöglichen, sollten deshalb als Grundform inklusiver Bildung und im Sinne von Reich als eines der vier Lernformate einer inklusiven Didaktik anerkannt und gewinnbringend didaktisch gestaltet werden (vgl. Markowetz & Reich, 2016, S. 342), ohne diese zu idealisieren und nur zu lobpreisen. Exklusive Lernsituationen haben nämlich in ganz besonderer Weise auch die Funktion einer sehr sensiblen Tachonadel, die, wenn sie zu lange im Exklusionsbereich verweilt, unmissverständlich und allseitig transparent anzeigt, dass und wann getrennter Unterricht zwingend wieder in den gemeinsamen Unterricht einmünden und sich dort qualitativ auflösen muss und über die exklusiv erzielten Lernerfolge in vorunterrichtlichen (Preteaching) oder parallel zum Unterricht (Parallelteaching) stattfindenden Lern- und Fördersequenzen auch sicher leichter kann. In gewisser Weise ist dies auch eine sehr wertvolle, eigentlich selbstverständliche Dienstleistung jeder, vor allem inklusiv arbeiten wollender Schule für benachteiligte Schüler*innen, deren Eltern sich teure Nachhilfestunden und Förderangebote in den sich zuhauf etablierten privaten Lerninstituten und die Schülerhilfen, wie sie immer mehr selbständige Pädagog*innen anbieten, einfach nicht leisten können, auf deren Existenz und Zuarbeit aber zu viele Schulen schon angewiesen sind und auf sie zählen, damit ihre Schüler*innen Bestnoten erreichen oder zumindest nicht sitzenbleiben. Nach den Standards der OECD gilt ein Schulsystem dann als integrativ, „wenn wenigstens 40 % der Schüler/innen mit Förderbedarf im Regelschulsystem beschult werden, und als inklusiv, wenn es wenigstens 80 % sind“ (Lindmeier, 2009, S. 397). In inklusiven Bildungsprozessen sollte deshalb idealerweise auch mehr als 80 % gemeinsamer Unterricht und weniger als 20 % getrennter Unterricht stattfinden! Damit ist einerseits die grundlegende Frage, wieviel kooperatives Lernen zwischen Schülerinnen und Schülern mit Verhaltensstörungen und Schüler*innen mit anderen und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf nach welchem didaktischen Design und Lernformat im Unterricht stattfinden muss, um inklusiv zu wirken und als inklusive Bildung bezeichnet werden zu dürfen, hinreichend geklärt. Andererseits wird mehr als deutlich, dass exklusive Lernsituationen in der inklusiven Bildungspraxis nicht beliebig oft beansprucht werden können, sondern nur sehr gezielt und insbesondere dann auf den Plan gerufen werden sollen, wenn sie nach allen Regeln der Didaktik vorab kritisch analysiert und allseitig reflexiv begründet werden können. Nicht das Lernen im gemeinsamen Unterricht, sondern das Lernen in exklusiven Lernsituationen in der inklusiven Bildung ist zu rechtfertigen, über individuelle Förderpläne bei der Förderplanung (vgl. Markowetz, 2020a, S. 44-49; Popp, Melzer & Methner, 2017) unter effektiver Nutzung einer
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inklusiven Diagnostik (vgl. Amrhein, 2016; Schäfer & Rittmeyer, 2015) zwingend zu begründen und nach allen Seiten transparent auszuweisen. Mit Blick auf Schüler*innen mit sozialisiert delinquentem Verhalten spielen exklusive Lernsituationen bei der Umsetzung inklusiver Bildung eine besonders wichtige Rolle. Sind sie doch nahezu ein Garant dafür, dass die Palette notwendiger Hilfe- und Unterstützungsleistungen in der Inklusion nicht unterlassen werden oder so zu kurz kommen, dass Schulfrust, Unterrichtsverweigerung und Schulschwänzen oder folgenschwerer Schulabsentismus ausgelöst werden. Gerade in Schon- und Differenzierungsräumen lässt sich hoch individualisiert und ausgesprochen störungssensibel, aber keinesfalls defizit- sondern kompetenz- und schülerorientiert ein diversifiziertes Lernen, gezieltes Fördern und ein präventives wie interventives Arbeiten in rehabilitativer Absicht zur Vermeidung von Aussonderung fachdidaktisch nach anerkannten Kriterien der Pädagogik und Didaktik bei Verhaltensstörungen (z. B. Hillenbrand, 1999; 2008) planen und unterrichtspraktisch professionell durchführen. Mit der Legalisierung exklusiver Lernsituationen im getrennten Unterricht verbindet sich so gesehen auch die Chance, Schritt für Schritt die Inklusions- Exklusions-Schranke sowohl im Kopf als auch im Schulalltag praktisch zu über- winden und als pädagogische Stellgröße auf der Skala inklusiver Bildung nachhaltig in Richtung Inklusion zu verschieben sowie das kooperative Lernen im gemeinsamen Unterricht so erstklassig zu entwickeln, dass es auf Dauer allen lernenden Subjekten gerecht wird und darüber das Wesens- wie Erfolgsmoment der Inklusion auch ausweisen kann (vgl. Abb. 2). Deshalb ist zu guter Letzt zu betonen, dass nicht nur diejenigen Schüler*innen mit Verhaltensstörungen und schon gar nicht einzig und allein Jugendliche mit sozialisiert delinquentem Verhalten, sondern grundsätzlich alle Schüler*innen, also z. B. auch hochbegabte Kinder, insbesondere aber normalbegabte Kinder mit normtypischen Entwicklungsverläufen in einer Inklusionsklasse selbstverständlich auch in exklusiven Lernsituationen lernen dürfen. Es könnte somit all jenen Eltern (aber auch Lehrkräften), die immer wieder skeptisch nach dem Gewinn und Mehrwert der Inklusion für ihre nichtbehinderten Kinder (bzw. ihre Schüler*innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf) fragen, nachvollziehbar aufzeigt werden, dass ‚dann wenn Inklusion gelingt, auch alle davon profitieren’ (Kahlert, 2019). Für das Gelingen von Inklusion ist die Förderplanung (Markowetz, 2020a, S. 44-49; Popp, Melzer & Methner, 2017) auf der Grundlage einer soliden sonderpädagogischen, aber klar auf Inklusion und Vermeidung von Aussonderung gerichteten Diagnostik (Amrhein, 2016; Schäfer & Rittmeyer, 2015) für alle lernenden Subjekte (Markowetz, 2019a, S. 70-72) ein Muss und zugleich Garant dafür, dass exklusive Lernsituationen im getrennten wie im gemeinsamen Unterricht nicht gegen Inklusion missbraucht werden und exkludierend sind, sondern neben vielen
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anderen didaktischen Instrumenten des Lehrens und Lernens ein Lernformat der äußeren Differenzierung ist, das die planvolle, begründete und transparente didaktische Umsetzung inklusiver Erziehung, Bildung und Förderung bereichert. Nicht mehr, aber auch nicht weniger! 4
Fazit und Ausblick
Die in diesem Beitrag aufgefalteten Aspekte gehen davon aus, dass auch Jugendliche mit sozialisiert delinquentem Verhalten als eine besonders problematische Schüler*innenschaft inklusiv beschult werden können. Sie sollen aufzeigen, dass durch eine konsequente Inklusion und eine qualitativ hochwertige inklusive Pädagogik in allen Sozialisationsinstanzen mit ihren spezifischen Unterstützungssystemen vom Kindergarten über die Grundschule hinweg in die weiterführenden Schulen bis zu den Berufsschulen Prävention von Jugenddelinquenz und Entstigmatisierung Jugendlicher mit sozialisiert delinquentem Verhalten möglich ist. Für den Bereich der Schule stellt sich die Frage, wie sich das sozial- und schulpädagogische Lehren und Lernen sowie das gezielte Fördern dieser Schüler*innen mit sehr unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsausgangslagen professionell organisieren und bewältigen lässt, um Lern-, Förder- und Rehabilitationserfolge chancengleich sicherstellen und nachhaltig über erfolgreiche Bildungsabschlüsse hinein in die berufliche Bildung wirksam werden lassen zu können. Das hier nur in Ansätzen skizzierte Konzept einer zweidimensional differenzierenden Didaktik (Markowetz, 2016; kritisch hierzu Wocken, 2016, S. 81-237) rückt in diesem Beitrag bewusst mit der Frage nach approbierten Differenzierungsformaten im inklusiven Unterricht just diesen Aspekt in den Mittelpunkt. Die zweidimensional differenzierende Didaktik postuliert, dass für das Gelingen von Inklusion die Pädagogik auf die gesamte Vielfalt intraschulisch in einem für alle offenen „inklusiven“ Haus des Lehrens und Lernens organisierbarer Formen innerer und äußerer Differenzierungsformen angewiesen ist. Sie fordert die Gleichberechtigung inklusiver wie exklusiver Lernsituationen und das, gut über Förderpläne legalisierte, argumentativ abgesicherte, schlüssig dokumentierte und prozessevaluierte sowie das über die „Inklusion-Exklusions-Schranke“ als pädagogische Stellgröße und didaktisches Entscheidungsfeld synchronisierte, dialektisch aufeinander bezogene, sich gegenseitig ergänzende und wechselseitig erschließende Nebeneinanderher von gemeinsamem wie getrenntem Unterricht im System, mit System und vom System in einer Schule für Alle ein, um für alle Schüler*innen das Lernen in allen seinen Facetten so effektiv wie möglich zu machen und gleichzeitig den gesetzlich verbrieften Rehabilitations- und spezifischen Förderansprüchen von Jugendlichen mit sozialisiert delinquenten Verhaltensweisen Rechnung zu tragen.
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Über das in diesem Beitrag vor- und zur Diskussion gestellte Problem der „Differenzierung der sozialräumlichen Dimension wie der curricularen Dimension“ hinaus hat ein inklusionsdidaktischer Entwurf selbstverständlich noch weitere didaktisch relevante Dimensionen des breiten Feldes didaktischer Bedingungs- wie Entscheidungsfelder und Wirkvariablen in den Blick zu nehmen und einzuarbeiten (hierzu Jank & Meyer, 2002; Markowetz, 2019a). Insbesondere gilt es für die Umsetzung von inklusiver Bildung, noch ein didaktisches praxistaugliches „Engineering-Modell“ (Markowetz, 2019b) zu entwerfen. Dieses müsste strukturell-schematisch wie inhaltlich-operativ aufzeigen, wie auf der Basis einer inklusiven Diagnostik (Amrhein, 2016; Schäfer & Rittmeyer, 2015), deren darüber generiertes Wissen über die Lern- und Entwicklungsausgangslagen in dynamisch-prozessual fortzuschreibende, individuelle Förderpläne einmündet, auf der Basis von Beziehung, Vertrauen und Wertschätzung und dem interaktionistischen Handlungsmodell folgend das allseitige Lernen und das durch Förderung unterstütze Heranreifen zu Erwachsenen auch für delinquente Jugendliche effektiv analysiert, geplant, durchgeführt, kritisch reflektiert und auch evaluiert werden kann. Die zweidimensional differenzierende Didaktik lädt schon heute dazu ein, die inklusionsdidaktische Wirklichkeit in der Praxis perspektivisch verstärkt unter der Bedingungsvariable innerer und äußerer Differenzierung dialektisch ins Auge zu fassen, um allmählich klären und empirisch belegen zu können, welche Effekte von welchen Lern- und Förderformaten in welchen Kontexten ausgehen und welche der bisweilen sich sehr unterscheidenden Modelle zur Umsetzung schulischer Inklusion (vgl. Blanck, 2014) auf der Basis der Kontakthypothese (Cloerkes, 1982) und der behindertensoziologischen These „Entstigmatisierung durch Inklusion“ (Cloerkes, 2007; Markowetz, 2006; 2007a; 2007b; 2011; 2014a; 2014b; 2014c; 2015; 2016b; Cloerkes & Markowetz, 2003) mit Blick auf Lernleistungen, das emotionale Wohlbefinden, das Gefühl der Zugehörigkeit, die soziale Kohäsion, das Selbstbild, die Identitätsbildung, den Abbau von Vorurteilen, spürbare Einstellungsänderungen sowie Entstigmatisierungseffekte tatsächlich eine nachhaltige inklusive Wirksamkeit entfalten können. Die lebendige Praxis, wie sie von einer inklusiven Pädagogik und Didaktik inklusiv zu gestalten ist, könnte und wird hierzu sicherlich alsbald belastbare Antworten geben können. Bleibt zu hoffen, dass dann nicht die Inklusionsquoten Auskunft über das Gelingen von Inklusion geben, sondern eine Statistik, die überzeugend Auskunft über die Vermeidung von Aussonderung, auch und gerade für Schüler*innen mit sozialisiert-delinquentes Verhalten, die ein besonders hohes Exklusionsrisiko tragen!
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Prävention – ein verlockendes Konzept mit Nebenwirkungen. Kritische Anmerkungen1 Bernd Holthusen
1
Einleitung
Wird im öffentlichen Diskurs Delinquenz im Kindes- und Jugendalter thematisiert, folgen in aller Regel zwei Dinge: Erstens werden – gerade nach medialer Berichterstattung über besonders schwerwiegende Straftaten – Forderungen nach Strafverschärfungen und z. B. der Absenkung des Strafunmündigkeitsalters2 erhoben und zweitens folgt nahezu zwangsläufig der Ruf nach (mehr) Prävention – häufig verbunden mit hohen Erwartungen an die Kinder- und Jugendhilfe. Kontinuierlich hat in den letzten drei Jahrzehnten die Forderung nach mehr Prävention an Bedeutung gewonnen. Prävention hielt entsprechend nicht nur in den Fachdiskursen der Sozialen Arbeit Einzug, sondern ebenso in der Polizei und der Justiz. Viele Projekte und ganze „Präventionslandschaften“ entstanden. Verbunden mit der Konjunktur von Prävention verstärkte sich auch die Tendenz statt eines rein bestrafenden oder abschreckenden zu einem eher stärker erzieherisch/pädagogisch ausgerichteten Umgang mit Delinquenz im Kindes- und Jugendalter. Alles in allem also eine positive Entwicklung im Sinne einer rationalen Kriminalpolitik. Aber mit dem auf den ersten Blick so verlockenden Konzept Prävention gehen auch Nebenwirkungen und einige ungelöste Fragen einher, mit denen sich der folgende Beitrag befasst.
1 Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag „Prävention – ein verlockendes Konzept mit Nebenwirkungen. Kritische Anmerkungen zum Diskurs“ im Rahmen der Ringvorlesung „Schnittstellen innovativer Erziehungshilfe“ an der Universität Köln am 25. Juni 2019, zu dem der Autor von Philipp Walkenhorst eingeladen worden ist. Grundlage des Beitrages bilden die intensiven Diskussionen, die ich in den letzten zwei Jahrzehnten mit Kolleg*innen aus der Abteilung Jugend und Jugendhilfe am DJI, insbesondere mit Christian Lüders, Sabrina Hoops und Diana Willems, zu diesem Thema geführt habe. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Aufsätze (u. a. Holthusen et al., 2011; Holthusen & Hoops, 2011; Hoops & Holthusen, 2015; Lüders, 2011b) entstanden, auf die der Beitrag aufbaut. 2 So wurde jüngst im Januar 2020 auf der 44. Klausurtagung der CSU-Bundestagsfraktion in Kloster Seeon die Forderung nach der Aufhebung der Altersgrenze für schwere Verbrechen beschlossen (s. CSU im Bundestag, 2020, S. 4).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_21
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Bernd Holthusen
Prävention – ein schillernder Begriff in vielfältigen Kontexten
Der Begriff Prävention lässt sich aus dem Lateinischen praevenire ableiten, was so viel wie „zuvorkommen“ bedeutet, mit entsprechenden Synonymen wie „vorsorgen, verhindern, vorbeugen, verhüten, schützen, abwenden, vereiteln“ oder als Substantive die eher altertümlich klingenden Begriffe wie „Vorbeugung“ oder „Prophylaxe“, die im Gesundheitswesen lange Tradition haben.3 Schon die Synonyme zeigen: Prävention ist nahezu ausnahmslos positiv konnotiert. Ganz im Gegensatz dazu sind der Begriff Repression und die entsprechenden Synonyme wie „Unterdrückung“, „Zwang“, „Unfreiheit“ oder „aufhalten“, „bekämpfen“, „entgegenstellen“ umso mehr mit negativen Assoziationen verbunden. Spätestens mit dem achten Jugendbericht der Bundesregierung (Bundesministerium, 1990), in dem Prävention zu einer Strukturmaxime der Kinder- und Jugendhilfe erklärt wurde, hat sich der Begriff Prävention in der Sozialen Arbeit fest etabliert. Auch anknüpfend an das Lebensweltkonzept von Hans Thiersch (1992) sollte die Soziale Arbeit nicht erst auf Notlagen reagieren und als „Feuerwehr“ agieren, sondern handeln, bevor das sprichwörtliche Kind in den Brunnen gefallen ist. Auch wenn das Schlagwort Prävention als universal einsetzbares Konzept propagiert wird, so kann der Begriff genau genommen nicht für sich alleinstehen, denn er bezieht sich immer auf eine (nicht erwünschte) Situation, deren Eintreten verhindert werden soll. Die Gegenstände können vielfältig sein. Hier seien nur einige – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – genannt: Krankheitsprävention, Suchtprävention (Alkohol/Drogen/Medikamentenmissbrauch), Unfallprävention, Prävention von Extremismus, von Islamismus, von Terrorismus, von sexuellem Missbrauch, aber auch von Verwahrlosung, Obdachlosigkeit, Armut, Vereinsamung, Burnout, Schulversagen und nicht zuletzt auch von Gewalt und Kriminalität. Zusammenfassend kann Prävention offenbar nahezu allen als unerwünscht definierten Ereignissen entgegengesetzt werden. Zur Kontrolle bzw. zur Vermeidung von Risiken wird Prävention in der Risikogesellschaft (Beck, 1986) damit zu einem vielversprechenden Konzept. 3
Ein verlockendes Konzept – Was wird mit Prävention versprochen?
Wird ein gesellschaftliches Problem sichtbar und als solches benannt, ist politisches Handeln gefragt. Prävention bietet sich als Lösung geradezu an: Wer kann schon dagegen argumentieren, Risiken früh zu erkennen und problematische 3 Die Coronavirus/COVID-19 Pandemie wird neben vielem anderen sicherlich auch die Präventionsperspektive im Gesundheitsbereich weiter stärken. Die Politik steht weltweit unter hohem Legitimationsdruck, nicht rechtzeitig entsprechende Präventionsprogramme gestartet zu haben.
Prävention – ein verlockendes Konzept mit Nebenwirkungen. Kritische Anmerkungen
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Entwicklungen zu verhindern, noch bevor sie manifest werden? Mit rasch aufgelegten Projekten und Programmen kann politische und auch fachliche Handlungsfähigkeit demonstriert werden. Prävention scheint in der politischen Kommunikation geradezu ein Wundermittel, eine Zauberformel (Böllert, 1995) zu sein, soziale Probleme erst gar nicht entstehen zu lassen. Dagegen wirken repressive Konzepte rückwärtsgewandt und nur reagierend. Zusätzlich wird häufig auch ein Kostenargument angeführt, denn es ist ja scheinbar offenbar, dass – falls rechtzeitig vorgebeugt wird – später anfallende höhere Kosten vermieden werden können. 3.1
Konjunktur von Präventionskonzepten
Vor dem Hintergrund der oben skizzierten „Verlockungen“ verwundert es nicht, dass in den letzten drei Jahrzehnten Prävention in sehr vielen Bereichen eine bemerkenswerte Konjunktur4 erfahren hat, so dass gleichsam eine Inflation von Präventionskonzepten konstatiert werden kann. Mit der Etablierung von Prävention gehen auch einige semantische Wirrungen einher: So finden sich Wortschöpfungen, die an sich widersprüchlich sind wie z. B. „Gesundheitsprävention“ – hier ist die Verhinderung von Krankheiten und nicht von Gesundheit das Ziel (vielleicht ist auch allgemeine Gesundheitsförderung gemeint) oder „Klimaprävention“ statt Reduktion von klimaschädlichen Emissionen und „Bewegungsprävention“ statt Bewegungsförderung. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „soziale“ Prävention, der sich vielfältig interpretieren lässt, manchmal aber schlicht den Aufbau sozialer Kompetenzen meint. Andere Wortschöpfungen sind eher verharmlosend und euphemistisch, wenn z. B. statt von Steuerhinterziehung von Steuerprävention gesprochen wird. Ist von Prävention die Rede, so gilt es als erstes zu fragen, was verhindert werden soll. Dies kann logischerweise nur etwas sein, das als „unerwünscht“ definiert ist. Sollte etwas „Erwünschtes“ wie etwa Gesundheit erreicht werden, sollte sinnvoller Weise von Förderung und nicht von Prävention gesprochen werden. 3.2
Systematisierungen
Vor dem Hintergrund der beschriebenen Konjunkturen und begrifflichen Ungenauigkeiten stellt sich die Frage, wie die verschiedenen Formen von Prävention systematisiert werden können. Auch wenn an dieser Stelle die vorliegenden Systematisierungen nicht mit ihren Stärken und Schwächen diskutiert werden können, 4 Siehe allein für die Bereiche der Gewaltprävention die beiden Bände der Dokumentation des Symposiums 25 Jahre Gewaltprävention, Voß & Marks, 2016.
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Bernd Holthusen
sollen sie zumindest kurz aufgeführt werden. Schon früh schlägt Caplan (1964) die Unterteilung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention vor, eine Systematisierung – ursprünglich aus dem medizinischen Bereich kommend, auch heute noch gerne genutzt –, die sich am Zeitpunkt orientiert: Primär, bevor eine Krankheit/ein Ereignis eintritt; sekundär zu einem frühen Stadium oder wenn ein begründeter Verdacht/eine Disposition besteht; tertiär, wenn nach der Krankheit/ dem Ereignis die Rehabilitation ansteht/eine erneute Rückfälligkeit verhindert werden soll. Ganz ähnlich ist die Kategorisierung in universale, selektive und indizierte Prävention5, die nach Zielgruppen unterscheidet: Universale Prävention richtet sich an die Allgemeinheit oder an gesamte Gruppen wie z. B. Schulklassen. Selektive Prävention zielt auf bestimmte (als Risiko definierte) Gruppen und indizierte Prävention bezieht sich auf Personen, die bereits mit dem zu verhindernden Verhalten aufgefallen sind. Die Unterscheidungen „Verhältnisprävention versus Verhaltensprävention“ und „strukturelle Prävention versus personale Prävention“ betreffen einerseits die Ebene der Personen, auf deren Verhalten Einfluss genommen werden soll, sowie andererseits die Ebene der Strukturen und Verhältnisse, die es zu gestalten gilt.6 Auch mit (Straf-)Gesetzen werden präventive Zielsetzungen – Verhinderung von Straftaten – verfolgt: Generalprävention und Spezialprävention. Zum einen soll die Allgemeinheit durch die Strafandrohung und Bestrafung generell abgeschreckt werden, Straftaten zu begehen, zum anderen soll die verurteilte Person durch die Bestrafung davon abgehalten werden, künftig weitere Straftaten zu verüben. Ob die präventiven Zielsetzungen tatsächlich erreicht werden können, hängt von vielen weiteren Umständen ab. Auch diese Systematisierungen zeigen die vielfältigen Verständnisse von Prävention. Für die verschiedenen Gegenstände von Prävention können diese Systematisierungen jeweils mehr oder weniger hilfreich – aber auch mit Risiken verbunden – sein, wenn z. B. von primärer Gewaltprävention gesprochen wird, und damit eine Zielgruppe unter Generalverdacht gestellt wird. Hierzu ein bereits an anderer Stelle aufgeführtes Beispiel: Als primäre Gewaltprävention werden verschiedentlich Programme bezeichnet, die soziale Kompetenzen bereits im Kindergarten fördern. Es ist gut möglich, dass diese Programme früher oder später zu gewaltpräventiven Effekten führen können. Vorrangig geht es aber darum, in der Kindergartengruppe die Entwicklung sozialer Kompetenzen zu fördern. Wenn dies als Gewaltprävention bezeichnet wird, unterstellt man damit, im Sinne eines Generalverdachtes, indirekt allen Kindern dieser Gruppe, zumindest potenzielle Gewalttäter zu sein. (Holthusen et al., 2011, S. 24)
5
Vgl. Gordon, 1983. Kessler und Mensching kritisieren die „Fixierung auf die Verhaltensprävention in der Sozialen Arbeit“ (Kessler & Mensching, 2019, S. 9) und fordern, stärker die Verhältnisse in den Blick zu nehmen. 6
Prävention – ein verlockendes Konzept mit Nebenwirkungen. Kritische Anmerkungen
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Dies könnte wiederum Stigmatisierungen erst in Gang setzen mit dem nicht intendierten Effekt, dasjenige Verhalten auszulösen, das eigentlich verhindert werden sollte. 3.3
Risiken und Nebenwirkungen
Das Beispiel Kriminalitätsprävention „Zwischen Mogelpackung und Erfolgsmodell“7 Kriminalitäts- und insbesondere Gewaltprävention hat in den letzten drei Jahrzehnten einen regelrechten Boom erfahren. Eine Vielzahl von Projekten und Programmen wurde gefördert, kriminalpräventive Räte auf kommunaler und Landesebene gegründet, das Deutsche Forum Kriminalprävention und das Nationale Zentrum Kriminalprävention geschaffen. Die jährlichen Deutschen Präventionstage werden immer umfangreicher. In dieser Bilanz ist Kriminalitätsprävention sicherlich ein Erfolgsmodell. Mit dem „Präventionslabel“ erschlossen sich für viele Träger neue Finanzierungsmöglichkeiten für ihre Projektideen. Schnell wurde so aber auch manche Sportveranstaltung wie Basketball um Mitternacht, oder auch ein Straßenfußballturnier zur Gewaltprävention erklärt. Ebenso lassen sich Sprachkurse im Kindergarten finden, die aus Präventionstöpfen finanziert wurden. Auch Regelangebote der Kinder- und Jugendhilfe wie die Jugendarbeit wurden von dem Präventionsdiskurs8 erfasst. Nicht mehr der Eigenzweck der Jugendarbeit – Jugendlichen Gestaltungsräume zu eröffnen – stand im Vordergrund, sondern die präventiven Aspekte, die durchaus mit Jugendarbeit verbunden sein können. Wird Jugendarbeit aber auf Prävention reduziert, verliert sie ihren Kern.9 Auch in den jahrelangen Diskussionen um den sogenannten Warnschussarrest wurde immer wieder das Präventionsargument angeführt: Die jungen Menschen bräuchten eben den sprichwörtlichen „Schuss vor den Bug“. Hier wird eine an sich repressive Bestrafung in Form von Freiheitsentzug mit dem Präventionsargument legitimiert. Trotz der vielfach dokumentierten insbesondere für junge Menschen schädlichen Wirkungen des Freiheitsentzugs und der besonders hohen Rückfallraten des Arrestes wurde der Warnschussarrest 2013 mit § 16a im Jugendgerichtsgesetz (Jugendarrest neben Jugendstrafe) verankert.10 7
So auch der Titel eines Aufsatzes von Holthusen & Hoops, 2011. Bereits 2001 Freund & Lindner. 9 Zu dieser Problematik existiert mittlerweile ein eigener Fachdiskurs, zuletzt 2019 in der Zeitschrift Forum Kriminalprävention mit Beiträgen von Fischer, Hoops & Schmoll sowie Icking & Deinet. 10 Der Jugendarrest neben Jugendstrafe wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Justiz undVerbraucherschutz umfangreich evaluiert. Zu den Ergebnissen, die teilweise die Argumente gegen den Warnschussarrest bestätigt haben, vgl. Klatt et al., 2016. 8
360 3.3.1
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Vorverlagerung von Prävention und Entgrenzung
Einhergehend mit der beschriebenen Präventionskonjunktur in den letzten Jahrzehnten lässt sich eine Vorverlagerung von Präventionsstrategien im Sinne von „je früher desto besser“ beobachten und folgt damit einer eigenen Präventionslogik: Wenn Prävention in der Praxis nicht erfolgreich ist und Unerwünschtes doch eintritt, wird es nicht als Scheitern des Präventionskonzepts als solches betrachtet, sondern gefolgert, dass der Zeitpunkt zu spät und/oder die Intensität der Präventionsmaßnahme nicht ausreichend war. Entsprechend muss die Konsequenz lauten, frühzeitiger mit den Maßnahmen anzusetzen. Damit beginnt eine Dynamik der Vorverlagerung, die bis hin zu Konzepten der pränatalen Prävention von angenommenen, späteren Entwicklungsstörungen reichen können. Mit der Vorverlagerung verbunden ist ein Ausbau der Konzepte primärer, universeller oder unspezifischer Prävention, die nicht auf spezielle Risikokonstellationen zugeschnitten, sondern möglichst flächendeckend und allgemein ausgerichtet sind. Häufig weisen diese Konzepte nur einen mittelbaren Bezug zu dem auf, was verhindert werden soll. Diese Entgrenzungen des Präventionsbegriffs sind, insbesondere wenn es sich um Phänomene wie Kriminalität und Gewalt handelt – unabhängig von den ehrenwerten zunächst nachvollziehbaren Intentionen –, hoch problematisch: Die so z. B. von gewaltpräventiven Programmen adressierten Kinder, Jugendlichen und Familien werden ohne spezifische Begründung gleichsam unter den Generalverdacht gestellt, potentiell gewalttätig zu sein. Wenn auch nicht intendiert, kann dies Stigmatisierungs- und Etikettierungsprozesse mit allen kontraproduktiven Effekten im Sinne einer „Selffulfilling Prophecy“ auslösen. Vor dem Hintergrund dieser Problematik der Entgrenzung des Präventionsbegriffs plädiert die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention am Deutschen Jugendinstitut, „den Begriff Gewaltprävention bewusst nur in einem eng verstandenen Wortsinne“ zu verwenden. Es sollten „nur jene Programme, Strategien, Maßnahmen und Projekte als gewaltpräventiv bezeichnet werden, die vorrangig die Verhinderung beziehungsweise Reduktion von Gewalt zum Ziel haben“ (Holthusen & Hoops, 2011, S. 13).11 3.3.2
Die Definitionsmacht der Expert*innen und die Logik des Verdachts
Qua Definition ist Prävention immer in die Zukunft gerichtet: Sie zielt darauf, etwas als unerwünscht Definiertes zu verhindern bzw. nicht eintreten zu lassen. Voraussetzung dafür ist eine Prognose, dass das Unerwünschte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in der Zukunft einträte, falls nicht präventiv gehandelt würde. 11
Diese Position ist nicht unstrittig, z. B. plädiert Kahl (2019) für ein weites Präventionsverständnis.
Prävention – ein verlockendes Konzept mit Nebenwirkungen. Kritische Anmerkungen
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Hier stellt sich zunächst die Frage: Wer definiert das Unerwünschte? Und damit verbunden: Wer hat die Definitionsmacht, darüber zu entscheiden? Lüders stellt hierzu kritisch fest: Die pädagogische Präventionsdiskussion erweist sich an dieser Stelle nicht selten als bemerkenswert positivistisch in dem Sinne, dass sie die jeweiligen Unerwünschtheiten als weitgehend fraglos gegeben voraussetzt und dabei jene gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse und Machtverhältnisse aus dem Blick verliert, die dafür verantwortlich sind, was in den jeweiligen Praxisfeldern als Erwünscht und Unerwünscht definiert und durchgesetzt wird. (Lüders, 2011a, S. 46)
Zweitens bedarf es einer begründeten Prognose, was wiederum ein gesichertes Wissen über Ursachen, Gefährdungen und Resilienzen in den jeweiligen Konstellationen voraussetzt. Entsprechend der spezifischen Ausgangslagen kann nur von mehr oder weniger plausiblen Vermutungen oder bestimmten Wahrscheinlichkeitsgraden ausgegangen werden. Problemdefinition und Prognose liegen in den Händen von Expert*innen. Sie bestimmen, auf welche Gruppen und Konstellationen Prävention gerichtet und wie sie ausgestaltet werden soll. Damit wird Prävention auch zu einem Instrument der Normierung und sozialen Kontrolle.12 Demgegenüber bleiben die Perspektiven der Adressat*innen der Sozialen Arbeit hier weitgehend außen vor: Wie ist deren Sicht auf die Situation? Wird die Situation oder das Risiko auch als Problem gesehen? Wird die Prognose geteilt? Werden die Maßnahmen als geeignet und angemessen betrachtet? Werden die Adressat*innen aktiv in die Ausgestaltung der Angebote miteinbezogen? Durch die Dominanz der Expert*innen werden diese Fragen oft erst gar nicht gestellt. Bezogen auf Kriminalitätsprävention prognostizieren manche Expert*innen z. B. aus der Polizei z. B. eine Abweichung, die es zu verhindern gilt. Prävention folgt so einer Logik des Verdachts (und widerspricht damit der strafrechtlichen Unschuldsvermutung). Unter einer pädagogischen Perspektive wird hier auf Defizite fokussiert und die in der Sozialen Arbeit bewährte Ressourcenorientierung tritt in den Hintergrund. Mit der Verdachtslogik sind wiederum die bereits oben dargestellten Stigmatisierungsrisiken verbunden. 3.3.3
Prävention und kein Ende?
Das Ziel von Prävention ist – wie bereits ausgeführt – immer die Verhinderung von etwas Unerwünschtem, das in der Zukunft liegt. Das bedeutet: Auch wenn das Ziel zunächst erreicht wird, bleibt es in der Zukunft weiterhin bestehen und soll 12 In der Sozialpädagogik sind dies zentrale Punkte für die langjährigen Diskurse über Prävention. Ausführlich zu den Präventionsdiskursen der sozialpädagogischen Disziplin vgl. Wohlgemuth, 2009, S. 51 ff.
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verhindert werden. Damit ist auf Zukunft gerichtete Prävention nie abgeschlossen und wird gleichsam zur Daueraufgabe oder wie Bröckling formuliert: „Prävention ist ein unabschließbares Projekt“ (2008, S. 42) und „Wer verbeugen will, darf niemals aufhören“ (ebd., S. 44). 3.3.4
Dystopie: Präventionsstaat
Der US-amerikanische Science-Fiction-Thriller „Minority Report“ des Regisseurs Steven Spielberg knüpft an die beschriebene Präventionslogik an und steigert sie bis hin zu der Dystopie eines totalen Überwachungs- und Präventionsstaates: In dem Film, der im Jahr 2054 spielt, kommt ein Präventionsmodellprogramm „PreCrime“ zum Einsatz, das es ermöglicht, Mörder*innen bereits zu identifizieren, bevor sie ihre Taten ausführen können. Künftige Täter*innen und Opfer werden überwacht und die sichere Prognose veranlasst ein Einsatzkommando, den*die bereits vor der Tat überführten Täter*in festzunehmen und in ihn in eine Art künstliches Koma zu versetzen. Ohne Tat wird der*die „überführte“ Täter*in bestraft. So garantiert das Programm durch vorausschauendes Handeln (absolute) Sicherheit. In der Literatur finden sich noch weitere prominente Beispiele wie Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ (Brave New World) oder Georg Orwells „Neunzehnhundertvierundachtzig“, die totale Überwachungsstaaten entwerfen und mit Prävention gesellschaftliche Sicherheit versprechen. Da die Kurzgeschichte des Autors Philip K. Dick, die dem Film „Minority Report“ zugrunde liegt, aus dem Jahr 1956 stammt, sind diese dystopischen Beispiele alle bereits über sechs Jahrzehnte alt. Gleichwohl zeigen sie eindrucksvoll, wohin es führen kann, wenn staatliches Handeln präventiv die Bevölkerung überwacht, um unerwünschtes Verhalten zu verhindern. Die dystopischen Entwürfe aus der Literatur sind sicherlich sehr weit von der gesellschaftlichen Situation in Deutschland als freiheitlichem Rechtsstaat im Jahr 2020 entfernt. Gleichzeitig zeigt aber auch ein Blick nach China, wo ein „Sozialkreditsystems“ entwickelt und aufgebaut wird, wie erschreckend umfänglich die Möglichkeiten der Überwachung durch die Digitalisierung geworden sind: Sowohl die Videoüberwachung im öffentlichen Raum als auch die Nutzung zahlreicher weiterer Datenbestände, die jede Person im privaten und beruflichen Bereich unablässig produziert, werden analysiert und durch das System bewertet. Sozial erwünschtes Verhalten wird belohnt, sozial unerwünschtes Verhalten führt zu Sanktionen. Präventiv soll so unerwünschtes Verhalten verhindert werden. Big Data sind aber nicht nur Staaten, sondern auch international agierenden Unternehmen zugänglich. An dieser Stelle würde es zu weit führen, die aktuellen Debatten13 über Datenschutzfragen nachzuzeichnen, die durch die neuen Mög13
Exemplarisch sollen hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit nur einige Stichworte genannt werden: Vorratsdatenspeicherung, „großer Lauschangriff“, elektronische Fußfessel, Kennzeichenerfassung,
Prävention – ein verlockendes Konzept mit Nebenwirkungen. Kritische Anmerkungen
363
lichkeiten der digitalen Entwicklungen entstanden sind. Für den Diskurs über (Kriminalitäts-)Prävention ist vor diesem Hintergrund aber festzuhalten, dass zur Erreichung präventiver Ziele nie der „Zweck die Mittel heiligen“ darf, sondern dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewahrt bleiben muss und unter der Prämisse eines freiheitlichen Rechtsstaats jede Intervention legitimiert und sorgfältig zwischen Sicherheit und Freiheit abgewogen werden muss. 4
Wirksamkeit von Prävention – Herausforderung Evaluation
Mit der Verbreitung von Prävention wird zunehmend die Frage gestellt, ob die versprochenen Präventionsziele denn auch tatsächlich erreicht werden. Präventionsprogramme und -projekte stehen verstärkt unter dem Rechtfertigungszwang, ihre Wirkungen nachzuweisen.14 Diese – nur scheinbar einfache – Frage ist allerdings wesentlich schwieriger zu beantworten als es auf den ersten Blick anmutet, gilt es doch das Nichteintreten eines Ergebnisses zu messen. Dies setzt u. a. eine Prognose voraus, dass das Ereignis in der Zukunft eintreten würde, für den Fall, dass keine Präventionsmaßnahme erfolgt wäre. Da die Zukunft aber kontingent ist, können Prognosen nur mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeiten des Eintritts eines unerwünschten Ereignisses vorhersagen. Auch wenn, wie oben dargelegt, Prävention nie abgeschlossen ist und das Ziel immer in der Zukunft liegt, muss dennoch ein Zeitpunkt oder ein Zeitraum festgelegt werden, in dem der Nichteintritt kontrolliert werden soll. Wenn dann der Nichteintritt tatsächlich festgestellt werden konnte, stellt sich als nächstes die Frage, inwiefern dies der Präventionsaktivität kausal zugeschrieben werden kann oder ob parallel andere Ereignisse diesen Effekt bewirkt haben (können). Dies sind nur einige allgemeine Fragen, die sich stellen – an dem konkreten Beispiel der Prävention von Delinquenz im Kindes- und Jugendalter werden im Folgenden noch einige weitere (methodische) Herausforderungen erläutert werden, die auftreten, wenn Projekte und Programme der Kriminalitätsprävention evaluiert werden sollen.15
Fitness-Daten für Krankenversicherungen und Telematik-Tarife bei Kraftfahrzeugversicherungen, Videoüberwachung, biometrische Überwachungstechnologie wie Gesichtserkennung in öffentlichen Räumen, Gesichtersuchmaschinen mit Unterstützung künstlicher Intelligenz (ClearView App) bis hin jüngst zum Einsatz von Tracking-Apps zur Bekämpfung der Coronavirus/COVID-19 Pandemie. 14 Ende der 1990er Jahre begannen die Diskussionen unter dem Schlagwort Evidence Based Crime Prevention. Einen Überblick über die verschiedenen Positionen mit zahlreichen Beiträgen bieten Walsh et al., 2018. Evidenzbasierte Kriminalpolitik wurde 2018 auch im Koalitionsvertrag der großen Koalition vereinbart (Koalitionsvertrag, o.J., S. 133). Wiebke Steffen (2015, S. 123 ff.) betont in ihrem Gutachten für den 19. Deutschen Präventionstag die Bedeutung der „Präventionswissenschaft“. 15 Vgl. hierzu ausführlich Fischer et al., 2018.
364 4.1
Bernd Holthusen
Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention als komplexer Gegenstand für die Evaluationsforschung
Kriminalpräventive Aktivitäten sind häufig insbesondere auf das Kindes- und Jugendalter ausgerichtet. Zur Lebensphase Jugend gehört das Austesten von Grenzen, so dass Delinquenz weit verbreitet, ubiquitär, aber auch vorübergehend und episodenhaft ist. Nur ein kleiner Teil der jungen Menschen ist mehrfach und dauerhaft mit Straftaten auffällig. Diese Gruppe sorgt regelmäßig für mediale Aufmerksamkeit. Polizei, Justiz, Kinder- und Jugendhilfe und auch Schule sind hier als zentrale Akteure der Kriminalitätsprävention gefordert. Nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch in Polizei und Justiz hat sich ein weit verbreiteter Konsens herausgebildet, dass Prävention von Delinquenz im Kindes- und Jugendalter vor allem erzieherisch ausgerichtet sein muss. Insbesondere die Projekte und Programme – wie auch die Regelpraxis in der Kinder- und Jugendhilfe – setz(t)en auf vielfältige pädagogische Ansätze, häufig verbunden mit einer Perspektive, die Lebenswelt und Ressourcen der Adressat*innen einbezieht und auf Freiwilligkeit und Partizipation aufbaut.16 Pädagogische Prozesse sind geprägt von dem produktiven Zusammenwirken von Fachkräften und Adressat*innen. Die Resultate dieser Prozesse sind Ergebnisse einer offenen Koproduktion. Den Rahmen bilden häufig wenig formalisierte pädagogische Settings. Damit wird eine pädagogisch ausgerichtete Kriminalitätsprävention zu einem komplexen Evaluationsgegenstand, der aufgrund der wechselseitigen, fluiden Prozesse nicht in statischen Ursachen-Wirkungsschemata beschrieben werden kann. Für eine wirkungsorientierte Evaluation muss zunächst der Gegenstand z. B. mithilfe eines Logischen Modells17 oder in einer anderen systematischen Form beschrieben werden, um die Wirkungszusammenhänge zu plausibilisieren. Die vor diesem Hintergrund beobachteten Effekte können dann im nächsten Schritt zugeordnet werden. Die Evaluation von Programmen und Projekten, die auf die kleine Gruppe von jungen Menschen zielen, die mehrfach mit Straftaten auffällig geworden sind, stehen zusätzlich vor der Herausforderung, dass in diesen Fällen mehrere Institutionen (Polizei, Justiz, Kinder- und Jugendhilfe u. a.) zeitgleich involviert sind, mehrere Maßnahmen parallel staatfinden oder sich teilweise überschneiden und (bestenfalls) die Institutionen noch miteinander kooperieren. Unter diesen komplexen Bedingungen können beobachtete Effekte kaum mehr einzelnen Maßnahmen zugerechnet werden. Dagegen sind standardisierte Programme mit Curricula vergleichsweise einfache Evaluationsgegenstände. Mit Kontrollgruppen und Vorher-Nachher-Befragungen sind hier Evaluationsdesigns möglich, die mit hoher interner Validität 16
Ausführlich hierzu siehe Holthusen & Hoops, 2015, S. 12. Da an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Erstellung Logischer Modelle als Instrument für die Evaluation eingegangen werden kann, sei hier auf den Aufsatz von Yngborn & Hoops, 2018 verwiesen.
17
Prävention – ein verlockendes Konzept mit Nebenwirkungen. Kritische Anmerkungen
365
Wirkungen feststellen können. Da die Aussagekraft aber von einer hohen Programmtreue abhängt, ist die externe Validität, wenn diese Programme in andere Kontexte übertragen und angepasst werden sollen, stark eingeschränkt. Obwohl standardisierte Programme nur für einige Teilbereiche der Kriminalitätsprävention geeignet sind, liegen hier – aufgrund der einfacheren Wirkungsnachweise – mehr entsprechende Evaluationsergebnisse vor.18 Neben der Frage nach Wirksamkeitsnachweisen ist die Frage nach den nichtintendierten Wirkungen ebenso eine methodologische Herausforderung, die trotz ihrer hohen Bedeutung vergleichsweise selten gestellt und noch seltener beantwortet wird.19 Beispiele für nicht-intendierte Effekte sind die bereits oben erwähnte Stigmatisierung oder etwa ein Boxtraining (mit der gewaltpräventiven Intention, Jugendlichen Regeln und Fairness zu vermitteln) mit dem Risiko, dass die Jugendlichen die erlernten Boxtechniken auch außerhalb des Sports nutzen. Insgesamt wird im Fachdiskurs über Kriminalitätsprävention das Thema Evaluation oft auf die Frage nach Wirksamkeit reduziert. Übersehen wird dabei, dass gerade neben Ergebnisevaluationen auch Prozessevaluationen, die z. B. innovative Ansätze begleiten, wichtige Instrumente zur fachlichen Weiterentwicklung und zur Qualitätssicherung darstellen. 5
Ausblick: Prävention – ein anspruchsvolles und voraussetzungsvolles Konzept
In einer Risikogesellschaft wie Deutschland, in der die Individuen mit vielfältigen Unsicherheiten in der Zukunft konfrontiert sind, ist Prävention, die verspricht, Unerwünschtes zu verhindern und Risiken zu reduzieren, ein einleuchtendes Konzept, das sicherlich auch in Zukunft intensiv genutzt werden wird. Insbesondere auf Kriminalität bezogen ist Prävention im Sinne von Verhinderung oder Reduzierung von Straftaten unverzichtbar. Gerade aus diesem Grund ist es notwendig, sich auch kritisch – so die Intention dieses Beitrags – mit dem Präventionskonzept auseinander zu setzen. Denn so einfach, wie das Konzept auf den ersten Blick erscheint: Auf den zweiten Blick ist Prävention doch ein höchst voraussetzungsvolles und anspruchsvolles Konzept, das der Reflektion bedarf. Reflektiert werden muss zunächst über den Gegenstand/das Ereignis, das verhindert werden soll. Wer definiert das Problem und hat die Macht, seine Definition auch durchzusetzen? Wie ist diese Definitionsmacht legitimiert? Welche Normalitätsverständnisse liegen zugrunde? Werden die Perspektiven der Adressat*innen 18 Vgl. z. B. die „Grüne Liste Prävention“ des Landespräventionsrates Niedersachsen, online verfügbar unter www.gruene-liste-praevention.de [18.05.2020]. 19 Vgl. Holthusen et al., 2011, S. 24.
366
Bernd Holthusen
in den Aushandlungsprozessen angemessen einbezogen? Im nächsten Schritt muss über die Prognose, dass etwas Unerwünschtes eintreten wird, reflektiert werden. Wie wahrscheinlich und wie verlässlich ist diese Prognose? Wird das Eintreten bzw. Nichteintreten der Prognose überprüft und falls ja, zu welchem Zeitpunkt/welchen Zeitpunkten? Im nächsten Schritt ist die vorgesehene Präventionsmaßnahme kritisch zu hinterfragen: Ist die Maßnahme geeignet, das prognostizierte Problem in Bezug auf wen, in welcher Form und welcher Situation zu reduzieren bzw. zu vermeiden, wie präzise wird die Zielgruppe tatsächlich erreicht, wer wird nicht erreicht und was sind nicht intendierte/negative Effekte? Notwendig ist also ein sorgfältiges Abwägen zwischen den Chancen und Möglichkeiten von Prävention auf der einen Seite, aber auch zwischen den Risiken und Nebenwirkungen auf der anderen Seite. Ein leichtfertiger Umgang mit Prävention nach dem Motto „viel hilft viel“ oder „je früher, desto besser“, der rasch zu Entgrenzungen und Vorverlagerungen der Präventionsstrategien führt, ist fachlich nicht vertretbar. Letztlich ist mit allen Präventionsansätzen auch eine Ausweitung staatlicher Intervention und Kontrolle verbunden, die immer gewissenhaft mit den angestrebten Intentionen austariert werden muss. Prävention als anspruchs- und voraussetzungsvolles Konzept der Sozialen Arbeit kann nur dann fachgerecht sein, wenn kritisch abwogen und sorgfältig reflektiert wird. Dies ist eine gemeinsame Aufgabe von Fachpraxis und Wissenschaft mit einer notwendigen und möglichst weitgehenden Berücksichtigung und Beteiligung der Adressat*innen. Literaturverzeichnis Beck, U. (1986). Die Risikogesellschaft. Auf den Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Böllert, K. (1995). Zwischen Intervention und Prävention. Neuwied: Luchterhand. Bröckling, U. (2008). Vorbeugen ist besser … Zur Soziologie der Prävention. Behemoth. A Journal on Civilisation (1), 35-48. Abgerufen von https://zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2013-3/Broeckling_2008.pdf [15.04.2020] Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.) (1990). Achter Jugendbericht. Bericht über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe. Bonn: Bonner Universitäts-Buchdruckerei. Caplan, G. (1964). Principles of Preventive Psychiatry. New York: Basic Books. CSU im Bundestag (Hrsg.).(2020). Unsere Politik für einen starken Staat und eine wehrhafte Demokratie – für ein neues Jahrzehnt der Souveränität. 44. Klausurtagung der CSU im Bundestag. 6.-8. Januar 2020 in Kloster Seeon. Abgerufen von https://www.csu-landesgruppe.de/sites/default/files/2020-01/BESCHLUSS_%23seeon20_Sicherheit_Migration.pdf [02.04.2020] Dollinger, B. (2017). Erziehung als Prävention? Anmerkungen zum Verständnis von erzieherischem Handeln als Kriminalitätsvorbeugung. In A. Mensching & S. Kessler
Prävention – ein verlockendes Konzept mit Nebenwirkungen. Kritische Anmerkungen
367
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F Internationale und menschenrechtliche Perspektiven
Grund- und Menschenrechte im Jugendstrafvollzugsrecht. Fragmentarische Gedanken zur Weiterentwicklung des Jugendstrafvollzugs Jochen Goerdeler
1
Eine notwendige Lobhudelei
Philipp Walkenhorst ist Sozialwissenschaftler und dem Jugendstrafrecht – insbesondere dem Jugendstrafvollzugsrecht – zutiefst verbunden. Es hat das Jugendstrafrecht und insbesondere das Vollzugsrecht der letzten 20 Jahre mitgeprägt. Es dürfte wenige geben, die einen ähnlich diskreten aber nachhaltigen Einfluss auf die Ausgestaltung dieses Rechtsbereiches reklamieren können. Dabei zeichnet sich Philipp Walkenhorst durch eine Mischung aus, die bei einflussreichen Menschen eher selten anzutreffen ist: Sein Auftreten ist immer den Adressat*innen und Gesprächspartner*innen gegenüber zugewandt, ausgesprochen freundlich und bescheiden – bei zugleich klarer Positionierung, inhaltlicher Leidenschaft, fachlicher Fundiertheit und großer Streitlust – im Sinne eines engagierten Austausches in der Sache. Typisch für die „Methode Walkenhorst“ ist, dass er in seinen Vorträgen vor Praktiker*innen und Entscheider*innen aller Sparten seine teilweise sehr grundlegende Kritik einerseits so klar und elaboriert vorträgt, dass kein Raum für Zweifel oder Missverständnisse entstehen kann, dies aber im Ton mit einer Verbindlichkeit und Zugewandtheit formuliert, dass Verletzungen ausgeschlossen sind und seine Adressat*innen die „kritischen Zumutungen“ annehmen können. Philipp Walkenhorst hat als Berater an zahlreichen Gesetzgebungsverfahren mitgewirkt, so u. a. an dem 2006 vorgelegten Entwurf des Bundesjustizministeriums (BMJ) für ein (Bundes-) Jugendstrafvollzugsgesetz, den er zusammen mit Frieder Dünkel und der seinerzeitigen Referatsleiterin im BMJ Gudrun Toltzmann vorbereitet hatte.1 Aus dem Entwurf wurde bekanntlich leider nichts: Erst stellten sich die Länder „quer“, dann ging die Gesetzgebungszuständigkeit für den Strafvollzug auf die Länder über. Dennoch diente der Gesetzentwurf als Orientierungspunkt für die nachfolgenden Gesetzgebungsverfahren, und Philipp Walkenhorst wirkte als Berater und Experte an zahlreichen von diesen Verfahren in den Ländern mit. 1
Vgl. Toltzmann, 2004, S. 95 ff.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_22
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Jochen Goerdeler
Als Referent im Justizministerium Schleswig-Holstein hatte ich das Glück und große Vergnügen, mit Philipp Walkenhorst bei der Erarbeitung eines schleswigholsteinischen Jugendarrestvollzugsgesetzes zusammen arbeiten zu können. Mit seiner Unterstützung konnte die damals frisch ins Amt gekommene Hausleitung überzeugt werden, einen bereits ausgearbeiteten, am damaligen informellen Musterentwurf mehrerer Bundesländer orientierten Referentenentwurf noch einmal grundlegend zu überarbeiten. Insbesondere Philipp Walkenhorsts Beurteilung, der vorliegende Entwurf sei „ausgesprochen kustodial“ dürften den seinerzeitigen Staatssekretär überzeugt haben, für die Überarbeitung grünes Licht zu geben. Diese fiel recht umfassend aus,2 und wir konnten einige Punkte in dem Gesetz verankern, die ich auch heute noch als wegweisend für ein Jugendarrestvollzugsgesetz erachte, so insbesondere die Verpflichtung der Anstalt, ein gesamtpädagogisches Konzept mit externer wissenschaftlicher Beratung zu erstellen und zu aktualisieren (§ 3 Abs. 1 JAVollzG SH), die Verpflichtung zur externen Evaluation (§ 59 Abs. 2 JAVollzG SH)3 und andererseits die Verankerung der räumlichen, personellen und organisatorischen Selbstständigkeit der Jugendarrestanstalt (JAA) (§§ 1 S. 1 i. V. m.. 61 Abs. 1 & 2 JAVollzG SH). Die Bedeutung des letzten Punktes ist m. E. nicht zu unterschätzen: Durch diese Garantie konnten bislang alle – durchaus verständlichen – Verlockungen der Justizverwaltung abgewehrt werden, das meist deutlich unter seiner Kapazität belegte Anstaltsgebäude auch für andere Zwecke des Strafvollzuges zu verwenden oder die Arrestanstalt unter die Verwaltungshoheit einer anderen Justizvollzugsanstalt zu stellen. Der kürzlich vorgelegte Entwurf eines Justizvollzugsmodernisierungsgesetzes – durch den in der Hauptsache das Jugendstrafvollzugs- und das Untersuchungshaftvollzugsgesetz an Struktur und Begrifflichkeit des jüngeren LStVollzG angeglichen werden sollen – will diese Selbstständigkeit nun „ankratzen“.4 Zum Alleinstellungsmerkmal Philipp Walkenhorsts gehört ganz grundlegend sein fachlicher Hintergrund: Er ist der einzige Erziehungswissenschaftler, der derart engagiert, beständig und exponiert in diesem Rechtsbereich unterwegs ist, in dem es eben nicht nur um Hilfe für Jugendliche in Not, sondern explizit (auch) um Bestrafung geht und damit implizit auch immer um das Verhältnis von Pädagogik und Erziehungswissenschaft als Profession zur institutionellen Bestrafung, zumal mit einem Instrumentarium, das aus erziehungswissenschaftlicher Sicht wenig geeignet, ja sogar dysfunktional bis schädlich erscheint, in seinen immer noch grundlegenden Strukturen den Anfängen des letzten Jahrhunderts entstammt und sich insgesamt als wenig reformfreudig und pädagogischen Anregungen gegenüber 2
Vgl. Goerdeler, 2013, 350 ff. Eine erste Evaluierung wurde 2018 durch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) vorgelegt: Klatt & Bliesener, 2018 4 So sollen durch Art. 5 Nrn. 2 und 17 die Regelungen der §§ 1 und 61 JAVollzG SH neu gefasst werden, LT-Unterrichtung 19/212 v. 02.03.2020, S. 181 & 183. 3
Grund- und Menschenrechte im Jugendstrafvollzugsrecht
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nicht gerade als aufgeschlossen erweist. Von diesen widrigen Umständen hat sich Philipp Walkenhorst weder beeindrucken noch abhalten lassen, im Gegenteil hat er stets die Spielräume für erziehungswissenschaftliche Einflussnahme und Mitgestaltung gesucht und erweitert. Dabei agiert er in einer menschenfreundlichen Haltung, auch und gerade den gestrandeten Existenzen gegenüber, und als Streiter für die Demokratie. Die von ihm vertretene Erziehungswissenschaft hat eine Richtung, auf diese hinarbeitet, und das ist die Erziehung zu einer mündigen und „demokratiegeeigneten“ Persönlichkeit. Er hat es geschafft, Menschen zu begeistern, mit seinem Engagement „anzustecken“. Sein Wirken setzt sich unter anderem durch die Herausgeberinnen dieser Festschrift fort. Das Wirken Philipp Walkenhorsts bietet einen hervorragenden Anlass und Hintergrund, über die fachlichen und interdisziplinären Schnittstellen zu reflektieren, die für das Jugendstrafrecht kennzeichnend sind. 2 2.1
Grundrechtliche Perspektiven auf das Jugendstrafvollzugrecht Grundrechtsgeltung im Jugendstrafvollzug
Gefangene im Jugendstrafvollzug sind uneingeschränkt Grundrechtsträger*innen – diese heute unangefochtene Feststellung war bekanntlich nicht immer selbstverständlich: Erst mit seiner Grundsatzentscheidung vom 14. März 19725 stellte das BVerfG in Abkehr von der bis dahin bemühten Rechtsfigur der Besonderen Gewaltverhältnisse6 fest, dass Grundrechte auch im Strafvollzugsverhältnis gelten. Der erste Leitsatz der Entscheidung lautet schlicht: Auch die Grundrechte von Strafgefangenen können nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Danach hat es weitere 34 Jahre gebraucht, bis erneut das BVerfG mit seinem Urteil vom 31. Mai 20067 dafür sorgte, dass die „Gesetzlosigkeit des Jugendstrafvollzuges“8 beendet wird.9 Bis dahin stützte sich der Vollzug der Jugendstrafe nur auf einige punktuelle Regelungen im JGG und StVollzG und war im Übrigen lediglich durch eine Verwaltungsvorschrift (VVJug) geregelt.10 Das BVerfG sieht den Jugendstrafvollzug gegenüber dem Vollzug der Freiheitsstrafe als so andersartig und eigenständig an, dass er nicht im Wege der Auslegung oder Analogiebildung durch das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) mit-geregelt werde; er bedürfe 5
BVerfGE 33, 1 [Strafgefangene] AK StVollzG-Goerdeler, II § 4 Rn 4-6 mwN. 7 BVerfGE 116, 69 [Jugendstrafvollzug] 8 Vgl. Pollähne, Bammann & Fest, 2004. 9 Zur Gesetzgebungsgeschichte: Ostendorf, 2016, Vorbemerkung Rn 8; Höflich, 2004, S. 91-94. 10 Pollähne, 2004, S. 45 ff. 6
374
Jochen Goerdeler
daher einer eigenen gesetzlichen Grundlage. Neben weiteren inhaltlichen Vorgaben11 setzte das BVerfG dem Gesetzgeber eine Frist für die Beendigung der Gesetzlosigkeit bis zum 1. Januar 2008. Das BVerfG erzwang damit, dass fast 60 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes der Vorbehalt des Gesetzes auch für Eingriffe in die Grundrechte von Jugendstrafgefangenen Geltung erhielt. 2.2
Die Länder als Vollzugsgesetzgeber
Beinahe zeitgleich mit dieser Entscheidung übertrug die Föderalismusreform12 die Gesetzgebungszuständigkeit für den Strafvollzug vom Bund auf die Länder. Der vollzugliche Gesetzgebungsmotor lief bzw. läuft seither auf Hochtouren: Mindestens 68 Vollzugsgesetze haben die Länder für den Jugendstrafvollzug, den Vollzug der Untersuchungshaft, der Freiheitsstrafe, der Sicherungsverwahrung und – last but not least – des Jugendarrestes erlassen und teilweise mehrfach angepasst. Die Bewertung dieser „periodo especial“ fällt zumeist verhalten pessimistisch aus. Zwar wird anerkannt, dass der zunächst befürchtete Wettbewerb der Schäbigkeit nicht eingetreten ist, brauchbare Gesetze entstanden sind und die Länder überwiegend verantwortlich mit dem Thema umgehen, kritisiert wird aber die Rechtszersplitterung und eine Marginalisierung der Strafvollzugswissenschaft.13 Gegen diese negative Bewertung der Landesgesetzgebung kann eingewendet werden: Mag es an dem wachrüttelnden Schock nach dem Siegburger Foltermord liegen, an der nun alleinigen Verantwortung der Länder oder nur eine zufällige Korrelation sein: Die Instrumentalisierung des Strafvollzug zu politischen Zwecken – erinnert sei an den von Roland Koch propagierten „härtesten Strafvollzug in Deutschland“ – ist seither zumindest leiser geworden. Andererseits ist es nicht richtig, dass es an fortschrittlichen Anstößen für eine Weiterentwicklung des Strafvollzugsrechtes fehlt: Gerade das BVerfG ist hier weiterhin ein wirkmächtiger Antreiber, hinzukommen menschenrechtliche Anstöße auf internationaler Ebene, kriminologische Impulse und rechtspolitische Anstöße wie die Diskussionen um Resozialisierungsgesetze, die Einbeziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherungen, der „neue Abolitionismus“ oder um eine familienfreundliche Vollzugsgestaltung. Langweilig ist es seither nicht geworden. Gerade aus Sicht des Jugendstrafvollzuges muss festgestellt werden: Mit Gesetz ist besser als ohne. Solange die Zuständigkeit für die Gesetzgebung beim 11 Vgl. Ostendorf, NJW 2006, 2073-2074; Goerdeler & Pollähne, 2007, S. 55-76; Dünkel & Cornel, FS 2019, 356, Fn 10. 12 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, BGBl. I 2006, S. 2034. 13 Cornel & Dünkel, FS 2019, 356 f. Prantl, 2017; ders., 2020; Ostendorf, ZJJ 2015, 112 f.
Grund- und Menschenrechte im Jugendstrafvollzugsrecht
375
Bund lag, war sie auch ausgesprochen träge. Dafür mag die lange und letztlich erfolglose Gesetzgebungsgeschichte des Jugendstrafvollzugsgesetzes ein beredtes Beispiel sein. Die Gesetzgebungsverfahren der Länder sind hingegen vergleichsweise unaufwändig, schnell und flexibel und ermöglichen es damit, zu gesetzgeberischen Ergebnissen zu kommen. Und schließlich ist nicht nur der „Wettbewerb der Schäbigkeit“ ausgeblieben, sondern im Gegenteil eine gewisse Vielfalt an positiven Reformansätzen entstanden,14 die ein wechselseitiges Lernen und damit auch eine positive Entwicklung des Vollzugsrechtes ermöglichen. Stellt man dem heutigen Zustand der Vielfältigkeit den früheren der gesetzeslosen Gesetzgebungskompetenz des Bundes gegenüber, so ist eindeutig dem heutigen Zustand der Vorzug zu geben. 2.3
„Leitlinienkompetenz des Bundes“
Es bleibt dennoch „struktureller Unfug“, dass der Bund die Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht hat, zu dem die Verhängung von Jugend- und Freiheitsstrafe gehört, die Regelungen über deren Vollzug aber in den Händen der Länder liegen. Solange es ein bundeseinheitliches (Jugend-) Strafrecht gibt, muss das Wesen der Jugend- und der Freiheitsstrafe auch in allen Bundesländern das gleiche sein. Zu Recht fordern beispielsweise Cornel & Dünkel daher eine stärkere lenkende Rolle des Bundes.15 Für die Sicherheitsverwahrung hat das BVerfG – jeder Trennung der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zum Trotz – genau dieses vorgegeben. Das Gericht führt aus:16 Aus Sicht des Freiheitsschutzes spielt es insoweit keine Rolle, dass der Bundesgesetzgeber seit der Föderalismusreform im Jahr 2006 nicht mehr über die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug verfügt. Wenn er sich im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG für ein zweispuriges Sanktionensystem und den Einsatz einer so einschneidenden freiheitsentziehenden Maßnahme wie der Sicherungsverwahrung entscheidet, muss er die wesentlichen Leitlinien des freiheitsorientierten und therapiegerichteten Gesamtkonzepts, das der Sicherungsverwahrung von Verfassungs wegen zugrundezulegen ist, selbst regeln und sicherstellen, dass diese konzeptionelle Ausrichtung der Sicherungsverwahrung nicht durch landesrechtliche Regelungen unterlaufen werden kann.
14
Darauf weisen auch Cornel & Dünkel aaO hin. Cornel & Dünkel, FS 2019, 357. 16 BVerfGE 128, 326 [Sicherungsverwahrung, EGMR], 387 f. 15
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Bundes- und Landesgesetzgeber stehen gemeinsam in der Pflicht, ein normatives Regelungskonzept zu schaffen, welches den dargelegten Anforderungen genügt. Ihre Aufgabe ist es, unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Kompetenzgefüges ein freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept der Sicherungsverwahrung zu entwickeln. Dabei ist der Bundesgesetzgeber angesichts seiner konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit für den Bereich des Strafrechts nach § 74 Abs. 1 Nr. 1 GG darauf beschränkt – aber, wenn er am Institut der Sicherungsverwahrung grundsätzlich festhalten will, auch gehalten – die wesentlichen Leitlinien vorzugeben.
Das Urteil hat zur Einführung des § 66c StGB geführt.17 In der Sache gibt es keine trennscharfe Begründung dafür, warum diese Richtlinienkompetenz des Bundes nur für die Sicherungsverwahrung und nicht auch für andere freiheitsentziehende Sanktionen des Strafrechts gelten sollte. So lassen sich ohne jeden Sinnverlust in der zitierten Passage die Worte „Sicherungsverwahrung“ durch „Jugendstrafe“ und „therapiegerichtet“ durch „behandlungsorientiert“ oder „förderorientiert“ ersetzen. Das BVerfG begründet eine Verpflichtung des Bundes zum gesetzgeberischen Handeln mit einem zum Entscheidungszeitpunkt ausgemachten strukturell angelegten verfassungswidrigen Zustandes des Vollzuges der Sicherungsverwahrung.18 Aus der Entscheidung lassen sich keine Gründe dafür erkennen, dass der Bund nicht auch bei anderen freiheitsentziehenden strafrechtlichen Sanktionen zur Regelung der wesentlichen Leitlinien der Sanktionen berechtigt sein sollte (und wenn ein ähnlicher verfassungswidriger Zustand ausgemacht würde, auch zum Handeln verpflichtet wäre). Man wird also auf diese Entscheidung eine generelle Richtlinienkompetenz der Bundes für (zumindest) die freiheitsentziehenden Sanktionen des Strafrechts stützen können. Perspektivisch sollte daher angestrebt werden, eine vergleichbare Ziel- und Strukturbestimmung – freilich in zeitgemäßer, moderner Form – wieder in das JGG einzufügen; der nach der Föderalismusreform geleerte § 91 JGG steht zur Auffüllung zur Verfügung. Ohne diese gesetzlich fundierte Richtlinien- oder Grundsatzkompetenz wird die von Cornel & Dünkel geforderte stärkere Steuerungskompetenz des Bundes nur schwer zu etablieren sein. (Dass angesichts der erforderlichen Mitwirkung der Länder eine solche Regelung politisch nur schwer erreichbar ist, steht auf einem anderen Blatt). Insofern kommt dem Bund bereits gegenwärtig eine gewisse Steuerungskompetenz zu, weil dieser die BRD völkerrechtlich und außenpolitisch vertritt und damit an der Aushandlung und Ratifizierung von Konventionen, Richtlinien und Empfehlungen beteiligt ist, die dann wiederum auch binnenrechtliche Wirkung entfalten.
17 Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung v. 05.12.2012, BGBl. I 2012, S. 2425 ff. 18 BVerfGE 128, 326, 387 f.
Grund- und Menschenrechte im Jugendstrafvollzugsrecht
2.4
377
Grundrechtliche Baustellen
Aus grundrechtlicher Sicht gibt es im Jugendstrafvollzugsrecht noch einige „Baustellen“, bei denen sich eine Fortentwicklung der Gesetze lohnen würde. Hier sollen ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige angesprochen werden. 2.4.1
Pädagogische Konzeptionalisierung
(Jugend-)Strafgefangene haben ein Grundrecht auf Förderung der sozialen Wiedereingliederung.19 Für das deutsche Jugendstrafrecht ist zugleich der Erziehungsgedanke konstitutiv. Seit dem 1. Januar 2008 bestimmt § 2 Abs. 1 JGG: Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. Demnach gilt der Erziehungsgedanke auch für den Vollzug der Jugendstrafe und ist der Ausgestaltung der Jugendstrafvollzugsgesetze zugrunde zu legen.20 Allerdings wird die Gegenwart des Jugendstrafvollzugs nicht allein durch den Erziehungsgedanken geprägt, sondern – durchaus im Sinne der normativen Kraft des Faktischen – auch von Institutionen, Verwaltungsstrukturen und -traditionen sowie Erziehungsverständnissen, die rund 100 Jahre alt sind. Es stellt sich die Frage: Gäbe es all dies nicht und würden wir heute im Interesse der verurteilten Jugendlichen und Heranwachsenden und der Gesellschaft insgesamt ein neues System des Vollzuges der Jugendstrafe aufbauen – wie sähe dieses aus? Wie müssten Institutionen beschaffen sein, die ausgehend von den vorhandenen erziehungswissenschaftlichen und kriminologischen Erkenntnissen für ein Klientel mit oft erheblichen Förderbedarfen und herausforderndem Verhalten optimale oder zumindest gute Rahmenbedingungen bieten? Sich diesem Gedankenexperiment hinzugeben, könnte wertvolle Entwicklungsperspektiven aufzeigen und deutlich machen, welche überkommenen Zöpfe abgeschnitten werden sollten – auch wenn die reale Vollzugsgestaltung selbstverständlich immer eine Vermittlung zwischen Vorhandenem und Ideal darstellt. Philipp Walkenhorst selbst hat hierzu beständig
19 20
BVerfG 116, 69 85 f; BVerfGE 35, 235, 236. Ostendorf, JGG, § 2 Rn 8. Goerdeler, 2008, S. 143.
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wertvolle Impulse gegeben.21 Auch von anderer Seite liegen hierzu fundierte Hinweise und Empfehlungen vor, 22 auf die an dieser Stelle verweisen werden soll. -
-
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Das Verständnis als pädagogische Institution sollte jede Jugendanstalt in einem pädagogischen Gesamtkonzept niederlegen, das alle Aspekte der Vollzugsgestaltung anspricht und das in einem partizipativen Prozess zusammen mit einer externen erziehungswissenschaftlichen Beratung erarbeitet und in regelmäßigen Zeitabständen fortgeschrieben wird.23 In der Umsetzung des pädagogischen Angebotes in der Anstalt sollte regelmäßig auch auf Leistungen von externen Einrichtungen zurückgegriffen werden.24 Es sollte ein regelmäßiger Austausch mit erziehungswissenschaftlichen Einrichtungen, Lehrstühlen etc. etabliert werden, von dem beide Seiten durch die Einbringung von praktischer Erfahrung einerseits und wissenschaftlichen Impulsen andererseits profitieren. Die Umsetzung des Konzeptes, die Erreichung der weiteren Vollzugsaufgaben und das Anstaltsklima sollten in regelmäßigen Zeitabständen von einer externen wissenschaftlichen Institution evaluiert werden.25
2.4.2
Elterliche Mitwirkung
Das Erziehungsrecht gem. Art 6 Abs. 2 S. 1 GG nehmen die Eltern treuhänderisch für ihre Kinder als Individualrecht gegenüber hoheitlichen Eingriffen wahr. Dort wo – wie im Jugendstrafrecht26 oder im staatlichen Schulwesen, das in Art. 7 GG eine explizite Verankerung im GG gefunden hat – ein hoheitlicher Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht verfassungsrechtlich zulässig und geboten ist, wird das elterliche Erziehungsrecht nicht ersetzt, vielmehr ist ein Ausgleich beider 21 Bspw. Walkenhorst, P. (2000). Animative Freizeitgestaltung im Strafvollzug als pädagogische Herausforderung; ders. (2004), Leben in der „schwierigen Freiheit“, Skizzen zum eigentlichen Fluchtpunkt pädagogischer Arbeit im Jugendstrafvollzug; ders. (2007). Jugendstrafvollzug und Nachhaltigkeit; ders. (2015). Pädagogisches Denken und Handeln im Jugendstrafvollzug; ders. & Stossum, A. (2015) Partizipation als vollzugliche Gestaltungsaufgabe; Walkenhorst, P. (2016), Überlegungen zur Bestimmung von Erziehung und Förderung im Jugendvollzug; Walkenhorst, P., Roos, S. & Kaplan, A. (2016). Außenkontakte; Walkenhorst, P. & Fehrmann, S. (2018). Jugendstrafvollzug, Jugendarrest, Jugenduntersuchungshaft: Grundlegungen – Wirkungen – Perspektiven. 22 U. a. DVJJ, Mindeststandards für den Jugendstrafvollzug ZJJ 2007, S. 94; Walter, J., 2006a; Walter, J., 2006b. 23 Vgl. § 3 Abs. 1 JAVollzG SH. 24 So ausdrücklich § 7 Abs. 2 JStVollzG SH. 25 Vgl. § 59 Abs. 2 JAVollzG SH. 26 Die verfassungsrechtliche Legitimation findet sich im staatlichen Strafanspruch; Für das Jugendstrafverfahren: BVerfGE 107, 104; Walter/Wilms, NStZ 2004, 600, 603f. Nicht überzeugend ist die Herleitung aus dem sog. staatlichen Wächteramt gem. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG; BVerfG, vgl. Wedler.
Grund- und Menschenrechte im Jugendstrafvollzugsrecht
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Rechtspositionen herzustellen.27 Die Eltern sind also nicht von der erzieherischen Gestaltung ausgeschlossen, sondern aktiv in diese einzubeziehen. Jedenfalls impliziert die Jugendstrafe gerade keinen Entzug des elterlichen Erziehungsrechts. der diese von einer Mitwirkung ausschließen würde.28 Die Beteiligung der Eltern ist in den JStVollzG bislang allenfalls ansatzweise geregelt, um nicht zu sagen: angedeutet. Eher sind einzelne punktuelle oftmals auch unbestimmt formulierte Regelungen zu finden. So ist weder bei der Stellung des Gefangenen noch bei der Feststellung des Erziehungs- und Förderbedarfs noch bei der Festlegung des Vollzugsplans etwas über die Einbeziehung der Eltern geregelt. 29 Ein besonders sensibler Punkt ist die Beteiligung bei medizinischen Behandlungen. Ein ärztlicher Heileingriff setzt regelmäßig eine wirksame Einwilligung voraus – das Unterbringungs- oder Vollzugsverhältnis suspendiert hiervon nicht.30 Bei Minderjährigen ist daher die Einwilligung der Personensorgeberechtigten erforderlich – auch wenn keine ausdrückliche Ablehnung der Behandlungsmaßnahme erkennbar ist. Jedenfalls ist es nicht an der Anstaltsleitung, diese Einwilligung zu ersetzen. Dahingehende ausdrückliche Regelungen fehlen bisher.31 Aber auch darüber hinaus muss darüber nachgedacht werden, ob Eltern nicht – wie in der Schule – umfassender und institutionell in die Gestaltung des Jugendstrafvollzuges einbezogen werden. Das betrifft beispielsweise Sprechstunden und die Einrichtung von Elternvertretungen oder -beiräten. Das wäre zwar mit Aufwand verbunden und potenziell konfliktbehaftet, bietet aber auch Chancen: bedenkt man, dass die meisten Jugendstrafgefangenen (gerade die Minderjährigen) nach der Haft wieder in die Familie zurückkehren oder jedenfalls mit dieser in Beziehung verbleiben, so bietet die Einbeziehung der Eltern die Chance, in den sozialen Grundgefügen positive und nachhaltige Veränderungen herbeizuführen.
27
BVerfGE 107, 104, 119. BVerfGE 107, 104, 119; Ostendorf, 2016, § 1 Rn 44. 29 Ostendorf, 2016, § 1 Rn 44. 30 Das BVerfG hat kürzlich die Autonomie der in Psychiatrie und Maßregelvollzug Untergebrachten bei ärztlichen Zwangsbehandlungen gestärkt, indem es klargestellt hat, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen kein integraler Bestandteil einer Unterbringung sind und unabhängig von der Unterbringungsentscheidung einer gesonderten richterlichen Genehmigung bedürfen. Die Rechtsprechung ist auch auf den Strafvollzug übertragbar und hat zur Anpassung zahlreicher Justizvollzugsgesetze geführt. BVerfGE 128, 283 – 322 [MVollzG RP]; 129, 269 – 283 [UBG BW]; 133, 112 – 143 [SächsPsychKG]; 142, 313 – 353; vgl. auch BGH Beschl. v. 20.6.1012 – XII ZB 99/12, XII 130/12 [BGB-Unterbringung]. 31 Die Entscheidungen des BVerfG und die gesetzlichen Anpassungen beziehen sich auf eine Überwindung des natürlichen Willens des Betroffenen bei fehlender Einwilligungsfähigkeit, knüpfen also an einen expliziten Widerstand gegen die Behandlungsmaßnahme an. 28
380 2.4.3
Jochen Goerdeler
Allgemeine Mitwirkungspflicht
Die Jugendstrafvollzugsgesetze sehen regelmäßig vor, dass die Gefangenen „verpflichtet sind, an der Erreichung des Vollzugsziels mitzuwirken.“ Diese allgemeine Mitwirkungspflicht ist eine eklatante Ungleichbehandlung gegenüber den Gefangenen im Vollzug der Freiheitsstrafe. Sehr bewusst ist z. B. in § 4 Abs. 1 StVollzG im Indikativ formuliert worden: Der Gefangene wirkt an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugsziels mit. Damit ist programmatisch eine aktive Position des Gefangenen und eine objektive Verpflichtung der Anstalt bezeichnet worden, der als Subjekt zu behandeln und einzubeziehen ist, dem damit aber auch Verantwortung zuerkannt wird. Die meisten Strafvollzugsgesetze der Länder sehen ähnliche Formulierungen vor.32 Die allgemeine Mitwirkungspflicht des Jugendstrafvollzugs ist das Gegenteil: Sie wirft die Gefangenen auf den Status des Befehlsempfängers zurück. Sie ist aus pädagogischer Sicht unangebracht, verstößt gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot und lädt zu Missverständnissen beim Umgang mit den Gefangenen geradezu sein.33 Sie sollte daher aufgegeben und durch die Formulierung des § 4 Abs. 1 StVollzG ersetzt werden. 2.4.4
Kommunikation mit der Außenwelt
Kommunikation mit der sozialen Umwelt ist ein menschliches Grundbedürfnis, das bei jungen Menschen noch eine gesteigerte Bedeutung hat34. Grundrechtlich wird diese Kommunikation vom Allgemeinen Persönlichkeitsrecht umfasst; in diversen Einzelaspekten ist sie Gegenstand von speziellen Verbürgungen. Zwar ist die Kommunikation mit der Außenwelt im Strafvollzug von großer Bedeutung für die gesellschaftliche Wiedereingliederung,35 die grundrechtliche Schutzverankerung wird man hingegen grundlegender und unabhängig von einem instrumentellen Funktionszusammenhang verorten müssen. Sowohl die gesetzliche als auch die tatsächliche Ausgestaltung der Kommunikationsmöglichkeiten im Jugendstrafvollzug sind hiergegen oftmals defizitär. Die gesetzlichen Regelungen sehen zumeist lediglich eine Kann-Bestimmung vor, die den Gefangenen allenfalls ein Recht auf ermessenfehlerfreie Entscheidung garantiert.36 Es wäre an der Zeit, den Gefangenen einen echten gesetzlichen An32
SBJL-Jehle, § 4 Rn 7; AK-Goerdeler, § 4 Rn 42 ff. DVJJ, 2007, S. 94; Ostendorf, 2015, S. 115 f.; Ostendorf, 2016, § 1 Rnn 26 ff; Walter, J. 2006a, S. 97. 34 BVerfGE 116, 69, 87 f. 35 Darauf stellt das BVerfG in seinem Beschluss zur Höhe der Telefontarife im Strafvollzug im Wesentlichen ab, BVerfG, Beschl. v. 08.11.2017 – 2 BvR 2221/16 = NJW 2018, 144 – 145 = FS 2018, 168 – 170. 36 Walkenhorst, Roos & Kaplan, 2016, § 7 Rn 52. 33
Grund- und Menschenrechte im Jugendstrafvollzugsrecht
381
spruch auf Telefongespräche einzuräumen37 – in einem definierten Umfang und unter klaren Voraussetzungen. Dasselbe gilt für die Nutzung des Internets und der sozialen Medien. Die technischen Formen der Kommunikation haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Jugendliche als Digital Natives wickeln ihre alltägliche Kommunikation und ihre soziale Teilhabe vor allem über die sozialen Medien ab. Primäre Informationsquelle für alle Arten von Informationen sind nicht mehr Druckerzeugnisse, sondern das Internet. Daher ist es nicht mehr zeitgemäß, die Kommunikation in den Vollzugsgesetzen vor allem über Briefverkehr und Telefon abzubilden. In den Jugendstrafvollzugsgesetzen fehlen hierzu entweder Regelungen oder sie räumen lediglich der Anstalt ein sehr weites Ermessen ein, „andere Formen der Telekommunikation“ zuzulassen.38 Den Jugendstrafgefangenen sollte daher ein Anspruch auf telekommunikative Interaktion mit der Außenwelt eingeräumt werden. Die in vielen Anstalten bestehende Struktur, zur Nutzung von Telefonverbindungen zum Abschluss eines Vertrages mit einem Monopolanbieter zu deutlich überteuerten Preisen gezwungen zu sein, war in den letzten Jahren bereits Gegenstand deutlicher Kritik und einiger gerichtlicher Entscheidungen.39 In Zeiten, in denen Privatpersonen ebenso wie Firmen und Behörden günstige Flat-Tarife nutzen, ist es umso unverständlicher, wenn Gefangenen für Telefongespräche Tarife aufgenötigt werden, die deutlich über den in Freiheit üblichen Kosten liegen und ihnen schon aus finanziellen Gründen die Nutzung des Telefonangebots erheblich erschweren. Im Sinne einer Förderung der Kommunikation sollte zugunsten der Gefangenen von den Möglichkeiten günstiger Flat-Tarife oder sogar kostenloser Angebote Gebrauch gemacht werden. 2.4.5
Rechtsschutz
Eine der zentralen Forderungen des BverfG für das zu schaffende Recht des Jugendstrafvollzugs war die Sicherstellung eines effektiven Rechtsschutzsystems.40 Hierzu führte das Gericht aus: Die gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes darf auch hier den Zugang zum Gericht nicht in unverhältnismäßiger, durch Sachgründe nicht gerechtfertigter Weise erschweren (vgl. BVerfGE 10, 264 [267]; 88, 118 [124], m.w.N.) und muss daher auf die typische Situation und die davon abhängigen Möglichkeiten der Rechtsschutzsuchenden Rücksicht nehmen. [..] Die im Jugendstrafvollzug Inhaftierten sind zudem 37
So auch AK-Knauer, II § 30 Rn 4. Walkenhorst, Roos & Kaplan, 2016, § 7 Rn 54. Zuletzt BVerfG Beschl. v. 8.11.2017 – 2 BvR 2221/16; Oelbermann, StV 2018, 624; Lorenz, HRRS 2018, 72 40 BVerfGE 116, 69, 88 f. 38 39
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typischerweise besonders ungeübt im Umgang mit Institutionen und Schriftsprache; zu geeignetem schriftlichen Ausdruck sind sie häufig überhaupt nicht fähig. Ihre Verweisung auf ein regelmäßig ortsfernes, erst- und letztinstanzlich entscheidendes Obergericht, ohne besondere Vorkehrungen für die Möglichkeit mündlicher Kommunikation, wird dem – auch im Vergleich mit den für Gefangene im Erwachsenenstrafvollzug vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten – nicht gerecht [..].
§ 92 JGG sieht vor, dass über die Rechtsmittel Angelegenheiten des Jugendstrafvollzugs, Jugendarrests etc. die für die Anstalt örtlich zuständige Jugendkammer am Landgericht durch eine*n Einzelrichter*in entscheidet (Abs. 2 & 4). Das Verfahren ist ein schriftliches; der Jugendstrafgefangene ist jedoch auf seinen Antrag hin anzuhören (§ 92 Abs. 3 JGG).41 Diese Verfahrensgestaltung scheint möglicherweise nicht zu dem vom BVerfG gewollten niedrigschwelligen Rechtsschutzsystem geführt zu haben. Denn während beispielsweise in juris jede Menge Gerichtsentscheidungen der Strafvollstreckungskammern zum Vollzug der Freiheitsstrafe und anderer Formen des Freiheitsentzuges zu finden sind, gibt es kaum Vollzugsentscheidungen aus dem Bereich des Jugendstrafvollzuges (noch weniger über den Jugendarrest). Möglicherweise ist das (Land-) Gericht noch zu weit und das (durch einen schriftlichen Antrag zu initiierende) Verfahren noch zu förmlich, um von Jugendstrafgefangenen effektiv in Anspruch genommen werden zu können. Ob dies so ist, sollte näher untersucht werden. Bestätigt sich die Vermutung, wäre zu überlegen, ob nicht doch die Besonderen Vollstreckungsleiter gem. § 85 Abs. 2 JGG der zuständige Spruchkörper und das Verfahren stärker durch mündliche Elemente und eine obligatorische Anhörung geprägt sein sollten. 2.5
Evidenzbasierter Vollzug
Das BVerfG verpflichtet den Gesetzgeber dazu, dem (Jugend-) Strafvollzug ein Vollzugsgesetz zugrunde zu legen, das auf das Ziel der sozialen Reintegration ausgerichtet ist und dem ein wirksames Resozialisierungskonzept zugrunde liegt.42 Bei der gesetzlichen Ausgestaltung muss sich der Gesetzgeber am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse orientieren und auch das vorhandene Erfahrungswissen heranziehen.43 Dazu müsse der Gesetzgeber [...] sich selbst und den mit der Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen befassten Behörden die Möglichkeit sichern, aus Erfahrungen mit der jeweiligen gesetzlichen 41 Zu den Überlegungen bei der Gesetzesgenese vgl. Rose in Ostendorf, Jugendstrafvollzugsrecht, § 11 Rn 9. 42 BVerfGE 116, 69, 88. 43 BVerfGE 116, 69, 90.
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Ausgestaltung des Vollzuges und der Art und Weise, in der die gesetzlichen Vorgaben angewendet werden, und dem Vergleich mit entsprechenden Erfahrungen außerhalb des eigenen räumlichen Kompetenzbereichs zu lernen. In diesem Zusammenhang liegt vor allem die Erhebung aussagefähiger, auf Vergleichbarkeit angelegter Daten nahe, die bis hinunter auf die Ebene der einzelnen Anstalten eine Feststellung und Bewertung der Erfolge und Misserfolge des Vollzuges -- insbesondere der Rückfallhäufigkeiten -- sowie die gezielte Erforschung der hierfür verantwortlichen Faktoren ermöglichen.44
Der Gesetzgeber sei zur Beobachtung und ggf. nach Maßgabe der Beobachtungsergebnisse auch zur Nachbesserung verpflichtet.45 Damit hat das BVerfG den Ländern einen deutlichen Auftrag zur empirischen Fundierung des Jugendstrafvollzuges gegeben. Viel ist seither in Gang gekommen.46 Mitunter hat es auch Rückschritte gegeben (z. B. Einstellung der periodischen Sicherheitsberichte der Bundesregierung und der Rückfallstatistiken47), und perfekt ist der gegenwärtige Zustand sicher nicht. So hat der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten kürzlich umfassende Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kriminalstatistiken herausgegeben.48 Der Auftrag des BVerfG scheint zunächst stringent auf die Überprüfung der Wirksamkeit des (Behandlungs-)Strafvollzuges im Sinne von Rückfälligkeit ausgerichtet zu sein. Erforderlich ist aber, diesen Auftrag zur Evidenzbasierung vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch auf andere Aspekte der Vollzugsgestaltung zu beziehen. Es geht auch um die Frage, ob gesetzlich bestimmte Beschränkungen geeignet und erforderlich sind. Und je grundrechtsintensiver derartige Beschränkungen im Vollzug sind, desto wichtiger ist der empirische Beleg ihrer Erforderlichkeit. Neben Statistiken, die kontinuierlich die Belegungsentwicklung des Vollzuges zeigen, sind insbesondere auch solche erforderlich, die das anstaltsinterne Klima abbilden, namentlich die Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen, der Anwendung von unmittelbarem Zwang oder von Disziplinarmaßnahmen. Neben laufenden Statistiken sind insbesondere vergleichende Untersuchungen bestimmter Vollzugsaspekte notwendig; nicht nur Förderangebote oder andere Behandlungsmaßnahmen können auf ihre Wirksamkeit untersucht werden, auch die Effekte anderer Aspekte der Vollzugsgestaltung können evaluiert werden – und je grundrechtsrelevanter solche Regelungen und Maßnahmen sind, desto dringender müssen sie in Hinblick auf ihre Erforderlichkeit bewertet werden. Die 44
BVerfGE 116, 69, 91. BVerfGE 116, 69, 91. 46 Vgl. u. a. Kerner 2015; Lobitz & Pauli 2016; Suhling, 2016; Suhling., 2018; Pauli, Stoll, Prätor, Lobitz & Wirth, 2019; Heinz 2019. 47 Vgl. Wirth, 2017 48 Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten, 2020. 45
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„neue Vielfältigkeit“ der Landesgesetze erlaubt hier vergleichende Betrachtungen über die Ländergrenzen hinweg, gerade bei unterschiedlichen Regelungen von Standardmaßnahmen. Die Praxis der Lockerungen und des Offenen Vollzuges, die Anwendung von Sicherungs- und Zwangsmaßnahmen, die Arbeitspflicht und der Schusswaffen sollten ebenfalls Gegenstand vergleichender Untersuchungen sein. 3
Internationalisierung
Waren bisher gerade das Strafrecht und der Strafvollzug der Inbegriff nationalstaatlicher Rechtsetzung, so muss für die letzten Jahrzehnte festgestellt werden, dass in zunehmendem Maße auch die internationale Rechtsentwicklung auf den (Jugend-) Strafvollzug Einfluss nimmt. Diese Einflussnahme spielt sich in der Regel eher subtil ab, wirkt eher indirekt; nur punktuell führt sie unmittelbar zu Entscheidungen. Welcher Macht das internationale Rechtssystem mitunter entfalten kann, hat sich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur nachträglichen Entfristung der Sicherungsverwahrung gezeigt: Sie nötigte das BVerfG zu einer 180-Grad-Wende seines bisherigen Umgangs mit der Sicherungsverwahrung und führte zur Entlassung zahlreicher SVUntergebrachter. Auf unterschiedlichen Ebenen durchdringen internationale Regelungen, die vor allem einen menschenrechtlichen Ausgangspunkt haben, inzwischen auch das (Jugend-) Strafvollzugsrecht. 3.1
Bestehende menschenrechtliche Regelungen
Diese internationalen Regelungen, die das Jugendstrafrecht und den Jugendstrafvollzug betreffen, lassen sich nach mehreren Gesichtspunkten sortieren: -
Die völkerrechtliche Struktur, in der die Regelungen entstanden sind (Akteure), Die Inhalte Verbindlichkeit und Implementierung in Nationales Recht Begleitendes institutionelles Gefüge
Als Akteure sind insbesondere die Vereinten Nationen (VN) und der Europarat zu benennen, aber auch die Europäische Union (EU) hat sich die in jüngerer Zeit mit dem Jugendstrafrecht befasst. Auf der inhaltlichen Ebene kann grob unterschieden werden zwischen den Deklarationen allgemeiner Grund- und Menschenrechte, themenspezifischen
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Konventionen und den konkreten Empfehlungen und Standards zur Umsetzung dieser Konventionen. Zu den menschenrechtlichen „Grundwerken“ gehören auf VN-Ebene die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte49 und vor allem der Internationale Pakt über bürgerliche und private Rechte50, auf Europaratsebene die Europäische Menschenrechtskonvention51 und die EU-Grundrechtecharta52. Zur Konkretisierung und um den Schutz bestimmter, besonders vulnerabler Gruppen zu verbessern, haben vor allem die VN und der Europarat eine Vielzahl themenspezifischer Konventionen initiiert, die teilweise punktuell, teilweise umfassend das Jugendstrafrecht und den Jugendstrafvollzug betreffen. Für den (Jugend-)Strafvollzug sind insbesondere die Anti-Folter-Konventionen der VN53 sowie des Euroapartes54 bedeutsam, die nicht nur Folter im engeren Verständnis unterbinden sollen, sondern wesentlich umfassender auf die Einhaltung der Menschenrechte im Rahmen einer Freiheitsentziehung ausgerichtet sind. Zur weiteren Konkretisierung dieser Konventionen haben VN und Europarat schließlich nicht wenige Empfehlungen über die Rechte von Gefangenen und zur Stellung von Jugendlichen in der Strafjustiz erarbeitet, die teilweise eine sehr detaillierte Regelungstiefe aufweisen. Aus jüngerer Zeit exemplarisch erwähnt, seien hier von den VN die „United Nations Rules for the Treatment of Women Prisoners and Non-custodial Measures for Women Offenders” (Bangkok Rules) vom 21.12.2010 und die „United Nations Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners“ (Nelson Mandela Rules) vom 17.12.2015 genannt, und auf Ebene
49 Universal Declaration of Human Rights, VN-Resolution 217 A (III) der Generalversammlung v. 10.12.1948, einsehbar unter www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language.aspx?LangID=eng [20.04.2020]. 50 International Covenant on Civil and Political Rights, vom 16.12.1966, in Kraft seit dem 23.3.1976, www.ohchr.org/EN/ProfessionalInterest/Pages/CCPR.aspx [20.04.2020]; deutsches Ratifikationsgesetz BGBl. II 1973, S. 1533. 51 Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, v. 4.11.1950, in Kraft seit dem 3.9.1953, www.conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html/005.htm [20.04.2020]; deutsches Ratifikationsgesetz BGBl. II 1952, S. 685, ber. S. 953. 52 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2012/C 326/02), Amtsblatt v. 26.102012, C 326/391, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:12012P/TXT&from=DE [20.04.2020]. 53 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CAT), vom 10.12.1984, in Kraft seit dem 26.6.1987, https://www.ohchr.org/en/professionalinterest/pages/cat.aspx, deutsches Ratifikationsgesetz BGBl II 1990, S. 247. 54 Europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, European Convention for the Prevention of Torture and Inhuman and Degrading Treatment or Punishment (CPT), vom 26.11.1987, in Kraft seit dem 1.2.1989, einsehbar unter www.cpt.coe.int/lang/deu/deu-convention.pdf [20.04.2020]; deutsches Ratifikationsgesetz BGBl. II 1989, S. 946.
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des Europarates sind die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze55, die Europäische Empfehlung für inhaftierte und ambulant sanktionierte jugendliche Straftäter56 und die Empfehlung bezüglich Kindern mit inhaftierten Eltern57. Hinzu kommen die Berichte und Standards, die von den Organen erarbeitet werden, die zur Implementierung der Konventionen geschaffen worden sind. Hier sind die Berichte und Standards des Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter (CPT)58 sowie die Berichte und Standards der Nationalen Stelle59 zu erwähnen. 3.2
Verbindlichkeit, Einfluss auf das nationale Recht
Die allgemeinen und spezifischen menschenrechtlichen Konventionen erlangen ihre rechtliche Verbindlichkeit dadurch, dass sie von den Nationalstaaten unterzeichnet und ratifiziert werden. Damit entsteht sowohl eine nach außen gerichtete Verbindlichkeit gegenüber der Völkerrechtsgemeinschaft auf Einhaltung bzw. Umsetzung der Konvention, als auch eine innerstaatliche Verbindlichkeit: Durch das Ratifizierungsgesetz werden die Konventionen zum unmittelbar geltenden Teil der nationalen Rechtsordnung. In der innerstaatlichen Normenhierarchie stehen sie – dem Ratifizierungsgesetz entsprechend – auf der Stufe eines einfachen Bundesgesetzes.60 Allerdings betont das BVerfG in ständiger Rechtsprechung die Völkerrechtsfreundlichkeit der auf dem Grundgesetz aufbauenden Rechtsordnung61 und zieht namentlich die Garantien der EMRK als Auslegungshilfe bei der Auslegung der Grundrechte und Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes heran.62 Dabei kommt auch dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine besondere Rolle zu: er trägt auf zweifache Weise dazu bei, dass den Verbürgungen der EMRK Geltung verschafft wird. Denn zum einen ist die EMRK eine (vielleicht die einzige) internationale Menschenrechtskonvention, die 55
Empfehlung des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze Rec. R (2006) 2 vom 11.1.2006 (European Prison Rules, EPR), https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=090000168063ca6b [20.04.2020] 56 Recommendation CM/Rec(2008)11 on the European Rules for juvenile offenders subject to sanctions or measures ( ERJOSSM) v. 5.11.2008, https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectID=09000016805d2716 [20.04.2020]. 57 Recommendation CM/Rec(2018)5 concerning children with imprisoned parents v. 04.04.2018, https://rm.coe.int/cm-recommendation-2018-5-concerning-children-with-imprisoned-parentse/16807b3438 [20.04.2020] 58 https://www.coe.int/en/web/cpt/standards [20.04.2020]. 59 https://www.nationale-stelle.de/publikationen.html -> Standards [20.04.2020] 60 BVerfGE 128, 326, 367; 74, 358, 370. 61 BVerfGE 128, 326, 369. 62 BVerfGE 128, 326, 366 ff; 74, 358 [370]; stRspr.
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nicht nur die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, sondern zugleich auch deren Bürger*innen ein individuelles Klagerecht einräumt. So können vor dem EGMR die Signatarstaaten auf eine Verletzung der Garantien der EMRK verklagt werden – ähnlich der individuellen Verfassungsbeschwerde zum BVerfG. Das jeweilige Urteil entfaltet nur zwischen den Parteien des Verfahrens rechtliche Verbindlichkeit. Das deutsche Strafvollzugswesen war in den letzten Jahren insbesondere durch die Verurteilungen bei der rückwirkenden Entfristung der Sicherungsverwahrung63, der unbekleideten Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum64 sowie eines Abbruchs einer Substitutionsbehandlung65 betroffen. Darüber hinaus schreibt das BVerfG der Rechtsprechung des EGMR auch eine Orientierungs- und Leitfunktion bei der Auslegung der Verbürgungen der EMRK zu; seine Rechtsprechung ist daher bei der Auslegung von Grundrechten auch dann zu berücksichtigen, wenn seine Entscheidungen nicht denselben prozessualen Streitgegenstand betreffen.66 Anders als bei ratifizierten Konventionen oder anderen völkerrechtlichen Vereinbarungen fehlt es den internationalen Empfehlungen und Standards wie beispielsweise den Europäischen Vollzugsgrundsätzen, den CPT-Standards oder der Europäischen Empfehlung für inhaftierte und ambulant sanktionierte jugendliche Straftäter an der Rechtsverbindlichkeit einer direkten Implementierung in innerstaatliches Recht (sog. „soft law“). Dennoch sind sie für die Rechtsanwendung nicht bedeutungslos: Das BVerfG hat ihnen in seiner Entscheidung zum Jugendstrafvollzugsgesetz ausdrücklich eine indizielle Bedeutung beigemessen: Auf eine den grundrechtlichen Anforderungen nicht genügende Berücksichtigung vorhandener Erkenntnisse oder auf eine den grundrechtlichen Anforderungen nicht entsprechende Gewichtung der Belange der Inhaftierten kann es hindeuten, wenn völkerrechtliche Vorgaben oder internationale Standards mit Menschenrechtsbezug, wie sie in den im Rahmen der Vereinten Nationen oder von Organen des Europarates beschlossenen einschlägigen Richtlinien und Empfehlungen enthalten sind, nicht beachtet beziehungsweise unterschritten werden. 67
63 EGMR, Urteil v. 17.12.2009 – 19359/04 = EuGRZ 2010, 25; dieses Urteil führte zur dem oben zitierten Urteil des BVerfG geführt (BVerfGE 128, 326). 64 EGMR, Urteil v. 07.07.2011 – 20999/05 = JZ 2011, 1061 m. Anm. Pohlreich. 65 EGMR, Urteil v. 01.09.2016 – 62303/13 = EuGRZ 2017, 260. 66 BVerfGE 128, 326, 368 f. 67 BVerfGE 116, 69, 90; vgl. auch BVerfG v. 17.10.2012 – 2 BvR 736/11 Rn 25 [juris] = StV 2013, 521 ff, OLG Hamm, Beschl. v. 03.07.2014, III-3 Ws 213/14; VerfGH Berlin, Beschl. v. 3.11.2009 – 184/07 = StV 2010, 374 f.
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Jochen Goerdeler
Der diskrete Charme von CPT und Nationaler Stelle
Für die einfachen Rechtsanwender*innen in der vollzuglichen und gerichtlichen Praxis ist die Arbeit mit den genannten internationalen Konventionen, Standards und Empfehlungen nicht unbedingt „barrierefrei“: Auch in der deutschen Übersetzung sind sie mitunter in einer ungewohnten Rechtsprache abgefasst; sie gehören nicht zu den gängigen Rechtsquellen, auf die sich der*die am innerstaatlichen Recht ausgerichtete Rechtsanwender*in orientiert; sie sind entweder sehr allgemein formuliert oder konkret, aber umfangreich; und es ist nicht immer einfach auszumachen, wo die oft umfänglichen Regelungswerk Relevanz für die Situation in Deutschland entfalten. In der normalen Instanz-Rechtsprechung zum Strafvollzugsrecht finden sich nach wie vor Hinweise auf einen Einfluss der internationalen Standards nur in homöopathischen Dosen (zum Jugendstrafvollzug fehlt es bereits an einer erkennbaren Rechtsprechung überhaupt, s. o.).68 Wenn, dann finden sich Bezüge auf die CPT-Standards und Europäischen Strafvollzugsgrundsätze bei der Feststellung, ob die Haftraumgröße noch als menschenwürdig angesehen werden kann. Hingegen hat sich die Etablierung der Präventionsmechanismen, die mit der Europäischen Konvention zur Verhütung von Folter und der VN-Konvention gegen Folter – hier durch das Zusatzprotokoll – etabliert worden sind, als effektiv und segensreich erwiesen. Muss man schon die Arbeit des CPT als insgesamt erfolgreich, wenn auch von begrenzter Intensität bewerten (die Besuchsdelegation kommt nur alle vier Jahre und kann dann bundesweit nur eine sehr begrenzte Zahl an Anstalten besuchen), so kommt der Nationalen Stelle seit Aufnahme ihrer Geschäfte am 1. September 2010 die Funktion eines Vermittlers der internationalen Menschenrechte für die innerstaatliche Praxis zu. Die Nationale Stelle hat gut daran getan, entsprechend des in ihren Besuchen zutage tretenden Bedarfs die menschenrechtlichen Verbürgungen – ebenso wie die aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gewonnenen Vorgaben – in „gebrauchsgerechte“ Standards zu gießen. Sie hat dabei in den letzten Jahren ihr Augenmerk insbesondere auf die eingriffsintensiven Sicherungsmaßnahmen wie die Entkleidungsuntersuchung, Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum, Einzelhaft und die Fixierung gerichtet. Sie hat dabei eher „konservativ“ agiert und sich auf gut fundierte Positionen mit einem hohen Akzeptanzpotenzial beschränkt. Mit diesem eher zurückhaltenden denn vorreitenden Vorgehen wird sie klug beraten sein, ist sie bei ihrer Einflussnahme doch auf Anerkennung und Akzeptanz angewiesen. Damit ist aber auch klar, dass die Entwicklung der Standards der Nationalen Stelle noch keinen Endpunkt erreicht hat. 68
Goerdeler, 2015, S. 380.
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Fazit
Seit dem Urteil des BVerfG und der Föderalismusreform hat sich der Jugendstrafvollzug rechtlich und tatsächlich erheblich weiterentwickelt, überwiegend in eine positive Richtung. Philipp Walkenhorst hatte an dieser Entwicklung mit seinen beständigen und zahlreichen Anstößen nicht unerheblichen Einfluss. Aus grundrechtlicher Perspektive gibt es durchaus Bedarf zu einer Weiterentwicklung der Jugendstrafvollzugsgesetze. Zu erwarten ist, dass eine solche Weiterentwicklung sowohl die Erkenntnisse kriminologischer Forschung als auch der Erziehungswissenschaften aufnehmen wird. Den internationalen Menschenrechten, die sich selbst dynamisch weiterentwickeln, wir dabei eine treibende Kraft zukommen. Das Bundesverfassungsgericht wie auch die Nationale Stelle werden treibende Kräfte bei der Implementierung dieser Standards im nationalen Recht und der innerstaatlichen Vollzugspraxis sein. Literaturverzeichnis Bode, L. (2018). (Markt-)Gerechte Tarifgestaltung bei Gefangenentelefonie. Gedankensplitter rund um BVerfG, Beschluss vom 8.11.2017 – 2 BvR 2221/16 = HRRS 2017 Nr. 1102. Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht, 19, 72-76. Cornel, H. & Dünkel, F. (2019). 70 Jahre Grundgesetz, Zwischenruf des Ziethener Kreises zur Entwicklung des Strafvollzuges. Forum Strafvollzug, 356-364. Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (2007). Mindeststandards für den Jugendstrafvollzug, Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 94-96. Feest, J., Lesting, W. & Lindemann, M. (2017). Strafvollzugsgesetze. Kommentar (7. Aufl.), Carl Heymanns: Köln (zit.: AK-Bearb.). Goerdeler, J. & Pollähne, H. (2007). Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 31. Mai 2006 als Prüfmaßstab für die neuen (Jugend-) Strafvollzugsgesetze der Länder. In J. Goerdeler & P. Walkenhorst (Hrsg.), Jugendstrafvollzug in Deutschland, Neue Gesetze, neue Strukturen, neue Praxis? (Schriftenreihe der DVJJ, Bd. 40, S. 55-76). Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg. Goerdeler, J. (2013). Ein Jugendarrestvollzugsgesetz für Schleswig-Holstein, SchleswigHolsteinische Anzeigen, 350-355. Goerdeler, J. (2015). Menschenrechte im Jugendstrafvollzug. In T. Rotsch, J. Brüning & J. Schady (Hrsg.), Strafrecht, Jugendstrafrecht, Kriminalprävention in Wissenschaft und Praxis. Festschrift für Heribert Ostendorf (S. 371-386). Baden-Baden: Nomos. Goerdeler, J. (2015). Jugendstrafvollzugsgesetze. In M. Schweder (Hrsg.), Handbuch Jugendstrafvollzug (S. 181-200). Weinheim: Beltz. Heinz, W. (2019). Sekundäranalyse empirischer Untersuchungen zu jugendkriminalrechtlichen Maßnahmen, deren Anwendungspraxis, Ausgestaltung und Erfolg
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Internationale Perspektiven Sozialer Arbeit Michaela Emmerich
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Einleitung
Die Welt und mit ihr alle Länder und Nationen wandeln sich. Zwischen den Nationen gibt es Grenzen, Abgrenzungen bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Es gibt jedoch auch Kooperationen, Vereinbarungen, Verträge und Bündnisse bis hin zu internationalen Organisationen. Die internationalen Verflechtungen sind im 21. Jahrhundert immens. Doch diese Abgrenzungen und Abstimmungen werden nicht nur zwischen Staaten und in der Politik ausgehandelt, auch wirtschaftliche Vereinbarungen kennzeichnen die Beziehungen zwischen den Nationen und den Menschen, die in ihnen leben. Der soziale Wandel bestimmt auch das Leben eines jeden Menschen und macht nicht mehr Halt an den nationalen Grenzen. Im Frühjahr 2020 wird dies unter der Lupe der Corona-Krise in den Kontexten von Gesundheit und persönlichen Freiheitsbegrenzungen und Grenzschließungen umso deutlicher. Im § 1 des SGB I ist als Aufgabe festgeschrieben, zur „Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen … [zu] gestalten“. Damit hat die Profession der Sozialen Arbeit ein Fundament, mit Hilfe sozialer Dienstleistungen Menschen zu (re-)integrieren, die aufgrund ihrer Lebensphase oder Lebenslage benachteiligt sind. In einer multikulturellen Gesellschaft ist das Zusammenleben von Kindern, Jugendlichen, Familien, alleinlebenden und alten Menschen immer auch transnational beeinflusst und die Herausforderungen an die Soziale Arbeit sind nicht national begrenzt. Evident war das zur Zeit der Einwerbung der sogenannten „Gastarbeiter“, als zwischen 1955 und 1973 Arbeitsämter Filialen in z. B. Rom, Istanbul und Tunis oder in Balkanländern betrieben. Bis zum Anwerbestopp wurden Arbeiter für den bundesrepublikanischen Arbeitsmarkt „vor Ort“ angeworben. Evident ist dies bei Menschen fremder Herkunft, die bedingt durch wirtschaftliche Not, Krieg und Verfolgung ihre Heimatländer verlassen und vielleicht das Glück hatten, nach Deutschland im Herzen Europas zu kommen, umgeben von sogenannten „sicheren Herkunftsländern“. Hier warten sie oft lange und unter menschenunwürdigen Bedingungen in Erstaufnahmelagern auf die Entscheidung über Asyl, Duldung oder Abschiebung. Evident ist dies, wenn wir die Alterspyramide dieser Gesellschaft betrachten, in der immer mehr hochbetagte Menschen Unterstützung im Alltag benötigen oder © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_23
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Michaela Emmerich
in Heimen betreut und gepflegt werden müssen. Ohne Menschen aus den europäischen Nachbarländern, wie Polen oder Rumänien, die über Monate entfernt von ihren Familien alte Menschen in Deutschland betreuen und pflegen, könnten die eigenen Haushalte nicht aufrecht erhalten werden (vgl. Karakayali, 2007, S. 74-84). Da auch diese internationalen Hilfen nicht ausreichen, werden wieder Menschen fremder Herkunft angeworben, um hier die Pflegedienste ambulant oder in den Heimen zu verstärken. So gibt es türkische Organisationen, die Sprachkurse für Krankenpfleger*innen anbieten und diese dann in Pflegeeinrichtungen in Deutschland vermitteln. Hochschulen richten bilinguale und bi-nationale Studiengänge in Pflegewissenschaften ein, die in Nordrhein-Westfalen und in Istanbul absolviert werden, um für türkische Absolvent*innen den deutschen Arbeitsmarkt zu erschließen. Am 20.09.2019 meldeten deutsche Medien, dass das Gesundheitsministerium Pflegekräfte für „unsere“ alten und kranken Menschen im Kosovo, auf den Philippinen und in Mexiko einwirbt1 Diese Beispiele zeigen die deutsche Wirklichkeit 2020 auf. 2
Internationale Vernetzung der Sozialen Arbeit
Aber auch die Profession Soziale Arbeit ist international vernetzt. In der Einleitung des Handbuchs Internationale Soziale Arbeit beginnen Leonie Wagner und Ronald Lutz (2019, S. 7) mit dem Rückblick: „Soziale Arbeit startete im 19./20. Jahrhundert als sowohl nationalstaatlich gebundenes als auch internationales Projekt“; und Uta Straub schreibt (ebd., S. 31) „Internationaler Kontakt und Austausch haben wesentlich zur Professionalisierung beigetragen … und dafür gesorgt, dass die Profession und ihr Beitrag zu Zivilgesellschaft und sozialer Gerechtigkeit weltweit sichtbarer werden.“ Die International Federation of Social Work (IFSW) hat 2014 Soziale Arbeit definiert: Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein.
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https://www.tagesschau.de/ausland/spahn-mexiko-101.html
Internationale Perspektiven Sozialer Arbeit
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Damit hat die IFSW Auftrag, Zielsetzung und ethisches Fundament der Sozialen Arbeit mit den Bezügen auf die soziale Gerechtigkeit und die Menschenrechte formuliert. In den nationalen Gesellschaften und in den Verflechtungen, die als Globalisierung verstanden werden, sind solche Grundfesten unabdingbar. Nach den Weltkriegen haben Staaten begonnen, in ihren Zusammenschlüssen Konventionen zu vereinbaren und so gemeinsame Regeln etabliert. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, am 20. November 1989 die Kinderrechtskonvention, am 13. Dezember 2006 das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen” verabschiedet. Der Europarat hat 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention verabschiedet. Die Europäische Sozialcharta folgte 1961 (ratifiziert 1965). In den Curricula der Studiengänge zur Sozialen Arbeit sind diese Vernetzungen nur in wenigen Ausnahmen verankert. Für die Ausbildung an der Universität Köln möchte ich meine Perspektive und Erfahrung einbringen. Zu der persönlichen Perspektive hat C.W. Müller angeregt, der (2015) mit einem Rückblick auf seine Ausbildung zum Gruppenpädagogen durch amerikanische Kollegen zehn Jahre nach dem 2. Weltkrieg ein bemerkenswertes Plädoyer für internationale Soziale Arbeit liefert, das wird bereits im Titel deutlich „[…] Humanisierung durch internationalen Austausch“ (S. 61-66). Durch internationale Erfahrungen sind nationale Kontext deutlicher geworden und immer neue didaktische Möglichkeiten für die Hochschullehre erwachsen. 3
Internationale Erfahrungen in Ausbildung und Beruf
Als Meilenstein meiner internationalen Erfahrungen ist der Service Civil International, Deutscher Zweig e. V. (SCI) zu nennen, der 2020 sein 100. Gründungsjubiläum begeht. Der SCI ist eine gemeinnützige, internationale Organisation, die sich durch Freiwilligenarbeit für Frieden, gewaltfreie Konfliktlösung, soziale Gerechtigkeit, nachhaltige Entwicklung und interkulturellen Austausch einsetzt. In sogenannten Workcamps arbeiten internationale Freiwillige in sozialen und ökologischen Projekten. Diese Begegnungen und dieses gemeinsame Leben und Arbeiten führt zu einem Austausch über die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern, über die Strukturen und das soziale Leben (https://www.sci-d.de/). Ein weiterer Zugang folgte dann durch die Initiativarbeit im Rechtshilfefonds für Ausländerinnen und Ausländer, Bonn e. V. (bis 1989). Interdisziplinär unterstützten Jurist*innen und Pädagog*innen Migrant*innen und Asylbewerber*innen. Diese Erfahrungen mündeten auch in eine wissenschaftliche
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Auseinandersetzung über den Umgang der deutschen Gesellschaft mit Menschen fremder Herkunft (Emmerich, 1991). In beruflichen Kontext als Mitarbeiterin am Seminar für Allgemeine Heilund Sozialpädagogik fügten sich weitere Erfahrungen in internationalen Zusammenhängen an. Kontakte zu Kolleg*innen aus Griechenland führten zu der Anfrage, einen Bick „von außen“ auf die Rehabilitation in Griechenland zu werfen. Vermittelt über den Kollegen und Freund Georgios Drakos (1947-2019) erarbeiteten wir eine Expertise zur Rehabilitation in Griechenland für das griechische Bildungsministerium. Wir erschlossen uns das Forschungsfeld mit Hilfe der Methoden aus der Entwicklungszusammenarbeit (ZOPP, zielorientierte Planung von Projekten) in Kooperation mit den in der Rehabilitation tätigen Menschen. Das Gutachten war – neben der wissenschaftlichen Grundlegung und Deskription des Vorgehens – die Bestandsaufnahme des Existierenden und die Zusammenfassung der Präskription der griechischen Experten (Buchkremer & Emmerich, 1993). Für uns öffnete der Vergleich eine zusätzliche Perspektive auf die Rehabilitation und die soziale Lage von Menschen mit Behinderung in Deutschland. In der Analyse der dortigen Bedingungen erfolgt ein Rückblick auf die hiesigen Strukturen, werden im Vergleich Mechanismen deutlich, die auch hier Machtverhältnisse verdeutlichen, Ausgrenzung fortschreiben und – mit dem heutigen Begriff – Inklusion verhindern. Die Diskrepanz zwischen dem, was gesetzlich grundgelegt und dem, was in der praktischen Umsetzung erfolgt, hat seither viele Auseinandersetzungen befruchtet. Hier wurde uns deutlich, was Elke Kruse (2018) in ihrem Aufsatz für das Handbuch internationale Soziale Arbeit treffend zusammenfasst: „Erst der Vergleich öffnet … die Augen“ (S. 80). Studierende aus anderen Ländern nahmen für ihre wissenschaftlichen Arbeiten die vergleichende Perspektive ein, beispielhaft seien hier die ersten mit Südkorea (Bo-Ki Pyon, 1994) und Japan (Miki Oda, 1997) benannt. Um diese Perspektive für alle Studierenden zu ermöglichen, planten wir Studienfahrten. Andere Länder zu bereisen, die Sozialstruktur vor Ort kennen zu lernen durch Besuche in Schulen, Hochschulen und sozialen Einrichtungen, Dozent*innen, Lehrer*innen, Studierende und auch in der Sozialarbeit Tätige kennen zu lernen und mit ihnen in Austausch zu gehen, erweiterte unser aller Horizont. Die fast jährlichen Austausche mit Studierenden der Haccetepe Hochschule in Ankara von 1994-1998 wurden auf türkischer Seite von dem Kollegen Ilhan Tombay begleitet; seine Dissertation (1989) hat uns die Sozialarbeit und Sozialpolitik der Türkei auch wissenschaftlich erschlossen. Diese Begegnungen mit Kolleg*innen und Studierenden in wechselseitigen Erkundungen der kulturellen und sozialen Lebenswelten, die uns so bereicherten, wollten wir auch Kindern und Jugendlichen ermöglichen, die nicht privilegiert am Gymnasium an Schüleraustauschen und Oberstufenfahrten teilnehmen konnten. Wir konzipierten das Programm „Kinder ohne Grenzen“ und erkundeten mit
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Schüler*innen der 5.-7. Klassenstufe von Hauptschulen verschiedene von uns Mitwelt genannte Länder. Von Nachbarländern bis hin zu fernen Mitwelten, wie z. B. die Republik Altai in Sibirien (kinder-ohne-grenzen.de). Hier waren natürlich auch Studierende mit dabei als Tutor*innen, Multiplikator*innen und Diplomand*innen (Gros, 2003). Der Förderung der Kinder aus deutschen Schulen, von denen einige einen z. B. russischen, türkischen oder anderen Migrationshintergrund aufwiesen, folgten die Wünsche der Schüler*innen aus Russland oder später Polen und der Ukraine, dass auch sie gerne die anderen Länder kennenlernen möchten. Die Stiftung Kinder ohne Grenzen, 2004 von Gisela und Hansjosef Buchkremer gegründet, hat hier Nachhaltigkeit angelegt und in Kooperation mit dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk (DPJW) wechselseitige Besuche dreier Schulklassen über aufeinanderfolgende Schuljahre ermöglicht (https://dpjw.org/). Auf der Basis von „Kinder ohne Grenzen“ entwickelten wir ein Projekt, das im Rahmen der Xenos Initiative des Europäischen Sozialfonds von 2001-2004 umgesetzt werden konnte: Youth in World Practice (Pfeil e. V., 2005). In den einzelnen Projektschritten ging es darum, die Schüler*innen in der beruflichen Orientierung zu unterstützen und neben Schlüsselqualifikationen, berufliche Chancen und Kooperationsfelder im Heimatraum und Ausland aufzuzeigen. Hier entstand die Kooperation mit der Stiftung Leuchtfeuer. Das Auslandpraktikum unserer Youth in World Schüler*innen fand in Estland (2003) statt. Einer internationalen Tagung 2006, die in Kooperation mit der Stiftung Leuchtfeuer stattfand, entsprang die Gründung des Instituts internationale Individualpädagogik (Buchkremer & Emmerich, 2008). 4
Studienfahrten bereichern die Ausbildung der Studierenden
Mit dem Ruf von Philipp Walkenhorst (2007) nach Köln wurde die Tradition der Studienfahrten wiederbelebt. Seit 2008 erkundeten wir mit Studierenden die Strukturen der Sozialen Arbeit, besuchten Hochschulen und begegneten Lehrenden, Studierenden und Praktiker*innen in den Feldern von Schule, Jugendzentren, Einrichtungen der Rehabilitation und stationärer Erziehungshilfe, Altenheimen bis hin zu Bewährungshilfe und Strafanstalten sowie in kommunaler und staatlicher Administration. Die Liste der Fahrten ist stattlich: Prag, Tschechien 2008 – Wien, Österreich 2009 – London, Großbritannien 2010 – Athen, Griechenland 2011 – Warschau, Polen 2012 – Ankara und Istanbul, Türkei 2013 – Tallin, Narva, Jõhvi, Vana-Vigala, Estland 2014 – Frederiksstad und Oslo, Norwegen 2015 – Vilnius, Kaunas und Klaipeda, Litauen 2016 – Vilnius und Kaunas, Litauen sowie Riga, Lettland 2017 – Tiflis, Zalenchicha und Kutaisi, Georgien 2018.
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Michaela Emmerich
2019 förderte uns gemeinsam mit der Borys Grinchenko Universität, Kiew die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft2 im Programm MeetUp! eine Studienfahrt von Studierenden aus Kiew nach Köln. Gemeinsam mit Kölner Studierenden haben wir ein Programm zur Sozialen Arbeit mit Besuchen in diversen Einrichtungen von Wohlfahrtspflege bis Strafvollzug gestaltet. Ein halbes Jahr später konnten dann die Studierenden aus Köln ein ähnliches Programm in Irpin und Kiew (Ukraine) wahrnehmen. Persönliche und fachliche Kontakte haben hier die Planungen der Fahrten ermöglicht, seien es ehemalige Studierende, die in London lebten oder Kolleg*innen, die in Athen und in der Türkei mit ihren Kontakten das Programm erstellten. Dazu kommen Jugendhilfeeinrichtungen wie die Stiftung Leuchtfeuer oder der Wellenbrecher e. V., die mit ihren Organisationen in anderen Ländern und ihren Mitarbeiter*innen hier Kontakte herstellten. In Kooperation mit dem Jugendhilfeträger Wellenbrecher e. V. hat das Team am Lehrstuhl Erziehungshilfe und Soziale Arbeit von Philipp Walkenhorst von 2016 bis 2019 die wissenschaftliche Begleitung des Projektes: „Drehscheibe zur Vorbereitung junger Menschen auf das Ende einer Individualpädagogischen Auslandsmaßnahmen“ umgesetzt. Dieses „Programm“ in und mit der Drehscheibe unterstützt die jungen Menschen, den Prozess der Rückkehr bewusst in den Blick zu nehmen. Die „Projektwochen“ in der Drehscheibe mit anderen Jugendlichen aus individualpädagogischen Auslandsmaßnahmen ermöglichen einen Abgleich zwischen dem Leben in den Projektstellen und einem möglichen Leben nach der Rückkehr. Kontakte zu Eltern und Freund*innen können in dieser Zeit von den Pädagog*innen begleitet und reflektiert werden. Perspektiven für die schulische oder berufliche Ausbildung und das Wohnen nach der Rückkehr können aufgebaut, mögliche Anschlusshilfen können initiiert werden (vgl. Stossun & Flihs, 2020 S. 148 ff.). Neben der Unterstützung des Jugendhilfeträgers Wellenbrecher e. V. in der Begleitung der Jugendlichen im Prozess der Transition aus der hochstrukturierten Hilfe hat die Initiierung des Programms Drehscheibe auch in der Organisation Prozesse angestoßen. Die Pädagog*innen haben ihr Handeln im in den unterschiedlichen Projektländern reflektiert und „diskutieren mit dem Ziel, die eigene Arbeit noch stärker an dem Ziel der Rückkehr auszurichten“ (ebd., S.152). 5
Soweit die Retrospektive und wie geht es weiter?
Seit 2015 ist Philipp Walkenhorst jährlich mit Beiträgen auf den „International Scientific Conference of Teachers, Professors, Psychologists and Sociologists“ der Novosibirsk State Pedagogical University in Novosibirsk/Russland vertreten. 2
https://www.stiftung-evz.de/
Internationale Perspektiven Sozialer Arbeit
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Kooperationsverträge zwischen den Hochschulen sind unterzeichnet. 2019 verlieh diese Hochschule Philipp Walkenhorst die Ehrendoktorwürde. Im Februar 2020 war Philipp Walkenhorst in Novosibirsk und vereinbarte eine Studienfahrt für den Herbst 20203. Literaturverzeichnis Buchkremer, H. & Emmerich, M. (1993). Rehabilitation in Griechenland: Eine Expertise zur Situation Behinderter. Aachen: Mainz. Buchkremer, H. & Emmerich, M. (Hrsg.).(2008). Individualpädagogik im Internationalen Austausch. Hamburg: Dr. Kovac. Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e. V. Abgerufen von https://www.dbsh.de/ [29.04.2020] Deutsch-Polnisches Jugendwerk. Abgerufen von https://dpjw.org/ [29.04.2020] Emmerich, M. (1991). Ausländer zwischen Ausgrenzung und Emanzipation. Aachen: Mainz. Gros, C. (2003). Kinder ohne Grenzen – ein Projekt zur Mitwelterziehung. Aachen: Mainz. gtz - Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (1997). Zielorientierte Projektplanung ZOPP, Frankfurt a. M. Internationales Institut für Individualpädagogik. Abgerufen von http://www.institutiiip.de/ [29.04.2020] Karakayali, J. (2007). Die private Beschäftigung von Migrantinnen Pflegebedürftiger. Archiv für Wissenschaft und Praxis, 38(4), 74-84. Kruse, E. (Hrsg.).(2015). Internationaler Austausch in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: Springer VS. Kruse, E. (2018). Erst der Vergleich öffnet … die Augen. Internationaler Austausch in der Sozialen Arbeit. In L. Wagner, R. Lutz, C. Rehklau & F. Ross, (Hrsg.), Handbuch Internationale Soziale Arbeit (S. 80 – 97). Weinheim: Beltz. Müller, C.W. (2015). Als wir mit den neuen Methoden laufen lernten. Humanisierung durch internationalen Austausch. In E. Kruse (Hrsg.), Internationaler Austausch in der Sozialen Arbeit (S. 61-66). Wiesbaden: Springer VS. Müller, C.W. (1981). Einführende Lehrbücher in die Methoden der sozialen Arbeit. Literatur Rundschau, 5+6, 105-112. Novosibirsk State Pedagogical University in Novosibirsk, Russland. Abgerufen von https://www.nspu.ru/ [29.04.2020] Oda, M. (1997). Rehabilitationswesen in Japan: die Lage behinderter Menschen in Japan und die Entwicklung der Rehabilitation. Dissertation: Universität Köln. Pfeil e. V. (Hrsg.).(2005). Versuchung zum Guten. Teil 3: "...es sei denn, man tut es!" Youth in World Practice. Jugend im Weltpraktikum. Aachen: Mainz. Pyon, B.-K. (1994). Rehabilitation in Südkorea und in der Bundesrepublik Deutschland: eine vergleichende Betrachtung und eine zukünftige Perspektive der Rehabilitation. Dissertation: Universität Köln. 3
https://www.nspu.ru/
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Michaela Emmerich
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Zur Situation junger Menschen im Justizvollzug Brasiliens Christoph de Oliveira Käppler & Jonas Carvalho e Silva
1
Einleitende Überlegungen
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der wissenschaftlichen Fachliteratur zur Situation junger Inhaftierter im größten und bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas und nimmt diesbezüglich zugleich eine interkulturelle Vergleichsperspektive ein. Die (Rechts-)Wirklichkeit in Brasilien steht zum einen verglichen mit Deutschland in vielerlei Hinsicht in einer nahezu antagonistischen Position: Während sich die brasilianischen Haftanstalten hinsichtlich vieler Aspekte in einem problematischen Zustand befinden, darunter insbesondere Überbelegung und mangelnde Infrastruktur, ist die Situation in Deutschland durch deutlich günstigere Bedingungen und im internationalen Vergleich vergleichsweise wenige Inhaftierte gekennzeichnet. Zum anderen weisen weitere Vergleichsaspekte, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, Gemeinsamkeiten auf, etwa die Tatsache, dass die Mehrheit von Inhaftierten männlich ist, die häufigsten Delikte Diebstahl und Drogenhandel ausmachen sowie insgesamt eine Unterbesetzung mit Fachpersonal zu verzeichnen ist. Obwohl die brasilianische und die deutsche (Gefängnis-)Wirklichkeit unterschiedlich sind, insbesondere aufgrund der rechtlichen und soziokulturellen Rahmenbedingungen, stellen Haftanstalten im Grundverständnis beider Länder übereinstimmend ein spezielles System für die Resozialisierung von Kindern und Jugendlichen dar. In direktem bilateralem Austausch hat Deutschland auf internationaler Ebene Brasilien im Rahmen eines sog. Universal Periodic Review (UNO, 2017)1 empfohlen, auf der einen Seite insbesondere die Anzahl nicht erfasster Tötungsdelikte und die damit verbundene Straflosigkeit zu reduzieren sowie auf der anderen Seite Unterstützungsprogramme für junge Straffällige und Inhaftierte auszuweiten. Die dort genannten Maßnahmen zielen darauf ab, vor allem auch die Überbelegung der brasilianischen Gefängnisse anzugehen, deren Population haupt1 Der sog. Universal Periodic Review (UPR) ist eine Form der Kooperation zwischen Staaten, in der sie sich gegenseitig in Bezug auf die Menschenrechtssituation bewerten und eine Reihe von Empfehlungen ausarbeiten. Insgesamt handelt es sich um einen einzigartigen Prozess, der die regelmäßige Bewertung der Menschenrechtssituation aller 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen untereinander umfasst.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_24
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sächlich aus schwarzen männlichen Inhaftierten unter 29 Jahren besteht. In dieser Hinsicht ist es wichtig, die (Lebens-)Realität dieser jungen Inhaftierten zu (er-)kennen, um zu verstehen, auf welchem Hintergrund sich der komplexe Prozess (bis zu) einer Inhaftierung ereignet. Die Mehrheit der Verhaftungen ist das Ergebnis einer in vielen Aspekten zweifelhaften Polizeiarbeit, und die meisten Verurteilungen (wegen Drogenhandels) beruhen lediglich auf der Aussage von Polizeibeamten. Im vorliegenden Beitrag soll nun zunächst ein Bezug auf die internationalen Rahmenbedingungen in Form der von den meisten Staaten, hierunter auch Deutschland und Brasilien, ratifizierten Menschenrechtskonventionen genommen werden. Im darauffolgenden zweiten Teil werden die Situation junger inhaftierter Menschen in Brasilien, ihre Wege in die Haftanstalt sowie auf institutioneller Ebene die Fürsorgestruktur für Menschen unter 18 Jahren und das allgemeine Justizsystem betrachtet. Im abschließenden Teil des Beitrags wird ein Überblick über den Stand der Forschung zu brasilianischen Jugendlichen gegeben, denen die Maßnahmen aus den beiden genannten Bereichen zugutekommen (sollen). Ein besonderes Augenmerk soll dabei dem erwiesenen Zusammenhang zwischen gesetzeswidrigen Verhaltensweisen von Jugendlichen und ihren Lebensbedingungen, und hierunter insbesondere der Exposition mit Gewalt zukommen. Die Forschungsbefunde aus allen Regionen Brasiliens legen übereinstimmend nahe, dass die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit die Wahrnehmung und Übernahme von Normen und Gesetzen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene entscheidend prägt. 2
Der brasilianische Kontext
Brasilien stellt die größte politische Einheit Lateinamerikas dar, ist das fünftgrößte Land und die neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt. Bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von 210 Millionen Einwohnern (IBGE, 2010) werden die meisten Brasilianer*innen von ihrer Hautfarbe her als weiß (49 %), ein kleiner Anteil als schwarz (6,3 %) sowie ein beträchtlicher Teil als gemischt (43,2 %) angesehen. In den letzten Jahrzehnten hat das Land intensive politische, wirtschaftliche und soziale Transformationen durchlaufen, den Zugang zu den globalen Finanzmärkten eingeleitet und wurde zunehmend offen und transparent regiert. Der (immer noch) im Entstehen begriffene demokratische Staat hat(te) im Vergleich zu seiner eigenen Vergangenheit (der Militärdiktatur) bis zur aktuellen Präsidentschaft eine relative Stabilität erreicht, welche die Verbesserung der (technologischen) Infrastruktur und die Modernisierung des Landes ermöglicht hat (Medina & Rodrigues, 2019).
Zur Situation junger Menschen im Justizvollzug Brasiliens
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Der demokratische Übergang brachte zugleich auch wichtige Errungenschaften im Bereich der Rechte mit sich, die es den Brasilianer*innen ermöglichten, sich an Regeln und Gesetze orientieren zu können, mit den staatlichen Behörden zu kooperieren und an den Entscheidungen des Landes teilzuhaben (Rodrigues, Gomes, Oliveira, Piccirillo & Brito, 2017). In einigen Rechtsbereichen kann Brasilien sogar als vorbildlich oder Vorreiter gelten, etwa was die unmittelbar nach der Veröffentlichung erfolgte Ratifizierung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-KRK) sowie deren Implementierung in Form einer nationalen Gesetzgebung bereits im Folgejahr (1990) betrifft. Aus gleichfalls internationalen Berichten geht jedoch hinsichtlich der Umsetzung hervor, dass sich die (Rechts-)Wirklichkeit junger inhaftierter Menschen von den gegenüber der internationalen Gemeinschaft eingegangenen Verpflichtungen unterscheidet (UNO, 2004, 2015, 2017). So wird über zahlreiche Fälle von gewalttätigen Übergriffen2, darunter auch sexuelle, sowie über organisierte Kriminalität in Gefängnissen, eine schlechte Gesundheitsversorgung und unzureichende sanitäre Einrichtungen, fehlendem Rechtsbeistand vor dem Prozess, langen Haftzeiten sowie Zwangshaft von Jugendlichen mit Drogenabhängigkeiten, insbesondere von Straßenkindern, berichtet. In den letzten Jahren ist zudem eine Politik der Auslagerung des Strafvollzugs aus öffentlicher Hand an private Unternehmen zu beobachten, die sich auf die Betreuung und Überwachung der Inhaftierten bis hin zur Verwaltung der Gefängnisstruktur bezieht, so dass eine fortschreitende Privatisierung in den meisten brasilianischen Strafvollzugsanstalten bereits in die Praxis umgesetzt ist (Pompeu & Ferreira, 2018). Zu diesem Umstand, dass der Strafvollzug zunehmend außerhalb der Sphäre staatlicher Kontrolle gerät, trägt zudem auch bei, dass eröffnete Freiräume auch von kriminellen (Mafia-)Organisationen bzw. Drogenkartellen selbst genutzt werden, um das Geschehen in Haftanstalten zu dominieren oder die Bandenkriege von außerhalb dort auch intern fortzusetzen. Dass dies alles zu fatalen Folgen führen kann, zeigt auch ein Massaker in Brasilien vor wenigen Jahren, bei dem Dutzende von Inhaftierten tot in Gefängnissen aufgefunden wurden, die von einem Dienstleistungsunternehmen (mit-)verwaltet werden. Dieser Fall wurde 2017 in der Datenbank der internationalen Plattform Business & Human Rights Resource Centre3 dokumentiert. 2 In der Geschichte Brasiliens ist als besonders markantes Ereignis zum Phänomen der Gewalt in Gefängnissen das Massaker von Carandiru, dem im Rahmen einer Revolte am 02.10.1992 insgesamt 111 Personen zum Opfer fielen, zu nennen. Da in diesem größten brasilianischen Gefängnis mit insgesamt 8.000 Inhaftierten im Norden Sao Paulos in der Zeit seines Bestehens insgesamt nicht weniger als 1.300 Tote (!) zu verzeichnen waren, wurde es 2002 geschlossen und in einen Jugendpark sowie eine Schule umgebaut. Aber nach wie vor kommen jeden Monat Menschen in Haftanstalten um. 3 Das Business & Human Rights Center ist eine globale digitale Plattform, die sich für die Förderung von Menschenrechten v. a. im Unternehmensbereich einsetzt.
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Insgesamt wird hierüber eine heftige Debatte geführt, ob mit der Privatisierung die Strukturierung einer für den Strafvollzug (wirklich) geeigneten Verwaltungsform erreicht wird oder ob es prinzipiell nicht zu befürworten ist, staatliche Hoheitsaufgaben zu delegieren, selbst angesichts des Scheiterns einer effizienten öffentlichen Politik und Verwaltung bei der Bereitstellung von Gefängnisdienstleistungen und bei Feststellung hoher Rückfallquoten von Straftäter*innen (Pompeu & Ferreira, 2018). Zu Letzterem trägt jedoch auch bei, wie die wenigen vorliegenden Studien zeigen, dass in von privaten Unternehmen betriebenen Gefängnissen nur wenige Arbeitsmöglichkeiten sowie kaum (Aus-, Weiter- und Fort-) Bildungsangebote vorgehalten werden, zugleich aber eine hohe Zahl von Berichten über Misshandlungen und wiederholte Folterungen vorliegen. Neben den Rechtsverletzungen, die sich gegen Inhaftierte richten, wird in den Berichten der Gefängnispastoral4 bezogen auf die angeheuerten Bediensteten ergänzend berichtet, dass es weder eine adäquate Ausbildung und Entlohnung noch entsprechende Sicherheitsvorkehrungen gibt, was insgesamt zu einer hohen Mitarbeiter*innenfluktuation führt. Der Bericht des Ausschusses für die Rechte des Kindes (UNO, 2015)5 hält es in diesem Zusammenhang für besorgniserregend, dass darüber hinaus auch alternative Maßnahmen zur Inhaftierung nicht hinreichend angeboten werden (können), was unter anderem dazu führt, dass eine große Zahl von Jugendlichen, hauptsächlich Afrobrasilianer*innen, schlicht mangels anderer Optionen inhaftiert wird. Vor diesem Hintergrund sind Empfehlungen für die Entwicklung von Strategien zur Bekämpfung der Überbelegung, Bandengewalt in Gefängnissen und zur Verhinderung der gemeinsamen Inhaftierung von Jugendlichen in Erwachsenenanstalten vorgetragen worden. Auch die Zahl von Verfahren an Jugendgerichten, von spezialisierten und alternativen Einrichtungen ist im Einklang mit internationalen Standards zu erhöhen. Zugleich sollten geeignete Maßnahmen die Rechtsverfahren straffen, denn viele Inhaftierte warten ohne jede Orientierung und fachliche Begleitung oft unbestimmte Zeit auf den Fortgang ihres Prozesses, obwohl die im sozio-erzieherischen System als auch im allgemeinen Justizsystem befindlichen Personen, die sich einen privaten Anwalt nicht leisten können, das Recht auf einen Rechtsbeistand in Form eines Pflichtverteidigers haben bzw. hätten.
4
Prison Pastoral ist eine Organisation von Seiten der katholischen Kirche in Brasilien, die mit der Nationalen Bischofskonferenz verbunden ist. 5 Der Ausschuss für die Rechte des Kindes ist ein international besetztes Gremium von Expert*innen und führt den Monitoring-Prozess über die Umsetzung der UN-Konvention in den Mitgliedstaaten durch.
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3
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Zur rechtlichen Situation junger Menschen in Brasilien im Allgemeinen und innerhalb der Justizsysteme
Seit den 1980er Jahren sind in Brasilien mehrere soziale Bewegungen zur Verteidigung der Rechte von Kindern und Jugendlichen entstanden, wie z. B. die Nationale Bewegung der Straßenjungen und -mädchen, die brasilianische Vereinigung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen sowie das Nationale Forum der Gouverneure für öffentliche Politik bezogen auf Kinder und Jugendliche. Darüber hinaus beteiligten sich mehrere (zivil-)gesellschaftliche Gruppierungen am Diskurs über die Rechte von Kindern und Jugendlichen auf der Grundlage des Verfassungsartikels Nr. 227, der sie folgendermaßen formuliert: Es ist die Pflicht der Familie, der Gesellschaft und des Staates, Kindern und Jugendlichen mit absoluter Priorität das Recht auf Leben, Gesundheit, Ernährung, Bildung, Freizeit, Professionalisierung, Kultur, Würde, Respekt, Freiheit und familiäres und gemeinschaftliches Zusammenleben zu gewährleisten und sie von allen Formen der Vernachlässigung, Diskriminierung, Ausbeutung, Gewalt, Grausamkeit und Unterdrückung fernzuhalten. (Brasilien, 1988)
Das Gesetz 8069 von 1990 – in Brasilien bekannt als das Statut des Kindes und Jugendlichen (ECA) – entstand aus dem Verständnis und den Veränderungen in der Geschichte der Kindheit in Brasilien, die sich bereits in Artikel 227 widerspiegel(te)n, und im Einklang steht mit der lediglich ein Jahr zuvor veröffentlichten Internationalen Kinderrechtskonvention (KRK) der Vereinten Nationen, die somit unmittelbar auf nationaler Ebene verankert wurde. Dies war somit das erste Gesetz im Land, das sich dezidiert auf Kinder und Jugendliche bezog, um sie von Rechts wegen als Bürger*innen zu betrachten, denen (ebenso) Grundrechte wie Würde, Respekt und Freiheit zukommen (Brasilien, 1990). Es soll an dieser Stelle im Sinne der Vergleichsperspektive nicht darüber hinweg gegangen werden, dass in Deutschland im Unterschied zu Brasilien nach wie vor über eine Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz debattiert wird und auch die im Zuge der Ratifizierung der Kinderrechtskonvention eingegangene Verpflichtung einer nationalen Umsetzung in Form eines bundesrepublikanischen Gesetzes zu Kinderrechten bisher nicht eingelöst wurde. Dieses in Brasilien nunmehr bereits drei Jahrzehnte existierende Gesetz (ECA) legt zugleich auch fest, dass es die Pflicht des Staates, der Familie und der Gesellschaft im Allgemeinen ist, dafür zu sorgen, dass kein Kind oder Jugendlicher Opfer irgendeiner Form von Gewalt, Diskriminierung, Ausbeutung, Grausamkeit und Unterdrückung werden darf und jeder Angriff auf oder Unterlassung der Gewährung seiner Grundrechte auf Grundlage des Gesetzes zu verurteilen ist (Brasilien, 1990).
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In Bezug auf „das als Verbrechen oder Straftat bezeichnete Verhalten", das von einem Kind oder Jugendlichen begangen wurde, sieht das Statut die Anwendung von sechs verschiedenen Maßnahmen vor, um Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, entsprechend der Schwere des Vergehens zur Verantwortung zu ziehen, wobei die Inhaftierung in einer Bildungseinrichtung und die (Wieder-)Eingliederung in Form eines halb-stationären Settings, die beide als geschlossen eingestuft werden, sowie die übrigen Maßnahmen in einem offenen Rahmen durchgeführt werden: Verwarnung, Verpflichtung zur Wiedergutmachung von Schäden, Erbringung von Dienstleistungen für die Gemeinschaft und Unterstützung eines verantwortlichen Lebens in Freiheit. Das diesbezüglich eingerichtete Nationale System der sozialpädagogischen Begleitung beinhaltet für die betroffenen Jugendlichen (< 18 Jahre) ein, verglichen mit dem allgemeinen Strafrechtssystem (> 18 Jahre), differenziertes System von Unterstützungsmaßnahmen (Brasilien, 2012). Sozialpädagogische Maßnahmen zielen hier nicht nur auf die Vergeltung von Gesetzesübertretungen ab, sondern werden als wesentlich erachtet, um Jugendliche (nach-)sozialisieren und ihnen die Entfaltung ihrer Potentiale ermöglichen zu können. Hierzu liefern sozialwissenschaftliche Befunde und theoretische Grundlagen die Basis für das Verständnis junger Straftäter*innen und ihrer Familien (u. a. Reis & Guareschi, 2016). Der Jahresbericht des Nationalen Systems sozialpädagogischer Hilfen, der 2018 auf Basis bis 2016 erhobener Daten veröffentlicht wurde, ermöglicht eine Bewertung des aktuellen Szenarios in Einrichtungen mit Freiheitsentzug oder -beschränkung (Brasilien, 2018). Unter anderem wurden das Profil der in die Maßnahmen einbezogenen Jugendlichen und die begangenen Gesetzesverstöße ermittelt. Aus dem Bericht geht zunächst hervor, dass die meisten Jugendlichen männlich waren (siehe Abb. 1).
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weiblich N=1.090 4%
männlich N=25.360 96% Abb. 1.:
Geschlechtsaufteilung von brasilianischen Jugendlichen, deren Freiheit aufgrund vonGesetzesübertretungen eingeschränkt oder entzogen wurde (Quelle: Ministerium für Menschenrechte – Brasilien).
61 % waren (entgegen des oben genannten Anteils in der Gesamtbevölkerung von 6 %) schwarzer Hautfarbe, und mit 57 % gehörte die Mehrheit zur Altersgruppe der 16-17-Jährigen. Im Jahr 2016 verfügte das Land über 477 sozialpädagogische Betreuungseinheiten, von denen 419 ausschließlich männlich, 35 weiblich und 23 gemischt belegt waren. Das Dokument identifizierte auch insgesamt 32.465 Fachkräfte, die landesweit in solchen Einrichtungen arbeiten, was einem nationalen Durchschnitt von 1,22 Fachkräften pro einbezogenem Jugendlichen entspricht (Brasilien, 2018). Die Erhebung ergab darüber hinaus, dass Jugendliche, die soziale und erzieherische Maßnahmen in Haftanstalten erhalten, im Jahr 2016 insgesamt 27.799 Gesetzesverstöße begangen haben. Davon wurden rund 52 % als analog zu Raub eingestuft und 22 % bezogen sich auf Drogendelikte (siehe Abb. 2).
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Waffen‐ besitz 2% Andere 11% Töt.‐ Versuch 3% Tötung 10% Raub 52% Drogen 22%
Abb. 2.: Prozentuale Aufteilung der Rechtsverletzungen junger Menschen in Brasilien (2016, Quelle: Ministerium für Menschenrechte – Brasilien).
Erfolgte Tötungsdelikte lagen bei 10 % (!) und Tötungsversuche bei weiteren 3 % der von jungen Menschen begangenen Straftaten vor. Unerlaubter Waffenbesitz kam bei 2 % der Jugendlichen vor, und weitere (je unter 1 %) genannte Delikte umfassen insgesamt 10 % der Straftaten. Das allgemeine Justizsystem Brasiliens für das Erwachsenenalter weist zugleich eine (Über-)Belegung mit vorwiegend jungen inhaftierten Menschen auf, die unter für sie unangemessenen, entwürdigenden und unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden. In diesem allgemeinen Justizsystem ist die Nationale Strafvollzugsbehörde (DEPEN) die für den Bundesstrafvollzug zuständige Instanz (Brasilien, 1984). Laut der jüngsten Nationalen Datenerhebung über Gefängnisse betrug die Gefängnispopulation hier 727.000 Personen, von denen mit 54 % die meisten zwischen 18 und 29 Jahren (siehe Abb. 3) sowie 64 % afrikanischer Abstammung sind (Brasilien, 2019).
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JAHRE 35 30 25 %
20
30 24 18
20
15 10
7
5
1
0 18-24 25-29 30-34 35-45 46-60
>60
Abb. 3: Altersgruppen von Menschen, denen in Brasilien im Kontext des allgemeinen Justizsystems die Freiheit entzogen wurde (Quelle: Nationale Erhebung über Strafvollzugsinformationen – Brasilien).
Die betreffende Untersuchung zeigt zugleich, dass etwa 75 % der brasilianischen Gefängnispopulation über keinen mittleren (sekundären) Schulabschluss verfügen. Zu dieser Mehrheit gehören auch jene 51 %, welche die grundlegende Schulbildung nicht abgeschlossen haben, 4 % sind Analphabeten. Lediglich 1 % der Inhaftierten haben eine Hochschulausbildung begonnen oder abgeschlossen. Nach Schätzungen sind zudem ca. 1 % der inhaftierten Menschen von einer Behinderung betroffen, die meisten von ihnen von einer intellektuellen Beeinträchtigung. Die Menschen mit körperlichen Behinderungen befinden sich in Einheiten, die nicht für ihre Bedarfe, u. a. von barrierefreier Zugänglichkeit vorbereitet sind (siehe Abb. 4). Insgesamt weist der Bericht auf den Mangel an Daten über die Haftsituation von Menschen mit Behinderungen hin und empfiehlt den verantwortlichen Leitungspersonen der Strafvollzugseinheiten, systematisch hierzu Informationen zu dokumentieren.
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teilweise beh.‐ gerecht 8%
behin‐ derten‐ gerecht 7%
nicht beh.‐ gerecht 85% Abb. 4: Menschen mit körperlichen Behinderungen in Einrichtungen des Strafvollzugs (Quelle: Nationale Erhebung über Strafvollzugsinformationen – Brasilien).
4
Forschungsbefunde zu jungen Inhaftierten in Brasilien
Was den Stand der Erkenntnisse zur Situation junger Inhaftierter in Brasilien betrifft, so ist ein bedeutender Trend an angewandten Studien zu beobachten, die sich auf das Sozialpädagogische zuungunsten des allgemeinen Justizsystems beziehen. Nach Moreira, Guerra und Drawin (2017) lassen sich die Studien zur Jugendgewalt in drei große Bereiche gliedern: -
der praxisbezogene Bereich, der Analysen über die Anwendung sozialpädagogischer Maßnahmen anhand konkreter Erfahrungen repräsentiert; der politisch-institutionelle Bereich, der die politische Dimension des sozialpädagogischen Systems ausgehend von der Strukturanalyse der Gesetzgebung und ihrer Institutionen kritisch diskutiert; der soziokulturelle Bereich, der die sozio- und psychologischen Determinanten des Phänomens der Jugendgewalt analysiert.
Was den zweitgenannten Bereich politisch-institutioneller Aspekte anbelangt, haben sich die Studien vor allem auf Fragen konzentriert, die mit der rechtlichen Einhaltung der unterzeichneten internationalen Abkommen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Gefängnispopulation, zumeist junger Menschen, zusam-
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menhängen. Es liegen etwa relevante Publikationen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Regeln von Bangkok (UNO, 2010), die sich mit der Inhaftierung von Frauen in Konflikt mit dem Gesetz befassen (Bucher-Maluschke, Carvalho e Silva & Souza, 2019). Diese Autoren*innen, die sich auf Aspekte der Mutterschaft im Kontext von Kriminalität konzentrieren, weisen darauf hin, dass das brasilianische Recht inhaftierten Frauen ein differenziertes Raumangebot für schwangere Frauen und den Verbleib des Babys bei der inhaftierten Mutter für einen Mindestzeitraum von sechs Monaten garantiert. Darüber hinaus ist es verboten, Handschellen vor, während und unmittelbar nach der Geburt (Wochenbett) zu benutzen. Dies kann als weiteres Beispiel für Unterschiede in der länderübergreifenden Vergleichsperspektive gelten, da in Deutschland vergleichbare Rechtsgrundlagen für Frauen und ihre Kinder in dieser Weise (noch) nicht verbindlich gegeben sind. Und so kann für beide Länder gelten, dass die Bedeutung von Familienbeziehungen auch und gerade während Inhaftierung eine weiterreichende Beachtung in Forschung und Vollzugspraxis verdient (Käppler & Ueberbach, 2020). In Brasilien – wie in vielen Ländern – basiert das Gefängnis auf einem dualen System, das in Bezug auf die Geschlechtsidentität nur die beiden Hauptkategorien männlich und weiblich vorsieht. Die vergleichende Studie von Hochdorn, Faleiros, Valerio und Vitelli (2018), die in Brasilien (Brasília) und Italien (Belluno und Neapel) zeigte, dass weitere Geschlechtsidentitäten eine anzugehende Herausforderung für die Strafvollzugsverwaltung darstellen. Neuere Studien beschäftigen sich u. a. mit dem Modell der Verfahrensgerechtigkeit (Rodrigues et al., 2017). Die drei grundlegenden Elemente für das Verständnis des Begriffs der Verfahrensgerechtigkeit sind die aktive Beteiligung betroffener Personen, die respekt- und würdevolle Behandlung durch die Behörden und die Gleichbehandlung bei Entscheidungen. Dieser relationale Prozess kann von zwei unterschiedlichen Haltungen geprägt sein: der der Legitimität, d. h. der wahrgenommenen Verpflichtung, den Entscheidungen von Behörden zu folgen oder von einem juristischen Zynismus, d. h. der Überzeugung, dass ein Gesetzesbruch akzeptabel und (sogar) vernünftig ist (Rodrigues et al., 2017), wobei diese Studien bisher traditionell (nur) mit Erwachsenen durchgeführt wurden. Um die Notwendigkeit der Erweiterung von Studien aus soziokultureller Sicht zu untermauern, hat die Untersuchung von Huculak, McLennan und Bordin (2011) das Ausmaß der Exposition mit Gewalt unter jungen brasilianischen Straftätern in den zwölf Monaten vor ihrer Inhaftierung ermittelt. Die meisten Befragten wurden Zeuge oder erlebten selbst bedrohliche Übergriffe physischer und psychischer Art mit hoher Häufigkeit. Die Autor*innen fanden auch heraus, dass die Erfahrung, auf der Straße zu schlafen, dieses Risiko erhöht, obwohl sie dorthin oft vor häuslicher Gewalt in der Familie geflohen sind.
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Medina und Rodrigues (2019) untersuchten die Auswirkungen von Viktimisierung und Kriminalitätsfurcht auf die legale Sozialisation junger Heranwachsender in Brasilien. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Studienteilnehmer*innen, die Zeugen von Gewalt wurden, die Behörden mit geringerer Wahrscheinlichkeit als legitimiert ansehen. Hingegen können junge Menschen durch positive Erfahrungen in ihrer Beziehung zu Eltern, Lehrkräften und der Polizei Behörden und Institutionen als legitime Vertreter wahrnehmen, welche Regeln etablieren und durchsetzen können. Zahlreiche Forschungsbefunde weisen in diesem Sinne darauf hin, dass junge Menschen zugleich Täter*innen und Opfer (geworden) sind (Bucher-Maluschke et al., 2019). Auf eine in Verbindung mit Deutschland entstandene Forschungsarbeit von Cléssio Moura de Souza, Forscher am Max-Planck-Institut, über Gewalt und Kriminalität unter jungen Inhaftierten in Brasilien ist in diesem Zusammenhang besonders hinzuweisen. Während seiner Feldforschungen besuchte der Autor gewöhnliche Gefängnisse, Jugendstrafanstalten und Brennpunkte für Gewalt in einigen brasilianischen Städten und suchte den direkten Kontakt mit Menschen, die auf unterschiedliche Weise mit Jugendgewalt in Verbindung gekommen waren (Souza, 2010a, 2010b, 2016, 2018). Diese umfangreichen Erhebungen enthalten Daten darüber, wer diese Inhaftierten sind, woher sie kommen, welche Lebensbedingungen und -erwartungen sie haben und welche Faktoren ihre Inhaftierung(en) bedingten. In seiner Untersuchung über den Kreislauf der Straßengewalt bei Jugendlichen in Maceió führte der Autor Interviews mit jungen Männern (zwischen 14 und 24 Jahren), die Verbrechen wie Diebstahl bis hin zu Mord begangen hatten. Während der sieben Monate der Untersuchung besuchte er mehr als 1.500 öffentliche Plätze, Straßen sowie Gefängnisse und Haftanstalten. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit sind in mehr als 2.500 fotografischen Aufzeichnungen festgehalten, die es ermöglichen, die tatsächlichen Bedingungen der Jugendhaft zu erkennen (Souza, 2018). Die hierbei entstandene Fotoausstellung ist in vier Blöcke gegliedert und liefert nachvollziehbare Anhaltspunkte ein erstes Indiz für das Verständnis der Entwicklungsprozesse inhaftierter brasilianischer Jugendlicher. Der erste Teil der Dokumentation zeigt die Stadtviertel, aus denen die meisten in die Kriminalität verwickelten jungen Menschen stammen. Sie befinden sich in der Regel in Regionen ohne Strukturen und sanitäre Grundversorgung und zugleich hohen Gewaltraten. Die Häuser bestehen meist aus Holz, Metall und Kunststoff, mit einer prekären Verteilung von Elektrizität und Trinkwasser. Der zweite Block von Dokumenten untersucht das tägliche Leben im öffentlichen Raum sowie informelle Aktivitäten und abweichendes Verhalten auf den Straßen von Maceió. Die Kinder – viele von ihnen Kinder von jungen oder jugendlichen Müttern und/oder Vätern – spielen auf der Straße, während ihre Eltern
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arbeiten oder abwesend sind. Die Jugendlichen arbeiten in der Regel während der Zeit, in der sie in der Schule sein sollten, in anstrengenden und schlecht bezahlten Tätigkeiten, die sie dazu verleiten, durch illegale Beschäftigung nach profitableren Alternativen Ausschau zu halten, was sie auch offen für kriminelle Aktivitäten macht. Armut und Arbeitslosigkeit bieten ein günstiges Umfeld für die Zunahme informeller und illegaler Aktivitäten wie den Drogenhandel. Junge Menschen werden in der Regel dann eher in Kriminalität verwickelt, wenn sie der elterlichen Aufsicht fern und (eher dann) unter dem Einfluss ihrer (ebenfalls in solche Aktivitäten involvierten) Gleichaltrigen stehen. Im dritten Dokumenten-Block werden die anfängliche Beteiligung an kriminellen Aktivitäten und die ersten Erfahrungen innerhalb der sie aufnehmenden Institutionen Internierungseinheiten festgehalten. Die Mehrzahl der sich dort begegnenden Personen sind männliche Jugendliche mit dunkler Hautfarbe, (Verletzungs-)Narben und Tätowierungen. Die Zellen werden nicht ausreichend belüftet, was zu Geruchsbildung führt. Die Familien müssen häufig Matratzen und Ventilatoren für ihre inhaftierten Angehörigen bereitstellen, die oft die Zellwände benutzen, um ihre Geschichten aufzuzeichnen. Diejenigen, die schwerere Verbrechen begangen haben oder mit einer kriminellen Organisation verbunden sind, versuchen andere in der Zelle zu unterwerfen und zur Mitgliedschaft in ihrer Organisation zu gewinnen oder zu zwingen. Der vierte und letzte Block der eindrücklichen Sammlung zeigt die Perpetuierung des Kreislaufs der Gewalt durch die Bedingungen der Haft. Während der Inhaftierung werden die Verbindungen zur Kriminalität gefestigt, was dazu führt, dass viele Jugendliche mehrmals ins Gefängnis zurückkehren. Nach Erreichen der Volljährigkeit (18 Jahre) beginnt ein von der Polizei festgenommener Jugendliche im nun zuständigen allgemeinen Justizsystem oftmals eine Odysee durch verschiedene Gefängniskategorien. In diesen Institutionen, die meist überfüllt und ohne hygienische Standards6 sind, verbringen sie ihre Zeit weitgehend ohne (Aus-)Bildungsangebote und Arbeitsmöglichkeiten mit Unterhaltungen, an die Wände Malen und Schlafen. Zudem gehört zur gesellschaftlichen Realität in Brasilien die Existenz großer krimineller (Mafia-)Organisationen, die im Drogen- und Waffenhandel mit Erpressungen, Raub, Körperverletzung bis hin zu Exekutionen agieren und stets bestrebt sind, ihre Macht- und Einflusssphäre auch und gerade gegenüber konkurrierenden Banden zu erweitern. Zwei prominente Kriminalitätskartelle dieser Art sind das Comando Vermelho (CV) und das Primeiro Comando da Capital (PCC). Im Strafvollzug, der eigentlich auf Resozialisierung ausgerichtet ist, werden 6
Diese Umstände haben in Zeiten der Corona-Pandemie, nachdem aktuell auch Infektionen innerhalb von Strafanstalten aufgetreten sind und zudem Besuchsmöglichkeiten ausgesetzt wurden, zu Protestaktivitäten von Häftlingen zur Erwirkung vorgezogener Entlassungen geführt.
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dementgegen zahlreiche junge Menschen für diese Organisationen rekrutiert und zu Aufnahmeprüfungen im Sinne von Kapitalverbrechen wie Auftragsmorden angehalten. Diese Kartelle organisierten Verbrechens, die sich außerhalb und mittlerweile auch innerhalb von Haftanstalten in einer Weise bekriegen, so dass die (Lebens-)Risiken in diesen Institutionen letztlich größer als draußen geworden sind, es sei denn, ein Kartell hat Oberhand gewinnen können, der Staat oder die von ihm beauftragten privaten Firmen im Gegenzug dann jedoch die Kontrolle über das Geschehen vor Ort gleichermaßen eingebüßt. 5
Abschließende Überlegungen
Das Ziel des Beitrags war es, die (Lebens-)Wirklichkeit junger Menschen in Brasilien, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, in einem notwendigerweise verkürzten Überblick zu skizzieren. Brasilien ist nunmehr über Jahrzehnte in strategische bi- und multilaterale Partnerschaften mit Deutschland involviert, wobei der Schwerpunkt auf wissenschaftlicher und technologischer Innovation liegt. Auf dieser Basis könnte und sollte das brasilianische Gefängniswesen ein weiteres Kooperationsfeld darstellen, für welches die von beiden Ländern in internationalen Verträgen unterzeichneten Verpflichtungen zur Verbesserung der Funktionsweise und der Gefängnisstrukturen eine gemeinsame Grundlage bilden. Im Hinblick auf die Menschenrechtssituation junger Inhaftierter weist Brasilien jedoch z. T. besorgniserregenden Nachholbedarf auf, der von nationalen und internationalen Organisationen der Zivilgesellschaft und akademischen Vertreter*innen in Wissenschaft und Forschung verstärkt(er) thematisiert werden (sollte). Es ist zu konstatieren, dass die Mehrheit der inhaftierten Menschen in Brasilien jung, männlich, schwarz und arm ist, die entweder (im besseren Fall) einem eigens für Kinder- und Jugendliche eingerichteten Justizsystem oder jenem der allgemeinen Justiz zugeordnet wird. Anhand der dargelegten Recherche war festzustellen, dass die meisten Studien über junge Inhaftierte im sozialpädagogischen System durchgeführt wurden, was einen systematischeren Einblick in die Realität von jungen Menschen im gemeinsamen Justizsystem und (somit) bei über 18-Jährigen nicht adäquat zulässt. Zudem ist hinsichtlich einer umfänglichen Bestandsaufnahme die immense territoriale Ausdehnung des Landes – Brasilien umfasst eine vergleichbare Fläche wie Europa – zu berücksichtigen, abgesehen von den unterschiedlichen Herausforderungen der Bevölkerungsgruppen in den verschiedenen Landesteilen (von Weltmetropolen wie Sao Paulo und Rio de Janeiro bis nach Amazonien). Dies alles stellt für die in Brasilien Verantwortlichen eine enorme Aufgabe dar, um eine landesweit einigermaßen vergleichbare und (somit) gerechte Begleitung von jungen Menschen mit Kriminalitätserfahrung zu erreichen. Es ist angesichts dieser
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Komplexität zu hoffen, dass der mit der Agenda 2030 eingeleitete Prozess u. a. zur Umsetzung von Menschenrechtsmechanismen beitragen kann. Es kann in diesem Zusammenhang davon ausgegangen werden, dass die Verringerung der Massenverhaftungen der schwächsten Bevölkerungsgruppen in Brasilien durch eine verbesserte Sozialpolitik künftigen Generationen und einer nachhaltigen Entwicklung zugutekommen wird bzw. würde. Literaturverzeichnis Brasil. Lei de Execução Penal (1984). Brasil. Constituição da república federativa do brasil (1988). Brasil. Estatuto da Criança e do Adolescente (1990). Brasil. Lei n. 12.594 (2012). Brasil (2014). Política Nacional de Atenção às Mulheres em Situação de Privação de Liberdade e Egressas do Sistema Prisional. Documento Basilar para a Elaboração da Portaria Interministeria MJ/SPM n°210/2014. Brasília. Brasil (2018). Levantamento anual SINASE 2015. Brasília. Brasil (2019). Levantamento nacional de informações penitenciárias, atualização junho de 2017. Brasília. Bucher-Maluschke, J.S.N.F., Carvalho e Silva, J. & Souza, I.B. dos S. de. (2019). Revisão sobre o presídio feminino nos estudos brasileiros. Psicologia & Sociedade, 31, 1-15. https://doi.org/10.1590/1807-0310/2019v31216159 Bucher-Maluschke, J.S.N.F., Carvalho e Silva, J. & Salmeron, A.C.D. (2019). Da socialização à ressocialização: etapas do ciclo vital de uma detenta em regime semiaberto. In C. Antloga, K. T. Brasil, S. Lordello, M. S. Neubern & E. Queiroz (Eds.), Psicologia clínica e cultura contemporânea 42 (pp. 225-243). Brasília: Technopolitik. Hochdorn, A., Faleiros, V.P., Valerio, P. & Vitelli, R. (2018). Narratives of transgender people detained in prison: The role played by the utterances “not” (as a feeling of hetero- and auto-rejection) and “exist” (as a feeling of hetero- and auto-acceptance) for the construction of a discursive self. A suggestion of . Frontiers in Psychology, 8, 1–19. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2017.02367 Huculak, S., McLennan, J.D. & Bordin, I.A.S. (2011). Exposure to violence in incarcerated youth from the city of São Paulo. Revista Brasileira de Psiquiatria, 33(3), 314-320. https://doi.org/10.1590/s1516-44462011000300011 IBGE (2010). Censo 2010. Retrieved from http://censo2010.ibge.gov.br/ Käppler, C. & Ueberbach, L. (2020). Familie und Strafvollzug - Fachwissenschaftliche Konzepte, Forschungsbefunde und handlungspraktische Implikationen. Forum Strafvollzug (FS) – Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, 1, 10-17. Medina, J.C. & Rodrigues, H. (2019). The Effects of Victimization and Fear of Crime on the Legal Socialization of Young Adolescents in São Paulo, Brazil. International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology, 63(8), 1148-1174. https://doi.org/10.1177/0306624X18818810
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G Zukünftige Entwicklungen
Jugendstrafvollzugsgesetzgebung in Deutschland – Anmerkungen und Reminiszenzen zur juristischen Bearbeitung eines erziehungswissenschaftlichen Feldes Frieder Dünkel
1
Einleitung
Meine erste intensivere Bekanntschaft mit Philipp Walkenhorst hatte ich, als wir beide in eine vom Bundesjustizministerium Anfang der 2000er Jahre eingesetzte Arbeitsgruppe zur Erarbeitung einer gesetzlichen Regelung des Jugendstrafvollzugs in Deutschland berufen wurden. Schon lange vor dem Verdikt des BVerfG aus dem Jahr 2006,1 das die damalige Regelung der §§ 91, 92 JGG i. V. m. bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften (VVJuG) als verfassungsrechtlich ungenügend einstufte, war eigentlich allen Beteiligten klar, dass es einer detaillierten gesetzlichen Grundlage für die Einschränkung von Grundrechten auch für den Jugendstrafvollzug bedurfte.2 Die Zusammenarbeit mit Philipp Walkenhorst war eine ungeheure Bereicherung für mich, da ich wie die meisten Jugendstrafrechtler*innen den Erziehungsbegriff eher als „kriminalpolitischen Ablösungsbegriff“3 verstand und die pädagogischen Implikationen weitgehend vernachlässigte. Ihm ist es zu verdanken, dass wir im Referentenentwurf von 2002 und den anschließenden Entwürfen von 2004 den Förderbegriff anstelle des belasteten Erziehungsbegriffs verwendeten. Dass dies zu weiteren Missverständnissen der Gesetzgeber und in der Praxis führte, ist nicht Philipp Walkenhorst anzulasten, der sich engagiert dafür einsetzte, diese aufzuklären, sondern der Dominanz mehr oder weniger kognitiv resistenter Juristen in einigen Ministerien.
1
Vgl. BVerfG vom 31.5.2006, BVerfGE 119, 69. Für den Bereich des Erwachsenenvollzugs hatte das BVerfG bereits in seinen bahnbrechenden Urteilen von 1972 und 1974, BVerfGE 33, 1 und 35, 202 entschieden, was letztlich zur Verabschiedung des StVollzG im Jahr 1976 führte. Die Bemühungen einer rechtlichen Regelung des Jugendstrafvollzugs gehen schon auf die 1970er Jahre zurück, als 1976 die Jugendstrafvollzugskommission eingesetzt wurde, die ihren Abschlussbericht 1980 vorlegte. Danach kam es zu mehreren Gesetzesentwürfen des Bundesjustizministeriums und Vorschlägen von Praktikern und Praktikerinnen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (vgl. zusammenfassend Dünkel, 1990, S. 471-504; 1999, S. 111 ff.; 2006, S. 549 ff.). 3 Dünkel, 1990, S. 457 in Anlehnung an Walter, 1989, S. 75. 2
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_25
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Frieder Dünkel
Seine herausragende fachliche Kompetenz und begeisternde Rhetorik, erziehungswissenschaftliche Grundlagen der Straffälligenpädagogik zu vermitteln,4 hat zahlreiche Spuren in der Jugendkriminalpolitik hinterlassen. Für die Unterstützung in vielen kriminalpolitischen Foren danke ich Philipp Walkenhorst sehr, nicht zuletzt auch für die stets zugewandte Freundschaft und Kollegialität, die in dieser interdisziplinären Ausrichtung nicht immer so gut funktioniert wie im vorliegenden Fall. 2
Die Arbeiten an einem Entwurf eines Jugendstrafvollzugsgesetzes von 2002-2004
An der personell klein gehaltenen Arbeitsgruppe im Bundesjustizministerium waren neben den beiden „externen“ Wissenschaftlern der Referatsleiter Christian Lehmann und seine Mitarbeiterin Gudrun Tolzmann beteiligt.5 Der in der Folge vorgelegte Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums vom 28.04.2004 sah die Entwicklung des Jugendstrafvollzugs unter folgenden Gesichtspunkten vor: -
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„Die künftige Lebensführung ohne Straftaten als alleiniges Vollzugsziel (§ 2 E-JStVollzG); die Ausgestaltung des Vollzugs mit jugendspezifischen Inhalten, insbesondere der Förderung der schulischen Bildung, der beruflichen Qualifikation und arbeitspädagogischer Angebote; wie bereits in früheren Entwürfen sollen zwei Drittel der Haftplätze für Ausbildungszwecke vorbehalten werden (§ 40 Abs. 7 E-JStVollzG); die Festlegung von qualitativen Mindeststandards für die Förderung junger Gefangener in sachlicher, personeller und organisatorischer Hinsicht (u. a. Akkreditierung von Förderprogrammen, die auf besonderer Methodik beruhen); die Festlegung von Leitlinien der Förderung (§ 5 E-JStVollzG) wie „die zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit den eigenen Straftaten und ihren Folgen, schulische Bildung, berufliche Qualifizierung und arbeitspädagogische Angebote, soziale Rehabilitation und die verantwortliche Gestaltung des alltäglichen Zusammenlebens, der freien Zeit sowie der Außenkontakte“ (§ 5 Abs. 3 E-JStVollzG); die „Bereitschaft der Gefangenen zur Mitwirkung ist durch eine auf Ermutigung zur aktiven Mitwirkung abstellende Förderplanung, Bereitstellung motivierender Lerngelegenheiten und verbindlicher
4 Aus der Fülle seiner grundlegenden Veröffentlichungen seien nur beispielhaft genannt Walkenhorst, 2006; 2007; 2010; 2011. 5 Vgl. hierzu und zum Arbeitsauftrag Lehmann, 2002, S. 85.
Jugendstrafvollzugsgesetzgebung in Deutschland – Anmerkungen und Reminisz
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Entwicklungshilfen sowie durch unterstützende und normverdeutlichende Maßnahmen zu wecken und zu fördern“ (§ 5 Abs. 4 E-JStVollzG); die verbindliche Förderplanung (§ 10 E-JStVollzG) mit Entlassungsvorbereitung als integralem Bestandteil und regelmäßiger Überprüfung und Fortschreibung des Förderplans; die gesetzliche Absicherung der Sozialtherapie als besonderer Vollzugsform des Jugendstrafvollzugs (§ 12 E-JStVollzG); die Unterbringung in Wohngruppen (§§ 19 Abs.1, 40 Abs. 3 E-JStVollzG); die Einrichtung besonderer Wohngruppen für 14- und 15-Jährige (§ 19 Abs. 1 S. 2 E-JStVollzG); die Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenslagen und Bedürfnisse junger weiblicher Gefangener (§ 5 As. 2 S. 2 E-JStVollzG); die Nachrangigkeit von Disziplinarmaßnahmen hinter konsensualen Konfliktlösungen (§§ 33, 34 E-JStVollzG); die Eröffnung des Rechtswegs gegen Entscheidungen der Vollzugsbehörde über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung zur Jugendkammer am Landgericht in entsprechender Anwendung der §§ 109 ff. StVollzG (vgl. § 39 E-JStVollzG); die intensive Entlassungsvorbereitung (vgl. § 5 Abs. 3, 10 Abs. 1 S. 2) unter Einbeziehung der staatlichen und freien Straffälligenhilfe, insbesondere der Bewährungshilfe mindestens drei Monate vor der bedingten Entlassung (§§ 7, 18 Abs. 1 E-JStVollzG, § 88 Abs. 6 E-JStVollzG); die Bestellung eines Bewährungshelfers bei vollständiger Vollstreckung der Jugendstrafe mindestens drei Monate vor der Entlassung (§ 89 E-JGG); auf Antrag des zu Entlassenden steht der Bewährungshelfer für 6 Monate nach der Entlassung „helfend und betreuend zur Seite“; die Ermöglichung von Langzeiturlaub von bis zu vier Monaten (in Anlehnung an § 124 StVollzG bzgl. der Sozialtherapie) zur Vorbereitung der Entlassung (§ 18 Abs. 5 E-JStVollzG); Übergangshäuser als Schnittstelle zwischen Vollzug und Freiheit (§§ 14 Abs. 2 Nr. 4, 18 Abs. 3 E-JStVollzG) und die Festschreibung der begleitenden kriminologischen Forschung (§ 39).“ 6
Der Gesetzentwurf vermied den belasteten Begriff der „Erziehung“ ebenso wie den der „Behandlung“ und übernahm stattdessen das modernere und angemessenere Vokabular des SGB VIII, indem er von „Förderung“ und von „Fördermaßnahmen“ sprach. Da der Entwurf allerdings in § 4 eine Mitwirkungspflicht des Gefangenen konstituierte („Die Gefangenen sind verpflichtet, an der Erreichung
6
Dünkel, 2006, S. 565 f.
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Frieder Dünkel
des Vollzugsziels mitzuwirken“), konnte man ihn insgesamt unter das Leitmotiv „Fördern und Fordern“ stellen.7 Als Leitlinien der Förderung wurden im Entwurf alle Maßnahmen und Programme genannt, welche die Fähigkeiten und Fertigkeiten der jungen Gefangenen im Hinblick auf die Erreichung des Vollzugsziels entwickeln und stärken. Hierzu sollte der Vollzug aufgelockert bzw. in geeigneten Fällen weitgehend in freien Formen durchgeführt werden. Ferner sollte durch eine Binnendifferenzierung dem jeweiligen Entwicklungsstand und Förderbedarf Rechnung getragen werden. Inhaltsbereiche der Förderung waren – wie erwähnt – die bekannten Maßnahmen schulischer und beruflicher Bildung, die zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit der Tat, die verantwortliche Gestaltung des Zusammenlebens, Außenkontakte, Freizeitgestaltung, spezifische (ggf. deliktsbezogene) sozialtherapeutische und andere Behandlungsprogramme etc. Wichtig erschien vor allem auch der Ansatz, in Konfliktfällen disziplinarische Sanktionierungen zurückzudrängen und stattdessen positive Konfliktlösungen bis hin zur Wiedergutmachung (Täter-Opfer-Ausgleich) zu favorisieren. Der Arrest war im Katalog der Disziplinarmaßnahmen nicht mehr vorgesehen. Innovativ in diesem Zusammenhang war ferner der Versuch, konkrete Disziplinartatbestände zu formulieren (vgl. § 34 E-JStVollzG) anstatt von generalklauselartigen Eingriffsvoraussetzungen auszugehen. Der Ausgang des bundesrechtlich organisierten Versuchs einer gesetzlichen Regelung des Jugendstrafvollzugs ist bekannt: Mit dem Regierungswechsel 2005 (von Rot-Grün zu Schwarz-Rot, 2005-2009) und der 2006 vereinbarten Föderalismusreform wurde die Gesetzgebungskompetenz auf die Länder übertragen, die durch das zeitgleiche Urteil des BVerfG zum Handeln gezwungen waren. Im Zeitraum ab 2007 wurden schließlich 16 Landesgesetze verabschiedet, die innerhalb der nachfolgenden 12 Jahre mehrfach und zum Teil auch grundlegend geändert wurden.8
3
Die Föderalismusreform und die Folgen – Wettbewerb der Schäbigkeit?
In der Sachverständigenanhörung vor dem BVerfG prägte der Verfasser dieses Beitrags im Zusammenhang mit der Übertragung der Gesetzgebungskompetenz 7 Vgl. hierzu das Konzept des Jugendstrafvollzugs als „guter Schule“ bei Walkenhorst, 2002; 2002a. Das Konzept des „Förderns und Forderns“ ist im anderen Kontext der späteren Debatten im Rahmen von Hartz IV allerdings umstritten. 8 Einen Überblick insoweit gibt das Handbuch Jugendstrafvollzugsrecht, an dem Philipp Walkenhorst maßgeblich beteiligt ist, vgl. Ostendorf, 2016; eine kohärente Kommentierung, an der Walkenhorst und der Autor des vorliegenden Beitrags als Mitherausgeber beteiligt waren, ist vorläufig an der großen Änderungsdynamik der Landesgesetzgebung und der Heterogenität der Gesetzeslage gescheitert.
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auf die Länder, die sich im Mai 2006 bereits andeutete, den Begriff des „Wettbewerbs der Schäbigkeit“ und äußerte die Befürchtung, dass es zu einer unter Kosteneinsparungsgesichtspunkten erfolgenden Abwärtsspirale der quantitativen und qualitativen Ausstattung des Jugendstrafvollzugs kommen werde.9 Dieser eingängige Begriff hat die späteren Diskussionen zur gesetzlichen Ausgestaltung des Jugendvollzugs, aber vor allem die tatsächlichen Reformmaßnahmen mit beeinflusst. Hilfreich war insoweit, dass das BVerfG in seinem Urteil vom 31.5.2006 nicht nur die Verfassungswidrigkeit der geltenden rechtlichen Regelungen zum Jugendstrafvollzug feststellte, sondern darüber hinaus Qualitätsstandards festlegte,10 die eine solche Abwärtsspirale verhindern sollten. In der Tat hat der Begriff des „Wettbewerbs der Schäbigkeit“ im Sinne einer paradoxen Intervention Wirkung entfaltet, indem sich die Verlautbarungen aus den Justizministerien wiederholten nachzuweisen, dass dieser Wettbewerb nicht nur ausgeblieben sei, sondern im Gegenteil sei ein Wettbewerb im Sinne der bestmöglichen Ausstattung der Jugendanstalten, der „Best-practice“-Modelle, eingetreten. Fünf Jahre nach dem Urteil des BVerfG stellten Dünkel und Geng in einer Erhebung fest, dass sich die Ausstattung des Jugendstrafvollzugs mit Fachpersonal (Sozialarbeiter*innen/pädagog*innen und Psycholog*innen) deutlich verbessert hatte.11 Kamen 2006 im Durchschnitt auf eine Sozialarbeiter-/-pädagog*innenstelle knapp 32 Gefangene, so wurde die durchschnittliche Fallbelastung 2010 auf lediglich 17 gesenkt. In Hessen und Rheinland-Pfalz wurde sogar ein Verhältnis von 1:7 bzw. 1:11 erreicht, was auch im internationalen Vergleich12 als optimale Ausstattung bezeichnet werden kann. Auf eine Psycholog*innenstelle kamen 2006 67 Gefangene, 2010 dagegen „nur“ noch knapp 50. Hier schnitten Schleswig-Holstein mit einer Fallbelastung von knapp 15 und Berlin mit 26 am besten ab.13 Angesichts der großenteils sichtbaren beachtlichen Verstärkungen in den Haushaltsplänen der Bundesländer konnte man im Ergebnis daher zu Recht feststellen, dass der befürchtete Wettbewerb der Schäbigkeit tatsächlich ausgeblieben ist. Es wird allerdings interessant sein zu sehen, ob der erhebliche Belegungsrückgang der letzten Jahre14 und damit die potenziell weitere Verbesserung des 9
Vgl. mit Blick auf vollzugsöffnende Maßnahmen Dünkel & Schüler-Springorum, 2006. Vgl. i. E. BVerfGE 119, S. 69 ff., https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs 20060531_2bvr167304.html, Rn. 50 ff. 11 Vgl. Dünkel & Geng, 2011, S. 140 ff.; 2012. 12 Vgl. hierzu Dünkel & Stańdo-Kawecka, 2011, S. 1821, 1831. 13 Vgl. Dünkel & Geng, 2011, S. 142 f.; diese Durchschnittswerte sagen allerdings nur begrenzt etwas über die durchschnittliche Fallbelastung aus. Nahezu alle Bundesländer haben kleine sozialtherapeutische Abteilungen eingerichtet, in denen eine weit geringere Fallbelastung gegeben ist, während im sog. Normalvollzug die Fallbelastung so ist, dass im Allgemeinen jenseits von Diagnostik und Vollzugsplanung sowie Stellungnahmen zu vollzugsöffnenden Maßnahmen einschließlich der bedingten Entlassung kaum oder nur sehr begrenzt therapeutische Angebote i. e. S. vorgehalten werden können. 14 Vgl. hierzu Dünkel, Geng & Harrendorf, 2019, S. 317 ff. 10
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Frieder Dünkel
Personalschlüssels nicht doch durch einen Personalabbau neutralisiert oder sogar zu faktischen Verschlechterungen führen wird. Die Erhebungen von von der Wense für das Jahr 2014 geben dafür allerdings keine Anhaltspunkte, im Gegenteil hat sich die Situation bei den Fachdiensten in Berlin und Niedersachsen weiter verbessert, während sie in Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen relativ stabil blieb.15 4
Jugendstrafvollzugsgesetzgebung 2007-2016 – Innovation und Aufbruch?
Betrachtet man die Jugendstrafvollzugsgesetzgebung der Länder im Zeitraum 2007 bis 2016,16 so werden einerseits innovative Reforminhalte erkennbar, andererseits aber auch Stagnation und Stillstand. Von den unter 2. zitierten Reformpostulaten in den bundeseinheitlichen Reformüberlegungen (2002-2004) wurden mit der stärker als in den Erwachsenenvollzugsgesetzen erfolgten Orientierung am alleinigen Wiedereingliederungsziel,17 der verbindlichen Förderplanung mit systematischer Entlassungsvorbereitung und Übergangsmanagement unter frühzeitiger bzw. „rechtzeitiger“ Einbeziehung Externer und der Festlegung von Leitlinien der Förderung wie der „zukunftsorientierten Auseinandersetzung mit den eigenen Straftaten und ihren Folgen“, der schulischen Bildung, beruflichen Qualifizierung und arbeitspädagogischen Angeboten, etc. – trotz länderspezifischer Unterschiede im Detail – wesentliche Teile umgesetzt. Zu den Positiva der Reform gehört sicherlich auch die in allen Bundesländern verankerte Sozialtherapie, auch wenn die früher geforderte Selbstständigkeit entsprechender Einrichtungen in getrennten Anstalten nirgendwo realisiert wurde.18 Die Abteilungslösungen der Ländergesetze sind jedoch als durchaus sachgerecht anzusehen, zumal der „Regelvollzug“ des Jugendstrafvollzugs zahlreiche 15 Vgl. von der Wense, 2020, Kap. 4.6.1 (Sozialarbeiter-/Sozialpädagog*innenenstellen) und 4.6.2 (Psycholog*innenenstellen). In Berlin fiel die Betreuungsquote bei Sozialarbeiter*innen/Sozialpädagog*innen von 17,3 auf 9,3 Gefangenen pro Stelle, in Niedersachsen sank sie von 17,8 auf 10,2, womit die Anstalten in Berlin und Hameln auf vergleichbar gute Betreuungsquoten wie die „Spitzenreiter“ im Jahr 2010 in Hessen und Rheinland-Pfalz kamen. Auch beim Psychologischen Dienst verbesserte sich die Situation in Berlin und Hameln weiter, während sie im geschlossenen Vollzug in NRW und in Mecklenburg-Vorpommern weitgehend konstant blieb. 16 Soweit ersichtlich ist die Gesetzgebung nach Verabschiedung der Erwachsenenstrafvollzugsgesetze (nachdem zuvor bereits die Sicherungsverwahrung und die Untersuchungshaft gesetzlich geregelt worden waren), abgeschlossen. Nach 2016 sind keine Novellierungen für den Bereich des Jugendstrafvollzugs mehr erfolgt. 17 Dazu hatte das BVerfG (o. Fn. 9), Rn. 52 festgestellt: „Für den Jugendstrafvollzug hat das Ziel der Befähigung zu einem straffreien Leben in Freiheit besonders hohes Gewicht.“ 18 Vgl. im Überblick Dünkel, 2013, S. 152 ff.
Jugendstrafvollzugsgesetzgebung in Deutschland – Anmerkungen und Reminisz
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Elemente sozialtherapeutischer Gestaltung übernommen hat: Wohngruppenvollzug, Einzelunterbringung während der Ruhezeit, differenzierte Vollzugsplanung und -fortschreibung bis hin zu einer systematischen Überleitung in Freiheit mit einer Kooperation mit Externen, insbesondere der Bewährungshilfe im Übergang in die Freiheit.19 Bei der gesetzlichen Ausgestaltung der Sozialtherapie im Jugendstrafvollzug ist positiv hervorzuheben, dass die einseitige Fokussierung auf Sexualtäter, die im Jugendvollzug nur eine untergeordnete Rolle spielen,20 überwiegend aufgegeben wurde und der Schwerpunkt mehr auf Gewalttätern allgemein liegt.21 Ebenfalls positiv einzuschätzen ist die weitgehend einheitlich erfolgte Orientierung an einer Unterbringung in Einzelhafträumen während der Ruhezeit und beim Wohngruppenvollzug.22 Zu kritisieren ist die unverändert an der Grenze zur Verfassungswidrigkeit einzustufende niedrige Vergütung für Arbeit oder die Teilnahme an Ausbildungs/Behandlungsmaßnahmen. Auch die gesetzliche Absicherung von Qualitätsstandards hinsichtlich der Personalausstattung und Weiterbildung/Supervision unterblieb weitgehend, wenngleich die faktische Entwicklung – wie erwähnt – ermutigend ist. Zur Unterbindung subkultureller Einflüsse ist ein von sinnvollen Aktivitäten geprägter durchstrukturierter Alltag eine wesentliche Voraussetzung. Deshalb war eine zentrale Reformforderung, dass auch an den Wochenenden und Feiertagen ein umfassendes Freizeitangebot vorzuhalten ist (s. o. 2. und Nr. 80.2 der ERJOSSM des Europarats). Allerdings haben nur NRW (unter wesentlicher Einflussnahme von Philipp Walkenhorst) und Berlin einen entsprechenden Passus in den Jugendstrafvollzugsgesetzen aufgenommen (vgl. § 55 Abs. 1 JStVollzG NRW und § 62 Abs. 1 BlnJVollzG). Die Besuchsregelungen sind aufgrund der Vorgaben des BVerfG mit in der Regel vier Regelbesuchen pro Monat23 zwar günstiger als im Erwachsenen19 Zu den Behandlungsmaßnahmen und -angeboten im Jugendstrafvollzug vgl. Dünkel & Geng, 2007; 2011; 2012; von der Wense, 2020. 20 Am 31.3.2018 betrafen nur 5,2 % der Insassen Sexualtäter, während Tötungs- (3,7 %), Körperverletzungs- (21,7 %) und Raubdelinquenten (31,1 %) die große Mehrheit ggf. sozialtherapeutisch zu Behandelnder ausmachten, vgl. Dünkel, Geng & Harrendorf, 2019, S. 325 ff. 21 Vgl. Dünkel, 2013, S. 153 ff.; eine Ausnahme machen insoweit Bayern und Hamburg, die die vorrangige Aufnahme von Sexualtätern beibehalten haben. 22 Vgl. hierzu im Überblick Walter, 2016, S. 199 ff., 215 ff., der allerdings zutreffend auf einige kritisch zusehende Ausnahmen vom Wohngruppenvollzug in einigen Bundesländern hinweist. Auch bei der Einzelunterbringung während der Ruhezeit gibt es negative „Ausreißer“ (Bayern: lediglich Soll-Vorschrift) und problematische Einschränkungen: Häufig wird die Gemeinschaftsunterbringung – abgesehen von sinnvollen Ausnahmen bei hilfebedürftigen Gefangenen – „vorübergehend und aus zwingenden Gründen“ zugelassen, vgl. kritisch Walter, 2016, S. 202. 23 Eine Ausnahme im positiven Sinn stellt insoweit Brandenburg dar, das 6 Std. Regelbesuch pro Monat eingeführt hat, vgl. Walkenhorst, Roos & Kaplan, 2016, S. 422 f.; Thiele, 2016, S. 122 f.
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vollzug, der häufig nur ein bis zwei Stunden vorsieht,24 jedoch werden die Möglichkeiten zu sog. Langzeitbesuchen nur in sechs Bundesländern und nur eher beiläufig erwähnt.25 Hier sind insbesondere die neueren auf dem Mustergesetzentwurf von 2011 basierenden Erwachsenenvollzugsgesetze als „fortschrittlicher“ anzusehen.26 Noch weitgehend unterentwickelt sind neue Kommunikationsformen mit der Außenwelt über Telefonie und Internetzugang. Dafür war jedenfalls in den unmittelbar nach 2006 verabschiedeten Gesetzen die Zeit vielleicht noch nicht reif, jedoch wird nunmehr die Notwendigkeit, einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Internet und den sozialen Medien zu erlernen immer deutlicher und, dass ein beachtliches bislang nicht ausreichend genutztes Innovationspotenzial im (Jugend-)Strafvollzug vorhanden ist.27 Insgesamt bleibt die Gesamteinschätzung der gesetzlichen Entwicklung des Jugendstrafvollzugs zwar überwiegend positiv, jedoch ist nicht zu verhehlen, dass die Gesetzgebung in vielerlei Hinsicht dem befürchteten Flickenteppich entspricht, der mit der Föderalismusreform entstanden ist, obwohl sich die Mehrheit der Bundesländer auf gemeinsame Musterentwürfe verständigt hatte, die im Grunde bereits die Föderalismusreform konterkarieren. Die Idiosynkrasie einiger Justizverwaltungen hat letztlich doch zu einer im Detail disparaten Gesetzeslage geführt. Das kann zwar teilweise als innovationsfördernd gesehen werden, wo es aber um die Einschränkungen von Grundrechten und der Teilhabe am Leben in Freiheit geht (siehe das Beispiel Vollzugslockerungen unter 5.), sind föderale Experimente zweifelhaft. 5
Einzelthemen: Vollzugsöffnende Maßnahmen und Übergangsmanagement
Unter vollzugsöffnenden Maßnahmen verstehen die Landesgesetzgeber Maßnahmen, die das Verlassen der Anstalt seitens der Inhaftierten beinhalten oder – wie im Fall des offenen Vollzugs – eine nicht besonders gegen Entweichung gesicherte 24 Vgl. zusammenfasend Thiele, 2016, S. 156 ff.; im Erwachsenenvollzug haben immerhin 12 Bundesländer Langzeitbesuche explizit geregelt. 25 Vgl. Walkenhorst, Roos & Kaplan, 2016, S. 428; Thiele, 2016, S. 120 ff.; die Mindestbesuchsdauer für Regelbesuche wurde im Erwachsenenvollzug in immerhin acht Bundesländern von einer auf zwei Stunden. pro Monat angehoben, in Brandenburg sogar auf vier Stunden. Letztere Regelung erklärt, weshalb im Jugendvollzug die Mindestbesuchsdauer auf sechs Std. pro Monat angehoben wurde, um das verfassungsrechtlich geforderte Abstandsgebot zugunsten des Jugendvollzugs einzuhalten. 26 Vgl. zusammenfassend Thiele, 2016, S. 159. 27 Vgl. zur Telefonie Thiele, 2016, S. 174 ff.; Fährmann, 2018, S. 285 ff., zum Internetzugang Thiele, 2016, S. 192 ff.; Fährmann, 2018, S. 297 ff.; aufgrund seiner empirischen Untersuchung gelangt Fährmann zu Recht zum Schluss, dass die geltende restriktive Praxis der Telefonie in einigen Bundesländern (Bayern, einige Anstalten in NRW) als rechtswidrig anzusehen sind, vgl. Fährmann, 2018, S. 284.
Jugendstrafvollzugsgesetzgebung in Deutschland – Anmerkungen und Reminisz
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Unterbringung. Das BVerfG hat den vollzugsöffnenden Maßnahmen als Wiedereingliederungsmaßnahme eine besondere Bedeutung zugemessen und in seiner Rechtsprechung wiederholt darauf hingewiesen, dass der Vollzug nicht mit pauschalen Überlegungen die für eine Wiedereingliederung notwenigen Entlassungsvorbereitungsmaßnahmen wie Vollzugslockerungen verweigern darf.28 Auch darf der Vollzug die Chance auf eine bedingte Entlassung nicht dadurch unterlaufen, dass er ohne zureichende Begründung die für eine Prognoseentscheidung notwendigen Erprobungsmaßnahmen in Form von Lockerungen ablehnt.29 Die Gewährung von Vollzugslockerungen steht mit Ausnahme von Sachsen (gebundenes Ermessen in Form einer Soll-Regelung) im Ermessen der Vollzugsbehörden (Kann-Regelungen). Die rechtlichen Regelungen gehen ebenso wie das Bundesstrafvollzugsgesetz von 1977 in § 11 Abs. 2 von einer positiven Prognose im Hinblick auf die fehlende Missbrauchsgefahr bzgl. der Begehung von Straftaten und der Einhaltung der Pflicht zur rechtzeitigen Rückkehr aus Langzeitausgängen u. ä. aus, wobei die moderneren Gesetzgebungen als Risikomaßstab die sogenannte Verantwortungsklausel anstatt der sogenannten Befürchtungsklausel verwenden.30 Der Risikomaßstab ist damit lockerungsfreundlicher gestaltet worden. Lockerungen können bzw. sollen gewährt werden, wenn verantwortet werden kann zu erproben, den Gefangenen zu solchen Maßnahmen zuzulassen. Die Formulierung ist § 57 Abs. 1 StGB entnommen und beinhaltet nach der obergerichtlichen Rechtsprechung zur bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug, dass man nicht jedes Risiko eines Fehlverhaltens ausschließen muss (wie das die Klausel „der Befürchtung“ von Missbrauch im früheren § 11 Abs. 2 StVollzG nahelegte), sondern nur solche Risiken, die mit Blick auf die Sicherheit der Allgemeinheit
28 Vgl. z. B. BVerfG, Entscheidung vom 21.9.2018 – 2 BvR 1649/17 – HRRS 2018, Nr. 990; LS 3: „Die Versagung von Vollzugslockerungen nach mehrjährigem Freiheitsentzug berührt den grundrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruch des Strafgefangenen. Sie darf nicht auf lediglich abstrakte Wertungen gestützt werden. Vielmehr sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung konkrete Anhaltspunkte darzulegen, die geeignet sind, eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu begründen.“ Ferner schon: BVerfG, Beschluss vom 04.05.2015 – 2 BvR 1753/14 – StV 2017, S. 459 (st. Rspr.). 29 Vgl. BVerfG, Entscheidung vom 8.5.2008 – 2 BvR 2009/08 – zit. bei Ostendorf, 2016, S. 184; ferner schon BVerfG NStZ-RR 1998, S. 121 ff.; BVerfG NStZ 1998, S. 373 f.: „Die Vollzugsbehörde darf nicht ohne hinreichenden Grund (z. B. mit abstrakten Erwägungen) jene Vollzugslockerungen verweigern, die regelmäßig einer Entscheidung über die Strafrestaussetzung vorangehen.“ Diese st. Rspr. des BVerfG wurde zwar für den Erwachsenenstrafvollzug entwickelt, gilt aber selbstverständlich uneingeschränkt bzw. wegen des besonders hervorgehobenen Resozialisierungsaspekts (s. die zit. Entscheidung des BVerfG vom 31.5.2006) sogar noch verstärkt auch für den Jugendstrafvollzug. 30 Dies wird im bayerischen Strafvollzugsgesetz besonders deutlich. Während im Jugendstrafvollzug Lockerungen gewährt werden können, wenn „verantwortet werden kann zu erproben …“ (vgl. Art. 134 Abs. 2), ist der Gesetzgeber für den Erwachsenenvollzug bei der sog. Befürchtungsklausel geblieben, vgl. Art. 13 Abs. 2.
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unvertretbar wären.31 Auf den Widerspruch, zwischen einem großzügigeren Maßstab im Strafrecht für eine Entscheidung, die die dauerhafte Aufhebung des Freiheitsentzugs beinhaltet (bedingte Entlassung) und dem mit Blick auf eine nur tageoder stundenweise faktische Aufhebung des Freiheitsentzugs im Strafvollzugsrecht (bei Vollzugslockerungen) hatte schon Frisch im Jahr 1990 hingewiesen.32 Erst bei den parlamentarischen Anhörungen im Rahmen der Landesstrafvollzugsgesetzgebungen gelang es dem Verfasser des vorliegenden Beitrags darauf hinzuweisen und die Angleichung von Straf- und Strafvollzugsrecht insoweit zu befördern. Nur Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt haben den strengeren Maßstab der Befürchtungsklausel beibehalten. Einige Landesgesetzgeber haben im Vergleich zum StVollzG 1977 noch zusätzliche Hürden aufgebaut, wie beispielsweise die Einhaltung der Mitwirkungspflicht im Hinblick auf das Resozialisierungsziel oder die Berücksichtigung von Opferbelangen (§ 2 Abs. 3 S. 3 HessJVollzG). Diese Vorbehalte sind empirisch nicht begründbar und als sachfremd zu kritisieren.33 Ebenso zu kritisieren ist die nur in Hessen (§ 16 Abs. 3 S. 5) und Sachsen-Anhalt (§ 45 Abs. 9) mögliche Verbindung von Lockerungen mit elektronischer Aufenthaltsüberwachung. Ein entsprechender Bedarf ist angesichts der 14 Bundesländer, die ohne einen entsprechenden Vorbehalt auskommen, nicht auszumachen.34 Ein wesentliches Anliegen der Reformvorschläge zwischen 2002 und 2004 war es, die Entlassungsvorbereitung und Überleitung in Freiheit zu optimieren.35 Ein systematisches Übergangsmanagement wurde vor allem durch die auf dem Mustergesetzentwurf zum Erwachsenenstrafvollzug von 2011 basierenden
31
Vgl. zusammenfassend Dünkel, 2017, § 57, Rn. 14 ff., 16 ff. Vgl. Frisch, 1990, S. 735; hierzu Dünkel, 2017, § 57, Rn. 20 zur Ablehnung überzogener Prognoseanforderungen an die Entscheidung zur bedingten Entlassung und dem Vorschlag im Mittelfeld unsicherer Prognosen Vergleichsprognosen zu erstellen, die die Folgen der Nichtaussetzung einer Aussetzung gegenüberstellen und der Aussetzung den Vorrang einzuräumen, soweit dadurch keine schlechtere Legalbewährung als bei einer Vollverbüßung zu erwarten ist (so auch § 46 österr. StGB). 33 So auch Ostendorf, 2016, S. 183. 34 In Hessen sind bei insgesamt 1.141 Fällen elektronischer Überwachung im Rahmen der Unterstellung unter Bewährungs-/Führungsaufsicht oder zur U-Haftvermeidung im Zeitraum 2000-2013 lediglich in zwei Fällen Vollzugslockerungen mit elektronischer Überwachung registriert worden, vgl. Dünkel, Thiele & Treig, 2017, S. 17. Das für eine Modellphase von vier Jahren 2009 in Kraft gesetzte baden-württembergische Gesetz über elektronische Überwachung im Vollzug der Freiheitsstrafe wurde nach dem Ende der Laufzeit 2013 beendet; die Gründe lagen in der geringen Resonanz seitens der Vollzugspraktiker und der Justiz. Die Begleitforschung zeigte in vielen Fällen Net-widening-Effekte und, dass die unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten geeignete Zielgruppe nicht klar genug identifizierbar war, vgl. Schwedler & Wössner, 2015, S. 5, 114 ff. 35 Vgl. dazu auch Walkenhorst, 2007, S. 384 f., der in diesem Zusammenhang auf die notwendige „Begleitungskontinuität“ hinweist. 32
Jugendstrafvollzugsgesetzgebung in Deutschland – Anmerkungen und Reminisz
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Vollzugsgesetze stärker ausgebaut.36 Die Jugendstrafvollzugsgesetzgebung hat erst im Zuge der Novellierung des Erwachsenenvollzugs oder im Anschluss daran entsprechende Anpassungen vorgenommen, und zwar in Berlin, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (vgl. Tabelle 1, letzte Spalte). Tab. 1:
Land
Die gesetzlichen Regelungen zur Verlegung in den offenen Vollzug und zur Gewährung von Vollzugslockerungen im Bundesländervergleich.
Voraussetzungen Verhältnis offener o.V./g.V. Vollzug, Risikomaßstab
Vorrang Badeno.V. + WürtVollzug temberg in freien (JVollFormen zGB IV) (§ 7) Vorrang g.V. (Art. Bayern 12); Zust. (BayStd. Gef. VollzG) nicht erforderlich (Art. 133)
Ausgang (A), Ausfürung, Langzeitausgang (LA), Freigang (F)
HöchstRisikomaß LA A, LA, LA zur maßstab (StVollzG FG: Entlasin der : RegelurRisiko- sungsvor- Entlaslaub) pro maßstab bereitung sungsKalenderphase jahr
Soll-V.; Kann-ReG. + Bef.gelung + 24 Tage Kl. + G. (§ 9) Mw.-Pfl.
Bef.-Kl.
Bis zu 4 Bef.-Kl. + Mon. Mw.-Pfl. (§ 83)
Bis zu 1 Soll-V.; Kann-ReVerantMon.; VerantG. + Bef.- gelung 21 Tage wortungs- Kann-Re- wortungsKl. (Art. 134) klausel gelung. klausel (Art. 136)
Muss-V. + G. + VerantKann-ReKein Bis zu 3 GleichVerantworZwingend gelung HöchstMon. rangig wortungsklau* (§ 44) maß (§ 48) tungsklausel sel (§ 18) Muss-V.; Verant- Bis zu 6 BrandenG. + Ver- Kann-ReKein burg GleichworMon. Zwingend antworgelung Höchstrangig tungsklau- (§ 50 Abs. * (Bbgtungsklau- (§ 46) maß JVollzG) sel 4) sel (§ 22) Berlin (JStVollzG Bln)
36 Vgl. zu einer Übersicht der Gesetzgebung und Praxis bzgl. Lockerungen im Strafvollzug insgesamt Dünkel, Pruin, Beresnatzki & Treig, 2018.
430
Land
Frieder Dünkel
Voraussetzungen Verhältnis offener o.V./g.V. Vollzug, Risikomaßstab
Bremen (BremJStVollzG)
Gleichrangig
Hamburg (HmbJStVollzG)
Gleichrangig
Hessen (HessJStVollzG) MecklenburgVorpommern (JStVollzG M-V) Niedersachsen (NJVollz G) NordrheinWestfalen (JVollzG NRW)
Vorrang g.V. (§ 13 Abs. 1)
Gleichrangig
Ausgang (A), Ausfürung, Langzeitausgang (LA), Freigang (F)
HöchstRisikomaß LA A, LA, LA zur maßstab (StVollzG FG: Entlasin der : RegelurRisiko- sungsvor- Entlaslaub) pro maßstab bereitung sungsKalenderphase jahr
Soll-V.; VerantG. + VerKann-ReBis zu 4 24 Tage worantworgelung Mon. (§ 16) tungsklautungs(§ 15) (§ 19) sel klausel (§ 13) Soll-V.; G. + VeVerantKann-ReBis zu 4 rant-worworgelung 24 Tage Mon. tungstungsklau(§ 12) (§ 15) klausel sel (§ 11) Kann-ReKann-V.; Bis zu 6 gelung G. + Bef.24 Tage Bef.-Kl. Mon. (§ 13 Abs. Kl. (§ 16) 2)
KannRegelung + Verantwortungsklausel KannRegelung + Verantwortungsklausel Soll-V. + Bef.-Kl.
Kann-ReSoll-V.; Verant- Bis zu 4 gelung + G. + VerKann-Re24 Tage worMon. Verantantworgelung (§ 16) tungsklau- (§ 19 Abs. wortungs(§ 15) sel 3) tungsklauklausel sel (§ 13)
Soll-V.; Kann-ReVorrang G. + Bef.- gelung 21 Tage g.V. Kl. (§ 13)
Bef.-Kl.
Bis zu 6 Mon. Kann(§ 119 Vorschrift Abs. 2)
Bis zu 2 Muss-V.; Kann-Re- 24 Tage Wochen KannVorrang G. + Bef.gelung (§ 42 Abs. Bef.-Kl. (§ 46 Abs. Vorschrift o.V. Kl. (§ 14 (§ 42) 3) 2) Abs. 1)
Jugendstrafvollzugsgesetzgebung in Deutschland – Anmerkungen und Reminisz
Land
RheinlandPfalz (LJVollz G RP) Saarland (SJ-St VollzG)
Sachsen (SächsJStVollzG) SachsenAnhalt (JVollzGB LSA)
Voraussetzungen Verhältnis offener o.V./g.V. Vollzug, Risikomaßstab
Ausgang (A), Ausfürung, Langzeitausgang (LA), Freigang (F)
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HöchstRisikomaß LA A, LA, LA zur maßstab (StVollzG FG: Entlasin der : RegelurRisiko- sungsvor- Entlaslaub) pro maßstab bereitung sungsKalenderphase jahr
Kann-ReVerantSoll-V.; Kein Gleichgelung + worBis zu 6 Zwingend G. + Bef.Höchstrangig Mw.-Pfl. tungsklau- Mon. * Kl. (§ 22) maß (§ 45) sel Soll-V.; G. + VeGleich- rant- worrangig tungsklausel (§ 13) Soll-V.; G. + VeGleich- rant- worrangig tungsklausel (§ 13) Soll-V.; G., keine Gleich- Flucht-gerangig fahr ** (§ 22 Abs. 2)
Schleswig-Holstein (JStVollzG SH)
Gleichrangig
Soll-V.; G. + Verant- wortungsklausel (§ 13)
Thüringen (ThürJVollzGB)
Gleichrangig
Soll-V.; G. + Verant- wortungsklausel
Kann-ReVerant- Bis zu 4 Kanngelung + worMon. Vorschrift Mw.-Pfl. 24 Tage tungsklau- (§ 19 Abs. (§§ 15, sel 4) 16) Soll-Regelung (§ 15)
Verantwo Bis zu 6 Kein rMon. Zwingend Höchsttungsklau- (§ 19 Abs. * maß sel 3)
Kann-ReBef.-Kl., gelung + 21 Tage analog Bis zu 6 Zwingend G. + (§ 45 Abs. (keine Mon. * Mw.-Pfl. 7) Flucht-ge(§ 45 Abs. fahr) ** 3) Kann-Regelung + Kann-ReVerantVerant- Bis zu 4 gelung + 24 Tage worworMon. Mw.-Pfl. (§ 16 Abs. tungsklautungsklau- (§ 19 Abs. (§§ 15, 1 S. 2) sel + sel 4) 16) Mw.-Pfl. (§ 19 Abs. 4) Kann-ReVerantwo Bis zu 6 Kein gelung + Zwingend rMon. Mw.-Pfl. Höchst* (§ 50 tungsklau (§ 50 Abs. maß (§ 46, Abs. 4) sel 3) Abs. 2)
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Land
Frieder Dünkel
Voraussetzungen Verhältnis offener o.V./g.V. Vollzug, Risikomaßstab
Ausgang (A), Ausfürung, Langzeitausgang (LA), Freigang (F)
HöchstRisikomaß LA A, LA, LA zur maßstab (StVollzG FG: Entlasin der : RegelurRisiko- sungsvor- Entlaslaub) pro maßstab bereitung sungsKalenderphase jahr
(§ 22 Abs. 3)
Kann-ReSoll-V.; gelung StVollzG Vorrang G. + Bef.21 Tage 1977 o.V. (§ 11 Abs. Kl. (§ 10) 2).
Bef.-Kl.
Nur für Sozialtherapie vorgesehen (§ 124, bis zu 6 Mon.)
Bef.-Kl.
Legende: o.V. = offener Vollzug; g.V. = geschlossener Vollzug; Soll-V. = Soll-Vorschrift (Gefangene sollen verlegt werden …); Mw.-Pfl. = Mitwirkungspflicht, d. h. LA nur, wenn Gefangener der Mw.-Pfl. nachkommt; G. = Geeignetheit; Bef.-Kl. = Befürchtungsklausel (Zulassung, wenn Missbrauch nicht zu befürchten ist); * Sind zu gewähren, wenn zur Erreichung des Vollzugsziels erforderlich, es sei denn es besteht die hohe Wahrscheinlichkeit eines Missbrauchs (vgl. z. B. § 49 Abs. 4 JVollzG RP: „ … sofern nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die … Jugendstrafgefangenen sich dem Vollzug … der Jugendstrafe entziehen oder die Lockerungen zu Straftaten missbrauchen werden.“ In Sachsen-Anhalt zusätzlich eingeschränkt i. S. der Bef.-Kl. siehe **; ** Die „Verlegung in den offenen Vollzug“ bzw. „Lockerungen dürfen gewährt werden, wenn der Gefangene geeignet ist, insbesondere keine konkreten Anhaltspunkte die abstrakte Gefahr begründen, dass sich der Gefangene“ durch Flucht entziehen oder die Maßnahme zu weiteren Straftaten missbrauchen wird. Die Verlegung in den offenen Vollzug und Lockerungen können versagt werden, wenn der Gefangene seiner Mitwirkungspflicht nicht nachkommt. Ferner sind der Schutz der Allgemeinheit und Opferbelange zu berücksichtigen (§§ 22 Abs. 2, 45 Abs. 3 StVollzGB LSA). Weitere Besonderheiten: Katalog von Gefangenengruppen, die für Lockerungen i. d. R. ungeeignet sind (Suchtgefährdete, Ausbrecher, Lockerungsversager, Gewalt-, Sexualdelinquenten, wegen Btm-Delikten Verurteilte, vgl. § 45 Abs. 4 u. 6); die Lockerungsgewährung kann ferner von einer elektronischen Überwachung abhängig gemacht werden, § 45 Abs. 9.
In der Entlassungsphase sind dementsprechend Lockerungen zu gewähren, es sei denn es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Missbrauch der Lockerungen zu erwarten.37 Alle Bundesländer sehen im Jugendstrafvollzug in der Ent37 Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein haben entsprechende Anpassungen bislang noch nicht vorgenommen, wodurch Jugendstrafgefangene rechtlich gegenüber Insassen des Erwachsenenvollzugs schlechter gestellt sind (siehe dazu unten 7.).
Jugendstrafvollzugsgesetzgebung in Deutschland – Anmerkungen und Reminisz
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lassungsvorbereitungsphase vor, dass der Vollzug gelockert werden soll, zusätzlich zu entsprechendem Sonderurlaub insbesondere für Freigänger kann auch ein zusammenhängender Langzeitausgang/Hafturlaub von 4 bis 6 Monaten (in Bayern nur ein Monat) gewährt werden (vgl. Tabelle 1, 7. Spalte).38 Einen Überblick über die länderspezifischen Regelungen gibt Tabelle 1. Der systematische Vorrang des offenen Vollzugs vor dem geschlossenen Vollzug, wie er in § 10 Abs. 1 und 2 StVollzG 1977 zum Ausdruck gelangte, wurde – abgesehen von Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen – abgeschwächt zu einem gleichwertigen Nebeneinander. Andererseits blieb vielfach auch die Formulierung erhalten, dass geeignete Gefangene im offenen Vollzug untergebracht werden sollen, und nur falls dies nicht in Frage kommt, eine Unterbringung im geschlossenen Vollzug erfolgt. Auch der unmittelbare Strafantritt im offenen Vollzug ist zumeist möglich. Die Unterbringung im offenen Vollzug setzt überall die Geeignetheit des Gefangenen voraus, also insbesondere, ob er den besonderen Belastungen der täglichen Konfrontation mit der Freiheit gewachsen erscheint, wobei die Verwaltungsvorschriften Vorbehalte bei Sexual- und Gewalttätern vorsehen. Einige Abweichungen gibt es im Hinblick auf das Ermessen der Vollzugsbehörden. Während Hessen als einziges Bundesland den Gefangenen nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung einräumt (Kann-Regelung), ist das Ermessen in allen anderen Bundesländern außer Berlin und Brandenburg i. S. einer Soll-Vorschrift gebunden. Noch weitergehend sehen Berlin und Brandenburg eine Verpflichtung der Vollzugsbehörden vor, geeignete Gefangene im offenen Vollzug unterzubringen (Muss-Vorschrift, „sind zu verlegen …“). Damit wird der politische Wille erkennbar den offenen Vollzug auszubauen. Die Realität des offenen Vollzugs ist allerdings eher trist: Abbildung 1 zeigt, dass stichtagsbezogen eigentlich nur in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen eine quantitativ nennenswerte Überleitung über den offenen Vollzug erfolgt, während es sich in den übrigen Bundesländern um Einzel- bzw. Ausnahmefälle handelt.39
38
Eine Besonderheit sieht § 46 Abs. 3 JVollzG NRW vor: „Die Missbrauchsgefahren sind insbesondere bei einer unmittelbar bevorstehenden Entlassung mit den Risiken einer unerprobten Entlassung abzuwägen“, womit ähnlich wie in den Ländern mit einer „zwingenden“ Lockerung in der Entlassungsphase auf die Notwendigkeit von überleitungsorientierten Erprobungen hingewiesen wird, gegenüber denen das Missbrauchsrisiko zu relativieren ist. 39 Vgl. i. E. Dünkel, Geng & Harrendorf, 2019, S. 320 ff. und die zusätzlichen Erläuterungen in Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (ZJJ) 2020, S. 55 f.
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Frieder Dünkel
Abb. 1: Anteil der Gefangenen im offenen Jugendstrafvollzug, 2004-2018.
6
Disziplinar- und Sicherungsmaßnahmen
Ein Anliegen der Reformvorschläge zwischen 2002 und 2004 (ebenso wie einiger Vorgängerentwürfe aus den 1980er/1990er Jahren)40 war es, disziplinarische Sanktionierungen zu begrenzen,41 und u. a. durch konsensuale bzw. wieder gutmachungsorientierte Konfliktlösungen zurückzudrängen (s. o. 2.).42 Dement40
Vgl. zusammenfassend Dünkel, 1999, S. 179; 2006, S. 564. Ausgangspunkt waren die empirischen Befunde der 1980er und 1990er Jahre, die aufzeigten, dass im Jugendstrafvollzug – bei erheblichen regionalen Unterschieden im Bundesländervergleich – relativ gesehen ca. dreimal so häufig disziplinarisch sanktioniert wurde als im Erwachsenenvollzug, vgl. Dünkel, 1996, S. 37, 47, 128, 132 f.; Rose, 2016, S. 580 ff.; positives Beispiel eines konstruktiven Umgangs mit Disziplinarverstößen war die von Joachim Walter geleitete Anstalt in Adelsheim/BadenWürttemberg, der praktisch ohne die Arreststrafe auskam und den Gebrauch von formellen Disziplinarmaßnahmen drastisch reduzierte, vgl. J. Walter 1998. 42 In diesem Sinn auch explizit die ERJOSSM des Europarats in Rule 94.1, vgl. Council of Europe 2009, S. 24, 86. 41
Jugendstrafvollzugsgesetzgebung in Deutschland – Anmerkungen und Reminisz
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sprechend haben alle Gesetze den Vorrang erzieherischer Gespräche bzw. Maßnahmen43 oder anderer Reaktionen im Sinne einer wiedergutmachungsorientierten Strafrechtspflege (Restorative Justice)44 eingeführt. Ferner ging es darum, einen Tatbestandskatalog für disziplinarische Verstöße anstatt der bisherigen Generalklauseln auszuformulieren, um Gefangenen ggf. entsprechend vorhersehbare Reaktionen auf konkrete Normverstöße (jenseits von Verstößen gegen die „Sicherheit und Ordnung“ der Anstalt) zu verdeutlichen.45 Eine weitere Forderung war (und ist), auf den Arrest als disziplinarische Sanktion zu verzichten.46 Letztere Forderung ist nur in Brandenburg und Sachsen (im letzteren Fall nur vorübergehend) eingelöst worden.47. In Sachsen bleibt die wieder eingeführte Maßnahme der „disziplinarischen Trennung“ von anderen Gefangenen auf extreme Ausnahmefälle und nur nach einer Anzeige bei der Aufsichtsbehörde für eine längere Dauer als 48 Stunden zulässig, womit dem Anliegen der ERJOSSM Rechnung getragen wird.48
43 Vgl. zu einer synoptischen Übersicht Kühl, 2012, S. 255 ff.; ferner Faber, 2014, S. 104 ff.; kritisch zu der Kategorie erzieherischer Maßnahmen unterhalb der Eingriffsschwelle disziplinarischer Sanktionen Rose, 2016, S. 558 ff., 569, der die mangelnde Konturierung erzieherischer Maßnahmen als rechtsstaatlich bedenklich ansieht und die Gefahr einer Umgehung formeller Disziplinarmaßnahmen im Rahmen eines die Betroffenen auch schützenden Verfahrens sieht. Dieser Einwand dürfte allerdings hinsichtlich einverständlicher Konfliktregelungen i.S. der Restorative Justice nicht oder kaum gelten. 44 Zu zunehmend auch im Strafvollzug verbreiteten Verfahren und Maßnahmen der Restorative Justice im internationalen Vergleich vgl. Dünkel, Grzywa-Holten & Horsfield, 2015, S. 1.072 ff. 45 Vgl. Rose, 2016, S. 144; ferner bereits Dünkel, 2006, S. 564; diese Forderung wurde in der Empfehlung des Europarats von 2008 (Rule 94.3 der ERJOSSM) aufgegriffen, vgl. hierzu Dünkel, 2011, S. 150. 46 Siehe zum Entwurf von 2004 oben unter 2. Auch hierzu geben die ERJOSSM des Europarats deutliche Hinweise: „Solitary confinement in a punishment cell shall not be imposed on juveniles“ (Rule 95.3 der ERJOSSM von 2008), vgl. Council of Europe, 2009, S. 24. 86; gemeint sind damit die klassischen Arrestzellen mit minimaler Ausstattung. Die Isolierung von jungen Gefangenen auf anderem Weg soll nach Rule 95.4 nur in extremen Ausnahmefällen möglich sein und – so der Kommentar zu den Rules – für maximal bis zu drei Tage, vgl. Council of Europe, 2009, S. 87; hierzu auch Kühl, 2012, S. 254 f., 282 f.; Faber, 2014, S. 134 f. 47 Vgl. Faber, 2014, S. 133. Sachsen hatte im Zeitraum vom 1.6.2013 bis 21.3.2019 den Arrest als Disziplinarmaßnahme abgeschafft, ihn mit der Gesetzesänderung von 2019 in der Form der Disziplinarmaßnahme der „Trennung“ von anderen Gefangenen für die Dauer von bis zu zwei Wochen wieder eingeführt (vgl. § 82 Abs. 3 Nr. 5 Sächsisches JStVollzG). Zum Charakter dieser Maßnahme sagt § 83 Abs. 2: „Für die Dauer der disziplinarischen Trennung werden die Gefangenen getrennt von anderen Gefangenen untergebracht. Sie können in einem besonderen Haftraum untergebracht werden. Dieser muss den Anforderungen entsprechen, die an einen zum Aufenthalt bei Tag und Nacht bestimmten Haftraum gestellt werden.“ Da angeordnet werden kann, dass den jungen Inhaftierten außer dem Lesestoff keine persönliche Habe und Gegenstände zur Freizeitgestaltung verbleiben, und sie auch von gemeinschaftlichen Freizeitmaßnahmen ausgeschlossen werden können, handelt es sich nur um eine andere Bezeichnung des früheren Arrests. 48 S. o. Fn. 324. Diese bedeutsame Einschränkung des Anwendungsbereichs ergibt sich aus § 83 Abs. 4: „Die Verhängung einer disziplinarischen Trennung ist der Aufsichtsbehörde und auf Antrag der
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Der Forderung, Disziplinarmaßnahmen nur aufgrund eines schuldhaften Verstoßes gegen tatbestandlich konkretisierte Pflichtenverstöße anordnen zu können, sind die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen nicht nachgekommen, hier gibt es entsprechend der schon in § 102 StVollzG 1977 enthaltenen Regelung eine Generalklausel. Die anderen Bundesländer haben mehr oder weniger konkretisierte Tatbestände ausformuliert, zumeist aber auch eine Art „Auffangtatbestand“ bzgl. „wiederholten oder schwerwiegenden Verstößen gegen die Hausordnung oder das Zusammenleben in der Anstalt“ geschaffen.49 Zur Disziplinarstrafenpraxis gibt es seit 1996, als die statistische Erfassung seitens des BMJ eingestellt wurde,50 nur wenige empirische Befunde. Im Rahmen einer 2006 publizierten Hellfeldstudie zu mehr als 600 aktenmäßig registrierten Gewalttaten von Gefangenen in Nordrhein-Westfalen wurde deutlich, dass es in 91 % der Fälle zu formellen Disziplinarmaßnahmen kam, bei etwa einem Drittel zu Arrest,51 was angesichts der Tatsache, dass 53 % der Gefangenen disziplinarisch vorbelastet waren, 22% sogar einschlägig wegen anderer Gewalttaten, nicht besonders erstaunen mag. Bemerkenswert ist, dass der Arrest im Erwachsenenvollzug bei 42 %, im Jugendstrafvollzug dagegen nur bei 12 % der betroffenen Gefangenen angewendet wurde. Das spricht für einen im Jugendstrafvollzug stärker verbreiteten erzieherischen Umgang mit derartigen Konflikten. Aus der empirischen Studie in Mecklenburg-Vorpommern (JVA Neustrelitz) für den Zeitraum 2006 bis 2011 wurde gleichfalls deutlich, dass der Arrest als Disziplinarmaßnahme tendenziell als ultima ratio der Disziplinarmaßnahmen eingesetzt wird (zwischen 7% und 17% der Anteile an den Disziplinarmaßnahmen insgesamt), allerdings mit ansteigender Tendenz.52 Hinzu kam, dass in Mecklenburg-Vorpommern mit zunehmendem Verlauf Arrest auch bei Nichtgewalttaten unter Gefangenen vermehrt angewendet wurde, sich demgemäß eine vermehrte Straforientierung bzw. Punitivität andeutet.53 Die Untersuchung in NRW ebenso wie eine weitere Studie zu Gewaltereignissen in Sachsen54 gelangen zum Ergebnis, dass die formellen Disziplinarmaßnahmen ebenso wie die (in höchst unterschiedlichem Umfang gestellten Strafanzeigen) erzieherisch weniger geeignet erscheinen als eine wiedergutmachungsorientierte Aufarbeitung in erzieherischen Gesprächen.55 Gefangenen ihrem Verteidiger unverzüglich mitzuteilen, wenn diese länger als 48 Stunden vollstreckt wird.“ 49 Vgl. zusammenfassend Rose, 2016, S. 594 ff.; kritisch auch Faber, 2014, S. 110 ff. 50 Zur Auswertung der Daten bis 1994 vgl. Dünkel, 1996, S. 128 ff. In der sog. St 8 des BMJ werden seither nur noch Tätlichkeiten gegen Bedienstete erfasst, jedoch keinerlei Sanktionen mehr. 51 Vgl. Wirth, 2006, S. 21; vgl. auch Rose, 2016, S. 576. 52 Vgl. Faber, 2014, S. 171 ff. (2006: 7%; 2011: 17%). 53 Zur Kritik vgl. Faber, 2014, S. 181 ff., 196. 54 Vgl, Hinz & Hartenstein, 2010, S. 181; hierzu auch Rose, 2016, S. 577 f. 55 Vgl. Wirth, 2006, S. 21; Rose, 2016, S. 578; Walkenhorst, 2007a, S. 230 ff.; ebenso Fehrmann, 2015, S. 43; ferner zutreffend Neubacher, 2014, S. 499: „Transparenz, Fairness und Berechenbarkeit des
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Gerade zur Nutzung erzieherischer Gespräche und konfliktbearbeitender Verfahren im oben genannten Sinn gibt es allerdings keine empirischen Befunde, was den dringenden weiteren Forschungsbedarf belegt. In jedem Fall sollten sich die Justizministerien jedoch dazu bereitfinden, die vom BVerfG geforderte evidenzbasierte Grundlage für die Weiterentwicklung des Jugendstrafvollzugs56 durch die Bereitstellung grundlegender Kennzahlen in den einschlägigen Statistiken zur Verfügung zu stellen. 7
Defizite: Schlechterstellungen junger Gefangener gegenüber dem Erwachsenenvollzug
Die Entwicklung der Reformgesetzgebung zum Strafvollzug in Deutschland hat in Einzelfällen zu dem merkwürdigen Ergebnis geführt, dass die der rechtlichen Regelung des Jugendstrafvollzugs nachfolgenden Gesetze zum Erwachsenenvollzug teilweise innovativer gestaltet sind als die Jugendstrafvollzugsgesetze. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass der sogenannte Mustergesetzentwurf vom 23.08.2011, das Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit von zehn Bundesländern,57 in einigen Bereichen wie insbesondere bei den vollzugsöffnenden und überleitungsorientierten Maßnahmen deutlich progressivere Regelungen enthält als die 2007 bis 2009 verabschiedeten Jugendstrafvollzugsgesetze, welche nicht in allen Bundesländern angepasst wurden. So werden vollzugsöffnende Maßnahmen in zahlreichen Ländern von der Erfüllung der nur im Jugendstrafvollzug vorzufindenden Mitwirkungspflicht abhängig gemacht (s. o. Tabelle 1). In Schleswig-Holstein können Gefangene im Erwachsenenvollzug jährlich bis zu 30 Tage (vgl. § 55 Abs. 2 Nr. 3 StVollzG SH), Gefangene im Jugendstrafvollzug dagegen nur 24 Tage Langzeitausgang erhalten. Zur Entlassungsvorbereitung können Erstere bis zu sechs Monate (§ 59 Abs. 3 StVollzG), letztere aber nur maximal vier Monate zusammenhängend beurlaubt werden.
vollzuglichen Handelns“ … „müssen vergrößert werden. Hierzu dürfte ein Anti-Gewalt-Konzept beitragen, das nicht notwendigerweise Strafanzeige und/oder Disziplinarmaßnahme als Standardreaktion vorsehen muss. Entscheidend wird sein, dass die Gefangenen nicht mehr Gewalt, sondern gewaltfreies Verhalten als Statusgewinn erfahren. …In diesem Sinn liegt die Lösung des Gewaltproblems sicherlich eher in „weichen“ Faktoren wie der Verbesserung des Anstaltsklimas als in technischen Sicherungsmaßnahmen.“ Ausführlich zu Strategien der Gewaltprävention auch Neubacher, 2014a; Neubacher & Boxberg 2018, S. 209 ff.; Endres & Breuer 2018, S. 592 ff., 594 ff. 56 Vgl. BVerfG (o. Fn. 9), Rn. 59, 64. 57 Es handelte sich um folgende Bundesländer: Berlin, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen; der Entwurf ist im Internet auf den Internetseiten der beteiligten Bundesländer zu finden, vgl. z. B. http://www.thueringen.de/de/justiz/presse/dokumentation/stvollzg.
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In Mecklenburg-Vorpommern sind im Jugendstrafvollzug die Langzeitausgänge auf jährlich 24 Tage begrenzt, im Erwachsenenvollzug gibt es dagegen keine Obergrenze. Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein haben von „zwingend“ vorzusehenden Lockerungen in der Entlassungsphase – wie erwähnt – im Jugendim Gegensatz zum Erwachsenenvollzug durch Nichtübernahme der Regelungen der Erwachsenenstrafvollzugsgesetze abgesehen. Man könnte nun einwenden, dass die zusammenhängenden Langzeitausgänge über mehrere Monate in der Praxis ohnehin nicht vorkommen, da es entsprechende Übergangseinrichtungen der Freien Straffälligenhilfe oder der Bewährungshilfe, in denen ein entsprechende Langzeitlockerung typischerweise unter realen Bedingungen der Freiheit, aber i. V. m. einer sozialarbeiterischen Betreuung im Alltagsleben erfolgen soll, entweder gar nicht58 oder in jedem Fall nicht flächendeckend gibt. Die Beispiele von Schlechterstellungen ließen sich fortsetzen. Dass derartige Defizite im Jugendstrafvollzug keine Belanglosigkeit sind, wird daran deutlich, dass die European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM) von 2008 in der Grundsatzregel Nr. 13 jegliche Schlechterstellung von Jugendlichen gegenüber Erwachsenen hinsichtlich ihrer verfahrensbezogenen Rechte untersagen,59 was als allgemeiner Grundsatz auch auf den Vergleich des Jugendstrafvollzugs mit dem Erwachsenenvollzug zu übertragen ist. Nach der Rechtsprechung des BVerfG hat eine Nichtbeachtung europäischer Standards eine „indizielle Bedeutung“ für eine anzunehmende Verfassungswidrigkeit entsprechender gesetzlicher Regelungen.60 Die Landesgesetzgeber würden also gut daran tun, die Jugendstrafvollzugsgesetze gegenüber den Strafvollzugsgesetzen des Erwachsenenvollzugs abzugleichen, und erstere zumindest anzupassen, wenn nicht sogar eine Besserstellung verfassungsrechtlich geboten erscheint.61
58 Das Erwachsenenstrafvollzugsgesetz in Mecklenburg-Vorpommern sieht in § 42 Abs. 3 StVollzG MV derartige Einrichtungen zwar vor, jedoch gibt es keine entsprechenden Träger, die eine solche Einrichtung betreiben. Das ältere Jugendstrafvollzugsgesetz hat keine vergleichbaren überleitungsorientierten Regelungen vorgesehen. Eine Anpassung des JStVollzG unterblieb bislang mit der Folge einer rechtlichen Schlechterstellung junger Gefangener. 59 Vgl. dazu zusammenfassend Dünkel, 2011, S. 144. 60 Vgl. BVerfGE 116, S. 69 ff. (o. Fn. 9), Rn. 63: „Auf eine den grundrechtlichen Anforderungen nicht genügende Berücksichtigung vorhandener Erkenntnisse oder auf eine den grundrechtlichen Anforderungen nicht entsprechende Gewichtung der Belange der Inhaftierten kann es hindeuten, wenn völkerrechtliche Vorgaben oder internationale Standards mit Menschenrechtsbezug, wie sie in den im Rahmen der Vereinten Nationen oder von Organen des Europarates beschlossenen einschlägigen Richtlinien und Empfehlungen enthalten sind … nicht beachtet beziehungsweise unterschritten werden.“ 61 So z. B. hat das BVerfG hinsichtlich der Häufigkeit von Besuchen festgelegt, dass Jugendstrafgefangene ein „Mehrfaches“ an Besuchskontakten im Vergleich zum Erwachsenenvollzug zugestanden werden soll, vgl. BVerfGE 116, S. 69 ff., (o. Fn. 9), Rn. 57.
Jugendstrafvollzugsgesetzgebung in Deutschland – Anmerkungen und Reminisz
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Ausblick
Der deutsche Jugendstrafvollzug ist nicht zuletzt dank der intensiven Debatten, die Philipp Walkenhorst ausgelöst und wissenschaftlich sowie praktisch begleitet hat, in seiner rechtlichen und praktischen Ausgestaltung besser geworden als er zu Beginn der Reformdiskussion Anfang der 1980er Jahre war. Innovative Konzepte und Praxismodelle haben das Prinzip der Wiedereingliederungsorientierung nachhaltig entwickelt und einen auch international vergleichend betrachtet hohen Entwicklungsstand erreicht, wenngleich man nach wie vor Defizite und Probleme erkennen kann (s. o.). Der erfreuliche Belegungsrückgang sollte nicht dazu genutzt werden Personal einzusparen und so die Qualität abzusenken. Der erhebliche Krankenstand und Motivationsprobleme von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen müssen als ein ernstzunehmendes Warnsignal gesehen werden. Der vorliegende Beitrag hat sich vor allem mit der gesetzlichen Regelung des Jugendstrafvollzugs auseinandergesetzt, an der ich das Vergnügen hatte, mit Philipp Walkenhorst eng zusammenarbeiten zu dürfen. Viele der Anfang der 2000er Jahre entwickelten Reformüberlegungen62 haben nach der Föderalismusreform in den Landesgesetzen Eingang gefunden, jedoch ist kritisch anzumerken, dass auch noch so gut formulierte gesetzliche Regelungen nicht zwangsläufig einen guten Strafvollzug ergeben. Hierzu bedarf es einer guten Anstaltskultur und Vollzugsbediensteter, die ihre Aufgabe mit Empathie und Begeisterung wahrnehmen. Dafür sich immer wieder zu Wort gemeldet zu haben, ist ein großes Verdienst von Philipp Walkenhorst. Wissenschaft und Praxis des Jugendstrafvollzugs brauchen begeisterte und begeisternde Fürsprecher*innen eines humanen und zugleich wirksamen Vollzugs. Ich wünsche mir daher, dass Philipp Walkenhorst nach seiner gerade vollzogenen Emeritierung weiterhin mit Elan seine wissenschaftliche Expertise einbringt und einen erziehungswissenschaftlich evidenzbasierten Jugendstrafvollzug mitgestaltet.
62 Die neuere Geschichte der gesetzlichen Reform des Jugendstrafvollzugs begann – wie eingangs erwähnt – weit früher, spätestens mit der Einsetzung der sog. Jugendstrafvollzugskommission im Jahr 1976, die 1980 ihren Abschlussbericht vorlegte. Es folgten verschiedene Entwürfe des BMJ, der Anstaltsleitervereinigung, von Baumann und anderen in den 1980er Jahren, vgl. zusammenfassend Dünkel, 1990, S. 471-504; 2006, S. 561 ff. In den 1990er Jahren folgten weitere Entwürfe des BMJ (1991 bzw. 1993, hierzu kritisch Dünkel, 1992, S. 176 ff., 181: „völlig unzureichend“; Dünkel, 1999, S. 111 ff.), die jeweils am Widerstand einiger Bundesländer scheiterten, die die zu hohen Kosten eines jenseits des status quo stärker reformorientierten Gesetzes fürchteten, vgl. Lehmann 2002, S. 84.
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Frieder Dünkel
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Jugendliche im Jugendstrafvollzug: Von quantitativen Rückblicken zu qualitativen Ausblicken Wolfgang Wirth
Warum heißt der Jugendstrafvollzug eigentlich Jugendstrafvollzug? Na, weil dort jugendliche Straftäter inhaftiert sind, wird man wohl meistens zur Antwort bekommen, würde man ebendiese Frage stellen. Die Antwort ist nicht falsch, aber auch nicht ausschließlich richtig. Nach dem deutschen Jugendgerichtsgesetz gilt als „jugendlich“, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. „Kinder“ unter 14 Jahren sind noch nicht jugendlich, zumindest in Deutschland auch noch nicht strafmündig und schon allein deshalb nicht im Jugendstrafvollzug zu finden. Demgegenüber ist die Altersgruppe der 18- bis unter 21-jährigen „Heranwachsenden“ nicht mehr jugendlich, gleichwohl aber unter den im Jugendstrafvollzug Inhaftierten vertreten. Und auch an „jungen Erwachsenen“, die älter sind, das 25. Lebensjahr aber (in der Regel) noch nicht vollendet haben, kann eine Jugendstrafe vollzogen werden. Selbst die Vermutung, im Jugendstrafvollzug seien zumindest mehrheitlich „jugendliche“ Straftäter inhaftiert, trifft nicht zu. Tatsächlich betrug der Anteil der dort untergebrachten 14- bis unter 18-jährigen Strafgefangenen bundesweit im Jahr 2016 gerade einmal 10 %, während jeweils etwa 45 % der im Jugendstrafvollzug Inhaftierten zu den „Heranwachsenden“ oder „jungen Erwachsenen“ zählten.1 Dies gilt auch für den nordrhein-westfälischen Jugendstrafvollzug, auf den sich die folgenden Ausführungen beziehen. Allerdings ist diese Erkenntnis nicht neu, wurde doch schon in den 1980er Jahren zu Recht vorgeschlagen, man solle doch eher von einem Heranwachsenden- oder Jungerwachsenen- als von einem Jugendstrafvollzug sprechen.2 Der Vorschlag ist nach wie vor berechtigt, obwohl jüngst wieder eine Zunahme Jugendlicher im Jugendstrafvollzug erkennbar ist, wie eine auf 40 Jahre zurückblickende Zeitreihenanalyse zeigt.3
1
Vgl. Pauli et al., 2019, S. 10. Matzke, 1982, S. 33. Für die Aufbereitung der Daten in diesem Artikel danke ich Georg Langenhoff (amtliche Statistik) und Rebecca Lobitz (Daten zur Evaluierung des Jugendstrafvollzuges NRW). 2 3
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_26
444 1
Wolfgang Wirth
Quantitative Rückblicke auf den Jugendstrafvollzug
So war der Anteil der im Wortsinn „jugendlichen Jugendstrafgefangenen“ am Stichtag des 31. März 2019 mit 14,1 % exakt genauso groß wie zu Beginn unserer Aufzeichnungen im Jahr 1978 – dies allerdings bei einer Fallzahl von inzwischen nur noch 973 Jugendstrafgefangenen insgesamt, dem bisherigen Allzeittief der Jugendstrafvollzugsbelegung.4 3.500
14,1%
14,1% 14%
3.000 12% 2.500 10% 2.000 8% 1.500
7,5% 6%
1.000
4%
500
2%
0
0%
14 - u. 18
18 und älter
Anteil Jugendliche
Abb. 1: Entwicklung der Gefangenenzahlen im Jugendstrafvollzug NRW.5
Die aktuelle „Jugendlichenquote“ entspricht demnach lediglich einer Anzahl von 137 „Köpfen“ gegenüber immerhin 270 im Jahr 1978 bzw. 269 anno 1983, als mit 2.188 Jugendstrafgefangenen der bisher höchste Belegungsstand registriert wurde. Ein Jahr später haben Peter Alexis Albrecht und Horst Schüler-Springorum, zwei bedeutende Kriminologen ihrer Zeit, einen breit rezipierten Sammelband herausgegeben, der sich mit den Strukturen und Problemen der Jugendstrafe an besonders jungen Jugendlichen, nämlich der Vierzehn- und Fünfzehnjährigen, beschäftigte.6 Grundlage dieser Publikation waren Ergebnisse eines Forschungsprojektes, das das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit in Auftrag gegeben hatte, nachdem die Jugendministerkonferenz der Länder 1980 vorgeschlagen hatten, 14-/15-jährige aus dem Justizvollzug herauszunehmen und delinquente Jugendliche dieser Altersgruppe in die Zuständigkeit der Jugendhilfe zu geben, was 4
Die für das Bundesgebiet seit dem Jahr 2000 vorliegenden Vergleichszahlen zeigen eine ähnliche Entwicklung. Waren zu Beginn des Jahrtausends 7.396 Jugendstrafgefangene registriert, so hat sich diese Anzahl seitdem stetig auf 3.679 in 2019 reduziert, also in etwa halbiert. 5 Einschließlich Freiheitsstrafe, die gem. § 114 JGG in der Jugendstrafanstalt vollzogen wird. Datenquelle: IT NRW (Strafvollzugsstatistik ST2, mit eigenen Berechnungen). 6 Albrecht & Schüler-Springorum, 1983.
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die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder allerdings im Jahr 1981 abgelehnt hatte. Mit dem Forschungsprojekt sollte die entstandene Kontroverse versachlicht und ein solideres Wissen über die tatsächliche „Lage der jüngsten Gefangenen“ im Strafvollzug erarbeitet werden. In dem Bemühen, die damit verbundene Fokussierung nicht als ungerechtfertigte Verengung der Fragestellung auf Sonderprobleme sehr junger Strafgefangener erscheinen zu lassen, fassten die Herausgeber ein wesentliches Ergebnis des Forschungsprojektes wie folgt zusammen: „Nicht allein für die 14-/15jährigen ist der Strafvollzug die denkbar schlechteste staatliche Sanktion; hervorzuheben ist vielmehr, dass gerade die jüngsten Gefangenen am ungeschütztesten, am nachhaltigsten und am folgenschwersten den deprivierenden Auswirkungen des Gefängnisses ausgesetzt sind.“7 Und sie beklagten zudem gar einen prinzipiellen Widerspruch zwischen Erziehungszielen und der Vollzugswirklichkeit, verbunden mit der Befürchtung, „dass sich auch an der Situation der 14-/15jährigen, die mit staatlichen Kontrollinstanzen in Berührung kommen, nichts Wesentliches ändern“ werde, solange „das reformistische Vokabular von ‚Behandlung‘ und ‚Resozialisierung‘ dazu dient, Repression und Generalprävention zu verschleiern, sozialstaatliche Postulate also nur verbalisiert und nicht praktiziert werden.“8 Haben die Autoren Recht behalten? Dies wird man mit Blick auf die damalige Kontroverse zwischen den Jugend- und Justizressorts wohl zunächst insoweit bejahen müssen, als es auch nach der Veröffentlichung ihrer Befunde nicht zu einer Gesetzesänderung im Sinne einer Herausnahme der besonders jungen Jugendlichen aus dem Jugendstrafvollzug gekommen ist. Aber die zur damaligen Zeit doch noch sehr viel grundlegendere Kritik am Jugendstrafvollzug hat im Verlauf weiterer kriminologischer und kriminalpolitischer Debatten doch erkennbar dazu beigetragen, dass die Belegungszahlen im Jugendstrafvollzug deutlich reduziert wurden. Der statistisch nachweisbare Belegungsrückgang ist tatsächlich nicht allein auf demografische Entwicklungen zurückzuführen, sondern auch auf die seinerzeit einsetzende Diversionsbewegung, der es – in dem wohl allgemeinsten Begriffsverständnis – vor allem darum geht, „die gesellschaftliche Bewältigung von Kriminalität, möglichst außerhalb der Justiz und ihrer Instanzen vorzunehmen“9 und eher mit dem Förderinstrumentarium des Jugendhilferechts als mit den Sanktionsinstrumenten des Jugendstrafrechts auf soziale Devianz und Straffälligkeit zu reagieren. Gestützt wird dies auch durch die Entwicklung der Haftquoten im Jugendstrafvollzug – einer Kennzahl, mit der die Anzahl Strafgefangener in Relation zu jeweils 100.000 (gleichaltrigen) Einwohnern der „Normalbevölkerung“ betrachtet 7
Albrecht & Schüler-Springorum, 1983, S. 8. Hervorhebungen bei Albrecht & Schüler-Springorum, 1983, S. 12. 9 Kaiser 1985, S. 72, mit weiteren Erläuterungen. 8
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wird. Diese Kennzahl lag bei den jugendlichen, also 14- bis unter 18-jährigen Jugendstrafgefangenen Nordrhein-Westfalens 1983 bei 24,4 und 2019 bei 19,8, nachdem sie zwischenzeitlich in den 1990er Jahren sogar unter den Wert von 15 gefallen war. Zum Vergleich: Bei den 18- bis unter 21-jährigen Heranwachsenden waren die ebenfalls gesunkenen Vergleichswerte deutlich höher, nämlich 134 (1983) und 74 (2019), wobei der letztgenannte Wert in etwa der für den Vollzug der Freiheitsstrafe (Erwachsenenstrafvollzug) insgesamt berechneten Haftquote entspricht (77 in 2019). Und im Übrigen beträgt die Anzahl der jugendlichen Gefangenen unter 16 Jahren, von denen am relevanten Stichtag des 1. März 1982 bundesweit insgesamt 59 einsaßen10, in NRW aktuell exakt 13 (nach lediglich 10 im Vorjahr), darunter lediglich ein einziger 14-Jähriger, was natürlich keine hinreichende Datengrundlage für quantitative „Follow-up“ Analysen bietet. Da die Strafvollzugsforschung diese Zielgruppe vielleicht auch deshalb nicht länger im Fokus behielt, sind die Befürchtungen Albrechts und Schüler-Springorums letztlich nicht weiter empirisch geprüft worden. Hinzu kommt, dass die damaligen Untersuchungen selbst zwar anhand von Bundeszentralregisterdaten bedeutsame Erkenntnisse über den Rückfall nach unterschiedlichen jugendrichterlichen Maßnahmen und ebenfalls wichtige Befunde zu diversen „Strukturmerkmalen institutioneller Rekrutierung“ im Jugendstrafvollzug anhand einer Analyse von Gefangenenpersonalakten lieferten11, aber keine differenzierte Beschreibung konkreter Erziehungs- oder Behandlungsbemühungen, deren Verläufe und Ergebnisse die Situation der jungen Inhaftierten im Vollzug und dessen Wirkungen naturgemäß in unterschiedlicher Weise prägen. Diese sind erst viel später systematischer in den Blick genommen worden – insbesondere angestoßen durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für den Jugendstrafvollzug. Damit wurden der bzw. mittlerweile die (Landes-)Gesetzgeber u. a. verpflichtet, fortan wirksame Resozialisierungskonzepte zu entwickeln und der mit dem Freiheitsentzug verbundenen, gesteigerten Verantwortung des Staates durch eine am Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse orientierte Vollzugsgestaltung gerecht zu werden, „die in besonderer Weise auf Förderung – vor allem auf soziales Lernen sowie die Ausbildung von Fähigkeiten und Kenntnissen, die einer künftigen beruflichen Integration dienen – gerichtet ist.“12 Man kann den damit vom Bundesverfassungsgericht ausgelösten Reformprozess durchaus als „Qualitätsoffensive“13 begreifen, die den zitierten Befürchtungen Albrechts und Schüler-Springorums in der Folge entgegengewirkt hat. 10
Vgl. Ludwig, 1983, S. 68. Lamnek, 1983; Ludwig 1983. 12 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 31. Mai 2006 – 2 BvR 1673/04 – zur Orientierung der Vollzugsgestaltung am Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse s. Rn 60 ff.; zur Verpflichtung des Gesetzgebers vgl. Rn 53, 59. 13 Dünkel & Geng, 2012, S. 130. 11
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Gleichwohl gilt auch heute noch, dass die zu freiheitsentziehenden Sanktionen verurteilten (jugendlichen) Straftäter ein höheres Rückfallrisiko aufweisen als diejenigen mit milderen Strafen oder jugendrichterlichen Sanktionen und dass nach Jugendstrafen ohne Bewährung und Jugendarrest die höchsten Rückfallraten registriert werden.14 Insofern steht Lamneks ernüchterndes Resümee aus dem Jahr 1983: „Die schlechtesten spezialpräventiven Effekte bringen Dauerarrest und Jugendstrafe“15 immer noch mahnend im Raum, auch wenn die Frage, unter welchen Bedingungen welche ambulanten oder stationären Förder-, Erziehungs-, Behandlungs- und Eingliederungsmaßnahmen nun bei welchen – auch altersmäßig differenzierten – Zielgruppen besser oder schlechter wirken (können), nach wie vor weitgehend unbeantwortet ist.16 Dies gilt vor allem, weil die tatsächlichen Verhältnisse im Jugendstrafvollzug außerordentlich unterschiedlich sind – und zwar nicht nur bezüglich länderspezifischer Gefangenenraten, sondern auch hinsichtlich der personellen Ausstattung und der inhaltlichen Ausgestaltung der Jugendstrafanstalten bzw. ihres jeweils erkennbaren Angebotes an Behandlungsmaßnahmen.17 Zwar sehen Dünkel und Geng sechs Jahre nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil durchaus Qualitätsverbesserungen in den meisten Bundesländern, doch stellen sie auch fest, dass sich ohne vertiefende Forschung, etwa durch Vollzugsgestaltungs- und spezifische Programmevaluationen immer noch nicht erfassen lasse, ob „gute Behandlungsund Betreuungsprogramme entwickelt und praktiziert wurden und werden.“18 Aber was sind „gute“ Programme? Inhaltlich hat Philipp Walkenhorst dazu in seinen Arbeiten zum Thema „Jugendstrafvollzug als ‚gute Schule‘“19 bereits wegweisende Antworten gegeben. Die empirische Forschungslage zur Frage „ob gut Gemeintes auch gut gemacht“ ist bzw. wie die Güte vollzuglicher Maßnahmen im Hinblick auf ihre spezialpräventive Wirksamkeit zu bewerten ist, muss allerdings auch trotz einer, vor allem im angelsächsischen Sprachraum gewachsenen Anzahl einschlägiger Evaluationsstudien weiterhin als „eher dünn“20 und insofern verbesserungsbedürftig bezeichnet werden. In Deutschland versprechen nun diverse Bemühungen zur länderübergreifenden und landesspezifischen Evaluierung des Jugendstrafvollzuges, die in der Folge des höchstrichterlichen Beschlusses entstanden sind, einigen Fortschritt.21 Dabei 14
Vgl. Jehle et al., 2016, S. 15. Lamnek, 1983, S. 64. 16 Detaillierter und mit weiteren Verweisen dazu vgl. Wirth 2017 und 2019a. 17 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 31. Mai 2006 – 2 BvR 1673/04 – Rn 24. mit Bezug auf entsprechende Ausführungen des als Sachverständigen angehörten Frieder Dünkel. 18 Dünkel & Geng, 2012, S. 132 19 Walkenhorst, 2002. 20 Suhling, 2019, S. 256. 21 Vgl. stellvertretend Lobitz et al., 2012; Pauli et al., 2019. 15
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wird der Gedanke sehr ernst genommen, dass Art, Umsetzung und bereits während der Haft messbare Ergebnisse der im Jugendstrafvollzug angebotenen Maßnahmen zunächst detailliert beschrieben werden sollten, bevor man sich daran macht, bewerten zu wollen, ob und, wenn ja, welche Auswirkungen sie auf die Legalbewährung nach der Haft haben. Ein Beispiel für solche, zunächst vorwiegend deskriptive Analysen sollen die folgenden Ausführungen liefern, mit denen entsprechende Befunde aus der Evaluierung des nordrhein-westfälischen Jugendstrafvollzuges22 speziell für die Zielgruppe der „jugendlichen Jugendstrafgefangenen“ im Alter von 14 bis unter 18 Jahren neu aufbereitet werden. 2
Evaluierende Einblicke in den Jugendstrafvollzug
Beginnen wir mit der näheren Beschreibung der in unsere Analyse einbezogenen Gefangenen, die angesichts der geringen Anzahl 14- und 15-Jähriger im Durchschnitt 16,9 Jahre alt, naturgemäß folglich jünger sind als die Gesamtheit aller Inhaftierten im Jugendstrafvollzug, für die – bei Inhaftierung – ein Durchschnittsalter von 19,8 Jahren berechnet wurde. In den Datensatz sind Angaben zu insgesamt 4.203 jungen Menschen eingeflossen, die zwischen Anfang 2013 und Ende 2017 eine Strafe mit einer voraussichtlichen Vollzugsdauer von über sechs Monaten (> 181 Tage) in einer der fünf Jugendstrafanstalten des Landes NRW angetreten und zumindest teilverbüßt haben. Exakt 18,7 % dieser jungen Gefangenen (n = 784) waren 14 bis unter 18 Jahre alt, also im eingangs beschriebenen Sinne „jugendlich“, und bildeten insofern die Grundgesamtheit für die folgenden Analysen.23 Im Hinblick auf die Deliktstruktur der inhaftierten Jugendlichen ergibt sich folgendes Bild: Sie waren mit 70 % häufiger wegen Gewaltdelikten (ohne Sexualstraftaten) inhaftiert als die Gesamtheit der Inhaftierten, bei denen sich ein Vergleichswert (im Folgenden jeweils durch das Ø-Symbol gekennzeichnet) von 58 % zeigt. Unter zusätzlicher Berücksichtigung von Sexualstraftaten (4 % vs. Ø = 3 %) erhöhen sich diese Quoten etwas, bleiben aber im Verhältnis zueinander nahezu unverändert, während sich die Anteilswerte bei Eigentums- und Vermögensdelikten so gut wie nicht unterscheiden. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass hier, anders als bei den Stichtagsdaten der amtlichen Statistik, Mehrfachnennungen berücksichtigt sind, also auch Eigentumsdelikte erfasst werden, die in Verbindung mit Gewaltdelikten begangen wurden. Betrachtet man Eigentums-/Vermögensdelikte als ausschließliche Anlassdelikte, ergibt sich – komplementär zur 22
Vgl. zu den Befunden für den gesamten Jugendstrafvollzug zuletzt Wirth 2019a. Die Abweichungen gegenüber den eingangs angegebenen Anteilswerten sind der Tatsache geschuldet, dass dort Stichtagszahlen, hier und im Folgenden aber kumulierte Fallzahlen berücksichtigt wurden. 23
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Verteilung der Gewaltdelikte – ein unterdurchschnittlicher Anteil entsprechender Straftaten bei „jugendlichen Jugendstrafgefangenen“ (15 % vs. Ø = 21 %). Bestätigend zeigen die Daten der amtlichen Statistik, dass nicht nur der Anteil der wegen Gewalttaten Inhaftierten unter den 14- bis unter 18-jährigen Gefangenen besonders hoch ist, sondern auch, dass sich zudem ihre Anzahl seit 1990 fast vervierfacht hat, während sie bei den Älteren nach zunächst ebenfalls deutlichen Steigerungen, inzwischen ebenso deutlich rückläufig ist. (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Anzahl der Gewalttäter24 im Jugendstrafvollzug NRW nach Alter.
Die Ausprägungen wesentlicher bildungsbiografischer Merkmale der jugendlichen Gefangenen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Mit etwa drei von zehn Gefangenen waren bei ihrer Inhaftierung überdurchschnittlich viele Jugendliche in einer schulischen Ausbildung (Ø = 9 %), bei einem gleichzeitig unterdurchschnittlichen, aber auch insgesamt extrem niedrigen Anteil in beruflicher Ausbildung bzw. Qualifizierung (1,5 % vs. Ø = 3 %). Ebenfalls nur 1,5 % waren bei Haftantritt erwerbstätig (Ø = 9 %) und die Arbeitslosenquote lag mit 61 % zwar unter dem Gesamtdurchschnitt (Ø = 74%), was aber eine Folge des höheren Schüler*innenanteils ist und insofern nicht wirklich positiv bewertet werden kann, zumal der Anteil Jugendlicher ohne Schulabschluss konsequenterweise wieder überdurchschnittlich hoch ausfällt (84 % vs. Ø = 65 %) – ebenso wie der Anteil ohne jegliche berufliche Qualifikation, der aber auch generell immens ist (96 % vs. Ø = 91 %). Die vom Bundesverfassungsgericht besonders hervorgehobene und 24
Hauptdeliktgruppen: Straftaten gegen das Leben, Raub und Erpressung, Körperverletzung, einschließlich Sexualstraftäter (Hauptdeliktgruppe: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung) Quelle: Strafvollzugsstatistik NRW und eigene Berechnungen KrimD NRW/GL. .
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durchaus am Sozialstaatspostulat orientierte Bedeutung einer Förderung der Fähigkeiten, die der beruflichen Eingliederung dienen, wird hier unmittelbar verständlich. Nicht zuletzt deshalb wird die Frage, wie der Strafvollzug die gravierenden Bildungs- und Qualifikationsdefizite der Inhaftierten „behandelt“, ins Zentrum der folgenden Ausführungen gestellt. Hier sollte man nun zunächst wissen, wie viel Zeit dafür zur Verfügung steht. Bezogen auf alle Jugendstrafgefangenen betrug die mittlere Verweildauer in Strafhaft 463 Tage, also etwas mehr als 15 Monate, bei den 14- bis unter 18-Jährigen waren es mit 525 Tagen ca. zwei Monate mehr, die für die Feststellung der entsprechenden Förderbedarfe und die Durchführung bedarfsgerechter Maßnahmen zur Verfügung standen. Dies ist angesichts der Komplexität der individuellen Problemlagen ein recht enges „Zeitfenster“, wie die Bedarfsfeststellungen belegen, die die zuständigen Fachdienste in den Justizvollzugsanstalten aktenkundig machen. Dabei wird für jeden Gefangenen in standardisierter Form dokumentiert, ob ein Bedarf zur Teilnahme an insgesamt 16 unterschiedlichen, teilweise aufeinander aufbauenden Maßnahmeangeboten erkennbar ist oder nicht. Die Auswertung der entsprechenden Dokumentationen ergibt das nachfolgend abgebildete „Ranking“ (vgl. Tab. 1) gemäß der relativen Häufigkeit entsprechender Nennungen, wobei besonders augenfällige Abweichungen (> 10 Prozentpunkte) der Bedarfsquoten jugendlicher Gefangener vom Gesamtmittelwert durch schattierte Tabellenzellen hervorgehoben werden, auf die sich die Kommentierung aus Platzgründen im Wesentlichen beschränken muss. Diese Hervorhebungen resultieren weniger aus statistischen Signifikanzberechnungen als vielmehr aus praxisorientierten Erwägungen, da sie der Vollzugspraxis die Notwendigkeit altersdifferenziert vorzuhaltender Maßnahmeangebote unmittelbar anzeigen können. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass bei jugendlichen Strafgefangenen der größte Bedarf – und zwar mit etwa 63 % ca. 18 Prozentpunkte über dem Vergleichswert für alle Gefangenen – darin gesehen wird, einen fehlenden Schulabschluss zu erwerben, während beispielsweise der Bedarf an Schuldnerberatungen oder Schuldenregulierungen deutlich unterdurchschnittlich ist. Und auch die Notwendigkeit von Maßnahmen, die explizit gewaltreduzierend wirken sollen, wird als nicht so groß eingeschätzt wie es die Anzahl der wegen Gewaltdelikten Inhaftierten erwarten lässt. Für andere Problemlagen, deren erfolgreiche Behandlung die jugendliche Gewaltbereitschaft möglicherweise indirekt senken kann, wird ein deutlich größerer Bedarf gesehen, den es offenkundig vorrangig zu berücksichtigen gilt.
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Tab. 1: Erkennbarer Maßnahmebedarf im Vergleich. Maßnahme Schulabschlussbezogene Maßnahmen Suchtberatung/Suchttherapievorbereitung Vollqualifizierende Berufsausbildungen Soziale Trainingsmaßnahmen Berufliche Qualifizierungsmaßnahmen Berufsvorbereitungsmaßnahmen Anti-Gewalt/Aggressivitätstrainings Schulische Förder-/Liftkurse Suchttherapeutische Behandlung Andere deliktbezogene Maßnahmen Psychotherapeutische Maßnahmen Arbeitstherapeutische Maßnahmen Sozialtherapeutische Behandlung Schuldnerberatung/Schuldenregulierung Schulische Elementar-/Grundkurse Sprach-/Integrationskurse für ausländische Gefangene
Bedarf erkennbar (%) Jugendliche Gefangene 62,5 % 54,7 % 49,1 % 47,2 % 46,0 % 41,8 % 37,2 % 36,6 % 20,5 % 18,8 % 12,9 % 10,8 % 8,4 % 8,2 % 7,5 % 5,1 %
Gesamtpopulation 45,0 % 55,5 % 51,2 % 53,9 % 53,7 % 30,9 % 32,9 % 26,3 % 39,5 % 17,8 % 10,5 % 9,2 % 7,4 % 26,9 % 6,3 % 4,7 %
Dazu gehören mit Sicherheit Suchtberatungsangebote und Suchttherapievorbereitungen, für die ein immenser Bedarf gesehen wird. Allerdings unterscheiden sich jugendliche hier kaum von älteren Gefangenen. In allen Altersgruppen wird bei etwa jedem zweiten Gefangenen eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Suchtgefährdung gesehen; ein explizites Erfordernis für eine suchttherapeutische Behandlung aber sehr viel häufiger bei den älteren, was auf deutlich größere Anteile akut Suchtmittelabhängiger in dieser Gruppe schließen lässt. Unabhängig vom Alter werden schulische oder auch berufliche Qualifizierungsmaßnahmen hier oftmals erst dann begonnen werden können, wenn ein Drogenentzug abgeschlossen oder eine Substituierungsmaßnahme begonnen worden ist. Dies ist nicht nur bei der individuellen Vollzugsplanung, sondern auch bei der organisatorischen Vollzugs- bzw. Maßnahmengestaltung zu bedenken. An den Daten lässt sich weiter ablesen, dass bei älteren Gefangenen tendenziell etwas häufiger berufliche Ausbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen angezeigt sind, wobei diese freilich auch bei den Jugendlichen im Bedarfsranking weit oben stehen. Für sie sind aber offenkundig in weit stärkerem Maße eher orientierende Berufsvorbereitungsmaßnahmen angezeigt, bei denen zumeist auch schulische Kompetenzen, gelegentlich sogar schulische Abschlüsse en passant mit vermittelt werden. Bei jüngeren, oft noch schulpflichtigen Gefangenen ist zudem das Erfordernis zur Teilnahme an schulischen Förder- und Liftkursen vergleichsweise stärker ausgeprägt, deren erfolgreicher Abschluss oftmals erst die Voraussetzung zur Teilnahme an schulabschlussbezogenen Maßnahmen schafft. Es versteht sich von selbst, dass die Möglichkeiten, letztere noch während der Haft
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beginnen oder gar abschließen zu können, schon aus Zeitgründen reduziert werden, wenn solche Maßnahmen „vorgeschaltet“ werden müssen. Insofern wird es wohl nie möglich sein, alle angezeigten Maßnahmen für alle Gefangenen vollständig bedarfsgerecht durchführen zu können. So hat knapp die Hälfte (47 %) der jugendlichen Gefangenen, bei denen die Notwendigkeit zum Erwerb eines Schulabschlusses gesehen wurde, während der Haft keine unmittelbar schulabschlussbezogene Maßnahme begonnen. Dies hat allerdings nur in den seltensten Fällen (3 %) mit einem fehlenden oder ausgelasteten Platzangebot zu tun. In etwa vier von zehn dieser Fälle war die verbliebene Haftzeit zu kurz oder es verhinderten andere terminliche Gründe einen Maßnahmebeginn. Hingegen wurde 28 % eine Teilnahme verwehrt, weil sie dazu als (noch) nicht hinreichend geeignet beurteilt wurden. Bei den vollqualifizierenden Berufsausbildungen wurden sogar 72 % der angezeigten Maßnahmen nicht umgesetzt; bei den weniger zeitaufwändigen Berufsvorbereitungs- und Berufsqualifizierungsmaßnahmen gilt dies „nur“ für 36 bzw. 39 %. Zur Teilnahme an den langfristiger angelegten Lehren fehlte jedem sechsten nicht berücksichtigten Gefangenen die geforderte Eignung, die ggf. in vorgeschalteten Maßnahmen zu erarbeiten war. An einem fehlenden Angebot scheiterte ein Maßnahmebeginn hier nie, jedoch waren in 45 % der Fälle nicht ausreichende Strafzeiten und bei weiteren 11 % andere terminliche Gründe als ursächlich für den nicht erfolgten Maßnahmebeginn notiert. Sehr viel seltener lag es an einer mangelnden Mitarbeitsbereitschaft der Gefangenen, wenn als erforderlich erachtete Fördermaßnahmen nicht durchgeführt wurden. Die entsprechenden Verweigerungsquoten lagen bei den schulischen Förderangeboten zwischen 6 und 13 % und bei den berufsfördernden Maßnahmen sogar nur zwischen 2 und 3 %.25 Und auch plangemäß begonnene Maßnahmen wurden in nur vergleichsweise geringem Umfang auf Wunsch der Teilnehmenden selbst vorzeitig beendet. Entsprechende Abbruchquoten gab es bei ca. 3 % der schulischen Förder-/Liftkurse und der schulabschlussbezogenen Maßnahmen, bei 2 % der beruflichen Vorbereitungsmaßnahmen, 4 % der vollqualifizierenden Berufsausbildungen und 7 % der beruflichen Qualifizierungskurse. Deutlich häufiger wurden all diese Maßnahmen aber aus disziplinarischen Gründen (9-16 %) und auch wegen (vorzeitiger) Entlassungen oder Verlegungen (10-23 %) vorzeitig beendet, und zwar jeweils mit Spitzenwerten vor allem im Bereich der beruflichen Förderung.26 Maßnahmeabbrüche durch Teilnehmende und vollzugsseitige Maßnahmebeendigungen aus disziplinarischen oder organisatorischen Gründen, zu denen auch 25
Bezogen auf sämtliche Gefangene mit einem attestierten Förderbedarf entspricht dies in allen genannten Fördermaßnahmen Ablehnungsquoten von maximal 5 %. 26 Von den jeweils genannten Gründen für eine vorzeitige Beendigung begonnener Fördermaßnahmen entfielen bei den vollzuglichen Berufsausbildungen 33 % auf disziplinarische Ablösungen und bei den beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen, aber auch bei den schulabschlussbezogenen Maßnahmen, jeweils über 39 % auf (vorzeitige) Entlassungen.
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Verlegungen und nicht hinreichend eingeplante Entlassungstermine gehören, gefährden die Erreichung des jeweiligen Förderzieles und natürlich auch die davon erwarteten Präventionseffekte. Der damit verbundenen Vergeudung investierter Ressourcen ist folglich, wo immer möglich, konzeptionell und praktisch entgegenzuwirken. Da dies nur teilweise gelingt, aber auch, weil manch individueller Förderbedarf wegen anderer, vorrangig zu behandelnder Probleme zwangsläufig gar nicht oder erst (zu) spät in der Vollzugsplanung zum Tragen kommen kann, haben „nur“ 14 % aller bzw. 25 % der „jugendlichen Jugendstrafgefangenen“ während der Haft einen Schulabschluss erwerben können sowie 38 % aller bzw. 28 % der 14- bis unter 18-Jährigen eine berufliche (Teil-)Qualifikation.27 Man wird diese Quoten sicher als verbesserungswürdig betrachten müssen, darf sie aber angesichts multipler Problemlagen und zeitlich begrenzter Einwirkungsmöglichkeiten nicht kurzschlüssig als ein Scheitern des Jugendstrafvollzuges interpretieren. Auch wenn in vielen Fällen bis zum Entlassungstermin (noch) keine „zählbaren“ Qualifikationsergebnisse erreicht werden können, so werden durch die diversen vorbereitenden und flankierenden Maßnahmen doch wichtige Qualifizierungsvoraussetzungen geschaffen, auf die im weiteren Eingliederungsprozess aufgebaut werden kann, aber auch aufgebaut werden muss. Insofern zeigen die Falldokumentationen der vollzuglichen Fachdienste zwar, dass (auch) bei den 14- bis unter 18-jährigen Strafgefangenen zum Entlassungszeitpunkt in allen Maßnahmebereichen mehr oder weniger große „Befähigungsbedarfe“ fortbestehen, als durchaus positiv zu wertendes Ergebnis aber außerdem, dass diese deutlich geringer ausfallen als zu Beginn der Haft. Soweit erkennbar wird ein Erfordernis zur Durch- oder Fortführung von schulischen Förderund Liftkursen nach der Haft bei 15 % der Gefangenen, von schulabschlussbezogenen Maßnahmen (nur) noch bei 40 %, von beruflichen Orientierungskursen bei 27 %, von beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen bei 21 % und von vollqualifizierenden Berufsausbildungen bei 26 % ausdrücklich notiert. Außerdem von Suchtberatungen bei 31 %, von sozialen Trainingskurse bei 20 % und von AntiGewalt-/Aggressivitätstrainings bei 16 % – um hier nur die häufigsten Nennungen zu erwähnen, die nach fachdienstlicher Einschätzung angezeigt sind, um das Vollzugsziel zu erreichen, das laut § 2 des Jugendstrafvollzugsgesetzes NRW wie folgt lautet: Der Vollzug der Jugendstrafe dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Er trägt durch eine an den Entwicklungspotentialen der Gefangenen orientierte Förderung dazu bei, individuelle Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen.
27 Zusammengefasst werden hier erworbene Lehrgangszertifikate, bestandene Zwischenprüfungen und vollständig abgeschlossene Lehrausbildungen.
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Qualitative Ausblicke für den Jugendstrafvollzug
Albrecht und Schüler-Springorum befürchteten vor nahezu vierzig Jahren, dass sich an der Situation jugendlicher Strafgefangener, die mit staatlichen Kontrollinstanzen in Berührung kommen, nichts ändern werde, denn – so der Wortlaut – „letztere orientieren sich eben institutionell an den Schwierigkeiten, die Jugendliche m a c h e n, anstatt an den Schwierigkeiten anzusetzen, die Jugendliche h a b e n. “28 Diese Befürchtungen sind offenkundig nicht, zumindest nicht in der zitierten Apodiktik, eingetreten. Tatsächlich hat sich der Jugendstrafvollzug und mit ihm auch die Situation der dort Inhaftierten einschließlich der „jugendlichen Jugendstrafgefangenen“ sowohl auf gesetzlicher Ebene als auch in inhaltlicher Sicht deutlich verändert – wobei jedoch angesichts der vorgestellten Befunde nicht übersehen werden kann und darf, dass er angesichts der multiplen Problembelastungen der jungen Gefangenen in der zur Verfügung stehenden Zeit bei weitem nicht alle Resozialisierungsaufgaben angehen, geschweige denn lösen kann, an denen offenkundig auch schon die zuvor „zuständigen“ familialen, schulischen und beruflichen Sozialisationsinstanzen sowie oftmals auch die ambulanten sozialen Dienste der Justiz und die Jugendhilfe mit ihren jeweiligen Erziehungs-, Betreuungs- und Eingliederungsangeboten gescheitert sind. Vor diesem Hintergrund hat sich in der Strafvollzugsforschung und auch in der Strafvollzugspraxis in den letzten Jahren zunehmend die Einsicht durchgesetzt, dass die „Befähigungsmaßnahmen“, wie man die im (Jugend-)Strafvollzug angebotenen Förder-, Erziehungs- und Behandlungsmaßnahmen mit Blick auf das gesetzlich vorgegebene Vollzugsziel angemessener bezeichnen sollte, zwar oftmals notwendige, aber nicht zwingend auch schon hinreichende Voraussetzungen für die Führung eines straffreien Lebens nach der Entlassung schaffen können. Insofern wird zu Recht gefordert, die Anbahnung, möglichst auch die Sicherung ggf. erforderlicher Anschlussmaßnahmen als eine – ergänzende – Aufgabe des Strafvollzuges zu betrachten. Dass dies eine sowohl fallbezogen als auch fallübergreifend angelegte Zusammenarbeit mit ambulanten Diensten erfordert, die inzwischen als „Übergangsmanagement“29 diskutiert wird, liegt auf der Hand. Die in diesem Artikel vorgestellten quantitativen Befunde zeigen recht deutlich, welche qualitativen Schwerpunkte bei der Ausgestaltung einer solchen, manchmal auch durch ideologische Barrieren behinderten Kooperation im Interesse einer erfolgreichen Wiedereingliederung „jugendlicher Jugendstrafgefangener“ gesetzt werden müssen. Dabei gilt es insbesondere, ein mindestens vierdimensionales Informations- und Motivierungsproblem zu erkennen und zu lösen:
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Die Hervorhebungen entsprechen dem Original in Albrecht & Schüler-Springorum, 1983, S. 13. Mehr zu den theoretischen und praktischen Implikationen dieses Begriffs findet sich bei Wirth, 2019b. 29
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Die Justizvollzugsbehörden müssen darüber informiert sein, mit welchen substantiellen, gleichwohl im Zeitverlauf wandelbaren „Befähigungserfordernissen“ die jungen Gefangenen konfrontiert sind, und sie müssen sowohl motiviert als auch in der Lage sein, darauf mit einem bedarfsgerechten Maßnahmeangebot zu reagieren. Die Vollzugsbediensteten müssen darüber hinaus motiviert und in der Lage sein, die Inanspruchnahme dieses Maßnahmeangebotes durch die Gefangenen möglichst aktiv zu fördern und möglichst selten durch disziplinarisch oder organisatorisch begründete Ablösungen vorzeitig zu beenden. Dazu müssen die jungen Gefangenen nicht nur über die Verfügbarkeit des Maßnahmeangebotes, sondern auch über dessen individuellen Nutzen für die eigene Zukunft informiert sein und motiviert werden, dessen Nutzung bei Bedarf auch über den Entlassungszeitpunkt hinaus fortzusetzen. Dabei wird man aber schließlich nicht „nur“ die Gefangenen auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorbereiten, sondern auch die dort „zuständigen“ ambulanten Dienste zur Mitarbeit an der Re-Integrationsaufgabe motivieren und möglichst präzise über die nach der Entlassung zu leistenden Anschlussmaßnahmen informieren müssen.
Voraussetzung dafür ist ein gesichertes Wissen über die Art und Ausprägung individueller Förderbedarfe sowie über Verläufe und Ergebnisse der im Vollzug geleisteten „Befähigungsarbeit“, um ineffektive Doppelarbeit zu vermeiden und eine nahtlose Maßnahmekontinuität zur Steigerung der Eingliederungschancen und zur Reduzierung der Rückfallrisiken zu erreichen. Die Vollzugsforschung kann die Vollzugspraxis dabei unterstützen, indem ihr zweierlei abverlangt aber auch ermöglicht wird: -
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Zum einen die Erstellung einer seit langem geforderten, kontinuierlichen Vollzugsberichterstattung30, die sowohl quantitative als auch qualitative Veränderungen der Gefangenenpopulation im Zeitverlauf beschreibt, um Anhaltspunkte für ein bedarfsgerechtes Maßnahmeangebot zu liefern, das responsiv an den Entwicklungsständen unterschiedlicher Alters- und Zielgruppen ausgerichtet ist. Zum anderen eine – in NRW aktuell auch im Erwachsenenvollzug auf den Weg gebrachte – begleitende Durchführung formativ angelegter Vollzugsevaluationen, die zentrale Leistungsergebnisse und Wirkungsbedingungen der im Vollzug erbrachten Maßnahmen identifizieren muss, um die auch vom
Vgl. Mey & Wirth, 1999.
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Bundesverfassungsgericht geforderte evidenzbasierte Vollzugsgestaltung fördern zu können.31 Damit können die quantitativen Forschungsbefunde der beschriebenen Art erweitert und verfeinert werden und so nicht nur zu einer verbesserten Struktur-, Leistungs- und Ergebnisqualität des (Jugend-)Strafvollzuges, sondern auch zu einer qualitativ verbesserten Ausgestaltung der vollzugsübergreifenden Zusammenarbeit beitragen. Gerade im Hinblick auf die „jugendlichen Jugendstrafgefangenen“ betrifft dies neben der Kooperation mit den ambulanten sozialen Diensten der Justiz und den Einrichtungen der Freien Straffälligenhilfe, den Schulen und Berufskollegs sowie den Arbeitsagenturen und Jobcentern auch und gerade die Jugendhilfe. Es war und ist ein stetes Anliegen von Philipp Walkenhorst, dem diese Festschrift gewidmet ist, die konzeptionelle und praktische Arbeit der Jugendhilfe und des Jugendstrafvollzuges besser zu verknüpfen. Es bleibt zu hoffen, dass nicht nur der von ihm geforderte „Jugendstrafvollzug als ‚gute Schule‘“, sondern auch die Güte der Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe durch ein „systematisches Übergangsmanagement“ verbessert werden kann – wobei der Adressat dieser Schrift sowohl dem eher technisch anmutenden Managementbegriff als auch einer vor allem quantitativ ausgerichteten Evaluationsforschung zumindest in Teilen skeptisch bis kritisch gegenübersteht. Vielleicht, so bleibt zu hoffen32, kann dieser Beitrag dazu führen, beides ein wenig zu reduzieren. Literaturverzeichnis Albrecht, P. & Schüler-Springorum, H. (Hrsg.).(1983). Jugendstrafe an Vierzehn- und Fünfzehnjährigen. Strukturen und Probleme. München: Fink. Dünkel, F. & Geng, B. (2012). Die Entwicklung des Jugendstrafvollzuges in Deutschland nach dem Urteil des BVerfG 2006 – Befunde einer empirischen Erhebung bei den Jugendstrafanstalten. Bewährungshilfe, 59 (2), 115-133. Jehle, J.-M., Albrecht, H.-J., Hohmann-Fricke, S. & Tetal, C. (2016). Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2010 bis 2013 und 2004 bis 2013. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg.
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Vgl. dazu im Detail Wirth, 2020. Anlass zu dieser Hoffnung geben neben zahlreiche Gesprächen mit Philipp Walkenhorst auch die folgende Passage aus seinem Artikel „Jugendstrafvollzug als ‚gute Schule‘“, in der er selbst nicht ohne „Management-Anleihen“ auskommt: „Nun geht es darum, Ideen und Bilder für eine gelingendere Gestaltung des Alltags der jungen Inhaftierten in der Anstalt und vor allem mit Blick auf die Zeit nach der Entlassung zu suchen. Hierzu sind Kenntnisse, Rechtsinformationen, Wissen über die meist begrenzten eigenen Interventionsmöglichkeiten und Reichweiten, Wissen zum Sozialmanagement für die Ressourcenbeschaffung und Projektorganisation, kommunalpolitisches Geschick, u. U, auch ‚Heimwerkerwissen‘ notwendig.“ (Walkenhorst, 2002, S. 290). 32
Jugendliche im Jugendstrafvollzug: Von quantiativen Rückblicken zu qualitativen Ausblicken
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Kaiser, G. (1985). Diversion. In G. Kaiser, H.-J. Kerner, F. Sack & H. Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch. (2. Aufl.; S. 72-76). Heidelberg: C.F. Müller. Lamnek, S. (1983). Spezialpräventive Wirkungen jugendrichterlicher Maßnahmen. Eine Analyse von Daten des Bundeszentralregisters. In P.-A. Albrecht & H. SchülerSpringorum (Hrsg.), Jugendstrafe an Vierzehn- und Fünfzehnjährigen. Strukturen und Probleme (S. 17-65). München: Fink. Lobitz, R., Steitz, T. & Wirth, W. (2012). Evaluationen im Jugendstrafvollzug: Perspektiven einer empirischen Maßnahme- und Falldatenanalyse. Bewährungshilfe, 59(2), 163-174. Ludwig, W. (1983). Strukturmerkmale institutioneller Rekrutierung. Eine Analyse von Gefangenenpersonalakten. In P.-A. Albrecht & H. Schüler-Springorum (Hrsg.), Jugendstrafe an Vierzehn- und Fünfzehnjährigen. Strukturen und Probleme (S. 66-110). München: Fink. Matzke, M. (1982). Der Leistungsbereich bei Jugendstrafgefangenen. Ein Beitrag zur Funktion der Jugendstrafe. Dissertation: Freie Universität Berlin. Mey, H.-G. & Wirth, W. (1999). Veränderte Vollzugspopulation und kontinuierliche Vollzugsforschung. Der Jugendstrafvollzug im Blick des Kriminologischen Dienstes. In W. Feuerhelm, H.-D. Schwind & M. Bock (Hrsg.), Festschrift für Alexander Böhm zum 70. Geburtstag (S. 597-617). Berlin: De Gruyter. Pauli, R., Stoll, K., Prätor, S., Lobitz, R. & Wirth, W. (2019). Schulische und berufliche Bildung im Jugendstrafvollzug. Ergebnisse einer länderübergreifenden Evaluation. Forum Strafvollzug, 68(2), 8-15. Suhling, S. (2019). Was darf nicht und was sollte HAFTen bleiben? Forschungsbefunde zu negativen Effekten der Inhaftierung und gelingender Reintegration nach der Entlassung. Forum Strafvollzug, 68(4), 250-258. Walkenhorst, P. (2002). Jugendstrafvollzug als gute Schule? DVJJ-Journal, 13(3), 290300. Wirth, W. (2017). Rückfall nach Strafvollzug: Indikator für begrenzte Wirkungen und nötige Reformen. Forum Strafvollzug, 66(1), 33-39. Wirth, W. (2019a). Befähigung – Eingliederung – Legalbewährung. Die Zieltrias des Jugendstrafvollzuges als Evaluationsgrundlage. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 33(4), 340-349. Wirth, W. (2019b). Entlassung vorbereiten und Eingliederung gestalten. Zur Komplexität der Aufgaben im „Übergangsmanagement“. Forum Strafvollzug, 68(4), 259-263. Wirth, W. (2020). Behandlung im Strafvollzug: Unklarer Begriff, vielfältige Befähigungsziele und offene Wirkungsfragen. In K. Drenkhahn, B. Geng, J. Grzywa-Holten, S. Harrendorf, C. Morgenstern & I. Pruin (Hrsg.), Kriminologie und Kriminalpolitik im Dienste der Menschenwürde. Festschrift für Frieder Dünkel (S. 1025-1048). Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg. Wirth, W. & Lobitz, R. (2017). Wirkung? Wirkung! Wirkung? Was leistet das Gefängnis? In M. Schweder (Hrsg.), Jugendstrafvollzug – (k)ein Ort der Bildung!? (S. 141-157). Weinheim: Beltz.
Resozialisierung und Zeitenwende Bernd Maelicke
In den letzten Jahren werden weltweit die Staaten und die Menschen von tiefgreifenden Krisen und Systemschwächen immer mehr herausgefordert: -
der Klimawandel bedroht die gesamte Menschheit existentiell die Globalisierung führt zu einer rapiden wachsenden Ungerechtigkeit in der Verteilung von Ressourcen und damit von Lebensqualität die herkömmlichen und vorherrschenden Strategien und Instrumente der politischen Akteur*innen erweisen sich, gemessen an den ökologischen und sozialen Herausforderungen, als weitgehend unzureichend das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit von demokratisch legitimierten Institutionen schwindet massiv Populist*innen gewinnen Wahlen und erweisen sich als unfähig, rationale und nachhaltige Strategien der Problemlösung zu entwickeln und zu realisieren
Die Polarisierung in den Gesellschaften zeigt eine zunehmende Unzufriedenheit der Menschen mit ihren wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen, die Bewegung kleiner Stellschrauben reicht nicht mehr aus; es geht um eine grundlegende Systemumwandlung und -erneuerung. Eine Zeitenwende hat begonnen. Schneidewind (2018) fordert deshalb eine „Große Transformation“, ein Schlüsselbegriff der Nachhaltigkeitsdebatte der letzten Jahre (WBGU, 2011). Dieser Beitrag wurde im April 2020 geschrieben – mitten im Lockdown der Corona-Krise mit bisher unvorstellbaren weltweiten Konsequenzen für alle Menschen, Gesellschaften und Staaten. Es gilt die nun anstehenden Veränderunge anzureichern mit Zielen und Erfolgskriterien einer „Großen Transformation“ auch in den Arbeitsfeldern der Sozialisierung und Resozialisierung – (siehe dazu Maelicke & Wein, 2020). 1
Systemischer Wandel und Resozialisierung
Klimawandel und Globalisierung führen auch in Deutschland zu derart grundlegenden Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse, dass immer mehr Bürger*innen sich verunsichert und bedroht fühlen – ein gelingendes Leben mit © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_27
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Bernd Maelicke
dauerhafter materieller Absicherung durch Einkommen aus Arbeit oder Rente kann heute für alle Bürger*innen durch keine Partei und keine Regierung mehr garantiert werden. Dies hat Auswirkungen nicht nur für die bisherigen Konzepte von Sozialisierung und Resozialisierung, sondern auch für die dafür zuständigen Organisationen in öffentlicher oder freier Trägerschaft und auch für die Gesellschaft insgesamt. Auf der Mikro-Ebene des Case Managements bedeutet dies, dass in jedem Einzelfall nur durch eine vernetzte Planung aller Hilfen und Maßnahmen eine wirkungsvolle Resozialisierung als Komplexleistung erbracht werden kann. Auf der Meso-Ebene der Organisationen ist eine fallübergreifende Koordination und Kooperation erforderlich und auf der Makroebene sind staatliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass insgesamt ein Systemischer Wandel realisiert werden kann. In der zweiten Auflage des Buches „Das Knast-Dilemma – Wegsperren oder resozialisieren?“ hat der Verfasser im Frühjahr 2019 eine „Reso-Agenda 2025 für eine wissensbasierte und wirkungsorientierte Kriminal- und Justizpolitik“ vorgelegt – sie enthält zusammenfassend die wesentlichen Begründungen für einen Systemischen Wandel in der Resozialisierung und einen klar definierten Aktivitätenplan. Leitlinien für diesen Entwicklungsprozess sind: 1.
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Die Föderalismusreform hat seit 2006 zu einer Zersplitterung der bundesweiten Diskussion über eine rationale Kriminalpolitik in Medien, Politik, Wissenschaft und Fachöffentlichkeit geführt. Wir brauchen dringend eine kritische Zwischenbilanz und einen Konsens über orientierunggebende und verbindliche Leitlinien. Und dies nicht nur für den Strafvollzug, sondern in gleicher Weise für alle Aktivitäten und Reaktionsweisen der ambulanten und stationären Resozialisierung. In einem dem Grundgesetz und seinem Menschenbild entsprechenden Gesamtkonzept einer „Sozialen Strafrechtspflege“ sind die sozialen Auswirkungen der Strafe auf Täter*innen wie Opfer mit dem Ziel einer nachhaltig wirksamen Konfliktregulierung zu berücksichtigen. Im Zentrum aller wirkungsorientierten Reso-Aktivitäten stehen die Ziele der Vermeidung/Reduzierung erneuter Straffälligkeit und eine verbesserte soziale Integration. Gelingende Resozialisierung erfordert wegen der spezifischen Problemlagen und der notwendigen Vielfalt der Hilfen für Täter*innen und Opfer die Zusammenführung der Einzelleistungen der hilfeleistenden Organisationen in eine Komplexleistung zur interdisziplinär abgestimmten Deckung des je individuellen Hilfebedarfs. Erforderlich sind Koordination und Vernetzung der verschiedenen öffentlichen und freien Träger und die Kooperation der beteiligten Fachkräfte. In Leistungsverträgen ist zu regeln, dass jeweils ein Träger auf der Grundlage
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eines individuellen Hilfeplans den gesamten Leistungsprozess koordiniert und die anderen Träger mit ihren Leistungsanteilen mitwirken. Erfolge und Misserfolge dieser Aktivitäten sind in allen Arbeitsfeldern und Projekten der Strafrechtspflege zu dokumentieren und unabhängig zu evaluieren. Dies ist unverzichtbare Voraussetzung für evidenzbasierte Innovationen in der Gesetzgebung des Bundes und der Länder und für mittel- und langfristige Masterpläne auf Landes- und auf kommunaler Ebene. In diesen Masterplänen werden rechtliche Grundlagen, Fachkonzepte, Organisations- und Personalentwicklungen, materielle und immaterielle Ressourcen und Controlling-Maßnahmen integriert und in der konkreten Praxis vor Ort realisiert. Auf Landes- und regionaler Ebene entstehen so Netzwerke und Verbundsysteme aller Akteure der ambulanten und stationären Resozialisierung in öffentlicher und privat-gemeinnütziger Trägerschaft, eingebunden in ein Gesamtsystem der Wirkungskontrolle und der nachhaltigen Finanzierung. Erforderlich ist eine Umsteuerung der Ressourcen im bisherigen Reso-System: prioritäre Konzentration und Beschränkung des Vollzugs auf als gefährlich einzustufende und stationär behandlungsbedürftige Straftäter*innen, Übergangsmanagement für alle Haftentlassenen, Ausbau der Bewährungsund Gerichtshilfe, Ausbau der Freien Straffälligenhilfe mit einer Vielzahl von ambulanten Alternativen. Ebenso grundlegend und systemisch sind Masterpläne für einen verbesserten Opferschutz und für leistungsfähige Netzwerke der Opferhilfe zu entwickeln und zu realisieren. Eine solche rationale, wirkungsorientierte und nachhaltige Neuorientierung benötigt in der Gesellschaft ein geändertes Verständnis im Umgang mit abweichendem Verhalten, insbesondere mit Straffälligkeit. Wirksame Resozialisierung erfordert ein aktives Mitwirken und eine starke Unterstützung der Gesellschaft. Wir brauchen deshalb neue wissens- und faktenbasierte Bildungs-Strategien in der lebenslangen Sozialisation aller Bürger, getragen von Verständnis für soziale Zusammenhänge. Kriminalitätsängste und -befürchtungen sind auch und gerade im Rahmen einer rationalen Kriminalpolitik zu berücksichtigen. Der Umgang mit ihnen darf nicht radikalen und populistischen Interessengruppen überlassen bleiben, sondern gehört zu den zentralen Aufgaben verantwortlich handelnder Fach- und Führungskräfte, Wissenschaftler*innen und Politiker*innen. Als Daueraufgabe bleibt die Suche nach etwas Besserem als Strafrecht und Strafvollzug.
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Bernd Maelicke
Schleswig-Holstein als Modell für einen Systemischen Wandel in der Sozialen Strafrechtspflege
In einer Untersuchung der kompletten Strafvollzugspopulation des Jahrgangs 1989 in Schleswig-Holstein verdeutlichte Frieder Dünkel (damals vom MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg), ungenutzte Potentiale für Alternativen zur Freiheitsstrafe: Neben der großen Anzahl von Ersatzfreiheitsstrafen (Dünkel: „gigantisches Ausmaß von Fehlbelegungen“) zeigte sich, dass das landläufige Bild des „gewalttätigen“ und „gefährlichen“ Gefangenen widerlegt wurde: Das „Gefährlichkeitspotential“ gemessen an den Kriterien „Opfer schwer oder tödlich verletzt“, von einer „Waffe Gebrauch gemacht“ oder im Fall von Eigentums- oder Vermögensdelikten einen „beträchtlichen materiellen Schaden (grösser als 5000.- DM) verursacht zu haben“, erfüllten 17 % der aus dem Männervollzug, 13 % der aus dem Frauenvollzug und 24 % der aus dem Jugendstrafvollzug Entlassenen (Dünkel, 1992, 1996). Somit wurde deutlich, dass bis zu drei Viertel der Inhaftierten nicht unter Kriterien der „Gefährlichkeit“ im geschlossenen Vollzug untergebracht werden müssten – es eröffneten sich weitreichende Potentiale insbesondere für die Ausweitung der Unterstellung unter die Bewährungshilfe und für ambulante Alternativen in vielfältigen Projekten freier Träger. Schleswig-Holstein erklärte daraufhin als bisher einziges Bundesland auf Initiative des Justizministers Dr. Klaus Klingner eine auf empirischer Basis begründete Haftvermeidung und Haftreduzierung zum Ziel der Kriminalpolitik (Klingner & Maelicke, 1993) und gestaltete diese durch eine nachhaltige Reform der stationären und ambulanten Resozialisierung (Maelicke, 1993, 1994 ). Neben grundlegenden Innovationen im Vollzug wurden insbesondere die Sozialen Dienste der Justiz und die Freie Straffälligenhilfe ausgebaut. Die spezifischen Qualitäts-Merkmale einer Sozialen Strafrechtspflege wurden seit 1990 schrittweise so umgesetzt und verfestigt, dass die bundesweit geringste Gefangenenrate von 39,6 auf 100.000 Einwohner dauerhaft abgesichert werden konnte. In engem Zusammenwirken mit dem damaligen Generalstaatsanwalt Heribert Ostendorf von 1989 bis 1997 (Ostendorf, 2005) wurde durch entsprechende Landesgesetze, Verordnungen und Erlasse ein dauerhafter rechtlicher, institutioneller, personeller und finanzieller Rahmen geschaffen, der auch durch Parteien, Verbände und Medien seit nunmehr 30 Jahren mitgetragen und positiv unterstützt wird. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für 2019 bestätigt, dass durch diese Politik-Strategie das Ziel der Reduzierung von Straftaten in Schleswig-Holstein eher gefördert als gefährdet wird. Die Zahl der registrierten Straftaten liegt auf dem niedrigsten Stand seit 1979. Weniger Gefangene bedeutet weniger Entlassene mit der Folge weniger Rückfälle.
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Schleswig-Holstein ist so im Vergleich der Bundesländer und auch international zu einem Modell für einen erfolgreichen Systemischen Wandel in der ambulanten und stationären Resozialisierung geworden und entwickelt auch aktuell weitere beispielhafte Aktivitäten (Berger & Roth, 2019). Diese Transformation hat: -
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dem Land Schleswig-Holstein in erheblichem Umfang Haft-Kosten erspart (siehe den anhaltend bundesweit geringsten prozentualen Anteil der Mittel im Landeshaushalt für den Strafvollzug), dies ermöglichte nachhaltige fachliche, bauliche, organisatorische und personelle Innovationen in allen Anstalten (insbesondere Jugendarrest, Jugendvollzug, Frauenvollzug, Sozialtherapie, Ausbildungs- und Werkstättenprogramm etc.), zugleich wurden in großem Umfang finanzielle Potentiale für den Ausbau ambulanter Alternativen gewonnen, was wiederum die geringe Inhaftierungsquote stabilisierte, (siehe u. a. Süß, Tein & Wein, 2020) dauerhaft ein leistungsfähiges und belastbares Netzwerk ambulanter und stationärer Resozialisierung geschaffen – dokumentiert in dem seit 2012 regelmäßig veröffentlichten „Faktencheck ambulante und stationäre Resozialisierung in Schleswig-Holstein“, der die Daten aufbereitet, die für die fachliche und politische Steuerung der Qualität des Reso-Systems erforderlich sind, (Berger & Roth, 2020) durch weniger Gefangene und weniger Entlassene aus dem Vollzug deren strukturell bedingten hohen Rückfallquoten erheblich verringert und damit die Sicherheit aller Bürger*innen im Land verbessert, mit dieser Strategie und ihrer Umsetzung ein dauerhaftes rationales kriminalpolitisches Klima in Politik, Zivil-Gesellschaft und Medien befördert. Perspektiven
Für eine länderübergreifende „Große Transformation“ fehlt es allerdings an entsprechenden Initiativen und an Unterstützung aller Bundesländer und insbesondere des Bundesministeriums der Justiz. Es mangelt nicht nur an vergleichbaren und wiederholten Analysen zu den jeweiligen Gefangenenpopulationen in den Ländern und in den Anstalten, obwohl diese auf der Grundlage der in allen Anstalten eingeführten Digitalisierungen der Gefangenenpersonalakten heutzutage viel schneller und weniger zeitaufwändig zu realisieren wären. Gleiches gilt für das auch nur in Schleswig-Holstein angewandte Instrument des Faktenchecks zur ambulanten und stationären Resozialisierung. Ein dauerhaft installierter Vergleich dieser Daten in den Ländern und auch international z. B. mit Österreich und der
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Schweiz bietet sich geradezu an – dies nicht zu tun, ist eine fahrlässige Verweigerung von qualitätsfördernden Erkenntnissen. Allerdings wird so auch immer wieder die Notwendigkeit kontinuierlicher Verbesserungen und struktureller Innovationen deutlich. Auch Neubacher (2019) konstatiert einen Mangel an Durchdringung, Systematisierung und Kritik als Folge der Föderalismusreform mit ca. 80 Vollzugsgesetzen der Länder und fordert, die „neue Unübersichtlichkeit“ mit den „Mitteln der Wissenschaft einzufangen“. Die fehlenden empirischen Grundlagen lassen viele strategische Entscheidungen über die Rahmenbedingungen der ambulanten und stationären Resozialisierung in den Landtagen und von den Landes-Regierungen als ungenügend wissensbasiert und wenig wirkungsorientiert erscheinen. Die „Unübersichtlichkeit“ mag nach Beendigung der Bundeskompetenz für das Recht des Strafvollzugs „neu“ sein – für die ambulante Resozialisierung gilt das bereits seit den 1950-er Jahren – neben den vereinzelten bundesgesetzlichen Regelungen z. B. im JGG, in der StPO und im StGB gab es schon in der alten Bundesrepublik ein „Verwirrsystem“ von differierenden Regelungen der Länder durch zahllose Ausführungsgesetze, Allgemeine Verfügungen, Landesverordnungen und Einzelerlasse zur Jugend- und Erwachsenengerichtshilfe, zur Bewährungshilfe, zur Führungsaufsicht und zu spezifischen Aufgaben wie Täter-Opferausgleich, Gemeinnützige Arbeit, Schuldenregulierung, Haftentscheidungshilfe, Soziale Trainingskurse, Suchtberatung, Therapien für Sexual- und Gewalttäter etc. Die ASJ-Vorschläge für ein Bundes-Resozialisierungsgesetz von 1986 wurden nicht aufgegriffen (Maelicke, 1986) – auch die Chance der Wiedervereinigung für eine Reform des Gesamtsystems der ambulanten und stationären Resozialisierung wurde nicht genutzt, obwohl das frühere DDR-Vollzugs- und Wiedereingliederungs-Gesetz dazu genügend Anlass geboten hat. Die Komplexität der Aufgabe der Entwicklung eines wirkungsorientierten Reso-Systems überfordert offensichtlich immer wieder die verantwortlichen Akteur*innen. Das „Kriminalpolitische Kraftfeld“ muss immer wieder neu auf Länder- und Bundesebene aktiviert und flächendeckend mit Leben und Engagement angereichert werden. Ansätze in den Bundesländern wie das Gesetz zur Ambulanten Resozialisierung und Opferhilfe (AROG) von 2015 im Saarland oder das Hamburgische Resozialisierungs- und Opferhilfegesetz von 2019 zeigen ebenso wie die Leuchtturmprojekte des Übergangsmanagements in fast allen Bundesländern punktuelle und regionale Fortschritte und Entwicklungen auf – das Gesamtbild eines bundesweiten Verwirrsystems und eines „Flickenteppichs“ wird dadurch aber nicht wesentlich verbessert. Auch die Vielzahl innovativer Projekte zeigt zwar, welches wirkungsorientierte Potential in Theorie und Praxis der Resozialisierung in Deutschland, Österreich und der Schweiz immer wieder insbesondere durch die Freie Straffälligenhilfe generiert wird, Vielfalt allein reicht als dominierendes Qualitätsmerkmal für ein effektives und effizientes Reso-System
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nicht aus. Es geht zumindest gleichermaßen um verlässliche und berechenbare Kriterien von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität als unverzichtbare Merkmale des modernen und demokratischen Sozial- und Rechtsstaats. Erneut wird deshalb für den Deutschen Bundestag die Berufung einer EnqueteKommission aus Abgeordneten aller Fraktionen und mit Sachverständigen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vorgeschlagen, um in einem Bericht eine kritische Ist-Analyse und Soll-Vorschläge zur Optimierung der ambulanten und stationären Resozialisierung vorzulegen. Literaturverzeichnis Berger, T. & Roth, K. (2020). Faktencheck 2019: Ambulante und stationäre Resozialisierung in Schleswig-Holstein. In B. Maelicke, T.M. Berger & J. Kilian-Georgus (Hrsg.), Innovationen in der Sozialen Strafrechtspflege. Wiesbaden: Springer VS. Dünkel, F. (1992). Empirische Beiträge und Materialien zum Strafvollzug. Bestands-aufnahme des Strafvollzugs in Schleswig-Holstein und des Frauenvollzugs in Berlin. Freiburg im Breisgau: Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht. Dünkel, F. (1996). Empirische Forschung im Strafvollzug. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Bonn: Forum Verlag Godesberg. Klingner, K. & Maelicke, B. (1993). Die Reform des Jugend- und Erwachsenen-strafvollzugs in Schleswig-Holstein, Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, 42, 134 ff. Maelicke, B. (1977). Entlassung und Resozialisierung. Heidelberg: C.F. Müller. Maelicke, B. (1986). Brauchen wir ein Bundesresozialisierungsgesetz? Zeitschrift für Rechtspolitik, 19, 203-205. Maelicke, B. (1994). Umbau statt Ausbau, Phase II, Bewährungshilfe, 41, 254 ff. Maelicke, B. (2019). Das Knast-Dilemma, Wegsperren oder resozialisieren? (2., überarb. u. erg. Aufl.). Frankfurt a. M.: Nomen. Maelicke, B. & Wein, C. (2020). Resozialisierung und Systemischer Wandel. Baden-Baden: Nomos. Neubacher, F. (2019). Schwerpunkte und Probleme der Strafvollzugsforschung in Deutschland, In A. Dessecker, S. Harrendorf & K. Höffler (Hrsg.) Angewandte Kriminologie – justizbezogene Forschung (S. 119-135). Göttingen: Universitätsverlag Göttingen. Ostendorf, H. (2005). Gerichtshilfe – ein Eckpfeiler der Sozialen Strafrechtspflege. Abgerufen von https://www.soziale-strafrechtspflege.de/attachments/article/36/038_ Ostendorf%20Gerichtshilfe.pdf [15.06.2020] Schneidewind, U. (2018). Die Große Transformation – Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels (4. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch. Süß, B., Tein, J. & Wein, C. (2020). Netzwerkkoordination zwischen freien Trägern und staatlichen Organisationen: Der Schleswig-Holsteinische Verband für soziale Strafrechtspflege; Straffälligen- und Opferhilfe e. V. In B. Maelicke, T.M.Berger & J.
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Kilian-Georgus (Hrsg.), Innovationen in der Sozialen Strafrechtspflege. Wiesbaden: Springer. WBGU (2011). Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation (2., veränd. Aufl.). Berlin: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. Abgerufen von https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/ wbgu/publikationen/hauptgutachten/hg2011/pdf/wbgu_jg2011.pdf [15.06.2020]
Jugendvollzug – ein zukunftsträchtiges Instrument bei Jugenddelinquenz? Karl-Heinz Bredlow Was ist die ganze Erziehung als das heilige Anknüpfen der Vergangenheit an das Dunkel der Zukunft durch den weisen Gebrauch der Gegenwart (J.S. Pestalozzi)
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Einleitung
Die Frage, ob ich mich mit dem Thema „Wie sieht die Zukunft des Jugendvollzuges aus?“ an der Festschrift für Professor Walkenhorst beteiligen möchte, habe ich spontan bejaht. Jugendvollzug...Zukunft...Walkenhorst... Die Kombination und Reihenfolge dieser Worte ließen so viel erlebten Optimismus, Hoffnung und Erkenntnisgewinn wiederaufleben, dass für mich schon früh die Kurzformel der erbetenen Antwort gefunden war. So schnell sollte eine Auflösung aber nicht verraten werden und ganz so einfach konnte die Antwort auch nicht abgeleitet werden. Mir fiel ein, dass immer dann, wenn ich bisher Interesse am Studium und dann an der Arbeit im Jugendvollzug geäußert hatte, aus dem Kreis mir ansonsten durchaus verbundener Menschen oft die Frage kam: „Was willst Du denn dort? Das hat doch keine Zukunft!“ Mich störte nicht die Frage, wohl aber die keinen Zweifel zulassende Gewissheit über die Zukunft. Bei einem der ersten „Deutschen Jugendgerichtstage“, der „Berliner Kriegstagung im März 1917“ sollte Franz von Liszt zum Thema „Jugendgerichtsverfahren in Gegenwart und Zukunft“ referieren. Er bat einleitend um Verständnis dafür, dass er „genau so wenig wie jeder Einzelne im Auditorium in die Zukunft sehen könne“ (von Liszt, 1918, S. 72). Daher wolle er sich lieber zur Frage äußern: „Was können wir tun, um eine unseren Wünschen entsprechende Gestaltung des Jugendstrafverfahrens herbeizuführen?“ In demütigem Respekt vor dem großen Franz von Liszt möchte ich mein Zukunftsthema modifiziert erörtern. In einem knappen Überblick über 100 Jahre „Strafvollzug an Jugendlichen“ soll überprüft werden, ob und wie sich im permanenten Reformprozess Pläne und Visionen erfüllt haben. Nach dem „heiligen Anknüpfen an die Vergangenheit“ soll versucht werden, den „weisen Gebrauch der Gegenwart“ anhand aktueller Reformerfolge zu schildern. Daraus können am © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3_28
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Karl-Heinz Bredlow
Ende Chancen für einen „Jugendvollzug der Zukunft“ als mögliches „Licht im Dunkel der Zukunft“ entwickelt werden. 2
Hahnöfersand einst und jetzt – Wird eine Idee aufgegeben?
Am 19. Juni 1922 legte der 26-jährige Doktorand der Kriminologie Walter Herrmann den auf seinen neunmonatigen Vor-Ort-Erfahrungen beruhenden „Plan einer Reorganisation des Jugendgefängnisses Hahnöfersand, Strafanstalt IV der hamburgischen Strafanstalten“ der damaligen Direktion der Hamburger Strafanstalten vor. Seit 1913 wurde die schmale Elbinsel Hahnöfersand als Gefangenenanstalt genutzt, zunächst als Ergänzung für den schon damals überfüllten Gefängnis-Moloch Fuhlsbüttel, seit 1920 dann als „Hamburger Gefängnis für Minderjährige“. Herrmanns Vorschlag gilt heute als Wegbereiter für einen modernen, auf dem Vorrang des Erziehungsprinzips und weitgehenden Verzicht auf Übelzufügung beruhenden Jugendvollzug (Dörner, 1991, S. 93). In diese Zukunft schauen konnte man jedoch auch 1922 nicht. Der Entwurf wurde abgelehnt, als „Kinkerlitzchen“ soll er auf den Fluren der Aufsichtsbehörde eingestuft worden sein (Dörner, 1991, S. 100). Nach Moritz Liepmann, dem verdienstvollen wissenschaftlichen Mentor dieses Projekts, war er zur damaligen Zeit ein „Fremdkörper in einem im übrigen ganz unpädagogisch gestalteten Strafvollzug in Hamburg“ (Herrmann, 1926, S. XII). Bis heute hat der Hamburger Jugendvollzug seine Heimat auf dieser Elbinsel. Vieles hat sich seit 1920 geändert, das Klima und der Geist von Herrmanns verschmähter Idee wurden dort später mehr geschätzt (Ohle, 1998, S. 6). Das könnte sich ändern, denn nach hundert Jahren soll in Hamburg wieder einmal zukunftsweisend „Deutschlands modernste Jugendanstalt“ entstehen. Am 23. Oktober 2019 beschloss der Hamburger Senat, für 164 Millionen Euro am östlichen Stadtrand eine neue Jugendanstalt zu errichten und dafür Hahnöfersand aufzugeben. Seit Vorstellung dieses Projekts streiten sich Personen in Politik, Wissenschaft und Praxis darüber, ob die neue Jugendanstalt ein Fortschrittsmodell oder eher ein Schritt fort in eine ganz falsche Richtung darstellen wird. Vor allem die im Beirat des Projekts engagierten Wissenschaftler Maelicke und Sonnen sehen sich von anscheinend unverrückbar feststehenden baulichen Vorgaben der Senatsverwaltung „überrollt“ und in ihrer Fachlichkeit nicht ausreichend gewürdigt. Es sind die Exekutive und Teile der Legislative, die ihre sich ab 2021 in Beton manifestierende Zukunftsvision als Nonplusultra des Jugendvollzuges darstellen und die Kritik daran vehement zurückweisen. Ein in der Wissenschaft engagierter (Ex-)Praktiker wie Maelicke stellt das „Gefängnis auf den Prüfstand“ und findet dort wenig Positives. Er muss erklären, warum er in der Theorie Abgelehntes in der Praxis doch nicht verhindern/abschaffen/ersetzen und in der Theorie Erwünschtes nicht einfach umzusetzen ist
Jugendvollzug – ein zukunftsträchtiges Instrument bei Jugenddelinquenz?
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(Maelicke, 2019). Maelicke sieht den geplanten Neubau als „Stein gewordenen Riesenirrtum“ an. Galli, ein weiterer aktueller Kritiker der Vollzugspraxis aus der Praxis, der den Jugendvollzug wegen dessen fehlender Zukunftsperspektive bewusst verlassen hat, lässt aparterweise als einzige Form der Freiheitsstrafe bei den „ganz harten Jungen“ eine sogenannte „Gefängnisinsel mit Dorf-Charakter“ gelten! (Galli, 2018, S. 61). In Hamburg hat man sich jetzt anders entschieden. Im Rahmen der in Verwaltungsreformen so oft und flockig zitierten “strukturverdichtenden Maßnahmen” wird dort an eine Großanstalt des Erwachsenenvollzuges eine fast eigenständige Jugendanstalt angemauert, ohne Dorfcharakter zwar, aber dafür so gut wie gewaltfrei dank fast totaler Übersichtlichkeit – meint man. Das alte Prinzip des Benthamschen Panoptikums, von Foucault als Sinnbild perfekter Überwachung beschrieben, soll hier mit neuem Dekor versehen als Jugendanstalt wieder aufleben. Es wird die neueste Anstalt für den Jugendvollzug sein, ist sie seine Zukunft? Die Frage, was eigentlich dem Jugendvollzug „angemessen“ ist, scheint auch nach hundert Jahren ebenso zukunfts- wie konfliktträchtig zu bleiben. Heute treffen sich wie einst 1922 bei der Planung der Zukunft des Jugendvollzuges Anspruch und Wirklichkeit, Vision und Pragmatismus im Raume. Gibt es Gesetzmäßigkeiten in dieser Dauerdebatte? 3
Ein erster Rückblick: Der Beginn der Debatte
Bewertet man die Zukunftschancen des Jugendstrafvollzuges anhand der über ihn veröffentlichten wissenschaftlichen Diagnosen und Prognosen, dann dürfte es ihn aus pädagogischen Gründen eigentlich gar nicht mehr, aus gesellschaftspsychologischen Gründen mindestens solange geben, wie es den auch durch Urtriebe geleiteten Menschen auf der Welt gibt, also eigentlich immer. Seit der Aufklärung, in deren Nachfolge sich die mitteleuropäische und damit auch die deutsche Gesellschaft sieht, hat jedes Gesellschaftssystem in jeder historischen Situation ein den Freiheitsentzug mitumfassendes Strafrecht gehabt. Schon die glühenden Freiheits- und Brüderlichkeitsideale der französischen Revolution brachten die Guillotinen (als humane Weiterentwicklung der Leibesstrafe konzipiert) und die Volksgefängnisse mit sich. In Preußen, Habsburg und dem Vereinigten Königreich wurde in geordneten Bahnen, aber intensiv gestraft. Bedenken gegen ein Übermaß an Zucht und Zwang wurden dabei geäußert, in erster Linie von Seelsorgern und karitativen Organisationen. Da diese aber in der Regel die Ordnungsmacht des Staates nicht anzweifelten, gab es zwar Kritik am Detail und auch an der generellen Ausprägung des Vollzuges, Abolitionismus war noch nicht bemerkbar.
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Die Jugendfürsorge behandelte seit Beginn des 20. Jahrhundert auf ihren ersten Jahrestagungen das Thema „Jugend, Erziehung und Strafe“ recht intensiv. Bei der zweiten Tagung 1910 in München war der Frage nach der Zukunft der Jugendstrafe ein ganzer Tagungstag gewidmet: „Erziehung und/oder/statt Strafe“ war das Thema. Jugendfürsorge und die ihr nahestehenden Jurist*innen wollten und wollen eigentlich immer in Freiheit helfen. Der damalige Staatsanwalt Erich Wulffen (der in der Weimarer Republik Leiter der sächsischen Gefängnisverwaltung wurde) hielt ein flammendes Plädoyer für einen „jugendfürsorgerischen Umgang mit dem jugendlichen Straftäter“. Er ist verwundert bis empört, wie auch auf dieser Tagung der Gutmeinenden immer noch der alten Strafe und Vergeltung nicht nur nachgetrauert, sondern auch ihr Einbau in die Reformgesetze verlangt wird (Wulffen, 1911, S.157). Auf der dritten Tagung 1912 in Frankfurt trägt der Moralpädagoge Friedrich Wilhelm Förster vor. Er hält ein ebenso flammendes Plädoyer für eine Beibehaltung des Begriffs Strafe im Jugendrecht, da er in einem reinen Fürsorgerecht keinen hinreichend nachhaltigen Erziehungserfolg sehen kann. Es bedarf gerade beim empfänglichen jungen Menschen der „sozialdynamischen Macht des Strafens“. Sein Standardwerk „Schule und Charakter. Beiträge zur Pädagogik des Gehorsams und zur Reform der Schuldisziplin“ war wenige Jahre vorher (1907 in Zürich) erschienen. Er wird in der Debatte unterstützt durch den jungen Kieler Strafrechtsprofessor Hermann Kriegsmann, der ebenso dezidiert feststellt, dass Strafe satt Erziehung auch und gerade beim Jugendlichen weiter angeordnet werden soll. Das Vergeltungsverlangen in unserer Gesellschaft ist unausrottbar und zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung unentbehrlich (…) weil es von höchstem sozialen Wert ist. Strafe muss sich auch in Zukunft an dem objektiven Gesichtspunkt orientieren, ob angesichts eines bestimmten Handelns ein allgemein verbreitetes Vergeltungsbedürfnis von beachtlicher Stärke vorliegt. (Wulffen, 1911, S.26)
Die Diskussion zeigt verwirrte Befürworter und Gegner des alten Vergeltungsrechts, denn plötzlich sehen sich beide in theoretischer Defensive. Man verständigt sich auf den Kompromiss „Jugendstrafe in einer erzieherisch gestalteten Einrichtung“. Die vierte Tagung findet 1917 als sogenannte Kriegstagung statt in Berlin. Franz von Liszt referiert, wie einleitend bereits erwähnt. Er ist der Ansicht, dass der Unterschied zwischen Strafe und Erziehung juristisch beibehalten werden muss. Gleichwohl werde bei der Bestrafung des bzw. der Jugendlichen der erzieherische Charakter nicht außer Acht zu lassen sein, während es auch bei der Erziehung ernster Zucht und Strenge bedürfe.
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100 Jahre später wird zum Schluss des 30. Deutschen Jugendgerichtstags 2017 in Hamburg die Vorsitzende feststellen, dass immer noch die gleichen Fragen gestellt werden wie 1917! Und auch die Antworten seien im Wesentlichen die gleichen geblieben. 4
Der alte Streit: Die Konstanz der Debatte
In der Geschichte des Jugendstrafvollzugs scheint es nur wenige Phasen zu geben, in denen er nicht unter Rechtfertigungsdruck steht. Diesen haben die Planenden und Umsetzenden des Jugendvollzuges nur in undemokratischen, totalitären Strukturen und Zeiten nicht. Aber obwohl 1933 stolz verkündet wurde, dass der „alte Streit“ über die Ausrichtung des Jugendvollzuges jetzt endlich im Sinne des Volkswillens beendet worden sei, war die Diskussion über die tatsächliche Ausgestaltung des Jugendvollzuges keineswegs beendet (Dörner, 1991, S.179 f.). Aus Sicht der NS-Ideologen waren Jugend (und Kindheit) die für die Entwicklung des NS-Volkskörpers entscheidenden Lebensphasen. Die Formung der Jugend im Sinne dieser Ideologie war daher wichtige Staatsaufgabe. Zur Formung gehörte Erziehung der Erziehbaren und Erziehungsgefährdeten und Ausschluss der (wenigen) Erziehungsunfähigen. Erziehung der jungen Straffälligen war im Strafsystem an Zucht und Ordnung, aber auch an Rückführung in die Volksgemeinschaft, der Ausschluss an eindeutiger Vergeltung (bis hin zur endgültigen Vernichtung) orientiert. Folgt man der These, dass zur Machtübernahme der NSDAP nicht nur Unterdrückung, sondern auch geschickte Verarbeitung von tief in der Bevölkerung verwurzelten Vorurteilen beigetragen haben, dann zeigt sich dies beim Thema Strafrecht/Strafvollzug besonders deutlich. Das auf die Unbotmäßigkeit der Jugend mit konsequenter Härte zu reagieren ist, kann als gesicherte Alltagsmeinung schon seit der Antike gelten. Strafe muss sein, das lernte einst und lernt wohl auch bis heute noch das Kind in vielen Situationen. Wer also diese Grundstimmung geschickt mit der möglichen Besserung von im Kern noch rechtstreuen Menschen verbindet, der dürfte wenig Widerstand bei der Mehrheit der Bevölkerung finden und in späteren Zeiten auch wenig Kritik dafür einstecken müssen. So verwundert es nicht, dass gerade beim Thema Jugendstrafrecht die Reformdiskussion von der wilhelminischen Zeit über die Weimarer Republik durch die NS-Diktatur hindurch bis in die Anfangsjahre der BRD ein stattliches Maß an personaler und inhaltlicher Konstanz aufweist. Die daran nicht ganz unbeteiligte DVJJ hat bei ihrer Jubiläumstagung dieses Thema erfreulich umfangreich diskutiert (Schumann, 2017, S. 68).
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Zweiter Rückblick: Jugendstrafe - die letzten 70 Jahre
Das Verlangen nach Sühne und Schuldvergeltung nicht nur bei Jugendlichen, sondern generell beim „Rechtsbrecher“ stammt aus entwicklungsgeschichtlich sehr alten Schichten unserer Persönlichkeit. Das kollektive Gerechtigkeitsgefühl fordert daher einst und jetzt eine Strafe für verwerfliches Tun. Fassin hat diese neue, alte Lust am Strafen jüngst eindrucksvoll beschrieben (Fassin, 2019). Selektive Intoleranz der Gesellschaft und populistische Kriminalpolitik sind seiner Meinung nach ursächlich für das sich immer weiter ausdehnende Strafbedürfnis in der Welt (Fassin, 2019, S. 15). In sieben Debatten aus jeweils einem Jahrzehnt nach Ende des zweiten Weltkriegs sollen Strukturen der in der BRD geführten Auseinandersetzung über die „Zukunft der Jugendstrafe“ gefunden werden. -
1950: Der erste Jugendgerichtstag der Nachkriegszeit (Bad Godesberg) war dem Thema „Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht“ gewidmet 1966: Die rechtspolitische Konferenz der SPD NRW widmete sich dem Thema „Probleme des Strafvollzuges in der Gegenwart“ 1972/73: Die Jahreskonferenzen der Katholischen und Evangelischen Gefängnispfarrer gingen der Frage nach „Hat Strafe Sinn?“ 1981: “Kritik der Jugendstrafvollzugsreform. Alternativen zur geschlossenen Anstalt“ war hier das Thema der -Tagung des „Arbeitskreises junger Kriminologen (AJK)“. 1990 öffnete die evangelische Kirche mit ihrer Denkschrift ein „Tor zur Versöhnung“ im Strafvollzug 1995 widmete sich das 24. Symposium des Instituts für Konfliktforschung dem Thema „Die Strafe auf dem Prüfstand“ 2004 lebte in der BRD die “What works”- Diskussion wieder auf 2017 äußert sich die Evangelische Kirche erneut „Zur Zukunft des Gefängnissystems?”
Einteilung und Bewertung der Debatten sollen auf einen wieder vielzitierten Satz des französischen Soziologen und Pazifisten Henri Barbusse erfolgen. Nach Ende des ersten Weltkrieges stellt er (in seinem Werk „Der Schimmer im Abgrund. Ein Manifest an alle Denkenden“) lakonisch fest: „Es gibt nur zwei Parteien: Links, Rechts.“ All diejenigen, die sich hier nicht wiederfinden und für sich die Mitte reklamieren möchten, können nach Barbusse gleichwohl einem der beiden Lager zugeordnet werden, wenn man ihre Grundannahmen und Prägungen genauer analysiert. Alle zum Thema „Jugendstrafvollzug – Ja oder Nein“ veröffentlichten Äußerungen sollen daher kursorisch in diese zwei Kategorien eingeordnet werden.
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Jugendstrafvollzug mit Freiheitsentzug, Mauern und Zwang ist „Rechts“, Abolitionismus und Jugendhilfe in freien Formen sind „Links“. 5.1
Die 50er Jahre – Der Ausgangspunkt Jugendgerichtstag 1950
Der erste Jugendgerichtstag nach dem zweiten Weltkrieg fand 1950 in Bad Godesberg statt. Der Strafrechtsprofessor Karl Peters gab zu Beginn einen Überblick über „Entwicklung und Stand der Jugendstrafrechtspflege“ in einem Bogen von 1923 über 1943 bis zum Neuanfang in der Bundesrepublik Deutschland. Er sah das im JGG kodifizierte Jugendrecht dabei primär als „Persönlichkeits-, Erziehungs-, Fürsorge- und nur sekundär Strafrecht“ an. Jugendstrafe war, ist und bleibe Erziehungsstrafe. Daher solle künftig nicht mehr von einem „Jugendgefängnis“, sondern von einem „Jugend“haus“ oder ähnlich“ gesprochen werden (Peters, 1953, S. 247). Im Auditorium gab es dazu nicht ungeteilte Zustimmung. Ihm wurde entgegengehalten, dass es für die „Unverbesserlichen“ doch weiterhin eine erkennbare Strafe gleich Übelzufügung geben müsse. Die fünf referierenden Gäste aus dem Ausland (England, USA, Niederlande, Österreich und Schweden) berichteten sodann von einem deutlichen Zurückdrängen der Institution „Jugendgefängnis“ in ihrer Heimat. Der schwedische Berichterstatter Gerhard Simson erläuterte die sogenannte „Schlytersche Reform“ mit ihrem Slogan „Entvölkert die Gefängnisse!“ ausführlich. Er blieb ohne protokollierten Widerspruch auch für seine Feststellung, dass in Schweden das Ziel verfolgt werde, „den Begriff Strafe zu überwinden und den Ausdruck Strafe zu vermeiden“. Vielleicht blieb es auch deshalb ruhig, weil Simson ausdrücklich von der „Nichtübertragbarkeit“ des schwedischen Modells und dem sich bereits dagegen formierenden Widerstand in Schweden sprach. Den zweiten Vortrag hielt der seit Jahrzehnten ununterbrochen in der DVJJ engagierte Landgerichtsdirektor a. D. Ludwig Clostermann. Er setzte sich vehement für eine Abgrenzung des Jugendstrafvollzugs vom Erwachsenenrecht ein: „Die Rechtsstrafe, die für Erwachsene in Betracht kommt, muß daher durch die pädagogische Strafe ersetzt werden, die nicht diffamierende, nach freiem Ermessen des Erziehers gestaltete Zufügung eines Übels.“ (Peters, 1953, S. 253) In der Diskussion fand diese Haltung Zustimmung, aber auch prononcierte Ablehnung: „Die Strafe ist zur Unterdrückung der im Menschen schlummernden schlechten Eigenschaften geeignet und daher ein geeignetes Mittel der Erziehung“ (Panka, 1950, S. 254). Den letzten Vortrag hielt der Leiter der Abteilung Strafvollzug im Hessischen Justizministerium Albert Krebs. Er hatte sich als Leiter der Landesstrafanstalt Untermaßfeld engagiert für eine Reform des Strafvollzuges eingesetzt und war deswegen 1933 aus dem thüringischen Staatsdienst entlassen worden. Krebs
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referierte zum Thema „Jugendstrafvollzug“. Er teilte die Bedenken gegen den Vollzug aller Freiheitsstrafen. „Dem Vollzug obliegt die Aufgabe, echte Ordnung zu vermitteln. Aber wir können schon froh sein, wenn nicht eine Stärkung der Verwahrlosungstendenzen durch gegenseitige Beeinflussung entsteht“ (Peters, 1953, S. 255). Die Debatte wurde vom Vorsitzenden so zusammengefasst: „Das Problem heißt nicht „Erziehung statt Strafe“, sondern „Erziehung neben Strafe“. Die Lösung heißt „Erziehung trotz Strafe“ (Peters, 1953, S. 253). Bei dieser Tagung finden sich schon alle Argumentationslinien, die die Diskussion über die Zukunft des Jugendstrafvollzugs durch die kommenden Jahrzehnte begleiten werden. Es gibt eine fast einhellige Meinung in Wissenschaft, Praxis und Politik, dass Jugendstrafe „so wie sie ist“ eher schädlich als nützlich sei. Es gibt Einzelstimmen aus der Wissenschaft, die das Strafprinzip grundsätzlich in Frage stellen. Die Sozialwissenschaften waren 1950 allerdings noch nicht stark, mit Albert Krebs aber prominent vertreten. Es gibt eine ganz überwiegende Auffassung, dass aus übergeordneten Rechtsgründen (und aus anthropologischer Sicht) auf Strafe als Reaktion auf Unrecht nicht verzichtet werden darf. Das diffuse Zauberwort lautet auch nach 1945 weiterhin „Es soll beim Strafen auch und besonders erzogen werden.“ Man argumentiert eher links, handelt aber noch deutlich rechts. 5.2
Die 1960er Jahre: Die Rechtspolitik der SPD
Am 30.04.1966 veranstaltete der Landesvorstand der SPD NRW in Düsseldorf eine „Rechtspolitische Konferenz“ für Praktiker aus der gesamten Justiz, Wissenschaftler und Vertreter aus Ministerialbürokratie und Politik. Als Thema war der „Strafvollzug“ ausgewählt worden. Hauptreferent war – wieder – Albert Krebs. Krebs, seit kurzem im Ruhestand, stellte die Zeit von 1949 bis 1966 als eine für den Strafvollzug verfassungsrechtlich verlorene Zeit dar. Trotz aller Bemühungen sei es nicht gelungen, „in ausreichendem Umfang Rechtsgrundlagen für den Strafvollzug zu erarbeiten“ (Krebs 1966, S. 39). Der Gesetzgeber habe sich zwar um eine große Reform des Strafrechts bemüht, aber den Vollzug als Bestandteil des Strafrechtssystem außer Acht gelassen. Immerhin gebe es für die besondere Aufgabe des Jugendstrafvollzugs seit 1953 mit dem § 91 JGG eine erste Rechtsgrundlage. Aber erst im Jahr 1963 sei mit der JVA Wiesbaden die erste als reine Jugendanstalt konzipierte Einrichtung eröffnet worden. Bundesweit sei der notwendige Unterschied zwischen dem Vollzug der Jugendstrafe und dem der Freiheitsstrafe immer noch nicht klar herausgearbeitet und verwirklicht worden (Krebs, 1966, S. 38). Es bleibe dabei, dass sich der Strafvollzug immer noch im Übergang befinde. Krebs hebt hervor, dass viele Praktikerinnen und Praktiker so
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wie er wissen, dass die Freiheitsstrafe ein gesetzliches Strafmittel ist, für welches bisher weder in der Theorie noch in der Praxis ein geeigneter Ersatz gefunden wurde. Weder eine negative noch eine positive Wirkung des Vollzuges kann und darf ausschließlich ihm zugeschrieben werden (Krebs, 1966, S. 35). Er verlangt von der SPD, eine klare Konzeption für den Vollzug zu entwickeln, für sie in der Öffentlichkeit zu werben und sie dann von politischen Gremien billigen und von Fachkräften verwirklichen zu lassen. Das habe er 1950 auch bereits gesagt, allerdings damals noch mit größerer Hoffnung auf Verwirklichung. In der Diskussion fand Krebs nur Zustimmung. Die gab es auch für seinen Hinweis, dass „eine kritische Einstellung zum Vollzug von Freiheitsstrafen wahrscheinlich am häufigsten bei den Praktikern zu finden sei“ (Krebs 1966, S. 35). Eine eigentlich erstaunliche Aussage, waren doch bisher eher aus der Theorie Zweifel zu vernehmen. Der damalige Leiter der JVA Werl, der zugleich auch Vorsitzender der größten Gewerkschaft der Vollzugsbediensteten war, unterstützte Krebs zwar, wies aber auch deutlich darauf hin, dass über den Strafvollzug leider nur negativ in Pressekampagnen berichtet werde. Nur zur Erinnerung: In den Jahren 1964 und 1965 begann nach drei Todesfällen in der JVA Köln ein aufmerksamer Journalist nach den Hintergründen zu recherchieren. Aus seinem Bericht entwickelte sich der sogenannte „KlingelpützSkandal“, der ein jahrelanges brutales Schreckensregime in der damaligen „Psychiatrischen Beobachtungsstation“ dieser JVA ans Tageslicht brachte (Wüllenweber, 1966, S.124). Zum Zeitpunkt der SPD-Tagung im April 1966 liefen die Ermittlungen noch, zur ersten Anklage kam es im November 1966. Nach Abschluss aller Strafverfahren und des parlamentarischen Untersuchungsausschuss und der fast zeitgleich laufenden Hamburger „Glocke-Skandal“-Ermittlungen konnte nur eines festgestellt werden: Der Strafvollzug in der BRD befand sich auf einem absoluten Tiefpunkt, er hatte sich, unbeachtet von Politik und Öffentlichkeit, wohl auch manchmal verachtet von Teilen derselben und der Wissenschaft, an vielen Stellen in einen gesetz- und orientierungslosen totalen Institutionssumpf entwickelt. Man redete links, dachte und handelte eher strikt rechts.
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Die 1970er Jahre: Die Kirchen nehmen Stellung
1974 erscheint ein Sammelband mit dem Titel „Hat Strafe Sinn?“, der ausgewählte Referate der 1972 und 1973 abgehaltenen Jahreskonferenzen der katholischen und der evangelischen Geistlichen bei den Justizvollzugsanstalten der BRD und Westberlin enthält. Der Verfassungsrichter Benda verteidigt darin die Grundhaltung des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit staatlichen Strafens insbesondere in der
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Form der Freiheitsentziehung: Die Strafe ist – unbeschadet ihrer Aufgabe, abzuschrecken und zu resozialisieren – Vergeltung für begangenes Unrecht.“ (Benda, 1974, S.29, so auch BVerfG21,391(404). Der der psychoanalytischen Kriminologie nahestehende Schweizer Strafrechtsprofessor Naegeli hielt dagegen staatliche Strafsanktionen für ethisch nicht vertretbar. Sinnvoll sei allein der „Vollzug einer sozialen Hilfe“, in der Konsequenz forderte er ein reines „Maßnahmenrecht“ (Naegeli, 1974, S. 53 ff.). Die beiden Moraltheologen Gründel und Molinski grenzten Wesen und Gehalt einer am christlichen Menschenbild des Neuen Testaments orientierten ethischen Sittlichkeit klar von den Erfordernissen des staatlichen Strafrechts und Strafvollzuges ab. Beide lehnten gleichwohl staatliche Rechtsinstanzen nicht ab, verlangten aber eine Strafvollzugsreform mit einem grundsätzlichen „ethischen Umdenken“ (Molinski, 1974, S. 205). Die Grundproblematik bleibt weiterhin ungelöst: Staatliches Strafen, insbesondere Freiheitsentzug möchte eigentlich niemand öffentlich vertreten, es gibt ausreichend psychoanalytische, moraltheologische und humanistische Gründe, die gegen die Strafe sprechen. Die staatliche Ordnung, wie sie das Grundgesetz festlegt, kommt aber ohne sie nicht aus. Damit ist eigentlich ihre Zukunft als Institution gesichert. Man argumentiert links und akzeptiert bedauernd rechts. 5.4
Die 1980er Jahre: Die „kritische Kriminologie“ meldet sich zurück
1981 fand in Wremen eine der letzten Tagungen des AJK statt. „Alternativen zur geschlossenen Anstalt – Zur Kritik der Jugendstrafvollzugsreform“ war das Thema. In der Tagung wurden acht Thesen und Forderungen aufgestellt, die alles zusammenfassten, was dazu bis dahin in der kritischen Wissenschaft und Politik veröffentlicht und propagiert worden war (Kritik der Jugendstrafvollzugsreform, 1981). An die Spitze gestellt wurde die Forderung nach Verzicht auf jegliche Form der Freiheitsstrafe bei „Personen unter 18 Jahren“, wobei die fünfte Forderung auch den Verzicht auf die Anordnung der Untersuchungshaft in dieser Alterskategorie vorsah. Die zweite These begründete diese Forderungen lapidar: “Eine Einweisung in den Jugendstrafvollzug aus Gründen der Erziehung ist sinnlos und darf nicht erfolgen.“ Als allein fremdbestimmte Erziehung sei die Jugendstrafe eine „pädagogische Kapitulation“. Als Alternative bot siebten These an, dass das Jugendstrafrecht gegenüber der Jugendhilfe unter strikter Wahrung ihrer Autonomie zurückzutreten habe. Bei dieser Tagung wurde zwar schon registriert, dass der Strafvollzug nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14.03.1972 (BVerfGE 33,1)
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im Jahr 1977 die verfassungsrechtlich längst überfällige gesetzliche Grundlage erhalten hatte. Man sah dort jedoch die Gefahr, dass durch eine mangelhafte Umsetzung der BVerfG-Forderungen sich nichts Entscheidendes im Vollzugsalltag ändern würde. Zudem würde aufgrund der jetzt getroffenen Gesetzesentscheidungen die im AJK weiterhin ganz überwiegend gewünschte abolitionistische Lösung immer weniger realistisch. Cornel befindet später, dass sich damals der „tatsächlich vorfindbare Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht auf dem Niveau des ausgehenden 19. Jahrhunderts befindet. Tragende Säulen des Jugendstrafvollzuges bleiben entgegen aller Reformrhetorik allein Ausgrenzung und Einsperrung.“ (Cornel, 2010, S. 468 f.). Man argumentiert weiterhin strikt links und akzeptiert rechts ultimativ nicht. 5.5
Die 1990er Jahre: Kirche und Konfliktforscher melden sich
Im Mai 1990 veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland die von ihrer Arbeitsgruppe „Kirche und Strafvollzug“ erarbeitete Denkschrift zum Strafvollzug „Strafe: Tor zur Versöhnung?“. Die Arbeitsgruppe war paritätisch mit Theologen (Track) und Juristen (Böhm, Rössner) besetzt. Sie sahen sich in ihrer Arbeit in der Tradition der evangelischen Gefängnisreformer des 18./19. Jahrhunderts wie Wagnitz, Wichern, Fliedner und Poelchau. Freiheitsstrafen werden zwar als eigentlich kontraindiziert zum christlichen Gebot der Versöhnung angesehen, das „Gefängnis ist aller Erfahrung nach ein ungeeigneter Ort, um zu Schuldeinsicht und Besserung fähig zu werden.“ (Kirchenamt, 1990, S. 77). Gleichwohl wird sie „als letzte Konsequenz“ akzeptiert, „wenn andere Konfliktregelungen versagen bzw. wegen der Schwere des Rechtsbruchs nicht möglich sind und sich auch mit dem Rechtsempfinden der Bürger nicht vereinbaren lassen“ (Kirchenamt, 1990, S. 77). Auch in der Denkschrift werden Forderungen aufgestellt, elf sind es hier. Zu ihnen gehören u. a. folgende Sätze: -
„Eine geringere Freiheitsstrafe tut es auch“ (Kirchenamt, 1990 S.106), „Kein Gefangener darf abgeschrieben werden“ (Kirchenamt, 1990, S.107), „Wer eine schwere Strafe erleidet, verdient besondere Beachtung“ (Kirchenamt, 1990, S.108), „Die Vollzugsreform ist konsequent zu Ende zu führen“ (Kirchenamt, 1990, S.109), „Der Zielkonflikt zwischen Gewährleistung der Sicherheit und Resozialisierung muss entschärft werden“ (Kirchenamt, 1990, S.112), „Die Vollzugsbediensteten benötigen ein klares Vollzugskonzept“ (Kirchenamt, 1990, S.113),
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„Der Jugendvollzug muß wieder „Vorreiter“ der Entwicklung werde“ (Kirchenamt, 1990, S.116).
Anders als ihre Kolleginnen und Kollegen der AJK sehen die Verfasser der Denkschrift doch die inzwischen umgesetzten Schritte des neuen bundeseinheitlichen Strafvollzugsgesetzes durchaus positiv. Die große Gefahr sehen sie in dem Umstand, dass das Strafvollzugsgesetz in seinen „Grundsätzen des Vollzuges“ Zielvorstellungen formuliert, die es im Folgenden im Detail wieder zurücknimmt beziehungsweise so vage und verklausuliert beschreibt, dass von den Grundsätzen in der Praxis immer wieder abgewichen werden kann (Kirchenamt, 1990, S. 86). Fünf Jahre später stellte im März 1995 das Institut für Konfliktforschung auf seinem 24. Symposium „die Strafe auf den Prüfstand“ (so der Titel dieser Veranstaltung). Erörtert werden sollte, „wie die Strafen im kommenden Jahrhundert aussehen sollten“. Erhofft wurden eine weitere Zurückdrängung der Strafe und deren Ersatz durch alternative Strategien der Aufarbeitung von Straftaten. Den auch heute noch lesenswerten Eröffnungsvortrag des Symposiums hält der Bielefelder Kriminalwissenschaftler Detlef Frehsee. Er spricht von Verunsicherung des Strafrechts angesichts gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse, die sich aus der zunehmenden Herausbildung des modernen Präventionsstaates ergeben haben und noch können. Er sieht den von den linken Befürworter*innen heftig ersehnten Abolitionismus, d. h. den Verzicht auf Strafe, aktuell überholt durch ein noch viel umfassenderes und rechtlich nicht mehr zu kontrollierendes allumfassendes Maßnahmenrecht, das als Risikostrafrecht letztlich zum wie auch immer gearteten Ausschluss aller potentiell gefährlichen Umstände (ergo auch Personen) führen wird. Am Ende wird es weder möglich noch zweckmäßig sein, auf Strafrecht im Sinne einer letzten Instanz ultimativer Verhaltenskontrolle und sein Prinzip der individuellen Zurechnung völlig zu verzichten. Das würde den Druck verstärken, die Welt präventologisch so durchzugestalten, dass die Anforderungen an die Vermeidbarkeit schädigender Handlungen sinken [...]. Überhaupt keine Verantwortung zur Vermeidung braucht man dort, wo die Schädigung etwa aus technischen Gründen unmöglich ist. Dann gibt es aber auch keine Freiheit mehr. (Frehsee, 1995, S. 19)
Sanktionieren sollte sich nach Frehsee auf originär strafrechtliche Funktionszwecke beschränken. Diese sieht er in konstruktiven, wiederherstellenden tatbezogenen Leistungen, die die in dem Strafausspruch liegende symbolische Missbilligung der konkreten Rechtsgutverletzung erkennen lassen soll. Dies bedeutet eine Präferenz für ausgleichende, Wiedergutmachungen sowie auf gemeinnützige Arbeits- und Dienstleistungen abstellende Reaktion. „Erziehung, Behandlung, Sozialisierung, Therapie sollten den gesellschaftlichen Institutionen überlassen bleiben, die originär dafür zuständig sind, auch wenn entsprechende Bedürfnisse bei
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Gelegenheit von Straffälligkeit aufscheinen“ (Frehsee, 1995, S. 23). Die Übertragung eigenständiger Sozialisationsaufgaben auf das Strafrecht habe sich für dieses als eine weithin unzuträgliche Belastung erwiesen. „Es entstehen funktionale Gemengelagen, unerfüllbare Erwartungshaltungen, Widersprüche der Zielsetzungen, wechselseitige Blockierung oder Konterkarierung der antinomischen Zwecke.“ (Frehsee, 1995, S. 23). Schüler-Springorum geht zum Schluss des Symposiums in seinem Beitrag „Warum glauben Sie nicht mehr an das Strafrecht, Professor Schüler-Springorum?“ auf die strafprozessuale Bedeutung des Schuldspruchs ein. Mit der öffentlichen Feststellung der Schuld ist nach seiner Einsicht die Aufgabe des Strafprozesses abgeschlossen. Danach erst wird in einem gesonderten nichtöffentlichen Verfahren nach möglichen Festsetzungen, Reaktionen oder auch Strafen verhandelt und entschieden. Träger dieser eventuellen Maßnahmen sollen dann keine Justizeinrichtungen mehr sein (Schüler-Springorum, 1995, S. 70). Die Tagung ist in den Großkampfstätten der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht unbedingt vertiefend dargestellt und diskutiert worden. Gleichwohl oder vielleicht deshalb werden bei ihr zum ersten Mal Zukunftsvorstellungen formuliert, die sich radikal vom Bisherigen unterscheiden, aber nicht unrealistisch und damit bei gutem Willen machbar erscheinen. Strafe soll, wenn es sie denn schon weitergeben muss, bei Jugendlichen als Rechtskonsequenz auch juristisch begründet und ausgesprochen werden. Die Umsetzung dieser Strafe heißt aber nach dem Schuldspruch Erziehung. Sie wird pädagogisch begründet und muss daher auch unter pädagogischer, nicht unter juristischer Aufsicht erfolgen. Man argumentiert links und stellt realistische linke Alternativen vor.
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Die 2000er Jahre: „What works?“, ein Revival der 70er Jahre?
Knapp zehn Jahre später gibt es in wissenschaftlichen Zirkeln unverändert starke Zweifel am Sinn und Erfolg staatlichen Strafens. Mit Cornel und Nickolai veröffentlichen zwei engagierte Vertreter eines gemäßigten Abolitionismus den Sammelband „What works? Neue Ansätze der Straffälligenhilfe auf dem Prüfstand“. Der Konstanzer Soziologe und Kriminologe Gerhard Spiess nimmt darin „Zum Stand der internationalen kriminologischen Wirkungsforschung zu Strafe und Behandlung im Strafvollzug Stellung (Spiess, 2004, S. 12 ff.). Er bezieht sich zunächst auf die in den 70er und 80er Jahren in den USA geführte Diskussion über die Untersuchung von Lipton/Martinson, die insbesondere in der BRD unter dem missverständlichen Schlagwort „nothing works“ kurzfristig populär war. Bezeichnenderweise war sie es sowohl bei den linken Kritiker*innen als auch den rechten Befürworter*innen des Strafvollzuges. Die einen sahen in dem „nothing works“ den Beweis dafür, dass teure, aufwändige Behandlungsmaßnahmen mangels Erfolgsaussichten gar nicht notwendig seien, so dass das alte kostengünstigere System es auch richten würde. Linke Kritiker*innen sahen darin eher den Hinweis dafür, dass noch keine adäquaten Methoden zur „Resozialisierung“ gefunden worden waren. Spiess arbeite deutlich heraus, dass in der BRD „nothing works“ missverstanden worden sei. Lipton habe nicht die Wirksamkeit von Methoden im Strafvollzug, sondern das System Strafvollzug selbst auf den Prüfstand gestellt. „Nothing works“ belegt demnach die Sinnlosigkeit des Strafvollzuges an sich, nicht aber seine Reformbedürftigkeit. Spiess unterstützt diese These, er sieht aber deutlich die – aus den USA nach Europa übertragene – alle Rechtsstaatlichkeit hinwegspülende Gefahr eines reinen Gefahrenabwehrstaates, der – wie im Spielfilm „Minority Report“ dargestellt – alle potentiellen Normbecher aufspürt und vorsorglich eliminiert. In dem Vorwärtsdrängen der mit schwersten Prognoseproblemen belasteten Sicherungsverwahrung sieht er erste Anzeichen dieses kommenden Maßnahmestaates auch in der BRD. Er besinnt sich daher auf das auch aus dem Fundus des vergangenen Jahrzehnts stammende Modell der Sozialtherapie. „Wenn aber Freiheitsentzug als letztes Mittel verbleibt, kann eine methodisch gut fundierte Behandlung günstigere Effekte erzielen als der Verzicht auf Behandlung.“ (Spiess, 2004, S. 50). Man argumentiert links und stellt jetzt linke, nur ganz leicht rechts angehauchten Mittel vor.
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Die 2010er Jahre: Die Evangelische Kirche: Zur Zukunft des Gefängnissystems
2017 wollte der Vorstand der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland mit seinem Text „Zur Zukunft des Gefängnissystems“ einen Diskussionsprozess in Kirche und Gesellschaft über die aktuelle Situation und zukünftige Entwicklung des Gefängnissystems anregen oder wiederbeleben. Der Text beginnt mit einer Frage und einigen Feststellungen: Ist es möglich, das bestehende Gefängnissystem von einer Zukunft her zu denken, in der ein veränderter Begriff von ausgleichender Gerechtigkeit den Umgang einer Gesellschaft mit straffällig gewordenen Menschen prägt? Es treibt uns die Frage, ob andere Formen in der Zukunft des Gefängnissystems möglich sind. Not-wendig sind sie. In der Praxis tritt jedoch immer mehr eine Orientierung des Strafvollzuges am Paradigma der Sicherheit und Verwahrung in den Vordergrund, was sich nicht zuletzt an höheren Mauern und teurer Sicherheitstechnologie ablesen lässt. (Evangelische Gefängnisseelsorge, 2015, S. 5-6)
Bemerkenswert ist der Lösungsvorschlag: Um Verantwortung zu lernen, sollten die inhaftierten Menschen die Möglichkeit erhalten, ihr Leben so weit als möglich eigenständig zu gestalten [...]. Ein so gestalteter Strafvollzug sollte ein Wohngruppenvollzug sein, mit Etagenküche und Aufenthaltsraum und mit ausreichend Platz (auch im Freien). Architektonisch wurde dies teilweise in der Folge des Strafvollzugsgesetzes von 1976 umgesetzt. In den letzten beiden Jahrzehnten fand wieder eine Rückorientierung zum kontrollierbaren Gefängnisbau statt. Diese Entwicklung muss neu überdacht und korrigiert werden. (Evangelische Gefängnisseelsorge, 2015, S. 31)
Billwerder „lässt grüßen“, diese Rückbesinnung hat anscheinend inzwischen auch den rot-grün regierten Hamburger Senat erfasst. Zusammenfassend schlägt der Arbeitskreis als Abkehr vom bisherigen Strafvollzug vor: -
Deutliche Verringerung der Straftatbestände, Reduzierung der Haftpopulation auf einen harten Kern, Alternative Haftgestaltung für diesen Kern, Einführung von Modellen des „Restorative Justice“ weit über die bisher in Deutschland mit diesem Begriff verbundenen Täter-Opfer-Ausgleich- Projekte hinaus (Evangelische Gefängnisseelsorge, 2015, S. 27)
Man argumentiert links und fordert neue linke Methoden, akzeptiert aber gemäßigt rechte für den harten Kern.
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Am Ende aller Diskussionen und Prognosen steht also wieder ein attraktives, hoffnungsfrohes und christliches Programm einer am ökonomischen Zwang und an Sicherheitsinteressen ausgerichteten Praxis entgegen. So fing es einmal an vor hundert Jahren im einsamen Hahnöfersand. 6
Die Zukunft – ein vorsichtiger Versuch
Soviel ist gedacht, so viel ist appelliert, so viel ist konzipiert und wie viel davon ist umgesetzt worden? Vor die Klammer gezogen werden kann bei diesen Debatten eine Erkenntnis: Die einst bei Herrmann in Hahnöfersand festgestellte Diskrepanz zwischen wissenschaftlich unterfütterter liberaler Erziehungstheorie mit dem Ziel einer Reduzierung bis Abschaffung des „Gefängnismäßigen“ und deren Umsetzung, die zumeist in nur mäßig modifizierte, im Kern unverändert gebliebenen Strukturen einer totalen Zwangsinstitution mündete, besteht unverändert fort. Papendorf stellt dazu 2011als Fazit im “Handbuch Jugendkriminalität” resigniert fest: „Mit den Beiträgen in diesem Buch ist ein weiteres Mal die Abschaffungswürdigkeit des Jugendgefängnisses dokumentiert worden. Nicht das erste Mal übrigens und vermutlich auch nicht das letzte Mal.“ (Papendorf, 2011, S. 573). Woran mag es liegen, dass eine in der Wissenschaft überwiegend kritisch bis ablehnend beschriebene Einrichtung wie der Jugendvollzug gleichwohl in der BRD in der Praxis ohne erkennbare „Einbußen“ überlebt hat? Wer hat wann welche Argumente in diesem Dauerstreit vorgetragen? Was das der reinen Wissenschaft zugeschriebene abstrakte Denken angeht, so ist seit Franz von Liszt bis hin zu Detlef Frehsee eigentlich ein reines Strafoder Vergeltungssystem im Jugendstrafrecht theoretisch weder entwickelt noch legitimiert worden. Voller Inbrunst ist eigentlich nur seine Nutzlosigkeit und damit seine Abschaffung abgeleitet worden. Hier dürfte auch weiterhin „links“ gedacht und publiziert werden. Was die mediale Öffentlichkeit angeht, der ja das offene und subtile Appellieren besonders liegt, so ist hier in sensationsarmen Zeiten eigentlich immer das Gedankengut der Reformer*innen unterstützt worden. Findet die Sensation ein Opfer im Vollzug (wie bei dem Siegburger und dem Klingelpütz-Skandal), dann ist die Appell-Macht der Medien sehr intensiv reformfreundlich, bei Terroristen und neuerdings „Kinderschändern“ ist der Ruf nach „harter Strafe“ allerdings ebenso, wenn nicht noch stärker ausgeprägt. Der Kreis derer, vor denen die Bürger geschützt werden sollen, wird immer größer. Hier dürfte auch weiterhin rechts gedacht und gehandelt werden. Was die Planungsabteilungen in Justizministerien und rechtspolitischen Gremien der Parteien angeht, so findet sich hier wie schon in Herrmanns Zeiten immer
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viel Freude an veröffentlichtem Fortschritt und viel verborgenes Bremsen, falls es doch zu arg werden könnte mit dem Strukturwandel. Hier dürfte weiterhin links und rechts gedacht, dann aber vorsichtig rechts gehandelt werden. Und was die Jugendanstalten selbst angeht, da ist erfreulicherweise, aber auch leider so ziemlich alles möglich. Siegburg ist passiert in einer Phase, in der sowohl Praxis als auch Theorie besonders intensiv mit der Erneuerung des Jugendvollzuges beschäftigt waren (auch in der JVA Siegburg übrigens). Über Adelsheim und Rockenberg, über den Vollzug in freien Formen in Dormagen, Seehaus/Störmthal und Creglingen ist viel veröffentlicht worden (für alle siehe Walter, 2011). Dadurch wurde auch einem heterogeneren Publikum bekannt, welche Möglichkeiten die Gesetze, wenn sie mit Engagement, Fantasie, Mut und Standfestigkeit ausgelegt werden, dem Jugendvollzug bieten konnten. Dass über andere Einrichtungen weniger bekannt wurde, sagt nicht, dass dort weniger getan, sondern dass weniger darüber gesprochen wurde. Was war es, das diese Anstalten so hervorzuheben scheint? Bei allen Einrichtungen wird der Kontakt zur praxisorientierten Wissenschaft in konstanten und festen Strukturen verankert und gemeinsam gelebt. Diese Symbiose hat vor Ort viele der Konflikte und Gefahren, die die linke (und rechte) kritische Vollzugssicht ja auch weiterhin beschreibt und pflegt, zwar nicht völlig abgeschafft aber doch auf ein sehr großes Maß an Herrmannscher „pädagogischer Atmosphäre“ (Herrmann, 1926, S. 23) reduziert. In der Rückschau auf die eigenen Praxisjahrzehnte fallen mir in Iserlohn folgende Ereignisse und Erlebnisse ein: Eine Anstalt, die jahrzehntelang ohne Stacheldraht und ständige KameraKontrolle ausgekommen ist, mit einer als Außenstelle einer externen Berufsschule konzipierten Schule ohne Gittern vor den Fenstern, mit Tieren im Schulhof und bis heute gepflegtem Äußeren, mit Bildungskooperation mit der örtlichen VHS und mit einem interdisziplinären Freizeit- und Lernzentrum, das von Bediensteten und jungeninhaftierten Menschen genutzt und verwaltet wurde, Lockerungen des Vollzuges (Vollzugsöffnende Maßnahmen heißt es jetzt wohl) in einem heute fast utopischen Ausmaß: -
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Neben Ausgang, Urlaub, Freigang gab es Vollzugsschulklassen, die in Kooperation mit Kultushauptschulen an gemeinsamen Projekten in und außerhalb der Anstalt teilnehmen, bis hin zu gemeinsamen Klassenfahrten in die türkische Patenstadt und -Schule Teilnahme von jungeninhaftierten Menschen an Bauorden-Projekten in allen Teilen Deutschlands und Europas Abenteuer- und Erlebniswochenenden in freier Natur, Radfahr-, Kanu-, Crosscountry-Laufgruppen,
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Sportgruppen innerhalb und außerhalb des Vollzuges: Teilnahme am Ligenbetrieb im Fußball, Basketball, Volleyball Teilnahme an überregionalen Projekten der Sepp-Herberger-Stiftung und des DLV Schiedsrichterausbildung kulturelle Projekte wie Projekte mit der Alanus Kunsthochschule, dem Institut für Waldorfpädagogik, dem Orchester und dem Lutz-Theater Hagen, eigene Kreativgruppen, eine Theatergruppe, die sowohl in der Anstalt als auch aus dem geschlossenen Vollzug heraus im echten Stadttheater abendliche Repertoireaufführungen sicherstellen kann fest verankerte Therapeutische Kooperationen mit externen Fachleuten und Institutionen der Jugendpsychologie und Jugendpsychiatrie, Hinzuziehung externer Therapeut*innen (lange Zeit bezahlt in dem von Max Busch mitgegründeten Förder-Verein für wissenschaftlich-therapeutische Praxis“), enge Zusammenarbeit mit sehr unterschiedlichen christlichen Gemeinden und Gruppen wie der Gefährdetenhilfe und dem Haus Ende Syburg und moslemischen Gemeinden und Institutionen, Starkes Engagement der Ausbildungsleitung und von Fachdiensten in der theoretischen und praktischen Ausbildung des AVD, auch und gerade in der Justizvollzugsschule...
Die Liste könnte fortgesetzt werden, vielen der Projekte ist eines gemeinsam: Sie sind in der stets gesuchten Zusammenarbeit mit externen Institutionen entstanden. Die Anstalt ist insoweit immer offen gewesen und hat die Außenwelt hinein, die Innenwelt nach außen gelassen. Von fast kitschiger Symbolik war dabei die jährliche Weihnachtsfeier, an der im großen Kirchenraum grundsätzlich alle jungen Inhaftierten – ganz gleich welcher Haftart – , alle Bediensteten und alle der Anstalt verbundenen Menschen teilnehmen konnten, Ehrengäste waren dabei stets die Schüler*innen der Abschlussklasse einer Förderschule für junge behinderte Menschen aus der Nachbarstadt. Es gab Dekor und viel Musik, etwas besinnlich und viel Rock, es gab einen echten Nikolaus mit Engeln in Begleitung, es gab Zauberer und Artisten ... und es war immer friedlich und entspannt. Auch die Aufsichtsbehörde war eingeladen und kam auch manchmal. Es war an dem Tag besonders, aber auch ansonsten ziemlich wenig Gefängnis zu spüren. Ohne ein im Schnitt den Jugendlichen verständnisvoll, den Kollegen und Kolleginnen respektvoll begegnendes, dem Neuen immer aufgeschlossenes und das vertretbare Risiko nicht scheuendes Personal wäre das alles nicht möglich gewesen. Zu denjenigen Menschen, die von außen kommend durch ihre Tätigkeit ganz besonders zu diesem Klima beigetragen haben, gehören Professor Walkenhorst und seine vielen Studierenden und Wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen. Sie haben durch ihre Verlässlichkeit und Kreativität jahrzehntelang die Anstalt beflügelt
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und auf ein ohne sie wohl nicht erreichbares Niveau gehoben. Dafür an dieser Stelle ein großes Dankeschön. Wenn also nach der Zukunft des Jugendvollzuges gefragt wird: So könnte er aussehen und die theoretische Grundlage dafür gibt es auch: Das „Modell der guten Schule“, das Walkenhorst veröffentlich (Walkenhorst, 2002) und mit seinem Team umzusetzen versucht, könnte das Modell eines neuen Jugendvollzuges sein. Alles, was in den oben erwähnten neun kritischen Diskussionen über Jugendstrafe vorgebracht wurde, ist darin berücksichtigt. Wenn es gelänge, in der übergeordneten Aufsichts- und Konzeptionsebene zumindest für den Jugendvollzugsbereich das „Justizmäßige“ zurückzudrängen, dann wäre auch mittel- bis langfristig der so eher von lokalen Bedingungen abhängige Erfolg nachhaltiger gesichert. Konkret könnte dies z. B. ein gemeinsamer Erlass von Jugend-, Sozial- und Bildungsministerium sein, der Erziehungsziele und Mittel ihrer Umsetzung gemeinsam festlegt und zunächst gemeinsam beaufsichtigt, bis der Justizbereich sich hier fast völlig zurückziehen könnte. Nur Mut, es hat schon an vielen Stellen geklappt und es wird in dieser Gemeinsamkeit auch an anderen klappen. Es gibt eine Zukunft für den Jugendvollzug als gute Schule. Dazu gehört es aber auch, dass man die „andere Seite“ ernst nimmt und nicht mit scheinbaren Beteiligungsformen überrascht, die in ihrer Zielrichtung nur recht einseitig verstanden werden können. Billwerder dürfte daher im aktuellen Planungsstadium die Zukunft des Jugendvollzuges nicht verkörpern. Literaturverzeichnis Benda, E. (1977). Vom Sinn menschlichen Strafens. In B. Garnis & E. Wiesner (Hrsg.), Hat Strafe Sinn? (S.16-31). Freiburg: Herder. Cornel, H. (2010). Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht: Historische Entwicklungen. In B. Dollinger & H. Schmidt-Semisch (Hrsg.), Handbuch Jugendkriminalität (S.455-473). Wiesbaden: Springer VS. Dörner, C. (1991). Erziehung durch Strafe: die Geschichte des Jugendstrafvollzuges von 1871-1945. Weinheim: Beltz. Drenkhahn, K. (2017). Entwicklung und Prognose der Gefangenenpopulation und ihrer Merkmale. In B. Maelicke & S. Suhling (Hrsg.), Das Gefängnis auf dem Prüfstand – Zustand und Zukunft des Strafvollzuges (S. 51-72). Wiesbaden: Springer VS. Evangelische Gefängnisseelsorge in Deutschland (Hrsg.).(2017). Zur Zukunft des Gefängnissystems. Sonderausgabe 2017 des Readers Gefängnisseelsorge. Hannover: Eigenverlag. Fassin, D. (2019). Der Wille zum Strafen. Berlin: Suhrkamp. Feltes, T. et al. (1982). „Kritik der Jugendstrafvollzugsreform“. Ein Tagungsbericht als Einführung in das Heft. Kriminologisches Journal,14(2), 85-94.
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Autor*innen
Arloth, Frank, Prof. Dr., Ministerialdirektor, Amtschef des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz Bredlow, Karl-Heinz, ehemaliger Leiter der Justizvollzugsanstalt Iserlohn/Nordrhein-Westfalen Carvalho e Silva, Jonas, Dr., Bundeskanzler-Stipendiat, Fachgebiet Soziale und Emotionale Entwicklung in Rehabilitation und Pädagogik, Technische Universität Dortmund Cornel, Heinz, Prof. Dr., ehemals Professur für Recht/Kriminologie, Alice Salomon Hochschule Berlin De Oliveira Käppler, Christoph, Prof. Dr., Fachgebiet Soziale und Emotionale Entwicklung in Rehabilitation und Pädagogik, Technische Universität Dortmund Dünkel, Frieder, Prof. Dr., ehemals Lehrstuhl für Kriminologie, Universität Greifswald Emmerich, Michaela, Dr.’in, Oberstudienrätin, Lehrstuhl für Erziehungshilfe und Soziale Arbeit, Universität zu Köln Ernst, Stephanie, Dr.’in, Geschäftsführerin der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. Esser, Klaus, Dr., Geschäftsführer der Bethanien Kinderdörfer, Schwalmtal. Fehrmann, Sarah E., M.A. Rehabilitationswissenschaften, Justizvollzugsanstalt Heinsberg/Nordrhein-Westfalen Flihs, Luisa, Sonderpädagogin, ehemals wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Erziehungshilfe und Soziale Arbeit, Universität zu Köln Goerdeler, Jochen, Ministerialrat, Kiel/Hannover
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 A. Kaplan und S. Roos (Hrsg.), Delinquenz bei jungen Menschen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31601-3
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Autor*innen
Herz, Birgit, Prof.’in, Dr., Abteilung Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Leibniz Universität Hannover Hillenbrand, Clemens, Prof. Dr., Fachgruppe Pädagogik und Didaktik bei Beeinträchtigungen des Lernens, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Höynck, Theresia, Prof.’in Dr., Professur für Recht der Kindheit und Jugend, Universität Kassel Holthusen, Bernd, Diplompolitologe, Leitung der Fachgruppe Angebote und Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe, Deutsches Jugendinstitut München Hoops, Sabrina, Dr.’in, Fachgruppe Angebote und Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe, Deutsches Jugendinstitut München Hoyer, Jan, Förderschullehrer, Abteilung Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Leibniz Universität Hannover Kaplan, Anne, Dr.’in, akademische Oberrätin a. Z., Fachgebiet Soziale und Emotionale Entwicklung in Rehabilitation und Pädagogik, Technische Universität Dortmund Knab, Eckhart, PD Dr., ehemaliger Direktor des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe Mainz Krause, Annika, Fachgruppe Pädagogik bei Verhaltensstörungen - Emotionale und soziale Entwicklung, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Maelicke, Bernd, Prof. Dr., Gründungsdirektor des Deutschen Instituts für Sozialwirtschaft, ehemals Ministerialdirektor im Justizministerium Schleswig-Holstein Markowetz, Reinhard, Prof. Dr., Lehrstuhl für Pädagogik bei geistiger Behinderung und Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Ludwig-Maximilians-Universität München Mentz, Michael J., ehemaliger Leiter der Justizvollzugsanstalt („Lebensschule“) Rockenberg/Hessen Müller, Thomas, PD Dr., Lehrstuhl für Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Autor*innen
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Neubacher, Frank, Prof. Dr., M.A. Politikwissenschaften, Institut für Kriminologie, Universität zu Köln Ostendorf, Heribert, Prof. Dr., ehemaliger Leiter der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Petermann, Ulrike, Prof.‘in Dr., Lehrstuhl für Klinische Kinderpsychologie, Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) der Universität Bremen Roos, Stefanie, Dr.’in, Oberstudienrätin im Hochschuldienst, Fachgebiet Soziale und Emotionale Entwicklung in Rehabilitation und Pädagogik, Technische Universität Dortmund Schneider, Lisa, Kriminologin und Sonderpädagogin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Professur Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Förderpädagogik der emotionalen und sozialen Entwicklung, Universität Siegen Schweer, Sabine, Diplom-Rehabilitationspädagogin, Justizvollzugsanstalt Iserlohn/Nordrhein-Westfalen Stein, Roland, Prof. Dr., Lehrstuhl für Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Julius-Maximilians-Universität Würzburg Stossun, Anna, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Erziehungswissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt a. M. Vierbuchen, Marie-Christine, Prof.’in Dr., Lehrstuhl Inklusive Bildung, Universität Vechta Wirth, Wolfgang, ehemaliger Leiter des Kriminologischen Dienstes des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Wittrock, Manfred, Prof. Dr., Fachgruppe Pädagogik bei Verhaltensstörungen Emotionale und soziale Entwicklung, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Witzigmann, Tobias, Dr., Richter am Amtsgericht, Bayerisches Staatsministerium der Justiz Zimmermann, Rainer, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Erziehungshilfe und Soziale Arbeit, Universität zu Köln