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German Pages 527 [528] Year 2012
Horst Bredekamp
GALILEI DER KÜNSTLER Der Mond. Die Sonne. Die Hand
If
Abb. 1
Ottavio Leoni, Galilei, Kreide auf Papier, 1624, Florenz,
Biblioteca Maruceliiana
Horst Bredekamp
GALILEI DER KÜNSTLER Der Mond. Die Sonne. Die Hand
Zweite, korrigierte Auflage
Akademie Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004617-4 © Akademie Verlag G m b H , Berlin 2009 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Grafisches Konzept und Satz: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: D Z A Druckerei zu Altenburg G m b H , Altenburg Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis I EINLEITUNG: GALILEIS HAND 1. Die Stadtskizze 2. Der Eigenwille der Originale 3. Hobbes, Leibniz, Galilei 4. Der Sidereus Nuncius ML 5. Dank
3 5 8 10 11
II GALILEI ALS „NEUER MICHELANGELO" 1. Die Verweigerung des Grabmals 2. Die konstruierte Seelenwanderung
13 15
3. Michelangelo und Galilei, vereint 4. Galilei und Vasari
17 21
III KÜNSTLERISCHE EVIDENZ ALS KULTURKRITIK 1. Jugendskizzen 2. Riccis Weichenstellung
25 33
3. Kritik des Manierismus 4. Berechnung von Dantes Hölle 5. Militärarchitektur
42 63 70
IV DER MOND UM 1600 1. Leonardos Erbschaft 2. Cigolis Kreuzabnahme
83 87
3. Elsheimer und Harriot 4. Cigolis Mondfresko
90 94
V DIE MONDE DES SIDEREUS NUNCIUS 1. Teleskopblicke 2. Die Unebenheit des Mondes
101 104
3. Die Entscheidung zur Buchpublikation 4. Der Verleger Baglioni
113 115
5. Text und Bild zum Mond
121
VI DIE FLORENTINER ZEICHNUNGEN 1. Die Besiedelung 2. Die Maltechnik
131 137
3. Vergleich der Zeichnungen und Radierungen
146
VII DIE ZEICHNUNGEN DES SIDEREUS NUNCIUS MI 1. Das Buch und die Zeichnungen 2. Die Frage der Zuschreibung
149 155
3. Die Priorität der Zeichnungen 4. Die Aura des Schmutzigen
161 175
VIII DIE HERSTELLUNG DES SIDEREUS NUNCIUS 1. Erste Bilder und Worte 2. Die Holzschnitte
177 182
3. Abschluß des Druckes 4. Galilei als Stecher? 5. Der Plan des Neudruckes
184 189 208
IX STILFORMEN DER SONNENFLECKEN 1. Scheiners Vorstoß 2. Galileis und Cigolis Reaktionen
217 227
3. Das Netz der Sonnenforschung 4. Das „Endgericht" der Aristoteliker
254 278
X REFLEXION UND FÖRDERUNG DER MALEREI 1. Galileis paragone 2. Cigolis Theorie der Malerei
283 288
3. 4. 5. 6.
293 301 304 314
Austausch mit Sagredo Einsatz für Artemisia Gentileschi Förderung von Anna Maria Vaiani Kritik des Malers Salvatus
XI KUNST ALS WAHRE PHILOSOPHIE 1. Cigolis Spott 2. Das Modell der Kunst
319 322
3. Das „Buch der Philosophie" 4. Das Reich des Auges
328 334
XII SCHLUSS: DER STIL DER ERKENNTNIS 1. Geschwindigkeit und Form 2. Die Souveränität der Skizze
337 341
ANHANG I GALILEIS MONDE IN ORIGINALGRÖSSE 1. Die Kopien des Briefes vom 7.1.1610 2. Die Zeichnungen des Sidereus Nuncius ML
346 348
3. Schema der Übertragungstechnik (Irene Briickle) 4. Die Radierungen des Sidereus Nuncius, Venedig 1610
353 354
5. Zeichnungen der BNCF, Gal. 48
359
II DIE SONNENFLECKEN IN ORIGINALGRÖSSE SEPTEMBER 1611-AUGUST 1612 1. Chronologie in Originalgröße 2. Karten des Austausches der Sonnenflecken a. Galilei als Empfänger b. Galilei als Sender
363 480 481
III APPARAT 1. Literaturliste 2. Abkürzungen
473 511
3. Abbildungsnachweis 4. Register der historischen Personen
512 513
Vorwort zur zweiten Auflage Die über lange Zeit als ausgereizt geltende Galilei-Forschung ist in den letzten Jahren dadurch auf ungeahnte Weise neu angefacht worden, daß die überkommene Frontstellung zwischen dem deduzierenden Denker und dem laborierenden Praktiker in Frage gestellt wurde. Dies geschah vor allem mit Blick auf die Augen- und Handaktivitäten Galileis, wie sie eine Berliner Dissertation der Wissenschaftsgeschichte1 sowie Eileen Reeves' und Albert van Heldens Untersuchung zur Sonnenfleckenforschung erschlossen haben. 2 In beiden Arbeiten erscheint der Theoretiker Galilei als Praktiker und der Forscheringenieur als Philosoph. Eileen Reeves hat kürzlich zudem eine Geschichte des archimedischen Königsspiegels vorgelegt, aus der sich eine Neubestimmung des Teleskopes aus der Praxis der Rundspiegel ergibt.3 Schließlich hat sich der in Pisa durchgeführte Kongreß La conquista del visibile. Galileo e le arti (Die Eroberung des Sichtbaren. Galilei und die Künste) dem gesamten Problemkreis gewidmet.4 Hier zeigt sich insgesamt ein neuer Horizont, den Jürgen Renn in einer Besprechung dieses Buches als Versuch beschrieben hat, „die Welt des Sinnlichen nicht als empirisches Rohmaterial abstrakt-logischen Denkens abzutun, sondern als eigenmächtige Formbestimmung naturwissenschaftlicher Erkenntnis wiederzuentdecken." 5 In diesem Sinn bedeutet die Titulierung Galileis als „Künstler" keine Hinzufügung einer additiv zu ergänzenden Seite des Forschers, sondern eine integrale Fähigkeit. Als Versuch, die sich bewegende und gestaltende Hand als Denkorgan zu bestimmen, agiert der vorliegende Versuch in einem Raum, in dem Kunstgeschichte, Wissenschaftsge-
' Matteo Valleriani, Galileo Engineer, Boston 2009. Eileen Reeves und Albert van Helden, Galileo and Scheiner on Sunspots 1611-1613, Chicago 2008. 3 Eileen Reeves, Galileos Glassworks. The Telescope and the Mirror, Cambridge und London 2007. Vgl. auch ihre brillante Miszelle über Galileis Antipoden Christoph Scheiner: Taking it: Apelles and Protogenes among Astronomers, in: Bildwelten des Wissens, Bd. 5/2, 2007, S. 65-72. 4 Letture Galileiane. Galilean Lectures. Galileo e le Arti. The Conquest of Visible: Galileo and the Arts. Convengno internazionale di studi, Pisa, 28-29 settembre 2006. Organizzazione scientifica: Lucia Tongiorgi Tornasi e AlessasndroTosi), in: Galilaeana, Bd. IV, 2007, S. 1-308. 2
5
Jürgen Renn, Rezension, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Nov. 2007, Nr. 267, S. 43.
χ
VORWORT
schichte und Philosophie zusammenspielen, ohne sich durch Abgrenzungen beweisen zu müssen. Gegenüber der Erstauflage ist eine Reihe älterer und neuerer Titel verschiedener Forschungsbereiche nachzutragen. 6 Da der Text bis auf eine Fülle von Präzisierungen im Detail und die Beseitigung einer Reihe von Fehlern im wesentlichen jedoch ohne Veränderung bleibt, 7 muß um so mehr daraufhingewiesen werden, daß einige Aspekte heute stärker zu betonen sind als es in der Erstauflage der Fall sein konnte. Eines der Hauptobjekte des Buches stellt jenes New Yorker Exemplar des Siderus Nuncius dar, das statt der gedruckten Mondillustrationen Zeichnungen aufweist. Durch den Buchhistoriker Paul Needham (Princeton) ist mit Hilfe systematischer Fehleranalysen bekräftigt worden, daß es die zur Korrektur bestimmten Druckfahnen enthält. Zur Vorbereitung einer monografischen Darlegung seiner naturwissenschaftlichen Untersuchung war das Buch zudem fast einen Monat lang im Berliner Kupferstichkabinett. Hierbei hat sich durch Beobachtungen von Irene Brückle (Kupferstichkabinett) unter anderem die Erkenntnis ergeben, daß diese Mondillustrationen nicht etwa Kupferstiche, sondern Radierungen darstellen. Die aufgrund der amateurhaften Form dieser Illustrationen vorgebrachte Vermutung, hier sei Galilei selbst am Werk gewesen, kann damit in eine tentative Gewißheit überführt werden. Diese Überlegungen wie auch die Ergebnisse der weiteren naturwissenschaftlichen Untersuchungen sollen als eigene Monographie veröffentlicht werden. 8 Der Umstand, mit den beschränkten eigenen Mitteln an der Rekonstruktion eines Galilei mitgewirkt zu haben, der sich um Disziplinengrenzen und die Hierarchien von Kopfarbeit und handwerklicher Gestaltung nicht gekümmert hat, erfüllt mich angesichts dieser zweiten Auflage mit neuer Freude. H. B„ September 2008.
6
Zur das Denken stimulierenden Hand: André Leroi-Gourhan, Hand und Wort, Die Evolution
von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt am Main 1980; Frank R. Wilson, Die Hand - Geniestreich der Evolution. Ihr Einfluß auf Gehirn, Sprache und Kultur des Menschen, Stuttgart 2000 sowie das soeben erschienene Werk von Richard Sennett (Richard Sennett, Handwerk, Berlin 2008, S. 2 0 2 239). Die großartige Schau Disegno des Kupferstichkabinetts zu Berlin hat eine historische Rekonstruktion auch aus der Zeit Galileos vorgenommen (Disegno. Der Zeichner im Bild der Frühen Neuzeit [Hg.: Hein-Th. Schulze Altcappenberg und Michael Thimann mit Heiko D a m m und UlfSölter], Ausstellungskalatog, Berlin 2007). Schließlich ist auf Frances Huemers Neubestimmung von Galileis Verhältnis zu Peter Paul Rubens hinzuweisen: Reconsidering Rubens in Venice-Padua and Mantua, in: Storia dell'arte, Ν. S. 15 = 115, 2006, S. 3 7 - 4 6 . 7
Rätselhaft war der Irrtum, Immanuel Kant den zusätzlichen Vornamen Max zu geben. O b hier,
wie Wolfram Hogebre vermutet hat, die alliterative Verbindung mit dem Kunsthistoriker Max Imdahl eine Rolle gespielt hat, m u ß ebenso dunkel bleiben wie die Erklärung eines weiteren aufmerksamen Lesers, daß hier eine Verwechselung mit einem Sportjournalisten der Repubblica vorliege, der unter diesem Pseudonym seine Prognosen vorlegte (über Suchmaschinen problemlos zu erschließen). 8
Galileos O , Akademie Verlag, Berlin, 2009.
Die Entstehung des Buches wurde ermöglicht durch Unterstützung aus den Mitteln des Max-Planck-Forschungspreises der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Max-Planck-Gesellschaft des Jahres 2006
Abb. 2
Galilei, Kalkulationen zu den Jupiter-
Monden, Feder auf Papier, ca. 1 6 1 0 / 1 1 , BNCF, Gal. 50, F. 61r
Abb. 3
Galilei, Berechnungen und Stadtansicht,
Feder auf Papier, ca. 1 6 1 0 / 1 1 , BNCF, Gal. 50, F. 61v
I EINLEITUNG: GALILEIS HAND 1. Die Stadtskizze Band 50 der in der Biblioteca Nazionale Centrale in Florenz bewahrten Galileiana enthält Berechnungen zu den Umlaufbahnen der Jupitermonde, die Galilei zwischen 1610 und 1613 angestellt hat. Die Kalkulationen sind mit einer kraftvollen, braunen Tinte eingetragen, die immer wieder durch die Seite schlägt und an Stellen besonders starker Einwirkung das Papier perforiert (Abb. 2). Knapp unterhalb der Mitte ist ein Klebestreifen angeheftet worden, um das von der Rückseite her durchschlagende Gebilde zu fixieren. Nach dem Umblättern überrascht eine Anlage, die mit derselben Feder und derselben Tinte wie die Zahlen und Diagramme gezeichnet wurde (Abb. 3). Sie zeigt eine von hohen Mauern umgebene Stadt, die mit einer höher gelegenen Burg durch einen Laufgang verbunden ist. Derartige Anlagen gehören zum Standard mittelgroßer italienischer Bergstädte, wie sie etwa Soriano in der Nähe Viterbos aufweist. Bei näherer Betrachtung wird jedoch augenfällig, daß die Darstellung der Stadt kaum als Vedute gemeint gewesen sein kann (Abb. 4). In ihrem Inneren zeigen sich Gebilde, die weniger an Häuser als vielmehr an flache, gegeneinander geschobene Riesenscheiben erinnern. Da weder Dächer noch Fenster oder Tore zu erkennen sind, bestehen sämtliche Elemente dieser Anlage aus flachen, vom Sonnenlicht hell beschienenen oder verschatteten Flächen. Zeitgenössische Anregungen, wie sie etwa Luca Cambiasos stereometrische Gebilde repräsentieren, die noch jedes Auge der Moderne verblüfft haben,1 werden auf Galilei ebenso gewirkt haben wie Entwürfe der Militärarchitektur. Wäre die Herkunft dieser Anlage nicht bekannt, könnte an frühe kubistische Architekturentwürfe gedacht werden. Die Federzeichnung hat zunächst nichts mit den sie umgebenden Zahlen, Rubriken und Diagrammen zur Berechnung der Jupitertrabanten zu tun, aber sie gehört doch in jenen Zusammenhang, in dem Galilei um 1610 im Rahmen der Beobach-
1
Torriti, 1966; Geometrie der Figur, 2007.
4
Abb. 4
I EINLEITUNG: GALILEIS HAND
Galilei, Stadtansicht, Feder auf Papier, Det. aus Abb. 3
tung der Mondoberfläche und der in der Sonne auftretenden Flecken unentwegt über die Effekte von Licht und Schatten und deren Wirkungen auf die Plastizität von Körpern nachdachte. So hat er auf einem weiteren Blatt der Jupiter-Kalkulationen mit derselben Feder einen gedehnten Krater des Mondes in drei Zeichnungen auf das Papier gebracht, die ebenfalls dem Problem gewidmet sind, wie sich aus Licht und Schatten die Höhenverhältnisse ergeben (Abb. 5).2 Das obere Gebilde zeigt den ovalen Krater aus einer schräg ansetzenden Vogelsicht, während das mittlere allein den rechten Rand in Großaufnahme wiedergibt. Darunter folgt schließlich der Blick auf den gesamten Krater aus einer flacheren Perspektive, die dessen längliche Form stärker zu einem Kreis zusammenfügt. Darin, daß er seine Tiefe durch den Kontrast von Hell und Dunkel konzentriert zu erkennen gibt, k o m m t er dem Prinzip der Stadtanlage besonders nahe. Während der Berechnungen der Jupitermonde sind Galileis Gedanken auf die raumbildenden Effekte von Licht und Schatten gesprungen. Seine stufenförmige Stadtanlage zeigt, wie durch deren Wechselspiel eine plastische Tiefe zu illusionieren
2
Galilei an J o h a n n G e o r g Brengger, 8 . 1 1 . 1 6 1 0 , in: Opere, B d . X , S. 4 7 1 .
2. DER EIGENWILLE DER ORIGINALE
Abb. 5
Galilei, Aufwerfungen der Mondoberfläche, Feder auf
Papier, 1611/12, BNCF, Gal. 50, F. 68r, Det. aus Abb. 189
war. Gegenüber den Rundungen des Kraters, für den Galilei Parallel-, Diagonal- und Kreuzlinien verwendete, hat er zur Charakterisierung dieser rechtwinkeligen Anlage Vertikal- oder Horizontalparallelen genutzt, die lediglich an der rechten Mauer der oberen Burg abknicken, um Strebepfeiler anzudeuten. In der Sicherheit, in der diese aus Licht und Schatten gebildete Stadtanlage stereometrisch konstruiert ist, begegnet dem Betrachter derselbe Galilei, der in diesem Moment die Kosmologie revolutionierte. Derartige Effekte bildeten den Auslöser für den folgenden Versuch.
2. Der Eigenwille der Originale Die vorliegende Arbeit hat Erwin Panofskys Galileo as a Critic of the Arts zur Voraussetzung.3 Mit der Frage, warum Johann Keplers planetarische Ellipsenbahnen von Galilei ausgeblendet wurden, hat sich Panofsky in seiner kleinen, aber profunden
3
Panofsky, 1954; ders., 1956, Galileo. Der jüngst erschienene Bd. III der Korrespondenz Panofs-
kys läßt erkennen, wie er die Erfahrungen der Hamburger Jahre nach seiner Emigration in Princeton, in der Nachbarschaft von Albert Einstein und Wolfgang Pauli, in dieser Arbeit fruchtbar zu machen verstand (ders., 2006, S.233, 242, 281; weitere Stellen über Reg.).
5
6
I EINLEITUNG: GALILEIS HAND
Schrift einem der Traumata der Wissenschaftsgeschichte gewidmet. Seine Erklärung, daß dieser Akt der Verdrängung durch Galileis ästhetische Prägungen ausgelöst wurde, ist seit ihrem Erscheinen im Jahre 1954 immer wieder diskutiert worden. 4 Erst kürzlich hat Massimo Bucciantini sie als Ausgangspunkt einer umfassenden Rekonstruktion des Verhältnisses von Galilei und Kepler genommen. 5 Das Folgende stellt ein ähnliches Unternehmen in die entgegengesetzte Richtung dar. Panofskys Idee soll nicht durch Ausweitung geprüft, sondern gleichsam unterlaufen werden: von der Ästhetik hinab in jene Sphäre der zeichnenden Verdichtung, in der jede Handbewegung über den Charakter ganzer Kosmologien zu entscheiden vermochte. Die Basis bietet ein vielfach unbekanntes Material. Wenn sich mit ihm neben einer Reihe von Grundannahmen auch das Bild von Galileis Methode wandelt, dann liegt dies an dem Eigenwillen seiner Zeichnungen und Stiche.6 Obwohl Galilei fraglos als der meistuntersuchte Naturforscher überhaupt gelten kann, wurden diese kaum als Produkte einer spezifisch gestaltenden Hand wahrgenommen. Damit aber blieb sein vielleicht wichtigstes Medium verborgen. 7 Bezeichnenderweise hat die ungeheuer verdienstvolle, von 1896 bis 1910 publizierte Nationalausgabe der Schriften Galileis die Zeichnungen bisweilen ausgelassen oder, den gegebenen technischen Möglichkeiten gemäß, in unzulänglicher Form präsentiert. 8 Zum methodischen Anspruch der vorliegenden Arbeit gehört daher, daß sämtliche reproduzierten Darstellungen Galileis und seines unmittelbaren Umfeldes von Originalaufnahmen stammen. Diese bieten zwar keinen Ersatz für die Autopsie, nähern sich aber einem authentischen Eindruck. Reziprok zum Fernrohr, mit dem Galilei den Himmel betrachtete, erfordert das Studium des Materials, durch das er die Phänomene festhielt, die analoge und digitale Lupe. In der Vergrößerung tut sich ein historisches Theater auf, das zu den großen Momenten des Einsatzes visueller Denkformen gezählt werden kann. In dieser Rekonstruktion von Galileis zeichnerischer Intelligenz liegt der Kern der vorliegenden Untersuchung.
4
Z u s t i m m e n d : Koyré, 1955 [Ubers.: 1988]. A u f die Kritik d u r c h Rosen, 1956, a n t w o r t e t e n Pa-
nofsky, 1956, M o r e in Galileo, sowie Drake, 1957. Vgl. Fehl, 1958; Lötz, 1958; Mazzi, 1985; Shea, 1985; Panofsky, 1 9 9 3 (Heinich). 5
Bucciantini, 2 0 0 7 , S . V I I I - X I I I .
6
So umfangreich sich diese S a m m l u n g darstellt, so k a n n sie d o c h n u r einen ersten Z u g a n g bie-
ten, der sich vor allem auf den Kreis der figurativen Darstellungen Galileis bezieht; eine U n t e r s u c h u n g von Galileis Z e i c h n u n g e n der G e o m e t r i e u n d i m Extremfall auch seiner algebraischen Eintragungen wäre ein eigenes T h e m a . Ansätze hierzu in: Büttner, Damerow, R e n n u n d Schemmel, 2 0 0 3 . 7
U m s o stärker sind die Pionierleistungen von Egerton, 1984; Tabarroni, 1984, u n d Hallyn, 1994,
S. 3 0 - 3 5 , hervorzuheben. 8
Erst in jüngerer Zeit ist die eigene u n d oftmals staunenswerte Dimension von bekritzelten M a n u -
skriptseiten in den Fokus getreten. Ein besonders spektakuläres Beispiel bietet Dupré, 2003, S. 3 8 5 - 3 8 8 , zu: B N C F , Gal. 50, F.64r.
2. DER EIGENWILLE DER ORIGINALE
Indem Galileis Gedankenskizzen einen Tiefenblick in seine Denkmotorik erlauben, bekräftigen sie eine Grunderkenntnis der Kunstgeschichte, daß sich das Wesen eines Individuums weniger in seinen kontrollierten Äußerungen als in seinen nebensächlich wirkenden und teils minutiös kleinen Produkten der gestaltenden Hand offenbart. Nach diesem mit dem Namen Giovanni Morelli verbundenen Erkenntnisprinzip hat Sigmund Freud die Psychoanalyse entworfen, die ihre Erkenntnis gleichfalls nicht aus bewußten Handlungen und Verlautbarungen, sondern „aus geringgeschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub" zu ziehen versucht.9 In besonderer Weise gilt dies für die graphische Handbewegung, die sich auf der Grenze zwischen persönlichen Ausdrucksformen und Besonderheiten bewegt, die überindividuell systematisierbar sind.10 Zeichnungen des Nebensächlichen oder Unkünstlerischen, des Flüchtigen und des Karikierenden sind spätestens seit Albrecht Dürers simulierten Kinder-Kritzeleien selbst zu einem Stil geworden, der sich zu den Kunststandards in einem unauflösbaren Oppositions- und Befruchtungsverhältnis bewegt." Auch die Zeichnungen Galileis leben in diesem Spannungsfeld. Sie bieten in einem Grenzbereich von Kunst- und Wissenschaftsgeschichte die Herausforderung, der persönlichen Möglichkeitsform des graphologischen Testens ebenso nachzugehen wie der Normsetzung.12 Daß die zeichnende Handbewegung einem höheren Anspruch auf Objektivität folgt als der kontemplativ bleibende Gedanke, gehört seit Leonardo da Vincis Malereitraktat zur Grundüberzeugung des paragone. Die Erforschung dieses „in den Händen" (nelle mani) ablaufenden Denkens bewegt die Kunstgeschichte seit dem sechzehnten Jahrhundert;13 so versucht die disegno-T\\toúz
zu verstehen, wie sich die Wechselwir-
kung von Geist und Körper in der Zeichnung auf die Ebene des Sichtbaren verlagert.1'1 Mit dem Begriff der „motorischen Intelligenz" ist ein Ansatz verbunden, der diese Überlegungen neurobiologisch einfangen, prüfen und auch fruchtbar machen könnte. Daß der Mensch Klavier zu spielen oder „mit dem Pinsel in der Hand die feinsten Gebilde zu Papier" zu bringen vermag, gilt in dieser Perspektive als Teil der Bestimmung dessen, was die menschliche Denkfähigkeit unverwechselbar macht.13 Im weiteren Sinn findet die handlungstheoretische Fundierung der Philosophie des
5
Freud, 1967, S . 2 0 7 . Vgl. hierzu Ginzburg, 1983, S.65ff.
10
Perrig, 1991, S. 1 5 - 3 4 .
11
Lavin, 2 0 0 7 , S. 8; grundlegend zu diesem Komplex ebda., S. 7 - 3 5 . Vgl. auch ders., 2 0 0 3 .
12
Kemp, 1979, S. 31.
13
Kruse, 2 0 0 3 , S. 9 4 - 9 6 und passim.
14
Grundlegend zur ¿fefgK»-Theorie: Kemp, 1974.
15
Neuweiler, 2007, S. 2 9 , 36. Bemerkenswert bleiben in diesem Zusammenhang auch die Uber-
legungen Arnold Gehlens zu Taktiiität und Motorik als Vorbedingungen menschlicher Sprachfähigkeit (Gehlen, 2004, S. 1 3 6 - 1 3 7 ) . Zu Neuweiler, György Ligeti und Gehlen: Meyer-Kalkus, 2 0 0 7 , S. 7 9 - 8 1 , 9 6 - 1 0 2 . Vgl. ähnliche Vorstöße aus musikwissenschaftlicher (Wagner, 2 0 0 5 , S. 1 5 - 1 9 und passim) und literaturwissenschaftlicher Perspektive (Grave, 2 0 0 6 ) .
8
I EINLEITUNG: GALILEIS HAND
Geistes, wie sie von John Dewey über Bruno Latour und Clifford Geertz bis zum jüngeren Konzept einer „praktischen Vernunft" reicht, in Galileis zeichnender Hand eine Verkörperung.16
3. Hobbes, Leibniz, Galilei Mit dem vorliegendem Buch endet der Versuch, über Galileo Galilei, Thomas Hobbes und Gottfried Wilhelm Leibniz die visuellen Denkformen der modernen Naturwissenschaft, Staatstheorie und Philosophie von deren Ursprüngen her zu erforschen.17 Da sich die Materialerschließung zu Galilei über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren hingezogen hat, steht der ihm gewidmete Beitrag nun am Ende. 18 Galilei, Hobbes und Leibniz waren persönlich miteinander verbunden. Im November 1635, zwei Jahre nach seiner Verurteilung, erhielt der in seiner Villa in Arcetri unter Hausarrest stehende Galilei Besuch von Hobbes, der ihm den Plan unterbreitete, mit dem Dialogo das Buch des Anstoßes ins Englische zu übersetzen.19 Fünfunddreißig Jahre später erreichte Hobbes ein Brief des jungen Leibniz, den er ausführlich beantwortete. 20 Die Gründe ihrer gegenseitigen Bekanntschaft lagen nicht im Bereich der hier verfolgten Fragen, aber dennoch erscheint ihre Verbindung auch in deren Licht als plausibel. Alle drei förderten die mathesis universalis, verneinten aber deren ikonoklastischen Zug. Im Bild erkannten sie einen fundamentalen Beitrag für die gestaltende Reflexion der Welt. Hobbes forcierte über die staatstheoretische Reflexion more geometrico eine Bindung an das Auge. Sie führte zu dem Kernsatz des Leviathan, daß alle Verträge nur Papier seien, wenn es „keine visuelle Macht" gäbe, die Vertragspartner in Schach zu halten. 21 Das Zusammenspiel von Auge und Geometrie in der Linie bot für Hobbes die Grundlage, das zeichnend Konstruierte zu beherrschen und Frieden zu ermöglichen.22 Da ihm die Bedeutung der konstruktiv sich bewegenden Hand markant vor Augen stand, war Hobbes stolz darauf, leidlich zeichnen zu können. 23 Vollends für Leibniz hatte die Mathematik als höchste Form der menschlichen Erkenntniskraft den Visus noch über sich, weil dieser an einer göttlichen Gesamtschau teilnehmen ließ.24
16
Zu Dewey: Geertz, 1992, S. 71; vgl. Latour, 1986, und allgemein Ferreo, 2006. Bredekamp, 1999; ders., 2003; ders., 2004. 18 Einige frühere Arbeiten wurden aufgenommen: Bredekamp, 1996, Galileo; ders., 1996, Skizzenblätter; ders., 2000, Hands; ders., 2005, Luchse; ders., 2006, Galilei; ders., 2007, Evidenz. 17
" Opere, Bd.XVI, S.355, Z.16-19. Gottfried Wilhelm Leibniz an Thomas Hobbes, 23.7.1670, in: Hobbes, 1994, Bd. I, Nr. 189, S.713; vgl. 1674 (?), in: ebda., Nr. 195, S.732Í 21 Hobbes, 1991, Leviathan, XVII, S. 117. 22 Bredekamp, 2002, und ders., 2003, S.l 19-121. 10
23 24
Hobbes, 1629, S.al'; vgl. Bredekamp, 1999, S. I41f. Bredekamp, 2004, S. 100-105.
3. HOBBES, LEIBNIZ, GALILEI
Auch aus diesem Grund war Leibniz als einer der bedeutendsten Theoriebildner der Mathematik zugleich ihr vielleicht wichtigster Bildgeber.25 Leibniz war die begriffliche Kraft des Zeichnens bewußt, und obwohl er über keine Begabung oder Schulung auf diesem Gebiet verfügte, zeichnete er unentwegt auch selbst.26 Angesichts dessen, in welcher Konsequenz Galilei, Hobbes und Leibniz das motorische Denken in Bildern favorisiert haben, war und ist die Verwunderung um so größer, in welch geringem Maß diese Seite in der immensen Forschung thematisiert wurde. Das Ausmaß dieser Hemmung läßt vermuten, daß der Grund in der Ausblendung, Geringschätzung oder gar Verachtung des Visuellen liegt, die tief in die begriffliche Struktur des Abendlandes eingedrungen ist. Immanuel Kants Doppelbestimmung, daß es keine Anschauung ohne Begriff, aber auch keinen Begriff ohne Anschauung geben könne, ist nach der zweiten Seite hin so oft zitiert wie beiseite geschoben worden. 27 Das tragische Beispiel bietet die Ästhetik, die, in der Folge von Leibniz' „Petites perceptions" eingeführt, um die Welt des Sinnlichen als unmittelbare Relevanz des Philosophischen zu beschreiben, ihrerseits zu einer Veranschaulichung von Begriffen entkernt wurde. 28 Die Unempfindlichkeit gegenüber dem Besonderen und dem Störenden betraf vor allem die Form, welche die Essenz und das unverwechselbar Eigene alles Gestalteten ausmacht, im philosophischen Diskurs aber so gut wie keinen Ort besitzt.29 Das Vorhaben, drei für die Moderne maßgebliche Personen in ihrem Verhältnis zum Formfeld des Visuellen zu rekonstruieren, ist daher auch aus dem Bewußtsein entstanden, daß die ungeheuren Leistungen der neueren Philosophie mit Verlusten gewaltigen Ausmaßes erkauft waren. Wenn die Kunstgeschichte die Form privilegiert, so ist sie die Erbin einer Tradition, die im siebzehnten Jahrhundert lebendig war, danach aber kaltgestellt wurde, um in Außerungsformen wie dem Tanz, dem Sport und allen Formen der Kunst zu überleben.30 In diesen Sphären wird die Reflexion der Form zum Gefäß einer „rückstürzenden" Metaphysik, die im Sichtbaren zur Transparenz ihrer selbst gelangt. Auf diesen Vorgang zielt die unerfüllbare Hoffnung der Versuche zu Hobbes, Leibniz und nun Galilei.31 25
Bredekamp, 2 0 0 4 , S. 8 7 - 1 0 0 .
26
Ebda., S. 1 2 9 - 1 4 9 .
27
Kant, 1968, Bd. I I I / l , S . 9 7 .
28
Hogrebe, 1992, S. 6 7 - 7 3 u n d passim.
29
Dieses Problem hat Baumgarten gesehen, o h n e es lösen zu k ö n n e n (Baumgarten, 1986, § 4 1 ,
S. 16f.). Freundl. Hinweis durch M i r j a m Schaub, die in der „Zufälligkeit" einen Sprengsatz bestimmt (Schaub, 2005, S. 5 4 4 - 5 4 5 ) . Dieses Problem betrifft auch weite Teile der Zeichentheorie. Vgl. die fundamentale Kritik durch Belting, 2005. 30
Vgl. zur Wissenschaftsgeschichte: Daston, 2 0 0 1 , S. 19f. u n d passim. Z u r W i e d e r k e h r des
Formbegriffs: Boehm, 1999; speziell z u m (Bild)Tanz: ebda., S. 2 4 8 - 2 5 0 ; vgl. die N e u b e s t i m m u n g von Krois, 2 0 0 6 . Z u m Tanz auch die u m s t ü r z e n d e Arbeit von C a t o n i , 2 0 0 5 . Z u m Sport: G u m b r e c h t , 2005. 31
Vgl. Hogrebe, 2 0 0 6 , S. 3 7 8 - 3 8 1 .
9
10
I EINLEITUNG: GALILEIS HAND
4. Der Sidereus Nuncius ML Einen besonderen Charakter hat das Buch darin, daß es erstmals jenes bislang unbekannte Exemplar des Sidereus Nuncius von 1610 veröffentlicht, in dem sich keine Stiche, sondern Zeichnungen des Mondes befinden (Abb. 6). Es ist im Besitz von Richard Lan und Seyla Martayan des New Yorker Antiquariates Martayan Lan (im folgenden: Sidereus Nuncius ML). Seine Provenienz kann über eine südamerikanische Privatsammlung bis in das neunzehnte Jahrhundert zurück verfolgt werden. Die Erstpublikation dieses vielleicht bedeutendsten Dokumentes, das seit Antonio Favaros Nationalausgabe der Schriften Galileis ans Licht gekommen ist, geschieht mit Erlaubnis der Besitzer. Beide haben die Untersuchung dieses Buches auch auf das Risiko hin, daß es sich nicht als original erweisen würde, in jeder Hinsicht gefördert, und Richard Lan hat sich an den Erörterungen immer wieder durch eigene Beobachtungen beteiligt. Im Februar 2006 hat er das Buch für eine Woche nach Berlin gegeben, um es im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin an der Stiftung Preußischer Kulturbesitz durch Spezialisten untersuchen zu lassen. Die Kooperation während dieser restauratorischen u n d materialkundlichen Untersuchungen durch Irene Brückle und Teresa Smith sowie H o l m Bevers und Heinrich Schulze Altcappenberg (Kupferstichkabinett), Sonja Krug und Stefan Simon (Rathgen-Forschungslabor), Oliver H a h n (Bundesanstalt für Materialforschung u n d -prüfung), der mit Mitarbeitern der Technischen Universität Berlin zusammenarbeitete (Birgit Kanngießer und Timo Wolff) sowie Ruth Tesmar (Humboldt-Universität) bedeutete einen besonders glücklichen M o m e n t während der gesamten Arbeit. Schließlich ist durch die Vermittlung von Stefan Simon und Teresa Smith (nun Harvard University) eine abschließende Untersuchung im Labor von Gene Hall an der Rutgers University von New Brunswick unternommen worden. Allen Beteiligten, die ein Vorbild für eine unbürokratisch effiziente Forschung abgegeben haben, gilt ein besonderer Dank. Die Ergebnisse der Untersuchungen, die das Alter des Buches u n d der verwendeten Materialien bestätigt haben und zudem eine Reihe von Detailfragen zu klären vermochten, sollen gesondert publiziert werden.
Abb. 6 Siderius Nuncius ML, 1 6 1 0
5. FORTGESETZTER DANK
5. Dank Während des Untersuchungszeitraumes haben so zahlreiche Personen ihren Rat und ihre Unterstützung gewährt, daß jede Aufzählung nur ein Torso sein kann. William S. Shea hat das gesamte Manuskript kritisch durchgesehen, was eine entscheidende Hilfe nicht nur in bezug auf Korrekturen, sondern auch auf Hinweise und Anregungen war. Jürgen Renn war einer der Auslöser für dieses Buch, und ohne die Generosität von David Freedberg wäre es um das Kapitel VII ärmer. Valeska von Rosen und Heiko Damm haben höchst wertvolle Hinweise hinsichtlich der Florentiner Reformmalerei um 1600 vermittelt, Dieter B. Hermann war ein wertvoller Ratgeber in Fragen der Astronomie, und Albert van Helden hat das Kapitel über die Sonnenflecken überprüft. In Einzelpunkten haben mich Tatjana Bartsch, Jan van Bevern, Mario Biagioli, Gottfried Boehm, Wolfger Bulst, Michele Camerata, Massimo Ceresa, Michail Chatzidakis, Sven Dupré, Ester Fasino, Ulrike Feist, Almut Goldhahn, Annette Hoffmann, Wolfram Hogrebe, Mario Infelise, Thomas Kirchner, Eberhard Knobloch, John Michael Krois, Wolfgang Lefèvre, Johanna Beate Lohff, Mara Maroske, Reinhart MeyerKalkus, Jürgen Mittelstraß, Alexander Perrig, Donato Pineider, Eileen Reeves, Miriam Schaub, Birgit Schneider, Jan Konrad Schröder, Ulrike Tarnow, Massimo Valleriani, Wilhelm Vossenkuhl, Nicholas Wade, Ingeborg Walter, Gabriele Werner, Gerhard Wolf und Roberto Zapperi unterstützt. Die Gewährung des Rudolf-Wittkower-Stipendiums der Bibliotheca Hertziana, Rom (2005) hat es mir erlaubt, die Arbeit in den römischen Archiven und Bibliotheken zu forcieren. In den Institutionen Roms und anderer Orte haben mir folgende Personen geholfen: Helmut Gier und Marianne Finkel (Staats- und Stadtbibliothek, Augsburg), Paola Pirolo und Isabella Trucci (Biblioteca Nazionale Centrale, Florenz), Marzia Faietti (Gabinetti Disegni e Stampe degli Uffizi, Florenz), Inga Larsson (Staatsund Universitätsbibliothek, Hamburg), Anke Vollersen (Sternwarte, Hamburg), Möns. Pier Francesco Fumagalli (Biblioteca Ambrosiana, Mailand), Enrica Schettini (Accademia dei Lincei, Rom) und Ambrogio M. Piazzoni (Vice Prefetto, Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom). Das Forschungsteam „Requiem" der Humboldt-Universität war eine wertvolle Hilfe hinsichtlich der römischen Verhältnisse des frühen Seicento, und schließlich hatte ich im gesamten Team der Abteilung „Das Technische Bild" des HelmholtzZentrums für Kuturtechnik eine essentielle Unterstützung, die über Einzelfragen hinausging. Vor allem aber haben Carmen Alonso Schmitt, Ulf Jensen, Julia Ann Schmidt und Marco Strobel (Humboldt-Universität, Berlin) so gewissenhaft wie unermüdlich in bezug auf den gesamten Text mitgearbeitet. Im besonderen hat Carmen Alonso Schmitt das Namensregister betreut; Ulf Jensen hat die Bibliographie organisiert, und Julia Ann Schmidt (Italienisch) sowie Marco Strobel (Latein) haben bei den Überset-
11
12
I EINLEITUNG: GALILEIS HAND
zungen mitgeholfen; wenn nicht anders vermerkt, sind diese in Kooperation zwischen den Genannten und mir entstanden. Die Besorgung der über siebenhundert Bildvorlagen konnte unter anderem aus den Mitteln des Aby Warburg-Preises der Stadt Hamburg (2005) bestritten werden. Barbara Herrenkind hat eine immense digitale photographische und organisatorische Arbeit geleistet; insbesondere hat sie die großartig plastischen Photographien des Siderius Nuncius ML vom Original aufgenommen (Kap. VII). Die Gestalt des Buches ist das Ergebnis mehrfacher Ansätze, Text und Bild so dicht als möglich zu verschränken. Die so inspirierte wie klare Form, die aus mehreren Versuchen, das Buch insgesamt zu gestalten, schließlich entstanden ist, hat Petra Florath entwickelt und durch die verschiedenen Fassungen sowie durch insgesamt acht verschiedene Umbrüche vorangetrieben. Seitens des Akademie-Verlages ist das Buch mit hohem Einsatz und fast bedenkenlosem Vertrauen durch Gerd Giesler und Sabine Cofalla betreut worden. Mit Petra Florath und Gerd Giesler erreicht eine langjährige, intensive Zusammenarbeit einen besonderen Stand. Das Buch hätte nicht ohne die Freiheit und die bibliographischen Hilfen, die mir der Status als Permanent Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin erlaubt, geschrieben werden können. Sein Abschluß wurde durch die Mittel des Max-Planck-Forschungspreises ermöglicht, der mir von der Max-Planck-Gesellschaft und der Humboldt-Stiftung im Sommer 2006 verliehen wurde. Allen genannten Personen und Institutionen sei herzlich gedankt. *
*
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Nach den Arbeiten zu Hobbes und Leibniz habe ich auch diesen Abschluß auf dem Rehmstackerdeich an der Westküste Schleswig-Holsteins verfaßt. Wie ich das Buch über Hobbes den Erbauern des um 1300 geschaffenen Deiches und die Schrift über Leibniz den Schafen gewidmet habe, die mich während meiner Grübeleien anblickten, so widme ich diesen Schluß dem unvergleichlichen Nachthimmel über Eiderstedt, in dem ich mit dem Fernrohr nachzuvollziehen versucht habe, was Galilei sah. H. B., April 2007
II GALILEI ALS „NEUER MICHELANGELO"
1. Die Verweigerung des Grabmals Als Galilei am 8. Januar 1642 starb, achtete seine Familie darauf, daß kein öffentliches Aufhebens gemacht würde. Sie fürchtete das Verbot, ihn in Santa Croce von Florenz, wo seine Vorfahren die letzte Ruhe gefunden hatten, zu bestatten. Vorsichtshalber wurde Galilei in einer kleinen Kapelle unter dem Glockenturm, die nur durch eine schmale Tür der Cappella del Noviziato zu erreichen war, beigesetzt.1 Trotz dieser Maßnahmen war der Brief, den der Florentiner Nuntius Giorgio Bolognetti an den Kardinalnepoten Francesco Barberini nach Rom richtete, alarmierend: „Es wird allgemein gesagt, daß der Großherzog ihm ein mächtiges Grabmal zu errichten wünsche, im Vergleich zu und direkt gegenüber dem von Michelangelo, und daß er beabsichtige, die Accademia della Crusca mit dem Entwurf des Modells und der Ausführung zu betrauen. Bei aller Rücksichtnahme habe ich es für angebracht gehalten, daß Eure Eminenz davon wisse."2 Das im Jahre 1574 enthüllte Grabmal Michelangelos war im Langhaus von Santa Croce unmittelbar hinter dem Eingang unter der Oberaufsicht Giorgio Vasaris errichtet worden (Abb. 7).3 Allein schon die Idee, Galilei posthum in eine Beziehung zu dem berühmtesten Künstler von Florenz treten zu lassen, mußte in Rom als Provokation verstanden werden. Papst Urban VIII. ließ über den Florentiner Gesandten Francesco Niccolini sowie über andere Personen ausrichten, daß es schwerlich angehen könne, Galilei ein öffentliches Grabmal zu errichten.4 Damit war der Plan eines großen Sepulkrums dahin, noch bevor er ausgesprochen wurde und verfolgt werden konnte. 1
Galluzzi, 1998, S. 418.
2
„Si dice comunemente che il Gran Duca voglia fargli un deposito sontuoso, in paragone e di-
rimpetto a quello di Michelangelo Buonarroti, e che sia per dar il pensiero del modello e del tumulo all'Academia della Crusca. Per ogni buon rispetto ho giudicato bene V.Em.za lo sappia" (Giorgio Bolognetti an Francesco Barberini, 1 2 . 1 . 1 6 4 2 , in: Opere, Bd. XVIII, S. 378, Z. 5 - 7 ; Galuzzi, 1998, S. 418). 3
Cecchi, 1993.
4
Galluzzi, 1998, S. 418f.
14
II GALILEI ALS „NEUER MICHELANGELO"
Abb. 7
Giorgio Vasari u.a., Grabmal
Michelangelo B u o n a r r o t i , 1574, Florenz, Santa Croce
Mit der Beziehung zwischen Galilei und Michelangelo war jedoch ein Motto angesprochen, das unwiderstehlich war, zumal es keineswegs aus dem Nichts kam. Die Auseinandersetzungen Galileis mit der Inquisition vorausahnend, hatte der Maler Lodovico Cigoli bereits im Jahre 1612 Galilei mit Michelangelo verglichen. Mit der Zerstörung der vitruvianischen Regeln habe Michelangelo in der Architektur vollzogen, was Galilei in der Naturwissenschaft erreicht habe; wenn daher diesem der Wind ins Gesicht stünde, so wiederhole sich nur, was auch jenem geschehen sei: „Und ich glaube, daß Euch dasselbe geschehen wird wie Michelangelo, als er begann, außerhalb jener Ordnung zu bauen, welche die anderen bis zu seiner Zeit befolgt hatten, woraufhin alle einhellig die Stirn hatten, zu behaupten, daß Michelangelo mit all seiner Willkür, fernab von Vitruv, die Architektur ruiniert hätte." 5 Nicht Michelangelo aber
5
„et m i credo a v e n g h a lo ¡stesso c o m e q u a n d o M i c e l a g n i o l o c o m i n c i ò a architetturare fuori
d e l ' o r d i n e degli altri fino ai suoi t e m p i , dove tutti u n i t a m e n t e , f a c e n d o testa, dicevano che M i c e l a g n i o lo avea rovinato la architettura con tante sue licenze fuori di V i t r u v i o " (Lodovico C i g o l i a n Galilei, 1 4 . 7 . 1 6 1 2 , in: Opere, Bd. XI, S. 3 6 1 , Ζ. 7 - 1 0 ) .
2 . DIE KONSTRUIERTE SEELENWANDERUNG
habe die Baukunst zum Niedergang gebracht, sondern jene, die über die Kunst des disegno nicht verfügt und haltlose Formen geschaffen hätten/' Cigolis Bestreben, den Erneuerer Galilei mit dem Normzerstörer Michelangelo auf eine Stufe zu stellen, wurde von Vincenzio Viviani, der als „letzter Schüler" Galileis zu seinem Nachlaßverwalter bestellt wurde, mit aller Kraft aufgenommen. 7 Nach vielen Versuchen, Galileis Andenken zu ehren, 8 bestimmte Viviani im Jahre 1688 in seinem Testament, das Grabmal Galileis unter Verwendung seines Besitzes auszuführen und ihn auch selbst in diesem Sepulkrum zu begraben.9 In seinen letzten Lebensjahren arbeitete er an der Ausarbeitung eines Modells, das nun genau für jene Position bestimmt war, die den Florentiner Nuntius Bolognetti unmittelbar nach dem Tod Galileis in Aufregung versetzt hatte. In Korrespondenz zu den Verkörperungen der Architektur, der Malerei und der Zeichnung, mit denen Michelangelos Grabmal ausgestattet worden war, sah Viviani vor, Galileis Grabmonument mit den drei Inkorporationen von Astronomie, Geometrie und Philosophie von der gegenüberliegenden Kapelle her antworten zu lassen.10
2. Die konstruierte Seelenwanderung Als seine Bemühungen nicht fruchteten, machte Viviani seinen Palast in der Via dell'Amore (heute Via S. Antonio) im Jahre 1692 zu einem Medium der Propaganda Galileis (Abb. 8). Auf der großflächigen Fassade ließ er durch den Historiker Giovanni Battista Nelli zwei riesige Tafeln anbringen, auf denen er die Lebenslinien der beiden Florentiner Heroen verknüpfte. Um den Verlust des göttlichen Michelangelo zu kompensieren, so verkündete sein Text der rechten Tafel, werde dieser „durch den erhabenen Erneuerer der Wissenschaften der Geometrie, Astronomie, Geographie, der Mechanik, der Theorie, den Vater, Fürsten und Führer der Naturphilosophie und fast göttlichen Erfinder, strahlend der Welt zurückgegeben: durch den zweiten, den großen Galileo, der [...] rechtmäßig in Pisa von dem überaus berühmten Vincenzo Michelangelo vom Geschlecht der Galilei, dem gelehrtesten Florentiner Verfasser von alter und neuerer Musiktheorie, und von dessen überaus ehrbaren Ehefrau Julia von
6
Lodovico Cigoli an Galilei, 14.7.1612, in: Opere, Bd. XI, S. 361, Z. 1 0 - 1 6 .
7
Boschiero, 2005, S. 84ff.
8
Neben anderen M a ß n a h m e n gab er bei dem Bildhauer Giovanni Battista Foggini das Modell
eines Grabmales in Auftrag (Büttner, 1976, auch zum Folgenden), wobei er sich mit dem Bestreben der Medici-Familie traf, den R u h m Galileis auf ihren eigenen Glanz u n d das Ansehen der Stadt Florenz abstrahlen zu lassen (Galluzzi, 1998, S. 424). Es kam jedoch nur zu einer Ausschmückung der Nebenkapelle, in der sich Galileis Gebeine befanden. Ab dem Spätsommer 1674 wurde sie mit einer Büste und einem Epitaph ausgestattet, auf dem die Verdienste Galileis vermerkt waren (ebda.). Vgl. auch Gregori, 1983, zu dem gesamten Vorgang. 9 111
Galluzzi, 1998, S. 425. Brief bereits von 1674: ebda.
II GALILEI ALS „NEUER MICHELANGELO"
Abb. 8
G i o v a n n i B a t t i s t a Nelli, Tafeln a n d e r F a s s a d e d e s Palazzo Viviani (Palazzo dei Cartelloni),
1 6 9 2 , Florenz, Via S. A n t o n i o 1 1 (Photo: M i c h a i l C h a t z i d a k i s , 2 0 0 7 )
A m m a n n a t i im Jahre 1564 nach Christi Geburt geboren wird, ebenso zur 21. und einer halben Stunde am Freitagabend des 18. Februar. Jedenfalls war es dasselbe Jahr und derselbe Tag in Rom. Zur 23. und einer halben Stunde freilich und gleichfalls am selben Abend war Buonarroti gestorben"." Die zunächst nur metaphorische Verbindung zwischen Michelangelo und Galilei war durch diesen Zusammenfall von Ableben und Geburt am 18. Februar 1564 zu einer seelenwanderischen Verknüpfung geworden. Vivianis gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Filippo Baldinucci erschlossene Datierung von Galileis Geburt war weniger manipulativ als später angenommen.' 2
" „prompta ac largiore m a n u D E O reficiente conspectior redderis Orbi sublimiorum scientiarum Geometriae, Astronomiae, Geographiae, Mechanices, Theoreticae. Et naturalis Philosophiae. Instauratore, Patre, Principe, Duce ac pene divino Inventore, altero hoc tuo patritio M A G N O GALILAEO his siquidem [falso hac in parte scribente q u o d a m encomiaste] legitime nascitur Pisis ex celeberrimo V i n centio Michaelis Angeli de Galilaeis nobili florentino. De vetere ac recentiori theorica musicae scriptori doctissimo et ex honestissima huius uxore Iulia de Ammannatis. Anno a Christi Nativit. C I D . I D . L X I V hora ibidem ab occasu XXI c u m semisse. Die veneris XIIX Febr. Qui q u i d e m ipsi annus ipsaque dies. Romae. Hora tarnen XXIII cum dimidio ac pariter ab occ. ipsi Bonarrotio lethalis fuit" (vgl. Favaro, 1879, S. 4 7 1 f.; zur Geschichte des Projektes: ebda., S. 465f.; Büttner, 1976, S. 112f.). 12
Favaro, 1882; Segre, 1989, S. 1 7 - 2 0 .
3. MICHELANGELO UND GALILEI, VEREINT
Bei seinen Nachforschungen war er sowohl auf den 18. wie 19. Februar als Tag von Galileis Geburt gestoßen, hatte aber schließlich über das Taufdatum Galileis vom 19. Februar 1564 geschlossen, daß dieser am Tag zuvor, dem Todestag Michelangelos, das Licht der Welt erblickt habe. 13 Die Verbindung Galileis mit Michelangelo vermochte die Schmach der Verurteilung von 1633, die wie ein Schatten auf Galileis Andenken lag, durch den Ruhm Michelangelos zu mildern. Zugleich aber konnte auch die Erinnerung an Michelangelo von diesem Schachzug profitieren. D e n n auf ihm lastete aus mediceischer Sicht das Übel, daß er von 1528 bis 1530 Florenz gegen die Medici verteidigt hatte' 4 und wenige Jahre, nachdem diese ihre Alleinherrschaft gefestigt hatten, nach Rom gegangen war, um bis an sein Lebensende niemals nach Florenz zurückzukehren. Durch ihre Seelenwanderung kompensierten aus Sicht der Medici beide ihre Defizite: während Michelangelo, der das Florenz des Prinzipates verlassen hatte, über Galilei zum Rückkehrer wurde, mutierte Galilei, der von den Medici protegiert worden war, über Michelangelo zum Vertreter des Glaubens. Das Florenz der Medici vermochte sich in den beiden Heroen der Kunst u n d der Wissenschaft komplementär zu feiern. 15 Dadurch, daß Nelli das Geburtsdatum Galileis bekräftigte, war die Seelenwanderung von Michelangelo zu Galilei konfirmiert. 16 Noch Kant sprach in seinen anthropologischen Entwürfen von der „Metempsychosis dreyer genies: Michelangelo, Galilaei und Newton". 1 7
3. Michelangelo und Galilei, vereint Im Klima des Kulturkampfes des achtzehnten Jahrhunderts, als sich eine Gruppe von Klerikern, die an der Modernisierung der Kirche interessiert waren, mit kirchenkritischen Intellektuellen sowie mit Großherzog Gian Gastone de'Medici verband, gelang die Assoziation von Galilei und Michelangelo schließlich auch in Santa Croce. Die Offiziellen Roms verlangten lediglich, alle kirchenfeindlichen T ö n e auf dem Epitaphtext u n d während der Reden zu vermeiden. Die Gebeine Galileis wurden am 12. März 1737 in einem Zeremoniell, das der Uberführung von Heiligen entlehnt war, in die Kapelle seines Grabmals transferiert, 18 13
In seiner Biographie gibt er noch den 19.2. an (Viviani, in: Opere, Bd. XIX, S. 599, Z. 19).
Erst Favaro hat beweisen können, daß Galilei jedoch bereits am 16. Februar geboren wurde (Favaro, 1992, Bd. II, S. 546-566). Zum gesamten Komplex: Segre, 1989, S. 221-223; ders., 1991, S. 116-122; ders., 1998, Galileo, S. 7 0 - 7 3 . u
Bredekamp, 2006, Zustand.
15
Galluzzi, 1998, S. 428f. Vgl. die gemeinsame Darstellung Michelangelos und Galileis in Vale-
rio Marucellis Fresko Michelangelo und Andrea Gritti in der Casa Buonarroti, Florenz, 1 6 1 6 - 1 6 1 8 (Vliegenthart, 1976, S.l 19-121). 16
Nelli, 1793, Bd. I, S. 2If.
17
Kant, 1923, S. 826.
18
Galluzzi, 1998, S. 439.
II GALILEI ALS „NEUER MICHELANGELO'
Abb. 9
Giovanni Battista Foeaini. Vincenzo Fnaeini und Girolamo Tinnisti Grahmal
fialilpk
1737
3. MICHELANGELO UND GALILEI, VEREINT
Abb. 10
Giovanni Lorenzo Bernini,
Grabmal Urbans Vili., 1 6 4 2 - 4 7 , Rom, St. Peter
wobei Tag und Uhrzeit dem Zeitpunkt folgten, zu dem auch Michelangelo in Santa Croce beigesetzt worden war.19 Drei Monate später, am 6. Juni, wurde das Grabmal Galileis in der ersten Kapelle des linken Seitenschiffes von Santa Croce als ein Triu m p h des Florentiner Staates über die Inquisition enthüllt (Abb. 9). 20 F ü n f u n d n e u n zig Jahre nach seinem Tod und einhundertvier Jahre, nachdem er von der Inquisition verurteilt worden war, wurde ihm ein M o n u m e n t gewidmet, das sich von dem melancholisch-trauervollen Gestus der Figuren des Michelangelo-Grabes durch einen kämpferischen Zug der Dargestellten abhob, wie er sich bereits in der von Giovanni Battista Foggini geschaffenen Büste Galileis zeigte. Seine Rechte hält ein Fernrohr, während die mit einem Zirkel bewehrte Linke auf einer Kugel ruht, die ein schweres Manuskript zwischen einen Bücherstapel drückt. Wenn auch in kleinerem Maßstab, so ähnelt die Anordnung von Michelangelos Sepulkrum dem Urbans VIII., bei dem sich über dem gewaltigen Sarkophag der Tod und darüber die Sitzstatue des imperatorenhaften Papstes erheben (Abb. 10), u m von
15
Galluzzi, 1998, S. 435f.
20
Ebda., S. 4 3 3 .
19
II GALILEI ALS „NEUER MICHELANGELO"
Abb. 1 1
Giovanni Lorenzo Bernini,
Barmherzigkeit, Grabmal Urbans VIII.,
Abb. 12
Vincenzo Foggini, Astronomie, Grabmal
Galileis, Marmor, 1737, Florenz, Santa Croce
Marmor, 1 6 4 2 - 4 7 , Rom, St.Peter
zwei weiblichen Assistenzfiguren begleitet zu werden. 2 ' Giovanni Lorenzo Berninis grandiose Komposition hatte eine typenbildende Wirkung, der auch das Grabmal Galileis folgte. Hierdurch entstand der Effekt, daß die Begleitpersonen eine verwandte Körpersprache aufführen. Berninis Barmherzigkeit lehnt sich in einer ähnlich gedrehten Haltung an die Volute des Sarkophages Urbans VIII. (Abb. 11), wie sich Vincenzo Fogginis Astronomie an der Volute von Galileis Sarkophag stützt (Abb. 12). U n d mit dem Kind der Barmherzigkeit des Papstes korrespondiert die Darstellung der Sonne, die jene Flecken präsentiert, denen Galilei im Jahre 1613 seine aufsehenerregende Publikation gewidmet hatte. In ihrer Haltung noch ähnlicher sind Berninis Gerechtigkeit (Abb. 13) und Girolamo Ticciatis Geometrie (Abb. 14), die sich beide mit dem rechten Ellenbogen auf einem Buch aufstützen, das jeweils auf dem Rund der Sarkophagvolute abzurutschen droht. Umso stärker sticht ins Auge, daß dem Schwert der päpstlichen Gerechtigkeit die Tafel als Zeichen der Geometrie gegenübersteht. O b Michelangelos Grabmal das Rückgrat geboten hat, um Galileis M o n u m e n t über den Gesamttypus und die weiblichen Begleitpersonen gegen Rom in Stellung zu 21
Behrmann, 2004.
4. GALILEI UND VASARI
Abb. 13
Giovanni Lorenzo Bernini, Gerechtig-
Abb. 14
Girolamo Ticciati, Geometrie,
keit, Grabmal Urbans Vili., Marmor, 1 6 4 2 - 4 7 ,
Grabmal Galileis, Marmor, 1737, Florenz,
Rom, St. Peter
Santa Croce
bringen, kann nicht mit Sicherheit entschieden werden. Wenn jedoch die Sonne Galileis auf die Barmherzigkeit am Grabmal Urbans VIII. reagierte, wie die Geometrie des Forschers auf die päpstliche Gerechtigkeit antwortete, so wird dies zumindest die Kundigen darin bekräftigt haben, daß Galileis Grabmal nach Jahrzehnten der Auseinandersetzung gegen Rom gerichtet war.22
4. Galilei und Vasari Die Verbindung zwischen Michelangelo und Galilei hat Viviani auch aus der Gemeinsamkeit ihrer Anlagen begründet. In diesem Punkt war er sich vermutlich noch sicherer als im Zusammenklang ihrer Lebensdaten. Ende April 1654 hat Viviani eine Biographie Galileis in Form eines Briefes an Prinz Leopold de'Medici vorgelegt, die, obwohl in manchen Punkten ungenau und unkritisch, bis heute die Grundlage der Beschäftigung mit Galilei geblieben ist.23 Das Vorbild aller biographischen Historiographie waren die Viten Giorgio Vasaris, und 22
Büttner, 1976, S. 110.
23
Ruospo, 2 0 0 6 .
21
II GALILEI ALS „NEUER MICHELANGELO"
daher zog auch Viviani Anregungen aus diesem Monument der Kunstgeschichte. Bezeichnenderweise ließ er sich insbesondere von der Lebensbeschreibung Giottos inspirieren. Von der Vita dieses ersten der „göttlichen" Maler übernahm Viviani die Topoi, daß sich die Begabung schon in der Kindheit als göttliche Bestimmung gezeigt habe, daß hiermit eine übernatürliche Fähigkeit einhergegangen sei und daß diese Qualitäten durch einen älteren, Großen, erkannt und geweckt worden seien. Dieser habe seine Erbschaft an den Jüngeren weitergegeben.24 Durch seine Anleihen bei Giottos Vita hat Viviani nicht nur zu erkennen gegeben, daß Galilei dem Rang des Begründers einer neuen Malerei gleichkam, sondern daß er selbst eine künstlerische Bestimmung gehabt habe. Zeit seines Lebens, so Viviani, habe Galilei bedauert, nicht Maler geworden zu sein: „Er betätigte sich mit großem Vergnügen und mit wunderbarem Erfolg in der Zeichenkunst, in der er ein so großes Genie und Talent hatte, daß er selbst den Freunden später zu sagen pflegte, daß, wenn er in jenem Alter die Macht gehabt hätte, sich den Beruf selbst zu wählen, er absolut die Malerei gewählt hätte."25 Galilei sei aber eine überragende Urteilskraft geblieben: „Und wahrhaftig wirkte die Neigung zur Zeichnung in ihm weiterhin so natürlich und ihm zugehörig, und erwarb er sich mit der Zeit einen so vortrefflichen Geschmack, daß die besten Künstler, darunter Cigoli, Bronzino, Passignano und Empoli und andere berühmte Maler seiner Zeit sein Urteil über Gemälde und Zeichnungen dem eigenen vorzogen."26 Indem Viviani die Genannten im selben Atemzug auch als Galileis „liebste Freunde" (amicissimi suoi) bezeichnete,27 verdeutlichte er dessen Nähe zur Crème der Florentiner Malerei.
24
Die erste Komponente äußert sich bei Vasari in der Bemerkung: „E quando fu all'età di dieci
anni pervenuto, mostrando in tutti gli atti ancora fanciulleschi una vivacità e prontezza d'ingegno straordinario [ . . . ] " (Vasari, 1906, Bd. I, S. 371). Viviani macht daraus in bezug auf Galilei: „Cominciò questi ne'prim'anni della sua fanciullezza a dar saggio della vivacità del suo ingegno" (Opere, Bd. XIX, S. 601, Ζ. 33f.). Das zweite Element, die übernatürliche analytische Kraft, durchzieht beide Biographien ubiquitär, und die dritte Komponente, die bei Giotto im Verhältnis zum Lehrer Cimabue angesprochen war (Vasari, 1906, Bd. I, S. 370f.), hat Viviani mit Verweis auf den Mathematiker Ostilio Ricci aufgenommen (Viviani, 1968, S. 604, Z. 137ff.; hierzu unten S. 33ff.). Vgl. zu diesem Komplex ausführlicher: Segre, 1989, S. 2 2 5 - 2 3 1 ; ders., 1991, S. 112f.; ders., 1998, Biografie, S. 72f. 25
„Trattenevasi ancora con gran diletto e con mirabil profitto nel disegnare; in che ebbe così gran
genio e talento, ch'egli medesimo poi dir soleva agl'amici, che se in quell'età fosse stato in poter suo l'eleggersi professione, averebbe assolutamente fatto elezione della pittura" (Viviani, 1968, S. 602, Z. 6 7 - 7 0 ) . 26
„Ed in vero fu di poi in lui così naturale e propria l'inclinazione al disegno, et acquistowi col
tempo tale esquisitezza di gusto, che ,1 guidizio ch'ei dava delle pitture e disegni veniva preferito a quello de' primi professori da' professori medesimi, come dal Cigoli, dal Bronzino, dal Passignano e dall'Empoli, e da altri famosi pittori de'suoi tempi" (ebda., Ζ. 7 0 - 7 4 ) . 27
Ebda., Ζ. 74f.
4. GALILEI UND VASARI
Mit Lodovico Cardi, der unter dem Künstlernamen Cigoli bekannt wurde, nennt Viviani jenen Florentiner Hofmaler, der Galilei im Jahre 1612 mit Michelangelo in Verbindung gebracht hatte. Baldinucci wird auch ihn mit Michelangelo vergleichen.28 Bronzino, mit bürgerlichem Namen Cristofano Allori, gehörte zur Florentiner Malerfamilie gleichen Namens, 29 mit Passignano ist Domenico Cresti gemeint, der die toskanische Zeichnungskunst mit dem venezianischen Kolorit verband und vornehmlich in Florenz und Rom tätig war,30 und mit Empoli war der kaum minder bekannte Maler Jacopo da Empoli angesprochen. 31 Galileis Verortung im Kreis bedeutender Maler hat Viviani zufolge ihren sachlichen Kern darin, daß dieser auf Grund seiner künstlerischen Veranlagung die höchste Urteilskraft in bezug auf „die szenische Komposition, die Positionierung der Figuren, die Perspektiven, das Kolorit und alle anderen Elemente, die zur Perfektion der Malerei zusammenkommen", besessen habe.32 Die Künstler, „die bei Galilei hinsichtlich einer so edlen Kunst einen so vollendeten Geschmack und eine so übernatürliche Gabe wie bei keinem anderen, auch nicht bei ausübenden Künstlern, erkannten, wußten nie einen vergleichbaren Maßstab wiederzufinden". 33 Mit dem Superlativ, daß Galilei in seinem Kunsturteil von einer „übernatürlichen Gabe" {grazia sopranaturale) gewesen sei, rückt er schließlich in den Rang jener weiblichen Verkörperungen der Architektur, Skulptur und Malerei, die auf einem der Titelblätter der Viten Vasaris als finale Richterinnen auftreten. 34 Auch hier zeigt sich die unterschwellige Verbindung Galileis mit Michelangelo. War dieser der divino der Kunst, so habe seine Wiedergeburt in Galilei zunächst die Seele der Kunst verpflanzt. Da dieser zweite Michelangelo Mathematiker geworden sei, habe er jedoch zumindest den Status des Richters in Kunstfragen bewahrt. Schließlich nennt Viviani die bereits zuvor angesprochene Beziehung Galileis zu seinem Künstlerfreund Cigoli, der insbesondere in Fragen der Perspektive auf niemanden so wie auf Galilei gehört habe: „Der höchst berühmte Cigoli, der von Galilei als der erste Maler seiner Zeit erachtet wurde, schrieb einen großen Teil dessen, was ihm gut gelungen war, den allerbesten Schriftstücken desselben Galilei zu, und insbe-
28
Baldinucci, 1 8 4 5 - 1 8 4 7 , Bd. 3, 1846, S. 277.
29
Saur, 1992, Bd. 2, S. 5 5 6 - 5 6 1 ; T h e Medici, 2 0 0 2 , S. 1 4 0 - 1 4 3 .
30
Saur, 1999, Bd. 22, S. 2 7 7 - 2 8 1 ; Del Bravo, 1999.
31
T h e Medici, 2 0 0 2 , S. 158f., m i t weiterer Literatur.
32
„i quali bene spesso lo richiedevano del parer suo nell' ordinazione dell'istorie, nella disposizio-
ne delle figure, nelle prospettive, nel colorito et in ogn'altra parte concorrente alla perfezione della pittura" (Viviani, 1968, S. 6 0 2 , Z . 7 5 - 7 7 ) . 33
„riconoscendo nel Galileo i n t o r n o a sì nobil arte un gusto così perfetto e grazia sopranaturale,
quale in alcun altro, benché professore, n o n seppero mai ritrovare a gran segno" (ebda., Ζ . 7 7 - 7 9 ) . 34
Warnke, 1977.
II GALILEI ALS „NEUER MICHELANGELO"
sondere rühmte er sich, sagen zu können, daß er [Galilei] ihm in der Perspektive der einzige Lehrer gewesen war." 35 In der Zusammenfassung seiner Vita betont Viviani nochmals, daß Galilei hinsichtlich aller drei Kunstgattungen sowie insbesondere in der Kunst der Zeichnung eine vollendete Urteilsfähigkeit besaß: „Über das Wohlgefallen hinaus, das er an der Malerei hatte, besaß er einen vollkommenen Geschmack für Werke der Skulptur und der Architektur u n d alle Künste, die der Zeichnung unterstellt sind." 36 Viviani wohnte in den letzten Lebensjahren des erblindeten Forschers in dessen Villa, und als dessen Assistent und Pfleger war er ihm so nahe wie kaum ein anderer Zeitgenosse. Es erscheint um so bezeichnender, daß er Galileis Biographie von Vasaris Künstlerviten inspirieren ließ. Als Künstler und Kunstverständiger rückte Galilei in jene Zone ein, die Vasari für die Unsterblichen reserviert hatte. Galileis Befähigung zur Zeichnung und seine lebenslange Praxis im Zeichnen, sein Sachverstand in allen praktischen Fragen der Kunst und der Perspektive, seine überragende Urteilskraft und seine Freundschaft mit Lodovico Cigoli machten Galilei zur Projektion einer seelenwandlerischen Wiedergeburt Michelangelos.
35
„ o n d e Ί famosissimo Cigoli, reputato dal Galileo il p r i m o pittore de' suoi tempi, attribuiva in
gran parte q u a n t o operava di b u o n o alli o t t i m i d o c u m e n t i del m e d e s i m o Galileo, e particolarmente pregiavasi di poter dire che nelle prospettive egli solo gli era stato il maestro" (Viviani, 1968, S. 6 0 2 , Z. 7 9 - 8 3 ) . 36
„Oltre al diletto ch'egli aveva nella pittura, ebbe ancora perfetto gusto nell'opera di scultura e
architettura et in t u t t e l'arti subalternate al disegno" (ebda., S. 6 2 7 , Ζ . 920fif.).
III KÜNSTLERISCHE EVIDENZ ALS KULTURKRITIK
1. Jugendskizzen Weder die praxis- noch theoriebezogenen Elemente von Vivianis Künstlerlob waren fiktiv. Eine kleine Gruppe zufällig überlieferter Zeichnungen, die sich wie die eingangs betrachtete Wehrstadt auf der Ebene von „Serviettenzeichnungen" bewegt,1 verdient in ihrer unprätentiösen Anlage ein erstes Interesse. Zu ihr gehören zwei Seiten aus Galileis frühen Manuskripten zu Aristoteles, die er während seines von 1580 bis 1585 dauernden Studiums in Pisa vermutlich im Jahre 1584 gefertigt hat. 2 Eingeschrieben in die Fakultät der Künste, in deren Rahmen auch Medizin unterrichtet wurde, mußte Galilei verschiedene Kurse über die Autoritäten von Aristoteles bis Avicenna absolvieren;3 aus diesem Zusammenhang entstand vermutlich sein Text De caelo, der die beiden Zeichnungsseiten enthält. Er besteht aus zwei von Folio 1-55 und Folio 56-101 reichenden Konvoluten. Vorder- und Rückseite der zweiten Blattlage, die als Schutzeinband des zweiten Teiles der umfangreichen Schrift verwendet wurde, sind mit Zahlen, geometrischen Formen, Buchstaben, Worten und Figuren bedeckt, die keine Beziehung zum Text des Manuskriptes aufweisen.4 Das Blatt der Vorderseite bietet einen entsprechend konfusen Eindruck (Abb. 15). Die unterste Schicht besteht aus stark verblaßten Zeichnungen vorwiegend geometrischer Formen, die in ihrem unbeholfenen Stil wie von Kinderhand wirken. Darüber liegen Zahlenkolonnen, Buchstabenreihen, links von der Mitte der Kopf eines Esels
1
Dinner for Architects, 2003.
2
BNCF, Gal. 46, F. 1 - 1 0 2 (Opere, Bd. I, S. 1 5 - 1 7 7 ; vgl. die engl. Übers, in: Wallace, 1977).
Wallace' Datierung auf die Zeit u m 1590 (ebda., S. 22; vgl. ders., 1984, S. 90) ist von Camerata, 2004, Galileo Galilei, S. 41, auf das Jahr 1584 korrigiert worden. 3
Ebda., S. 39.
4
Auch die Rückseite der ersten Lage, F. 55v, enthält einen Schriftzug und Zeichnungen offenbar
einer mit zwei unterschiedlichen Gewichten arbeitenden Uhr. Die Schrift stammt jedoch nicht von Galilei, und die Zeichnungen sind von einer pedantischen Härte, die sich von den Eintragungen Galileis unterscheidet. Aus diesem G r u n d wurde sie ausgeschlossen.
26
III K Ü N S T L E R I S C H E E V I D E N Z A L S KULTURKRITIK
Abb. 1 5
Galilei, Skizzenblatt, Feder und Rötel a u f Papier, u m 1 5 8 4 , BNCF, Gal. 4 6 , F. 5 6 r
1. JUGENDSKIZZEN
Abb. 16
Galilei, Buchstabenübungen, Feder
auf Papier, Det. aus Abb. 15
Abb. 17
Galilei, Frauenkopf, Feder auf Papier,
Det. aus Abb. 15
sowie der eines bärtigen Mannes und schließlich, in der oberen Blatthälfte, eine rücklings gezeigte, sitzende oder hockende Frau. In seiner vielschichtigen Besiedelung ist das Blatt kein Einzelfall. Das Papier war relativ preiswert, aber es wurde dennoch in der Regel vielfach verwendet.' Daran, daß die Zahlenreihen und Buchstaben (Abb. 16) von Galilei stammen, besteht kein Zweifel, weil unter seinen Manuskripten Unmengen von Einträgen dieser Art überliefert sind. Ihnen entsprechen die Farbe, Konsistenz und Stärke des Tintenstrichs sowie die Kurvenschwünge der figürlichen Formen. Material und Stil verweisen auf dieselbe H a n d (Abb. 17). Die in der oberen Blatthälfte rücklings gezeigte Frau hat teils hochgesteckte, teils auf die Schultern fallende Locken. Der wie angestückt wirkende, in seiner Größe nicht zur Figur passende linke Arm erscheint als surreales Element eines Kompositums, und die fahrig skizzierte H a n d ist mit einem mäandrierenden, am Ende in einer geraden Linie auslaufenden Strich getilgt. Uber der linken Schulter trägt die Frau ein Gewand, das auch ihre Oberschenkel bedeckt. Die Beine sind nach rechts gewendet und angezogen, so daß sich der rechte, kräftiger gezeichnete Arm nach hinten den Füßen zu nähern vermag. Ein unmittelbares Vorbild ist nicht auszumachen, aber eine zumindest atmosphärische Beziehung wird an jenen Figuren deutlich, die Bartolomeo Ammannati
5
K e m p , 1979, S. 57ff.; vgl. Westfehling, 1993, S. l O l f f . D e r Zufall will es, d a ß ein frühes Zeug-
nis aus der H a n d Michelangelos eine ähnliche N u t z u n g des Blattes bezeugt (Florenz, Archivio Buonarroti, II/III F. 3'; vgl. Dussler, 1959, S. 56, N r . 27, Abb. 35, u n d Perrig, 1991, S. 68ff.). In seiner M i s c h u n g aus Schreib- u n d Z e i c h e n ü b u n g e n zeigt das Blatt Michelangelos eine ähnliche Struktur wie Galileis Seite aus d e m Aristoteles-Traktat (Bredekamp, 1996, Skizzenblätter).
III KÜNSTLERISCHE EVIDENZ ALS KULTURKRITIK
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Abb. 18
P R A T O L I N O
Giovanni Guerra, Brunnen Ammannatis, Feder und Pinsel auf Papier, um 1 5 9 8 , Wien,
Albertina, Nr. 3 7 2 0 5
1. JUGENDSKIZZEN
für den Elementebrunnen des Palazzo Vecchio von Florenz geschaffen hatte und die sich in den achtziger Jahren im Garten der Villa Pratolino befanden. Giovanni Guerras vermutlich um 1598 aus dem Gedächtnis arrangierte Rekonstruktion des Figurenensembles ermöglicht einen Vergleich im selben Medium der Zeichnung (Abb. 18).6 Die rechts in der Mitte des Bogens sich zurückbeugende Fiorenza kommt Kopf und Schulter von Galileis Frauengestalt (Abb. 17) nahe, und die rechts unten lagernde Hippokrene zeigt eine ähnliche Sitzhaltung. Beide Gestalten verdeutlichen das Formklima, in dem sich Galilei bewegte. Auch die Rückseite von Galileis Aristoteles-Manuskript bietet eine verwandte Mischung aus Zahlen, Buchstaben, Worten und Figuren (Abb. 19). In der oberen Bildhälfte zieht ein quer zum Hochformat gezeichneter Mann eine nur angedeutete Gestalt zu sich herauf. Die leicht betonten Brüste deuten an, daß eine Frau gemeint sein könnte. Als Szene käme die Errettung Andromedas durch Perseus oder auch eine Rettungsaktion während der Sintflut in Frage.7 In der vertikalen Ausrichtung erscheint dann neben der Schreibübung des „In" die Silhouette eines Eselskopfes, in die ein „non" geschrieben ist. Nach rechts wächst eine riesige, Zeigefinger und Daumen weit spreizende, unbeholfene Hand. Links darunter zeichnet sich der feminine Unterkörper einer Gestalt ab, und am unteren Blattrand tritt eine Nymphe auf. Bei diesen Figuren handelt es sich um unambitionierte, beiläufig eingetragene Skizzen. Die Striche, mit denen Galilei versucht hat, die Umrißlinie der Nymphe zu treffen, wirken eher wie ein Federkleid denn eine Andeutung von Haut, aber die wilde Strichführung hat auch etwas Bestrickendes. Hier zeigt sich eine zügige Hand, die ihre Schwäche mit Selbstvertrauen kompensiert. Der frei gezogene, sich an den Rundungen aber immer wieder selbst korrigierende Strich der geometrischen Zeichnungen, wie sie zum Beispiel eine berühmte Seite der Abhandlung über die Sonnenflecken später zeigen wird (Abb. 20), paßt zu diesem Gestus.8 Das Haupt der Nymphe (Abb. 21) verrät zudem einige Übung. Die sicher gezogene, eiförmige Konturlinie des Kopfes, die kurvigen Locken, der kleine Mund, die nur angedeutete Nase und die aufgestellten, den Augen einen kecken Zug vermittelnden Brauen erinnern an Luca Cambiasos Köpfe. Auch diese weisen immer wieder die nach oben gekehrten Augenbrauen auf (Abb. 22). 9 Der Körper des Mannes und insbesondere seine Beine wirken zwar miserabel, aber um so gekonnter erscheint erneut der zügig variierte Kopf (Abb. 23), der ebenfalls an Zeichnungen Cambiasos erinnert.
6
Heikamp, 1978, S. 146f.
7
Eine spätere Sintflut-Zeichnung von Abraham Bloemart zeigt ein solches Motiv (Visions du
déluge, 2006, S. 66). 8
Opere, Bd. V, S. 205.
9
Torrid, 1966,Tav.XI.
III KÜNSTLERISCHE EVIDENZ ALS KULTURKRITIK
Abb. 19 F. 1 0 l v
Galilei, F i g u r e n s k i z z e n u n d B e r e c h n u n g e n , Feder a u f Papier, u m 1 5 8 4 , BNCF, Gai. 4 6 ,
1. JUGENDSKIZZEN
Abb. 20 Galilei, Geometrische Zeichnung, Brief an Marcus Welser, Feder auf Papier, 1.12.1612, BNCF, Gal. 57, F. 35
Abb. 21 Galilei, Nymphenkopf, Det. aus Abb. 19
Abb. 22 Luca Cambiaso, Kopf der Proserpina, Feder mit Bister auf Papier, ca. 1560, New York, Sammlung Suida Manning
Abb. 23 Galilei, Männlicher Kopf, Det. aus Abb. 19
K ö r p e r u n d H a l t u n g d e r N y m p h e bieten eine K r e u z u n g zweier b e r ü h m t e r Ven u s s t a t u e n . M i t der die S c h a m b e d e c k e n d e n R e c h t e n u n d d e r leicht a n g e w i n k e l t e n L i n k e n e n t s p r i c h t sie der Venus Felix des r ö m i s c h e n Belvederehofes (Abb. 24), 1 0 u n d m i t i h r e m leicht v o r g e b e u g t e n , n a c k t e n K ö r p e r e r i n n e r t sie an die mediceische Venus d e r U f f i z i e n - T r i b u n a v o n Florenz (Abb. 2 5 ) . " Sofern diese beiläufigen, teils m i ß r a t e n e n u n d teils g e k o n n t e n Z e i c h n u n g e n ein Urteil zulassen, verraten sie in all ihren
111
Haskell u n d Penny, 1981, S. 3 2 4 .
11
Ebda., S . 3 2 5 f f .
III KÜNSTLERISCHE EVIDENZ ALS KULTURKRITIK
Abb. 24
Venus Felix, Römische Statue, Marmor,
2. Jh. n. Chr., Rom, Vatikanische Museen, Cortile del Belvedere
Abb. 2 5
Venus Medici, Griechische
Kopie der Bronzeskulptur nach Praxiteles, Marmor, 1. Jh. v. Chr., Florenz, Uffizien, Tribuna
2. RICCIS WEICHENSTELLUNG
Bezügen die Vertrautheit mit dem künstlerischen Anspruchsniveau der Zeit. W i e ein Leitmotiv lassen sie bereits zu diesem frühen Zeitpunkt erkennen, daß manche Züge mißrieten, immer wieder aber Elemente eines beeindruckenden Könnens aufblitzen.
2. Riccis Weichenstellung Der Zugang zu Ricci Galileis Affinität zur Kunst war es Viviani zufolge, die ihn über die Geometrie zur Mathematik führte. Der Biograph hat lebhaft beschrieben, wie der Vater, der für seinen Sohn das Medizinstudium im Auge hatte, angesichts von dessen künstlerischen Interessen versuchte, ihn wenigstens für den Erwerb von Grundkenntnissen der Mathematik zu erwärmen. Als Galilei nicht einsehen wollte, was für einen Sinn es bedeuten solle, sich mit Dreieck und Zirkel zu beschäftigen, habe ihn sein Vater mit dem Argument eingefangen, daß die Geometrie die Grundlage sowohl der Musik wie auch der bildenden Kunst darstelle. 12 Viviani berichtet weiter, daß der einmal auf die Fährte der Geometrie gesetzte Galilei im Winter 1582/83 die Mathematik-Vorlesungen besuchte, die den Bediensteten des mediceischen Hofes geboten wurden. 13 Diese oblagen Ostilio Ricci, der im Jahre 1540 in Fermo geboren war. Vermutlich durch Niccolò Tartaglia in Mathematik unterrichtet, war Ricci im Jahre 1580 in den mediceischen Dienst getreten, wo er ab 1587 als „Mathematiker" oder „Meister der Mathematik" galt. 14 In ihm identifizierte Viviani jene Person, die nach dem Muster von Giottos Lehrer Cimabue das spezielle Talent des Schülers erkannt und damit die entscheidende Weichenstellung gegeben habe. Viviani war auf Ricci über Niccolò Gherardinis Biographie Galileis gestoßen, die er als Materialsammlung für die von ihm selbst zu schreibende Vita hatte anfertigen lassen. Der Jurist Gherardini hatte, was er beschrieb, teils noch selbst erlebt. Um so authentischer wirkt sein Hinweis auf den maßgeblichen Lehrer Galileis: „Ich glaube, daß er sich mit Nachnamen de Ricci nannte und daß er der Nation der Marken abstammte." 15 Trotz seiner Erinnerungslücken beschrieb Gherardini lebhaft, wie Galilei, ohne dazu autorisiert gewesen zu sein, die Vorlesung Riccis besuchte, wie dieser das Talent Galileis erkannte und wie er den Vater Galileis gegen dessen Bedenken schließlich davon überzeugte, daß Galilei Mathematik anstelle von Medizin studieren solle. 16 12
Viviani, 1968, S. 603, Z. 129 - S. 604, Z. 134.
Diese hielten sich gewöhnlich zwischen Weihnachten und Ostern in Pisa auf (Guidone, 2001, S. 64; Drake, 1978, S. 2f.). 13
14
„Maestro di Matematica" (Settle, 1971, S. 122; Guidone, 2001, S. 62).
„Credo che si cognimonasse de'Ricci e fosse di nazzione marchigiano" (Gherardini, 1968, S. 636, Z. 73). 15
16
Ebda., S. 636f.
III KÜNSTLERISCHE EVIDENZ ALS KULTURKRITIK
Viviani har diesen Bericht, demzufolge Ricci die entscheidende Weichenstellung für Galilei gegeben habe, übernommen u n d ausgebaut.' 7
Die Accademia del Disegno D a ß Galilei tatsächlich durch Ricci unterrichtet wurde, geht aus einem Gutachten des Jahres 1587 hervor. Anläßlich seines Versuches, eine Anstellung als Lektor an der Universität von Bologna zu finden, hieß es in einer Bewertung, daß er „Schüler von Ostilio Ricci" sei.18 Als institutionellen Rahmen, innerhalb dessen Ricci seine Vorlesungen und seinen Privatunterricht bot, nennt Viviani mit dem studio einen Ort, der für die Zusammenkunft von Professoren und Studenten reserviert war. 19 Konkret verweist er auf die Kunstakademie, weil zu dieser Zeit nur diese Institution die Unterrichtung in Mathematik anbot. Die Künstler hatten nicht aufgehört, sich auf G r u n d ihrer Interessen in Optik und Perspektive mit Geometrie und Algebra zu beschäftigen u n d damit das Ansehen der gering geschätzten Mathematik hochzuhalten. Zudem waren Euklid und Mathematik bereits im Gründungsstatut der Accademia del Disegno in das Curriculum aufgenommen worden, um die Architekten in diese neue Institution zu integrieren, 20 u n d seit 1569 hatte Giovan Antonio Bolognese die reguläre Lehre in Mathematik begründet. 2 ' Als dessen Nachfolger hielt Ricci seinen Unterricht nicht an der Universität, sondern an der Kunstakademie. 22 Diese im Jahre 1563 gegründete Institution hatte den Programmnamen „Akademie der Zeichnung" erhalten, weil sie mit dem disegno als der „Zeichnung", die mit der „Idee" in einem Doppelsinn verbunden war, den Superioritätsanspruch der Künstler über alle anderen Fertigkeiten verband. Während alle anderen Gattungen in Konkurrenz zueinander standen, so lautete die Lehrmeinung, vermochte die Zeichnung diese sämtlich zu verbinden und zu führen. 2 3 Von Vasari mit Leidenschaft und Eigeninteresse vertreten, 24 wurde diese Theorie der Zeichnung zu einem Leitmotiv der künstlerischen Selbstnobilitierung, wie sie etwa auch der Bildhauer Benvenuto Cellini unterstützt hat. Sein Entwurf für ein Amtssiegel dieser Kunstakademie (Abb. 26) zeigt die vielbrüstige ephesische Diana mit den Trompeten des Ruhms sowie mit der
17
Viviani, 1968, S. 604. „M. Galileo Galilei [...] è allievo di Ostilio Ricci" (zit. nach Guidone, 2001, S. 62).
" Viviani, 1968, S. 604, Z. 139. Z u m Begriff: Dempsey, 1980, S. 554f. 20
Burioni, 2004, S. 394.
21
Jack, 1976, S. 18.
22
Zangheri, 2000, S. 272f. Z u m Mathematikunterricht mit Verweis auf die Klage Egnazio Dan-
tis, daß Mathematik nur mehr von Praktikern und Künstlern geübt werde: Olschki, 1965, Bd. 2, S. 189. Vgl. auch Settie, 1990, S. 36. 23
Wazbinski, 1987; vgl. Barzman, 2000, und Burioni, 2004.
24
Kemp, 1974, S. 226.
2. RICCIS WEICHENSTELLUNG
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Leonardo da Vinci, Skizzenblatt, 1 5 0 5 / 0 8 , BAM, Codex Atlanticus, F. 310r, obere Hälfte
Lauf über den Himmel nicht etwa die verschiedenen Regionen der Erde, sondern ein immergleiches Antlitz zeigt, schloß Leonardo aus, daß er ein Reflektor irdischer Gegebenheiten sei; vielmehr sei er von sich aus von ähnlicher Beschaffenheit wie die Erde." In einem optischen Studien gewidmeten Skizzenblatt des Codex Atlanticus hat Leonardo links zwei kleine Mondzeichnungen eingetragen, von denen die linke den Vollmond und die rechte einen Halbmond zeigt (Abb. 69).' 2 Die Konsistenz der betonten Strichführung verdeutlicht, daß Leonardo die dunklen Gebilde mit einer dichten Materialität versieht, die, wie er im Codex Arundel ebenso wie im Codex Leicester ausführt, Festland und Inseln in den Wassermassen des Mondes repräsentieren, deren unzählige Wogen, weil sie permanent aufgewühlt werden, das Licht besonders gut reflektieren.13 Leonardos Gewißheit, daß der Mond eine erdgleiche Materalität aufweise, wird auch mit Blick auf die weitaus größere, 18,5 Zentimeter Durchmesser aufweisende Mondzeichnung des Codex Atlanticus deutlich (Abb. 70). Ohne daß eine Erläuterung notwendig würde, zeigt die Art der Eintragung, daß Leonardo im Sinne von Plutarch
11
Richter, 1970, Bd. II, Nr. 902, S. 130. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Dupré, 2003, S. 375ff.
12
Kemp, 1981, S.323-325; Reaves undPedretti, 1987.
13
Leonardo, 1980, S.56, 57 (Codex Leicester, F. 7r); Kemp, 1981, S.324-325; Dupré, 2003,
S.376f.
86
Abb. 7 0
IV DER MOND UM 1 6 0 0
Leonardo da Vinci, Rechte Hälfte des Mondes,
Abb. 7 1
Leonardo da Vinci, Mond, Feder auf
Feder auf Papier, 1 5 1 3 / 1 4 , BAM, Codex Atlanticus,
Papier, 1 5 0 6 / 0 8 , Privatbesitz, Codex Leicester,
F. 6 4 7 v
F. 2r
hier keineswegs den Stoff des Äthers, sondern irdische Elemente erkannte. Die Flecken erwecken den Eindruck, daß mit ihnen feste Körper aus einer helleren Oberfläche auftauchen. Eine aus dem Codex Leicester stammende dritte Zeichnung des Mondes (Abb. 71 ) verdeutlicht schließlich nach der Bekräftigung von Plutarchs Mondtheorie Leonardos dritte Schlußfolgerung, daß auf der Oberfläche des Mondes neben der Sonne eine zweite Lichtquelle zu erkennen sei. Das Verblüffende dieser Zeichnung des wachsenden Mondes liegt in der Differenzierung der Schattenzone. Nach der tiefdunkel markierten Trennlinie von Licht und Schatten nimmt die Schwärze in der Nachtfläche ab, um sich schließlich, wie Leonardo dies auch schriftlich beschrieben hat, am hinteren Kreis bis zur Stärke der beleuchteten Sichel wieder aufzuhellen: „Einige haben gedacht, daß der Mond aus sich selbst heraus leuchte, aber diese Meinung ist falsch, denn sie gründet auf dem Licht, das man zwischen den Hörnern des Neumondes sieht, der an den Grenzen der Helligkeit dunkel, am Ubergang zur Dunkelheit des Hintergrundes aber so hell erscheint, daß viele dies für einen neuen Strahlenkranz halten, der den Kreis dort schließe, wo die Spitzen der Hörner, die von der Sonne beleuchtet werden, nicht mehr scheinen [...]. Falls Du sehen willst, um wieviel heller der verschattete Teil des Mondes ist als der Hintergrund, vor dem er zu sehen ist,
2. CIGOLIS
KREUZABNAHME
bedecke den beleuchteten Teil des Mondes mit der Hand oder mit einem anderen, weiter entfernten Objekt." 14 Leonardo erkennt hier das aschgraue „zweite Licht" des lumen cinereum als Reflex der von der Sonne beschienenen Erde. Der Mond war damit zweifach von der Sonne erleuchtet: einmal grell, durch den direkten Lichtbefall, und ein zweites Mal indirekt, über die „Bande" der Erde. Leonardo repräsentiert einen Erkenntnisstand, wie ihn vor der Erfindung des Teleskops allein noch William Gilbert, der Hofarzt von Königin Elisabeth I., erreicht hat. 15 Die Kenntnis von Leonardos Theorie des Mondes ist Galilei mit hoher Wahrscheinlichkeit durch seinen Künstlerfreund Cigoli sowie durch Pinelli, aus dessen Besitz Galileis Texte zur Militärarchitektur stammten, anhand seiner Notizbücher und der Schrift zur Malerei, die unter den Künstlern und Forschern zirkulierten, nahe gebracht worden. 16 Ein starkes Indiz, daß Galilei sich tatsächlich mit Leonardo auseinandergesetzt hat, bietet seine Theorie der Spiegelung glatter Flächen. Im Jahre 1606 hatte Galilei die Uberzeugung vertreten, daß Erhebungen weniger stark spiegelten als glatte Flächen. Im folgenden Jahr aber schwenkte er auf die gegenteilige Überzeugung ein, daß die hellen Flecken auf der Mondoberfläche durch Meereswellen erzeugt würden, die das Sonnenlicht stärker reflektierten als vollständig plane Ebenen. Offenkundig wurde er zu dieser Kehrtwende durch Leonardos Argumentation inspiriert.17
2. Cigolis Kreuzabnahme Briefe aus dieser Zeit sind nicht überliefert, aber Cigolis im Jahre 1608 vollendete Kreuzabnahme des Palazzo Pitti von Florenz (Abb. 72), die zu seinen großartigsten Werken überhaupt gehört, bietet Anzeichen eines Dialoges. Die kraftvolle Farbigkeit der Stoffe erzeugt einen ähnlichen Eindruck von Ambigui tät wie das Gemälde des heiligen Laurentius zuvor (Abb. 36). Auf den ersten Blick
14
„Alcuni àn creduto che la luna abbia alquanto di lume da sé, la quale openione è falsa, perchè
l'ànno fondata sopra quel chiarore che si uede in mezzo a li corni quando la luna è nova, la quale alli confini dello splendore pare oscura, e al confine della oscurità del campo pare si chiara, che molti credono essere vn cerchio di nouo splendore, che finisca di circundare, doue le punte de' corni alluminat dal sole terminano il loro splendore [...]. Se uoi vedere quanto la parte onbrosa della luna sia più chiara che Ί canpo, ove tal luna si truova, occupa col la mano, o con altro obietto più distate occu pi all'ochio la parte luminosa della luna" (Richter, 1970, Bd. II, Nr. 902, S. 131f.; Olson und Pasachoff, 2001, S.318£). 15
U m 1600 hat er die dunklen Flecken in einer gegenüber der großformatigen Zeichnung Leo-
nardos vergleichbaren Weise studiert, auf ein Blatt Papier gebracht und mit Umrißlinien festgehalten, als handele es sich u m eine Landkarte des Trabanten, bei dem sich Kontinente aus dem Wasser heben. Auch dies suggerierte keinesfalls eine ätherische Beschaffenheit, sondern eine eigene, materielle Substanz des Mondes (Whitacker, 1989, S. 208). 16
Reeves, 1997, S. 115-118; Dupré, 2003, S.375ff.
17
Dupré, 2003, S. 377f.
88
IV DER MOND UM 1600
scheint sie zu den frühen Manieristen zurückzukehren, aber so stark das rote Gewand des Johannes dem Betrachter entgegenkommt, so hat es doch nicht das geradezu alchemistische Irisieren wie etwa die Grablegung Andrea del Sartos, die im selben Saal der Galleria Palatina den Vergleich erlaubt. Die ungeheure Kraft von Cigolis Farbe wirkt nicht exaltiert, sondern sie zieht sich nach innen, um ihr Glühen intrinsisch zu entfalten. Dasselbe gilt für die Komposition, die das Zusammenspiel der Personen an der vom Rot des Johannes nach links oben gehenden Linie orientiert, unter der sich erneut die für Cigoli charakteristische Leerzone auftut. Um dieses Vakuum herum ist das Geschehen gruppiert. Das Gemälde offenbart die unerhörte Komplexität der Florentiner Malerei um 1600, in der ein gebändigter Manierismus mit dem Kolorit Venedigs und, in Form der links vorn zusammengebrochenen Maria, dem Figurenstil Tintorettos zusammengehen. Von surrealer Wirkung ist die blutrote Nimbus-Dornenkrone Christi. Peter Paul Rubens, der Galilei im Jahre 1604 traf, hat dieses Gemälde in Form seiner Antwerpener Kreuzabnahme nachempfunden. 18 Nach dem Auftreten der Supernova der Jahre 1604/05 hat Cigoli signifikante Veränderungen an seinem Gemälde angebracht, indem er links oben eine glutrote Sonne und rechts einen fahlen Mond zu Seiten des Kreuzes hinzufügte. Die Repräsentation dieser Himmelskörper hat demonstrative Züge, insofern sie den Regeln der Astronomie nicht gehorchen. So erzeugt die Sonne in ihrer verhangenen Erscheinung keinesfalls jene Lichtstärke, die von links her die Szene erleuchtet, und dasselbe gilt für ihr Gegenüber. Da Christus und die Jünger das Abendmahl jeweils am Tag des Vollmonds einnahmen, hätte auch am Tag der Kreuzigung keineswegs ein Sichelmond erscheinen können, wie Cigoli ihn zeigt. Offenkundig geht es ihm um eine Phase, wie sie Leonardo im Codex Leicester gezeichnet hatte, um das Sekundärlicht des Mondes zu charakterisieren (Abb. 71). Im Jahre 1607 hellte auch Cigoli die Nachtseite des Mondes durch jenes lumen cinereum auf, das die Erde zum Mond sendet.19 Zudem zeigen sich in der Sphäre des Mondes dunkle, in Z-Form aufgebaute Gebilde, die, wie die von außen andrängenden Wolken zeigen, keinesfalls auf atmosphärisch bedingte Störungen zurückgehen. Vielmehr lassen sie kaum einen Zweifel, daß auch Cigoli die Plutarchsche Theorie des Mondes als zweiter Erde bereits aktualisiert hatte, noch bevor Galilei sein Fernrohr gegen den Himmel richtete. In der Regel werden Entdeckungen auf die Erfindung von Geräten wie der des Teleskopes oder auch des Mikroskops zurückgeführt. Ebenso, dies suggeriert der Vorgang, gilt jedoch, daß Instrumente in Zeiten erfunden werden, in denen deren Ergebnisse vorbereitet oder bereits bewußt sind.
18
Friedländer, 1964, S.76f.; Reeves, 1997, S. 6 8 - 7 6 (zu Galilei), S. 125 (zu Cigoli). Zu Rubens
und Galilei jüngst: Konecny, 2005; zur Kreuzabnahme im niederländischen Kontext: Warnke, 2006, S.38f.,Taf. V. 19
Reeves, 1997, S. 104-112.
Abb. 72
L o d o v i c o Cigoli. K r e u z a b n a h m e , Öl a u f Holztafel, 1 6 0 4 - 1 6 0 8 , Florenz, G a l l e r i a P a l a t i n a
90
Abb. 73
IV DER MOND UM 1600
Adam Elsheimer, Ruhe auf der Flucht, Öl auf Kupfer, 1609, München, Bayerische Staats-
gemäldesammlungen
3. Elsheimer und Harriot Cigolis und Galileis Leistung wird besonders im Vergleich mit Personen deutlich, die vor ihnen den M o n d mit dem Fernrohr betrachteten und dennoch die Struktur seiner Oberfläche nicht erkannten. Der Maler Adam Elsheimer hat in seiner Ruhe auf
der
Flucht (Abb. 73) einen Vollmond aufscheinen lassen, dessen dunkle und helle Flächen so deutlich akzentuiert sind, daß die Verwendung eines Fernrohres vermutet worden ist (Abb. 74). 2 0 Da Elsheimers Schlieren jedoch k a u m über die Präzision hinausgeht,
Erstmals hat sich O t t a n i C a v i n a , 1 9 7 6 , S. 141 f., dieser T h e s e g e w i d m e t . Byard, 1 9 8 8 , S . 3 3 f . , v e r m u t e t in d e m deutschen B o t a n i k e r u n d A s t r o n o m e n J o h a n n Faber, der Elsheimer, Peter Paul R u bens u n d Galilei g l e i c h e r m a ß e n k a n n t e u n d schätzte, die Person, die den j u n g e n M a l e r mit der n e u e n T e c h n i k vertraut g e m a c h t habe (vgl. D a m i a n a k i , 2 0 0 0 , S. 50, u n d den Bericht von Repp-Eckert, 2 0 0 4 , S . 6 0 2 f . ) . D i e M ü n c h n e r u n d d a n n Frankfurter Ausstellung z u m G e m ä l d e Elsheimers hat diese M ö g lichkeit bekräftigt (Dekiert, 2 0 0 5 , S . 3 3 ) . S c h l i e ß l i c h hat Sauerländer, 2 0 0 6 , a u f d e m n a t u r w i s s e n schaftlich n i c h t gänzlich zu v e r r e c h n e n d e n Eigensinn der Kunst beharrt. Die Z u s a m m e n a r b e i t von Galilei u n d C i g o l i w i r d jedoch zeigen, d a ß g e n a u hierin die n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e K o m p e t e n z der Kunst lag.
3. ELSHEIMER UND HARRIOT
die Jan van Eyck und Leonardo bereits erreicht hatten, 21 und da sie gegenüber den Trübungen, die Cigoli wie riesige Erhebungen imaginiert hatte, ohne daß ihm ein Fernrohr zur Verfügung gestanden hätte (Abb. 72), eher zurückfallen, weist weniger die Oberfläche des Mondes auf die Nutzung eines der im Sommer 1609 in Rom kursierenden Teleskope, als vielmehr der Umstand, daß Elsheimer die Erscheinung des Mondes auf den Kopf gestellt hat (Abb. 75). 22 Dies aber würde bedeuten, daß er ein auf dem Kopf projizierendes Fernrohr verwendet hat. 23 Seine Darstellung wäre demzufolge nicht eine Abbildung der teleskopisch vergrößerten Natur, sondern des Augen-
21
Zu van Eyck: Montgomery, 1994; ders., 1996, S. 2 0 2 - 2 0 6 ; zu Leonardo und der Frage, ob
dieser bereits über ein Teleskop verfügte: Reaves und Pedretti, 1987. 22
Damianaki, 2000, S. 57f. Harri und Sicka, 2005, S. 122, haben diesen Kopfstand des Mondes
nicht bemerkt. Z u d e m haben sie den Kupferstich des in Venedig gedruckten Sidereus Nuntius mit dem Holzschnitt der Frankfurter Ausgabe verwechselt (S. 113). 23
Allerdings ist erst mit Keplers Teleskopen von 1613 eine derartige Projektionsform bekannt.
Dies schließt andererseits nicht aus, daß Ahnliches zuvor in Rom gefunden und getestet wurde. Thielemann, 2007, begründet umfassend, daß Elsheimer in jedem Fall eines der in Rom verfügbaren Teleskope genutzt hat.
91
IV DER MOND UM 1600
Abb. 77
Thomas Harriot, Mondphase,
Feder auf Papier, 1609, Petworth Ms., Leconfield HMC 241/ix, F. 26
scheins, der sich durch ein solches Fernrohr ergibt. Inmitten einer naturgetreuen Landschaft und eines in Details mit der realen Situation übereinstimmenden Nachthimmels hat Elsheimer wie in einer Collage die Ansicht des Mondes verkehrt. Dies hat zur Folge, daß die Spiegelung des Mondes im Wasser die seitenverkehrte Darstellung des realen Erdtrabanten abgibt (Abb. 76).24 Auch der englische Kartograph Thomas Harriot, der den Mond vermutlich kurz darauf am 5. August 1609 beobachtet hat, ist nicht zu einer angemessenen Binnenbestimmung des Gesehenen vorgestoßen. Was er sah, hat er in einer Zeichnung festgehalten, die auf der beleuchteten Sphäre eine unklar abgeknickte Erscheinung zeigt (Abb. 77). 25 Die Grenzlinie zwischen Licht und Schatten erscheint als zittriger Strich, aber die Amplituden der Ausbuchtungen schlagen nicht so weit aus, daß hier auf Erhebungen und Täler geschlossen werden könnte. Damit stellt sich die Frage, warum Galileis Vorläufer nicht ausdrücklicher betonten, was Galilei kurz danach als Essenz der Erscheinung herausstrich. Ein einfacher Grund könnte darin gelegen haben, daß Harriots sechsfach vergrößerndes Teleskop von minderer Qualität als das Instrument Galileis gewesen sei.26 In der Tat besaß Galileis Fernrohr einen leicht höheren Faktor.27 Angesichts dessen, daß Jan van Eyck und Leonardo da Vinci, die unbefangen zu sehen geübt waren, ein genaueres Bild des Mondes selbst als Harriot boten, drängt sich der Eindruck auf, daß nicht die Technik,
24
Damianaki, 2000, S. 58. Es bleibt das Problem, daß bei der Spiegelung die aufrechte Stellung
des Mondes wiederhergestellt wird, die Seitenverkehrung aber bleibt. 25
Bloom, 1978.
26
Van Helden, 1977, S. 17; Mann, 1987, S. 59, Anm. 20.
27
Van Helden, 1977, S.26f.; ders., 1984, S. 155.
3. ELSHEIMER UND HARRIOT
Abb. 7 8
Cristofano Allori, Bildnis des Michelangelo Buonarroti il
Giovane, Gemälde, ca. 1610, Florenz, Casa Buonarroti
sondern das Wechselspiel von Naturbeobachtung und Vorwissen über die Erkenntnis der Phänomene entschied. 28 Z u Beginn des Jahres 1610, also bevor sie von den Offenbarungen des Sidereus Nuncius Kenntnis haben konnten, haben sich Harriot und sein Freund Sir William Lower über die teleskopischen Mondbilder ausgetauscht. Mit Hilfe des Teleskops, das ihm Harriot geschickt hatte, vollzog Lower eigene Beobachtungen, über die er am 6. Februar berichtete. Die Scheidelinie von Tag und Nacht erschien ihm wie ein Küstenstrich in einer niederländischen Karte, und der Vollmond erinnerte ihn an „eine Torte, die mir mein Koch in der letzten Woche machte". 29 Beide Vergleiche lassen die Unebenheit der Oberfläche außer acht, und erst im folgenden Jahr, nachdem Lower von Galileis Sidereus Nuncius Kenntnis erhalten hatte, bekannte er, zwar eine „seltsa-
28
Gingerich, 1975.
25
„In the full she appears like a carte that my cooke m a d e m e the last weeke" (zit. nach W h i t -
acker, 1989, S. 120).
IV DER MOND UM 1 6 0 0
me Fleckigkeit" auf dem Mond gesehen, nicht aber die geringste Vorstellung gehabt zu haben, daß es sich um Schatten gehandelt habe.30 Es ehrt Lower um so mehr, daß er den Grund seines Fehlschlusses nicht in der Schwäche seines Instrumentes, sondern in der Begrenzung seiner Vorstellungskraft erkannte. Im Juni 1610 hat er berichtet, daß es ihm unmöglich gewesen sei, bei der Betrachtung der „Sieben Schwestern" der Plejaden auch den achten, dort vorhandenen Stern zu erkennen, „denn weil diese [Sieben] Zahl vorbestimmt war, traute ich weder meinen Augen noch sah ich sorgfältig, wie viele es waren". 31 Lower hatte erkannt, daß er weniger durch die Sehorgane als vielmehr durch seine Erwartungen behindert wurde. Dasselbe war offenbar auch Harriot geschehen.
4. Cigolis Mondfresko Während sich Harriot und Lower in England ihres Irrtums bewußt wurden, begann Cigoli in Rom ein Fresko, das auf die Präsentation der neuen Mondsicht zulief. Gegen scharfe Konkurrenz hatte Cigoli im Spätsommer 1610 den Auftrag erhalten, die Kuppel der Kapelle von Papst Paul V. in Santa Maria Maggiore mit einem Fresko zu bedecken. Daß damit der bedeutendste Auftrag dieser Zeit an ihn gegangen war, signalisierte auch einen Triumph der neuen Florentiner Malerei in Rom. Am 2. September 1610 erhielt er die erste Bezahlung.32 Vom Beginn der Arbeiten berichtete der unverbrüchliche Freund Galileis, Michelangelo Buonarroti il Giovane, der von Cristofano Allori, einem weiteren Mitglied dieses Freundeskreises, ein unerhört waches Portrait erhalten hat (Abb. 78). 33 Buonarroti vermeldet im Oktober 1610 nicht ohne Emphase, vielleicht auch nicht ohne Ironie: „Herr Cigoli ist in der Spitze des höchsten Himmels, das heißt in der Spitze der Laterne der Kuppel der Kapelle des Papstes, im Angesicht des Heiligen Vaters und seiner Herrlichkeit." 34 Das komplizierte Programm sah in der Mittelachse der Kuppel eine auf einem Mond stehende Himmelskönigin vor (Abb. 79).35 Der Briefwechsel zwischen Cigoli und Galilei enthüllt, welchen Schwierigkeiten sich Cigoli vor allem in der Hitze der
30
„In the moone I had formerlie observed a strange spottednesse al over, but had no conceite that
anie parte thereof mighte be shadowes" (zit. nach Whitacker, 1989, S. 120f.). 31
„[...] because I was prejugd with that number, I beleved not myne eyes nor was carefull to ob-
serve how manie" (Stevens, 1900, S. 116; zit. nach Bloom, 1978, S. 121). 32
Acanfora, 2000, S.30.
33
Cristofano Allori, 1984, S. 74.
34
„II Sig.r Cigoli è nel colmo de più alto cielo, ciò è nel pinnacolo della lanterna della cupola
della cappella del Papa, dinanzi al Dio Padre e al suo splendore" (Michelangelo Buonarroti il Giovane an Galilei, Oktober 1610, in: Opere, Bd. X, S.453, Ζ. 3 0 - 3 2 ) . 35
Hierzu und zum Folgenden: Panofsky, 1954, S. 5; Faranda, 1986, S. 95f.; Wolf, 1991/92; Ost-
row, 1996, Immacolata; ders., 1996, Art, S.240ff.
4. CIGOLIS M O N D F R E S K O
Abb. 7 9 Maggiore
Lodovico Cigoli, Kuppelfresko der Cappella Paolina, 1 6 1 0 - 1 6 1 3 . Rom. Santa Maria
96
Abb. 8 0
IV DER MOND UM 1 6 0 0
Anonym, Querschnitt durch
die Cappella Paolina von Santa Maria
Abb. 8 1
Lodovico Cigoli, Maria
Immaculata, Det. aus Abb. 7 9
Abb. 8 2
Mondphase,
Radierung, Galilei, 1610,
Maggiore, Rom, Kupferstich, De Angells,
Venedig, S. 8r, Det. aus
1621, S. 1 9 4
Abb. 9 5 ( 9 0 ° nach links gedreht)
Sommermonate mit dieser Aufgabe unterzog." 5 Er wurde unterstützt durch die beiden Maler Vincenzo Boccacci und Sigismondo Coccapani, der auch bei der Konzeption des gesamten, riesigen Raumes half. Auf einer der Skizzen, in welche die Maße der Kuppel eingetragen sind, hat er eine spektakuläre Angabe festgehalten, aus der hervorgeht, daß auch Galilei beteiligt war: „Maße der Kuppel von Santa Maria Maggiore mit der römischen Spanne, die nach der Sorgfalt des Herrn Galileo Galilei insgesamt ohne die Laterne ungefähr 4000 und 700 Spannen ist. U n d die römischen Vermesser sagten, daß sie 3000.200.17 Palmi ist; nach endlosen Messungen." 37 Auch diese Notiz bekräftigt, daß Vivianis Bericht über Galileis Mitarbeit und Urteil bei künstlerischen Projekten keineswegs fiktiv war. Galileis Intervention, mit der er die einheimischen Vermesser düpierte, m u ß in die Zeit seines triumphalen Rom-Aufenthai tes im Frühjahr 1611 gefallen sein, 38 währenddessen er Zeit gehabt haben dürfte, um sich Fragen der Kapelle zu widmen. D a ß hier mehr zur Sprache kam als nur die Maße der Architektur, legt ein von Cigoli an Galilei gerichteter Brief vom 13. April 1612 nahe. Cigoli berichtet, daß seine Muttergottes mitsamt der anderen Teile des Freskos von den Auftraggebern, inklusive dem Schatzmeister der Kirche,
Lodovico Cigoli an Galilei, 1 . 7 . 1 6 1 1 , in: Opere, Bd. X I , S. 133, Z. 3 7 - 4 0 ; S. 168, Z . 4f. 17
„misure della cupola di S. a Maria Maggiore co(n) il p a l m o r o m a n o le quali secondo la diligen-
za del Sig.r Galileo Galilei è tutta Palmi 4 0 0 0 e 7 0 0 in circa senza la lanterna. E(i) misuratori R o m a n i dicevano ch(e) era Palmi 3 0 0 0 . 2 0 0 . 1 7 misurata molte, e molte volte" (zit. nach Acanfora, 2000, S. 32). w
Ebda., S. 33.
4. CIGOLIS MONDFRESKO
Kardinal Jacopo Serra, gutgeheißen worden sei,39 so daß mit Gott Vater nur mehr der beste Teil fehlen würde. Ein Problem bleibe aber „wie es aus der Sicht von unten herauskommen wird; ich habe mich bemüht, sie kräftig zu kolorieren, und die Figuren nicht zu dicht und angehäuft, und die Gedrängten durch helle und dunkle [Farben] differenziert: daher glaube ich nicht, daß sie mir in der Distanz abhanden kommen". 40 Dieser Bericht läßt erkennen, wie genau sich Cigoli und Galilei über das Fresko auch in formaler Hinsicht ausgetauscht haben müssen. Im Sinne von Galileis Abhandlung über Tasso verwendet er in seiner Selbstbeschreibung dieselben Kriterien der Klarheit und Evidenz und der unverstellten Sichtbarkeit. Und die Problematik, wie sich die Figuren, die Cigoli allein vom Gerüst aus gemalt hatte, ohne sich jemals vom Boden her zu vergewissern, von unten ausnehmen würden, betraf die Bemühungen um die Perspektive, die beide gemeinsam bei Ricci gelernt hatten. Mit dieser Fähigkeit, eine große Menge an Personen in präziser Perspektive in einem fluchtenden Raum in der Höhe unterzubringen, ohne diese schematisch nebeneinanderzustellen oder konvulsisch gegeneinander aufzuheben, setzte die Barockmalerei in Rom ein.41 Cigolis Hinweis, daß er auch bereits die Muttergottes vollendet habe, berührt schließlich den spektakulärsten Aspekt seines Freskos. 1616, vier Jahre nach Abschluß der Freskierung, wurde für Paolo de Angelis' Buch über Santa Maria Maggiore ein Querschnitt durch die Kapelle gefertigt, der Maria gemäß der traditionellen Ikonographie auf einer glatten Mondkugel zeigte (Abb. 80). Erst bei Restaurierungsarbeiten des Jahres 1931 wurde entdeckt, daß der Kupferstich den Mond des Freskos verfälschte: seine Oberfläche war keineswegs so unversehrt rund wie es die Abbildung suggerierte (Abb. 81). Vielmehr wies der nur halb beschienene Mond in seinem beleuchteten Teil Schatten und Lichtstreifen auf, die auf Höhen und Tiefen schließen lassen, als hätte er Pocken bekommen. Eine Andeutung dieses Phänomens hatte Cigoli bereits in seiner
Kreuzabnahme
gewagt, aber nun besaß die Botschaft eine geradezu deklamatorische Qualität. Der Grund für diese Drastik lag in Galileis im Jahre 1610 erschienenem Sidereus Nuncius, in dem die Ergebnisse seiner teleskopischen Beobachtungen des Mondes publiziert waren. Cigoli hatte Galilei im Oktober, obwohl er des Lateinischen nicht mächtig war, um dieses Buch gebeten,42 um nach Erhalt und sicher auch nach Erörterungen anläßlich von Galileis Rom-Besuch im Frühjahr 1611 einen der beigegebenen Kupferstiche
" Lodovico Cigoli an Galilei, 13.4.1612, in: Opere, Bd. X I , S.291, Z. 2 3 - 2 5 . 40
„[...] come nella veduta da basso tornerà. Io mi sono ingegniato di colorirle gagliardo, et le fi-
gure non azuffate e ammontate, et le amontate separate con chiari e scuri: però non credo mi abbino da mancare per la distanza" (ebda., Ζ. 2 6 - 2 8 ) . 41
Acanfora, 2000, S. 38, 44.
42
Lodovico Cigoli an Galilei, 1.10.1610, in: Opere, Bd. X, S. 442, Ζ. 1 6 - 1 7 . Er wünscht sich,
daß es in Italienisch herauskomme.
IV DER MOND UM 1600
in freier Variation in die Kuppel der Cappella Paolina zu heben (Abb. 82). Federico Cesi, als Begründer und Betreiber der Accademia dei Lincei einer der römischen Parteigänger Galileis, hat keinen Zweifel sowohl an der Herkunft dieser Mondgestalt wie auch an dessen provokantem Charakter gelassen: „Herr Cigoli hat sich auf göttliche Weise in die Kuppel der Kapelle Seiner Heiligkeit in Santa Maria Maggiore begeben; als guter und aufrechter Freund hat er unter dem Bild der Heiligen Jungfrau den Mond auf eine Weise gemalt, wie er von Euer Wohlgeboren entdeckt worden ist, mit dem beleuchteten Teil und dessen kleinen Inseln. Häufig sind wir beisammen und beraten uns bezüglich des Neides auf den Ruhm von Euer Wohlgeboren." 43 Mit Cigolis Entscheidung, die Muttergottes der Apokalypse auf Galileis Mond zu stellen, erhielt ihre vermutlich seit den gemeinsamen Studienjahren bestehende Freundschaft ein Denkmal. Dies hat den singulären Fall ermöglicht, daß eine naturwissenschaftliche Entdeckung, die der herkömmlichen Auffassung des Himmelsgefüges vor den Kopf stieß, in einer Hauptstätte der katholischen Kirche in das freskierte Heilsprogramm erhoben wurde. Die Verantwortlichen der Cappella Paolina gehörten zu jenem Flügel, der die Versöhnung der Naturwissenschaften mit der Kirche betrieb. Galileis Rom-Reise des Jahres 1611 hatten sie zu einem wahren Triumphzug gemacht: „Ich habe Gunstbezeugungen von vielen der hochverehrten Herren Kardinäle und Prälaten und von verschiedenen Fürsten empfangen, die meine Beobachtungen zu sehen verlangten, und alle sind befriedigt gewesen, so wie ich meinerseits, durch das Anschauen ihrer Wunder an Statuen, Gemälden, schmuckvollen Sälen, Palästen und Gärten." 44 Galileis Eindruck war keinesfalls von Wunschdenken getäuscht. Wenn sich auch vereinzelt eine jesuitisch geprägte Opposition zu formieren begann, 45 so überwog doch jene Einschätzung, die Kardinal Francesco Maria del Monte Ende Mai aus Anlaß des Abschiedes von Galilei aus Rom an Großherzog Cosimo II. de'Medici übermittelte: „Er hatte die Gelegenheit, seine Entdeckungen so gut vorzustellen, daß sie von allen verdienstvollen Männern und Sachverständigen dieser Stadt nicht allein als völlig wahr und wirklich, sondern auch als höchst wunderbar anerkannt worden sind; lebten wir heute in jener antiken Römischen Republik, hätte man ihm sicherlich eine
43
„II S. Cigoli s'è portato divinamente nella cupola della capella di S. S. t à a S. Maria Maggiore, e
come buon amico e leale, ha, sotto l'imagine della Beata Vergine, pinto la luna nel m o d o che da V.S. è stata scoperta, con la divisione merlata e le sue isolette. Spesso siamo insieme, consultando contro l'invidi della gloria di V.S." (Federico Cesi an Galilei, 2 3 . 1 2 . 1 6 1 2 , in: Opere, Bd. XI, S. 449, Ζ. 9 - 1 3 ) . 44
„Io sono stato favorito da molti di questi Illustrissimi Sigg. Cardinali, Prelati e diversi Principi,
li quali hanno voluto vedere le mie osservazioni e sono tutti restati appagati, sì come all'incontro io nel vedere le loro maraviglie di statue, pitture, ornamenti di stanze, palazzi, giardini ec." (Galilei an Filippo Salviati, 2 2 . 4 . 1 6 1 1 , in: ebda., S.89, Ζ. 4 - 8 ; Übers, nach Wohlwill, 1909, Bd. I, S.379). Zur kirchenpolitischen Bestimmung: Wolf, 1991/92, S.313f.; allgemein: Feldhay, 1995. 45
Wohlwill, 1909, Bd. I, S.390f.
4. CIGOLIS MONDFRESKO
Statue auf dem Kapitol errichtet, um seinen vortrefflichen Wert zu ehren." 46 Del Montes Vergleich mit der Antike unterschätzte die eigene Zeit. Mit der Muttergottes der Papstkapelle hatte Cigoli eine Ehrung vollbracht, wie sie eine Marmorstatue nur darstellen konnte.
46
„[...] ha hauto occasione di mostrare sì bene le sue inventioni, che sono state stimate da tutti li
valent'huomini e periti di questa città non solo verissime e realissime, ma ancora maravigliosissime; e se noi fussimo hora in quella República Romana antica, credo certo che gli sarebbe stata eretta una statua in Campidoglio, per honorare l'eccellenza del suo valore" (Francesco Maria del Monte an Cosimo IL, 31.5.1611, in: Opere, Bd. XI, S. 119, Ζ. 3 - 7 ; Übers, nach "Wohlwill, 1909, Bd. I, S.388).
V DIE MONDE DES SIDERE US NUNCIUS
1. Teleskopblicke Der von Cigoli in die Kuppel der Papstkapelle von Santa Maria Maggiore gehobene Mond war nur ein Element verschiedener Serien, in denen Galilei seine Teleskopblicke festgehalten hat. Die erste Sequenz von neun Mondzeichnungen stammt aus einem am 7. Januar 1610 verfaßten Brief, in dem Galilei erstmals seine Beobachtungen des Erdtrabanten erläutert. Die zweite Sequenz besteht aus sieben Zeichnungen des Mondes, die sich als Beilage zu Galileis Originalmanuskript des Sidereus Nuncius von 1610 in der Biblioteca Nazionale Centrale von Florenz befinden. Die dritte, neu aufgetauchte Reihe wird aus fünf Zeichnungen gebildet, die in eines der gedruckten Exemplare des Sidereus Nuncius eingetragen wurden. Den Zeichnungen sind schließlich fünf Radierungen zuzuordnen, die in die Buchpublikation des Sidereus Nuncius vom März 1610 eingedruckt wurden. Die Datierung ist lediglich darin gesichert, daß die Zeichnungen des Briefes vor dem 7. Januar und die Vorlagen für die Tiefdrucke des Buches vor dem März 1610 geschaffen wurden. Das Schreiben des 7. Januar war vermutlich an den naturkundlich interessierten Antonio de'Medici gerichtet, der eine besondere Hochachtung für Galilei empfand. Es ist nicht im Original, sondern lediglich in Form mehrerer Kopien überliefert.1 Gleichwohl ist es von immenser Bedeutung, weil Galilei hier mit seinen Beobachtungen die Grundlage für den ersten Teil des Sidereus Nuncius legt. Zudem erhebt er in diesem Brief den Anspruch, den Mond als erster durch das Teleskop betrachtet und das Betrachtete auch erkannt zu haben: „Keine einzige der oben genannten Beobachtungen sieht man bzw. kann man sehen ohne ein vortreffliches Instrument; daher dürfen wir annehmen, daß wir die ersten auf der Welt gewesen sind, die die Him-
Der in den Opere wiedergebene Wortlaut (Opere, Bd. X, S. 273—278) entspricht der vermutlich frühesten Fassung, die dem Herausgeber Favaro durch den Leiter der vatikanischen Bibliothek, Franz Ehrle, in Form von Photographien nach der Originalkopie übermittelt wurde (S. 273, Vorbemerkung). Sie hat sich trotz aufwendiger Suche in der vatikanischen Bibliothek nicht auffinden lassen (Massimo Ceresa gilt mein besonderer Dank). 1
V DIE MONDE DES SIDEREUS
NUNCIUS
melskörper von so nahem und derartig deudich gesehen haben." 2 Diese Selbstbeschreibung traf nur in dem Sinn zu, daß Galilei als erster erkannt hatte, was er sah, denn vor ihm hatten bereits andere das Fernrohr in den Himmel gerichtet. Galilei war der erste Forscher, der von dem durch das Teleskop zu Beobachtenden Schloß, daß jene Theorien, die von der Unebenheit des Mondes ausgingen, zutrafen. Teleskope waren vor 1590 bereits vereinzelt durch Personen wie Giovan Battista della Porta und 1598 durch Raffaello Gualterotti erdacht worden. 3 Aber erst von den Niederlanden aus setzte sich sein Gebrauch vom Jahre 1604 an durch. Im Oktober 1608 wurde dem Niederländer Hans Lipperhey das Patent auf Teleskope verwehrt, weil sein Geheimnis kein solches mehr war; zur selben Zeit verfügte Herzog Moritz von Nassau bereits über ein Teleskop aus anderer Quelle. Innerhalb eines Jahres war dessen Kenntnis in ganz Europa verbreitet, und Exemplare waren zumindest in den großen Städten verfügbar.4 Im Sommer 1609 traten erstmals Händler in Italien auf, und Ende Juli erschien ein Vorführer in Padua, um nach Venedig mit dem Ziel weiterzureisen, sein Wissen an die Regierung zu verkaufen. Ohne daß Galilei dieses Teleskop gesehen hätte, arbeitete er seit dem 3. August fieberhaft an der Entwicklung eines eigenen Fernrohres, was ihm so zügig gelang, daß er bereits am 21. und wieder am 24. August sein neunfach vergrößerndes Gerät in Venedig vor den Offiziellen vorführen konnte, nachdem sein Freund Paolo Sarpi vom Ankauf des Instrumentes des Fremden abgeraten hatte. 5 In einem Brief vom Beginn des Dezember kündigte er Verbesserungen des Teleskops an, und tatsächlich konnte er in dem Brief vom 7. Januar 1610 von einem Gerät mit zwanzigfacher Vergrößerung berichten: „Um Euer Hochwohlgeboren zufriedenzustellen, werde ich kurz berichten, was ich mit einem meiner Fernrohre beobachtet habe, als ich auf das Antlitz des Mondes geschaut habe; jenen konnte ich von sehr nahem sehen, aus einer Distanz von weniger als drei Erddurchmessern, denn ich habe ein Fernrohr entwickelt, das mir den Mond mit einem zwanzigmal größeren Durchmesser zeigt als er mit dem natürlichen Auge [gesehen] erscheint. Daher wird seine Oberfläche 400 mal größer wahrgenommen, und sein Körper ist im Vergleich zu seiner gewöhnlichen Größe 8000 mal größer, so daß man bei einer so starken Vergrößerung mit einem exzellenten Instrument sehr deutlich erkennen kann, was es dort gibt."6
2
„Di tutte le sopradette osservationi niuna se ne vede o p u ò vedere senza strumento esquisito;
onde possiamo credere di essere stati i primi al m o n d o a scuoprire tanto da vicino et così distintamente qualche cosa dei corpi celesti" (Galilei, Brief vom 7 . 1 . 1 6 1 0 , in: Opere, Bd. X, S. 277, Ζ. 125-128). 3
Zur Stärke und Schwäche von Deila Portas Überlegungen: Ronchi, 1962; zu Gualterotti: Sett-
ie, 2006, S.629. Grundlegend: Van Helden, 1977, S. 15ff. 4
Ebda., S. 2 0 - 2 6 , 3 6 ^ 2 ; Riekher, 1990, S. 19-21; Sluiter, 1997.
5
Drake, 1970, S. 146-148. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Pantin, 1992, S.XX-XXII, u n d
Hallyn, 1992, S. 13-25. 6
„Per satisfare a V.S.Ill.ma, racconterò brevemente quello che ho osservato con uno de' miei oc-
chiali guardando nella faccia della luna; la quale ho potuto vedere come assai da vicino, cioè in distanza
1. TELESKOPBLICKE
Am Ende des Briefes spricht Galilei von seinen Erfahrungen bei der Nutzung mit diesem schwierig zu handhabenden Gerät, das in seiner Wirkung selbst durch die Atmung und den Pulsschlag beeinträchtigt werden kann: „Um den Auftrag Euer Hochwohlgeboren vollständig zu befriedigen, bleibt mir noch, Euch das zu sagen, was man beim Gebrauch des Fernrohrs beachten muß: daß man, um es kurz zu sagen, das Instrument stillhalten muß, und daß man, um das Zittern der Hand zu vermeiden, das von der Bewegung der Arterien und von der Atmung selbst herrührt, das Fernrohr auf einen stabilen Platz stellt. Die Gläser halte man mit einem Tuch oder Stoff sauber und klar, denn der Atem, die feuchte und dunstige Luft oder die Ausdünstungen des Auges selbst legen sich darüber." 7 Niemand, der den Mond mit Hilfe einer vergleichbaren Vergrößerung betrachtet hat, wird sich diesem Bericht entziehen können. Noch die gegenwärtig verfügbaren Instrumente erzeugen ausnahmslos dieselben Probleme, von denen Galilei berichtet. Vor allem die Schwierigkeit, das Auge dicht an das Rohrende zu führen, damit aber auch die automatischen Körperbewegungen wie das Atmen und das Pulsieren des Blutes auf das Gerät zu übertragen und den Fokus zu verlieren, verdeutlicht, mit welcher Genauigkeit Galilei nicht nur das Objekt, sondern auch die Methode seiner Beobachtung reflektiert hat. Konfrontiert mit der Nachricht eines weithin sehfähigen Vergrößerungsglases hat Galilei in seinem ersten Bericht über seine Erfolge beim Bau des Teleskops vom 29. August 1609 betont, daß dieses „auf der Wissenschaft von der Perspektive gründen müsse"; er selbst habe sich umgehend daran gesetzt, „über deren Umsetzung nachzudenken". 8 Bis heute gilt die Meinung, daß Galilei, der an den Gesetzen der Optik nie wirklich interessiert gewesen sei, mit dieser Äußerung seine praktischen Fähigkeiten in eine intellektuelle Tat umstilisiert habe.9
minore di tre diametri della terra, essendoché ho adoprato un occhiale il quale me la rappresenta di diametro venti volte maggiore di quello che apparisce con l'occhio naturale, onde la sua superficie vien veduta 400 volte, et il suo corpo 8000, maggiore di quello che ordinariamente dimostra: sichè in una mole così vasta, et con strumento eccellente, si p u ò con gran distintione scorgere quello che vi è" (Galilei, Brief vom 7 . 1 . 1 6 1 0 , in: Opere, Bd. X, S.273, Ζ. 1—9.; vgl. Galilei an Michelangelo Buonarroti il Giovane, 4 . 1 2 . 1 6 0 9 , in: ebda., S.271, Z . 2 1 - 2 2 ) . Vgl. zur Rekonstruktion dieser Geräte sowie zur Vermutung, daß im Januar eine Steigerung auf eine dreiunddreißigfache Vergrößerung gelang: Claus, 1993, u n d Ringwood, 1994. 7
„Hora mi resta, per satisfare interamente al c o m m a n d a m e n t o di V.S.Ill.ma, dirli quello che si
deve osservare nell'uso dell'occhiale: che insomma è che lo strumento si tenga fermo, et perciò è bene, per fuggire la titubatione della mano che dal m o t o dell'arterie et dalla respiratione stessa procede, fermare il cannone in qualche luogo stabile. I vetri si tenghino ben tersi et netti dal panno o nuola che il fiato, l'aria húmida e calignosa, o il vapore stesso dall'occhio, et massime riscaldato, evapora, vi genera sopra" (Galilei, Brief vom 7 . 1 . 1 6 1 0 , in: Opere, Bd. X, S.277, Ζ. 142 - S. 278, Ζ. 149). 8
„e parendomi che dovessi havere fondamento su la scientia di prospettiva, mi messi a pensare
sopra la sua fabbrica" (Galilei an Benedetto Landucci, 29.8.1609, in: ebda., S. 253, Ζ. 1 If.). 9
Eine Fülle derartiger Äußerungen bietet Dupré, 2005, S. I46f.
V DIE MONDE DES SIDEREUS
NUNCIUS
Dieser Schluß bezog sich darauf, daß die maßgebliche Tradition der Optik in Galileis Überlegungen kaum Spuren hinterlassen habe. Seinen Reflexionsrahmen, der ihm vor allem durch Ettore Ausonio und Giovan Battista della Porta repräsentiert wurde, bildete jedoch nicht die mittelalterliche Uberlieferung, sondern die italienische Optik des sechzehnten Jahrhunderts. Damit aber erweist sich Galileis Äußerung, daß er die Regeln der Perspektive sofort mit dem Teleskop in Verbindung gebracht habe, keineswegs als aus dem Himmel gegriffen. Vielmehr zeigt sich hier erneut die andauernde Nachwirkung des Studiums bei Ricci. Es war die Schulung in Perspektive, die Galilei bereits vor der Erfindung des Teleskops hatte imaginieren lassen, daß die Oberfläche des Mondes uneben war.10
2. Die Unebenheit des Mondes Von der Unebenheit des Mondes war Galilei überwältigt: „Tatsächlich sieht man ganz deutlich, daß der Mond eben keine gleichmäßige, glatte und reine Oberfläche hat, wie es von der großen Mehrzahl der Leute von ihm und den anderen Himmelskörpern angenommen wird, sondern daß er im Gegenteil rauh und ungleichmäßig ist und sich insgesamt so darstellt, daß man in einer logischen Abfolge nichts anderes schlußfolgern kann, als daß er voller Erhebungen und Vertiefungen ist, die ähnlich, aber viel größer sind als die Berge und Täler, die auf der Erdoberfläche verteilt sind." 11 Erstmals schließt Galilei angesichts der Unebenheit der Mondoberfläche hier ausdrücklich auf die Erde zurück. Indem damit Mond und Erde von unterschiedlichen Himmelskörpern in verwandte Gebilde mutieren, löst sich der Antagonismus von unerlöster, schrundiger Erde und vollendet glattem, harmonischem Himmelskörper auf. In der Beschreibung der Phänomene erreicht Galilei jene intensivierte Sprachmelodik, die ihn zu einer Größe auch der Literaturgeschichte hat werden lassen: „Wenn man ihn [den Mond] zunächst 4 oder 5 Tage nach dem Neumond zu betrachten beginnt, sieht man, daß die Grenze, die sich zwischen dem beleuchteten Teil und dem Rest des dunklen Körpers befindet, nicht Teil einer ovalen, sauber gezeichneten Linie ist, sondern eine sehr undeutliche, zerklüftete und rauhe Grenzlinie, bei der viele leuchtende Punkte nach draußen ragen und in den dunklen Teil eindringen; und im Gegenzug kerben andere dunkle Teile gewissermaßen den beleuchteten Teil ein, in-
10
Grundlegend zu diesem Komplex: Dupré, 2005, S. 148-152.
' 1 „et in effetto si vede apertissimamente, la luna non essere altramente di superficie uguale, liscia e tersa, come da gran moltitudine di gente vien creduto esser lei et li altri corpi celesti, ma all'incontro essere aspra et ineguale, et in somma dimonstrarsi tale, che altro da sano discorso concluder non si può, se non che quella è ripiena di eminenze et di cavità, simili, ma assai maggiori, ai monti et alle valli che nella terrestre superficie sono sparse" (Galilei, Brief vom 7.1.1610, in: Opere, Bd. X, S. 273, Ζ. 9 - 1 6 ) .
2. DIE UNEBENHEIT DES MONDES
Abb. 8 3
Kopie nach Galilei, Mondphase,
Brief vom 7.1.1610, Opere, Bd. X, S. 274
Abb. 8 4
Kopie nach Galilei, Mondphase,
Brief vom 7.1.1610, Opere, Bd. X, S. 274
dem sie über den korrekten Verlauf der Ellipse hinaus in ihn eindringen, wie man in der nebenstehenden Abbildung sieht."' 2 Der knappe Hinweis folgt demselben Schema, das Galilei in seinem Manuskript zur Militärarchitektur angewandt hat. Er bezieht sich auf die erste von neun in den Text integrierten Abbildungen, die als schwache Kopien den Stil Galileis kaum mehr erkennen lassen, gleichwohl aber zur Bestimmung der Phase von Bedeutung sind; insofern ähneln sie auch in dieser Hinsicht den Zeichnungen der Fortifikationskunst (Abb. 83). Diese erste Zeichnung gilt dem vierten bzw. fünften Tag des aufgehenden Mondes. Die Tuschzeichnung zeigt mit ihrer unruhigen Linie der Tag- und Nachtscheide, wie helle Partien in die dunkle Zone drängen und andererseits dunkle Flächen, wie das weit nach rechts gezogene Horn, in der beleuchteten Sichel verharren. Die Kopie von Galileis zweiter Zeichnung, die kurz nach der ersten Darstellung entstanden sein m u ß (Abb. 84), ist dagegen nicht differenziert genug, um der folgenden Beschreibung der losgelösten Lichtflecken entsprechen zu können: „Ferner ist die zuvor erwähnte Grenze u n d die Grenzlinie zwischen Hell und Dunkel nicht nur kurvig und unregelmäßig, sondern man erkennt nahe bei dieser verschiedene sehr hell leuchtende Punkte, die im dunklen Teil liegen und von den erleuchteten Hörnern
12
„Prima, c o m i n c i a n d o a rimirarla 4 o 5 giorni d o p o il novilunio, vedesi il confine che è tra la
parte illuminata et il resto del c o r p o tenebroso, esser n o n u n a parte di linea ovale p u l i t a m e n t e segnata, m a u n termine m o l t o confuso, anfrattuoso et aspro, nel quale molte p u n t e luminose s p o r g o n o in fuori et e n t r a n o nella parte oscura; et all'incontro altre parti oscure intaccano, per così dire, la parte illuminata, p e n e t r a n d o in essa oltre il giusto tratto dell'ellipsi, c o m e nella figura apresso si vede" (Galilei, Brief v o m 7 . 1 . 1 6 1 0 , in: O p e r e , Bd. X, S. 2 7 3 , Ζ . 18 - S. 2 7 4 , Ζ. 26).
V DIE MONDE DES SIDEREUS
NUNCIUS
vollkommen getrennt sind; nach und nach vergrößern und vermehren sich diese Punkte, bis sie sich nach einigen Stunden mit dem hellen Teil vereinigen, so daß auch jener Bereich hell wird, der zwischen ihnen und dem leuchtenden Teil lag: und man sieht ähnliche [Grenzlinien] wie jene, die uns die nebenstehende Abbildung zeigt."13 Die hellen Punkte und Flecken, die in der Zeichnung links der Trennlinie von Tag und Nacht aufleuchten, entsprechen nach Zahl und Farbkraft nicht der Emphase des Textes, aber sie vermitteln zumindest einen Eindruck des Prinzips. Die erneut in kurzer Folge entstandene dritte Zeichnung betonte die in den Sichelspitzen auftretenden Zonen dunkler Flecken (Abb. 85): „Außerdem sieht man im beleuchteten Teil, und zwar hauptsächlich an der Grenze zwischen Hell und Dunkel, und noch mehr als anderswo um die Spitze des südlichen Horns herum, sehr viele dunkle Flecken, die von bestimmten hellen Rändern begrenzt sind, die alle zum dunklen Teil des Mondes hin angeordnet sind, so daß die dunklen Flecken alle immer gegenüber dem Teil bleiben, den das Licht der Sonne trifft. Aufgrund der Anzahl dieser Flecken ähnelt dieser Teil einem jener Gläser, die vereinfacht Eisfbecher] genannt werden. Dazu dient als kleines Beispiel die vorliegende Abbildung." 14 Analog zum Phänomen, daß sich die hellen Flächen ausbreiten und zusammenschließen, betont Galilei, daß die dunklen im Gegenzug abnehmen und schließlich bei Vollmond kaum mehr zu erahnen sind. Derselbe Spiegelcharakter betrifft auch die einzelnen Krater, bei denen der dunkle Rand immer zur Sonne gerichtet ist, wohingegen die helle Sichel auf der gegenüberliegenden, der Nacht zuweisenden Seite liegt. Auch in diesem reziproken Spiel der Licht- und Schattensicheln erkennt Galilei die Analogie zur Erde: „Und wenn dann das Licht sukzessive zunehmend kommt, nehmen die erwähnten Flecken an Größe und Dunkelheit ab, so daß sie sich bei Vollmond kaum unterscheiden; und während des Abnehmens des Mondes kann man erneut eine große Anzahl davon sehen: und immer ist der dunkle Teil zur Sonne gerichtet, und der erleuchtete Rand richtet sich auf den dunklen Teil des Mondkörpers.
13
„Di più, non solamente è il predetto confine e termine tra Ί chiaro e Ί tenebroso, sinuoso et
ineguale, ma scorgonsi vicino ad esso diverse punte luminosissime poste nella parte oscura, et totalmente separate da le corna illuminate; le quali punte a poco a poco vanno crescendo et ampliandosi, sì che dopo qualche hora s'uniscono con la parte luminosa, divenendo lucido anco quello spatio che tra esse et la parte risplendente si fraponeva: et si veggono simili a quelle che ci rappresenta la figura appresso" (Galilei, Brief vom 7 . 1 . 1 6 1 0 , in: Opere, Bd. X, S.274, Ζ. 2 7 - 3 7 ) . 14
„Veggonsi in oltre nella parte illuminata, et massimamente nel confine tra Ί chiaro et l'oscuro,
et più che altrove intorno alla punta del corno australe, moltissime macchiette oscure, et terminate con certi orli luminosi, li quali sono posti tutti verso la parte oscura della luna, restando le macchiette oscure tutte sempre verso la parte onde viene il lume del sole, dalla frequenza delle quali macchie viene quella parte resa simile ad u n o di quei vetri che vulgarmente si chiamano di ghiaccio. Siane un poco di essempio la figura presente" (ebda., Ζ. 3 8 - 4 9 ) .
2. DIE UNEBENHEIT DES MONDES
Abb. 8 5
Kopie nach Galilei, Mondphase,
Brief vom 7.1.1610, Opere, Bd. X, S. 274
U n d alle diese Erscheinungen gleichen exakt jenen, die auf der Erde die von den Bergen bekrönten Täler verursachen, wie jeder gesunde Verstand begreifen kann." 15 Die folgende, mit Emphase vorgebrachte Beschreibung gilt einem besonders großen, etwa in der Mitte des Mondes gelegenen, vollendet kreisrunden Krater: „Da die oben genannten Flecken verschiedenförmig und sehr unregelmäßig erscheinen, habe ich einen davon nicht ohne Erstaunen beobachtet, der sich fast in der Mitte des M o n des befindet, vollkommen kreisrund erscheint und im Vergleich zu den anderen sehr groß ist."16 Als größtes Phänomen der Mondoberfläche provoziert er ein bestrickendes Gedankenbild. Um das Wandern der Sonne über den Riesenkrater mit einem Phänomen der Erde vergleichen zu können, imaginiert Galilei ein weit über der Erde stehendes Auge, das in der schalenförmigen Tieflage Böhmens ein verwandtes Phänomen identifiziert: „Wenn die Sonne seine Größe zu zeigen beginnt, indem sie den Raum in der Mitte [des Flecks] dunkel zurückläßt, und wenn sie dann, indem sie sich höher über ihn erhebt, beginnt, den Boden zu beleuchten, und wenn sich anschließend die Erscheinungsbilder der Sonne zusammen mit dem M o n d in seinem Anwachsen
15
„Secondo poi che il l u m e vien successivamente crescendo, sciemano le dette macchiette di
grandezza et d'oscurità, sì che nel plenilunio poco si distinguono; nello scemar poi della luna tornasi a vederne gran moltitudine: et pure in t u t t e et sempre la parte oscura è verso il sole, et l'orlo illuminato risguarda la parte tenebrosa del c o r p o lunare. Et tutte queste apparenze sono p u n t u a l m e n t e simili a quelle che f a n n o in terra le valli incoronate da i m o n t i , c o m e ogni sano giuditio p u ò c o m p r e n d e r e " (Galilei, Brief v o m 7 . 1 . 1 6 1 0 , in: O p e r e , Bd. X, S. 274, Ζ . 50 - S. 275, Ζ. 57). 16
. A p p a r e n d o le sopradette macchiette di diverse figure et m o l t o irregolari, u n a ve ne h o io, n o n
senza qualche meraviglia, osservata, che è posta quasi nel mezo della luna, la quale apparisce perfettissim a m e n t e circolare, et è tra le altre assai grande" (ebda., S. 2 7 5 , Ζ . 5 8 - 6 1 ) .
V DIE MONDE DES SIDEREUS NUNCIUS
Abb. 86 S. 275
Kopie nach Galilei, Vier Phasen des Riesenkraters, Brief vom 7.1.1610, Opere, Bd. X,
u n d A b n e h m e n verändern, sieht m a n in jenem [Fleck] haargenau dieselben Erscheinungen von Licht u n d Schatten, die auf der Erde ein sehr großes rundes Amphitheater erzeugt, oder besser gesagt, das die Provinz der Böhmen machen würde, wenn deren Grundfläche vollkommen kreisrund u n d durch sehr h o h e Berge mit einer perfekten U m r a n d u n g umgeben wäre." 17 Galilei hat in diesem Fall nicht den gesamten M o n d , sondern allein den Krater in vier Abbildungen festgehalten. Die zusammenstehenden, einen kleineren Durchmesser aufweisenden Kreise demonstrieren, wie sich das Licht reziprok z u m G e s a m t m o n d entwickelt (Abb. 86). U m die Besonderheit des hier ablaufenden Spieles von Licht u n d Schatten zu verdeutlichen, nutzt Galilei die gesamte Sequenz. Das Überraschende liegt darin, daß jener Teil des Ringes, welcher der Sonne am nächsten steht, den tiefsten Schatten wirft, w ä h r e n d der gegenüberliegende, weitest entfernte Kreissektor die hellste Beleuchtung erfährt: „ U n d seine Erscheinungsbilder vor u n d nach d e m Vollmond sind diesen [Abbildungen] ähnlich, w e n n m a n beachtet, d a ß stets der dunkle Teil zur Sonne gerichtet ist, u n d der helle zur anderen Seite; ein sicheres Indiz dafür, d a ß jener [Fleck] eine sehr große, völlig r u n d e u n d mit erhabenen Grenzen umgebene Vertiefung ist." 18 D e r „Fleck" ist damit als Riesenkrater definiert, bei d e m sich auf den ersten drei Abbildungen das Licht des aufgehenden M o n d e s reziprok z u m übrigen Trabanten von links nach rechts bewegt, wohingegen es auf der vierten aus der Perspektive des a b n e h m e n d e n M o n d e s von links k o m m t , u m auf d e m Krater
17
„quando il sole comincia ad illustrare la sua altezza, lasciando lo spatio di mezo tenebroso, et
quando poi, alzandosegli maggiormente, comincia ad illuminare il fondo, et successivamente mutandosi gl'aspetti di esso sole con la luna nel crescere et nel calcare di quella, si veggono le medesime apparenze a capello di lume et di ombre, che fa in terra un grandissimo anfiteatro rotondo, o per meglio dire che faria la provincia de i Boemi, quando il suo piano fusse perfettamente circolare, et da altissimi monti fusse con perfetta circonferenza abbracciata" (Galilei, Brief vom 7 . 1 . 1 6 1 0 , in: Opere, Bd. X, S. 275, Ζ. 6 1 - 6 9 ) . Vgl. zur teils analogischen Denktechnik Galileis: Spranzi, 2004. 18
„Et i suoi aspetti avanti et dopo il plenilunio sono simili a questi, avvertendo che sempre la
parte tenebrosa è verso il sole, et la chiara all'opposto; inditio certo, quella essere una grandissima cavità perfettamente rotonda et da termini eminenti circondata" (ebda., Ζ. 7 0 - 7 8 ) .
2. DIE UNEBENHEIT DES MONDES
Abb. 87
Kopie nach Galilei, Mondphase,
Brief vom 7.1.1610, Opere, Bd. X, S. 2 7 5
auf der rechten, gegenüberliegenden Seite einen Lichtsektor zu erzeugen. Vor dem Auge tut sich das auf dem Gesamtmond von rechts nach links, in bezug auf den Riesenkrater aber umgekehrt von links nach rechts wandernde Licht als reziprokes, unerhörtes Lichttheater des Himmels auf. Die beiden letzten, nun wieder größeren Abbildungen thematisieren weitere Details. Die unmittelbar folgende (Abb. 87) widmet sich einem Problem, das Galilei später in besonderer Weise beschäftigen wird. Es handelt sich um jene über dem Südpol nach rechts hin auftretende, in die helle Zone reichende dunkle Ausbuchtung, die Galilei vermutlich am 1. Januar 1610 hatte beobachten können. Er hat sie intensiv beschrieben und später im Sidereus Nuncius zu einem bestimmenden Motiv gemacht: „Wenn der Mond ungefähr sein erstes Viertel einnimmt, erkennt man im unteren, d. h. im südlichen Teil eine immense Ausbuchtung, die den hellen Teil in der Art wie nebenstehend [zu sehen] aushöhlt; wenn der helle Teil anwächst, beginnt dann in jener Vertiefung eine dreieckige Erhebung in Form eines Vorgebirges hervorzuspringen; und durch die Aufnahme von mehr Licht erkennt man kurze Zeit später darum herum einige andere helle Punkte, die sich vollkommen von dem anderen Licht abheben und die von Dunkelheit umgeben sind. Wenn jene sich vergrößern und verbreitern, vereinigen sie sich schließlich mit dem hellen Teil: auf die gleiche Weise erstrahlen die äußerst hohen Berge auf der Erde, wenn sie weit westlich liegen, früher im Morgenlicht als die weiten Ebenen, die sich von den Wurzeln jener [Berge] in Richtung Osten erstrecken."19
"
„Quando la luna è intorno alla quadratura, si scorge nella parte inferiore, ciò è nella australe,
un immenso seno, il quale incava la parte lucida nella maniera apresso: nella qual cavità, crescendo la parte lucida, comincia poi a sporgere, in guisa di un promontorio, un'eminenza triangulare; et
V DIE MONDE DES SIDEREUS
NUNCIUS
Die hier beschriebene und gezeigte Phase bietet Galilei auch die Gelegenheit, die ohne Hilfe des Teleskops zu erkennenden dunklen Flecken des Mondes zu erläutern. Entgegen dem intuitiven Verständnis, daß das Land in seiner schweren Erdigkeit dunkel und das gleißende Meer als hell erscheinen müßte, kehrt Galilei diese Vorstellung wie in einem Vexierbild mit dem Argument in ihr Gegenteil, daß es für die Frage der Helligkeit großer Zonen entscheidend sei, ob sie das Licht durch eine unebene Oberfläche, die den Lichtstrahlen einen Widerstand entgegensetzt, zurückwerfen, oder ob sie durch eine plane Erscheinung keine Angriffspunkte für eine Reflexion bieten und daher dunkel bleiben. Damit bekräftigt er, wie erwähnt, Leonardos Spiegeltheorie: „Die zuvor erwähnten Ungleichmäßigkeiten sieht man nur im helleren Teil des Mondes; aber in jenen sehr großen Flecken, die jeder ohne irgendein Instrument sieht, erkennt man solch eine Ungleichmäßigkeit von Hell und Dunkel nicht, noch verursacht die Sonne irgendeine erkennbare Veränderung: daher ist zu folgern, daß die Oberfläche jener Flecken viel gleichmäßiger ist und daß Vertiefungen und Erhebungen fehlen, wie sie den gesamten helleren Teil versperren."20 Um den Gedanken noch plastischer darzustellen, imaginiert Galilei in einem bezwingenden Gedankenspiel erneut einen Blick, der aus dem Weltall auf die Erde fällt. Gegenüber einem solchen Auge, so Galilei, bieten alle Partien, die unregelmäßige Aufwerfungen und Tiefen aufweisen, schillernde Reflexionen der Sonnenstrahlen, so daß diese Teile hell aufleuchten, wohingegen Ebenen, wie sie auch Meere darstellen, kaum Angriffspunkte für die Sonnenstrahlen bieten und folglich dunkel bleiben: „Wenn also jemand den Mond mit der Erde vergleichen wollte, würden die Flecken von jenem eher den Meeren gleichen und der hellere Teil dem Kontinent, d. h. der Erdoberfläche: und ich bin wirklich schon früher immer der Meinung gewesen, daß der Erdglobus, wenn man ihn aus großer Entfernung von der Sonne angestrahlt betrachten würde, auf dem Landteil heller aussähe und das Meer sowie die Oberfläche der anderen Gewässer weniger leuchtend erscheinen würden." 21
nell'aqquistar più lume, se li scuoprono poco dopo intorno alcune altre punte lucide, totalmente spiccate dall'altro lume et circondate da tenebre; le quali crescendo et allargandosi, finalmente si uniscono con la parte luminosa: in quella guisa apunto che in terra gl'altissimi monti, benché molto occidentali, nell'aurora prima si illuminano che le larghe pianure, che dalle radici di quelli verso levante si distendono" (Galilei, Brief vom 7.1.1610, in: Opere, Bd. X, S. 275, Ζ. 79 - S. 276, Ζ. 90; s. u. S. 124f.). 20 „Le predette disegualità si veggono solamente nella parte della luna più lucida; ma in quelle grandissime macchie le quali senza altro strumento da ognuno si veggono, non ci si scorge tale disegualità di chiari e di scuri, nè vi produce il sole alcuna sensibile mutatione: onde si argomenta, la superficie di esse macchie essere assai più eguale, et mancare delle cavità et eminenze le quali tutta la parte più lucida ingombrano" (Galilei, Brief vom 7.1.1610, in: Opere, Bd. X, S.276, Ζ. 90-97). 21 „Sì che quando alcuno volesse paragonare la luna alla terra, le macchie di quella risponderiano più ai mari, et la parte più luminosa al continente, cioè alla superficie terrena: et io ho veramente ancora per avanti hauto sempre opinione, che il globo terrestre veduto da grandissima lontananza illuminata dal sole, più lucido aspetto faria nella parte terrena, et meno risplendente apparirebbe il mare et la superficie dell'altre acque" (ebda., Ζ. 97-103).
2. DIE UNEBENHEIT DES MONDES
Abb. 8 8
Kopie nach Galilei, Mondphase,
Brief vom 7.1.1610, Opere, Bd. X, S. 276
Die letzte der Zeichnungen (Abb. 88), die vermutlich den folgenden Tag repräsentierte, gilt den beiden oberhalb der Mitte in die dunkle Zone ragenden Sicheln: „Man sieht vor allem, daß der weniger helle Teil des Mondes, d. h. jener, den man gewöhnlich als ,die Flecken' bezeichnet, nicht gänzlich und in allen seinen Teilen gleich ist, sondern daß einige kleine Plätze verteilt sind, die viel heller sind als der Rest dieser Flecken: und einer dieser großen Flecken ist von oben und unten von zwei langen und hell erleuchteten Jochen eingeschlossen, die, indem sich das eine dem anderen in Richtung Osten zuneigt, wenn der Mond 5 oder 6 Tage alt ist, wundersam hervortreten und sich auf diese Weise über die Grenze zum dunklen Bereich ausbreiten." 22 Selbst die Kopie der Zeichnung läßt noch erkennen, wie sich die beiden hellen, gekrümmten Streifen von der beschienenen, östlichen Zone her aufbauen und in den Nachtbereich hineinstrahlen. Sodann betrachtet Galilei über die gesamte Fläche des Mondes das Phänomen des irregulären Scheinens und Eindunkeins einzelner Flecken, um mit dieser summarischen Erwähnung, die darauf zu warten scheint, intensiver studiert zu werden, auf sein neues, in Arbeit befindliches Fernrohr hinzuweisen: „Ich habe beobachtet, daß auf dem gesamten Mondkörper einige Pünktchen heller sind als der ganze Rest, und
22
„Vedesi tuttavia che la parte m e n l u c i d a della l u n a , cioè q u e l l a che c o m m u n e m e n t e si c h i a m a le
m a c c h i e , n o n è per t u t t o et in tutte le sue parti consimile, m a ha sparse a l c u n e piazzette a l q u a n t o p i ù chiare del resto di esse m a c c h i e : et u n a di queste g r a n m a c c h i e è racchiusa di sotto et di sopra d a d u e g i o g h i l u n g h i et m o l t o i l l u m i n a t i , li q u a l i , i n c l i n a n d o l ' u n o verso l'altro i n c o n t r o all'oriente, q u a n d o la l u n a ha 5 o 6 g i o r n i , s p o r g o n o m i r a b i l m e n t e in fuori et d i s t e n d o n o oltre al c o n f i n e sopra la parte oscura, in questa guisa" (Galilei, Brief v o m 7 . 1 . 1 6 1 0 , in: O p e r e , Bd. X, S. 2 7 6 , Ζ. 1 0 4 - 1 1 4 ) .
111
V DIE MONDE DES SIDEREUS NUNCIUS
ganz besonders eines, das sich zwischen dem östlichen und dem südlichen Teil des Mondes befindet und das, so wie ein Stern, viel mehr leuchtet als die anderen Bereiche; und im Gegenzug gibt es 5 oder 6 andere kleine Fleckchen, die schwärzer als der ganze Rest sind, und besonders eines, das oberhalb der großen Flecken in Richtung Norden liegt und das der Beleuchtung durch die Sonne besonders zu widerstehen scheint. / Viele weitere Einzelheiten habe ich beobachtet und hoffe, noch mehr davon zu beobachten, denn ich bin dabei, ein Fernrohr zu vollenden, das mir den Mond auf weniger als 2 Erddurchmesser nahebringen wird." 23 Schließlich folgt ein Passus, der mit den zusätzlichen Observationen bereits die Charakterisierung der Jupitertrabanten als kleine Sterne aufführt: „Und über die Mondbeobachtungen hinaus habe ich bezüglich der anderen Sterne folgendes beobachtet. Zunächst, daß man viele Fixsterne mit dem Fernrohr sieht, die sich ohne [ein solches] nicht unterscheiden lassen; und auch heute abend habe ich Jupiter von drei Fixsternen umgeben gesehen, die aufgrund ihrer geringen Größe vollkommen unsichtbar sind." 24 Nach diesen umwälzenden Phänomenen folgt schließlich die Beobachtung des unterschiedlichen Charakters des Himmelslichtes: „Die Planeten sieht man sehr rund, wie kleine Vollmonde, und mit einer abgeschlossenen Rundung und ohne Strahlung; aber die Fixsterne erscheinen nicht so, man sieht sie stattdessen flirrend und zitternd, mit dem Fernrohr noch mehr als ohne, und strahlend in einer Art und Weise, daß man nicht erkennen kann, welche Form sie haben." 25 Um dieses Flirren abzustellen, empfiehlt Galilei am Schluß, daß „das abschließende Glas, welches das vom Auge entfernte ist, teilweise bedeckt ist, und das Loch, das man offen läßt, von ovaler Form ist, denn so wird man die Objekte sehr viel deutlicher sehen".26 23
„Ho osservato in tutto il corpo lunare essere alcuni puntini più lucidi di tutto il resto, et uno in
particolare posto tra la parte orientale et la meridionale della luna, che, a guisa d'una stella, assai più risplende dell'altre parti; et all'incontro vi sono 5 o ver 6 altre macchiette piccole, più nere di tutto il resto, et una in particolare collocata sopra le macchie grandi verso settentrione, la quale par che molto resista all'illuminatione del sole. / Molte altre minutie ho osservate, e più ancora spero di essere per osservarne, sendo intorno al finire un occhiale che mi avvicinerà la luna a meno di 2 diametri della terra" (Galilei, Brief vom 7.1.1610, in: Opere, Bd. X, S. 277, Ζ. 115-121). 24
„Et oltre all'osservationi della luna, ho nell'altre stelle osservato questo. Prima, che molte stelle
fisse si veggono con l'occhiale, che senza non si discernono; et pur questa sera ho veduto Giove accompagnato da 3 stelle fisse, totalmente invisibili per la lor picciolezza" (ebda., Ζ. 125—132). 25
„I pianeti si veggono rotondissimi, in guisa di piccole lune piene, et di una rotondità terminata
et senza irradiatione; ma le stelle fisse non appariscono cosi, anzi si veggono folgoranti et tremanti assai più con l'occhiale che senza, et irradiate in modo che non si scuopre qual figura posseghino" (ebda., Ζ. 137-141). 26
„O bene che il vetro colmo, che è il lontano dall'occhio, sia in parte coperto, et che il pertuso
che si lascia aperto sia di figura ovale, perchè così si vedranno li oggetti assai più distintamente" (ebda., S. 278, Ζ. 152-155). Mit dem Hinweis, daß die Irradiation heller Körper durch Verkleinerung der Augenöffnung vermieden werden kann, hatte bereits Leonardo diese Reduktion der Tubusöffnung vorgeschlagen (Dupré, 2003).
3. DIE ENTSCHEIDUNG ZUR BUCHPUBLIKATION
Mit seiner knappen Erwähnung der Fixsterne, der Planeten und der Jupitermonde führt der Brief des 7. Januar 1610 das gesamte Programm des Sidereus Nuncius in wenigen Zeilen wie in einem Nukleus zusammen. In der Regel allein als Datenindikator für die Chronologie der Mondbilder Galileis gewertet, besitzt er jedoch nicht nur als erstes Dokument der kommenden astronomischen Umwälzung einen besonderen Stellenwert, sondern auch als Zeugnis für die Unabdingbarkeit, in der Galilei Bild und Text ineinander verschichtet. Die sequentielle Wiedergabe und insbesondere der „Film" der vier Phasen des Riesenkraters bestechen in der Heraushebung und Motorisierung eines markanten Details. So miserabel die Kopien nach Galileis Originalzeichnungen auch wirken, so bieten sie doch im dichten Zusammenspiel mit dem Text eine Stärkung des Prinzips, das Galilei in den Traktaten zur Militärarchitektur übernommen und weiterentwickelt hat. Der Vergrößerungsfaktor seines Telekopes hatte eine Dimension, die es Galilei nicht erlaubte, den Mond insgesamt zu betrachten. Weniger als ein Viertel der Mondoberfläche war jeweils zu übersehen, so daß, wenn sich der Blick im Inneren befand, die Orientierung in bezug auf die Gesamterscheinung ein besonderes Problem darstellte. Erst in der Zeichnung, nicht bereits beim Blick durch das Fernrohr, vermochte sich Galilei ein Gesamtbild zu verschaffen. Unabdingbar ist die Zeichnung weder Illustration noch hilfreicher Zusatz, sondern das zwingende Medium der Erkenntnis.
3. Die Entscheidung zur Buchpublikation Nach einer weiteren Woche der Studien hat Galilei angesichts der Überraschungen, die ihm nun insbesondere die Jupitermonde boten, beschlossen, seine Observationen in Buchform herauszubringen. Das Dokument dieser Entscheidung bietet jenes Blatt, auf dem Galilei die ersten sieben Tage seiner Jupiter-Beobachtungen in kurzen Einträgen festgehalten hat. Es handelt sich um eine der bewegendsten Seiten der Wissenschaftsgeschichte (Abb. 89). 27 Galilei beschreibt zunächst in italienischer Sprache das Ergebnis seiner vom 7. bis zum 15. Januar unternommenen Studien des Jupiter, um in den Zeilen die jeweilige Konstellation nun systematisch in kleinen Zeichnungen festzuhalten. So erscheinen am ersten Tag dieser Serie neben dem wie ein Speichenrad charakterisierten Jupiter drei kleine Sterne, von denen zwei auf der linken, mit OfRIEJNfSJ bezeichneten Seite und einer rechts im OCCIfDENSJ
vermerkt sind. Diese Erkenntnis war überra-
schend, bedeutete aber noch keine Umwälzung, weil es sich um neue Fixsterne handeln konnte. Am 8. Januar, in der dritten Zeile, befinden sich jedoch sämtliche drei Gebilde auf der rechten Seite des Jupiter. Damit ergab sich der Verdacht, daß hier keine Fixsterne, sondern Trabanten des Planeten zu erkennen waren. Am 9. Januar
27
Opere, Bd. III/2, S. 427.
V DIE M O N D E DES SíDEREUS
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* crefcente paite luumiofa tenebrai amittuaï.
Doppelseite 7v u. 8r, Galilei, 1610, Venedig
der Teil, der die großen und alten Flecken aufweist." 49 Vier dieser in der unteren Mondhälfte sitzenden Gebilde zeigen jeweils am linken Rand helle Sicheln auf: „Ich habe festgestellt, daß die soeben erwähnten kleinen Flecken immer und alle darin übereinstimmen, daß sie einen schwarzen Teil haben, der auf die Sonne schaut, daß sie aber auf der der Sonne abgekehrten Seite von leuchtenderen Rändern wie von glühenden Gebirgskämmen gekrönt werden." 50 Diese Ausführung ist in Blickkontakt mit der Radierung nachzuvollziehen, und auch der sich anschließende Vergleich mit Sonnenaufgängen im Gebirge verbindet Text und Bild unmittelbar. Das reziprok ablaufende Lichttheater der Nachtzone des Mondes setzt zu Beginn der Rückseite von Seite 8 an (Abb. 100), so daß der Leser zur Uberprüfung nun erstmals die Seite wechseln muß: „Aber man sieht nicht nur, daß die Grenze zwischen
49
„ Q u i n i m o , & m a g n a nigricantium m a c u l a r u m exiguarum copia, o m n i n o à tenebrosa parte
separatarum, t o t a m ferè plagam iam Solis l u m i n e p e r f u s a m v n d i q u a q u è conspergit, ilia saltern excepta parte quae magnis, & antiquis maculis est affecta" (Galilei, 1610, Venedig, S.7v—8r; vgl. O p e r e , B d . I I / 1 , S . 6 3 , Z . 1 1 - 1 4 ; Übers, nach Galilei, 1980, S. 89). 50
„ A d n o t a u i m u s a u t e m , m o d o dictas exiguas maculas in h o c semper, & o m n e s conuenire, vt
p a r t e m h a b e a n t nigricantem l o c u m Solis respicientem; ex aduerso a u t e m Solis lucidioribus terminis, quasi candentibus iugis coronentur" (Galilei, 1610, Venedig, S. 8r; vgl. Opere, Bd. I I I / l , S.63, Ζ . 1 5 - 1 8 ; Übers, nach Galilei, 1980, S. 89).
5. TEXT UND BILD ZUM MOND
OBSERVAT. SIDÉREAS Verum non modo teneb"""" λ iuminís confinía in Luna inacquai«* » 'inu0& ccrnuntur, fed, quod roaiorcP1 wfcit admirationem, pcrrtföltar appnrenc lurKfar cufpldcs intra tenebrofam Lunar partem orrtnino ab iluminata plaga diuifar, & aunlfa:, abeaquè non per exiguam intercapedinem diflìta:, qua: palliatimi alìqua intcricâa mora magnitudine, & lomine augentur; poft vero fecundam horam, aut tcrriam, rei i qua; parti lucid«, & ampliori iam faite iunguntur; interim ramen aliar > atquc alia: hincindc quafi pullulantes intra tenebrofam partem accenduntur, augenrur, aedemum eidem luminolx fiiperficiei magis adhue extenúe , copulantur. Huius exemplum cadcm figura nobis exibètl·.' At non ne in terris ante Soliscxor tum jvmbraacihnc planities occupante, alrifimorum cacuminamontium.Soiaribusradijs illußrantnr/ nonne esiguo intericôo tempore ampliatur.lumen dum mcd¡.rJ&¡.irgiorcs'corundcmmontium partes iliuminanturjac tandem orto iam Sole planicierum, &collium illuiiiinationes iunguntur ? Huiufrr.odi autem eminenti jium cauitatum diferiminaìn Luna longe latèque terrcllrem aiperitatem ("uperare videnrur, vt infra demonftrabimus. Interimfilentiominimèinuoluam quid animadueifionc dignutn à tneobferuatum dum Luna od pricnam quadreturam properat et, cuius etiam imaginem eadem fupra polita delincano ρ ra-feiert .ingcns cnimìinus tenebrpfus in partim lumino· iam fubit, verfusinferiuicornu locaius;quemquklc ίΐ η um cum diutius ablcruaíTem, roturo que obfeurum vidiífcm, tandeo* pofi duusferè lieras paûlô intra medium cauitatis vtrcôr quÎiÎàm lumiriofus exurgere carpit ,hic vçrô pauiatim crefcens trigonamfiguKimprar Je ferebat, cratquè öm»w*vadhuc a lufflittoi·1 A«Jc rcuulftu, ac feparatus ¡ mox circa illua tres ali» cufpides * exigua:
Abb. 100
RECEHS HABITAÉ ψ txîgus lucere caperunt; donee, Luna iam occafura venus tendente, trigona illafiguraextenfa, & amplior iamfadhcumreliqualuminoiàpanenectebatur, ac inflar ingentis promontorij, à tribus iam commemo ra tis lucidis vertici bus adhuc obfeila, in tcncbrolu rnfinumcrumpebat. lo extremis quoque cornibus fàm fuperiori,quàm inferiori fplendida quardampuo ¿la, &omnino á reliqtio lumine diGun&a emergebant; veluti in eademfiguradepiiiìumcernitur.Erat«$uc magna obfcurarummacularumvisin vtroque cor nu, maxime autem in inferiori jquarum maiorcs, & obicuriores apparent, qua: termino lucis, & tenebrarum vicitìiores funtjrcmoriorcs vero obfeura: minus, ac magis diluca;. Sempertamen, vt fupra quoque merninimus, nigricans ipfitì5 macula: pars.ijradiauonis Solaris locum rcfpiüc, íplendidiorraolimbus η ¡gritan rCm m'acularivin partcífipli aueiià, & Lunx tenebrofam p'Jgañi-·tcíp;,scare, oraindat. Hare Lunaiis fupcrficies, qiià -teaaiJlefepûai íútipáis cauda cçruJéis oc lilis; diífinguitür, vitccis iilis; vafeulis redditur coníimilis ; qnal diihuc 'talentfià in i n g j ä a n i immiflà pcrfraêhim, vndbfani^; fuperfkiem acquirim^ex quo á vulgo Glaciales Ciati nuncunpantur- Verum magna eiufdcfti Luna:macula: confimili moda incemipt».·, atquc lacunis, 3i canincutijs confa-rx minime ceruûtun led magis a-quabiks, &vniformes; iòlummodo ennn clarioribusnonnullis arpôlishic iliàc fcatentj adcó vt fi quis'veterem Pythagoreorum ièritentiamcxfufcitare velie, Lur.am fcilicectffeqnafiTcilurem alteram, eius pars luddior tetrenam fuperficicm , obfcurior v e t o aqueam magis congrue reprxfcntet : mihi autem du« biuin fuitnunquam,Terrertris globìi longè confijcÄi,arqueâradijs Solaiibusperfuli, terrea!» fuptrhcic clariorem, obfcurior cm vero aqueam /eie in confpe-
Doppelseite 8v u. 9r, Galilei, 1610, Venedig
Licht und Finsternis auf d e m M o n d e unregelmäßig u n d windungsreich ist, sondern - was in noch größeres Erstaunen versetzt - es erscheinen sehr viele leuchtende Spitzen innerhalb des finsteren Mondteiles, die völlig von der erleuchteten Z o n e getrennt u n d losgerissen u n d über einen nicht geringen Zwischenraum von ihr entfernt sind." 5 1 In d e m T i e f d r u c k ist die Grenze zwischen sich aufhellenden Einsprengseln der dunklen M o n d z o n e u n d explizit leuchtenden Flecken fließend, aber z u m i n d e s t sechs deutlich betonte „ S p i t z e n " sind zweifelsfrei auszumachen. O h n e einen Absatz einzuziehen, sucht Galilei daraufhin die in der Zeit sich vollziehende M e t a m o r p h o s e der beleuchteten Flecken wie ein filmisches P h ä n o m e n zu begreifen: „Sie n e h m e n , wenn m a n einige Zeit wartet, allmählich an G r ö ß e u n d Leuchtkraft zu, u n d nach zwei oder drei S t u n d e n vereinigen sie sich mit d e m übrigen leuchtenden u n d jetzt größer gewordenen Teil. Währenddessen jedoch entzünden sich innerhalb des finsteren Teils i m m e r neue Spitzen, allenthalben gleichsam e m p o r sprießend, wachsen u n d verbinden sich schließlich mit derselben leuchtenden Fläche,
„Verum non modo tenebrarum & luminis confinia in Luna ina^qualia, ac sinuosa cernuntur, sed, quod maiorem infert admirationem, permultae apparent lucidae cúspides intra tenebrosam Lunae partem omnino ab illuminata plaga diuisas, & auulsse, ab ea què non per exiguam intercapedinem dissit«" (Galilei, 1610, Venedig, S.8v; vgl. Opere, Bd. ΠΙ/l, S.64, Ζ. 4-8; Übers, nach Galilei, 1980, S. 89). Zu Galileis Sprache: Casini, 1984. 51
V DIE M O N D E DES SIDEREUS
NUNCIUS
die sich noch weiter ausgedehnt hat. Ein Beispiel dafür liefert uns dieselbe Abbildung [figura]."52 Ausdrücklich verweist Galilei hier auf die Radierung von Seite 8r zurück, bei der der Betrachter entweder einen der weit in die Dunkelzone vorgeschobenen Lichtflecken imaginativ in eine Phase zurückversetzen muß, in der diese geschlossene Fläche noch aus Einzelpunkten bestand, oder aber sich vorstellen muß, wie sich die vorgeschobenen hellen Flecken zu geschlossenen Großflächen vereinigen. Nach einem erneuten Vergleich mit Prozessen, wie sie sich auf der Erde bei Sonnenaufgang abspielen, beschreibt Galilei die Verbindung von zunächst isolierten Lichtinseln am Beispiel der großen, bereits im Brief des 7. Januar dargelegten Ausbuchtung über dem südlichen Lichthorn, 53 um schließlich in seiner Beschreibung der Sichelspitzen nochmals die Korrespondenz von Text und Bild zu betonen: „Auch an den Hornenden, am oberen wie am unteren, tauchten einzelne glänzende und völlig vom übrigen Licht getrennte Punkte auf, wie man es auf derselben Abbildung ¡figura] abgebildet sieht, und in beiden Hörnern gab es eine starke Ballung dunkler Flecken, besonders in dem unteren." 54 Die Abtönung der in der Lichtzone gezeigten Flecken ist ebenfalls in Text und Bild aufgenommen: „Von ihnen erscheinen diejenigen, die der Grenze zwischen Licht und Finsternis näher liegen, größer und dunkler, die entfernteren dagegen weniger dunkel und verwaschener. Immer aber schaut, wie ich auch oben erwähnt habe, der schwarze Teil des Fleckens selbst in die Richtung der Sonnenbestrahlung, während ein glänzender Saum den schwarzen Flecken auf der der Sonne abgekehrten und der finsteren Mondzone zugewandten Seite umgibt." 55 Galileis literarische Neigung wird nochmals im folgenden Vergleich der Flecken des Mondes mit Pfauenaugen und jenen „Eisbechern" deutlich, die er bereits im Brief des 7. Januar zur metaphorischen Beschreibung der großen Kraterfelder benannt hatte: „Diese Mondoberfläche, wo sie mit Flecken - wie der Schwanz des Pfaus mit dun-
52
„qua; paulatim al ¡qua interiecta mora magnitudine, & lumine augentur, post vero secundam
horam, aut tertiam, reliquie parti lucida:, & ampliori iam facta: iunguntur; interim tarnen alia:, atque alise hincinde quasi pullulantes intra tenebrosam partem accenduntur, augentur, ac demum eidem luminosa; superficiel magis adhuc extensa:, copulantur. Huius exemplum eadem figura nobis exibet" (Galilei, 1610, Venedig, S. 8v; vgl. Opere, Bd. I I I / l , S. 64, Z. 8 - 1 4 ; Übers, nach Galilei, 1980, S. 89). 53
Opere, Bd. X, S. 275, Ζ. 79 - S. 276, Ζ. 90.
54
„In extremis quoque cornibus tàm superiori, quam inferiori splendida quœdam puncta, &
omnino à reliquo lumine disiuncta emergebant; veluti in eadem figura depictum cernitur. Eratque magna obscurarum macularum vis in vtroque cornu, maximè autem in inferiori" (Galilei, 1610, Venedig, S.9r; vgl. Opere, Bd. III/l, S.64, Ζ. 3 4 - S . 6 5 , Ζ. 4; Übers, nach Galilei, 1980, S.90). 55
„quarum maiores, & obscuriores apparent, quae termino lucis, & tenebrarum viciniores sunt;
remotiores vero obscurae minus, ac magis dilutae. Semper tarnen, vt supra quoque meminimus, nigricans ipsius maculae pars irradiationis Solaris locum respicit, splendidior vero limbus nigricantem maculimi in parte Soli auersa, & Luna: tenebrosam plagam respiciente, circundat" (Galilei, 1610, Venedig, S. 9r; vgl. Opere, Bd. III/l, S.65, Z. 4 - 9 ; Übers, nach Galilei, 1980, S.90f.).
5. TEXT UND BILD Z U M M O N D
„ OBSERVAT. SIDEREAS Arm datnram. IrcUiorcs ialuper in Luna ccinmru-nu η t m l i ,
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Abb. 149
Seite 9v, Galilei, 1610, Venedig, Sidereus Nuncius ML
165
VII DIE ZEICHNUNGEN DES SÌDEREUS NUNCIUS ML
Dasselbe gilt für den Innenbereich des Globus, der wie von einem Gewitter erfüllt erscheint. In der oberen Sonnenhälfte sind wie bereits in der New Yorker Zeichnung der Seite 8r horizontale Streifen eingesetzt, über die konsistentere, sich verdickende Brauntönungen gelegt sind. In der unteren Zone sind die kurvig gezogenen Kraterränder mit u m so größerem Verve gemalt, als durch die weiter beschienene Fläche mehr Platz zur Verfügung stand. Von der unteren Hälfte der Nachtseite aus sind erneut lange Pinselstriche schräg gezogen, u m in der oberen Zone in ein konvulsisches Geknäuel von Dunkelzonen u n d Aufhellungen überzugehen. Besonders auffällig erscheint, daß sich das tiefste Dunkel im Bereich der Scheidelinie von Tag u n d Nacht einstellt, wohingegen sich die weitere Nachtsphäre zumindest im unteren Bereich nach links hin aufhellt u n d damit das Phän o m e n des „zweiten Lichtes" wiedergibt. 18 In besonderer Weise springt die durchgezogene, eine plakative Fernwirkung erzeugende Trennlinie von Tag u n d Nacht ins Auge. In ihrer Entschiedenheit ist sie im Florentiner M o n d 3 zumindest angedeutet (Abb. 117). Unterhalb des oberen Pols schräg nach rechts unten laufend, sich dann verdünnend, ab der Mitte wieder auftauchend u n d sich im unteren Bereich in die Zone eines tiefen Braunes erweiternd, ist hier eine ähnlich akzentuierende, eingedickte Trennlinie zu erkennen. Reziprok gilt dasselbe für die Helligkeit, mit der die beiden Lichthörner der Zeichnung 9v des Sidereus
Nuncius
ML in der oberen Hälfte in das Dunkel stoßen. Die Strahlkraft ist so stark, daß der Betrachter unwillkürlich nach weißem Farbauftrag sucht. Die Lichtstärke wird jedoch auch hier allein durch das Freilassen des weißen Grundes erzeugt. In ähnlicher Markanz schießen die Lichtklauen auf der zwei Tage zuvor geschaffenen Florentiner Zeichn u n g in die Nachtzone. Darin, daß die hellen Flecken nicht durch Aufträge, sondern durch Aussparungen entstanden sind, liegt das vielleicht signifikanteste Formmotiv, das trotz der Unterschiede in der Geschwindigkeit u n d Sorgfalt des Eintrages auf dieselbe H a n d schließen läßt. Ein besonderes Problem bietet der bereits mehrfach thematisierte Riesenkrater der unteren Mondhälfte, den Galilei zwar beschrieben," aber in keiner der Florentiner Zeichnungen dargestellt hat (Abb. 103). Entsprechend der Insistenz der N e w Yorker Zeichn u n g ist dieses Gebilde in der Radierung jedoch massiv herausgearbeitet (Abb. 150). Die durch parallele Linien charakterisierten Eintrübungen der Sonnenseite, die nach links gehenden Lichtarme, die Kraterfelder der unteren Zone sowie die Lichtflecken in der Nachtsphäre zeugen vom Versuch, eine möglichst genaue Umsetzung der Zeichn u n g in das M e d i u m des Druckes zu gewährleisten. 18
Reeves, 1997, S. 104-112. „Vnum quoque obliuioni minimè tradam, quod non nisi aliqua cum admiratione adnotaui: medium quasi Luna; locum à cauitate quadam occupatum esse reliquis omnibus maiori, ac figura perfecta; rotunditatis; hanc prope quadraturas ambas conspexi, eandemque in secundis supra positis figuris quantum licuit imitatus sum" (Galilei, 1610, Venedig, S. 11; vgl. Opere, Bd. III/l, S.67f.; Übers, nach Galilei, 1980, S. 93). 15
3. DIE PRIORITÄT DER ZEICHNUNGEN
Abb. 1 5 0
Mondphase, Radierung, Galilei, 1610, Venedig, S. 9v
Wie bereits der Nachthimmel des Mondes von Seite 8r gezeigt hat (Abb. 95), kommt die verschattete Zone der Darstellung von Seite 9v der hochdifferenzierten Zeichnung nicht annähernd nahe. Auch hier sind parallel geführte Linien gewählt, welche die breite Pinselführung der unteren Nachtzone aufnehmen und über die gesamte verdunkelte Hemisphäre ziehen. Im Hintergrund des Weltraumes ist es schließlich gelungen, eine gleichmäßige Eintrübung vorzunehmen.
Seite lOr Die Zeichnung der Seite lOr (Abb. 151) hält die reziproke Situation des abnehmenden Mondes fest. Sie wirkt eine Spur konsistenter als die von Seite 9v, als habe sich der Pinsel stärker kontrollieren wollen. Seinen furiosen Stil hat er dennoch nicht verloren. Als neues Formelement kommen die am Rand des Mondes kreisend geführten, breiten Grundierungsstriche hinzu, die gleichermaßen auf der Sonnen- wie Nachtseite eingetragen sind. Neu sind auch die durch breite, horizontal geführte Linien charakterisierten Kraterschatten sowie die nur schwache Eintönung des Hintergrundes. Unter den Florentiner Zeichnungen entspricht Mond 4 dieser Phase am ehesten (Abb. 118). Angesichts der Nähe der beiden Darstellungen springt um so mehr ins
VII DIE ZEICHNUNGEN DES SIDEREUS
NUNCIUS
ML
Ha-c caäem maculi ante fecnnctom quadratura^ nigrioribus quibuldarntcrminis circumuallataconlpicitur, qui taqqUám àltiifimâ montium iugacx parte Soliauerfa oj>fcurSorcs apparent, quá vero Solemre* fpiciunt lucidiores extant > cuius oppofituin incauitatibusaccidit, quarum pars Soli auerfa fplcndens appare: , obfcura vero fac vmbrofa> qua: ex parte Solis iìta eft . Imminuta deìnde luminofa iuperficie, cum primum tota fermeditfamacula tenebriseítobduíte, clariora mottumdoria eminenter tenebras fcandunt. Hanc duplican apparcntiaui fequentcs iìguriE corniti o (tram.
C
Abb. 1 5 1
»
Seite lOr, Galilei, 1610, Venedig, Sidereus Nuncius ML
vnum
3. DIE PRIORITÄT DER ZEICHNUNGEN
Abb. 1 5 2
Mondphase, Radierung, Galilei, 1610, Venedig, S. l O r
Auge, daß der in der Mitte sitzende Riesenkrater in der Florentiner Fassung fehlt, wohingegen ihn die Zeichnung von Seite lOr erneut mit besonderem Aufwand herausstellt. Auch der Tiefdruck hebt ihn gemäß der Erregung hervor (Abb. 152), mit der Galilei diesen Krater im Brief vom 7. Januar 1610 als eine entscheidende Entdeckung hervorgehoben hat (Abb. 86). Die durch parallel geführte Linien charakterisierte Schattenzone der Radierung entspricht der gezeichneten Fassung. Dies läßt die Darstellungen des Briefes, die New Yorker Zeichnung und den Druck als einen Corpus erscheinen, von dem sich die Florentiner Fassung absetzt. Im Detail aber unterscheiden sich auch die Radierung und die New Yorker Zeichnung. Die Differenz bezieht sich vor allem auf die verunglückte Gesamtanlage der Zeichnung, bei deren Eintragung die Grundorientierung verloren ging. Der Beschreibung Galileis gemäß verlangt der große Krater die Gleichheit von Tag- und Nachtsphäre, und diese Voraussetzung erreicht die Zeichnung, bei der die Schattensphäre zu klein geraten ist, im Gegensatz zur Radierung nicht. Dieser führt korrekt aus, was der Zeichnung nicht gelingt. Der Grund dieser einschneidenden Abweichung wird sich im Zuge der Erörterung des Ubertragungsverfahrens zeigen.
170
VII DIE ZEICHNUNGEN DES SIDEREUS
Abb. 153
NUNCIUS ML
Seite lOv, Mondphasen, Galilei, 1610, Venedig, Sidereus Nuncius ML
3. DIE PRIORITÄT DER ZEICHNUNGEN
Abb. 154
Mondphase, Radierung, Galilei, 1610,
Venedig, S . l O v oben
Abb. 155
Mondphase, Radierung, Galilei, 1610,
Venedig, S . l O v unten
Seite lOv, obere H ä l f t e Die in ihren malerischen Mitteln vielleicht differenzierteste Z e i c h n u n g stellt der M o n d der oberen Hälfte von Seite 1 0 v d a r ( A b b . 153). Das dunkle Viereck des Weltraumes ist mit breiten, schnell gezogenen Strichen gefüllt, die parallel zu den Seitenlinien nach u n t e n gezogen sind. Links oben ist die Ecke des Quadrates weitgehend freigelassen, so daß sich ein Dreieck abzeichnet; links unten hält eine Reihe fahriger Striche das Viereck in der Balance, rechts oben dunkelt die Farbe des Weltraumes tiefer ein, o h n e daß eine Struktur der Pinselführung sichtbar würde, u n d rechts u n t e n n i m m t der Zwickel die R u n d u n g des Mondkreises auf. Die dunkle Sphäre des M o n d e s ist durch breitflächige, von links nach rechts schräg nach oben gerichtete Striche charakterisiert, die entweder den Blick auf den hellen Boden freigeben oder durch mäandrierende Linien eingedunkelt werden. In der größeren, hellen Sphäre finden sich alle Varianten von wolkenhaft großflächigen Gebilden über schmale Einzelstreifen bis hin zu d u r c h Parallelstreifen gebildeten Flächen. I m Einklang mit der insgesamt helleren Farbwahl u n d der feineren Strichfiihrung ist die Trennungslinie von N a c h t u n d Tag zwar deutlich eingetragen, aber weniger scharf akzentuiert als in den Z e i c h n u n g e n zuvor. Der auskragende, leicht gestauchte Halbring, der sich als dunkler Bügel weit in die Lichtzone schiebt, ist dagegen stark betont. Die Florentiner Z e i c h n u n g 5 (Abb. 119) zeigt nicht dieselbe, aber eine ähnliche Kippung der Achse, wie sie der M o n d in der A b e n d d ä m m e r u n g vorfuhrt. D a beide nicht deckungsgleich sind, ist jedoch auszuschließen, d a ß die eine von der anderen kopiert wurde. Einen markanten Unterschied weist die dunkle A u s b u c h t u n g auf, die von einem gedrückten Halbring auf der Florentiner Tusche in ein gestrecktes Oval verwandelt ist. Wie seine acht in der dunklen Sphäre aufleuchtenden Flecken nahelegen, repräsentiert
171
172
Abb. 156
VII DIE ZEICHNUNGEN DES SIDEREUS
NUNCIUS ML
Seite lOv, untere Mondphase, Galilei, 1610,
Abb. 157
Riesenkrater, Det. aus Abb. 156
Venedig, Sidereus Nuncius ML, Det. aus Abb. 153
der Florentiner Mond eine Phase vor dem Zeitpunkt der Zeichnung des Sidereus Nuncius ML, auf dem diese Lichtpunkte nicht mehr vorhanden sind. Andererseits scheint sich die Nachtwand der Florentiner Darstellung im Bereich des großen Ringes bereits weiter vorgeschoben zu haben, was dieser Bewegung entgegenläuft. Hier liegt nach wie vor eine Unklarheit, die, wie erwähnt, auch bereits die Reihenfolge der Florentiner Monde 4 und 5 betroffen hat. 20 Die entsprechende Radierung dagegen (Abb. 154) entspricht der oberen Zeichnung von Seite lOv des Sidereus Nuncius ML (Abb. 153). Der relativ helle Hintergrund, der erneut die nur leicht eingerauhte, von kleinen Punkten und Strichritzungen überzogene Variante der Darstellung des Weltraums wählt, die dem Beige des Papiers entgegenkommt, korrespondiert ebenfalls zur Zeichnung des Sidereus Nuncius. Die Schrägstellung der Achse des Mondes, die zunächst mechanisch übernommen war, ist in der Radierung jedoch in die Senkrechte gebracht, offenbar um die Harmonie der Seite zu gewährleisten.
Seite 1 Ov, untere Hälfte Die abschließende Zeichnung der unteren Hälfte von Seite lOv weist die fahrigsten Züge auf (Abb. 156). Den Hintergrund des Weltraumes hat sich der Zeichner erspart, 20
S. o. S. 137, Anm. 10.
3. DIE PRIORITÄT DER ZEICHNUNGEN
Abb. 1 5 8
Mondphase 5, Beginn der Schatten-
zone, Tuschzeichnung, Galilei, 1610, BNCF, Gal.48, F. 28r, D e t . a u s A b b . 1 1 9
und die Schattenseite ist durch großflächige Pinseleinträge geprägt, die parallel zum Rund des Kreises geführt sind, um zur Mitte hin einzuschwingen. Im Bauch der Nachtzone hellt sich eine große Fläche auf. Auf der Sonnenseite liegt über der hellen Grundierung eine matt changierende Schicht, die zum unteren Rand hin durch kurvig geführte, dunkle Schwünge eingebräunt ist. Auffällig wirken die besonders dick eingetragenen Parallelstreifen des Riesenkraters, durch welche die Schattenbildung hervorgehoben ist (Abb. 157). Sie erscheinen zunächst befremdlich, aber exakt diese Parallelstreifen bilden in der Florentiner Zeichnung 5 (Abb. 158) die Zone des Beginns der Nachtsphäre. Auch dort sind dicke Linien parallel gezogen und zu einer Fläche tiefer Eindunklung zusammengeführt. Dieses Detail bezeugt, daß die zunächst plump wirkenden Pinselbewegungen in nuce auch in jenen Florentiner Zeichnungen anwesend sind, für die Galilei mehr Zeit und Sorgfalt aufwenden konnte. Kein Nachahmer oder Fälscher hätte ein solches, nur bei genauer Betrachtung erkennbares Detail wiederholen können. Nach Maßgabe der Möglichkeiten entsprechen sich die Zeichnung von Seite lOv und die Radierung erneut so getreu wie möglich (Abb. 155). Seine vier Darstellungsprinzipien, die aus schräg gestellten Linien gebildete Nachtzone, die durch horizontale Parallellinien entwickelten Dunkelzonen der Sonnenseite, die kurvig entwickelten Krater und die ausgesparten Lichtflecken hat Galilei nochmals routiniert eingesetzt.
VII DIE ZEICHNUNGEN DES SIDEREUS NUNCIUS ML Das Gesamtbild In immer neuen Zusammenstellungen sind die Zeichnungen des Sidereus Nuncius
ML
aus verschiedenen, relativ konstanten Maltechniken aufgebaut. Die Basis bietet eine helle Grundierung, über die dunklere Farbschichten in unterschiedlicher Intensität aufgetragen sind. Hinzu k o m m e n parallele, breitflächig geführte Streifen, die große Flächen des Weltraumes oder der Nachtseite auszufüllen suchen u n d die sich in ihrem Verlauf entweder am viereckigen Rand oder dem Ring des Mondkreises orientieren. Parallel geführte Striche deuten vorzugsweise im oberen Bereich der beleuchteten Sicheln die großen amorphen Gebilde an; von ihnen setzen sich kurvige,
fingerartige
Parallelstreifen ab, durch welche die Schattenzonen großer Krater charakterisiert werden. Z u d e m ist die Trennungslinie von Tag u n d Nacht durchweg scharf akzentuiert. Ein besonderes Charakteristikum liegt schließlich in den hellen Lichtflecken der Schattenzonen, die nicht durch Auftrag von weißer Farbe, sondern durch das Aussparen von Farbe durch den beigen Papiergrund bewirkt werden. Die hastige Darstellungsweise der N e w Yorker Zeichnungen entwickelt einen anderen Gestus als ihn die ruhiger und aufwendiger gestalteten Florentiner Zeichnungen vorführen. Je tiefer sich der Blick den Strukturelementen der Malweise nähert, desto zwingender wird jedoch die Einsicht, daß in beiden Fällen dieselbe H a n d am Werk war. Die Zeichnungen des Sidereus Nuncius ML bieten den Eindruck einer aus Zeitnot geborenen Mischung von Präzision u n d Wildheit. Es ist gerade das Atemlose, das dem Zweck eines Kopisten oder Fälschers entgegengestanden hätte. Ein solcher hätte die stilistische Distanz zwischen den Florentiner disegni u n d den New Yorker Buchzeichnungen peinlich zu vermeiden versucht. Gerade der abweichende Zugriff bekräftigt daher den Status der Buchzeichnungen als authentische Schöpfungen Galileis. Die Unterschiede im Gesamteindruck waren eine Funktion der differenten Materialien u n d Ziele. Das stärker durchlässige Papier des Buches m u ß t e zügiger als das Papier der Manuskriptausgabe bemalt werden, u n d während die Florentiner Zeichnungen für sich standen, hatten die Zeichnungen des Sidereus Nuncius ML eine dienende Funktion. W ä h r e n d die Florentiner M o n d e in keinem Fall als Vorlage der Radierungen anzusprechen sind, stimmen die N e w Yorker Tuschzeichnungen bis auf die Ausnahme der Seite lOr mit der Gestaltung der Tiefdrucke überein. Die höhere Komplexität der Zeichnungen gegenüber den Radierungen legt nahe, daß diese nach den Zeichnungen geschaffen wurden.
4. DIE AURA DES SCHMUTZIGEN
4. Die Aura des Schmutzigen Als unmittelbare Zeugnisse von Galileis Stil bieten die Zeichnungen des Siderens Nuncius ML wie auch die Stiche ein unschätzbares Dokument seiner Denk- und Ausdrucksformen. Die Hast, in der sie geschaffen wurden, hat ihnen einen besonders authentischen Charakter vermittelt. Es ist keine Projektion, in den überaus modern wirkenden, wie tachistisch hingeworfenen Licht- und Schattengebilden der New Yorker Zeichnungen eine Innenschau von Galileis Persönlichkeit zu erkennen. ,
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4. GALILEI ALS STECHER?
Abb. 197
Mondphase, Radierung,
Galilei, 1610, Venedig, S. l O v oben
der Eintragung einer weit durchgezogenen, absurd isolierten Vertikallinie, die sich am rechten Kreisrand über eine große Fläche des dunklen Kreissegmentes hinzieht, ist die H a n d über den Kreisrand hinaus ausgerutscht, so daß von der Mitte ein einzelner Strich nach rechts unten in den Weltraum schießt. Bis zur surrealen Auflösung sind diese weit gezogenen Schattenlinien auf dem Umschlag des Briefes an Brengger getrieben, auf dem Galilei denselben Status der Tag- und Nachtgleiche in zwei Kritzeleien festgehalten hat (Abb. 198). Was sich hier
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Vili DIE HERSTELLUNG DES SIDEREUS
NUNCIUS
zeigt, geschieht bis heute auf Briefumschlägen, Papierservietten und Rechnungen. Gerade in dieser fahrigsten aller Mondzeichnungen wird das sich gleichsam hinwischende, großzügig grandiose Prinzip seiner Hand sichtbar. Die Spiralen, durch die Galilei die Nachtzone andeutet, entsprechen den weit gezogenen Linien der dunklen Fläche etwa der Radierung von S. lOv oben (Abb. 197). Besonders die am rechten Kreisrand eingetragene Spirale, deren Ende in den Weltraum ausrutscht, besitzt einen ähnlichen Zug. Die Lichtzone birgt schließlich die differenzierteste Struktur aller Monde. Das wie ein Halbring nach links gehende Schattengebilde der oberen Hälfte füllt einer jener Punktschwärme aus, die sich sporadisch auf der gesamten Fläche zeigen; die Krater sind wie gewohnt durch kurvige Parallelschwünge gebildet, und die dunklen Großflächen weisen Teppiche von gerade geführten Parallellinien auf, die in ihren Abständen allerdings schwanken. In diesem gesamten Areal zeigt sich exemplarisch sowohl der dilettantische Charakter der Radierungen wie auch ihr in sich selbst sicherer, formstarker und gestaltbewußter Zug. Der Kreis des Mondes Seite 1 Ov unten (Abb. 199) ist oben zweimal und im linken unteren Bereich gleich mehrfach nachgezogen. Diesem Verfahren entspricht auch der Umstand, daß die Trennlinie von Tag und Nacht in der oberen Hälfte korrigiert ist; so wurde in die bereits bestehende Eintrübung im Bereich der beiden nach rechts gehenden Lichtkrallen die endgültige Trennlinie leicht nach oben gesetzt akzentuiert, so daß sich eine Art Schatteneffekt ergibt. Auf Grund des dilettantischen Charakters dieser Tiefdrucke ist ausgeschlossen, daß sie von einem ausgebildeten Stecher geschaffen wurden. Zweifelsfrei sind zudem die Spuren einer erbarmungslosen Zeitnot, die es nicht gestattete, auch nur die besonders eklatanten Schwächen zu beseitigen. Da dies nicht geschehen ist, wurden die Radierungen offenkundig erst zwischen dem 4. und 10. März 1610 geschaffen, als Galilei seine Jupiter-Beobachtungen beendet hatte. Für jeden Mond waren folglich etwa eineinhalb Tage Zeit, was eine knappe, aber ausreichende Spanne bedeutete. Das außerordentliche Wohlwollen, auf das Galilei drei Jahre zuvor von Seiten der Setzer Baglionis getroffen war, könnte bei diesem Vorgang mitgespielt haben. 31 Daß ein Mitarbeiter von Baglionis Druckerei die Radierungen angefertigt hätte, wird schon durch die Rekonstruktion der Zeitabläufe unwahrscheinlich, denn er hätte früher beginnen und folglich auch in angemessener Zeit auf die Schwächen reagieren können. Zudem fehlt von einem solchen jede Spur, und soweit die rekonstruierte Buchproduktion Baglionis einen Schluß zuläßt, arbeiteten in seiner Druckerei nur Holzschneider. Demgegenüber spricht ein Bündel von Gründen für die Autorschaft Galileis. Der erste liegt darin, daß Galilei unter allen Naturforschern seiner Zeit vermutlich die geschicktesten Hände besaß. Sein Vorsprung in der Erkundung des Himmels lag darin, 31
Opere, B d . X I X , S. 576; s. o. S. 116.
4. GALILEI ALS STECHER?
Abb. 1 9 9
Mondphase, Radierung,
Galilei, 1610, Venedig, S. l O v unten
daß er seine Teleskope selbst zu bauen verstand; dies sicherte ihm seine Monopolstellung bis in die dreißiger Jahre. Hätte Galilei allein über diese praktischen Fähigkeiten verfügt, so wäre er doch als forschender Handwerker und Techniker in die Geschichte der Naturwissenschaften eingegangen; gleichsam nicht als Vorgänger Newtons, sondern als Vorbild Robert Hookes, des genialen Technikers der Royal Academy. Was ihm seine singuläre Stellung verschaffte, war die Verbindung einer überragenden theoretischen Begabung mit einer überaus geschickten Hand. Seine Fertigkeiten bezogen sich auch auf Metall. Seit den neunziger Jahren hat Galilei auch in diesem Material gearbeitet bzw. arbeiten lassen. Er war durch seine Konstruktion eines militärisch nutzbaren geometrischen Zirkels zur Maß- und Lagebestimmung, des Compasso geometrico e militare, mit der Arbeit in Metall vertraut. Auf die Schenkel dieses Instrumentes mußten Geraden, Skalen, Zahlen und Buchstaben eingeritzt werden, was eine ähnliche Arbeit bedeutete wie das Eingravieren von Linien in die Kupferplatte. Wie Galilei im späteren Streit um die Priorität betonte, hatte er den Kompaß bereits im Jahre 1597 perfektioniert, 32 bevor er im folgenden Jahr in seinem Paduaner Haus durch den Ingenieur Marcantonio Mazzoleni eine Werkstatt einrichten ließ, um sich durch die Herstellung und den Vertrieb von Instrumenten aller Art, darunter Sextanten und vor allem Exemplare des Compasso, zusätzliche Einkünfte zu verschaffen. 33 Bei den besonders wertvollen Instrumenten aber behielt sich Galilei selber vor, die Metallplatten zu markieren. So versicherte er im November 1605 der Großherzogin der Toskana, Christine von Lothringen, daß er die
32
O p e r e , Bd. II, S. 533, Z . 3 - 5 ; vgl. Caffarelli, 1992.
33
O p e r e , Bd. XIX, S. 131, Z. 2 - 4 ; C a m e r a t a , 2 0 0 4 , Galileo, S. 113. Freund!. Hinweis von Wil-
liam S. Shea.
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für sie bestimmten Silberkompasse nach Erhalten „markieren und perfekt zurücksenden" würde. 34 Ohne frage war Galilei mit dem Einritzen von Metallflächen vertraut. Der stärkste Grund dafür, daß Galilei die Radierungen selbst anfertigte, liegt jedoch in ihrer stilistischen Verbindung mit den Federzeichnungen sowie mit Eigenarten, die auch in den Tuschen sichtbar wurden. Trotz ihrer Schwächen zeugen die Monde von dem Stilprinzip, noch im Unvermögen die einfachsten Mittel so unbeirrt und frei einzusetzen, daß sich die Geringschätzung mit Anerkennung paart. Sie sind nicht die tastenden Versuche eines Anfängers, der sich gleichsam mit zittriger Hand einem neuen Medium nähert, sondern eines Ego, das auf seine Stärken selbst im Mißlingen setzt. Hierin liegt die Spezifik der Hand Galileis in jedem Medium.
Abb. 200
Untere Hemisphäre mit Riesenkrater,
Galilei, 1610, Venedig, Sidereus Nuncius ML, S.9v, Det. aus Abb. 149
Die schwarzen Farbpartikel und die Radierungen Wie erwähnt, wäre es theoretisch möglich gewesen, daß Galilei die Zeichnungen nachträglich, etwa aus Anlaß der Aufnahme in die Accademia dei Lincei, in die von den Graphiken noch freien Bogen Β und C übertragen hätte. Hierin läge eine so einfache wie schöne Erklärung, die weitergehende Fragen erübrigt hätte. Die gegen diese Annahme sprechenden Indizien werden jedoch schließlich durch ein rätselhaftes Phänomen bestätigt, das sich dem Auge erst bei genauer Betrachtung öffnet. Es handelt sich um ein schwarzfarbiges Material, das auf signifikanten Bereichen der Zeichnungen über dem Tuscheauftrag liegt. Beim Blick durch die Lupe etwa auf die Seite 9v (Abb. 200) zeigt sich, daß überall dort, wo die Hauptlinien betont werden sollten, über der Tusche eine Ablagerung des schwarzen Materials liegt. Zusätzlich finden sich diese Ablagerungen auf nahebei liegenden Bereichen des Papiers, 34
„[...] segnare et rimandare perfetti" (Galilei an Christine von Lothringen, 1 1 . 1 1 . 1 6 0 5 , in:
Opere, Bd. X, S. 149, Ζ. 11). Vgl. Valeriani, 2001, S. 285.
4. GALILEI ALS STECHER?
Abb. 201
Riesenkrater, Det. aus Abb. 200
die durch den zuvor erfolgten D r u c k des Textes aus der Blattebene herausgehoben w u r d e n , also als k l e i n e g e w ö l b t e Stellen die r ü c k s e i t i g g e d r u c k t e n B u c h s t a b e n spiegelb i l d l i c h a b z e i c h n e n . S i e w u r d e n n i c h t g e w o l l t , s o n d e r n als u n g e w ü n s c h t e r N e b e n effekt geschwärzt. D a d a s s c h w a r z e M a t e r i a l d a n k des f e i n t e i l i g e n partiellen A u f t r a g s a u f d a s r a u e P a p i e r u n g l e i c h m ä ß i g verteilt ist, b i l d e t es n i c h t überall d u r c h g e h e n d e F l ä c h e n o d e r L i n i e n . E s läßt a u f d e n ersten B l i c k a n D r u c k e r s c h w ä r z e d e n k e n , zeigt in d e r U n t e r s u c h u n g aber eine a m o r p h e , d u n k l e Substanz, die a u f g r u n d der Interferenz mit unterliegenden Schichten bislang nicht genau analysiert werden konnte. Zerstörungsfreie c h e m i s c h e U n t e r s u c h u n g e n k o n n t e n j e d o c h K n o c h e n s c h w a r z u n d a u c h G r a p h i t auss c h l i e ß e n , w o m i t z u m i n d e s t d a s d e m P a p i e r u n d der T u s c h f a r b e e n t s p r e c h e n d e Alter g e s i c h e r t ist.' 1 B r ü c k l e , H a h n , S i m o n et al. D e r f o l g e n d e T e x t zur Ü b e r t r a g u n g s t e c h n i k ist m i t S t e p h a n S i m o n ( R a t h g e n - F o r s c h u n g s l a b o r , B e r l i n ) d i s k u t i e r t u n d in e n g e r A b s p r a c h e m i t Irene B r ü c k l e ( K u p f e r s t i c h k a b i n e t t , B e r l i n ) verfaßt w o r d e n .
200
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Dieser schwarze Farbauftrag hat zu dem Umstand geführt, daß die Trennlinie von Tag und Nacht besonders dunkel wirkt. Auf besonders markante Weise zeigt sich dies bei dem Ring des Riesenkraters (Abb. 201). Die von unten heraufkommende Linie der Tag- und Nachtscheide ist zunächst durch den unteren Kreisrand hindurchgezogen, um dann in einer kurvigen Bewegung durch das Rund zu laufen und eine Kreissichel zu bilden. Mit dieser Linienführung ist das Schattenreich des Riesenkraters betont, dessen Ring auf der dunklen Seite nur schwach nachgezeichnet wurde, um in der Lichtzone tiefschwarz eingefärbt zu werden. D a dieses schwarze Material über der Farbzeichnung liegt, kann es nicht als Vorzeichnung gedient haben; da es andererseits in seinen gezielt eingetragenen Zügen auf die Hauptlinien der Monde reagiert, wurde es offenkundig als Medium der Übertragung verwendet. Als Ziel bieten sich natürlich die Radierungen an. Eine Klärung ist durch die Anwendung eines Verfahrens der digitalen Bildanalyse möglich geworden, bei der die schwarzen, über der Tusche liegenden Partikel virtuell abgelöst und mit den Tiefdrucken überlagert werden. 36 Auf diese Weise kann bestimmt werden, ob zwischen den Zeichnungen, der auf ihnen liegenden Schicht schwarzer Punkte und den Druckbildern ein bestimmbares Verhältnis besteht. Schon bei der ersten Zeichnung von Seite 8r zeigt sich, daß die Ablagerungen mit den Besonderheiten der getuschten Formen korrespondieren, zumal diese von millimetergroßer Kleinteiligkeit sind (Abb. 202). Das Hauptgewicht ist auf die Trennlinie von Licht und Schatten sowie auf die rechts unten eingetragene Kraterzone gelegt. Oben ansetzend, folgt die durch den schwarzen Farbauftrag gebildete Linie dieser Scheide von Tag und Nacht, um etwa die erste Ausbuchtung des Schattens in die Lichtsphäre besonders zu betonen (Feld 1). Auffällig ist zudem, daß der große dunkle Fleck in der oberen Hälfte der Lichtzone durch schwarze Punkte markiert ist (2) und daß im unteren Segment der Lichtsichel die Kette großformatiger Krater durch einen Bogen markiert wird, der noch vor der Trennwand von Licht und Schatten liegt (3). Im Nachtbereich sind die beiden isolierten Lichtfelder markiert (4). Schließlich tritt nicht nur im gesamten Nacht- wie Schattenfeld, sondern auch außerhalb im Bereich des Weltraumes das Phänomen auf, daß die durch den rückwärtigen Buchdruck hochstehenden Buchstabenformen von dem schwarzen Material bedeckt sind (5). Der Vergleich mit der Radierung erweist, wie genau dessen Linienführung den schwarzen Ablagerungen entspricht (Abb. 203). Vom Südpol an zieht sich die Trennlinie von Tag und Nacht mit minimalen Abweichungen nach oben, und auch der helle Fleck der Nachtzone (4) erscheint analog. Besonders auffällig wirkt die Korrespondenz der vorgeschobenen Linie von Kratern (3). Eine Abweichung liegt lediglich in der Zone unter dem Nordpol vor, wo die gestochene Trennlinie von Tag und Nacht gegenüber den Schwarzformen der Zeichnung zu hoch ansetzt. Dasselbe aber betrifft die Zeichnung selbst, womit auch bei diesem Fehler eine Korrespondenz gegeben ist. 36
Diese digitale Bildanalyse (DIA) hat Sonja Krug im Rathgen-Forschungslabor durchgeführt.
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Lodovico Cigoli an Galilei, 1 6 . 9 . 1 6 1 1 , BNCF, Gal. 8 9 ,
F. 41r
Beobachtungen festhielt (Abb. 236 und 237). 28 Am 13. September hatte dieser, von Cigoli in der unteren Zeichnung festgehalten, vier parallele Flecken sowie, von diesen getrennt, einen stark dunklen Einzelpunkt gesehen; all diese Körper würden sich innerhalb der Sonnensphäre drehen und bewegen. 29 Dies gelte, so berichtet Cigoli zuvor, um so mehr für den oben eingezeichneten Fleck, den Passignano vermutlich kurz vor dem 16. September morgens von A nach Β und gegen Abend nach C habe wandern sehen. 30 In ihrer beiläufigen Summarik geradezu anrührend, bilden diese beiden Skizzen die beiden ersten Darstellungen von Sonnenflecken, die nach Harriots Auf-
28
Lodovico Cigoli an Galilei, 1 6 . 9 . 1 6 1 1 , in: O p e r e , B d . X I , S . 2 0 8 , Z . 2 - S . 2 0 9 , Z . 13; vgl.
ders. an Galilei, 2 3 . 9 . 1 6 1 1 , in: ebda., S. 212, Z . 9 - 1 7 ; Biagioli, 2 0 0 2 , S. 74, A n m . 118. 29
Lodovico Cigoli an Galilei, 16.9.1611, in: BNCF, Gal. 89, F.41r (Opere, Bd.XI, S.209, Z. 13-18).
30
Ebda., Z . 1 2 - 1 3 .
IX STILFORMEN DER SONNENFLECKEN
nahmen überliefert sind. Scheiner begann erst im folgenden Monat, seine groß angelegten Untersuchungen in jenen Zeichnungen festzuhalten, die dann in Kupfer umgesetzt wurden. Um so eindrucksvoller erscheint, daß Cigoli mit einem Punkt, parallel geführten Strichen u n d Buchstaben bereits das Grundmuster der späteren Darstellungen einsetzt. Zur selben Zeit hat er selbst über eine Woche lang die Sonne beobachtet und ähnliche Phänomene wahrgenommen, die er in einer Serie von heute nicht mehr auffindbaren Zeichnungen festgehalten u n d Galilei mitgeteilt hat. 31 Galilei fragte umgehend nach den Beobachtungen Passignanos, um diese, wie er betonte, „mit den meinen zu vergleichen". 32 Diese Bemerkung läßt keinen Zweifel daran, daß Galilei bereits zu dieser Zeit über eigene Zeichnungen der Sonnenflecken verfügte. O b diese systematisch angefertigt worden waren und welchen Umfang an Tagen sie aufwiesen, läßt sich jedoch nicht erschließen. Am Ende des Jahres berichtete Passignano, daß er Galilei eigene Zeichnungen zugesandt habe. 33 Hieraus entstand ein zweiter Prioritätenstreit. Cigoli teilte Galilei am 3. Februar 1612 mit, daß Passignano auf Grund seiner Zeichnungen annahm, die Priorität in der Erforschung dieses Himmelsphänomens zu besitzen. 34 Am 17. Februar hat sich dieser selbst an Galilei gewandt, u m auf seine seit September laufenden Forschungen hinzuweisen und mitzuteilen, daß sich die Flecken in der Sonne befänden. 35
Galileis erste Serie (12. Februar 1 6 1 2 - 3 . Mai 1612) Vermutlich hat Galilei am Tag, als er Cigolis Brief über Passignanos Ansprüche auf Priorität erhalten hatte, eigene Untersuchungen mit dem Ziel einer systematischen Erfassung begonnen. Als zusätzlichen u n d möglicherweise noch stärkeren Antrieb aber wird er Scheiners erste Veröffentlichung empfunden haben, die ihm nach Erscheinen am 5. Januar 1612 durch Welser zugeschickt worden war. 36 Die Konkurrenz gegenüber Passignano wie vor allem gegenüber Scheiner war es, die Galilei am 12. Februar 1612 herausforderte, eine neue Serie zu starten. Sie bietet die ersten gesicherten Zeugnisse aus seiner H a n d .
31
Lodovico Cigoli an Galilei, 16.9.1611, in: Opere, Bd.XI, S.209, Z. 18-19.
32
„per confrontarle con le mie" (Galilei an Lodovico Cigoli, 1.10.1611, in: ebda., S. 214,
Ζ. 18f.). 33
Domenico Passignano an Galilei, 30.12.1611, in: ebda., S.253, Z.8f.; Biagioli, 2002, S.74,
Anm. 118, auch zum Folgenden. Die Zeichnungen sind nicht überliefert. 34
Lodovico Cigoli an Galilei, 3 . 2 . 1 6 1 2 , in: Opere, Bd.XI, S.268, Z. I4f.; Biagioli, 2002, S.74,
Anm. 118. 35
Domenico Passignano an Galilei, 17.2.1612, in: Opere, Bd. XI, S.276f.
36
Galilei an Maffeo Barberini, 2.6.1612, in: ebda., S.305, Z.32f.
2. GALILEIS UND CIGOLIS REAKTIONEN
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Galilei, Serie der Sonnenflecken, Feder auf Papier, BNCF,
Gal. 57, F. 6 8 v - 6 9 r
Bis zum 3. Mai 1612 hat Galilei 23 Sonnenkreise auf vier schmalen Blättern eingetragen (Abb. 238 und 239). 37 Obwohl er Scheiners Buch vor Augen hatte, hat Galilei den systematischen Zuschnitt von dessen Darstellungen nicht befolgt; vielmehr hat er einige dieser Kreise frei gezeichnet, und selbst die mit Zirkel oder Schablone konstruierten schwanken im Durchmesser zwischen 3,6 und 5,9 cm. Erstaunlicherweise hat er das für die ersten acht Kreise eingesetzte M a ß von 5 , 0 - 5 , 1 cm bei den 37
BNCF, Gal. 57, F. 6 8 - 7 0 (Opere, Bd. V, S. 253f.).
232
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