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German Pages 594 [619] Year 2023
Hans-Jürgen Hohm Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Sozialtheorie
Editorial Der »State of the Art« der Soziologie ist in Bewegung: zum einen durch einen tiefgreifenden Strukturwandel der (Welt-)Gesellschaft, zum anderen durch einen Wandel ihres eigenen kognitiven Repertoires, der alte theoretische Frontstellungen durch neuere Sichtweisen auf Gesellschaft und Sozialität ergänzt. Die Reihe Sozialtheorie präsentiert eine Soziologie auf der Höhe der Zeit: Beiträge zu innovativen Theoriediskussionen stehen neben theoriegeleiteten empirischen Studien zu wichtigen Fragen der Gesellschaft der Gegenwart.
Hans-Jürgen Hohm (Dr. rer. pol.), geb. 1951, ist Honorarprofessor am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule RheinMain und Lehrbeauftragter an der Universität des 3. Lebensalters der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist außerdem Honorarprofessor an der Katholischen Hochschule Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen bei Problemen der Inklusion/Exklusion, Konfliktsystemen, der Entwicklung von Funktionssystemen sowie der ambivalenten Dynamik der Städte.
Hans-Jürgen Hohm
Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf Systemtheoretische Beobachtungen zur Inklusion und Exklusion
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Meiner lieben Frau Hedi und meiner lieben Tochter Tosca Meinem lieben Schwiegersohn Mark, meinen Eltern Änne und Hans, meinen Schwiegereltern Olga und Hubert, meinen Schwägerinnen Dorle, Hildegard, Lucie, Ulli und meinen Brüdern Karli und Ulli Dem Ärzteteam von Prof. Igor Tsaur und dem Pflegeteam um Jutta Anfang sowie den Physiotherapeuten Thomas Griesbach, Wladislaw Monastirski und Boris Saathoff
Inhalt
1.
Einleitung................................................................................. 11
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Weltgesellschaft.......................................................................... 13 Weltgesellschaft als umfassendes und funktional differenziertes Sozialsystem .............. 13 Keine Spitze, kein Zentrum, keine Wertegemeinschaft ...................................... 13 Primat der funktionalen Differenzierung ................................................... 14 Systemintegration ......................................................................... 17 Regional unterschiedlich schnelle Durchsetzung der funktionalen Differenzierung und ihre Folgeprobleme für die Inklusion/Exklusion der Weltbevölkerung ................... 24 2.6 Von der schichtenspezifischen vormodernen Gesellschaft zur funktional differenzierten modernen Gesellschaft ................................................................... 26 2.7 Moderne Lebenskarrieren als plurale Kombination von Selbstselektion und Fremdselektion mit riskanten Freiheiten und sozialen Ungleichheiten .......................................27 2.8 Die Pluralität gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen als Ausdruck des Kontingenzbewusstseins der Moderne ................................................. 29 3. 3.1 3.2 3.3
3.4 3.5 3.6 3.7
Funktionssysteme ....................................................................... 33 Politik. Zwischen Intervention und Evolution............................................... 33 Familie. Die moderne Kleinfamilie als interaktives Funktionssystem ......................... 51 Erziehung. Inclusive Society and Disability: Who is to be included? Some Fallacies and their Implications for the Realization of an Inclusive Educational System........................................................103 Verkehr. Die Straße als Ort automobiler Inklusion .......................................... 124 Hochleistungssport. Ein wettbewerbsorientiertes und körperbetontes Funktionssystem..... 167 Pflege. Das Pflegesystem: ein auf Pflegebedürftigkeit spezialisiertes sekundäres Funktionssystem ............................................................ 234 Wirtschaft. Die Konsumgesellschaft als Selbstbeschreibung des Wirtschaftssystems ................................................................. 292
4. Organisationen .......................................................................... 317 4.1 Wohlfahrtsverbände als Spitzenorganisationen des gesellschaftlichen Teilsystems Sozialer Hilfe ............................................................................. 317 4.2 Das Fachhochschulmilieu. Eine systemtheoretische Beobachtung ..........................351 5. Interaktionen. Zweierbeziehungen in der fortgeschrittenen Moderne Interaktionssysteme zwischen Singularisierung und eingeschlossenem ausgeschlossenem Dritten ................................................................371 5.1 Einleitung ................................................................................ 371 5.2 Allgemeine Voraussetzungen von Zweierbeziehungen ..................................... 372 5.3 Typen von Zweierbeziehungen ........................................................... 374 5.4 Fazit .................................................................................... 385 6. Kommunen ............................................................................. 387 6.1 Die Kommune als lokales Gesamtsystem: eine systemtheoretisch vergleichende Verortung ......................................... 387 6.2 Großstädte, soziale Brennpunkte als urbane Exklusionsbereiche und dezentrale Kontextsteuerung ........................................................ 397 7.
7.1 7.2 7.3 7.4
Konfliktsysteme Interventionsdilemmata supranationaler Organisationen bei Konflikten nationaler Gesellschaften: der Fall Kosovo ................................................ 411 Einleitung ................................................................................ 411 Globalisierung, Regionalisierung und systeminterne Konflikte nationaler Gesellschaften ................................................................. 411 Interventionsdilemmata supranationaler Organisationen und der Fall Kosovo ............... 414 Fragen zur Nichtintervention/Intervention in komplexe soziale Systeme .................... 418
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf ................................................ 421 8.1 Systemtheorie und Lebenslauf: Zur Dynamik der Inklusion/Exklusion von Personen in der spätmodernen Gesellschaft ......................................................... 421 8.2 Lebenslauf und frühkindliches Alter: die Dominanz der Verhäuslichung und elterlichen Selektion der lokalen Inklusion der Kinder ................................................ 458 8.3 Zur Exklusion in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft ........................ 494 8.4 Die Personengruppen des Inklusionsbereiches 2. Ordnung als Adressaten systemischer Sozialarbeit................................................................ 528 9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft Zur quantitativen Dimension sozialer Systeme ........................................... 545 9.1 Einleitung ............................................................................... 545 9.2 Funktionen von Zahlen im Kontext sozialer Systeme ...................................... 547 9.3 Interaktionssysteme und Zahlen.......................................................... 552 9.4 Formale Organisationen und Zahlen ...................................................... 563 9.5 Fazit .................................................................................... 565
Literatur .................................................................................... 569 Drucknachweise ............................................................................. 591
1. Einleitung
Das vorliegende Buch »Funktional differenzierte Moderne, Inklusion/Exklusion und Lebenslauf« verfolgt das Ziel, die Vielfalt der Beobachtungsmöglichkeiten der sozialen Realität durch die soziologische Systemtheorie zu demonstrieren. Ihre Teiltheorien – Differenzierungstheorie, Kommunikationstheorie, Evolutionstheorie, Inklusions- und Exklusionstheorie, Personentheorie, Form- und Beobachtungstheorie – werden vor allem hinsichtlich der Analyse von drei für die heutige Gesellschaft zentralen Probleme selektiv herangezogen. Zunächst (2.) geht es um die Beantwortung der Frage, wie sich die Spätmoderne kommunikativ reproduziert, wenn sie sich evolutionär als Weltgesellschaft durchgesetzt hat. Im nächsten Schritt (3.) steht die Darstellung der Independenz und Interdependenz einiger ihrer Funktionssysteme im Zentrum. Ergänzt wird sie von ausgewählten Betrachtungen der Organisationen (4.) und Interaktionssysteme (5.), der Kommunen (6.) und dem Kosovo als Beispiel für ein Konfliktsystem (7.). Stärker akzentuiert werden in diesem Kontext diejenigen sozialen Systeme, die im Mainstream der soziologischen Systemtheorie entweder weitgehend ignoriert wurden, wie beispielsweise das Verkehrssystem und die Städte, oder nur peripher behandelt werden, wie das Pflegesystem, das System Sozialer Hilfe und teilweise auch der Spitzensport. Als drittes (8.) wird die Frage thematisiert, ob und wie angesichts der rapide gestiegenen Eigenkomplexität der Gesellschaft der moderne Mensch an ihr teilnehmen kann oder von ihr ausgeschlossen wird. Mittels des Begriffsduals Inklusion/Exklusion wird herausgearbeitet, wie dies den Menschen als Personen in unterschiedlicher Form und aus unterschiedlichen Gründen gelingt oder misslingt. Dabei werden sowohl erste Ansätze einer bisher eher vernachlässigten Systemtheorie der Abweichung entwickelt als auch Goffmans Theorie totaler Institutionen und Leymanns Mobbing-Ansatz systemisch rekonstruiert. Die damit indizierte strukturelle Kopplung von Gesellschaft und Mensch wird mit Bezug auf den Lebenslauf der Personen temporalisiert. Seine generelle systemtheoretische Analyse wird anhand der frühkindlichen Lebensphase zusätzlich vertieft.
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Schließlich (9.) wird mit einigen ersten Überlegungen die Relevanz der Zahlen für die heutige Gesellschaft hervorgehoben. Da die soziologische Systemtheorie eine ausgeprägte begriffliche Architektonik aufweist, scheint es mir gerechtfertigt zu sein, dass die in den letzten drei Dekaden zu unterschiedlichen Anlässen (Kongresse, Einladung soziologisch interessierter Berufsgruppen, Vorlesungsmanuskripte, Ernennung zum Honorarprofessor) entstandenen Beiträge dieses Buches selektiv Redundanzen aufweisen. Ermöglichen sie doch ein besseres Verständnis vor allem für die Leser, die mit der systemtheoretischen Begrifflichkeit noch nicht hinreichend vertraut sind. Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
2. Weltgesellschaft
2.1 Weltgesellschaft als umfassendes und funktional differenziertes Sozialsystem Beobachtet man die heutige soziale Welt anhand der neueren Systemtheorie, so ist eine ihrer zentralen Annahmen die, dass ihr umfassendes Sozialsystem das der Weltgesellschaft (Luhmann 1975e; Luhmann 1995b; Luhmann 1997b, Bd.1, 145ff.; Stichweh 2000; Hohm 2016, 64ff.) ist. Zu ihrer Umwelt gehören zum einen die Ökologie im Sinne der Luft, Meere, Wälder, Bodenschätze etc. und zum anderen die Ökologie im Sinne der 7,8 Milliarden Menschen als organisch-psychische Systeme. Die Weltgesellschaft differenziert sich in eine Vielzahl gleichrangiger Funktionssysteme aus, deren Eigendynamik in Form der Weltwirtschaft, weltweiten Wissenschaft, des globalen Netzwerkes der Massenmedien, weltweiten Verkehrssystems, des Völkerrechtes, der Weltreligionen, Weltpolitik, bikultureller Intimsysteme und global agierender Hilfe zunehmend die territorialen Grenzen nationaler Gesellschaften und Staaten sprengt. Damit lässt sich die Einheit der Weltgesellschaft nicht mehr länger durch eine Spitze, ein Zentrum oder eine globale Wertegemeinschaft beschreiben (Luhmann 1997b, Bd.1, 24ff.).
2.2 Keine Spitze, kein Zentrum, keine Wertegemeinschaft Die Option für eine Spitze entfällt, weil weder die Teilsysteme der Weltgesellschaft nach Rängen im Sinne einer Hierarchie geordnet sind noch klar ist, wer ihre Differenz von oben und unten als Spitze zusammenhalten könnte: der UNO-Generalsekretär, der Papst oder etwa der Präsident der USA. Ebenso scheidet die Option für ein Zentrum aus, das sich gleichsam als Weltreich ohne Grenzen über den Globus ausdehnt und den Rest der Welt zur Peripherie degradiert. Dass dies selbst auf die USA als einzige verbliebene Supermacht nicht zutrifft, lässt sich schon allein daran ablesen, dass diese territorial nur ein, wenn auch der einflussreichste Nationalstaat des Weltsystems der Politik sind. Zudem müssen sie bei ihren weltpolitischen und militärischen Ambitionen zumindest die territoriale Souveränität von China,
2. Weltgesellschaft
2.1 Weltgesellschaft als umfassendes und funktional differenziertes Sozialsystem Beobachtet man die heutige soziale Welt anhand der neueren Systemtheorie, so ist eine ihrer zentralen Annahmen die, dass ihr umfassendes Sozialsystem das der Weltgesellschaft (Luhmann 1975e; Luhmann 1995b; Luhmann 1997b, Bd.1, 145ff.; Stichweh 2000; Hohm 2016, 64ff.) ist. Zu ihrer Umwelt gehören zum einen die Ökologie im Sinne der Luft, Meere, Wälder, Bodenschätze etc. und zum anderen die Ökologie im Sinne der 7,8 Milliarden Menschen als organisch-psychische Systeme. Die Weltgesellschaft differenziert sich in eine Vielzahl gleichrangiger Funktionssysteme aus, deren Eigendynamik in Form der Weltwirtschaft, weltweiten Wissenschaft, des globalen Netzwerkes der Massenmedien, weltweiten Verkehrssystems, des Völkerrechtes, der Weltreligionen, Weltpolitik, bikultureller Intimsysteme und global agierender Hilfe zunehmend die territorialen Grenzen nationaler Gesellschaften und Staaten sprengt. Damit lässt sich die Einheit der Weltgesellschaft nicht mehr länger durch eine Spitze, ein Zentrum oder eine globale Wertegemeinschaft beschreiben (Luhmann 1997b, Bd.1, 24ff.).
2.2 Keine Spitze, kein Zentrum, keine Wertegemeinschaft Die Option für eine Spitze entfällt, weil weder die Teilsysteme der Weltgesellschaft nach Rängen im Sinne einer Hierarchie geordnet sind noch klar ist, wer ihre Differenz von oben und unten als Spitze zusammenhalten könnte: der UNO-Generalsekretär, der Papst oder etwa der Präsident der USA. Ebenso scheidet die Option für ein Zentrum aus, das sich gleichsam als Weltreich ohne Grenzen über den Globus ausdehnt und den Rest der Welt zur Peripherie degradiert. Dass dies selbst auf die USA als einzige verbliebene Supermacht nicht zutrifft, lässt sich schon allein daran ablesen, dass diese territorial nur ein, wenn auch der einflussreichste Nationalstaat des Weltsystems der Politik sind. Zudem müssen sie bei ihren weltpolitischen und militärischen Ambitionen zumindest die territoriale Souveränität von China,
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Japan, Russland und Westeuropa als weiterer Zentren der Weltgesellschaft respektieren, wollen sie nicht Konflikte globalen Ausmaßes riskieren. Schließlich stößt auch eine Beschreibung der Einheit der Weltgesellschaft an ihre Grenzen, die von einem globalen Wertekonsens, sei es im Sinne einer universellen Moral, sei es im Sinne einer normativen Weltordnung, ausgeht (Luhmann 1997b, Bd.1, 70). Dass dieser nicht vorhanden ist, machen die religiösen, ethnischen und nationalen Spielarten des Fundamentalismus sowie die regional unterschiedlichen Interpretationen der Menschenrechte deutlich. Man denke diesbezüglich nur an die Positionen Chinas, Russlands und Nordkoreas im Gegensatz zu derjenigen der EU. Die Abwesenheit eines globalen Wertekonsenses basiert aber auch vor allem darauf, dass die global ausdifferenzierten Teilsysteme die Einheit der Weltgesellschaft jeweils anhand ihrer funktionssystemspezifischen Einheit von binären Codes mit jeweils unterschiedlichen Positiv- und Negativwerten kommunikativ reproduzieren und beobachten.
2.3 Primat der funktionalen Differenzierung Anstelle der abgelehnten Optionen können wir die Weltgesellschaft systemtheoretisch als paradoxe Einheit einer Vielzahl von gleichrangigen und zugleich verschiedenen global ausdifferenzierten Funktionssystemen beschreiben (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 707ff. u. 743ff.) Gleich sind die Teilsysteme, indem jedes durch Einschließung in die Gesamtgesellschaft eine für diese unerlässliche Funktion erfüllt. Ungleich sind sie dadurch, dass kein anderes Funktionssystem ihre jeweilige Funktion erfüllen kann. Sie nehmen für ihre jeweilige Funktionserfüllung somit ein Kompetenzmonopol in Anspruch. Als selbstsubstitutive Ordnungen können nur sie selbst die evolutionär als Lösung ihres gesellschaftlichen Bezugsproblems selegierten und stabilisierten Strukturen ändern. Diese sind somit ebenso kontingent wie die semantische Beschreibung ihres Bezugsproblems. So ist nur die Wissenschaft auf das Problem von theoretisch und methodisch erzeugtem Erkenntnisgewinn zugeschnitten; hat es allein die Wirtschaft mit dem Problem der Daseinsvorsorge durch gegenwärtige Herstellung und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen angesichts von Knappheit zu tun; geht es ausschließlich in der Religion um das Problem der Möglichkeit des Unmöglichen bzw. der Transzendenz; sind die Intimsysteme exklusiv auf die Funktion der Inklusion der Vollperson oder ganzen Person bezogen, und ist nur die Politik mit der Funktion kollektiv bindenden Entscheidens befasst etc. (vgl. Luhmann 1986, 101ff.). Möglich wird dieser funktionssystemspezifische Problembezug durch die codespezifische Engführung der gesellschaftlichen Kommunikation (vgl. Luhmann 1986, 62ff.; Luhmann 1992a, 25ff.). Der jeweilige Code nimmt die Form einer binären Unterscheidung eines Positivwertes und Negativwertes an, die das jeweilige Funktionssystem gegenüber seiner gesellschaftsinternen Umwelt ausdifferenziert. Durch Rejektion aller anderen Codewerte wird zusätzlich die Engführung der Kommunikation auf das eigene formale Dual des Codes ermöglicht. Indifferenz gegenüber der Umwelt erzeugt somit erhöhte Aufmerksamkeit für die Differenz der eigenen Codewerte. Diese indizieren einerseits eine formale Symmetrie in dem Sinne, dass beide für die kommunikativen Operationen gleich relevant sind und diese sich an beiden, wenn
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Japan, Russland und Westeuropa als weiterer Zentren der Weltgesellschaft respektieren, wollen sie nicht Konflikte globalen Ausmaßes riskieren. Schließlich stößt auch eine Beschreibung der Einheit der Weltgesellschaft an ihre Grenzen, die von einem globalen Wertekonsens, sei es im Sinne einer universellen Moral, sei es im Sinne einer normativen Weltordnung, ausgeht (Luhmann 1997b, Bd.1, 70). Dass dieser nicht vorhanden ist, machen die religiösen, ethnischen und nationalen Spielarten des Fundamentalismus sowie die regional unterschiedlichen Interpretationen der Menschenrechte deutlich. Man denke diesbezüglich nur an die Positionen Chinas, Russlands und Nordkoreas im Gegensatz zu derjenigen der EU. Die Abwesenheit eines globalen Wertekonsenses basiert aber auch vor allem darauf, dass die global ausdifferenzierten Teilsysteme die Einheit der Weltgesellschaft jeweils anhand ihrer funktionssystemspezifischen Einheit von binären Codes mit jeweils unterschiedlichen Positiv- und Negativwerten kommunikativ reproduzieren und beobachten.
2.3 Primat der funktionalen Differenzierung Anstelle der abgelehnten Optionen können wir die Weltgesellschaft systemtheoretisch als paradoxe Einheit einer Vielzahl von gleichrangigen und zugleich verschiedenen global ausdifferenzierten Funktionssystemen beschreiben (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 707ff. u. 743ff.) Gleich sind die Teilsysteme, indem jedes durch Einschließung in die Gesamtgesellschaft eine für diese unerlässliche Funktion erfüllt. Ungleich sind sie dadurch, dass kein anderes Funktionssystem ihre jeweilige Funktion erfüllen kann. Sie nehmen für ihre jeweilige Funktionserfüllung somit ein Kompetenzmonopol in Anspruch. Als selbstsubstitutive Ordnungen können nur sie selbst die evolutionär als Lösung ihres gesellschaftlichen Bezugsproblems selegierten und stabilisierten Strukturen ändern. Diese sind somit ebenso kontingent wie die semantische Beschreibung ihres Bezugsproblems. So ist nur die Wissenschaft auf das Problem von theoretisch und methodisch erzeugtem Erkenntnisgewinn zugeschnitten; hat es allein die Wirtschaft mit dem Problem der Daseinsvorsorge durch gegenwärtige Herstellung und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen angesichts von Knappheit zu tun; geht es ausschließlich in der Religion um das Problem der Möglichkeit des Unmöglichen bzw. der Transzendenz; sind die Intimsysteme exklusiv auf die Funktion der Inklusion der Vollperson oder ganzen Person bezogen, und ist nur die Politik mit der Funktion kollektiv bindenden Entscheidens befasst etc. (vgl. Luhmann 1986, 101ff.). Möglich wird dieser funktionssystemspezifische Problembezug durch die codespezifische Engführung der gesellschaftlichen Kommunikation (vgl. Luhmann 1986, 62ff.; Luhmann 1992a, 25ff.). Der jeweilige Code nimmt die Form einer binären Unterscheidung eines Positivwertes und Negativwertes an, die das jeweilige Funktionssystem gegenüber seiner gesellschaftsinternen Umwelt ausdifferenziert. Durch Rejektion aller anderen Codewerte wird zusätzlich die Engführung der Kommunikation auf das eigene formale Dual des Codes ermöglicht. Indifferenz gegenüber der Umwelt erzeugt somit erhöhte Aufmerksamkeit für die Differenz der eigenen Codewerte. Diese indizieren einerseits eine formale Symmetrie in dem Sinne, dass beide für die kommunikativen Operationen gleich relevant sind und diese sich an beiden, wenn
2. Weltgesellschaft
auch nicht gleichzeitig, orientieren können. Andererseits verweist die Differenz von Positivwert und Negativwert auf die Form eines Präferenzcodes. Dieser besagt, dass die systeminterne kommunikative Anschlussfähigkeit durch den Positivwert gewährleistet ist. Während demgegenüber der Negativwert als Kontingenzwert auf die Möglichkeit kommunikativer Nichtanschlussfähigkeit im System verweist. Systeminterne kommunikative Anschlussfähigkeit ist nur garantiert, wenn die Fortsetzung der Kommunikation durch Orientierung am Negativwert ausgeschlossen werden kann. Dieser fungiert somit auch als Reflexionswert, indem durch ihn deutlich wird, dass sich die kommunikative Anschlussfähigkeit nicht von selbst versteht, sondern erst durch richtige oder falsche Zuordnung der kommunikativen Ereignisse zum Positivwert oder Negativwert hergestellt werden muss. Dazu bedarf es Entscheidungskriterien, welche die Codewerte aufgrund ihrer Formalität, Inhaltsleere und Unentschiedenheit nicht zugleich mitliefern können. Dies leisten Programme. Sie entscheiden mit ihren (Erwartungs-)Strukturen (vgl. Luhmann 1972, Bd.1, 80ff.; Luhmann 1984, 396ff.) darüber, ob eine kommunikative Operation des Funktionssystems dem Positivwert oder Negativwert zugeordnet werden kann oder nicht. Ihre Zuordnungen können sich sowohl an selbstreferentiellen als auch fremdreferentiellen Bezügen der funktionssystemspezifischen Kommunikation orientieren. So beziehen sich z.B. die Codewerte Recht//Unrecht des Rechtssystems programmspezifisch sowohl auf fremdreferentielle rechtswidrige oder rechtskonforme Interessen als auch selbstreferentielle rechtswidrige oder rechtskonforme Begriffe (=Selbstreferenz). Ebenso können die Codewerte des Wirtschaftssystems Haben/Nichthaben durch Wirtschaftsprogramme den Operationen des Zahlens im Medium Geld selbstreferentiell als zahlungsfähig/zahlungsunfähig (Geld haben/kein Geldhaben) oder fremdreferentiell als eine Dienstleistung bekommen/keine Dienstleistung bekommen zugerechnet werden. Mit der Ausdifferenzierung binärer Codes und Einrichtung entsprechender Programme durch Organisationen hat sich die funktionale Differenzierung in den Modernisierungszentren erfolgreich durchgesetzt. Ihre polykontexturale Struktur (vgl. Luhmann 1997b, Bd.1, 36) manifestiert sich in Form einer Vielfalt gesellschaftlicher Teilsysteme. Als Wirtschaft, Recht, Politik, Massenmedien, Wissenschaft, Medizin, Intimsysteme der Gesellschaft etc. sind sie mit ihren binären Codes zahlungsfähig/zahlungsunfähig, Recht/Unrecht, Regierung/Opposition, Information/Nicht-information, wahr/unwahr, krank/gesund, geliebt/ungeliebt etc. sowie funktionsspezifischen Programmen zugleich in die Gesamtgesellschaft eingeschlossen und in ihr voneinander als systeminterne Umwelten durch je spezifische System-/Umwelt-Differenzen ausgeschlossen (vgl. Luhmann 1992a, 26ff.). Als autopoietisches Funktionssystem kann jedes von ihnen mit Hilfe seines kommunikativen rekursiven Netzwerkes Ereignisse erzeugen und anhand der formal invarianten Strukturen des Codes und der Etablierung kontingenter (Programm-)Strukturen zeitlich im Vorher/Nachher, sachlich auf sich selbst oder nach außen und sozial durch die doppelte Kontingenz von Mitteilenden und Adressaten beobachten. Die Funktionssysteme generieren auf diese Weise eine je spezifische Eigenkomplexität, die sie noch zusätzlich dadurch steigern, dass sie die System-/Umwelt-Differenz systemintern wiederholen. Dazu können sie auf unterschiedliche Formen der Differenzierung zurückgreifen.
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So differenziert sich das Wirtschaftssystem segmentär in verschiedene Märkte – Finanzmarkt, Arbeitsmarkt, Produktmarkt, Dienstleistungsmarkt – aus. Ergänzt werden diese durch die Zentrum-/Peripherie-Differenz von Zentralbanken, Geschäftsbanken und Kundenbanken. Das Rechtssystem weist eine segmentäre Differenzierung von Gerichten mit unterschiedlichen Rechtsprogrammen auf, eine Zentrum-/PeripherieDifferenz von Gerichten und außergerichtlicher Rechtskommunikation sowie einen in sich hierarchisch strukturierten Gerichtsaufbau. Das politische System unterscheidet sich vor allem in den Staat als Zentrum und die Peripherie segmentär differenzierter Parteien. Das Wissenschaftssystem differenziert sich segmentär in unterschiedliche Disziplinen mit divergenten funktionsspezifischen Bezügen und die Zentrum-/PeripherieDifferenz von Wissenschaftszentren und sonstigen Universitäten. Im Erziehungssystem kommt es zur Kombination von segmentär differenzierten und hierarchischfunktional differenzierten Schulen. Typisch für diese Kombination unterschiedlicher Differenzierungsformen ist Mehreres. Als Erstes verweist sie darauf, dass der gesellschaftsspezifische Primat der funktionalen Differenzierung, welcher die Funktion zur Einheit jedes Teilsystems macht, systemintern nicht kopiert wird. Zum Zweiten wird deutlich, dass sich die einzelnen Funktionssysteme – wenn auch nicht durchgängig – der Zentrum-/Peripherie-Differenz bedienen. Dies indiziert die besondere funktionsspezifische Entscheidungsrelevanz der jeweiligen Zentren – Zentralbank, Staat, Verfassungsgericht, Wissenschaftszentren – im jeweiligen Funktionssystem. Es verdeutlicht zugleich, dass deren Programmentscheidungen unter besonderer Beobachtung der übrigen Beobachter im jeweiligen Funktionssystem stehen. Man denke nur an die Erwartungen an die Federal Reserve oder EZB, die Zinsen zu erhöhen. Schließlich wird manifest, dass die zunehmende Eigenkomplexität der Funktionssysteme ihnen selbst zum Problem wird. Dafür spricht – neben der Einrichtung von Zentren, die man auch als Versuche der Selbststeuerung interpretieren kann – eine weitere Beobachtung der Funktionssysteme, mit der wir unsere Beschreibungen zur funktionalen Differenzierung der Modernisierungszentren abschließen wollen. Als Folge der Ausdifferenzierung binärer Codes, funktionssystemspezifischer Programm(-strukturen) und der darauf basierenden Binnendifferenzierung entstehen eine beschleunigte Eigendynamik und erhöhte Eigenkomplexität der Funktionssysteme in den Modernisierungszentren, die als Expansion ihrer jeweiligen codespezifischen Kommunikation zunehmend problematisiert wird. Je nach Selbst- oder Fremdbeobachtung des jeweiligen Funktionssystems rückt dabei jeweils das Wachstum respektive die Schrumpfung der Verrechtlichung, Monetarisierung, Kommerzialisierung, Demokratisierung, Bürokratisierung, Pädagogisierung, Intimisierung, Szientifizierung, Medikalisierung, Informierung, Versportlichung etc. der Gesellschaft ins Zentrum (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 755ff.). Sehr grob lassen sich dabei drei Beobachterpositionen unterscheiden: Die erste totalisiert die Expansionstendenzen des jeweiligen Funktionssystems und tauscht deren Systemreferenz durch die der umfassenden Gesellschaft ein. Sie referiert nicht mehr auf die Bürokratisierung, Monetarisierung, Szientifizierung der jeweiligen Teilsysteme der Gesellschaft etc., sondern verallgemeinert sie als bürokratische, kapita-
2. Weltgesellschaft
listische Gesellschaft, Wissensgesellschaft etc. Begleitet wird diese Expansion – je nach Beobachter – von einer Kritik oder Bejahung (vgl. exemplarisch Luhmanns Kritik 1992a, 25ff. an der Überschätzung der Wirtschaft durch die Marxsche Gesellschaftstheorie). Die zweite Position akzeptiert die Autonomie der Funktionssysteme. Deshalb plädiert sie für ein je spezifisches Zurückschneiden der Expansion, weil sie durch sie die Autonomie und den Einfluss bestimmter Funktionssysteme, z.B. des politischen Systems, für übertrieben hält und dadurch die Autonomie spezifischer Funktionssysteme als gefährdet betrachtet. Deutlich wird diese Position an Forderungen nach und Tendenzen der Deregulierung, Debürokratisierung, Entschulung, des Abbaus der Entmündigung durch Experten etc. (vgl. Luhmanns 1981c, 155ff. Diskussion eines expansiven und restriktiven Politikbegriffs). Die dritte Position der neueren Systemtheorie (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 707ff. u. 743ff.) setzt – wenn ich recht sehe – auf die Evolution und die Kombination eines Steigerungszusammenhanges von Unabhängigkeit und Abhängigkeit der Funktionssysteme. Sie räumt deshalb im Gegensatz zur ersten Position keinem der Funktionssysteme eine Vorrangstellung ein. Dies würde der Aufgabe des Primats funktionaler Differenzierung gleichkommen. Sie teilt die zweite Position, sofern sie die Bedeutsamkeit der Autonomie der Funktionssysteme betont. Sie bleibt aber skeptisch, wenn Moralisierung anstelle funktional äquivalenter Problemlösungen tritt, z.B. der Appell an bestimmte Regionen der Weltgesellschaft, die Menschenrechte einzuhalten. Haben wir in einem ersten Argumentationsschritt einen groben Überblick über die funktionale Differenzierung in den Modernisierungszentren gegeben, so stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage, wie überhaupt – angesichts der beschleunigten Eigendynamik und erhöhten Eigenkomplexität der Funktionssysteme – eine Systemintegration noch möglich ist? Anders ausgedrückt: Wie wird verhindert, dass die Funktionssysteme auseinandertreiben? Was hält sie zusammen?
2.4 Systemintegration 2.4.1
Integration durch Gesamtgesellschaft, eine demokratisch legitimierte Supermacht (USA) oder ein totalitäres politisches System?
Wir können die aufgeworfenen Fragen auch anders formulieren: Lässt sich in den Modernisierungszentren von Systemintegration durch die Weltgesellschaft sprechen? Wenn nicht, können deren Funktion eine demokratisch legitimierte Supermacht wie die USA, in der die funktionale Differenzierung am fortgeschrittensten ist, oder ein autoritäres Regime wie das Chinas oder Russlands übernehmen, oder kann an deren Stelle der Metacode eines Funktionssystems treten? Und wenn all diese Möglichkeiten der Systemintegration in den Modernisierungszentren ausscheiden, muss man stattdessen den Vollzug der Systemintegration den Funktionssystemen zuschreiben? Wenn ja, wie soll dies gehen, wenn diese autopoietisch und autonom operieren? Sind sie hoch oder niedrig integriert? Die Weltgesellschaft selbst kommt für die Systemintegration nicht in Frage. Als umfassendes Sozialsystem schließt sie sich autopoietisch durch Kommunikation ge-
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listische Gesellschaft, Wissensgesellschaft etc. Begleitet wird diese Expansion – je nach Beobachter – von einer Kritik oder Bejahung (vgl. exemplarisch Luhmanns Kritik 1992a, 25ff. an der Überschätzung der Wirtschaft durch die Marxsche Gesellschaftstheorie). Die zweite Position akzeptiert die Autonomie der Funktionssysteme. Deshalb plädiert sie für ein je spezifisches Zurückschneiden der Expansion, weil sie durch sie die Autonomie und den Einfluss bestimmter Funktionssysteme, z.B. des politischen Systems, für übertrieben hält und dadurch die Autonomie spezifischer Funktionssysteme als gefährdet betrachtet. Deutlich wird diese Position an Forderungen nach und Tendenzen der Deregulierung, Debürokratisierung, Entschulung, des Abbaus der Entmündigung durch Experten etc. (vgl. Luhmanns 1981c, 155ff. Diskussion eines expansiven und restriktiven Politikbegriffs). Die dritte Position der neueren Systemtheorie (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 707ff. u. 743ff.) setzt – wenn ich recht sehe – auf die Evolution und die Kombination eines Steigerungszusammenhanges von Unabhängigkeit und Abhängigkeit der Funktionssysteme. Sie räumt deshalb im Gegensatz zur ersten Position keinem der Funktionssysteme eine Vorrangstellung ein. Dies würde der Aufgabe des Primats funktionaler Differenzierung gleichkommen. Sie teilt die zweite Position, sofern sie die Bedeutsamkeit der Autonomie der Funktionssysteme betont. Sie bleibt aber skeptisch, wenn Moralisierung anstelle funktional äquivalenter Problemlösungen tritt, z.B. der Appell an bestimmte Regionen der Weltgesellschaft, die Menschenrechte einzuhalten. Haben wir in einem ersten Argumentationsschritt einen groben Überblick über die funktionale Differenzierung in den Modernisierungszentren gegeben, so stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage, wie überhaupt – angesichts der beschleunigten Eigendynamik und erhöhten Eigenkomplexität der Funktionssysteme – eine Systemintegration noch möglich ist? Anders ausgedrückt: Wie wird verhindert, dass die Funktionssysteme auseinandertreiben? Was hält sie zusammen?
2.4 Systemintegration 2.4.1
Integration durch Gesamtgesellschaft, eine demokratisch legitimierte Supermacht (USA) oder ein totalitäres politisches System?
Wir können die aufgeworfenen Fragen auch anders formulieren: Lässt sich in den Modernisierungszentren von Systemintegration durch die Weltgesellschaft sprechen? Wenn nicht, können deren Funktion eine demokratisch legitimierte Supermacht wie die USA, in der die funktionale Differenzierung am fortgeschrittensten ist, oder ein autoritäres Regime wie das Chinas oder Russlands übernehmen, oder kann an deren Stelle der Metacode eines Funktionssystems treten? Und wenn all diese Möglichkeiten der Systemintegration in den Modernisierungszentren ausscheiden, muss man stattdessen den Vollzug der Systemintegration den Funktionssystemen zuschreiben? Wenn ja, wie soll dies gehen, wenn diese autopoietisch und autonom operieren? Sind sie hoch oder niedrig integriert? Die Weltgesellschaft selbst kommt für die Systemintegration nicht in Frage. Als umfassendes Sozialsystem schließt sie sich autopoietisch durch Kommunikation ge-
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genüber ihrer systemexternen Umwelt (Weltbevölkerung als Milliarden von organischpsychischen Systemen, Mikro- und Makrokosmos lebender Systeme, physikalische und chemische Welt). Für die in sie eingeschlossenen Funktionssysteme stellt sie die kommunikative Außengrenze dar. Sie kann diesen aber keine Direktiven für die Systemintegration zur Verfügung stellen, da sie sich als paradoxe Einheit einer Mehrzahl von ihnen kommunikativ reproduziert. Für die Funktionssysteme ist sie gleichsam eine imaginäre Einheit, die bei jeder aktuell vollzogenen codierten und nichtcodierten gesellschaftlichen Kommunikation als eingeschlossene ausgeschlossene Entität mitgeführt wird. Ausschließen lässt sich aber auch, dass die Systemintegration in Anlehnung an vormoderne Gesellschaften durch ein Weltreich oder eine Supermacht als Zentrum der Weltgesellschaft vollzogen werden kann. Es würde im Übrigen auf die Paradoxie, dass das Dasselbige das Verschiedene, nämlich ein Teil das Ganze ist und nicht ist, hinauslaufen. Zwar gibt es in der Weltgesellschaft nach wie vor eine regionale Differenzierung des Modernisierungstempos. Dieses manifestiert sich strukturell jedoch eher als Differenz einer Mehrzahl von Modernisierungszentren und peripheren Regionen als des Unterschieds eines einzigen Modernisierungszentrums mit mehreren Peripherien. Selbst wenn man die USA als die noch einzig verbliebene Weltmacht und als Nation mit der forciertesten funktionalen Differenzierung bezeichnet, wird deren paradoxe Rolle in der Weltgesellschaft deutlich. Einerseits scheint ihre Funktion als »Weltpolizist« in der Weltpolitik aufgrund der Dominanz ihres nationalen Militärapparates unverzichtbar. Andererseits muss sie immer wieder erfahren, dass ihre diplomatischen und/oder militärischen Interventionen in den unterschiedlichen Regionen der Weltgesellschaft auf Widerstand stoßen, erfolglos sind oder durch Kritik der Weltöffentlichkeit begleitet werden. Dies führt im Übrigen zu einer Selbstbeschreibung des politischen Establishments der USA, die immer wieder zwischen nationalem Isolationismus und weltweiten Engagement hin- und herpendelt. Hinzu kommt, dass ihr selektiver Modernisierungspfad als »US-Gesellschaft« durch andere Modernisierungszentren (EU, Japan, OPEC, China) einer höchst ambivalenten Fremdbeschreibung ausgesetzt ist. Während affirmative Beobachter für eine weitestgehende Kopie des »American Way of Life« optieren, betonen seine Kritiker ihre Folgeprobleme. Favorisieren jene vor allem die Deregulierung des Wirtschaftssystems, das Zurückschneiden des Wohlfahrtsstaates, die forcierte Implementierung neuer Kommunikationstechnologien, die Liberalisierung der Massenmedien, versportlichte und Fun-orientierte Lebensstile. Verweisen demgegenüber die Kritiker auf die Totalexklusion von Straftätern qua Hinrichtungen im Rechtssystem, die entfesselte Eigendynamik des Wirtschaftssystems mit der Vielzahl von »Bad Jobs«, die einer verdeckten Armut gleichkämen, die ungenügende Absicherung von Standardrisiken der Sozialversicherungssysteme durch den Sozialstaat, die hohe Labilität der Intimsysteme durch zunehmende Scheidungsquoten mit prekären Folgen für die Kinder, die durch keine moralischen und politischen Stoppregeln präsentierten Gewaltprogramme in den Massenmedien und die niedrigschwellige Möglichkeit von Waffenkäufen mit ihren Konsequenzen für die steigende Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen bis hin zur urbanen Exklusion ethnischer Minoritäten.
2. Weltgesellschaft
All dies macht deutlich, dass eine polykontexturale (Welt-)Gesellschaft nicht mehr durch eine zentrale Supermacht wie die USA integrierbar ist. Vor allem deshalb nicht, weil sie bei ihren Versuchen, die evolutionäre Eigendynamik der globalisierten Funktionssysteme zentral zu steuern, einer ambivalenten Sonderbeobachtung durch die übrigen Modernisierungszentren und peripheren Regionen ausgesetzt ist, die sie zunehmend zu kontrollierten Kontrolleuren werden lassen. Wenn also weder die Weltgesellschaft noch eine regionale Supermacht wie die USA die Systemintegration in den Modernisierungszentren vollziehen kann, kann dann vielleicht ein Funktionssystem als Teil des Ganzen dessen Integration übernehmen? Ist es in einer polykontexturalen Gesellschaft (Luhmann 1997b, Bd.2, 892) möglich, dass ein funktionssystemspezifischer Code zum Metacode aller anderen Codes der Funktionssysteme wird? Der letzte groß angelegte Versuch durch die Sowjetunion, dies in einem der ehemaligen Modernisierungszentren mit Hilfe des Codes des politischen Systems zu erreichen, darf wohl als gescheitertes Experiment betrachtet werden. Dessen totalitäre Logik, die sich auch auf den politischen Code als Metacode selbst bezog, indem sie die Opposition ausschaltete, scheiterte besonders wegen folgender Gründe: Erstens: Weil sie die codespezifische Kommunikation der übrigen Funktionssysteme – besonders des Wirtschaftssystems – durch politische Planungsvorgaben nicht hinreichend instruieren konnte, sondern die Entfaltung ihrer Eigenkomplexität massiv blockierte. Wahrgenommen, wenn auch nicht offiziell kommuniziert durch die Bevölkerungsmehrheit, wurde dies an ihrem niedrigen Konsumstandard. Zweitens: Da die durch die Semantik der Gleichheit des Kommunismus legitimierte Inklusion der Bevölkerungsmehrheit der Arbeiter und Bauern in zentrale Funktionssysteme mit der Totalexklusion starker Minderheiten der Bevölkerung (Oppositionelle, Bürgerliche, Revisionisten, Klassenfeinde, ethnische und religiöse Minderheiten, Behinderte etc.) durch Verbannung, Zwangsumsiedlung, Prisonierung, Psychiatrisierung und Hinrichtung einherging. Schließlich: Weil die Globalisierung der Massenmedien, die Exklusion durch Ausweisung prominenter Staatsbürger und die selektiven Kontakte zur Systemumwelt der westlichen Modernisierungszentren zunehmenden Teilen der Bevölkerung Vergleiche der Lebensstile ermöglichten. Die Zwangsinklusion der Mehrheit der Bevölkerung durch Beschränkungen der Mobilität, der Wahl des Konsumstils, der Freiheit der politischen Wahl, der Religionsfreiheit, der Meinungsfreiheit etc. und die Menschenrechtsverletzungen an den Exkludierten wurden somit zunehmend kommunikabel. Wenn ich recht sehe, sind es besonders auch die Folgeprobleme dieses gescheiterten Experimentes, welche bei den bereits erwähnten unterschiedlichen Beobachtungen der Expansionstendenzen der gesellschaftlichen Funktionssysteme als kollektive Erfahrung mitgeführt werden.
2.4.2
Systemintegration durch operative und strukturelle Kopplung von Funktionssystemen
Bei unseren bisherigen Überlegungen ließen wir uns von einem impliziten Begriff der Systemintegration leiten, den wir jetzt explizieren müssen. Unter ihr wollen wir die
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
wechselseitige Beschränkung der Freiheitsgrade von Systemen verstehen (Luhmann 1997b, Bd.2, 603ff.) – hier von Funktionssystemen. Rückblickend wird damit klar, dass die Weltgesellschaft die Modernisierungszentren nicht integrieren kann, weil es für sie als umfassendes Sozialsystem keine Wechselseitigkeit mit einem anderen Sozialsystem in seiner Umwelt geben kann. Die USA als zentrale Supermacht nicht, weil sie trotz ihrer militärisch-politischen und ökonomischen Bedeutung lernen musste, dass sie eine nationale Beschränkung der Freiheitsgrade der Funktionssysteme in den Modernisierungszentren Westeuropas nicht auf Dauer stellen konnte (die Akzeptanz des wiedervereinigten Deutschlands und des Ausbaus der EU macht dies deutlich). Und die Sowjetunion nicht, weil ihre totalitäre Beschränkung der Freiheitsgrade der Funktionssysteme durch das politische Teilsystem in ihrer Region letztlich an deren Implosion und der globalen Eigendynamik der Funktionssysteme scheiterte. Schließt man nun an unseren Begriff der Systemintegration an und beobachtet daraufhin die Funktionssysteme der Modernisierungszentren, dann lässt sich deren Dynamik im Sinne der wechselseitigen Beschränkung der Freiheitsgrade in einem ersten Schritt auf die Leistungen beziehen. So erbringt jedes der Funktionssysteme Leistungen für spezifische Funktionssysteme in seiner Umwelt und ist umgekehrt von deren Leistungen abhängig. M.a.W.: jedes ist zugleich Leistungsgeber und Leistungsnehmer (Luhmann 1997b, Bd.2, 759ff.). Freilich gilt dies mit mindestens drei wichtigen Einschränkungen. Erstens beziehen sich die Leistungen im Unterschied zur Funktionserfüllung nicht auf die Gesamtgesellschaft, sondern auf Umweltsysteme; zweitens beziehen sie sich nicht auf jedes der Umweltsysteme, sondern nur auf spezifische, die das jeweilige Funktionssystem als für sich relevant beobachtet. Und drittens müssen die Leistungen der jeweiligen Funktionssysteme im Gegensatz zum klassischen Input-Output-Modell berücksichtigen, dass ihr Funktionssystem und die anderen in ihrer gesellschaftsinternen Umwelt keine Trivialmaschinen sind, sondern historische Maschinen. D.h. die Leistungsabgabe und -annahme muss an die codespezifische Kommunikation der Funktionssysteme anschließen können, soll sie zum Erfolg führen. So ist das Beschäftigungssystem des Wirtschaftssystems auf qualifizierte Bildungsabschlüsse des Erziehungssystems angewiesen. Das politische System von einem Teil des durch das Wirtschaftssystem erwirtschafteten Geldes abhängig, damit es wiederum durch Forschungsförderung bestimmte Forschungsprojekte des Wissenschaftssystems finanzieren kann. Versorgen die Familien das Erziehungssystem mit schulfähigen Kindern, das wiederum einen Teil von ihnen zur Hochschulreife führt. Ermöglichen die Massenmedien der Politik die Beobachtung ihrer Resonanz auf das Wählerpublikum und liefert die Politik zugleich den Massenmedien den Stoff für die Berichterstattung über Skandalgeschichten. Beobachtet man diese Wechselseitigkeit von Leistungserbringung und Leistungsabnahme als Systemintegration und versteht unter dieser eine wechselseitige Einschränkung der Freiheit von Funktionssystemen, so bedeutet dies, dass die Eigendynamik der Funktionssysteme gleichsam ihre Stoppregeln durch die wechselseitige Abhängigkeit von Leistungen der anderen Funktionssysteme erhält. Was die Beantwortung der zweiten Frage anbelangt, so ist die Reflexion auf die Effekte von systemeigenen Leistungen in der Umwelt der jeweiligen Funktionssysteme und
2. Weltgesellschaft
die Abhängigkeit von deren Leistungen ein Teilaspekt der Selbstbeschreibung von Funktionssystemen (vgl. Luhmann/Schorr 1979, 34ff. zur Trias Funktion, Leistung, Reflexion). Da ihre Semantik auf die Einheit des jeweiligen Funktionssystems referiert, macht diese Selbstthematisierung immer auch die Differenz zur Umwelt zum Gegenstand der Beobachtung. Freilich kann sie dieses Re-entry von System und Umwelt nur auf der Basis der vorausgesetzten operativen und strukturellen Differenz von System/Umwelt mit eigenen operativen Mitteln vollziehen. Reflexionstheorien der Funktionssysteme können dann über die Grenze ihres eigenen Systems hinaus mit eigenen kommunikativen Operationen Möglichkeiten sehen, wo die anderen Funktionssysteme Notwendigkeiten sehen und als Leistungsabnehmer kommunikativen Widerstand leisten. Sie können aber auch die Kontingenz der eigenen Leistungserbringung zum Thema und zum Gegenstand von Programmänderungen in Form von Reformreflexionen durch eigene Entscheidung machen. Gleiches gilt auch für die eigene Leistungsabnahme durch Leistungen anderer Funktionssysteme. So können z.B. curriculare Reformen des Erziehungssystems das Resultat von Beobachtungen problematischer Anschlussfähigkeit der selbstproduzierten Schulabschlüsse im Wirtschaftssystem sein. Oder kann das politische System durch Reformen des Sozialversicherungssystems auf die finanziellen Belastungen des Wirtschaftssystems reagieren, von deren Geldzufuhr es abhängig ist. Darüber hinaus können die Massenmedien ihre Programmstruktur reformieren, wenn die Werbewirtschaft sich aufgrund geringer Einschaltquoten zurückzieht. Nach all dem Gesagten, stellt sich die Frage, wie heute in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft Systemintegration stattfindet? Anders gefragt: Lassen sich in Anlehnung an Weber, Marx oder Parsons Modernisierungszentren noch als »Gehäuse der Hörigkeit«, als spätkapitalistische oder normativ integrierte Gesellschaften beschreiben? Unsere Antwort: Die Selbstbeschreibungen der Modernisierungszentren der drei Klassiker weisen – bei allen sonstigen Unterschieden – einen gemeinsamen blinden Fleck auf: Sie totalisieren die codespezifische Perspektive jeweils eines der modernen Funktionssysteme, der somit als Metacode der umfassenden Gesellschaft mittels seines Mediums die Freiheit der übrigen Funktionssysteme einseitig limitiert und ihnen seine Form aufdrückt. Zugespitzt wird dadurch aus der Bürokratie der öffentlichen Verwaltung die bürokratische Gesellschaft (Weber), aus der monetarisierten Wirtschaft die kapitalistische Gesellschaft (Marx) und aus der an normativen Werten orientierten Kultur die wertorientierte Gemeinschaft (collectivity) (Parsons). Indem sie so beobachten, tritt an die Stelle der Hierarchie der vormodernen stratifizierten Gesellschaften und der repraesentatio identitatis des Ganzen durch einen Teil (= Oberschicht bzw. Monarch) die Steuerungs- bzw. Kontrollhierarchie der Gesellschaft durch den Metacode eines Teilsystems. Wenn sich aber in den heutigen Modernisierungszentren eine polykontexturale Gesellschaft weitestgehend durchgesetzt hat, dann erzeugt die hierarchische Systemintegration durch die Dominanz eines Codes in Form eines Metacodes zu starke Freiheitseinschränkungen in anderen Funktionssystemen. Diese können ihre gesellschaftliche Funktion nur noch in unterkomplexer Form erfüllen und es überrascht nicht, dass es dann zu unvorhersehbaren regionalen gesellschaftlichen Katastrophen durch das Hoch-
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schaukeln von defizitären strukturellen Problemlösungen in allen Funktionssystemen kommen kann. Man denke nur an den plötzlichen Zusammenbruch der Sowjetunion. Da sich Systemintegration in Modernisierungszentren weder hierarchisch mit der Dominanz eines Funktionssystems noch der einer regionale Supermacht gleichsetzen lässt, kann man an unsere Ausführungen zur Systemintegration als wechselseitige Beschränkung der Freiheit von Funktionssystemen im Zusammenhang mit der Leistungsabnahme und Leistungserbringung anschließen. Systemintegration in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft lässt sich dann auch als strukturelle Kopplung der Funktionssysteme beschreiben. Strukturelle Kopplungen sind soziale Mechanismen, welche die Freiheit der Funktionssysteme wechselseitig beschränken, ohne in deren Autopoiesis einzugreifen (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 780ff.). Man denke hier beispielsweise an die strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft durch Vertrag und Eigentum oder an die strukturelle Kopplung von Wirtschaft und Medizin durch Krankschreibung, Wenn es sich bei der gesellschaftlichen Systemintegration durch Funktionssysteme im Unterschied zur Autopoiesis der Funktionssysteme um eine Differenz von hoch/niedrig mit graduellen Abstufungen und nicht um eine harte binäre Differenz von gegeben/nicht gegeben handelt, stellt sich abschließend die Frage, ob wir es in den Modernisierungszentren mit hoch integrierten oder niedrig integrierten bzw. desintegrierten Regionalgesellschaften im Sinne der Systemintegration durch primäre Funktionssysteme zu tun haben. Optiert man für hohe Integration, unterstellt man eine wechselseitige hohe Freiheitsbeschränkung der Funktionssysteme. Dies kann zum einen als sinnvolle Limitierung von Möglichkeiten oder als paradoxe Form der Steigerung von Komplexität durch Reduktion von Komplexität in den Funktionssystemen beobachtet werden. So wenn z.B. die Freiheiten der unbegrenzten Beschäftigung durch Krankschreiben des Medizinsystems reduziert werden und damit die Produktivität durch Reduktion von kranken Mitarbeitern gesteigert wird. Andererseits kann eine zu hohe Integration aber auch als zu starke wechselseitige Fesselung der Funktionssysteme beobachtet werden. Deutlich wird dies im Falle globaler außeralltäglicher Ereignisse, die rasche Effekte in allen Funktionssystemen der Weltgesellschaft auslösen und damit ihre Autonomie in Form der thematischen Selektionsfreiheit beschränken. Dies kann man sich zunächst anhand der Terroranschläge vom 11. September 2001 klarmachen. Durch die Rund-um die Uhr-Berichterstattung der global vernetzten Massenmedien wurden sie in kürzester Zeit zu einem weltweit registrierten Ereignis. Die Weltwirtschaft beobachtete sie primär anhand der Effekte für die Preisentwicklung ihrer Finanzmärkte und sonstigen Märkte. Dabei profitierten einige Teilmärkte von ihnen, andere – z.B. die Versicherungen und Fluggesellschaften – mussten demgegenüber ihre Gewinnerwartungen deutlich reduzieren. Das Weltverkehrssystem – besonders sein Flugverkehr – betrachtete die Terroranschläge als Einschränkung und Gefährdung seiner weltweiten Mobilität. Die Weltreligionen – vor allem der Islam und das Christentum – sahen in ihnen das Ergebnis von fundamentalistischen Fehlinterpretationen des Korans und bemühten sich den friedlichen Kern ihrer Religionen zu betonen. Die Weltpolitik interpretierte die Terroranschläge als Gefährdung des Gewaltmonopols und der territorialen Souveränität ihrer Nationalstaaten sowie der Bedrohung der körperlichen
2. Weltgesellschaft
Sicherheit ihrer Bürger. Zugleich aber auch als Angriff auf eine Zivilisation und offene Gesellschaft, zu denen der weitgehende Verzicht auf physische Gewalt als legitimes Medium der Konfliktlösung außerhalb der Politik gehört. Ein aktuelleres Beispiel stellt die Corona-Pandemie dar, die ebenfalls auf eine hohe Integration der Funktionssysteme und ihrer Organisationen schließen lässt. So entschied die Politik, den Unterricht Online stattfinden zu lassen, was sie zwang für die entsprechende Kommunikationstechnologie zu sorgen, und von den Familien verlangte, die Präsenz der Schüler zuhause sicherzustellen. Der Spitzensport musste die Zuschauer vor Ort wegen der zu hohen Infektionsgefahr aufgrund der Entscheidung der Politik ausschließen. Dies reduzierte den Heimvorteil, veränderte die Atmosphäre und führte zu sinkenden Einnahmen. Die Politik wurde deshalb im Falle drohender Insolvenz zur finanziellen Hilfe gezwungen. Die Massenmedien berichteten tagtäglich über den Anstieg und Abstieg des Inzidenzwertes und luden renommierte Virologen und Epidemiologen zu ihren Talkshows ein. Diese wiederum mussten zunehmend darüber reflektieren, ob und wie sich diese medialen Formate zur Information über komplexe Forschungsergebnisse eignen. Das Medizin- und Pflegesystem übernahmen vorübergehend den Primat der Funktionssysteme, weil ihre Codes der Krankenbehandlung und Pflege am stärksten auf Corona zugeschnitten waren. Gleichwohl wurden ihre Selektionsfreiheiten durch die Knappheit des Personals und der Krankenhausbetten als Folge der vergangenen Entscheidungen der Politik zugunsten der stärkeren Ökonomisierung limitiert, so dass in manchen Nationen das Medizin- und Pflegesystem auf die Triage zurückgreifen musste. Die Politik förderte die Grundlagenforschung mit finanziellen Mitteln, deren Organisationen davon stark profitierten, als ihre Erfindungen – wie bei Biontec – marktfähig wurden. Interessant ist schließlich, dass wiederholt die Debatte um den Begriff »systemrelevant« entstand, ohne dass dieser genauer präzisiert wurde. Da nach unserer systemtheoretischen Auffassung jedes Funktionssystem systemrelevant für die Reproduktion der Gesamtgesellschaft ist, wäre zu klären, welche Folgeprobleme durch die Priorisierung einiger Funktionssysteme, z.B. der Medizin und Pflege mit Unterstützung der Politik, für die anderen Funktionssysteme, z.B. Kunst, Tourismus oder Verkehr, entstanden. Wenn wir davon ausgehen, dass auch diese systemrelevant für die Gesellschaft bzw. bestimmte ihrer Umweltsysteme sind, wird zum einen verständlich, weshalb sich ihre organisationsspezifischen Repräsentanten massiv gegen die Schrumpfung ihrer jeweiligen funktionsspezifischen Kommunikation, sprich die Deästhetisierung, Reisebeschränkungen und reduzierte Mobilität wehrten, und wie stark deren Angebote expandierten, als die Politik Lockerungen der Corona-Auflagen beschloss. Optiert man statt der These, dass die Weltgesellschaft hoch integriert sei, für das Gegenteil ihrer niedrigen Integration mit den korrespondierenden wechselseitigen hohen Selektionsfreiheiten der Funktionssysteme, findet man auch dafür hinreichende Belege. So die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billigländer der Dritten Welt durch Wirtschaftsunternehmen der ersten Welt, ohne dass die Nationalstaaten diese Unternehmensstrategien verhindern könnten. Ferner die zunehmende Auflösung der Bindung ans Religionssystem durch die Familien, die Politik und das Wirtschaftssystem. Diese nutzen ihre Selektionsfreiheiten, ohne sie sich durch religiöse Gebote oder Verbote, sei dies die Geburtenkontrolle, die religiöse Wertevertretung oder der Sonntag als verkaufs-
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freier Tag, beschränken zu lassen. Darüber hinaus machen die Nationalstaaten von ihren Selektionsfreiheiten im Kontext transnationaler bzw. von Metaorganisationen (Ahrne/ Brunsson 2005) wie der EU oder UNO Gebrauch. Sie entkoppeln sich von deren Programmen, indem sie auf die Bewahrung und Berücksichtigung nationalstaatlicher Interessen – oftmals legitimiert durch das Subsidiaritätsprinzip – verweisen und dies durch ihr Veto kundtun und damit die Grenzen des Einstimmigkeitsprinzips verdeutlichen. Wenn die Wissenschaften ihre Messergebnisse in den Massenmedien veröffentlichen, berufen sie sich auf ihre Forschungsfreiheit, die sich nicht an der jeweiligen öffentlichen Meinung, sondern am jeweiligen Forschungsstand orientiert. Und die Politik wiederum nimmt ihre Selektionsfreiheit in Anspruch, wenn sie die Empfehlungen der Wissenschaft nicht einfach in kollektiv bindende Entscheidungen umsetzt, sondern noch andere Aspekte – wie z.B. die Kompatibilität mit den Parteiprogrammen und -interessen sowie die Anschlussfähigkeit und Umsetzbarkeit der Empfehlungen in den jeweiligen Funktionssystemen – überprüft. Wir können also abschließend eine Gleichzeitigkeit von hoher und niedriger Integration der Weltgesellschaft in Abhängigkeit von dem jeweils zu lösenden gesellschaftlichen Problem und der jeweiligen funktionsspezifischen Problemlösung feststellen.
2.5 Regional unterschiedlich schnelle Durchsetzung der funktionalen Differenzierung und ihre Folgeprobleme für die Inklusion/Exklusion der Weltbevölkerung Zur Beobachtung der heutigen Weltgesellschaft gehört auch, dass sich das Tempo der Eigendynamik der Funktionssysteme in unterschiedlicher Schnelligkeit in den Regionen der Weltgesellschaft vollzieht. Der Primat der funktionalen Differenzierung dominiert in diesen nicht nur in abgestufter Form, sondern beeinflusst auch andere Formen der Differenzierung (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 609ff.), welche für die heutige Struktur der Weltgesellschaft nach wie vor von Relevanz sind. So spielt die segmentäre Differenzierung als das mehrfache Vorkommen des gleichen sozialen Systems vor allem in der Weltpolitik in Form der ca. 200 souveränen Nationalstaaten eine nicht zu unterschätzende, wenn auch durch das Ausmaß der globalen Probleme abnehmende Rolle im Hinblick auf alleinige nationale Problemlösungen. Man denke nur an die national unterschiedlichen sozialstaatlichen Reaktionen auf die Globalisierung (vgl. Mayer 2001), die Vetomöglichkeiten der Nationalstaaten als Mitglieder transnationaler Organisationen wie der UNO und EU oder die wiederholt ausgelösten regionalen Kriege durch übersteigerte nationale Ambitionen und imperiale Ansprüche besonders der sich als Supermächte gerierenden Nationalstaaten. Des Weiteren kontinuiert in der Weltgesellschaft die Zentrum/Peripherie-Differenz, welche die regionalen Ungleichheiten der Weltgesellschaft widerspiegelt. Auf der einen Seite manifestiert sie sich anhand der Modernisierungszentren, die – wie die USA, Westeuropa und Japan – gleichsam als Schrittmacher der Globalisierung der Funktionssysteme fungieren. Ihnen stehen auf der anderen Seite Regionalgesellschaften Afrikas, Asiens, Südamerikas und Teile der ehemaligen Sowjetunion gegenüber, die zur Peripherie der modernen Weltgesellschaft gehören. Zwischen diese, die als sogenannte
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freier Tag, beschränken zu lassen. Darüber hinaus machen die Nationalstaaten von ihren Selektionsfreiheiten im Kontext transnationaler bzw. von Metaorganisationen (Ahrne/ Brunsson 2005) wie der EU oder UNO Gebrauch. Sie entkoppeln sich von deren Programmen, indem sie auf die Bewahrung und Berücksichtigung nationalstaatlicher Interessen – oftmals legitimiert durch das Subsidiaritätsprinzip – verweisen und dies durch ihr Veto kundtun und damit die Grenzen des Einstimmigkeitsprinzips verdeutlichen. Wenn die Wissenschaften ihre Messergebnisse in den Massenmedien veröffentlichen, berufen sie sich auf ihre Forschungsfreiheit, die sich nicht an der jeweiligen öffentlichen Meinung, sondern am jeweiligen Forschungsstand orientiert. Und die Politik wiederum nimmt ihre Selektionsfreiheit in Anspruch, wenn sie die Empfehlungen der Wissenschaft nicht einfach in kollektiv bindende Entscheidungen umsetzt, sondern noch andere Aspekte – wie z.B. die Kompatibilität mit den Parteiprogrammen und -interessen sowie die Anschlussfähigkeit und Umsetzbarkeit der Empfehlungen in den jeweiligen Funktionssystemen – überprüft. Wir können also abschließend eine Gleichzeitigkeit von hoher und niedriger Integration der Weltgesellschaft in Abhängigkeit von dem jeweils zu lösenden gesellschaftlichen Problem und der jeweiligen funktionsspezifischen Problemlösung feststellen.
2.5 Regional unterschiedlich schnelle Durchsetzung der funktionalen Differenzierung und ihre Folgeprobleme für die Inklusion/Exklusion der Weltbevölkerung Zur Beobachtung der heutigen Weltgesellschaft gehört auch, dass sich das Tempo der Eigendynamik der Funktionssysteme in unterschiedlicher Schnelligkeit in den Regionen der Weltgesellschaft vollzieht. Der Primat der funktionalen Differenzierung dominiert in diesen nicht nur in abgestufter Form, sondern beeinflusst auch andere Formen der Differenzierung (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 609ff.), welche für die heutige Struktur der Weltgesellschaft nach wie vor von Relevanz sind. So spielt die segmentäre Differenzierung als das mehrfache Vorkommen des gleichen sozialen Systems vor allem in der Weltpolitik in Form der ca. 200 souveränen Nationalstaaten eine nicht zu unterschätzende, wenn auch durch das Ausmaß der globalen Probleme abnehmende Rolle im Hinblick auf alleinige nationale Problemlösungen. Man denke nur an die national unterschiedlichen sozialstaatlichen Reaktionen auf die Globalisierung (vgl. Mayer 2001), die Vetomöglichkeiten der Nationalstaaten als Mitglieder transnationaler Organisationen wie der UNO und EU oder die wiederholt ausgelösten regionalen Kriege durch übersteigerte nationale Ambitionen und imperiale Ansprüche besonders der sich als Supermächte gerierenden Nationalstaaten. Des Weiteren kontinuiert in der Weltgesellschaft die Zentrum/Peripherie-Differenz, welche die regionalen Ungleichheiten der Weltgesellschaft widerspiegelt. Auf der einen Seite manifestiert sie sich anhand der Modernisierungszentren, die – wie die USA, Westeuropa und Japan – gleichsam als Schrittmacher der Globalisierung der Funktionssysteme fungieren. Ihnen stehen auf der anderen Seite Regionalgesellschaften Afrikas, Asiens, Südamerikas und Teile der ehemaligen Sowjetunion gegenüber, die zur Peripherie der modernen Weltgesellschaft gehören. Zwischen diese, die als sogenannte
2. Weltgesellschaft
Dritte Welt bezeichnet werden, und jene, die man die Erste Welt nennt, schieben sich sogenannte Schwellenländer, die gleichsam als eingeschlossene ausgeschlossene Dritte zwischen Moderne und Tradition oszillieren. Hingewiesen sei hier beispielsweise auf die sogenannten BRICS-Länder Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika oder die OPEC-Länder. Deutlich werden anhand der skizzierten regionalen Differenzierung der Weltgesellschaft die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen des Globalisierungstempos ihrer Funktionssysteme und die mit ihr verknüpften unterschiedlichen Risiken für die einzelnen Weltregionen. Am sichtbarsten werden diese hinsichtlich der stratifikatorischen Differenzierung, sprich der sozialen Ungleichheit der Weltbevölkerung, als einer weiteren Differenzierungsform. So ist es den Gesellschaften der Modernisierungszentren weitestgehend gelungen, der Bevölkerungsmehrheit die Inklusion in die zentralen Funktionssysteme zu sichern. Auch wenn dies ein Nord-Süd- bzw. West-Ost-Gefälle der Inklusionsrisiken, z.B. in Europa oder der BRD, nicht ausschließt (vgl. Luhmann 1995f exemplarisch für Italien). Anders sieht es besonders in den Peripherieländern der Weltgesellschaft aus. Hier dominiert die Mehrfachexklusion in Bezug auf die Bevölkerungsmehrheit (vgl. Luhmann 1995a). Nur eine kleine privilegierte Elite genießt die Vorteile der Inklusion in die jeweiligen Funktionssysteme. Mehrfachexklusion bedeutet in diesem Fall u.a. Folgendes: massive Unterversorgung mit Lebensmitteln bis hin zum alltäglichen Verhungern, hohe Arbeitslosenraten, Billigarbeitsplätze und niedriges pro Kopf-Einkommen der Bevölkerung, geringe bis gar keine soziale Sicherung, wenig Rechtsansprüche und politische Teilnahmechancen durch korrupte Militärdiktaturen und Bürokratien mit zum Teil fundamentalistischen Ideologien, keinen oder nur geringen Zugang zu den Massenmedien und neuen Kommunikationstechnologien, hohe Analphabetenraten, geringen oder gar keinen Zugang zum Gesundheitssystem mit hohen Krankheitsrisiken wie Aids, Tuberkulose, Malaria, aber auch hoher Säuglingssterblichkeit, eingeschränkte Mobilitätschancen im Sinne automobiler Inklusion ins Verkehrssystem, prekäre Wohnverhältnisse mit hohen Raten an Verslumung etc. Die Mehrfachexklusion der Bevölkerungsmehrheit in den peripheren Regionen der Weltgesellschaft verdeutlicht einerseits die Schattenseiten der globalen Eigendynamik der Funktionssysteme. Zugleich macht sie andererseits auf die Differenz zu denjenigen Exklusionsrisiken aufmerksam, mit denen es Personen der Modernisierungszentren zu tun haben. Die Weltgesellschaft erzeugt folglich eine Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit der Ungleichheit. Sie wird vor allem von einem Teil der globalen Massenmedien skandalisiert sowie durch engagierte Akteure und Organisationen anderer Funktionssysteme kritisiert. In den letzten zwei Jahrzehnte besonders durch Non-governmental Organizations (Amnesty International, Greenpeace etc.) und Protestbewegungen wie z.B. den Globalisierungsgegnern. Gründe für die massive Ungleichheit In den Peripherieländern der Weltgesellschaft sind die instabilen Nationalstaaten mit korrupten politischen und militärischen Führungseliten, die Entdifferenzierung von Politik, Recht und Religion zugunsten fundamentalistischer religiöser Tendenzen, Einschränkungen der freien Berichterstattung der Massenmedien, eine sehr geringe Produktivität der Wirtschaft, die zu einem nied-
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rigen Bruttosozialprodukt und sehr geringem pro Kopf-Einkommen der Bevölkerung führt, eine defizitäre Infrastruktur des Verkehrssystems, der Wohnungen und des Gesundheitssystems. Die grob skizzierte prekäre Gesamtlage der Peripherieländer generiert wiederholt gewaltsame Regierungswechsel, ethnische Konflikte, Stammes-, Bürgerkriege und Hungerkatastrophen. Der Wechsel, die Stärke der Konfliktparteien und ihr Konfliktlösungspotential werden dabei einerseits durch die unterschiedlichen verwandtschaftlichen, ethnischen, religiösen, politischen, militärischen und ökonomischen Kontaktsysteme der nationalen Eliten im Inland und die mit ihnen variierenden Mobilisierungschancen der Bevölkerung bestimmt. Andererseits jedoch auch durch die früheren und aktuellen, positiv oder negativ bewerten Bindungen und Kontakte der nationalen Eliten zu den Nachbarländern und den Ländern der Modernisierungszentren. Deren Risiko, in die Konflikte der Peripherieländer involviert zu werden, nimmt in dem Maße zu, wie die nationalen Eliten oder Gegeneliten der Mehrheit der Bevölkerung erfolgreich suggerieren können, dass die Länder der Modernisierungszentren – allen voran die USA – für ihr Elend primär verantwortlich zu machen sind. Dass dies aufgrund deren Schrittmacherfunktion hinsichtlich des Globalisierungstempos der einzelnen Funktionssysteme der Weltgesellschaft in vielerlei Hinsicht zutrifft, lässt sich nicht leugnen. Gleichwohl sind die Kausalitäten jedoch nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint. So unterschlagen die jeweiligen nationalen Eliten ihre Eigeninteressen und Mitschuld am Elend ihrer Bevölkerung nur allzu gern. Zum anderen sieht zumindest ein Teil der Migranten, Kriegsflüchtlingen und Asylanten für sich in den Modernisierungszentren die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
2.6 Von der schichtenspezifischen vormodernen Gesellschaft zur funktional differenzierten modernen Gesellschaft Dabei gilt es sich jedoch in Erinnerung zu rufen, dass die Mehrfachexklusion der Bevölkerungsmehrheit auch in diesen historisch noch gar nicht so lange zurückliegt und die Entstehungsphase der Hochmoderne dominierte, wie die Klassiker der Soziologie – Marx, Weber, Simmel, Durkheim – exemplarisch anhand der massiven Formen sozialer Ungleichheit und Armut beschrieben. Sozialstrukturelle Voraussetzung für die Durchsetzung der Moderne war, dass sich die Einheit der Gesellschaften, die wir heute den Modernisierungszentren zurechnen, mit der evolutionären Transformation von vormodernen zu modernen Gesellschaften radikal veränderte (vgl. Luhmann 1980b 72ff.; Luhmann 1989b, 165ff.). Sie ließ sich nämlich immer weniger durch eine hierarchische Rangordnung von Schichten, deren Spitze ein Monarch oder eine Oberschicht als Teil des Ganzen verkörperte, charakterisieren. Aber auch nicht mehr durch ein Zentrum, das durch eine Hauptstadt oder den Hof im Unterschied zur Peripherie des Landes oder Dorfes repräsentiert wurde. Diese Form der stratifikatorischen Differenzierung der vormodernen Gesellschaften wurde zunehmend obsolet. Dadurch verloren die Individuen ihren festen Platz, den ihnen eine hierarchisch geordnete Gesellschaft zuwies, indem sie nahezu jedes von ihnen von Geburt an durchgängig in allen Funktionsbereichen einer Schicht und einem Haus-
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rigen Bruttosozialprodukt und sehr geringem pro Kopf-Einkommen der Bevölkerung führt, eine defizitäre Infrastruktur des Verkehrssystems, der Wohnungen und des Gesundheitssystems. Die grob skizzierte prekäre Gesamtlage der Peripherieländer generiert wiederholt gewaltsame Regierungswechsel, ethnische Konflikte, Stammes-, Bürgerkriege und Hungerkatastrophen. Der Wechsel, die Stärke der Konfliktparteien und ihr Konfliktlösungspotential werden dabei einerseits durch die unterschiedlichen verwandtschaftlichen, ethnischen, religiösen, politischen, militärischen und ökonomischen Kontaktsysteme der nationalen Eliten im Inland und die mit ihnen variierenden Mobilisierungschancen der Bevölkerung bestimmt. Andererseits jedoch auch durch die früheren und aktuellen, positiv oder negativ bewerten Bindungen und Kontakte der nationalen Eliten zu den Nachbarländern und den Ländern der Modernisierungszentren. Deren Risiko, in die Konflikte der Peripherieländer involviert zu werden, nimmt in dem Maße zu, wie die nationalen Eliten oder Gegeneliten der Mehrheit der Bevölkerung erfolgreich suggerieren können, dass die Länder der Modernisierungszentren – allen voran die USA – für ihr Elend primär verantwortlich zu machen sind. Dass dies aufgrund deren Schrittmacherfunktion hinsichtlich des Globalisierungstempos der einzelnen Funktionssysteme der Weltgesellschaft in vielerlei Hinsicht zutrifft, lässt sich nicht leugnen. Gleichwohl sind die Kausalitäten jedoch nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint. So unterschlagen die jeweiligen nationalen Eliten ihre Eigeninteressen und Mitschuld am Elend ihrer Bevölkerung nur allzu gern. Zum anderen sieht zumindest ein Teil der Migranten, Kriegsflüchtlingen und Asylanten für sich in den Modernisierungszentren die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
2.6 Von der schichtenspezifischen vormodernen Gesellschaft zur funktional differenzierten modernen Gesellschaft Dabei gilt es sich jedoch in Erinnerung zu rufen, dass die Mehrfachexklusion der Bevölkerungsmehrheit auch in diesen historisch noch gar nicht so lange zurückliegt und die Entstehungsphase der Hochmoderne dominierte, wie die Klassiker der Soziologie – Marx, Weber, Simmel, Durkheim – exemplarisch anhand der massiven Formen sozialer Ungleichheit und Armut beschrieben. Sozialstrukturelle Voraussetzung für die Durchsetzung der Moderne war, dass sich die Einheit der Gesellschaften, die wir heute den Modernisierungszentren zurechnen, mit der evolutionären Transformation von vormodernen zu modernen Gesellschaften radikal veränderte (vgl. Luhmann 1980b 72ff.; Luhmann 1989b, 165ff.). Sie ließ sich nämlich immer weniger durch eine hierarchische Rangordnung von Schichten, deren Spitze ein Monarch oder eine Oberschicht als Teil des Ganzen verkörperte, charakterisieren. Aber auch nicht mehr durch ein Zentrum, das durch eine Hauptstadt oder den Hof im Unterschied zur Peripherie des Landes oder Dorfes repräsentiert wurde. Diese Form der stratifikatorischen Differenzierung der vormodernen Gesellschaften wurde zunehmend obsolet. Dadurch verloren die Individuen ihren festen Platz, den ihnen eine hierarchisch geordnete Gesellschaft zuwies, indem sie nahezu jedes von ihnen von Geburt an durchgängig in allen Funktionsbereichen einer Schicht und einem Haus-
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halt zuteilte. Der Preis dieser Inklusionssicherheit bestand jedoch darin, dass die schichtenspezifischen Selektionsfreiheiten hauptsächlich auf den Kontakt mit Seinesgleichen beschränkt blieben und Kontakte sowie Mobilität von oben nach unten und umgekehrt durch rigide Regeln der Über- und Unterordnung weitgehend unmöglich machten. Wie bestimmend diese hierarchische Gesellschaftsordnung war, zeigte sich auch daran, dass sie auf ihren Exklusionsbereich durchschlug. Diejenigen nämlich, die aus ihr herausfielen, sprich keinem Haushalt angehörten, fanden als Angehörige der oberen Schichten Unterschlupf in Klöstern oder Universitäten. Demgegenüber waren die Mittellosen, Kranken, Siechen der unteren Schichten auf die Barmherzigkeit kirchlicher Einrichtungen und Herbergen oder die Almosen der Reichen angewiesen. Völlig entkoppelt von dieser sowohl den Inklusions – als auch Exklusionsbereich durchdringenden hierarchischen Ordnung lebte schließlich in ihrem Schatten eine nicht zu unterschätzende Zahl weitestgehend verachteter Berufe und Ethnien, aber auch von Outlaws. Sie vagabundierten als Banden herum, wurden auf abgelegene Inseln verbannt oder fristeten ein trostloses Dasein auf den Galeeren. Indem die moderne Gesellschaft als paradoxe Einheit einer Vielfalt von funktionsspezifisch gleichwertigen Teilsystemen die paradoxe Einheit der hierarchisch in schichtenspezifisch ungleiche Teilsysteme geordneten vormodernen Gesellschaft ablöste, steigerte ihre Eigendynamik die Inklusionschancen und Exklusionsrisiken der modernen Individuen gleichermaßen. Die modernen Individuen waren somit strukturell als Personen gezwungen, nicht mehr nur an einem, sondern an mehreren Teilsystemen der modernen Gesellschaft teilzunehmen. Dass dieser Zugang in der Entstehungsphase der Moderne der Mehrheit der Bevölkerung in ihren heutigen Zentren durch Multiexklusion verwehrt blieb, wurde in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als soziale Frage thematisiert. Soziale Gleichheit wurde dementsprechend die inklusive Programmformel, mit der ab Ende des 19. Jahrhunderts zunächst der Sozialstaat und im 20. Jahrhundert der Wohlfahrtsstaat in den heutigen Modernisierungszentren legitimiert und etabliert wurde (vgl. Luhmann 1981c, 25ff.).
2.7 Moderne Lebenskarrieren als plurale Kombination von Selbstselektion und Fremdselektion mit riskanten Freiheiten und sozialen Ungleichheiten Wenn die Personen heute ihre Zahlungsfähigkeit regenerieren, konsumieren, lernen, studieren, lieben, ihre Rechte wahrnehmen, wählen, glauben, mobil sein, sich informieren, Sport betreiben wollen etc., genügt es mithin nicht mehr, nur ins Wirtschaftssystem, politische System, Erziehungssystem, Rechtssystem, Religionssystem, Familiensystem etc. inkludiert zu sein. Stattdessen müssen sie sequenziell an mehreren dieser Funktionssysteme durch Multiinklusion teilnehmen können. Ihr Lebenslauf wird dadurch von schichtenspezifischer Herkunft auf individuelle Karriere, Vergangenheit auf Zukunft und von Kontinuität auf Diskontinuität umgestellt. Ihre durch die lebenslaufspezifischen Ereignisse konstituierten Lebenskarrieren werden durch die Kombination von Fremd- und Selbstselektion zu riskanten Freiheiten
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halt zuteilte. Der Preis dieser Inklusionssicherheit bestand jedoch darin, dass die schichtenspezifischen Selektionsfreiheiten hauptsächlich auf den Kontakt mit Seinesgleichen beschränkt blieben und Kontakte sowie Mobilität von oben nach unten und umgekehrt durch rigide Regeln der Über- und Unterordnung weitgehend unmöglich machten. Wie bestimmend diese hierarchische Gesellschaftsordnung war, zeigte sich auch daran, dass sie auf ihren Exklusionsbereich durchschlug. Diejenigen nämlich, die aus ihr herausfielen, sprich keinem Haushalt angehörten, fanden als Angehörige der oberen Schichten Unterschlupf in Klöstern oder Universitäten. Demgegenüber waren die Mittellosen, Kranken, Siechen der unteren Schichten auf die Barmherzigkeit kirchlicher Einrichtungen und Herbergen oder die Almosen der Reichen angewiesen. Völlig entkoppelt von dieser sowohl den Inklusions – als auch Exklusionsbereich durchdringenden hierarchischen Ordnung lebte schließlich in ihrem Schatten eine nicht zu unterschätzende Zahl weitestgehend verachteter Berufe und Ethnien, aber auch von Outlaws. Sie vagabundierten als Banden herum, wurden auf abgelegene Inseln verbannt oder fristeten ein trostloses Dasein auf den Galeeren. Indem die moderne Gesellschaft als paradoxe Einheit einer Vielfalt von funktionsspezifisch gleichwertigen Teilsystemen die paradoxe Einheit der hierarchisch in schichtenspezifisch ungleiche Teilsysteme geordneten vormodernen Gesellschaft ablöste, steigerte ihre Eigendynamik die Inklusionschancen und Exklusionsrisiken der modernen Individuen gleichermaßen. Die modernen Individuen waren somit strukturell als Personen gezwungen, nicht mehr nur an einem, sondern an mehreren Teilsystemen der modernen Gesellschaft teilzunehmen. Dass dieser Zugang in der Entstehungsphase der Moderne der Mehrheit der Bevölkerung in ihren heutigen Zentren durch Multiexklusion verwehrt blieb, wurde in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als soziale Frage thematisiert. Soziale Gleichheit wurde dementsprechend die inklusive Programmformel, mit der ab Ende des 19. Jahrhunderts zunächst der Sozialstaat und im 20. Jahrhundert der Wohlfahrtsstaat in den heutigen Modernisierungszentren legitimiert und etabliert wurde (vgl. Luhmann 1981c, 25ff.).
2.7 Moderne Lebenskarrieren als plurale Kombination von Selbstselektion und Fremdselektion mit riskanten Freiheiten und sozialen Ungleichheiten Wenn die Personen heute ihre Zahlungsfähigkeit regenerieren, konsumieren, lernen, studieren, lieben, ihre Rechte wahrnehmen, wählen, glauben, mobil sein, sich informieren, Sport betreiben wollen etc., genügt es mithin nicht mehr, nur ins Wirtschaftssystem, politische System, Erziehungssystem, Rechtssystem, Religionssystem, Familiensystem etc. inkludiert zu sein. Stattdessen müssen sie sequenziell an mehreren dieser Funktionssysteme durch Multiinklusion teilnehmen können. Ihr Lebenslauf wird dadurch von schichtenspezifischer Herkunft auf individuelle Karriere, Vergangenheit auf Zukunft und von Kontinuität auf Diskontinuität umgestellt. Ihre durch die lebenslaufspezifischen Ereignisse konstituierten Lebenskarrieren werden durch die Kombination von Fremd- und Selbstselektion zu riskanten Freiheiten
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(vgl. Luhmann 1989b, 232ff.). Dies besagt, dass die Personen einerseits in ihren einzelnen Lebensphasen von Fremdentscheidungen abhängig sind. Dabei kommt den Organisationen der Funktionssysteme eine immer wichtigere Rolle zu. Andererseits wird von ihnen mit zunehmendem Alter erwartet, ihre Lebenskarriere durch Eigenentscheidungen selbst zu beeinflussen. Je nachdem, welche Inklusionschancen die Funktionssysteme und Organisationen den modernen Individuen in den einzelnen Lebensphasen bieten, und ob und wie diese sie anhand eigener Ansprüche und Leistungen wahrnehmen, kommt es zu unterschiedlichen Formungen der Personen durch Karrieren. Eine zentrale Rolle spielen hierbei die Kommunikationsmedien Liebe, Geld, Wissen, Glauben, Macht, der Selektionscode der beruflichen Beurteilungen und Noten sowie die Wahrnehmungsmedien der Kunst (Luhmann 1997b, Bd.1, 316ff.). Da der Zugang zu ihnen an die Inklusion der modernen Individuen in die Funktionssysteme und ihre Organisationen gebunden ist, erzeugen hauptsächlich diese Positiv-, Negativ- und Nullkarrieren. Sie produzieren als Resultat der Kombination von Fremd- und Eigenentscheidung eine ungleiche Verteilung der Verteilung der Personen auf Partnerschaften, Bildungsabschlüsse, Stellen, Reputation, Einkommen, Ämter, Konsumgüter, die Inanspruchnahme von Dienstleistungen etc. Sozialwissenschaftliche Beobachter, welche die Gesellschaften der heutigen Modernisierungszentren als Zwei-Drittel-Gesellschaft (Geißler 2006, 219ff.), Sekundärgesellschaft (Baecker 1994, 95) oder gespaltene Gesellschaft (Geißler 2006, 291ff.) beschreiben, wollen damit auf ihre Modernisierungsverlierer aufmerksam machen. Dabei haben sie vor allem diejenigen Personengruppen vor Augen, deren Negativkarrieren soziale Exklusion aus den Funktionssystemen und ihren Organisationen erzeugen. Zu diesen exkludierten Personengruppen gehört auch ein Teil derjenigen Migranten, die aus den Peripherieländern der Weltgesellschaft in die Modernisierungszentren kommen. Ihre Präsenz vornehmlich in deren Großstädten verweist auf Folgeprobleme, die ihre Selbstbeschreibung als multiethnische bzw. multikulturelle Gesellschaft durch Tendenzen ethnischer Segregation zunehmend in Frage gestellt sieht (vgl. Han 2005, 363ff.). Es überrascht folglich nicht, dass sozialwissenschaftliche Beobachter besonders bezüglich urbaner Zentren die Risiken einer sich selektiv konstituierenden »Parallelgesellschaft« (Heitmeyer/Schröder 1997; Gestring 2011) diskutieren. Eine systemtheoretische Beobachtung der heutigen Modernisierungszentren ermöglicht es also, im Kontext des Primats der funktionalen Differenzierung auch die durch sie resultierenden Formen sozialer Ungleichheit bzw. stratifikatorischer Differenzierung zu identifizieren. Zu ihrer Beschreibung genügen heute weder das traditionelle Zweierschema des Marxschen Klassenmodells noch das Dreierschema des traditionellen Schichtenmodells. Stattdessen orientieren sich neuere Forschungen zur sozialen Ungleichheit zunehmend an einem pluralen Modell von Lebenslagen bzw. sozialen Milieus (vgl. dazu Geißler 2014, 93ff.). Aus systemtheoretischer Sicht zollen sie damit implizit der Vielfalt der Funktionssysteme und besonders der veränderten Eigendynamik ihrer Beschäftigungssysteme Tribut. Das gilt speziell im Hinblick auf die Bestimmung derjenigen Dimensionen sozialer Ungleichheit, die auf die Leistungs- bzw. Berufsrollen im Inklusionsbereich
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abstellen. Hier werden vor allem die Transformation von der klassischen Industriegesellschaft zur modernen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft und die damit einhergehende wachsende Dominanz der Dienstleistungsklassen bzw. -berufe stärker akzentuiert (vgl. Häußermann/Siebel 1995; Willke 2001). Darüber hinaus werden diejenigen sozialen Unterschiede mit einbezogen, die sich aus den Selektionsfreiheiten und Ansprüchen der Individuen im Hinblick auf ihre Laienrollen im Inklusionsbereich der Funktionssysteme ergeben, d.h. als Partner und Elternteil, Kunde und Besucher des Einzelhandels, Publikum und Anwender von Massenmedien, Zuschauer und Breitensportler, Besucher von Kunstveranstaltungen, Reisender und Verkehrsteilnehmer, Mieter und Eigentümer etc. Schließlich kommt auch den geschlechts-, altersspezifischen und Stadt-Land-Differenzen eine wichtige Rolle bei der Betrachtung sozialer Ungleichheit zu. Inklusionsbereiche, die Marxisten dem Reproduktionsbereich zuordnen, werden somit an die Semantik der Erlebnis- oder Freizeitgesellschaft angeschlossen und anhand unterschiedlicher Lebensziele und Lebensstile differenziert. Zugleich wird auch der Exklusionsbereich besonders durch die dynamische Armutsforschung und den Lebenslagenansatz der Armut in komplexerer Form als bis dato thematisiert (Ludwig 1992; Buhr 2005). Armutslagen werden als plural und heterogen, biographisch divergierend – und nicht nur auf klassische Randgruppen oder Randschichten reduziert – identifiziert.
2.8 Die Pluralität gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen als Ausdruck des Kontingenzbewusstseins der Moderne Im Laufe unserer bisherigen systemtheoretischen Beobachtung der heutigen Weltgesellschaft stießen wir u.a. auf folgende soziologische Gesellschaftsbeschreibungen: die funktional differenzierte Gesellschaft, multiethnische Gesellschaft, Zwei-Drittel-Gesellschaft Parallelgesellschaft, Risikogesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Erlebnisund Freizeitgesellschaft, Wissensgesellschaft etc. Wir können dieses plurale Angebot zusätzlich durch die offene Gesellschaft, Informationsgesellschaft, Zivilgesellschaft, Spaßgesellschaft, postmoderne Gesellschaft, Mediengesellschaft, Unternehmensgesellschaft, Industriegesellschaft, Arbeitsgesellschaft, inklusive Gesellschaft etc. ergänzen (vgl. auch Kneer/Nassehi/Schroer 2001). Deutlich wird anhand dieser Vielzahl gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen ein typisches Merkmal der modernen Gesellschaft: ihr Kontingenzbewusstsein und ihre Polykontexturalität (Luhmann 1992a, 93ff.). Damit ist gemeint, dass heute im Unterschied zur Vormoderne keine privilegierte oder mit Autorität ausgestattete gesellschaftliche Beobachterposition existiert, von der aus man die soziale Welt gleichsam monokontextural als einzig notwendige und richtige beschreiben könnte. Stattdessen mutieren mit dem von uns skizzierten Übergang zur funktionalen Differenzierung nicht nur die Strukturen der modernen Gesellschaft, sondern auch ihre Semantiken von notwendigen zu möglichen. Letzteres gilt auch für die gesellschaftstheoretische Beschreibung der Systemtheorie.
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2. Weltgesellschaft
abstellen. Hier werden vor allem die Transformation von der klassischen Industriegesellschaft zur modernen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft und die damit einhergehende wachsende Dominanz der Dienstleistungsklassen bzw. -berufe stärker akzentuiert (vgl. Häußermann/Siebel 1995; Willke 2001). Darüber hinaus werden diejenigen sozialen Unterschiede mit einbezogen, die sich aus den Selektionsfreiheiten und Ansprüchen der Individuen im Hinblick auf ihre Laienrollen im Inklusionsbereich der Funktionssysteme ergeben, d.h. als Partner und Elternteil, Kunde und Besucher des Einzelhandels, Publikum und Anwender von Massenmedien, Zuschauer und Breitensportler, Besucher von Kunstveranstaltungen, Reisender und Verkehrsteilnehmer, Mieter und Eigentümer etc. Schließlich kommt auch den geschlechts-, altersspezifischen und Stadt-Land-Differenzen eine wichtige Rolle bei der Betrachtung sozialer Ungleichheit zu. Inklusionsbereiche, die Marxisten dem Reproduktionsbereich zuordnen, werden somit an die Semantik der Erlebnis- oder Freizeitgesellschaft angeschlossen und anhand unterschiedlicher Lebensziele und Lebensstile differenziert. Zugleich wird auch der Exklusionsbereich besonders durch die dynamische Armutsforschung und den Lebenslagenansatz der Armut in komplexerer Form als bis dato thematisiert (Ludwig 1992; Buhr 2005). Armutslagen werden als plural und heterogen, biographisch divergierend – und nicht nur auf klassische Randgruppen oder Randschichten reduziert – identifiziert.
2.8 Die Pluralität gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen als Ausdruck des Kontingenzbewusstseins der Moderne Im Laufe unserer bisherigen systemtheoretischen Beobachtung der heutigen Weltgesellschaft stießen wir u.a. auf folgende soziologische Gesellschaftsbeschreibungen: die funktional differenzierte Gesellschaft, multiethnische Gesellschaft, Zwei-Drittel-Gesellschaft Parallelgesellschaft, Risikogesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Erlebnisund Freizeitgesellschaft, Wissensgesellschaft etc. Wir können dieses plurale Angebot zusätzlich durch die offene Gesellschaft, Informationsgesellschaft, Zivilgesellschaft, Spaßgesellschaft, postmoderne Gesellschaft, Mediengesellschaft, Unternehmensgesellschaft, Industriegesellschaft, Arbeitsgesellschaft, inklusive Gesellschaft etc. ergänzen (vgl. auch Kneer/Nassehi/Schroer 2001). Deutlich wird anhand dieser Vielzahl gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen ein typisches Merkmal der modernen Gesellschaft: ihr Kontingenzbewusstsein und ihre Polykontexturalität (Luhmann 1992a, 93ff.). Damit ist gemeint, dass heute im Unterschied zur Vormoderne keine privilegierte oder mit Autorität ausgestattete gesellschaftliche Beobachterposition existiert, von der aus man die soziale Welt gleichsam monokontextural als einzig notwendige und richtige beschreiben könnte. Stattdessen mutieren mit dem von uns skizzierten Übergang zur funktionalen Differenzierung nicht nur die Strukturen der modernen Gesellschaft, sondern auch ihre Semantiken von notwendigen zu möglichen. Letzteres gilt auch für die gesellschaftstheoretische Beschreibung der Systemtheorie.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Betrachtet man aus deren Perspektive, wie die Mehrzahl der gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen begrifflich verfährt, fällt auf, dass sie die Sicht eines der Teilsysteme ins Zentrum rücken und mit der Gesamtgesellschaft gleichsetzen. Dies gilt für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung der Mediengesellschaft oder Informationsgesellschaft, welche die Massenmedien mit der Gesamtgesellschaft identifiziert; für die der Wissensgesellschaft, welche die Wissenschaft mit der Gesamtgesellschaft gleichsetzt; für die Freizeit, wenn von Freizeit- und Spaßgesellschaft die Rede ist; für die Wirtschaft, wenn einer ihrer Sektoren als dominanter bezeichnet und als Unternehmens-, kapitalistische, Arbeits-, Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaft generalisiert wird, und schließlich für die normativ erwünschte aktive Inklusion in die oder unerwünschte Exklusion aus der Gesamtgesellschaft, wenn diese als Zivilgesellschaft oder inklusive Gesellschaft respektive Zwei-Drittel-Gesellschaft oder Parallelgesellschaft beschrieben wird. Übersehen wird von den so verfahrenden Gesellschaftsbeschreibungen, dass die Einheit der Gesamtgesellschaft nicht mit der eines ihrer Teilsysteme identisch ist. Stattdessen reproduziert sie ihre Einheit als umfassendes Kommunikationssystem und stellt als solches zugleich die gesellschaftsinterne Umwelt für jedes der an ihr partizipierenden funktional differenzierten Teilsysteme dar. Für eine systemtheoretisch ansetzende Gesellschaftstheorie lässt sich eine angemessene Gesellschaftsbeschreibung folglich nur auf die Gesellschaft als paradoxe Einheit unterschiedlich ausdifferenzierter Funktionssysteme beziehen. Als solche ist sie für diese jeweils Dasselbige des Verschiedenen, was auch die Mehrzahl der Gesellschaftsbeschreibungen erklärbar macht. Seitdem die Soziologie sich Ende des 19. Jahrhunderts als eigenständige Fachdisziplin ausdifferenzierte, ist sie zu einem konstanten Beobachter der modernen Gesellschaft geworden (vgl. Nassehi 2011, 15ff.). Es überrascht von daher auch nicht, dass sie, ihrem Selbstverständnis nach, durch soziologische Aufklärung der Gesellschaftsstrukturen zu ihrer Veränderung beitragen wollte. Erinnert sei nur an Marx’ berühmte 11. Feuerbachthese: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.« (Hervorhebung i. O.) Nachdem die neomarxistische Renaissance durch die Kritische Theorie innerhalb der Soziologie der Vergangenheit angehört, das grandiose Experiment der Organisationsgesellschaft mittels einer Ein-Parteienherrschaft, sprich das Sowjetimperium, gescheitert ist, und nationale wohlfahrtsstaatliche Steuerungen der Gesellschaft spätestens mit der Ende der 1980er Jahre einsetzenden Globalisierungsdebatte innerhalb und außerhalb der Soziologie zunehmend hinsichtlich ihres Erfolges in Zweifel gezogen werden, scheinen wir uns heute in einer anderen gesellschaftlichen Situation hinsichtlich des Verhältnisses von Interpretation und gesellschaftlicher Veränderung als Marx zu befinden. Im Sog der sich durchsetzenden Weltgesellschaft verändern sich alle Regionalgesellschaften, ob in der Ersten, Zweiten oder Dritten Welt, mit einer solchen Geschwindigkeit, dass die Soziologie mit ihren Gesellschaftsbeschreibungen dieser Entwicklung interpretativ hinterher zu hinken scheint. Das Verhältnis von soziologischer Gesellschaftsinterpretation und gesellschaftlicher Veränderung kehrt sich somit tendenziell um. In freier Anlehnung an Marx könnte man dementsprechend formulieren: »Da die Welt(gesellschaft) sich so rasant verändert, kommt es nicht darauf an, sie zu verändern, sondern angemessen zu interpretieren.«
2. Weltgesellschaft
Versuche dazu lassen sich in der Soziologie seit Mitte der 1980er Jahre bis heute beobachten. Es wurde eine Vielzahl verschiedenster Gesellschaftsbeschreibungen publiziert. Als an Erkenntnisgewinn orientierte Publikationen beziehen sich diese zunächst und vor allem auf die Beobachtung der Beobachtung durch Fachkollegen, da nur so fachinterne Reputation zu gewinnen ist. Zugleich dringen die soziologischen Gesellschaftsbeschreibungen, vermittelt durch die Massenmedien, Sachverständigengremien, kommerziell orientierte Beratungsinstitute und die Lehre, immer schneller in bestimmte gesellschaftliche Teilsysteme ein. Wie diese, ihre Organisationen und deren Personal sie zur Selbstbeschreibung und zur Beschreibung der Gesamtgesellschaft benutzen, entzieht sich jedoch weitgehend dem Zugriff der Soziologie. Und zwar deshalb, weil sie sie in ihr eigenes rekursives Netzwerk der Kommunikation einbauen müssen, dass anderen Präferenzen folgt als dasjenige der Wissenschaft. So selegiert das rekursive kommunikative Netzwerk der Massenmedien die soziologischen Gesellschaftsbeschreibungen daraufhin, ob sie sich ihren programmspezifischen Kriterien von Aktualität, Sensation, Skandalisierung und Abweichung fügen. Dabei nimmt der Grad der Reduktion der Komplexität und Simplifizierung der soziologischen Gesellschaftsbeschreibungen in dem Maße zu, in dem es sich um audiovisuelle private Medien einerseits und ein breites Massenpublikum andererseits handelt. Man teste nur die programmspezifische Selektion und Darstellung der multikulturellen Gesellschaft in einem privaten Fernsehsender wie SAT 1 oder einem Boulevardblatt wie der Bild-Zeitung im Unterschied zum Feuilleton einer überregionalen Tageszeitung wie der FAZ oder der SZ. Gleiches gilt für das rekursive Netzwerk der Kommunikation des politischen Systems und seiner Organisationen. Hier orientiert sich der Filter, den soziologische Gesellschaftsbeschreibungen durchlaufen, zum einen an den divergierenden Interessen der Regierungs- und Oppositionsparteien und zum anderen an der wissenschaftlichen Legitimation ihrer jeweiligen politischen Programme. So bediente sich beispielsweise der in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts erschienene 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung der soziologischen Gesellschaftsbeschreibungen der Wissensgesellschaft, der alternden Gesellschaft, der Weltwirtschaft und diverser Armutskonzepte, um die Notwendigkeit der Agenda 2010 und der mit ihr verknüpften Reformen zu begründen. Was man in den Blick bekommt, wenn man aus systemtheoretischer Perspektive für die Weltgesellschaft als umfassendes und funktional differenziertes Sozialsystem gesellschaftstheoretisch optiert, hoffen wir mit unserer Darstellung, zumindest ansatzweise klargemacht zu haben.
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3. Funktionssysteme
3.1 Politik. Zwischen Intervention und Evolution 3.1.1
Politik als Funktionssystem der Weltgesellschaft
Das Funktionssystem der Politik ist in der heutigen Weltgesellschaft – trotz Weltorganisationen der Politik (z.B. UNO) und supranationaler politischer Organisationen regionalen Zuschnitts (z.B. EU) – noch relativ stark an eine segmentäre Differenzierung von Nationalstaaten gebunden. Einzelne von diesen können die Weltpolitik und regionale Politik mehr als andere beeinflussen, ohne sie im Sinne einer einzigen Supermacht von einem Zentrum aus beherrschen zu können. Dafür sind die Probleme der Weltgesellschaft und ihrer Teilgesellschaften zu komplex und die politischen Ereignisse zu dynamisch. Am ehesten ist es deshalb gerechtfertigt, von polyzentrischen Steuerungsversuchen der Weltpolitik zu sprechen, bei denen vor allem den G8 Staaten, d.h. den Nationalregierungen der USA, Kanadas, der BRD, Frankreichs, Italiens, Japans, Großbritanniens und Russlands eine besondere Rolle zukommt. Zur Schwierigkeit der Steuerung komplexer Systeme äußert sich (Willke 1995, 336) wie folgt: »Die Grundhypothese dieses Buches ist, daß Selbststeuerung eines komplexen Systems angemessener und produktiver ist als der Versuch externer Steuerung, und daß nur die Absicht der Koordination autonomer Akteure externe Steuerung in Form einer Kontextsteuerung legitimiert, die als wechselseitige Abstimmung die Form eines Dialogs über die Verträglichkeit von Optionen annimmt.«
3.1.2
Der doppelte Machtkreislauf der Politik in den Modernisierungszentren
In den Gesellschaften der Modernisierungszentren differenziert sich das Funktionssystem der Politik als selbstreferentielles geschlossenes Teilsystem gegenüber seiner Umwelt durch einen Doppelkreislauf von formaler und informaler Macht aus (Luhmann 1981e, 42ff.; Luhmann 1987b, 148; Luhmann 2000b, 264ff.; Luhmann 2010, 139ff.). Dabei wendet es jeweils Macht auf Macht bzw. Entscheidungen auf Entscheidungen an, d.h. das Medium Macht wird reflexiv.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Der formale Machtkreislauf (=Polity) stellt auf diejenigen Aspekte der Macht ab, die rechtlich (z.B. Verfassung, Verfahren, Geschäftsordnungen) fixiert sind. Demgegenüber verweist der informale Machtkreislauf (=Politics) auf diejenigen Aspekte der Macht, die sich der rechtlichen Fixierung entziehen (z.B. Prominenz politischer Personen, Kontaktnetze, Cliquenbildung) und zur Reduktion der Komplexität der Entscheidungssituation beitragen. Verläuft der formale Machtkreislauf im Uhrzeigersinn, so ist der informale Machtkreislauf gegenläufig angelegt. Kann bei jenem im Konfliktfalle der Rechtsweg beschritten werden, ist dies beim informalen Machtkreislauf ausgeschlossen. Das Medium Macht ist hier labiler und fluider und lässt sich nicht in das Recht einbinden. Der formale Machtkreislauf operiert kommunikativ wie folgt: Die Staatsbürger entscheiden als Wähler bei der Wahl auf der Basis der von den Parteien vorgestellten Programme und Kandidaten über die Mandatsverteilung und die Möglichkeiten der Übernahme von Regierung und Opposition für eine bestimmte formal vorgesehene Zeit (=Legislaturperiode). Die Entscheidungen der Regierung(sfraktionen) sind Entscheidungsprämissen für die Verwaltung. Deren Einzelentscheidungen wiederum betreffen die Staatsbürger in Form der unterschiedlichen Klientenrollen. Die Erfahrungen, die sie mit diesen Rollen machen, können sie dann wieder in die nächsten Wahlen einfließen lassen. Die kommunikative Operationsweise des informalen Machtkreislaufes verläuft im Gegensatz zum formalen Machtkreislauf auf folgende Weise: Die Parteien und ihre Kandidaten reduzieren die Komplexität der Entscheidungssituation der Wähler durch die Konzentration auf wenige Wahlkampfthemen und prominente Spitzenpolitiker. Diese beeinflussen als öffentliche Amtsinhaber und Parteieliten die Parteitagsdelegierten durch entsprechende Kontaktsysteme und Hausmacht, indem sie die Entscheidungsalternativen der Parteitagsbeschlüsse auf das parlamentarisch Durchsetzbare zurückzuschrauben versuchen. Die Verwaltung arbeitet mit Hilfe der größeren Kontinuität und rechtlich/sachlichen Expertise ihres Personals die Komplexität der Entscheidungssituation der politisch Regierenden klein. Und die Staatsbürger versuchen als Klientel der Verwaltung auf deren Entscheidungen einzuwirken. Dies geschieht in der Rolle des aktiven Partizipanten entweder konventionell durch eigene Sachkenntnis, Nutzung informeller Kanäle und lobbyistische Tätigkeit im Rahmen von Interessenorganisationen oder unkonventionell mittels Teilnahme an Bürgerinitiativen, Bürgerbegehren, neuen sozialen Bewegungen und Non-governmental Organizations.
3.1.3
Politik und Massenmedien
Ausgeklammert wurden bei unserer bisherigen Beobachtung des politischen Funktionssystems die Massenmedien. Die publizistische Kommunikation orientiert sich an der Leitdifferenz Information/Nichtinformation mit dem Präferenzwert Information bzw. öffentlich/nicht öffentlich (Luhmann 1996b, 36ff.; Marcinkowski 1993, 53ff.). Ihre Fremdbeobachtung des politisch-administrativen Systems kann durch Präferenz für Neues, Skandalisierung und kritische Kommentierung sowohl den Erfolg/Misserfolg der Karriere von politischen Themen und Akteuren als auch die Wahlentscheidungen der durch die Publikumsrolle inkludierten Staatsbürger entscheidend mit beeinflussen.
3. Funktionssysteme
Zugleich ermöglichen die Massenmedien den Akteuren des politisch-administrativen Systems zum einen die wechselseitige Beobachtung der Resonanz der öffentlichen Meinung auf mögliche oder getroffene Entscheidungen. Und zum anderen gewährleisten sie vor allem der Politikprominenz die Selbstdarstellung und deren Beobachtung und Beobachtetwerden mit entsprechenden Reputationsgewinnen und -verlusten innerhalb der politischen Kommunikation. Man denke z.B. an politische Talk-Shows, Politikbarometer, politische Magazine, politische Nachrichtensendungen, aber auch an ihre Gastbesuche im Kontext unpolitischer Sendungen.
3.1.4
Funktion und Codierung der Politik
Die gesellschaftliche Funktion des politisch-administratives Teilsystems besteht in der Herstellung bzw. dem »Bereithalten einer entsprechenden Kapazität«, Darstellung und Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen (Luhmann 2000b, 84ff.). »Kollektiv bindend« impliziert in diesem Zusammenhang, dass auch die Regierung, also die Entscheidenden, an die Entscheidungen gebunden ist. »Bindend«, dass »eine Entscheidung als nicht mehr in Frage gestellte Prämisse für weitere Entscheidungen fungiert; aber nicht gesagt ist damit, daß bestimmte künftige Systemzustände festgelegt sind. Die Bindung muss effektiv eintreten, und dies unabhängig von der Rationalität der Entscheidung, ihrem Nutzen, ihrer normativen Geltung.« Und »Durchsetzung« bedeutet, dass durch Drohung mittels negativer Sanktionen, zu denen im Grenzfall auch die Anwendung physischer Gewalt gehört, die Bindung der Entscheidungen garantiert wird. Da die Differenz von Machtüberlegenheit/Machtunterlegenheit in demokratischen politischen Systemen die binäre Form von Regierung/Opposition annimmt, fällt die Funktionswahrnehmung kollektiv bindenden Entscheidens primär der Regierung als der mächtigeren Seite des Duals zu. Demgegenüber kann die Opposition nur kommunizieren, was sie anstelle der Regierung tun würde und im Übrigen auf deren Fehler warten bzw. solche provozieren. Der politische Code Regierung/Opposition weist mithin zwei Werte auf und ermöglicht dadurch die Ausdifferenzierung und Engführung der politischen Kommunikation. Als Präferenzcode verknüpft er die Übernahme der Regierungsmacht mit dem Präferenzwert und den Negativ- bzw. Reflexionswert mit der unterlegenen Macht der Opposition. Die durch die Leitdifferenz Regierung/Opposition indizierte Spaltung der Spitze der politischen Macht verdeutlicht zugleich die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit der Demokratie im Kontext der Weltpolitik (Luhmann 1987c, 127ff.). Baut sie doch das Crossing der Inhaber der Regierungsmacht zur Opposition und umgekehrt als zukünftige Möglichkeit ein. Mit dieser Temporalisierung der politischen Macht verliert die Rolle der Opposition das Odium des Rebellischen und Revolutionären, die ihr oft im Kontext politischer Diktaturen seitens der Regierung zugewiesen wird. Zugleich setzt sich damit die für moderne Gesellschaften typische Kontingenz (Luhmann 1992a, 93ff.) auch im politischen System als riskante Zukunft in Form der Möglichkeit des Regierungswechsels mittels Wahlen durch. Diese erzeugen die Unterbrechung der mit dem Machtkreislauf
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
des politischen Systems gegebenen Selbstreferenz und lassen somit das politische Kalkül der Machterhaltung und des Machterwerbs durch die Unvorhersehbarkeit des Wahlausgangs kontingent werden. Der binäre Code Regierung/Opposition stellt eine invariante formale Struktur dar, welcher die Entscheidungskompetenz der politischen Ämter bzw. Stellen asymmetrisiert. Er lässt jedoch inhaltlich offen, welche gesellschaftliche Themen (Policy) die Regierung oder Opposition politisieren und für welche Entscheidungsprogramme sie optieren. Im Prinzip lässt sich jeder gesellschaftliche Sachverhalt, sieht man von bestimmten Verfassungsschranken ab, politisieren, sofern er nicht an der Selektivität des doppelten Machtkreislaufes kommunikativ scheitert. Dabei hat sich im Hinblick auf die politisierbaren Themen ein Zweitcode in Form von konservativ/progressiv eingespielt (Luhmann 1981b; Luhmann 1992a, 174). Dieser ermöglicht es besonders den Parteien, jedes von ihnen aufgegriffene Thema bzw. Problem daraufhin zu beobachten und zu bewerten, ob die daran anknüpfenden Entscheidungsprogramme auf die Bewahrung oder Veränderung bestehender gesellschaftlicher Strukturen abstellen. Es überrascht mithin nicht, dass sich einige der führenden Parteien noch bis heute mit der konservativen Semantik beschreiben, z.B. die englischen »Conservatives«, oder als progressiv beschrieben wie die deutsche »Fortschrittspartei« bzw. sich als linke Parteien der progressiven Seite des Sekundärcodes zurechnen. Diese politische Semantik kann zudem nochmals innerhalb der Parteien durch informelle Fraktionen und Kreise dupliziert werden.
3.1.5
Die Parteien der Politik
Fragt man etwas genauer nach der Stellung der Parteien als formalen Organisationen des politisch-administrativen Systems, so gilt zunächst generell, dass sie sich historisch im 19. Jahrhundert als Mitgliederorganisationen durchsetzten, welche die Wahlen überdauerten. Damit lösten sie den unabhängigen Abgeordneten loser politischer Gruppierungen ab und trugen zu einer weiteren Binnendifferenzierung und Eigenkomplexität des politischen Systems bei. Im Unterschied zu dessen Kernorganisation, dem Staat, der sich als Zentrum des politischen Systems begreifen lässt, da er in Form der Regierungsämter die Funktion kollektiv bindenden Entscheidens erfüllt, lassen sie sich dessen Peripherie zuordnen. Als solche erfüllen sie mehrere Funktionen. Diese variieren hinsichtlich ihrer Erfüllung und selektiven Ersetzung durch andere Organisationsformen zum einen in Abhängigkeit vom jeweiligen Parteiensystem (Mehrparteien-, Zweiparteiensystem etc.) und Wahlverfahren (Mehrheitswahlrecht, personalisiertes Verhältniswahlrecht etc.). Zum anderen in Abhängigkeit vom Wandel der Stratifizierungsformen und zentralen Risiken und Probleme der modernen Gesellschaft. Im Einzelnen lassen sich folgende Funktionen beobachten (Rudzio 2003, 117ff.): •
Die Ermöglichung politischer Karrieren durch die Rekrutierung und Besetzung von Ämtern des politischen-administrativen Systems, des Rechtssystems und der Massenmedien. Beispiele für diese Form der Ämterpatronage sind Partei-, Regierungsund parlamentarische Ämter, Richterstellen des Verfassungsgerichtes und wichti-
3. Funktionssysteme
• • •
•
ge Positionen der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten wie Intendanten- oder Programmdirektorstellen. Die Formulierung von Grundsatz-, Wahl- und Koalitionsprogrammen. Die politische Aggregation von gesellschaftlichen Interessen durch Rekrutierung neuer und Bindung bisheriger Parteimitglieder. Die wirtschaftliche Bestandserhaltung durch Erschließung monetärer Ressourcen wie Parteienspenden, Staatszuwendungen und Mitgliederbeiträge (vgl. von Beyme 2010, 159ff.). Die Mobilisierung von Wählern, aktiven Parteimitgliedern und sympathisierenden Prominenten bei Wahlen.
Parteien sind heute folglich hochkomplexe und multifunktionale formale Organisationen, die als soziale Systeme geschlossen und offen zugleich operieren müssen. »Geschlossen«, um auf der Basis demokratisch legitimierter Entscheidungen eine kollektiv kommunikationsfähige Einheit nach außen zu demonstrieren. »Umweltoffen«, um Lernprozesse in Bezug auf eigene Funktionsdefizite zu ermöglichen. Dabei kommt es nahezu zwangsläufig zu Organisationsdilemmata bzw. -paradoxien mit entsprechenden Versuchen ihrer Invisibilisierung. Wir wollen an dieser Stelle nur ein prominentes Beispiel anführen. So müssen sich vor allem die größeren historischen Parteien wie die CDU und SPD gegenüber moderneren Milieus und Lebensstilen der Wähler durch Veränderung ihrer Entscheidungsprogramme öffnen, wenn sie regierungsfähig bleiben oder werden wollen. Gleichzeitig dürfen sie nicht die Loyalität der Wähler traditioneller Milieus und Lebensstile durch allzu schnelle und opportunistische Selbstveränderungen aufs Spiel setzen (vgl. zur aktuellen soziologischen Diskussion sozialer Milieus ZTS 2014). Dies kann zu paradoxen Formen der Selbstbeschreibung als zugleich moderne und traditionelle Partei führen. Je nach politischem Thema optieren die Parteien dementsprechend eher für moderne oder traditionelle Werte und benutzen die Semantik der politischen Mitte als ausgeschlossenes eingeschlossenes Drittes von Tradition und Moderne zur Invisibilisierung der getroffenen Option. Da die Parteien vor allem an der Durchsetzung ihrer Programme interessiert sind, können sie dies nur dann, wenn ihr Personal die Regierungsämter innehat. Die an diese gekoppelten kollektiv bindenden Entscheidungen lassen sich – wie bereits erwähnt – in politische Prozesse ihrer Herstellung und Darstellung unterscheiden. Dabei findet erstere vor allem im Kontext der Gesetzgebungsverfahren mit ihren öffentlichen und nichtöffentlichen Stationen statt, wobei dem interaktiven Zusammenspiel von Politik und ministerialer Verwaltung besonders im Rahmen der nichtöffentlichen Stationen eine wichtige Rolle zukommt (vgl. Hohm 1987, 184ff.). Während demgegenüber die Darstellung der Programmziele der intendierten kollektiv bindenden Entscheidungen in den der publizistischen Öffentlichkeit zugänglichen plenaren Debatten, aber auch verstärkt in den durch die Massenmedien in Absprache mit den Spitzenpolitikern inszenierten Interviews, Streitgesprächen, Talk-Shows etc. abläuft.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
3.1.6
Die Politik als intervenierendes System und die Chancen sowie Grenzen ihrer Erfolgsmedien Macht, Geld, Wissen, Personalvertrauen
Im Kern geht es bei der Herstellung und Darstellung kollektiv bindender Entscheidungen um die Frage der Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung der übrigen Funktionssysteme und ihrer Effekte für die Gesamtbevölkerung sowie Ökologie durch die staatliche Politik. Dieser stehen dazu vor allem die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Macht, Geld, Wissen, aber auch Vertrauen in das politische Personal zur Verfügung (vgl. zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Luhmann 1997b, Bd. 1, 316ff.; zum Vertrauen Luhmann 1973). Mit ihrer Hilfe versucht die staatliche Politik, die Zukunft der gesellschaftlichen Teilsysteme und der in sie inkludierten oder aus ihr selektiv exkludierten Bevölkerung in eine Richtung zu transformieren, die sie ohne diese nicht annehmen würde. Als intervenierendes System beobachtet mithin die staatliche Politik sich und ihre Umwelt anhand der Differenz Intervention/Interventionsverzicht mit der Präferenz für erstere. Sie unterstellt somit, dass die Zukunft der intervenierten Systeme mittels ihrer Interventionen eine andere als ohne sie sein wird. Ihre Zukunft unterscheidet sich folglich durch die gegenwärtigen Entscheidungen des politischen Systems von ihrer Vergangenheit. Ob die intendierte Intervention jedoch zu den erwünschten Resultaten führt, ist nicht nur deshalb kontingent, weil die Zukunft in der jeweiligen Gegenwart nicht eindeutig vorhersehbar ist. Sie ist es vor allem auch deswegen, weil es die Politik bei den intervenierten Systemen mit strukturdeterminierten und beobachtenden Systemen zu tun hat, welche sich – wie wir bereits sahen – kommunikativ an eigenen binären Codes orientieren. Das Risiko einer intervenierenden Politik besteht also besonders darin, dass ihr Interventionserfolg daran gebunden ist, dass sich die intervenierten Systeme in der von der Politik gewünschten Richtung irritieren lassen und nicht anders optieren (vgl. Willke 1994, 226). Inwieweit die intervenierende Politik ihr Interventionsrisiko reduzieren kann, hängt somit speziell von den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Einflussmedien ab. Was zunächst die Macht als das zentrale Einflussmedium der staatlichen Politik betrifft, so begegneten wir ihr bereits im Kontext des doppelten Machtkreislaufes. Sofern es an dieser Stelle darum geht, zu verdeutlichen, inwieweit der Staat als seine politische Kernorganisation die gesellschaftsinternen und -externen Umweltsysteme des politischen Systems beeinflussen kann, müssen wir mithin die Macht als Einflussmedium präzisieren (Luhmann 2000b, 18ff.; Luhmann 2010). Wir verstehen darunter Formen, welche die Selektionsfreiheiten der Umweltsysteme und ihrer Akteure durch die kommunizierten Entscheidungen des politischen Systems in eine Richtung dirigieren, welche sie zu Alternativen zwingen, die sie von sich aus vermieden hätten. Der Interventionserfolg des politischen Systems wird dann wahrscheinlicher, wenn es ihm gelingt, eine Asymmetrie von Vermeidungsalternativen zu institutionalisieren, welche bei den Adressaten der politischen Kommunikation zur Akzeptanz der eigentlich unerwünschten Vermeidungsalternative führt. Im Kern handelt es sich bei den Vermeidungsalternativen um negative Sanktionen, deren schärfste und zugleich folgenreichste die Anwendung überlegener physischer Gewalt ist (vgl. Luhmann 2000b, 49).
3. Funktionssysteme
Ihre staatliche Kasernierung und Monopolisierung sowie nationale und inter- bzw. transnationale Anwendung durch die Entscheidungen der entsprechend legitimierten Amtsinhaber ermöglicht zudem den übrigen Teilsystemen und ihren Organisationen, ihre Funktionen und Konflikte weitestgehend ohne Anwendung von Gewalt zu erfüllen und auszutragen (vgl. Luhmann 2000b, 56ff.). Dabei besteht das Risiko der Anwendung physischer Gewalt für die Entscheider des politischen Systems und ihrer polizeilich-militärischen Apparate allerdings darin, dass sie weder inflationiert noch deflationiert werden darf (vgl. Luhmann 1975d, 89; Luhmann 1997b, Bd.1, 382ff.; Luhmann 2000b, 63–64). Wird sie inflationiert, müssen die Machthaber allzu oft und schnell auf eine Alternative zurückgreifen, die sie normalerweise vermeiden wollen. Die Machtkommunikation droht dann in permanente Gewaltkommunikation und Delegitimation der Anwendung physischer Gewalt umzuschlagen. Umgekehrt gilt, dass eine Deflation der Anwendung physischer Gewalt der politischen Machthaber dazu führen kann, dass sie auch dann auf sie verzichten, wenn ihre Anwendung geboten erscheint. Sowohl die Inflation als auch Deflation der Anwendung physischer Gewalt bergen folglich Risiken in sich. Sollen diese unwahrscheinlicher werden, müssen die Adressaten der politischen Kommunikation durch Formen der Machtkommunikation zur Akzeptanz der Vermeidungsalternative gebracht werden können, welche die unmittelbare Anwendung physischer Gewalt reduzieren, ohne sie völlig auszuschließen. Dies geschieht vor allem dadurch, dass sich die staatliche Politik der rechtsgebundenen Macht in Form von Entscheidungsprogrammen (Gesetze, Verordnungen, Erlasse etc.) bedient. Als Ergebnis von Gesetzgebungsverfahren und Verhandlungssystemen stellen diese bindende Entscheidungsprämissen für die Entscheidungen der Verwaltung oder die Umweltsysteme der staatlichen Politik dar. Je nach verfahrensmäßiger Berücksichtigung oder Zurückstellung der Werte und Interessen der Parteien und Interessenorganisationen der Umweltsysteme erleichtern oder erschweren die Entscheidungsprogramme deren Akzeptanz der entsprechenden Vermeidungsalternativen. Dabei ermöglicht die Positivierung des Rechtes (Luhmann 1981a, 113ff.) der jeweiligen Regierung, beliebiges Recht zu setzen und dadurch flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren, die existierendes Recht obsolet werden lassen oder neue rechtliche Regelungen erzwingen. Die systemintern zurechenbaren Grenzen, die der Rechtsänderung durch staatliche Politik gesetzt sind, bestehen erstens in der Verfassung, welche die Aufhebung der Autonomie der Funktionssysteme und Selektionsfreiheiten der Individuen durch kollektiv bindende Entscheidungen inhibiert. Man denke hier an die Grundrechte (Luhmann 1974), welche nicht nur die Selektionsfreiheiten der Individuen hinsichtlich der Funktionssysteme gewährleisten, sondern diesen auch ihre Selbstorganisation ermöglichen. Dabei kommt dem Verfassungsgericht des Rechtssystems eine zentrale Funktion als Kontrollinstanz zu. Zum zweiten bestehen die systemintern zurechenbaren Grenzen, die der Rechtsänderung durch staatliche Politik gesetzt sind, vor allem auch in der Möglichkeit bestimmter Entscheider der Organisationen der Funktionssysteme, sich ihren Vermeidungsalternativen durch eigene Formen der Macht bzw. Machtstrategien entziehen zu können. Dies gilt für global agierende Wirtschaftsorganisationen, transnationale Terrornetze, aber auch diejenigen Eliten, welche nicht national gebunden sind. Es überrascht dem-
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entsprechend nicht, dass die Entscheider der staatlichen Politik auf die damit verknüpften Probleme des angedrohten oder faktischen Kooperationsentzuges und der Herausforderung des Gewaltmonopols sowohl mit halblegalen bis illegalen Formen der Kooperation als auch mit internationalen und transnationalen Formen des Rechts reagieren. Mit Geld als Einflussmedium kann die staatliche Politik vor allem dadurch operieren, dass sie es dem Wirtschaftssystem durch Steuern, Gebühren und sonstige Zwangsbeiträge entzieht. Als Resultat kollektiv bindender Entscheidungen nimmt es dann die Form von Subventionen, Transferzahlungen, Investitionen, Finanzhilfen etc. an. Zugleich ist es an Programme gebunden, die Entscheidungsprämissen für die Entscheider der Verwaltung und die der übrigen Funktionssysteme darstellen. Dabei kommt die politische Bindung des Geldes darin zum Ausdruck, dass sowohl sein Input als auch Output an Macht und letztlich legitime physische Gewalt gekoppelt sind. Die Grenzen und Risiken der Politik des in diesem Fall als Wohlfahrts- und Steuerstaat bezeichneten Staates, lassen sich in dreifacher Hinsicht identifizieren: a) Die Politik treibt die Staatsverschuldung in eine Höhe, welche ihre Alternativen zunehmend beschränken. Sichtbarer als früher wird dies vor allem durch die Maastrichter Verträge, welche über die Mitgliedsstaaten negative Sanktionen verhängen, wenn ihre Haushaltsneuverschuldung mehr als 3 % des Bruttosozialprodukts beträgt. b) Sie gefährdet die Zahlungsfähigkeit der Organisationen und Haushalte des Wirtschaftssystems durch zu hohe Abgabenbelastungen. Damit manövriert sie sich wiederum selbst durch negative Feed-backs in Finanzkrisen hinein, indem ihr Input durch Einnahmeverluste in Folge von Unternehmensabwanderungen, Konkursen und Massenarbeitslosigkeit sinkt. Luhmann (1981e, 98) spitzt dies wie folgt zu: »Was Geld angeht, wird der Wohlfahrtsstaat zu teuer. Er fördert Tendenzen zur Inflation, die ihn dann wieder ruinieren.« c) Sie setzt auf monetäre Interventionen in Umweltsysteme, die zu Mitnahmeeffekten und Fehlallokationen, aber nicht zur eigentlichen Problemlösung beitragen. Man denke z.B. an bestimmte Eingliederungshilfen im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik.
Die staatliche Politik ist des Weiteren bei der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen auf Expertenwissen angewiesen. Dies ist zum einen aus Gründen der sachlichen Treffsicherheit der Entscheidungsprogramme und zum anderen wegen der Vermeidung sachlicher Widerstände der von ihnen betroffenen Umweltsysteme und Akteure der Fall (vgl. Willke 1995, 231ff.). Expertenwissen bezieht die staatliche Politik durch Sachverständige der Wissenschaft, Fachbeamte der Verwaltung und Fachreferenten der Interessenorganisationen der übrigen Funktionssysteme. Es wird in Form von Sachverständigenräten, Hearings, Kommissionen, Referentenentwürfen und Stellungnahmen der Verbände in die politischen Entscheidungsverfahren eingespeist. Die systemintern zurechenbaren Grenzen und Risiken der staatlichen Politik manifestieren sich hier darin, dass
3. Funktionssysteme a) der Konsens der Experten eher unwahrscheinlich und der Dissens wahrscheinlicher ist. Die staatliche Politik muss folglich auf der Basis eigener Präferenzen das Expertenwissen in Entscheidungsprogramme transformieren; b) die Experten entweder ihr Nichtwissen eingestehen oder ihr Prognosewissen mit Ceteris paribus-Klauseln versehen müssen, welche die eindeutige Abschätzung zukünftiger Wirkungen der politischen Interventionen in die Umweltsysteme eher erschweren bzw. verunmöglichen. Die staatliche Politik kann darauf durch riskante Entscheidungen, Nichtentscheidungen (Bachrach/Baratz 1977) durch Vertagung von Entscheidungen, symbolische respektive heuchlerische Politik in Form von Talk (Edelman 1976; Brunsson 2002, 194ff.) oder Einsetzen von Expertenkommissionen reagieren.
Schließlich kann die staatliche Politik die Akzeptanz ihrer Entscheidungen durch Personalvertrauen zu erhöhen versuchen. Damit ist gemeint, dass die politische Elite Personen aufweist, denen persönliche Autorität und Führungskompetenz attribuiert wird. Plausibel wird dies dann, wenn man unter Macht die Absorption von Unsicherheit (Luhmann 1975d, 8; Luhmann 2000b, 67) versteht und diese besonders durch Führungspersonen notwendig wird, wenn Normen vorübergehend nicht für Verhaltenssicherheit sorgen können. Für diese Form der Herstellung von Macht eignen sich vor allem Krisen- und Umbruchsituationen, z.B. Naturkatastrophen, Wirtschaftskrisen, regionale politische und gesellschaftliche »Krisenherde«. Deutlich wird die Bedeutung des Vertrauens in das politische Führungspersonal auch daran, dass die Wähler vor den Wahlen und während der Legislaturperioden danach befragt werden, wie sie jenes bezüglich unterschiedlicher persönlicher und sachlicher Kompetenzen bewerten. Gleichwohl lassen sich auch hier Risiken in Form des verstärkten Misstrauens in das politische Führungspersonal beobachten: a) So kann der Kredit, der politischen Spitzenkandidaten eingeräumt wurde, nach der Wahl schnell aufgebraucht werden, wenn sich diese als schlechte Krisenmanager erweisen; b) kann sich das politische Führungspersonal diskreditieren, wenn sich seine vermeintliche Führungsstärke als haltlos herauskristallisiert, in dem es klare politische Prioritäten vermissen lässt; c) kann es seinen Kredit durch Skandale und Affären einbüßen.
Insgesamt lässt sich somit konstatieren, dass die der staatlichen Politik zur Verfügung stehenden Einflussmedien nicht nur Chancen darstellen, sondern auch Risiken aufweisen, die eine erfolgreiche Intervention und Steuerung der Umweltsysteme und damit eine Akzeptanz der Vermeidungsalternativen gefährden können (vgl. Luhmann 1981e, 98ff.).
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
3.1.7
Zur Differenzierung von einer primären Leistungsrolle (Berufspolitiker) und mehreren Laienrollen (Staatsbürger)
Beobachtet man das politisch-administrative System der fortgeschrittenen Moderne im Hinblick auf die Inklusion und Exklusion der Gesamtbevölkerung, dann können wir diese im Anschluss an den doppelten Machtkreislauf präzisieren. Generell nimmt die politische Inklusion die Form einer Differenzierung zwischen einer primärer Leistungs- und mehreren Laienrollen bzw. Publikumsrollen an (Luhmann 2010, 253ff. u. 353ff.). Dabei gilt, dass letztere die Teilnahme von jedermann ab dem 18. Lebensalter bei Ausschluss bestimmter Einschränkungen (z.B. ethnisch, geistig) gewährleisten, während demgegenüber erstere an die Inklusion einer Minderheit und Exklusion einer Mehrheit gebunden ist. Strukturell indiziert die zentrale Rollendifferenzierung des politischen Systems mithin die Einlösung der Semantik von Gleichheit einerseits und Freiheit im Sinne der politischen Karriere andererseits. Hinzu kommt die Inklusion in Form sekundärer Leistungsrollen und die zunehmend umstrittene politische Exklusion bestimmter askriptiver Rollen. Eine zentrale Funktion kommt der »politischen Klasse« der Berufspolitiker zu (vgl. Hohm 1987, 154ff.; Rudzio 2003, 517ff.; von Beyme 2010, 253ff.). Sie sind es, die hauptsächlich mit der Funktion kollektiv bindenden Entscheidens unmittelbar oder indirekt betraut sind. In Anlehnung an die bereits erwähnte Unterscheidung der Politik in Politics, Polity und Policy kann man ihre Binnendifferenzierung wie folgt beschreiben: Dominiert die strategische Interessendurchsetzung und informale Machtkommunikation (=Politics) durch Kontaktnetze, Hausmacht und lobbyistische Verbindungen, handelt es sich entweder um Interessenpolitiker oder Machtpolitiker. Ersterer verdankt seine systeminterne Macht vor allem der strukturellen Kopplung mit Interessenorganisationen der Umweltsysteme wie Gewerkschaften, gewinnorientierten und gemeinnützigen Unternehmen. Die Funktion für seine Fraktion besteht vor allem darin, die Kontakte zu den entsprechenden Interessenorganisationen aufrechtzuerhalten. Seine systeminternen Einflussmöglichkeiten und Karrierechancen für politische Spitzenämter variieren u.a. in Abhängigkeit von der Fraktionszugehörigkeit und der Relevanz, welche die jeweilige Partei den Interessen der entsprechenden Umweltsysteme beimisst. So stößt beispielsweise ein Gewerkschaftsvertreter bei der SPD-Fraktion eher auf Resonanz als bei der FDP oder den Grünen wie umgekehrt ein Geschäftsführer der Arbeitgeber bei der CDU oder FDP stärkeren Einfluss als bei der SPD oder der LINKEN erwarten kann. Dennoch gilt für alle Interessenpolitiker, dass ihre Chance, in politische Spitzenämter befördert zu werden, in dem Maße zunimmt, in dem sie sich von einer zu engen Bindung an bestimmte Interessenorganisationen lösen können. Ist dies nicht der Fall, besteht ihr Risiko und das der Partei darin, dass sie als Inhaber politischer Spitzenämter mit dem anhaltenden Verdacht eines Lobbyisten konfrontiert werden. Im Gegensatz zum Interessenpolitiker stützt der Machtpolitiker seinen Einfluss eher auf Kontaktnetze innerhalb des politisch-administrativen Systems. Seine Funktion für die Fraktion besteht u.a. darin, durchsetzungsfähigen Personen Karrierechancen zu eröffnen. Diese bedienen sich dazu der vertikalen und horizontalen formalen, speziell auch der informellen politischen Kommunikationswege, die ihnen ihre Stellung innerhalb der
3. Funktionssysteme
Partei, Fraktion und Verwaltung eröffnet. Sollen diese in eine Spitzenkarriere einmünden, gehört dazu nicht selten eine längere Partei- und Parlamentskarriere, die informelle Zugehörigkeit zu einflussreichen Cliquen, mit deren Loyalität man bei der Bewerbung um politische Ämter rechnen kann, und der enge und vertrauliche Kontakt zu einflussreichen politischen Journalisten. Hinzu kommen nicht zuletzt eine gewisse Rigidität und rigorose Durchsetzung eigener Karriereambitionen, die sich auch durch systeminterne Niederlagen nicht entmutigen lassen. Das Risiko des Machtpolitikers besteht mithin darin, dass er sich im Laufe seiner politischen Karriere zu viele politische Gegner und Feinde geschaffen hat, welche nur auf eine günstige politische Gelegenheit warten, seinen Einfluss zu beschneiden. Für diese gibt es vielfältige Anlässe: eine deftige Wahlniederlage, politisch umstrittene Grundsatzentscheidungen, verbale Entgleisungen in den Massenmedien, halblegale bis illegale Aktionen der Beschaffung von Parteispenden bis hin zu Kontakten mit politisch anrüchigen Personen. Schließlich können enttäuschte, ehemalige Vertraute vergangene, irreguläre oder moralisch suspekte Ereignisse der politischen Karriere des Machtpolitikers an die Massenmedien lancieren und ihn dadurch zu Fall zu bringen versuchen. Steht die Kenntnis der formalen Bedingungen der Politik (=Polity) im Vordergrund, hat man es mit parlamentarischen Geschäftsführern, Kanzleramtsministern oder Parteifunktionären zu tun. Sie stützen ihren Einfluss auf die Vertrautheit mit der Organisation der Organisation. Ihre Expertise basiert auf der profunden Kenntnis der formalen Abläufe der Parlaments-, Regierungs- und Parteiorganisationen. Ihre Funktion für die Fraktion und Partei besteht darin, die Rahmenbedingungen von Gesetzgebungs-, Fraktions-, Parteitagsund Wahlentscheidungen so vorzubereiten und durchzuführen, dass sie mit den formalen Verfahren, wie sie die entsprechenden Geschäftsordnungen, Verfahrensabläufe, Satzungen etc. vorschreiben, vereinbar sind. Die entsprechenden Berufspolitiker fungieren u.a. als Leiter von Parteitagen, sorgen für die Überwachung der Fraktionsdisziplin bei wichtigen Abstimmungen im Parlament und koordinieren die organisatorischen Abläufe in den Fraktionen und Ministerien. Damit sie die entsprechenden Funktionen erfüllen können, müssen sie – zusätzlich zu den formalen Kenntnissen der Organisation – ein generalisiertes Vertrauen in ihre Integrität als faire Verhandlungspartner und »Kontrolleure« der Organisationsabläufe erworben haben. Ihre Funktionswahrnehmung setzt bereits einen gewissen Einfluss innerhalb der Fraktion und Partei voraus, der in Spitzenkarrieren einmünden kann, aber nicht muss. Oftmals reicht den entsprechenden Berufspolitikern der vorhandene Einfluss aus und ziehen sie es vor, eher im zweiten Glied zu operieren. Dominiert die Konzentration auf bestimmte Sachthemen (=Policy), handelt es sich um politische Experten. Diese lassen sich, je nach struktureller Kopplung mit den gesellschaftlichen Umweltsystemen der Politik, als wirtschafts-, finanz-, arbeitsmarkt-, sozial-, umwelt-, bildungs-, familien-, agrar-, umwelt-, innen- und außenpolitische Experten etc. unterscheiden. Deutlich wird somit, dass sich das politische System sowohl parlamentarisch als auch fraktionell entsprechend der politisierbaren Themen segmentär binnendifferenziert. Für jeden Berufspolitiker, der zugleich Parlamentarier und Mitglied einer Fraktion ist, gilt mithin, dass er sich durch die Zugehörigkeit zu normalerweise min-
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destens zwei Fraktionsarbeitskreisen und parlamentarischen Ausschüssen auf wenige politische Themen konzentrieren muss (Hohm 1987, 228ff.). Ob er in seiner Funktion als politischer Experte für die Fraktion im Parlament (Ausschüsse, Plenum) die entsprechenden Themen verbindlich vortragen kann, ist an seine jeweilige Position in der Fraktionshierarchie gebunden. Diese lässt sich nach Hinterbänklern, mittlerem Führungspersonal und Spitzenpersonal vertikal differenzieren. Erstere vertreten ihre Fraktion normalerweise selten und eher bei wahlkreisbezogenen politischen Themen im Plenum. Demgegenüber tritt die mittlere Führungsriege der politischen Experten – Ausschussvorsitzende, Arbeitskreisvorsitzende, Berichterstatter – häufiger im Plenum auf. Dies trifft vor allem dann zu, wenn es um wichtige Themen geht, bei denen die detaillierte Sachkenntnis einzelner Gesetzesvorhaben gefragt ist. Die Spitzenpolitiker – die Mitglieder der Fraktions- und Parteivorstände, Minister und der Kanzler – nehmen das Rederecht bezüglich aller relevanten politischen Themen im Plenum wahr. Sie treten am häufigsten in diesem auf, wobei sich ihre Beiträge besonders auf die grundlegenden Zielsetzungen der jeweiligen Gesetzesvorhaben und weniger auf sachliche Details beziehen. Anhand des Codes Regierung/Opposition wird deutlich, ob es sich bei den Beiträgen der politischen Experten um solche der Regierungs- oder Oppositionsfraktionen handelt. Und der Zweitcode konservativ/progressiv ermöglicht eine Beobachtung der Redebeiträge daraufhin, ob die politischen Experten eher einen konservativen oder progressiven Standpunkt vertreten. Wenn jeder Code, also auch der politische Code, eine gewisse Distanz zur Moral impliziert (Luhmann 1997b, Bd.1, 371), unterscheidet sich der politische Experte vom Gesinnungspolitiker in seiner fundamentalistischen Variante. Dieser macht besonders bei Regierungsfraktionen eine Minorität aus. Wird doch vom politischen Experten Kompromissbereitschaft und das Zurückstellen von Werten und Interessen erwartet. Seine mangelnde Kompromissbereitschaft erschwert somit seine politischen Karrierechancen im Parlament: Er ist bevorzugt bei Non-governmental Organizations oder Parteien anzutreffen, die zwischen Parlamentarisierung und außerparlamentarischem Protest oszillieren. Die moralische Distanz des politischen Codes schließt jedoch eine Sondermoral der Politik bzw. Berufspolitiker nicht aus. Diese basiert nicht nur auf einer wechselseitigen Achtung der Berufspolitiker, unabhängig davon, ob sie der Regierung oder Opposition angehören. Im Unterschied zur Alltagsmoral der Bevölkerung, deren Vertreter es sich leisten können, mit politisch Andersdenkenden nicht zu kommunizieren, wird dies von Berufspolitikern geradezu verlangt. Dies gilt besonders in der Außenpolitik, in der es demokratische Politiker nicht selten mit Repräsentanten politischer Diktaturen zu tun haben. Das Freund-Feind-Schema, zu dem fundamentalistische Gesinnungspolitiker neigen, gehört demzufolge ebenso wenig zur Sondermoral der Politik wie eine häufig angemahnte Einhaltung von Wahlversprechen. Ist die politische Konstellation doch häufig nach der Wahl eine andere als vorher. Eine besondere Bedeutung kommt den Spitzenpolitikern bzw. der Politikprominenz zu.
3. Funktionssysteme
Bei ihnen handelt es sich weder um reine Interessen- oder Machtpolitiker noch um Parteifunktionäre oder parlamentarische Geschäftsführer, aber auch nicht nur um politische Experten. Stattdessen müssen sie als Bundeskanzler oder Präsident, Minister, Fraktions- und Parteivorsitzende von alldem etwas auf sich vereinigen. •
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Im Unterschied zum politischen Experten können sie sich nicht als Spezialist für einige politische Themen begreifen, sondern müssen als Generalisten eher die Gesamtheit der politischen Themen im Auge behalten und für eine politische Vision einstehen. Dass schließt es nicht aus, dass sie sich aufgrund ihrer politischen Karriere in bestimmten politischen Themen besser als in anderen auskennen oder sich in ihrem aktuellen Amt mit einigen von ihnen besonders befassen müssen. Erwartet wird von ihnen jedoch, dass sie sich schnell in neue politische Themen einarbeiten können. Im Unterschied zum Parteifunktionär und parlamentarischen Geschäftsführer müssen sich die Spitzenpolitiker eher auf das Funktionieren der formalen Organisationsabläufe durch jene verlassen können und sich besonders dann einschalten, wenn zentrale Organisationsentscheidungen im Sinne von Reformmaßnahmen gefragt sind. Im Unterschied zu den Interessen- und Machtpolitikern wird von den Spitzenpolitikern erwartet, dass sie sich einerseits nicht als Lobbyisten nur eines Umweltsystems verstehen und andererseits ihr politisches Handeln nicht nur am eigenen Machterhalt und den ihrer Hausmacht orientieren. Stattdessen müssen sie sowohl die divergierenden Interessen der Umweltsysteme als auch diversen Machtzentren und –cliquen der eigenen Fraktion und Partei durch Konsens bzw. zumindest Verhandlungen zu integrieren versuchen. Speziell für die Inhaber führender politischer Staatsämter kommt eine Integrationsfunktion hinzu, welche in zentralen Fragen des politischen Systems über die Konfliktlinien der eigenen Partei hinaus reicht. Man denke z.B. an das Bündnis für Arbeit oder Kriegsentscheidungen.
Insgesamt lässt sich also für die Spitzenpolitiker festhalten, dass ihnen normalerweise der größte Einfluss bei der Herstellung und Darstellung kollektiv bindender Entscheidungen zukommt. Dass ihren Aussagen und ihrer Selbstdarstellung deshalb systemintern und in den Massenmedien die größte Aufmerksamkeit zugewandt wird, weshalb sie auch zur Politikprominenz gehören. Und dass sie durch die Form, die sie der politischen Kommunikation geben, am ehesten zur Generalisierung des Systemvertrauens bzw. -misstrauens beitragen können. Im Gegensatz zu den Inhabern der Leistungsrollen ist die Mehrheit der Gesamtbevölkerung in Form der generalisierten Laienrolle des Staatsbürgers ins politisch-administrative System inkludiert. Als solcher ist er nicht mehr nur Abnehmer der Verwaltungsentscheidungen wie im Obrigkeitsstaat, sondern kann oder muss in Form einer Rollenkombination als Wähler, Publikum und Klient mehrfach am politisch-administrativen System teilnehmen (Luhmann 2010, 353ff.). Gilt die kontingente Inklusion besonders für die ersten beiden Rollen, so wird die Selbstexklusion aus bestimmten Klientenrollen der Staatsadministration, z.B. des Steuerzahlers oder Versicherten, durch die Möglichkeit von Negativsanktionen erschwert.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Typisch für die komplementär zur primären Leistungsrolle ausdifferenzierten Laienrollen ist zudem, dass sie sich nur schwer oder gar nicht politisch organisieren lassen. Ihre Effekte für das politisch-administrative System können folglich weder der kollektiv kommunizierten Entscheidung einer politischen Organisation zugerechnet werden noch primär der individuellen Relevanz der Person, welche die jeweiligen Rollen ausübt. Letzteres ist im Falle der Wählerrolle wegen des Wahlgeheimnisses evident. Im Falle der Publikumsrolle aufgrund der Selektionsmechanismen der Massenmedien offensichtlich, die eine öffentliche persönliche Bekanntheit der Autoren bei der politischen Kommunikation von Abwesenden mit Abwesenden via Leserbriefen, Telefon oder Social Media nur in Ausnahmefällen zu unterstellen erlauben. Stattdessen basieren die Effekte der entsprechenden Laienrollen auf der politischen Beobachtung von aggregierten Unterschieden, z.B. geringerer bzw. höherer Wahlbeteiligung oder höherer bzw. geringerer Zustimmung des Publikums zu bestimmten politischen Entscheidungen. Dabei zählt die einzelne Stimme oder Meinung nur im Zusammenspiel mit der Vielzahl anderer, die ähnlich votieren bzw. sich artikulieren. Unter sekundären Leistungsrollen (vgl. generell zu diesem Begriff Stichweh 2016, 37ff.) wollen wir diejenige Form der Inklusion der Individuen in das politisch-administrative System verstehen, die das ausgeschlossene eingeschlossene Dritte der Komplementarität von Leistungsrolle und Laienrollen darstellt. Im Unterschied zu den Laienrollen setzt die Übernahme der sekundären Leistungsrollen in Form des aktiven Partizipanten normalerweise mehr Zeit, Sachkenntnisse, Mut zur öffentlichen Selbstdarstellung und ein größeres Maß an unmittelbarer Betroffenheit voraus. Und im Unterschied zur primären Leistungsrolle des Berufspolitikers lässt sie sich in aller Regel mit einer primären Leistungsrolle außerhalb des politischen Systems vereinbaren, nimmt sie weniger Zeit als jene in Anspruch, ist an kein Gehalt gebunden und kann sie als Take-off für einen Wechsel zu einer politischen Leistungsrolle fungieren. Ihre traditionelle bzw. konventionelle Variante setzt eine freiwillige und aktive Mitgliedschaft in Parteien und Interessenorganisationen voraus. Das Paradigma stellt das politische Ehrenamt dar, wie es vor allem auf der lokalen politischen Ebene in Form des Wahlkampfhelfers, Vorstandsmitglieds oder Gemeinderatsmitglieds anzutreffen ist. Eine Minderheit der Staatsbürger, besonders bestimmte Berufsgruppen der traditionellen Mittelschicht wie Verwaltungsbeamte, Freiberufler und Lehrer, eher Männer als Frauen und eher ältere als jüngere Erwachsene, stellt ihre Rekrutierungsbasis dar. Ihre unkonventionelle bzw. modernere Variante lässt sich anhand der Zugehörigkeit zu Protestformen beobachten, die sich seit einigen Jahrzehnten als Bürgerinitiativen, neue sozialen Bewegungen und Non-governmental Organizations herausgebildet haben. Deren Besonderheit besteht darin, dass sie sich weder als Interaktionssysteme noch als pure Mitgliederorganisationen oder gar als Funktionssysteme beschreiben lassen (Luhmann 1996a, 201ff.). Stattdessen begreifen sie sich als mehr oder weniger lose gekoppelte soziale Netzwerke mit einem aktiven Kern und einem engeren und weiteren Kreis von Sympathisanten, den jener, je nach politischem Thema, mobilisieren kann. Dabei adressieren sie ihren Protest mit Rückgriff auf die Semantik der Lebenswelt, Alltagswelt, der Menschenrechte oder Zivilgesellschaft gegen die negativen Folgeprobleme der funktional differenzierten Gesellschaft, die sie sowohl an der gesellschaftsexternen
3. Funktionssysteme
Umwelt der Natur als auch der Exklusion variierender Personengruppen der Modernisierungszentren und Peripherie der Weltgesellschaft festmachen. Neben den ökologischen Risiken und Folgeproblemen der Weltwirtschaft wie Erwerbslosigkeit und Arbeitsmigration, wurden und werden vor allem die Risiken sowie soziale Ungleichheiten derjenigen Personengruppen zum Aufhänger der an das politische System adressierten Kritik, die an askriptive Merkmale wie Alter, Geschlecht, ethnische und religiöse Zugehörigkeit anschlossen und anschließen. Die gesellschaftlichen Präferenzwerte jung, männlich, weiß, national wurden und werden mit ihrer anderen Seite alt, weiblich und ausländisch sowie der Konsequenz der unfreiwilligen Exklusion konfrontiert, welche die Entscheider der Funktionssysteme und ihrer Organisationen, besonders auch des Wohlfahrtsstaates, induzieren. Es ist und war deshalb kein Zufall, dass sich die Protestformen um Themen der Bürgerrechte, der Ökologie, des Friedens, der Geschlechter- und Altersdiskriminierung, einer gerechten Weltwirtschaftsordnung etc. gruppierten und gruppieren. Im Unterschied zum konventionellen Engagement des politischen Ehrenamtes rekrutieren sich die aktiven Partizipanten der Protestformen eher aus moderneren und jüngeren Milieus gebildeter Schichten. Ihr Verdienst liegt darin, Themen auf die politische Agenda gesetzt zu haben, welche durch die Selektionsmechanismen des doppelten Machtkreislaufes des politischen Systems eher ausgefiltert wurden und werden. Ihre Problematik liegt u.a. darin, dass ihre heutigen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen zum einen in dem Sinne unterkomplex sind, dass sie die Einheit der Vielheit von Funktionssystemen mit dem Rückgriff auf eine undifferenzierte Lebenswelt oder Zivilgesellschaft unterlaufen. Und sie zum anderen im Hinblick auf das politische System offenlassen, wie sie sich im Hinblick auf dessen Code Regierung/Opposition verorten. Wenn sie sich als Fundamentalopposition verstehen, besteht das Risiko ihres Protests darin, dass das Problem der Gewaltkommunikation anstelle ihrer Themen die massenmediale und politische Aufmerksamkeit dominiert. Ihre politische Kommunikation wird dann in dem Sinne paradox, dass ihre radikaldemokratischen Inhalte durch die Form ihrer undemokratischen Mitteilungen, z.B. das Freund-Feind-Schema oder die Anwendung von Gewalt, konterkariert werden. Ähnliche Probleme mit dem Code des politischen Systems lassen sich für die »rechte Bewegung« beobachten. Indem ihre Aktivisten offen einen autoritären Nationalstaat und eine Volksgemeinschaft propagieren, treten sie nicht nur für eine ethnisch homogene Nationalgesellschaft und die gewaltsame Exklusion von Ausländern ein, sondern gefährden damit zugleich auch die durch die Verfassung vorgesehenen Grenzen der Eingriffsrechte des Staates.
3.1.8
Zur Systemreferenz »Gesellschaft« der »Gesellschaftspolitik«
Sowohl in der Politik als auch der Soziologie wird wiederholt auf den Begriff »Gesellschaftspolitik« abgestellt bzw. die Relation von gesellschaftlichen Problemen und Handlungsfeldern der Politik thematisiert, ohne dass dabei deutlich würde, was genauer darunter zu verstehen ist (vgl. stellvertretend Rudzio 2003, 433ff., der eine Pluralität von Gesellschaftsbeschreibungen – alternde Gesellschaft, westliche Industriegesellschaften, multikulturelle Gesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, marxistische Gesellschafts-
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analysen – anführt. Jedoch bei ihrem Bezug zu den von ihm dargestellten Policies offen lässt, was letztlich die Einheit der Gesellschaft konstituiert bzw. das »Gesellschaftsbild«). Wir werden uns deshalb im Folgenden um seine Präzisierung bemühen. 1. Zunächst gehen wir davon aus, dass die Systemreferenz Gesellschaft der Gesellschaftspolitik variiert. Diese Variation ist einerseits davon abhängig, ob ihre Amtsinhaber Entscheidungen des politischen Systems der BRD, der EU oder UNO durchsetzen und legitimieren müssen. Und sie ist andererseits davon abhängig, ob sie dabei auf die jeweilige Gesamtgesellschaft, einzelne ihrer Funktionssysteme, Sektoren oder die in ihr inkludierten Personen Bezug nehmen. Im Falle der UNO oder EU bezieht sich die Gesellschaftspolitik als Welt- oder Europapolitik auf die Weltgesellschaft oder deren Regionalgesellschaft Europa. Ihre Entscheider referieren auf sie mittels Werten, z.B. denen des Friedens, der Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit bzw. einer regionalen oder universalen Wertegemeinschaft. Im Gegensatz dazu werden die einzelnen Funktionssysteme, ihre Sektoren oder die in ihr inkludierten Personen mittels der Semantik der Interessen wahrgenommen. Ob und inwieweit die deutschen Repräsentanten dabei Werte und Interessen der deutschen Gesellschaft bzw. ihrer Funktionssysteme bei der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen durchsetzen können, hängt vor allem davon ab, wie die supranationalen Organisationen die Macht der einzelnen Nationen durch Entscheidungsverfahren berücksichtigen. So macht es z.B. einen Unterschied aus, ob das Einstimmigkeitsprinzip wie in der EU dominiert, oder ob, wie auf nationalstaatlicher Ebene, das Mehrheitsprinzip institutionalisiert ist. Im Falle der BRD bezieht sich die Gesellschaftspolitik hingegen primär auf die deutsche Nationalgesellschaft (vgl. zum Begriff der Nationalgesellschaft Bommes u.a. 2001). Die Funktion und Reichweite kollektiv bindender Entscheidungen des politischen Systems ist hierbei trotz Globalisierung und Regionalisierung der Politik weitgehend an die Souveränität des Nationalstaates, das Territorium der deutschen Gesellschaft und die deutsche Staatsbürgerschaft zurückgebunden. 2. Was die Relation der deutschen Gesellschaftspolitik zur deutschen Innen- und Außenpolitik betrifft, so basiert die Differenz von Innen und Außen darauf, dass das politische System eines von ca. 200 der segmentär differenzierten Weltpolitik ist. Für die Entscheider des politischen Systems der BRD repräsentieren somit alle anderen politischen Systeme die systeminterne Umwelt des weltpolitischen Systems als »Außen« ihrer nationalen Politik. Die Gesellschaftspolitik nimmt somit die Form der deutschen Außenpolitik an, wenn ihre politischen Entscheider im Kontext der transnationalen Organisationen primär Werte oder Interessen durchzusetzen versuchen, die sie als die der deutschen Gesellschaft betrachten. So kann es z.B. darum gehen, Deutsch, neben Englisch und Französisch, als Verhandlungssprache einzuführen; Deutschland als eines von 8 G-Ländern zu etablieren; einen Sitz im Sicherheitsrat zu bekommen oder den Vorsitz im Weltwährungsfonds zu stellen. Genau genommen, handelt es sich dabei eher um eine Form der internationalen Politik, bei der jede Nation ihre gesellschaftlichen Werte durchzusetzen versucht, und we-
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niger um transnationale Politik. Diese wäre dann realisiert, wenn an die Stelle der Außenpolitik der souveränen Nationalstaaten die Weltinnenpolitik eines souveränen Weltstaates mit eigenem Gewaltmonopol treten würde. Gesellschaftspolitik wäre dann Weltgesellschaftspolitik im Sinne des Bezuges auf universale Werte von Freiheit, Gleichheit, Menschenrechten etc., die durch kollektiv bindende Entscheidungen und entsprechende Programme weltweit durchgesetzt werden könnten. Solange dies nicht der Fall ist, muss die Gesellschaftspolitik transnationaler Organisationen mit dem Motivverdacht beteiligter und nicht beteiligter Beobachter leben, eine verkappte Form der Durchsetzung außenpolitischer Werte der beteiligten Nationalstaaten zu sein. Um Gesellschaftspolitik als deutsche Innenpolitik handelt es sich hingegen dann, wenn die politischen Entscheider die Werte der bundesrepublikanischen Gesellschaft in Programme durch kollektive Bindungen zu transformieren versuchen. Da diese jedoch im Kontext der politischen Verfahren nicht alle gleichzeitig realisiert werden können, sondern miteinander konfligieren, werden immer einige von ihnen präferiert und andere zurückgestellt. Hinzu kommt, dass ihre Bewahrung, Veränderung oder Gefährdung nicht allein Sache der Entscheider des politischen Systems der BRD ist. Man denke nur an die Sicherheitspolitik im Zusammenhang mit Terroranschlägen oder die Diskussion um Zuwanderungsregelungen. Das Risiko einer Gesellschaftspolitik als Innenpolitik besteht mithin darin, nationale Sicherheit durch kollektive Bindungen zu suggerieren, wo angesichts regionaler und globaler gesellschaftlicher Einschließung keine mehr zu erwarten ist. 3. Zum Schluss wollen wir die Frage stellen und zu beantworten versuchen, inwieweit die politischen Entscheider jenseits des Duals Werte/Interessen einen präziseren Begriff von Gesellschaft verwenden, wenn sie Gesellschaftspolitik betreiben. Rekurrieren sie auf die Vielfalt der konkurrierenden soziologischen Gesellschaftsschreibungen für ihre Gesellschaftspolitik, und nutzen sie sie für eine komplexere Beobachtung der Gesellschaft als die ihrer Reduktion auf Werte und Interessen? Um diese Frage beantworten zu können, gehen wir als erstes davon aus, dass sowohl die Eigenzeit als auch die kommunikative Anschlussfähigkeit der Gesellschaftsbeschreibungen eine andere in der Wissenschaft als in der Politik ist. Generell bedeutet dies, dass je komplexer die wissenschaftliche Gesellschaftsbeschreibung formuliert ist, desto unwahrscheinlicher die Chance ist, dass die Politiker sie lesen und in die politische Kommunikation einspeisen. Zum Zweiten nehmen wir an, dass die politischen Entscheider vor allem dann an Gesellschaftsbeschreibungen selektiv anschließen, wenn diese in den Massenmedien Karriere machen. Man denke z.B. an Risikogesellschaft, Informationsgesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Spaßgesellschaft, Bürgergesellschaft oder alternde Gesellschaft. Dies ist deshalb der Fall, weil die Politiker vor allem anhand der öffentlichen Meinung bzw. der Massenmedien beobachten, wie sie und ihre Entscheidungen vom Wählerpublikum wahrgenommen werden. Zum Dritten kommt hinzu, dass die Selektion der Gesellschaftsbeschreibungen durch die politischen Entscheider zusätzlich davon abhängt, ob sie sich als progressiv oder konservativ beschreiben, und welches Amt bzw. welche Position sie auf der Re-
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gierungs- oder Oppositionsseite einnehmen. So ist es kein Zufall, dass konservative Politiker wie Biedenkopf und Stoiber einstmals eher auf das Konzept einer Unternehmensgesellschaft setzten und auf die Gefahren einer Parallelgesellschaft abstellten, während demgegenüber progressive Politiker der SPD, der Grünen oder der LINKEN vor den Gefahren einer Zwei-Drittelgesellschaft warnen und die Vorzüge einer multiethnischen Gesellschaft betonen. Schließlich gilt es festzuhalten, dass die politischen Entscheider die Gesellschaftsbeschreibungen als kognitive Orientierung für die Gesellschaftspolitik sehr unterschiedlich in der politischen Kommunikation nutzen. So können sie, je nach politischem Anlass, dem bloßen Talk dienen, dem Stimmenfang oder als Garnitur für symbolische Politik benutzt werden, wenn z.B. an politischen Feiertagen die abstrakten Werte der freiheitlichen Gesellschaft beschworen werden. Sie können jedoch auch zur Legitimation für politische Programme in Anspruch genommen werden, mit denen die Zukunft der Gesellschaft in eine andere Richtung als bis dato gesteuert werden soll. Dies gilt z.B. für das Konzept der alternden Gesellschaft, die Vision der Bürgergesellschaft oder die Semantik der Zuwanderungsgesellschaft. Sieht man abschließend unsere Überlegungen zur Gesellschaftspolitik auf einen Blick, so lässt sich aus systemtheoretischer Sicht konstatieren, dass das politische System der BRD bzw. seine Entscheider Gesellschaftsbeschreibungen nur in dem Maße zur kognitiven Orientierung in Anspruch nehmen können, wie es die ausdifferenzierte politische Kommunikation zulässt. Wenn deren gesellschaftliche Funktion vor allem darin besteht, die Kapazität für kollektiv bindende Entscheidungen bereitzustellen, fungiert die Systemreferenz der Gesamtgesellschaft für sie primär als Beobachtung der Gesellschaftspolitik und nicht als Gesellschaftstheorie. Soll diese jene irritieren können, kann sie dies nur dadurch, dass sie die Politik darauf aufmerksam macht, dass sie als Teilsystem nicht die Zukunft der Gesamtgesellschaft qua Gesellschaftspolitik festzurren kann. Und zwar deshalb nicht, weil weder die Gesamtgesellschaft noch ihre Funktionssysteme eine Adresse wie die Organisationen haben und weil der Politik keine Durchgriffskausalität bezüglich der Gesamtgesellschaft bzw. ihrer Funktionssysteme zur Verfügung steht. Was die Politik als Gesellschaftspolitik kann, ist eine Vergesellschaftung durch Politisierung, sprich der Versuch, durch ihre o.g. Erfolgsmedien die zukünftige Richtung der einzelnen Funktionssysteme, jedoch nicht die der Gesamtgesellschaft, direkt zu beeinflussen. Dass dies offensichtlich auch von der Politik selbst registriert wird, kann man daran ablesen, dass es kein allgemeines Ministerium für Gesellschaftspolitik gibt, aber besondere Ministerien für Familien-, Wirtschafts-, Finanz-, Gesundheits-, Umwelt-, Forschungs-, Rechts-, Innen-, Außen-, Sport-, Kultur-, Sozialpolitik etc. Um funktionssystemspezifisch eingeschränkte Gesellschaftspolitik handelt es sich bei diesen deshalb, weil spezifische gesellschaftliche Werte unter dem spezifischen Blickwinkel durchsetzbarer Interessen in Programme mit Leistungen für die jeweiligen Teilsysteme in ihrer gesellschaftsinternen Umwelt transformiert werden, ohne die Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft zu berücksichtigen.
3. Funktionssysteme
3.2 Familie. Die moderne Kleinfamilie als interaktives Funktionssystem 3.2.1
Einleitung: eine systemtheoretische Problemskizze
Wir wollen im Folgenden die moderne Familie primär aus systemtheoretischer soziologischer Perspektive beobachten. Mit dieser Option sind weitreichende theoretische Implikationen verknüpft, von denen wir einige vorab kurz klären wollen. Mit ihrer Klärung verbinden wir zugleich die Intention, einige zentrale Problemstellungen anzudeuten, welche als Frame des argumentativen Netzwerkes fungieren sollen. 1. Wenn wir die erwähnte Beobachterperspektive einnehmen, schließen wir an eine Variante der soziologischen Systemtheorie an, die vor allem von Niklas Luhmann (vgl. Luhmann 1984; Luhmann 1997b) ausgearbeitet worden ist. Sie stellt inzwischen eines der dominanten Paradigmen innerhalb der aktuellen Soziologie dar (vgl. Kneer/Nassehi 1994; Krause 2003; Hohm 2016). Dies besonders deshalb, weil sie zum einen eine hohe Eigenkomplexität durch die Verknüpfung einer Supertheorie mit diversen Teiltheorien aufweist. Und zum anderen aufgrund des Kombinationsreichtums ihrer Begriffe und Aussagen Möglichkeiten einer theoretischen Weiterentwicklung offeriert, die zu simpel gestrickte Theorien von vornherein blockieren. Für die soziologische Beobachtung der modernen Familie hat dies den Vorteil, dass man sie nicht nur aus der isolierten Froschperspektive der Spezialdisziplin Familiensoziologie betrachten muss, sondern einem Vergleich mit anderen Sozialsystemen der modernen Gesellschaft aussetzen kann. Mit diesem schärft man zugleich den soziologischen Blick für die Strukturmerkmale der Familie, die sie mit den anderen Sozialsystemen der Moderne teilt, und die andererseits ihre besondere Form ausmachen. 2. Mit der soziologischen Betrachtung der modernen Familie als sozialem System schließen wir im Folgenden sowohl ihre psychologische als auch biologische Perspektive aus. Im Zentrum unserer Beobachtung stehen also nicht die Menschen: weder als psychische bzw. Bewusstseinssysteme (Luhmann 1995a) noch als lebende bzw. organische Systeme (Hohm 2016, 18. Wie sie sich fühlen, was sie denken oder wahrnehmen, gehört für uns mithin ebenso zur Umwelt des Sozialsystems Familie wie all das, was sich im Inneren ihres Körpers abspielt, z.B. ihr Herzschlag, ihre Verdauung oder ihr Stoffwechsel. Dies deshalb, weil sich die Familie – wie jedes Sozialsystem – im Medium der Kommunikation reproduziert. Es ist somit ein folgenreicher Unterschied, ob ein Kind wahrnimmt, wie der Vater zu Hause die Füße auf den Tisch legt, oder ob es ihm seine Wahrnehmung mitteilt. Und es ist etwas Anderes, ob es bei einer schlechten Zensur mit Bauchschmerzen nach Hause kommt und diese zum Familienthema werden können oder nicht. Noch prägnanter lässt sich der Unterschied, auf den es uns ankommt, anhand der Differenz des Liebesgefühls und der Kommunikation von Liebe beobachten. So sind unzählige Familien nie zustande gekommen, weil es die Verliebten beim einsamen Schwärmen beließen und das Risiko der Kommunikation scheuten. Und haben es umgekehrt nicht wenige Geschiedene bereut, das Risiko der Kommunikation ihrer Liebesgefühle eingegangen zu sein.
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3. Wenn sich also das Sozialsystem Familie mittels Kommunikation reproduziert, stellt sich die Frage, wie sich diese von der Kommunikation anderer Sozialsysteme unterscheidet bzw. abgrenzt. Ihre Relevanz erhält sie dadurch, dass prima facie klar sein dürfte, dass wir nicht jede Kommunikation, an der wir als Sprecher, Hörer oder Thema beteiligt sind, auf die Familie zurechnen. So adressieren sich sowohl der Dozent als auch die Studierenden mit dem jeweiligen Eigennamen und diese jenen zusätzlich mit seinem akademischen Grad als Doktor oder Professor. Es wäre deshalb auch weit hergeholt, würde man die Seminarkommunikation als familiale Kommunikation bezeichnen. Klar dürfte es zudem sein, dass die beobachtete Differenz nicht nur eine Konstruktion des systemtheoretischen Beobachters ist, sondern zugleich auch eine des beobachtenden Sozialsystems Familie und seiner Personen selbst. Dies ließe sich leicht an der mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretenden Irritation testen, würde der Dozent von den Studierenden mit »Schatzi« adressiert und umgekehrt. 4. Die Beobachtung, dass nicht alle möglichen Kommunikationen und Sozialsysteme mit der Intimkommunikation des Sozialsystems Familie identisch sind, macht weitere Explikationen unserer systemtheoretischen Perspektive notwendig. So müssen wir uns vorab grob vergegenwärtigen, welche Sozialsysteme sie als Theorie sozialer Systeme zusätzlich voraussetzt. Zum einen ist dies das umfassende Sozialsystem der Gesellschaft, welches heute die Form der Weltgesellschaft angenommen hat (vgl. Luhmann 1975e; Stichweh 2000). Zum anderen sind es Interaktionssysteme. Dazwischen schieben sich Organisationen. Inwieweit mit diesen drei Typen sozialer Systeme ihre Möglichkeiten ausgeschöpft sind, wollen wir hier bewusst offenlassen (vgl. Hellmann 1996; Hohm 2003, 12ff.; Hohm 2011, 13ff.). Stattdessen wollen wir jeden davon grob charakterisieren, um im Anschluss daran, weitere wichtige Problemstellungen für die Beobachtung des Sozialsystems Familie herausarbeiten zu können. 5. Die Weltgesellschaft grenzt sich einerseits im Medium globaler Kommunikation nach außen gegenüber der Weltbevölkerung mit ihren mehr als 7,8 Milliarden Menschen (=organisch-psychischen Systemen) und der natürlichen Umwelt ab. Andererseits schließt sie nach innen als umfassendes Sozialsystem die Organisationen und Interaktion in ihre globale Kommunikation ein. Indem sie ihre Einheit als Sozialsystem durch ein rekursives Netzwerk von Kommunikationen generiert, das in der Gegenwart an Vergangenes selektiv anschließt und auf Zukünftiges selektiv vorausgreift, handelt es sich um das umfassendste autopoietische Sozialsystem. Als solches stellt es alle seine Elemente, Ereignisse und Strukturen mittels der Operation der globalen Kommunikation selbst her. Ihre gesellschaftsexternen Umwelten repräsentieren mithin die Weltbevölkerung und die natürliche Umwelt. Und zwar deshalb, weil die Weltgesellschaft als autopoietisches Sozialsystem nicht mit ihnen, sondern nur über sie kommunizieren kann. Ökologische Kommunikation der Weltgesellschaft ist somit etwas Anderes als das ökologische Bewusstsein der Weltbevölkerung (Luhmann 1986). Demgegenüber erzeugt die Weltgesellschaft für ihre Organisationen und Interaktionen deren gesellschaftsinterne Umwelt, von der diese sich wiederum – wie wir sehen werden – als autopoietische Systeme abgrenzen.
3. Funktionssysteme
Zentral für die systemtheoretische Beobachtung der Gesellschaft ist nun, dass diese ihre moderne Form im Unterschied zu vormodernen Formen durch den Primat der funktionalen Differenzierung gewinnt (Luhmann 1997b, Bd.2, 743ff.). Er besagt, dass sie sich systemintern in mehrere gleichrangige Teilsysteme – Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Massenmedien, Erziehung, Bildung, Religion, Medizin, Recht, Sport, Soziale Hilfe, Pflege etc.– binnendifferenziert. Dabei hat jedes von ihnen eine spezifische Funktion für die Gesamtgesellschaft zu erfüllen, weshalb sie auch als Funktionssysteme bezeichnet werden. So stellt die Politik kollektiv bindende Entscheidungen her; treibt die Wissenschaft den Erkenntnisgewinn voran; informieren die Massenmedien über das Neueste etc. Ihre spezifische Sozialstruktur erzeugt die Weltgesellschaft mithin dadurch, dass sie systemintern mittels der Ausdifferenzierung binärer Codes das Medium globaler Kommunikation durch funktionssystemspezifische Formen der Kommunikation engführt. Das bedeutet, dass sie ihre Autopoiesis, sprich Selbstherstellung, als Einheit einer Vielfalt von codespezifisch kommunizierenden Funktionssystemen generiert. Als ebenfalls autopoietische Teilsysteme operieren diese im Medium der politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, massenmedialen Kommunikation etc. Sie orientieren sich dabei, je nach Funktionssystem, am politischen Code Regierung/Opposition, Wirtschaftscode zahlungsfähig/zahlungsunfähig, Wissenschaftscode wahr/unwahr, Code der Massenmedien Information/Nichtinformation etc. Als solche beobachten sie sich wechselseitig als gesellschaftsinterne Umwelt über ihre unterschiedlichen funktionssystemspezifischen Grenzen hinweg. Aufgrund ihres funktionssystemspezifischen Codes und der Tatsache, dass sie nicht in ihrer eigenen Umwelt vorkommen können, reproduzieren sie die Einheit der Gesellschaft in je spezifisch unterschiedlicher Form. Unsere bisherige systemtheoretisch orientierte Beobachtung der Weltgesellschaft als umfassendes und zugleich funktional differenziertes Sozialsystem impliziert zugleich, dass sie sich von bestimmten anderen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen unterscheidet. Weder teilt sie die Vorstellung von der Einheit der Weltgesellschaft als einer hierarchischen Gesellschaftsordnung mit einer Spitze oder einem Zentrum noch die einer normativen Ordnung auf der Basis gemeinsam geteilter rechtlicher oder moralischer Werte. Auch lehnt sie die des Primates eines der Funktionssysteme, sei es der Wirtschaft, Wissenschaft oder Politik, ab. Die Crux dieser alternativen Formen der Gesellschaftsbeschreibung sieht sie darin, dass sie die Polykontexturalität der modernen Weltgesellschaft und ihrer Funktionssysteme zugunsten eines vormodernen Ordnungsprinzips, eines fiktiven Konsenses oder einer funktionssystemspezifischen Totalisierung unterlaufen. Sofern wir die spezifische Sozialstruktur der modernen Weltgesellschaft durch ihre funktionale Differenzierung bestimmten, müssen wir jedoch noch eine wichtige Ergänzung hinzufügen. Bei ihrer bisherigen Beschreibung handelte es sich nämlich primär um ihre invariante formale Codestruktur. Dabei blieb offen bzw. unentschieden, an welche der beiden Codewerte die funktionsspezifische Kommunikation jeweils anschließt. Diese Leerstelle der binär strukturierten Codes verweist auf das eingeschlossene ausgeschlossene Dritte von Entscheidungen und Kriterien der Entscheidungen. Ihren Platz nehmen die funktionssystemspezifischen Entscheidungsprogramme ein, welche die inhaltlichen Kriterien für die richtige oder falsche Zuordnung der jeweiligen Kommunika-
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tion zu den Codewerten festzurren (vgl. Luhmann 1986, 89ff.). So z.B. die Gesetze in der Politik, die Investitionsprogramme in der Wirtschaft, die Theorien und Methoden in der Wissenschaft und die Nachrichtenprogramme in den Massenmedien. Zum einen indizieren sie eine Präferenz zugunsten der systeminternen kommunikativen Anschlussfähigkeit des Positivwertes des jeweiligen Codes. So kann man mit wahren Theorien im Wissenschaftssystem mehr anfangen als mit Irrtümern; mit gewinnbringenden Investitionen in der Wirtschaft mehr als mit Verlust erzeugenden; mit die Regierungsmacht erhaltenden Gesetzen in der Politik mehr als mit solchen, welche der Opposition die Wähler zutreiben. Was nicht ausschließt, dass auch das Crossing zum Negativwert bzw. Kontingenzwert des Codes systemintern möglich ist, welches auf die Reflexivität der Codewerte verweist. Zum anderen machen die Entscheidungsprogramme auf die Notwendigkeit funktionssystemspezifischer Organisationen aufmerksam, da nur diese – wie wir noch genauer sehen werden – als Entscheidungssysteme operieren können. Mit diesem sehr gerafften Überblick zur Weltgesellschaft wollten wir im Sinne einer Startplausibilität verdeutlichen, weshalb die soziologische Systemtheorie ihre spezifische Form als funktional differenziert bezeichnet und sich dadurch von anderen Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft unterscheidet. 5.1 Zugleich können wir anhand dieser nur knapp skizzierten gesellschaftstheoretischen Prämissen mehrere Problemstellungen für unsere Beobachtung der modernen Familie gewinnen: a) Wenn das Sozialsystem moderne Familie ein Teilsystem der umfassenden Weltgesellschaft ist, fällt sofort auf, dass es im Unterschied zur Weltwirtschaft, den globalen Massenmedien, dem Völkerrecht, der universellen Wissenschaft etc. nicht nur als singuläres Teilsystem auftritt. Stattdessen kommt es weltweit in einer hohen dreistelligen Millionenzahl vor. In den Modernisierungszentren wie Europa, millionenfach, z.B. gab es 2019 in der BRD 11,6 Mio Familien (bpb 2019). Wir werden uns folglich mit dem Problem zu befassen haben, ob man die modernen Familien gleichwohl als Teil- bzw. Funktionssystem der Weltgesellschaft bezeichnen kann. b) Wenn das der Fall ist, stellt sich ferner die Frage, ob sich die moderne Familie – wie alle anderen Funktionssysteme auch – auf eine Funktion reduzieren lässt, somit wie diese das Label »modern« verdient. Oder, ob sie nach wie vor als multifunktionales Sozialsystem betrachtet werden muss, das von der Pflege über die Erziehung bis hin zum Wirtschaften nahezu alle Funktionen bedient. c) Eng damit verbunden sind weitere Fragen: Welches ist der familienspezifische Code, welcher die familiale Kommunikation von anderen funktionssystemspezifischen Kommunikationen zu unterscheiden erlaubt? Welches sind die familienspezifischen Entscheidungsprogramme? Worin unterscheidet sich die moderne von der vormodernen Familie des sogenannten »ganzen Hauses«? Verweist ihre seit den 1970er Jahren zunehmende Formenvielfalt – nichteheliche familiale Lebensgemeinschaft, Ein-Elternteil-Familie, binukleare Familie, Stieffamilie etc.– auf funktional äquivalente Familienformen der lange Zeit nahezu exklusiven modernen Kern- und
3. Funktionssysteme
Kleinfamilie? Oder indizieren manche dieser Familienformen den Übergang zur postmodernen Familie? d) Schließlich ergibt sich die Frage, wie die moderne Familie, wenn sie sich mittels Intimkommunikation von der Umwelt anderer Funktionssysteme abgrenzt, in diese integriert ist. M.a.W.: Wie sie das Problem der gleichzeitigen Autonomie gegenüber diesen Umweltsystemen und der Abhängigkeit von ihrer Funktionserfüllung löst. 6. Organisationen als weiterer Typ sozialer Systeme (vgl. Luhmann 1976; Luhmann 2000a) unterscheiden sich von der Weltgesellschaft u.a. dadurch, dass man in sie als Person nur in Form einer Mitgliedsrolle inkludiert sein kann (Luhmann 1976, 39ff.; Luhmann 2000a, 80ff.). Während dies auch für nationale Gesellschaften – besonders durch die von der politischen Organisation des Nationalstaates verliehenen Staatsbürgerrechte – gilt, trifft dies auf die Weltgesellschaft nicht zu. In sie tritt man nicht als formales Mitglied ein oder als Nichtmitglied aus. Bedeutete dies doch, dass die Weltgesellschaft mit einer globalen Organisation identisch wäre. Selbst staatenlose Personen sind mithin solange nicht aus der Weltgesellschaft exkludiert, solange sie als Sprecher (Autor), Hörer (Leser) und Thema an gesellschaftlicher Kommunikation beteiligt sind. Als in die umfassende Weltgesellschaft eingeschlossene unterscheiden sich Organisationen von dieser ferner durch ein rekursives Netzwerk kommunizierter Entscheidungen. Ihre mit Entscheidungskompetenz ausgestatteten Entscheider können deshalb auch für ihre Entscheidungen verantwortlich gemacht werden. Der Weltgesellschaft fehlen dafür sowohl die autorisierten Sprecher als auch Adressaten. Ein an »die Verantwortung der Gesellschaft« adressierter Appell ist insofern eine folgenlose Kommunikation ohne Adresse. Des Weiteren gewinnen Organisationen als Entscheidungssysteme ihre unterschiedliche Form durch die primäre Zuordnung zu einem der erwähnten gesellschaftlichen Funktionssysteme. So beschreiben sich Fachhochschulen als zugehörig zum Bildungssystem, Schulen zum Erziehungssystem, gewinnorientierte Unternehmen zum Wirtschaftssystem, Wohlfahrtsverbände zum System Sozialer Hilfe etc. Schließlich sind für Organisationen Stellen von zentraler Relevanz (vgl. Luhmann 2000a, 231ff.). Sie stellen eine Kombination von Personen, Entscheidungsprogrammen, horizontalen und vertikalen Kommunikationswegen dar. Diese fungieren als Entscheidungsprämissen für die situativ anfallenden Entscheidungen. So stellt z.B. ein Wohlfahrtsverband eine von mehreren Personen, die sich für die Stelle einer Sozialarbeiterin bewerben, nach einem Rekrutierungsverfahren ein. Ordnet ihr ein Entscheidungsprogramm mit einer bestimmten Aufgabe, z.B. als Familienhelferin, zu, und integriert sie in eine Abteilung und ein Team mit einer Leiterin. Ihre Elastizität und Lernfähigkeit gewinnen die Organisationen u.a. dadurch, dass sie alle drei Stellenkomponenten ersetzen können. Für die Personen bedeutet dies, dass ihre Mitgliedschaft in Form der Stelle eine doppelte Kontingenz aufweist. So können sowohl die Organisationen durch Fremdexklusion, betrachtet aus der Perspektive der Personen, als auch diese ihre Mitgliedschaft durch Selbstexklusion kündigen und in eine Nichtmitgliedschaft transformieren. 6.1 Im Anschluss an den kurzen systemtheoretischen Überblick zu Organisationen können wir folgende weitere Problemstellungen für unser Generalthema gewinnen:
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf a) Zunächst stellt sich die Frage, wie sich die Mitgliedschaft in Familien von derjenigen der Organisationen unterscheidet? Was ist das funktionale Äquivalent für die Rekrutierungsentscheidungen von Stellenbewerbern in Familien? b) Als nächstes lässt sich fragen, ob die Mitgliedschaft in Familien ebenso wie die der Organisationen eine doppelte Kontingenz aufweist. M.a.W.: kann die Familie ihren Mitgliedern und können diese ihr kündigen? c) Des Weiteren ergeben sich die Fragen, wem in der Familie die Entscheidungskompetenz zugesprochen wird, und ob familiale Entscheidungen der Familie als Sozialsystem oder einzelnen ihrer Mitglieder von Umweltsystemen zugerechnet werden. d) Schließlich kann man im Anschluss an Beobachtungen, welche die Familie als Verhandlungshaushalt identifizieren bzw. ihren damit verbundenen erhöhten Entscheidungsbedarf thematisieren (vgl. Beck-Gernsheim 1986; Beck-Gernsheim 1994; Du-Bois Reymond u.a. 1994; Peuckert 2002), die Frage aufwerfen, ob sich die Selbstorganisation der Familie zunehmend in Richtung von Kleinorganisationen bzw. Familienunternehmen transformiert (vgl. Simon 2012).
7. Interaktionssysteme als dritter Typ sozialer Systeme unterscheiden sich von der Gesellschaft und den Organisationen dadurch, dass sie sich von ihrer Umwelt durch die Differenz von Anwesenheit/Abwesenheit abgrenzen. Voraussetzung für ihre Systembildung ist mithin ihre kommunikative Schließung durch Präferenz für unmittelbare raumzeitliche Anwesenheit. Ihre Außenseite, das Abwesende, kann zwar durch ein Re-entry Thema der Interaktionssysteme werden. Abwesende scheiden jedoch als Sprecher und Hörer ihrer Kommunikation normalerweise aus. Klinken sie sich in das Interaktionssystem, z.B. durch das Handy, ein, handelt es sich um eine Kombination von Kommunikation mit An- und Abwesenden, bei der das Interaktionssystem umso autonomer ist, je eher es die Abwesenden als Grenzüberschreiter abweisen kann und umgekehrt. Interaktionssysteme lassen sich zusätzlich anhand der Differenz flüchtig/organisiert unterscheiden (vgl. Hohm 2016, 23ff.). Zur ersten Form gehören z.B. die Fahrstuhlfahrt, Blickkontakte an der Verkehrsampel, das Warten an der Kinokasse etc. Im Unterschied zu organisierten Interaktionssystemen sind sie normalerweise weder raumzeitlich noch bezüglich der anwesenden Personen geplant. Sie ereignen sich als kurzfristige, unpersönliche Kommunikation Fremder, die sich auf wechselseitige Wahrnehmung bzw. Körperkommunikation beschränken. Es dominiert somit eine Präferenz für Schweigen, da das Risiko einer verbalen Kommunikationsofferte mangels Themen oftmals zu hoch ist. So würde z.B. die Frage. »Was halten sie von Systemtheorie?« im Fahrstuhl Erstaunen, wenn nicht offene Ablehnung auslösen (vgl. Hohm 2016, 25ff.). Organisierte Interaktionssysteme sind demgegenüber in eine Organisation eingebettet, die normalerweise den Raum, die Zeit, das Thema und die als anwesend zugelassenen Teilnehmer durch Entscheidungsprogramme festlegt. Im Unterschied zu flüchtigen Interaktionssystemen sind die Voraussetzungen ihrer Anwesenheit strukturell erwartbar. Beschränken sie sich nicht auf einmalige Begegnungen, können sie eine eigene Systemgeschichte generieren. Gerahmt wird sie in der Regel von einem feststehenden Anfang und vorhersehbaren Ende. Sie ereignet sich als temporaler Wechsel von Anwesenheit und Abwesenheit im Medium der Kommunikation unter Anwesenden (vgl. Kieserling 1999). Organisierte Interaktionssysteme lassen sich mithin auch als Episoden von
3. Funktionssysteme
Organisationen beobachten. Obwohl sie durch diese vorstrukturiert sind, gewinnen sie ihre eigene dynamische Stabilität als autopoietische Systeme durch die Kommunikation von Anwesenden. 7.1 Im Anschluss an unseren knappen Überblick zu den Interaktionssystemen können wir folgende interessante Problemstellungen für die Familie als Sozialsystem herausarbeiten: a) Inwieweit macht es Sinn, den Anfang von Intimsystemen mit flüchtigen Interaktionssystemen gleichzusetzen? So betont z.B. die Semantik der romantischen Liebe, die von einer Mehrzahl der systemtheoretischen Beobachter als Voraussetzung für Intimsysteme betrachtet wird, den Zufall der Begegnung als ihren Auslöser (vgl. Aubert 1965, 213ff.; Luhmann 1982a, 180ff.; Leupold 1983; Tyrell 1987, 591; Luhmann 2008, 31). b) Wenn Familien jedoch nur dann als Sozialsysteme auf Dauer gestellt werden können, wenn aus flüchtigen organisierte Interaktionssysteme werden, wie unterscheiden sie sich von denjenigen, die in Organisationen eingebettet sind? Ist die familiale Selbstorganisation das funktionale Äquivalent für diese, oder sind es die Organisationen des Rechts und/oder der Religion? c) Wie beobachten und organisieren Familien als Sozialsysteme die An- und Abwesenheit ihrer Mitglieder? Wie autonom können sie diesbezüglich operieren, wenn man ihre Integration in Umweltsysteme berücksichtigt? d) Wie erzeugen Familien ihre eigene Systemgeschichte im Medium der Intimkommunikation? Handelt es sich dabei um eine Episode, deren Anfang und Ende klar identifizierbar ist, oder ist besonders letzteres offen? e) Sollte das Sozialsystem Familie ein Funktionssystem sein, besteht dann eine seiner Besonderheiten darin, dass es – im Unterschied zu den anderen Funktionssystemen – ein selbstorganisiertes Interaktionssystem ist?
Mit den bisherigen Ausführungen wollten wir auf einige zentrale Problemstellungen aufmerksam machen, die man für eine systemtheoretische Beobachtung der modernen Familie als Sozialsystem gewinnen kann, wenn man sie einem Vergleich mit den drei Sozialsystemen Gesellschaft, Organisation und Interaktion aussetzt. 8. Abschließend können wir im Anschluss an die systemtheoretische Unterscheidung von organischem und psychischem System einerseits und Inklusion/Exklusion andererseits (vgl. Hohm 2012; Stichweh 2016) zu weiteren Fragestellungen im Hinblick auf unser Generalthema kommen. Mit letzterem Begriffsdual thematisiert die Systemtheorie das generelle Problem, wie die Menschen, wenn sie als organisch-psychische Systeme Umwelt der Sozialsysteme sind, dennoch an diese gekoppelt sein können. Damit nehmen wir ein Thema wieder auf, das wir bereits mehrmals beiläufig erwähnten. Im Kern geht es um die Relation von Sozialsystemen und Individuum. Bevor wir diese näher betrachten werden, gilt es vorab daran zu erinnern, dass wir den Menschen ebenso wie die Sozialsysteme als autopoetisches System betrachten. Für
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ihn als Organismus bedeutet dies, dass er sich mittels Zellen reproduziert, deren Selbstherstellung mit dem sicheren Tod endet, da die Regeneration lebenserhaltender Zellen zeitlich begrenzt ist. Becketts Diktum in »Warten auf Godot« »Sie gebären rittlings über dem Grabe« drückt dies pointiert aus. Die Entwicklung der inneren Organe des Menschen durch Zellwachstum, ihre Reifung und Alterung, gehört mithin zur Umwelt der Sozialsysteme. Man kann sie als Innenseite des lebenden Systems Mensch bezeichnen. So dürfte klar sein, dass Sozialsysteme weder den Kreislauf noch Herzschlag, aber auch nicht die Libido der Menschen als lebende Systeme miteinander qua Kommunikation verbinden. Anders sieht es mit seinem Körper aus. Betrachtet man die Haut als Grenze von Innen und Außen des Menschen als lebendem System, so lässt sich der Körper seiner Außenseite zurechnen. Im Gegensatz zum Organismus ist er wahrnehmbar, vor allem sichtbar, und kann in spezifischer Weise als Medium der Kommunikation fungieren. Man denke nur an die Kleidungscodes der Mode (Bohn 2006, 95ff.), aber auch andere körperbetonte Sozialsysteme wie Sport, Pflege, und Medizin (vgl. Bette 1989; Hohm 2002; Hohm 2020, 36ff.). Wir können also resümieren, dass der menschliche Körper – ebenso wie Sprache und Schrift – von Sozialsystemen als Kommunikationsmedium in Anspruch genommen werden kann, jedoch nicht sein Organismus. Wenn man den Menschen zusätzlich als psychisches System beobachtet, handelt es sich bei diesem um ein weiteres autopoietisches System. Es operiert im Medium von Gedanken und Wahrnehmungen des Bewusstseins, weshalb man es auch als Bewusstseinssystem bezeichnen kann (vgl. Luhmann 1995a). Als solches ist der Mensch Umwelt der Sozialsysteme, weil diese als Kommunikationssysteme keinen Direktzugang zu seinen Gedanken und Wahrnehmungen haben. Deren Sinn erschließt sich ihnen nur mittels der Kommunikationsmedien Sprache und Schrift. Beide, der Mensch und die Sozialsysteme, bedienen sich folglich des Mediums Sinn (vgl. Luhmann 1984, 92ff.). Jener qua Medium des Bewusstseins, diese qua Medium der Kommunikation. Weil dies der Fall ist, sind sie als autopoietische Systeme eng miteinander gekoppelt und konstitutiv aufeinander angewiesen. So können Menschen ohne Sozialsysteme nicht sozialisiert und diese ohne die Bewusstseinssysteme der Menschen nicht irritiert werden. Dennoch können sie nicht miteinander verschmelzen, da Sozialsysteme unfähig sind, wahrzunehmen, zu fühlen oder zu denken, und Bewusstseinssysteme unfähig, zu kommunizieren. Fehlt diesen doch dafür die Überraschung durch die die Trennung von Sprecher und Hörer voraussetzende doppelte Kontingenz. Ein Selbstgespräch im Medium des Bewusstseins – »sie liebt mich, sie liebt mich nicht« – kann mithin das erhoffte »Ich liebe Dich« im Medium der Intimkommunikation nie ersetzen. 8.1 Für unser Generalthema Sozialsystem Familie ergeben sich aus dem zum organischpsychischen System des Menschen Gesagten folgende Problemstellungen: a) Sofern der Einzelorganismus des Menschen endlich ist, inwieweit ist es dann die Funktion des Sozialsystems Familie, für die sexuelle Reproduktion der Menschen zu sorgen? b) Welche Rolle spielt der Körper als Medium der Intimkommunikation in der Familie?
3. Funktionssysteme c) Ist der Mensch als Bewusstseinssystem Umwelt des Sozialsystems Familie? Wie lässt sich dieses durch jenes irritieren? Ist alles mitteilbar, was in der Familie wahrgenommen und gedacht wird, oder muss man auch hier mit Bewusstseinsüberschüssen der Familienmitglieder rechnen? d) Welche Funktion kommt der familialen im Unterschied zu anderen Formen der Sozialisation zu?
9. Wenn für die Sozialsysteme die Menschen als organisch-psychische Systeme Umwelt sind, stellt sich die Frage, wie sie dennoch an ihnen teilnehmen bzw. in sie inkludiert werden können. Die diesbezügliche systemtheoretische Antwort lautet: als Person (vgl. Luhmann 1995d). Jedoch nicht als Vollperson oder ganze Person mit all ihren Rollen. Sondern – je nach Typ des Sozialsystems – mit jeweils spezifischen und unterschiedlichen Rollen. Die andere Seite der Inklusion der Person in Sozialsysteme – die Exklusion – indiziert mithin den Ausschluss aus ihnen mit ihren jeweiligen Rollen. Wir können also generell festhalten, dass die systemtheoretische Differenz von Inklusion/Exklusion die Teilnahme/Nichteilnahme der Person an Sozialsystemen mittels Rollen impliziert. Die Semantik der Ganzheitlichkeit des Menschen verweist somit ebenso wie die der Gesellschaft auf eine imaginäre Einheit bzw. Identität, die in beiden Fällen, sei es als Person mit multiplen Rollen, sei es als Gesellschaft mit multiplen Teilsystemen, nur noch als Paradox, nämlich als Dieselbige des Verschiedenen, zu realisieren ist. Sofern der Körper untrennbar mit der Person verbunden ist, ist die Differenz von Inklusion/Exklusion immer auch an die Semantiken des Alters und Geschlechts gekoppelt. Ablesbar an der differentiellen Zuschreibung der Person als Kind, Jugendlicher, Erwachsener und Senior einerseits und weiblich/männlich andererseits. Was die Differenz von Inklusion/Exklusion der Person in/aus Sozialsystemen genauer bedeutet, wollen wir uns anhand der Weltgesellschaft und Organisationen kurz klarzumachen versuchen. In Bezug auf die Weltgesellschaft – besonders ihre Modernisierungszentren – gilt, dass potenziell jede Person mittels unterschiedlicher Laienrollen in ihre Funktionssysteme inkludiert ist. D.h. jedermann kann als Kunde am Wirtschaftssystem, Wähler am politischen System, Schüler am Erziehungssystem, Kläger am Rechtssystem, Publikum an den Massenmedien, Fahrgast am Verkehrssystem etc. teilnehmen. Zugleich ist potenziell jede erwachsene Person zusätzlich in Form einer Leistungsrolle (=Berufsrolle) in eines der Funktionssysteme inkludiert. Sozialstrukturelle Voraussetzung für diese doppelte Inklusion qua vielfältiger Laienrollen einerseits und nur einer Leistungsrolle andererseits ist die komplementäre Rollendifferenzierung in jedem der Funktionssysteme. So z.B. die von Lehrern und Schülern im Erziehungssystem, Professoren und Studenten im Bildungssystem, Priestern und Gläubigen im Religionssystem, Berufspolitikern und Wählern im politischen System, Sozialarbeitern und Hilfebedürftigem im System Sozialer Hilfe etc. Im Unterschied zu den Funktionssystemen der Weltgesellschaft gilt hingegen für ihre Organisationen, dass sie immer nur eine Teilgruppe der Personen mit ihren Laienrollen selektiv und temporär als Publikum sowie als Mitglieder mit ihrer Leistungsrolle
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teilnehmen lassen. So ist z.B. nur ein äußerst geringer Teil aller Schüler und ein noch geringerer Teil aller Lehrer des Erziehungssystems Mitglied einer bestimmten Schule. Von Exklusion können wir bezüglich der Funktionssysteme der Weltgesellschaft und ihrer Organisationen dann reden, wenn Personen aus bestimmten Laienrollen oder Leistungsrollen ausgeschlossen werden. Gleichwohl macht es einen Unterschied aus, ob z.B. ein Schüler generell aus dem Erziehungssystem exkludiert wird oder nur aus einem bestimmten Schultyp, oder eine erwerbsfähige Person generell aus dem Beschäftigungssektor der Funktionssysteme ausgeschlossen wird oder nur aus einer bestimmten seiner Organisationen. Hat die Person im Falle der Exklusion aus einer Organisation noch die Möglichkeit der Inklusion in andere Organisationen, ist ihre gesellschaftliche Inklusion im Falle der Exklusion aus einem Funktionssystem erschwert, sofern sie auf deren Leistungen angewiesen ist. Nimmt man hinzu, dass die Weltgesellschaft nicht nur funktional, sondern auch in zentrale und periphere Regionen differenziert ist, gewinnt man weitere Einsichten bezüglich der Inklusion/Exklusion. So ist in den Modernisierungszentren (=Westeuropa, USA, Japan) die Mehrheit der Bevölkerung als Personen mit ihren Laienrollen und Leistungsrollen in die wichtigen Funktionssysteme und Organisationen inkludiert. Demgegenüber ist sie in den peripheren Regionen (Entwicklungsländer Afrikas, Asiens, Südamerikas und der ehemaligen Sowjetunion) davon ausgeschlossen. Ferner lässt sich die Differenz von Inklusion/Exklusion anhand der Karrieren von Personen und sozialen Lagen von Personengruppen beobachten. Beide verweisen auf die stratifizierte Differenzierung als weiterer Differenzierungsform der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft und ihrer Organisationen. Betrachtet man die Karrieren als Lebenskarrieren, bezieht man sie auf das Vorher/ Nachher des Lebenslaufes von männlichen/weiblichen Personen als Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren. Die Lebenskarrieren unterscheiden sich hinsichtlich ihres beobachteten Erfolgs/Misserfolgs daraufhin, ob die Personen sie primär im Inklusions- oder Exklusionsbereich der Funktionssysteme der Gesellschaft und ihrer Organisationen mit ihren individuellen Laienrollen und ihrer Leistungsrolle durchlaufen. Manifestieren sie sich im Inklusionsbereich als unterschiedliche Formen von Positivkarrieren, handelt es sich im Exklusionsbereich um unterschiedliche Formen von Negativkarrieren. Demgegenüber referieren wir mit den sozialen Lagen auf das Vorher/Nachher von Personengruppen als Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren hinsichtlich struktureller Gemeinsamkeiten ihrer Leistungs- und Laienrollen. Die sozialen Lagen unterscheiden sich bezüglich ihrer sozialen Ungleichheit/Gleichheit einerseits im Hinblick darauf, ob sie primär im Inklusions- oder Exklusionsbereich der Gesellschaft und ihrer Organisationen als klassen-, schicht- oder milieuspezifische Lage erzeugt werden. Andererseits danach, wie sie von den männlichen/weiblichen Personengruppen und verschiedenen Generationen beobachtet werden. Lassen sie sich im Inklusionsbereich mit graduell unterschiedlich bevorzugten Lebenschancen identifizieren, beziehen sich die sozialen Lagen im Exklusionsbereich auf graduell unterschiedlich benachteiligte Lebenschancen.
3. Funktionssysteme
9.1 Für unser Generalthema Familie als Sozialsystem können wir im Anschluss an die Ausführungen zur Inklusion/Exklusion folgende Problemstellungen gewinnen: a) Wenn der Mensch nicht als Vollperson in Funktionssysteme inkludiert ist, trifft dies auch für das Sozialsystem Familie zu? b) Gilt die doppelte Inklusionsform bzw. Rollenkomplementarität von Leistungs- und Laienrollen auch für das Sozialsystem Familie, z.B. die Relation von Eltern und Kindern? c) Welche Implikationen haben Inklusion/Exklusion bezüglich des Sozialsystems Familie für die Lebenskarriere der Person als Kind, Jugendlicher, Erwachsener und Senior? Können wir von einer Familienkarriere der Personen ebenso wie von einer Partnerschaftskarriere sprechen? d) Was bedeutet die Inklusion/Exklusion von Personengruppen bezüglich des Sozialsystems Familie für ihre klassen-, schichten- und milieuspezifische Lebenslage? e) Inwieweit gibt es Unterschiede der Inklusion/Exklusion hinsichtlich des Familiensystems in Abhängigkeit von der Region – und zwar nicht nur zwischen den peripheren Regionen der Weltgesellschaft und den Modernisierungszentren, sondern auch in diesen, z.B. zwischen Stadt und Land? f) Welche Funktion kommt der Geschlechterdifferenzierung für das Sozialsystem Familie zu? Lässt sie sich auf die Partnerschaftssemantik reduzieren? Wird diese auch auf die Kinder ausgedehnt?
Betrachtet man unsere systemtheoretisch motivierte Problemskizze zur Familie als Sozialsystem auf einen Blick, so dürfte klar sein, dass wir im Folgenden nicht alle der aufgeworfenen Fragen beantworten können. Stattdessen werden wir uns auf die Beobachtung der aus unserer Sicht zentralen Problemstellungen konzentrieren. Im Zentrum unseres gesellschaftstheoretischen Bezugs werden dabei die Modernisierungszentren, besonders die BRD, stehen.
3.2.2
Die moderne Kleinfamilie als Funktionssystem
Wenn wir im Folgenden die moderne Kleinfamilie als Funktionssystem der modernen Gesellschaft zum Ausgangspunkt unserer systemtheoretischen Beobachtung machen, dann unterscheiden wir ihre Form grob von zwei anderen Familienformen. Einerseits von der vormodernen Form des »ganzen Hauses«. Andererseits von den spätmodernen Formen der Familie, die sich seit den 1970er Jahren als nichteheliche Familien, Ein-Eltern-Familien, Stieffamilien, bikulturelle Familien etc. in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft verstärkt durchgesetzt haben. Dabei werden wir uns nicht weiter mit ihrer vormodernen Form des ganzen Hauses befassen, sondern davon ausgehen, dass sie mit dem komplexen Übergang von der vormodernen zur modernen Gesellschaft obsolet geworden ist (vgl. Beck-Gernsheim 1986; Peuckert 2012, 13ff.). Es macht folglich wenig Sinn, an ihre Semantik, Struktur oder Funktionen anzuschließen, da sich diese mit dem Primat der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft in allen zentralen Hinsichten verändert haben.
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So war ihre Semantik noch stark an die von anderen Funktionsbereichen, z.B. der Religion, Wirtschaft und Politik, aber auch die Rücksichtnahme auf die Verwandtschaft gebunden. Dies schloss eine exklusive Orientierung an den Personen der Familie weitestgehend aus. Ihre Struktur als ganzes Haus war an die hierarchische Ordnung der vormodernen Gesellschaft gekoppelt. Diese manifestierte sich vor allem in Form der hierarchischen Geschlechterdifferenzierung mit der Dominanz des Pater familias nach innen und außen, dem die Ehefrau und Kinder zusammen mit dem ins ganze Haus inkludierten Dienstpersonal untergeordnet waren. Eine familiale Ordnung, welche die Ausdifferenzierung der Intimkommunikation blockierte. Schließlich verwies die Multifunktionalität des ganzen Hauses auf eine Gesellschaftsordnung, welche der Eigendynamik und Spezifizität der Funktionsbereiche, inklusive der der Familie, noch starke Fesseln anlegte. Wir werden uns also im weiteren Verlauf primär auf die systemtheoretische Beobachtung der modernen Kleinfamilie und neuerer Familienformen beschränken. Dabei unterstellen wir, dass sich jene seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er und 1960er Jahre sukzessive verbreitet hat. Ferner setzen wir voraus, dass ihre nahezu exklusive Stellung in diesen beiden Jahrzehnten, die deshalb oftmals auch als »Golden Age of Marriage« oder Höhepunkt der bürgerlichen Kleinfamilie (vgl. Peuckert 2012, 16) bezeichnet werden, ab den 1970er Jahren besonders in den Modernisierungszentren kontingent wurde. Die zu dieser Zeit emergierenden neuen Familienformen relativierten zunehmend ihren Anspruch als einzig notwendige Familienform. Ob damit jedoch zugleich ihr Ende vorprogrammiert ist, oder eher der Beginn einer Vielfalt der Familienformen mit der transformierten Kernfamilie als einer von ihnen, werden wir am Ende unserer Darstellung thematisieren.
3.2.2.1
Spezifika der modernen Kleinfamilie als Funktionssystem
Wenn wir uns also zunächst der Beobachtung der modernen Kleinfamilie mit der Fragestellung zuwenden, ob es sich bei ihr um ein Funktionssystem handelt, fallen einige Besonderheiten auf, die es prima facie schwierig erscheinen lassen, sie als solches zu bezeichnen. Als Erstes gerät in den Blick, dass die moderne Kleinfamilie – wie bereits erwähnt – millionenfach in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft vorkommt. Gesellschaftstheoretisch betrachtet scheint es also nicht sinnvoll zu sein, von der Familie der Gesellschaft im Singular zu sprechen, wie es geschieht, wenn von der Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Politik etc. der Gesellschaft die Rede ist. Und zwar deshalb nicht, weil sie auf keiner umfassenden operativen kommunikativen Einheit wie jene Funktionssystemen basiert. Wäre dies der Fall, müssten wir eine einzige globale Familie voraussetzen, welche sich im Medium der Intimkommunikation reproduziert. Zwar kann man aus der Perspektive einer biologischen Evolutionstheorie oder religiösen Schöpfungstheorie (=Genesis) behaupten, dass wir alle von einem gemeinsamen humanspezifischen genetischen Code oder von Adam und Eva abstammen. Dennoch wird wohl heute niemand ernsthaft die These aufstellen, dass wir uns deshalb alle einer weltumspannenden Familie als einzigartige Personen zurechnen. Dass bisweilen von der Völkerfamilie gesprochen wird, ändert daran nichts. Verweist diese politische Semantik doch darauf, dass heute noch am ehesten die Weltpolitik durch ihre territorial
3. Funktionssysteme
segmentierten Nationalstaaten mit einem ähnlichen Problem wie die Familien konfrontiert wird. Eine Konsequenz, die wir aus dem millionenfachen Vorkommen der modernen Kleinfamilie ziehen können, besteht also darin, dass wir es in gesellschaftstheoretischer Hinsicht vorziehen, von den Familien der Gesellschaft zu sprechen. Dies u.a. deshalb, weil der Singular nicht nur ihre Unterschiede und Mannigfaltigkeit ignoriert, sondern zugleich auch die Exklusivität der Intimkommunikation und Individualität ihrer Personen. Diese gingen verloren, unterstellte man die imaginäre Einheit einer globalen Familie. Dass den Familien der modernen Gesellschaft keine allumfassende operative Einheit im Sinne einer einzigen Form der Intimkommunikation zugrunde liegt, macht zusätzlich verständlich, weshalb sie nicht oder nur schwer – wie andere Funktionssysteme – ihre gemeinsamen Interessen in Form von Familienorganisationen bündeln können. Wohlgemerkt schließt das nicht aus, dass es Familienverbände gibt. Diese beziehen sich jedoch primär auf die strukturellen Kopplungen der Familien mit anderen Funktionssystemen, nicht aber auf das Medium der Liebe, das die Familien in je spezifischer Form zusammenhält. Des Weiteren fällt auf, dass die Familien der modernen Gesellschaft im Unterschied zu den anderen Funktionssystemen keine Organisationssysteme aufweisen, welche die Unentschiedenheit ihrer Codes in Entscheidungen transformieren. Stattdessen handelt es sich bei den Familien der Gesellschaft um Funktionssysteme, die als selbstorganisierte Interaktionssysteme ihre codespezifischen Entscheidungen ohne das Dazwischenschalten bzw. die Entlastung von formalen Organisationen treffen müssen. Ihre Besonderheit besteht mithin darin, dass sie gleichsam zwei Systemtypen kombinieren, nämlich die eines Funktionssystems und eines Interaktionssystems. Daraus ergibt sich die zentrale systemtheoretische Frage, wie es dann möglich sein soll, von der modernen Familie als einem Funktionssystem zu sprechen, wenn sie millionenfach vorkommt. Ist es dann nicht sinnvoller, von den Funktionssystemen der Familien zu reden? M.a.W.: wie lassen sich – trotz der quantitativen Vielheit der Familien der Gesellschaft – Gemeinsamkeiten beobachten, die es erlauben, sie einem Funktionssystem zuzuordnen? Unsere These ist die, dass es dann Sinn macht, von der modernen Familie als einem Funktionssystem zu sprechen, wenn man zeigen kann, dass diese sich einer gesellschaftlichen Funktion zuordnen lässt, die zum einen durch kein anderes Funktionssystem erfüllt werden kann. Und die zum anderen die Vielheit der Familien deshalb erfordert, weil bei einer Reduktion auf eine einzige Familie die Funktionserfüllung nicht auf Dauer gestellt werden könnte, da sie mit deren Ende zu existieren aufhörte. Das Funktionssystem der modernen Familie kann mithin nur kontinuieren, wenn es sich als eine Mannigfaltigkeit von familialen Interaktionssystemen reproduziert. Diese unterscheiden sich von allen anderen Funktionssystemen u.a. dadurch, dass sie ihre Einheit nicht durch die Gemeinsamkeit eines sie alle operativ zusammenschließenden Kommunikationszusammenhanges gewinnen. Sondern dadurch, dass sie ihre Einheit durch eine spezifische gesellschaftliche Funktion erlangen, welche sie als Vielheit sich selbstorganisierender und temporär befristeter familialer Interaktionssysteme kommunikativ reproduziert. Dabei gilt, dass die Vielheit der familialen Interaktionssysteme kei-
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
ne Konstante darstellt, sondern u.a. in dem Maße variiert, in dem die Unwahrscheinlichkeit seiner Funktionserfüllung in Wahrscheinlichkeit transformiert werden kann.
3.2.2.2 Die Inklusion der Vollperson als Funktion der modernen Kleinfamilie Was ist nun die Funktion, welche die Besonderheit der modernen Kleinfamilien als selbstorganisierte Interaktionssysteme im Unterschied zu anderen Funktionssystemen ausmacht? Wenn wir so fragen, distanzieren wir uns als systemtheoretische Beobachter der modernen Kleinfamilien von vornherein von den nach wie vor gängigen Vorstellungen ihrer Multifunktionalität (vgl. Bäcker u.a. 2010, 248). Stattdessen versuchen wir ihre Modernität durch den Bezug auf eine einzige Funktion zu begründen. Konsens scheint in der Systemtheorie darüber zu existieren, um welche Funktion es sich dabei handelt, wenn sie auch begrifflich unterschiedlich bezeichnet wird. Im Kern geht es bei ihr um die Inklusion der Vollperson (vgl. Luhmann 1990d, 208) bzw. die Komplettberücksichtigung der Person (vgl. Fuchs 1999, 24, 87). Vorausgesetzt wird folglich bei dieser Funktionsbestimmung der modernen Kernfamilien, dass alle anderen Funktionssysteme die Person nurmehr in Form spezifischer Rollen inkludieren bzw. als Adressstellen ihrer Kommunikation in Anspruch nehmen. Zugleich nimmt die Relevanz der modernen Kleinfamilie ab, indem die Teilsysteme nicht mehr, wie in der Vormoderne, ihre Funktionserfüllung von der Familienzugehörigkeit bzw. familialen Herkunft der Personen abhängig machen. So ist der Zugang zu politischen Ämtern nicht mehr an bestimmte Familien gebunden, wird der Zugang zum Erziehungs- und Bildungssystem durch Förderung und Stipendien von der familialen Herkunft entkoppelt, gilt das Gleiche für die Teilnahme an Transaktionen des Wirtschaftssystems und die Inklusion ins Religionssystem etc. Wenn dennoch familiale Netzwerke in andere Funktionssysteme durchgreifen, wird dies als Nepotismusverdacht von den Massenmedien skandalisiert oder als Chancenungleichheit attackiert. Wenn also die Funktion der modernen Kleinfamilien in der Inklusion der Vollperson gesehen wird, impliziert dies, dass die familiale Kommunikation sich von der unpersönlichen Kommunikation ihrer Umweltsysteme durch eine höchstpersönliche Kommunikation unterscheidet (vgl. Luhmann 1982a, 13ff.; Tyrell 1987, 574). Sie ignoriert nämlich die Trennung der Person in familieninterne und -externe Rollen, indem sie die Gesamtheit ihres Rollenverhaltens zum Thema der Kommunikation macht (vgl. Luhmann 1995d, 200). Es kommt somit zu einem Re-entry der Unterscheidung von systeminternen und systemexternen Rollenbezügen der Person in das System der modernen Kleinfamilien, indem sie als Einheit des Verschiedenen bzw. als Dieselbige des Verschiedenen betrachtet wird. Dies bedeutet, dass die familiale Kommunikation im Unterschied zu anderen Funktionssystemen auch dasjenige Verhalten der Personen systemintern thematisieren kann, das außerhalb der Familie für sie von Relevanz ist. Fragen nach den Schulaufgaben oder Problemen am Arbeitsplatz können von daher ebenso wenig unbeantwortet bleiben wie die nach der momentanen Gefühlslage. Dass diese hochgetriebenen kommunikativen Erwartungen an die ganze Person nicht konfliktfrei ablaufen, sondern von Bewusstseinsüberschüssen der Beteiligten begleitet werden, ergibt sich schon allein daraus, dass die Einheit des Differenten auf ein Paradox hinausläuft. Die Frage stellt sich somit, wie es dazu kommen kann, dass
3. Funktionssysteme
sich die modernen Kleinfamilien überhaupt auf eine so unwahrscheinliche Form der Kommunikation einlassen. M.a.W.: wie ist es möglich, dass sich die familiale Kommunikation durch diesen forcierten Personenbezug gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt abgrenzt bzw. schließt?
3.2.2.3 Zur Codierung familialer Kommunikation Wenn wir die modernen Kleinfamilien als Funktionssystem betrachten, müssen wir den Nachweis antreten, dass sie – wie alle anderen Funktionssysteme auch – einen spezifischen Code aufweisen. Denn erst dieser ermöglicht die Engführung der gesellschaftlichen Kommunikation in Form der familialen Kommunikation und damit die Schließung der modernen Kleinfamilien durch Einschließung in die moderne Gesellschaft. Unsere These ist nun die, dass es sich beim Code der modernen Kleinfamilie um den Intimitätscode geliebte/ungeliebte Familienpersonen handelt, der in spezifischer Form an den Intimitätscode der Ehe geliebte/ungeliebte Ehepersonen anschließt. Welche Implikationen damit verbunden sind, gilt es im Folgenden herauszuarbeiten. 3.2.2.3.1 Das Paarsystem (Liebes-, Ehepaar) und der Intimitätscode geliebte/ungeliebte Ehepersonen Zunächst wird deutlich, dass sich der familienspezifische Code auf die bereits erwähnte Funktion der modernen Kleinfamilien bezieht, indem er auf die ganze Person abstellt. Hinzu kommt, dass er im Medium der Liebe erfolgt. Da diese unterschiedliche Formen annehmen kann, möchten wir vorab klarstellen, dass es dabei nicht um Gottesliebe, Nächstenliebe oder Tierliebe geht. Aber auch nicht um vor- oder frühmoderne Formen der Liebe wie die Minne oder den Code Amour-passion (vgl. dazu Luhmann 1982a, 50ff. und 61ff.). Im Zentrum stehen stattdessen die paarbezogene romantische Liebe (vgl. dazu Luhmann 1982a, 163ff.; Leupold 1983, 299ff.; Tyrell 1987; Fuchs 1999, 36ff.; Peuckert 2012, 14ff.) einerseits und ihre familienbezogene Kontinuität bzw. Transformation andererseits. Wenn wir so formulieren, setzen wir voraus, dass die codespezifische Ausdifferenzierung der modernen Kleinfamilien an eine vorgängige Ausdifferenzierung eines Paarsystems gebunden ist, dessen Intimkommunikation sich an der Leitdifferenz geliebte/ungeliebte Paarperson orientiert. Dabei handelt es sich insofern um einen Präferenzcode, als der Positivwert den der »geliebten Person« und der Negativwert bzw. Reflexionswert den der »ungeliebten Person« darstellt. Seine Unwahrscheinlichkeit und Zumutung ergibt sich vor allem dadurch, dass sich zwei vorher wechselseitig unbekannte heterosexuelle erwachsene Personen auf das Risiko einer höchstpersönlichen Kommunikation einlassen, wenn sie ein Paarsystem in Gang setzen und auf Dauer stellen wollen. Es reicht also nicht, dass sich die Bewusstseinssysteme der jeweiligen Einzelpersonen anhand ihres Liebesgefühls bzw. ihrer Verliebtheit beobachten. Sie müssen es sich wechselseitig mitteilen, selbst auf die Gefahr hin, dass die andere Person die Zuneigung nicht teilt. Soll die damit vorausgesetzte doppelte Kontingenz nicht dazu führen, dass das Risiko des Beginns eine zu große Schwelle darstellt, muss eine der zwei Personen den Anfang wagen. D.h. sie muss von der Ebene der wechselseitigen Wahrnehmung, bei der die Au-
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gensprache eine führende Rolle spielt, auf die der verbalen Kommunikation übergehen. In der Regel war/ist dies der Mann. Den Vorteil der Initiative erkauft er durch das Risiko des Abgelehntwerdens, während die Frau den Nachteil des Wartens durch den Vorteil der Negation kompensiert. So schreibt Tyrell (1987, 583) im Hinblick auf die Entstehungszeit der Semantik der romantischen Liebe: »Liebes- und damit Ehezumutungen mit dem Hinweis auf fehlende Gegenliebe abzuweisen, wird weibliches Privileg […] Es kommt hinzu: gegen den negativen Bescheid ist ein Widerspruchsrecht nicht eingeräumt […] Das Unglück ist dann bevorzugte Männersache, ›Winterreisen‹ sind die Folge.« Das schließt paradoxe Formen der Kommunikation in dem Sinne nicht aus, dass der Mann die Negation seiner Kommunikationsofferte durch die Frau als verkappte Bejahung interpretiert. Sie meint dann für ihn nicht, was sie sagt, und sie sagt nicht, was sie meint. Fatale Folgen hat dieses maskuline »Missverständnis«, wenn der Mann die Ablehnung seitens der Frau nicht zu akzeptieren bereit ist und ihre Zuneigung erzwingen möchte. Es entstehen dann schnell Konfliktsysteme (vgl. zu diesen generell Messner 2003; Simon 2012a; Hohm 2016, 68ff. und in Bezug auf ihre quantitative Gemeinsamkeit als Zweier-Gegnerschaft mit der Zweierbeziehung der romantischen Liebe Tyrell 1987, 585), deren Kern darin besteht, dass der Mann die Mitteilung eines Neins seitens der Frau in Bezug auf seine Offerte negiert und an der Erwartung ihrer Gegenliebe festhält. Eskaliert der Konflikt, kommt es nicht nur zu Beleidigungen, sondern zu Stalking und sexualisierter Gewalt, Verhaltensformen, die in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend zum Gegenstand von unterschiedlichen Protesten der betroffenen Frauen geworden sind. Kommt die Intimkommunikation jedoch in Gang und erleben sich die beteiligten Personen als wechselseitig geliebt, konstituiert sich ein Paarsystem, sprich ein Liebespaar, dessen Besonderheit in seiner quantitativen Reduktion auf zwei Personen besteht. Seine Inklusionsform schließt mithin alle anderen potenziell als geliebt in Frage kommenden erwachsenen Personen des anderen Geschlechts aus. Es grenzt sich damit als ein exklusives Zweiersystem gegenüber allen übrigen Personen ab, indem es sich als Wir/Zwei im Unterschied zu allen sonst möglichen Liebespartnern beobachtet. Damit unterscheiden wir uns von Fuchs (1999, 43ff.), der von einer Leitdifferenz von Wir/Zwei und dem Rest der Welt ausgeht. Zum einen übersieht die »Restsemantik der Welt«, dass das für das Paar Unwahrscheinliche oder »Zufällige« gerade darin besteht, dass sich seine Personen als jeweils einzigartige aus der Vielzahl möglicher Liebespartner ausgewählt haben. Und zum anderen negiert sie die dadurch latent mitlaufende Kontingenz und das Risiko des Nicht-mehr-geliebt-Werdens, die systemintern durch die Emphase der Treue ausgeblendet werden. Konstituiert sich das Liebespaar als Zweiersystem, entsteht eine Sonderwelt im Medium der Intimkommunikation, in der das Erleben und Verstehen des anderen für das eigene Handeln Priorität gewinnt und jedweder Sachverhalt der Umwelt daraufhin thematisiert werden kann und soll, wie ihn der jeweilige Partner sieht. Dies gilt auch für die Gesamtheit seines Verhaltens sowie seine Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle. Ty-
3. Funktionssysteme
rell (1987, 576–577) formuliert diesen Sachverhalt pointiert wie folgt: »Romantische Liebe ist in einem ambitiösen Sinne verstehende Liebe.« (Hervorhebung i. O.) Hinzu kommt, dass der Körper im Paarsystem insofern Berücksichtigung findet, als die Sexualität der Partner als wechselseitiges Begehren und Bestätigung der exklusiven Zweierbeziehung in die Intimkommunikation integriert ist (Luhmann 1982a, 32ff.; Tyrell 1987, 588). Die Exklusivität des Zweiersystems wird dabei darin deutlich, dass sie zum einen an ein Selbstbefriedigungsverbot (vgl. Luhmann 2008, 45) und anderseits an den Ausschluss Dritter gekoppelt ist. Gelingt es dem Liebespaar, im Medium der Liebe eine Systemgeschichte aufzubauen, kommt es zur sozialräumlichen Verdichtung in Form des Zusammenziehens. Durch die gemeinsame Adressstelle der Wohnung symbolisiert damit das Paar seine Zugehörigkeit nach außen. Zugleich sichert es zusätzlich seine Differenz zur Umwelt der öffentlich zugänglichen Räume mittels der Exklusivität des Zugangs zu den Binnenräumen seiner privaten Intimsphäre. Als alternative Formen des Zusammenlebens durch die Hausbesitzer, das Elternhaus, die öffentliche Moral, das Recht, die Religion und Politik noch als »wilde Ehe« oder »Konkubinat« stigmatisiert und sanktioniert wurden, fiel das Zusammenziehen oft mit der Heirat zusammen. Aus einem Liebespaar wurde somit ein Ehepaar, das durch das Standesamt und/oder die Kirche an die Umweltsysteme des Rechts und der Religion gekoppelt wurde und sich somit normalerweise auf eine dauerhafte Zukunft festlegte (vgl. Tyrell 1988). Wir können also zusammenfassend konstatieren, dass die Gründung moderner Kleinfamilien bis Ende der 1960er Jahre mehrheitlich an die Ausdifferenzierung der Sozialsysteme verheiratete Paare bzw. Ehe gebunden war. Diese setzten den Takeoff von Intimsystemen voraus, deren Kommunikation sich am romantischen Code der Liebe orientierte, welcher die Inklusion der Vollpersonen auf die Selektionsfreiheiten zweier heterosexueller erwachsener Personen beschränkte. Diese grenzten sich als Liebespaar im Medium der Intimkommunikation durch eine Sonderwelt gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt ab, die die Gesamtheit des Verhaltens, inklusive der Sexualität, einschloss. Im Falle ihrer Stabilisierung transformierte sich das Liebespaar in ein Ehepaar durch Heirat, welche normalerweise mit dem räumlichen Zusammenziehen zusammenfiel. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass das Nicht-mehr-geliebt-Werden durchaus die erzwungene oder freiwillige Selbstexklusion in Form der Beendigung eines Liebespaares vor seiner Transformation in ein Ehepaar einschloss. Und dass die kommunikative Realisierung des Codes romantischer Liebe mit der schichten- bzw. milieuspezifischen Zugehörigkeit der Personen variierte (vgl. Luhmann 1982a, 54; Peuckert 2012, 14ff.). 3.2.2.3.2 Die moderne Kleinfamilie und der Intimitätscode geliebte/ungeliebte Familienpersonen Was ändert sich nun und was kontinuiert, wenn aus dem Paarsystem Ehe die moderne Kleinfamilie wird? Kontinuiert der Code romantischer Liebe, oder kommt es zu spezifischen Codeänderungen? Zunächst einmal war die moderne Kleinfamilie nahezu allinklusiv, da fast jede Person in einer Ehe gezeugt und geboren wurde, sieht man einmal von Waisenkindern und
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der Minderheit unehelich geborener Kinder ab. Das im Rückblick Erstaunliche war jedoch nicht diese beinahe umfassende Inklusion aller Personen als Kinder in eine Herkunftsfamilie, sondern ihre in den 1950er und 1960er Jahren fast ebenso hohe Inklusion als erwachsene Personen in eine selbstgegründete moderne Kleinfamilie als Ehe- und Elternpaar. Aus generationsspezifischer Sicht indiziert dies die Reproduktion eines mit dem Code der Liebe verknüpften irreversiblen sequenziellen Verweisungszusammenhanges. Er begann mit dem Verliebtsein, setzte sich fort mit der Heirat, führte zur Familiengründung und Familienzeit, die mit dem Auszug der Kinder beendet wurde, ließ mit ihm ein nunmehr älteres Ehepaar zurück und wurde durch den normalerweise früheren Tod des Ehemanns und den anschließenden der verwitweten Ehefrau abgeschlossen (vgl. Tyrell 1988). Deutlich wird anhand des codespezifischen sequenziellen Verweisungszusammenhanges, dass sich das Sozialsystem der modernen Kleinfamilie vom Paarsystem Ehe sowohl bezüglich seines Anfangs als auch seines Endes unterscheidet. So beginnt es spätestens mit der Geburt eines Kindes, wenn nicht bereits mit der von einem Arzt attestierten Schwangerschaft, und endet mit der Selbstexklusion der Kinder aus der Familie. Es handelt sich bei ihm mithin um ein sich selbst auflösendes bzw. zeitlimitiertes Interaktionssystem, in das als Normalerwartung die Selbstexklusion der Kinder spätestens als junge Erwachsene eingebaut ist. Ohne diese würde die semantische Differenz von Herkunfts- und Zeugungsfamilie keinen Sinn machen. Interessant ist dabei, dass diejenigen, die ohne Selektionsfreiheit qua Geburt als Kind ins Familiensystem inkludiert wurden, zugleich diejenigen sind, die es in der Regel in Form der Selbstexklusion als junge Erwachsene wieder auflösen. Demgegenüber impliziert das am romantischen Code orientierte Eheversprechen »Bis das der Tod uns scheidet« im Falle seines Einlösens, dass das Ende der Ehe in dem Sinne kontingent ist, als es an den sicheren, aber nicht genau vorhersehbaren Tod eines der Ehepartner gebunden ist. Während sein Anfang auf der beiderseitigen Selektionsfreiheit basiert (vgl. Tyrell 1987, 579). Wenn dies so ist, lässt sich bereits eine erste Differenz des auf die Familie bezogenen Intimitätscodes im Unterschied zum romantischen Code des Ehepaares feststellen. Ist dieser an die Selektionsfreiheit der Ehepartner gebunden, schließt jener zunächst die Selektionsfreiheit der Kinder aus. Sie sind mithin besonders als Kleinkinder davon abhängig, von ihren Eltern geliebt zu werden, ohne die Liebe entsprechend erwidern zu können. Die familiale Form der Eltern-Kind-Liebe unterscheidet sich somit von der des Ehepaares dadurch, dass sie ein am Erleben der Eltern orientiertes Handeln seitens der Kleinkinder unmöglich macht. Was sofort einleuchtet, wenn man an die Komplettbetreuung im Kleinkindalter durch die Eltern, speziell die Mutter, denkt. Es überrascht folglich auch nicht, dass Fuchs (1999, 111) in Bezug auf das Sozialsystem Familie die Semantik der Komplettberücksichtigung der Personen durch die der Komplettbetreuung ersetzt, ohne diese Differenz hinreichend explizit zu machen. Schaut man sich die moderne Kleinfamilie genauer an, fällt des Weiteren auf, dass sie ihre formale Minimalstruktur durch Umstellung von zwei auf drei Personen als Adressstellen der Intimkommunikation qua Geburt eines Kindes erhält. Im Regelfall sind es sogar mehr. Die exklusiv auf die Systemreferenz des Ehepaares und die Adressstellen
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der zwei Ehepersonen (=Ehemann/Ehefrau) bezogene Intimkommunikation wird somit zum Selbigen des Verschiedenen. Einerseits kontinuiert sie als Medium des ins Sozialsystem Familie durch Ausschluss eingeschlossenen Subsystems Ehepaar. Andererseits diskontinuiert sie durch dessen familiale Transformation als Elternpaar (=Vater/Mutter) mit Kindern. Die Einheit der modernen Kleinfamilie basiert somit auf ihrer Binnendifferenzierung in das dominante Subsystem Elternpaar einerseits, das zugleich auch als Ehepaar kontinuieren können muss, und – bei mindestens einem Kind – in die Subsysteme Mutter/Tochter, Vater/Tochter bzw. Mutter/Sohn, Vater/Sohn andererseits. Soll das Familiensystem nicht destabilisiert werden, dürfen sich die Subsysteme jedoch nicht in einer Form verselbständigen, die eine der Familienpersonen auf Dauer kommunikativ ausschließt. Seine operative Einheit lässt sich mithin nur dann mit Aussicht auf Erfolg reproduzieren, wenn sich alle Familienpersonen – trotz der temporären Bildung von Subsystemen – im Medium der familialen Kommunikation als geliebt beobachten (vgl. Fuchs 1999, 83). Wenn wir uns in diesem Zusammenhang auf die Spezifika der Codierung der familialen Kommunikation konzentrieren, fällt – zusätzlich zu dem bereits Ausgeführten – auf, dass die Eltern in Anwesenheit der Kinder bestimmte Themen vermeiden bzw. diesbezügliche Fragen ihrer Kinder blockieren. Ihr Schweigemanagement (vgl. Fuchs 1999, 108ff.) verweist mithin auf eine Formvorschrift der familialen Eltern-Kind-Liebe, welche in der Weise für das Ehepaar nicht gilt. Sie basiert zum einen darauf, dass die Eltern gerade, weil sie ihre Kinder lieben, ihnen bestimmte Informationen zu Familieninterna oder über Ereignisse der Umwelt nicht zumuten. Und sie hat zum anderen ihren Grund darin, dass sich die Eltern als verantwortlich für bestimmte das Familiensystem betreffende Entscheidungen beobachten, welche eine Mitsprache der Kinder ausschließt. Man denke z.B. an Probleme des Haushaltsbudgets, Berufs, Ansichten und Meinungen über Lehrer, Verwandte und Nachbarn oder paarbezogene Konflikte. Umgekehrt werden den Eltern von den Kindern – je älter sie werden – zunehmend Informationen vorenthalten, die ihre diversen Rollen, ihre Gedanken, Gefühle und Körperlichkeit betreffen. Eine weitere Besonderheit des familienbezogenen Codes der Liebe ergibt sich daraus, dass sowohl die Kinder als auch Eltern als Themen und Adressaten sexuellen Begehrens und Handelns wechselseitig füreinander kommunikatives Tabu sind. Der damit verknüpfte Latenzschutz (=Inzesttabu) indiziert zum einen die Entkopplung der Sexualität von der Eltern-Kind-Liebe. Die diesbezüglichen Selektionsfreiheiten bleiben auf das Ehepaar bei Exklusion der Kinder beschränkt. Und zum anderen weist er auf die strukturelle Notwendigkeit ihrer späteren Selbstexklusion zwecks systemexterner Partnerwahl voraus. Der Einschluss der Sexualität in die Eltern-Kind-Liebe wird mithin im Unterschied zu seiner Integration in die Liebe des Ehepaares als eine extreme Form des Vertrauensbruchs durch das davon betroffene Kind beobachtet. Im Anschluss an das Inzesttabu wird zugleich ein zusätzliches Spezifikum des familienbezogenen Codes der Liebe deutlich, nämlich die semantische Differenz der auf die Kinder bezogenen Betreuung und der auf das Ehepaar bezogenen Treue. Diese stellt nach der Formvorschrift des romantischen Codes auf eine dauerhafte wechselseitige Bindung des Ehepaares im Medium der Liebe unter Ausschluss Dritter ab. Demgegenüber ist die Betreuung der Kinder nicht nur von der Bindung an die Sexualität
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entkoppelt, sondern zugleich auch von einer Reziprozität des Erlebens und Handelns durch die Kinder– besonders im Kleinkindalter. Inwieweit das dadurch gegebene Reziprozitätsdefizit seine Kompensation durch die Blutsverwandtschaft von Eltern und Kind erfährt, können wir hier nur andeuten (vgl. Fuchs 1999, 104ff.). Für die Codierung der Intimität der modernen Kleinfamilie ist weiterhin von Relevanz, dass sie als selbstorganisiertes Interaktionssystem ihre Grenze zur gesellschaftlichen Umwelt durch die Differenz von familieninterner Anwesenheit und familienexternen Abwesenheit ihrer Personen zieht. Ihre raumzeitliche Form gewinnt sie durch die sich wiederholende Sequenz von Anwesenheit und Abwesenheit der Familienpersonen in und von der gemeinsamen Wohnung. Deren strukturelle Bedeutsamkeit wird von systemtheoretischen Beobachtern zumeist ignoriert oder allenfalls implizit mitgeführt, besonders im Falle der Thematisierung der Trennung von familieninternen und -externen Rollen bzw. persönlicher und unpersönlicher Kommunikation (vgl. Luhmann 1982a, 13ff.; Fuchs 1999, 97). Dass damit wichtige Voraussetzungen der Codierung der Intimität der modernen Kleinfamilie ausgeblendet werden, wollen wir im Folgenden etwas Ausführlicher darlegen. Zunächst einmal symbolisiert die Wohnung – wie wir bereits sahen – den räumlichen Vollzug des Verheiratetseins durch das Zusammenziehen des Ehepaares und fungiert somit zugleich als sozialräumliche Adressstelle ihrer Kommunikation mit den Umweltsystemen. Darüber hinaus stabilisiert sie mittels ihrer räumlichen Grenzziehung von Drinnen und Draußen zusätzlich die kommunikative Ausschließung des Ehepaares aus der gesellschaftlichen Umwelt. Sie ermöglicht damit seine Verhäuslichung im Sinne einer räumlich ausdifferenzierten Intim- und Privatsphäre und schützt die Intimkommunikation des Ehepaares gegenüber der unerwünschten Beobachtung durch Dritte. Die Wohnung sichert folglich als immobiler Ort mit ihren Binnenräumen das Auf-DauerStellen der kommunikativen Verdichtung und Enthemmtheit der Kommunikation des Ehepaares (vgl. Luhmann 1990d, 203ff. für das Sozialsystem Familie). Ihre somit der Kontrolle der gesellschaftlichen Umwelt weitgehend entzogene Form der Intimsphäre konnte offensichtlich nur dann zugelassen werden, wenn jene sich ihrer Rückbindung durch die Ehe versicherte. Dies erklärt u.a. auch, weshalb das nichteheliche Zusammenleben und alles »Uneheliche« als Voraussetzung für die Gründung einer modernen Kleinfamilie tabuisiert und als »wilde Ehe« oder »Konkubinat« stigmatisiert wurden (vgl. Tyrell 1988). Wenn also die moderne Kleinfamilie an die Ehe gebunden war und diese das Zusammenleben in Form einer Wohnung voraussetzte, implizierte die quantitative Umstellung von zwei auf drei und mehr Personen zugleich auch ein sozialräumliches Rearrangement der Wohnung. Vor allem aber eine Reorganisation des Ehepaares bezüglich der An- und Abwesenheit mit spezifischen Konsequenzen für die paar- und familienspezifische Intimkommunikation. Was zunächst das Rearrangement der Wohnung betrifft, kommt es mit dem Übergang zur modernen Kleinfamilie zu einer Duplikation der Differenz von Drinnen und Draußen im Binnenraum der Wohnung. Dies besagt, dass die durch die moderne Kleinfamilie gegebene Erweiterung des Personals eine Binnendifferenzierung der Privatsphäre des Drinnen in für alle Familienpersonen zugängliche Gemeinschaftsräume (z.B. Wohnzim-
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mer, Bad, Toilette, Küche, Esszimmer) auf der einen Seite erfordert. Und andererseits in primär für das Ehepaar (=Schlafzimmer) und die Kinder zugängliche Räume (=Kinderzimmer) notwendig macht. Für eine Minderheit der modernen Kleinfamilien waren darin zusätzlich Individualräume für den Ehemann und Vater (=Arbeitszimmer, Werkstatt, Keller), die Ehefrau und Mutter (=Nähzimmer) und Kinder (=Einzelzimmer) eingeschlossen. Die Binnendifferenzierung von familialen Gemeinschaftsräumen, ehepaar- und kinderspezifischen Räumen hat mehrere Konsequenzen für die Codierung der Intimität der modernen Kleinfamilie: Zum Ersten verweist sie auf eine räumliche Selbstorganisation der Wohnung, welche selbst unter Bedingungen der Anwesenheit aller Familienpersonen ein Re-entry von Anund Abwesenheit in dem Sinne ermöglicht, dass die Anwesenheit in bestimmten Räumen die temporäre Exklusion von anderen Familienpersonen impliziert. So teilt z.B. der Aufenthalt des Ehepaares im Schlafzimmer den Kindern mit, dass sie als Adressstelle für Kommunikation temporär nicht vorgesehen sind. Und umgekehrt gilt, dass die Kinder ab einem bestimmten Alter das Gleiche von den Eltern erwarten, wenn sie z.B. beim Spielen mit Freunden nicht gestört werden wollen. Die bereits beschriebene kommunikative Verdichtung und Inklusion der Vollpersonen in die moderne Kleinfamilie erfährt somit eine gewisse Inhibierung durch temporäre Rückzugsmöglichkeiten in bestimmte Binnenräume der Wohnung. Zum Zweiten gilt jedoch, dass diese für die Mehrheit der modernen Kleinfamilien keinen Rückzug in Individualräume ermöglichten. Bei Anwesenheit aller Familienpersonen ist mithin von einer vergleichsweise hohen kommunikativen Familienintegration durch die Beschränkung auf die Gemeinschaftsräume der Wohnung und Küche bzw. Esszimmer auszugehen. Dies eröffnete zum einen die Möglichkeit enthemmter familialer Kommunikation, welche unbeobachtet durch außenstehende Dritte idiosynkratische Formen der Selbstdarstellung und Selbstthematisierung der Familienpersonen zuließ (vgl. Fuchs 1999, 107). Limitierte diese jedoch in dem Maße, in dem sich personale Zuschreibungen der Familienpersonen verfestigten und die Beteiligten beobachteten, wie sie beobachtet wurden, und daraus Schlüsse auf das thematisch Mögliche und Unmögliche zogen. Dies galt insbesondere auch für die Beobachtung der Erziehungsabsichten der Eltern durch die Kinder und der durch sie gezogenen Grenzen. Wenden wir uns nun der Reorganisation der An- und Abwesenheit des Ehepaares in und von der Wohnung zu, wie sie durch die Transformation von der Ehe zur modernen Kleinfamilie notwendig wurde. Dabei gilt unser Hauptaugenmerk auch hier ihren Implikationen für die Codierung der Intimität der familialen Kommunikation. Als Erstes lässt sich festhalten, dass die Inklusion der Vollpersonen in die Kleinfamilie aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen raumzeitlichen An- und Abwesenheit in bzw. von der Wohnung divergierte. War die Ehefrau als Mutter und Hausfrau primär zu Hause, d.h. in der Wohnung, anwesend, unterbrochen durch haushaltsbezogene und kindzentrierte Umweltkontakte während des Tages, traf dies auf den Ehemann und Vater nicht zu. Dieser war tagsüber primär abwesend, indem er der Erwerbsarbeit in einer der Arbeitsorganisationen der Funktionssysteme nachging. An die Stelle des Hausmannes
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rückte somit die Leistungsrolle der Erwerbsarbeit, während diese von der Ehefrau durch die Rolle der Hausfrau ersetzt wurde. Die raumzeitliche Anwesenheit der Kinder in der Wohnung variierte in Abhängigkeit von ihrem Alter. Startete sie mit einer nahezu Totalinklusion im Kleinkindalter, ging sie in der Kindergarten- und Grundschulzeit in eine allmähliche Entkopplung vom Elternhaus über, um schließlich im Jugendalter in eine lose Kopplung einzumünden. Dass diese unterschiedlichen raumzeitlichen Inklusionsformen der Familienpersonen Konsequenzen für die Codierung der Intimität des Ehepaares und des Eltern-KindSystems hatten, liegt auf der Hand. Sie als Komplementarität speziell der Leistungsrolle der Mutter als Hausfrau und Publikumsrolle der Kinder systemtheoretisch zu formulieren (vgl. Stichweh 1988, 272ff.), scheint mir jedoch unzutreffend zu sein. So unterscheidet sich erstere durch ihren unentgeltlichen Vollzug von der Berufsrolle. Verfehlt die Semantik der Publikumsrolle die jahrelange Mitgliedschaft der Kinder in der modernen Kleinfamilie und ihre spezifische Inklusion durch Geburt. Und ignorieren beide rollenspezifischen Zuschreibungen die besondere Inklusionsdynamik der Vollpersonen der Mutter und Kinder im Kontext der Codierung der Intimität der familialen Kommunikation. Schließt man stattdessen an die die Semantik der Hausfrau rechtfertigende hohe Anwesenheit der Mutter in der Wohnung und komplementär dazu die hohe Anwesenheit der Kinder bis einschließlich des Grundschulalters an, dann können wir Folgendes beobachten: Zunächst lässt sich von einer Verhäuslichung der familialen Intimkommunikation, sofern sie sich auf das Subsystem Mutter-Kinder der modernen Kleinfamilie bezog, sprechen. Dies impliziert, dass die Funktion der Komplettbetreuung der Kinder primär in den Binnenräumen der Wohnung und im Wesentlichen durch die Mutter erfolgte. Sie umfasste nicht nur die auf den Haushalt und die Pflege der Wohnung bezogenen Leistungen, sondern vor allem auch die der kindzentrierten Sozialisation, Pflege und Erziehung. Ihre spezifische Form – im Unterschied zu den entsprechenden berufsförmig erbrachten Leistungen der familienexternen Organisationen Kindergarten, Schule, Krankenhaus, ambulante Pflege, Dienstleistungsunternehmen etc. – erhielten sie durch ihre Einbettung in die Binnenräume der Wohnung und Einschließung in die personenzentrierte familiale Kommunikation des Subsystems Mutter-Kind. Der Zumutungsgehalt dessen, was in ihm möglich und unmöglich war, bemaß sich folglich am Medium der Liebe und seiner Formen mittels der familialen Kommunikation von Mutter und Kind. Die Inklusion der Ehefrau als Mutter und Hausfrau in die moderne Kleinfamilie bedeutete mithin für diese, dass sie sich als Person primär anhand der Erfüllung der an jene familieninternen Rollen gekoppelten Verhaltenserwartungen beobachtete, die vor allem an die Wohnung gebunden waren. Ihre familienexternen Rollen beschränkten sich im Alltag im Wesentlichen auf haushaltsbezogene Umweltkontakte, z.B. die Einkäufe als Kundin, und die Wahrnehmung kindzentrierter Rollen, z.B. im Kindergarten, in der Schule oder Kirche. Ihre familieninterne Selbstthematisierung knüpfte folglich an diese Form der Rollenkombination mit ihrem entsprechenden Erleben und Handeln an. Ob und inwieweit sie dabei auf kommunikative Resonanz und Anerkennung bei ihrem Ehemann und ihren
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Kindern stieß, machte somit für sie den Erfolg oder Misserfolg der familienspezifischen Kommunikation aus. Weil sie zugleich aus dem Beschäftigungssystem exkludiert wurde, sprechen familiensoziologische Beobachter wiederholt von der »halbierten Moderne« (vgl. Beck-Gernsheim 1986; Beck 1986, 179). Dabei wird mindestens zweierlei übersehen: Zum einen wird ausgeblendet, dass die Ehefrau aufgrund ihrer haushaltsbezogenen Rolle als Kundin eine Kompetenz im Konsumsektor des Wirtschaftssystems entwickelte, welcher der Ehemann oft nicht besaß. Zugespitzt könnte man formulieren, dass für sie die Supermärkte und Warenhäuser das ökonomische funktionale Äquivalent für die Fabrik oder das Büro des Ehemannes waren. Und zum anderen wird außer Acht gelassen, dass der Vater nicht nur kein Hausmann, sondern auch nur eingeschränkt Vater war. Für den Vater galt nämlich – und das ist die zweite Konsequenz, die wir für die Codierung der Intimität der familialen Kommunikation beobachten können –, dass er im Alltag primär außer Haus war, indem er seiner Erwerbsarbeit nachging. Seine familiale Anwesenheit beschränkte sich werktags im Wesentlichen auf die Abende und auf einen Teil des Wochenendes. Da wir bereits erwähnten, dass die Einheit der modernen Kleinfamilie dann destabilisiert werden kann, wenn eine der Familienpersonen dauerhaft aus der Familie exkludiert wird, käme mithin der Vater und Ehemann dafür am ehesten in Frage. So drängt sich die Vermutung auf, dass sich aufgrund seiner hohen familialen Absenz das Subsystem Vater-Kind schwächer ausdifferenzierte als das Mutter-Kind-Subsystem. Seine Bedeutung für die moderne Kleinfamilie erhielt der Vater vornehmlich als diejenige Familienperson, die mittels ihrer Erwerbsarbeit für die Regeneration des Mediums Geldes und damit für die Zahlungsfähigkeit des Familienhaushaltes sorgte. Darüber hinaus aber auch als derjenige, dem die Autorität in wichtigen Fragen der Erziehung, aber auch bei sonstigen für die Familie bedeutsamen Entscheidungen – wie beruflich bedingter Wohnortwechsel, Anschaffung langlebiger Konsumgüter etc. – zukam. Sofern die moderne Kleinfamilie rückblickend von manchen familiensoziologischen Beobachtern als Befehlshaushalt interpretiert wird, war es somit primär der Vater, der für diese Form verantwortlich war (vgl. Du-Bois Reymond u.a. 1994). Sollte sein Ausschluss aus der familialen Kommunikation wegen seiner hohen häuslichen Absenz vermieden werden, musste folglich seine familieninterne Anschlussmöglichkeit als Person gewährleistet werden. Ob und wie dies gelang, hing zum einen von der Kontinuität der Liebe des Ehepaares und zum anderen von seinen Möglichkeiten ab, sich als Vollperson in die moderne Kleinfamilie zu inkludieren. Im Unterschied zu seiner Ehefrau beobachtete er sich dabei wohl eher als jemand, dessen rollenspezifischer Schwerpunkt sich außerhalb der Familie um sein Berufsleben gruppierte. Ob und wie er diese Themen in die familieninterne Kommunikation, speziell das Ehepaarsystem, einspeisen konnte und wollte, wie offen oder zurückhaltend er den Themen der Ehefrau und Kinder gegenüber war, spielte für die kommunikative Eigendynamik der modernen Kleinfamilie und ihre Stabilität eine wichtige Rolle. Dass er sich weitaus weniger in den den eigentlichen Haushalt und die Wohnung betreffenden Bereichen der Familie als seine Ehefrau engagierte, jedoch stärker in anderen – wie Reparaturarbeiten, Behör-
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dengänge und Gartenpflege –spiegelte im Übrigen die geschlechtsspezifische Rollenzuteilung wider, wie sie angesichts der Geschlechterpolarität der modernen Kleinfamilie typisch war (vgl. Peuckert 2012, 14). Für die sie beobachtenden Kinder wirkte sein Beitrag als Ehemann und Vater innerhalb dieser ebenso auf ihre Eigensozialisation ein wie der durch die Ehefrau und Mutter. Was schließlich die Anwesenheit der Kinder in der Wohnung und ihre Konsequenzen für die Codierung der familialen Kommunikation anbelangt, so erwähnten wir bereits, dass sie nahezu mit einer Totalinklusion im Kleinkindalter startete. Wenn wir uns im Folgenden auf deren Darstellung beschränken, können wir zum einen unser Verständnis für den hohen Grad der Verhäuslichung der Ehefrau als Mutter und Hausfrau vertiefen. Und zum anderen einige zusätzliche Spezifika für die Codierung der familialen Kommunikation, besonders des Mutter-Kind-Subsystems, herausarbeiten. Generell fällt auf, dass sich die Inklusion des Kleinkindes in die moderne Kleinfamilie von derjenigen der Eltern als Familienpersonen dadurch unterscheidet, dass ihm keine Selbststeuerung seines organisch-psychisches Systems attribuiert wird. Es wird somit als eine riskante Person beobachtet, die für ihr Erleben und Handeln nicht nur nicht verantwortlich zu machen ist, sondern sich und andere existentiell gefährden kann. Die Inklusion des Kleinkindes in die moderne Familie macht mithin eine Komplettbetreuung durch ein Elternteil erforderlich, welche – wie bereits erwähnt – speziell durch die häusliche Präsenz der Mutter erfüllt wird. Der für das kinderlose Ehepaar typische Wechsel von raumzeitlicher häuslicher An- und Abwesenheit trifft somit auf das Mutter-Kind-Subsystem nicht zu. Stattdessen wird dessen Präferenz für interaktive Anwesenheit in einem Maße gesteigert, welches an den Beginn der Verliebtheitsphase des Ehepaares als Liebespaar erinnert. Dabei nimmt das Medium der Liebe jedoch die Form der Mutter-Kind-Liebe an, welche eine Reziprozität des Erlebens und Handelns ausschließt. Da sie mit der Komplettbetreuung des Kindes beginnt, stellt sie eine gänzlich andere Startvoraussetzung der Intimkommunikation dar als der im Code der romantischen Liebe gefeierte Zufall zweier vorher wechselseitig unbekannter erwachsener Personen. Die auch nur temporäre Abwesenheit der Mutter wird somit zu einem von Angst begleiteten Risiko für das Kleinkind, wenn vorher nicht für die Präsenz des Vaters oder anderer erwachsener Personen gesorgt wurde. Dass die Erweiterung des Personals durch die Geburt des Kindes als Zunahme von Risiken der familieninternen Kommunikation durch die Eltern beobachtet wird, lässt sich auch daran ablesen, dass diese vielfältigen Präventionsmaßnahmen durchführen. Bereits vor der Geburt des Kindes, spätestens mit ihr und im Verlauf der weiteren Kleinkindphase wird die Wohnung einer radikalen Reorganisation unterzogen. Gefahren, welche sie für das Erleben und Handeln des Kleinkindes auslösen könnte, werden durch die Eltern antizipiert und reduziert sowie Unsicherheiten der Wohnung in Sicherheiten transformiert. Man denke nur an Kindersicherungen; speziell gesicherte Betten und Stühle; Sicherungen von Elektrogeräten; Sicherheitsdepots bezüglich giftiger Substanzen enthaltende Sprühdosen, Spülmitteln usw. Die Eltern – speziell die Mutter – werden mithin gezwungen, zu sehen, was ihr Kind nicht sehen kann. Ihre Liebe zum Kind nimmt die Form einer Fürsorge an, welche konträr zu der die Eigenverantwortlichkeit voraussetzenden Liebe der Ehepersonen steht.
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Hinzu kommt, dass das Kommunikationsmedium Sprache für das Kleinkind mit Ausnahme bestimmter Laute ausfällt. Für die Mutter als primärer Adressstelle der familieninternen Kommunikation bedeutet dies, dass sie ihr Kind vor allem anhand seines Körpers als Wahrnehmungs- und Kommunikationsmedium beobachten muss. Die Möglichkeit des Verstehens der Bedürfnisse des Kindes erschließt sich ihr durch die Beobachtung der kommunikativen Differenz von Information und Mitteilung mittels seines Körpers in Form von Gerüchen, Lächeln, Schreien, Bewegungen der Hände, Füße und Augen. Missverständnisse des Kindes seitens der Mutter sind mithin vorprogrammiert. Die Blackbox ihres Kindes erhellt sich ihr qua Wahrnehmungsmedium des Körpers nur allmählich und selektiv als Resultat der Interaktionsgeschichte. Fragen wie »Na, was hat denn mein Schätzchen?« oder »Kann mein Schätzchen nicht einschlafen?« bleiben aufgrund der noch nicht vorhandenen Sprachkompetenz des Kindes unbeantwortet. Die Unwahrscheinlichkeit des Verstehens des Kindes wird somit zu einem Thema, welches vor allem das organisch-psychische System der Mutter nicht selten überstrapaziert und sie mit offenen Fragen – wie »Warum weinst Du denn jetzt schon wieder?«, oder »Was hast Du denn jetzt schon wieder?« – zurücklässt. Deutlich werden mithin der hohe Zumutungsgehalt und das Risiko der körperbetonten Kommunikation des Mutter-Kind-Subsystems. Tolerabel scheinen sie nur durch das Medium der verstehenden Liebe zu sein und die Beobachtung der kommunikativen Erfolge, welche sich – trotz der Missverständnisse und Enttäuschungen – aufgrund der vielfältigen Entwicklungsschritte des Kindes einstellen. Dass die Inklusion des Kleinkindes in die moderne Kleinfamilie ihre Kommunikation unwahrscheinlicher und riskanter macht, lässt sich schließlich daran beobachten, dass sie zum einen die Formen enthemmter Kommunikation radikalisiert und zum anderen ein Schweigemanagement auf Seiten des Kindes ausschließt. Was zunächst die enthemmte Kommunikation betrifft, so besteht ihre besondere Form darin, dass das Kleinkind zunächst gar nicht anders kann, als enthemmt zu kommunizieren. Es radikalisiert somit eine Form der Selbstdarstellung der Person, die generell für die familiale Intimkommunikation, speziell in der Intimsphäre der Wohnung, gilt. Diese besteht nämlich darin, dass die Familienpersonen die eingeschränkten Selektionsfreiheiten im Rahmen ihrer familienexternen Rollen durch Formen enthemmter familialer Kommunikation selektiv desinhibieren können (vgl. Luhmann 1990d, 203). Für das Kleinkind trifft dies jedoch insofern nicht zu, als es sowohl die Differenz von gehemmter/enthemmter Kommunikation als auch die seiner Innenseite (=organisch-psychisches System) und Außenseite (=Person) als Individuum noch nicht qua Selbstbeobachtung und beobachteter Fremdbeobachtung reflektieren und steuern kann. Wenn es sich das Gesicht mit Essen beschmiert, seine Kleidung bekleckert, in die Hosen macht, vor sich hin plabbert etc., präsentiert es sich als eine Person, deren Selbstdarstellung im Falle des Ehemannes oder der Ehefrau als entgleist beobachtet und bewertet würde. Diese würden die Liebe ihres Partners damit auf eine harte Probe stellen, speziell bei kontinuierlicher Wiederholung, z.B. im Falle eines Alkoholikers. Demgegenüber werden die gleiche Selbstdarstellung der Person und die dadurch ausgelösten Formen enthemmter Kommunikation im Falle des Kleinkindes als normal erwartbar von den Eltern interpretiert. Zugleich werden sie aber auch zum Anlass von
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Hemmungen bzw. Inhibitionen durch Erziehung genommen. Die Eltern, speziell die Mutter, beobachten ihr Kind folglich daraufhin, wie sich dieses als Medium der Erziehung (vgl. Luhmann 1995g) sukzessive von einer Person, deren Selbstdarstellung entgleist, in eine transformiert, bei der dies zunehmend weniger der Fall ist. Die kindzentrierte Kommunikation des Familiensystems, speziell des Mutter-KindSubsystems, wird mithin immer auch von Mitteilungen und körpergebundenen Interventionen begleitet, die dem Kind in Form von Ermahnungen, Hinweisen und gutem Zureden einerseits und Korrekturen des körperlichen Verhaltens und Zustands andererseits klarzumachen versuchen, wie es als Person kommunizieren kann und wie nicht. Um seine Disziplinierung, Hemmung ungehemmter Ausdrucks- und Bewegungsformen kreist im Wesentlichen die Intervention der Eltern. Man könnte die elterliche Erziehung somit auch als eine Art »Hemmungsprogramm« bezeichnen. Der zentrale Unterschied der elterlichen Liebe im Unterschied zur Paarliebe ist dementsprechend darin zu sehen, dass die Eltern ihr Kind nicht einfach mit all seinen Idiosynkrasien lieben können, sondern es durch Erziehung verändern müssen, sofern sie an seiner Entwicklung als Person interessiert sind. Was sich also für das Paar verbietet, die Idiosynkrasien des Partners zum Gegenstand der Umerziehung zu machen, ist für das Eltern-Kind-System, sprich die familiale Kommunikation, gleichsam obligatorisch. Welche Formen sich einspielen, sprich wie die Differenz von Inhibition und Desinhibition in der modernen Kleinfamilie gehandhabt wird und mit welchen sozialisatorischen Effekten sie für das Kind verknüpft sind, hängt nicht zuletzt von deren Systemgeschichte ab. Dabei spielen sowohl die bereits erwähnte geschlechtsspezifische Differenz der häuslichen An- und Abwesenheit der Eltern als auch die systeminterne Abstimmung der Eltern im Hinblick auf den tolerierten/nichttolerierten Grad der Enthemmung der familialen Kommunikation eine wesentliche Rolle. Was nun das Schweigemanagement hinsichtlich der familialen Kommunikation betrifft, so verweist es zunächst darauf, dass sich trotz der forcierten Erwartung an die Familienpersonen, auf potenziell alle Fragen hinsichtlich ihres Verhaltens Antwort geben zu müssen (vgl. Luhmann 1990d, 208; Fuchs 1999, 97), bestimmte Formen der Inhibition ergeben. So verschont die Ehefrau den abgespannt von der Berufsarbeit zurückkehrenden Ehemann mit darauf bezogenen Fragen, weil sie ihn erst zur Ruhe kommen lassen möchte. Oder behelligt dieser seine Ehefrau nicht mit Nachfragen zur Haushaltsführung oder Erziehung der Kinder, wenn er beobachtet, dass sie andere Themen präferiert oder gerade mit Eigeninteressen befasst ist, und es genießt, dass die Kinder schlafen. Man kann aber auch Eigenschaften oder Verhaltensformen des Ehepartners beobachten, die zu thematisieren sich in der Vergangenheit als allzu konfliktträchtig herausgestellt hat, weshalb das Schweigen gegenüber dem Reden präferiert wurde. Wie dem auch sei, in jeder der modernen Kleinfamilien wird sich ein kommunikatives Arrangement von Reden und Schweigen bzw. eine Differenz von Kommunikablem und Inkommunikablem respektive Bewusstseinsüberschüssen der Familienpersonen eingespielt haben. Dabei scheint die Konfliktträchtigkeit der familieninternen Differenz von Reden und Schweigen dann zuzunehmen, wenn es um Fragen geht, welche Themen betreffen, anhand deren die Familienpersonen beobachten können, ob sie von ihrem Ehepartner, Vater oder ihrer Mutter noch geliebt werden oder nicht. Wenn z.B. – um an die obigen Bei-
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spiele anzuschließen – die Ehefrau auf Fragen nach der Berufsarbeit ihres Ehemannes keine Antworten mehr erhält, oder er die Fragen nach ihrer Hausarbeit oder ihrem Familienalltag mit den Kindern erst gar nicht mehr stellt. Wir werden darauf an späterer Stelle nochmal zurückkommen. Wenn wir uns nun der Differenz von Reden und Schweigen bzw. dem Schweigemanagement bezüglich des Kleinkindes zuwenden, ist klar, dass es die Differenz von Reden und Schweigen erst lernen muss. Die Anwesenheit eines Kleinkindes in der modernen Kleinfamilie transformiert die paarbezogene Kommunikation dementsprechend insofern, als es diese immer wieder durch Schreien, Plabbern, diffuse Laute etc. unterbricht. Es stört die oral gebundene Kommunikation der Eltern dadurch, dass es sich an den für die Kommunikation unter Anwesenden typischen Rollenwechsel von Zuhören (=Schweigen) und Reden nicht hält, ja nicht halten kann. Da es noch nicht reden kann, kann es auch nicht in dem Sinne schweigen, dass sein Schweigen den bewussten Verzicht auf Reden impliziert. Die Differenz von Reden und Schweigen ist für es in striktem Sinne gar nicht möglich. Stattdessen handelt es sich bei seiner Teilnahme an der familialen Kommunikation um eine Differenz von diffuser Artikulation im Medium von Lauten und körpergebundener Präsentation, welche an die Stelle der Differenz von Reden und Schweigen tritt. In zugespitzter Form stellt somit das Plabbern und Baby-Geschrei das funktionale Äquivalent für das Reden als anderer Seite des Schweigens dar. Für die Reproduktion der familialen Kommunikation bedeutet die Anwesenheit des Kleinkindes somit für die Eltern eine Reduktion der Aufmerksamkeit für paarzentrierte Themen und eine Konzentration auf die erratischen Unterbrechungen durch das gemeinsame Kind. Dessen Unvermögen, zu schweigen, wenn es die familiale Kommunikation erfordert, erzeugt somit die Paradoxie, dass es das Ehepaar zum Schweigen bringt und ihre Aufmerksamkeit als Eltern auf sich als schreiendes oder plabberndes Kind lenkt. Es erstaunt somit nicht, dass die paarbezogenen Themen erst dann zum Zug kommen, wenn sich das Kind als Autor und Adressat von der familialen Kommunikation durch Schlaf verabschiedet. Dass auch hier wiederum die Geduld und Liebe der Eltern, speziell der Mutter, bisweilen auf eine harte Probe gestellt werden, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass nicht selten das eigene Schreien der letzte hilflose Versuch ist, das Kind zum Schweigen zu bringen. Werden die Eltern doch mit einer Form der Kommunikation konfrontiert, die sie – würde sie von erwachsenen Personen praktiziert – als in höchstem Maße störend beobachten und bewerten würden. Abschließend wollen wir noch darauf hinweisen, dass selbst dann, wenn die Kleinkinder sprechen können, sie das Schweigemanagement noch nicht beherrschen. Sie werden dann sowohl für die familieninterne als auch für die familienexterne Kommunikation in dem Sinne zu einem Risiko, dass sie das, was sie wahrnehmen oder durch Teilnahme an Kommunikation beobachten, in jene einspeisen, ohne die Wirkung ihrer Beiträge zu antizipieren. So sorgen sie familienintern nicht selten für mehr oder weniger große Peinlichkeiten, indem sie Fragen stellen oder Informationen von Familienpersonen preisgeben, die familienintern tabuisiert sind. Oder unterlaufen sie das System/ Umwelt-Verhältnis der Familie, indem sie die konsistente Außendarstellung der Familie durch inkonsistente Mitteilungen und Informationen bloßstellen. Man denke im ersten Fall z.B. an Wahrnehmungen, welche die Selbstdarstellung der Mutter oder des Vaters bzw. Erzählungen des Elternpaares betreffen, die nicht für die Ohren des Kindes
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bestimmt waren. Und im zweiten Fall an Beobachtungen und Bewertungen, die familienintern in Abwesenheit von Dritten über diese gemacht wurden. Zusammenfassend können wir also festhalten, dass sich die Codierung der familialen Kommunikation durch das Medium der Liebe von der Codierung der Intimität der Paarkommunikation und damit die Transformation vom Ehepaar zur modernen Kleinfamilie hinsichtlich folgender Gesichtspunkte unterscheidet: 1. Bei der modernen Kleinfamilie handelt es sich um ein zeitlimitiertes und sich selbstauflösendes Interaktionssystem, das durch die Geburt mindestens eines Kindes von einem Ehepaar in Gang gesetzt wird. An die Stelle der Formvorschrift der romantischen Liebe, welche die beiderseitige Selektionsfreiheit von heterosexuellen erwachsenen Personen vorsieht, tritt die Kontingenz der durch Geburt und damit Filiation in die moderne Kleinfamilie inkludierten Kinder. 2. Für das Medium der elterliche Liebe bedeutet dies, dass es die Form der Komplettbetreuung – besonders der Kleinkinder – anstelle der Komplettberücksichtigung der Ehepersonen annimmt. 3. Mit der quantitativen Erweiterung des Personals von zwei Personen des Ehepaares auf mindestens drei Personen der modernen Kleinfamilie erzeugt diese eine Ergänzung des Ehepaares in Form des Elternpaares. Soll jenes gleichwohl als Subsystem der Familie kontinuieren können, muss es die Kinder sowohl von bestimmten familienrelevanten Entscheidungen und Informationen durch ein Schweigemanagement als auch qua Inzesttabu von seiner Sexualität kommunikativ ausschließen. Die moderne Kleinfamilie reproduziert sich somit nicht nur als Elternpaar mit Kind, sondern zusätzlich mittels Binnendifferenzierung des Ehepaares einerseits und der Subsysteme Mutter-Kind (er), Vater-Kind (er) andererseits. 4. Sieht die Formvorschrift der romantischen Liebe die Treue des Ehepaares bis zum Tod einer seiner beiden Personen vor, impliziert die Eltern-Kind-Liebe der modernen Kleinfamilie die »Untreue« der Kinder durch Selbstexklusion. Dies vor allem deshalb, weil das Inzesttabu die Kinder auf eine familienexterne Partnerwahl verweist. 5. Die moderne Kleinfamilie sichert ihre Grenze zur gesellschaftlichen Umwelt als selbstorganisiertes Interaktionssystem zusätzlich durch die sozialräumliche Ausdifferenzierung einer Intim- und Privatsphäre in Form der Wohnung. Die häusliche An- und Abwesenheit ist mit einer im Unterschied zum Ende der Familienphase folgenreichen geschlechtsspezifischen Rollentrennung verknüpft. Ist die Ehefrau als Mutter und Hausfrau besonders in der Kleinkindphase durch Verhäuslichung weitgehend in die Wohnung inkludiert, dominiert beim Ehemann die Außerhäuslichkeit durch Inklusion in die Organisationen der Beschäftigungssysteme in Form der Erwerbsarbeit. 6. Für die familiale Funktion der Inklusion der Vollperson und die familieninterne Kommunikation der Einheit des Gesamtverhaltens hat dies unterschiedliche Konsequenzen. Für die Mutter und Hausfrau bedeutet es, dass für ihr Gesamtverhalten als Person die Komplettbetreuung der Kinder von primärer thematischer Relevanz ist. Sie manifestiert sich als Kombination von hoher häuslicher Präsenz und haushaltsbezogenen bzw. kindzentrierten Umweltkontakten. Für den Vater hingegen ist die Komplettbetreuung der Kinder aufgrund seiner hohen familialen Absenz
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durch Erwerbsarbeit von sekundärer Relevanz. Die an sie gekoppelte Regeneration der Zahlungsfähigkeit des Haushalts räumt ihm dennoch eine große Autorität in wichtigen, die Familie betreffenden Entscheidungen als Haushaltsvorstand ein. Zugleich jedoch auch die selektive Teilnahme an der Komplettbetreuung der Kinder im Falle seiner raumzeitlichen Anwesenheit. 7. Wenn die Eltern-Kind-Liebe, besonders die Mutter-Kind-Liebe, die Form der Komplettbetreuung der Kinder annimmt, ist sie an eine besondere Form der Inklusion des Kleinkindes in die moderne Kleinfamilie gebunden. Diese schlägt auch auf die familiale Kommunikation durch. Ihre Spezifika ergeben sich vor allem daraus, dass das Kleinkind als nicht vollverantwortliche Person und als Risiko der familieninternen Kommunikation betrachtet wird. Im Einzelnen hat dies zur Folge, dass die Eltern-Kind-Liebe nicht auf der Reziprozität des Erlebens von Eltern und Kindern basiert. Die potenzielle Selbst- und Fremdgefährdung des Kindes nahezu eine Omnipräsenz der Mutter und Reorganisation der Wohnung in Form kindzentrierter Präventionsmaßnahmen erforderlich macht. Und die familiale Kommunikation bestimmte riskante Formen der Verständigung annimmt, zu deren Hauptmerkmalen die Dominanz der Körperkommunikation, eine Radikalisierung der ihr eigenen Enthemmtheit und die Gefährdung des Schweigemanagements gehören. 8. Die spezifische Inklusionsform des Kleinkindes in die Familie und die mit ihr emergierenden Formen familialer Kommunikation erfordern, dass in das Medium der Eltern-Kind-Liebe im Unterschied zur Liebe des Ehepaares immer auch die Personenveränderung des Kindes qua Erziehung und Sozialisation eingebaut wird. Sofern das Kind zu deren Medium und Adressat vor allem im Subsystem Mutter-Kind wird, hängt die Stabilität der modernen Kleinfamilie nicht nur von den Zumutungen ab, die damit für die Mutter-Kind-Liebe verbunden sind. Sondern zugleich auch von der Integration des Vaters in die Komplettbetreuung der Kinder und den Möglichkeiten, das dominante Subsystem Ehepaar in einer Form zu kontinuieren, welche trotz der Aufmerksamkeit für das Kind die kommunikative Berücksichtigung der Vollpersonen von Ehemann und Ehefrau vorsieht.
3.2.2.4 Entscheidungsprogramm der modernen Kleinfamilie Wie wir sahen, lässt sich die moderne Kleinfamilie systemtheoretisch als interaktives Funktionssystem beschreiben. Ihre Ausdifferenzierung erfolgt durch die Codierung der Intimkommunikation im Medium der Eltern-Kind-Liebe. Deren Leitdifferenz ist die von geliebte/ungeliebte Familienpersonen. Damit ergibt sich die Frage, ob auch in Bezug auf sie – wie bei den Codes der anderen Funktionssysteme – eine Differenz von Codewerten und Entscheidungsprogrammen beobachtet werden kann. Warum diese notwendig sind, wird ersichtlich, wenn man sich die folgenden Strukturmerkmale des Familiencodes geliebt/ungeliebt vergegenwärtigt: •
Sie sind formale und invariante Werte. Die Differenz geliebt/ungeliebt sagt mithin noch nichts darüber aus, welche Sachverhalte bzw. kommunikative Ereignisse der Familie damit bezeichnet werden.
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Seine binäre Struktur schließt alle anderen Codewerte außer geliebt/ungeliebt aus. Es wäre also codewidrig z.B. auf der Seite geliebt den Codewert zahlungsfähig der Wirtschaft hinzuzufügen und ihn dem Codewert ungeliebt gegenüberzustellen. Beim Code geliebt/ungeliebt handelt es sich um einen Präferenzcode. Damit ist gemeint, dass die eine Seite seiner Form als Positivwert, nämlich »geliebt«, dem Negativwert »ungeliebt« deshalb vorgezogen wird, weil er familienintern anschlussfähiger ist. Der Negativwert eignet sich hingegen zur Reflexion und indiziert zugleich die Kontingenz des Positivwertes geliebt, indem er auf die Möglichkeit des Ungeliebtseins verweist. Der Code geliebt/ungeliebt ist zugleich paradox, wenn er sachlich als Einheit beider Werte beobachtet wird. Als solcher verweist er nämlich auf Dasselbige des Verschiedenen und blockiert damit die familiale Kommunikation, da man nicht zugleich lieben und nicht lieben kann. Selbst, wenn man eine temporäre Unentschiedenheit konzediert, muss irgendwann eine diesbezügliche Entscheidung getroffen werden. Die Paradoxie des Codes muss also entweder invisibilisiert oder durch eine Unterscheidung entfaltet werden, was durch die Zeit in Form eines Crossing der Codewerte geschehen kann. Aus anfänglicher Liebe kann dann durch Wechsel zur anderen Seite der Form des Codes temporär Nichtliebe werden – in Höhen und in Tiefen – aber auch Hass mit der Konsequenz der Scheidung. Indem der Code geliebt/ungeliebt formal und inhaltsleer ist, lässt er somit offen, woran Familienpersonen erkennen können, ob sie nach wie vor geliebt werden oder nicht mehr. Die Codewerte selbst liefern jedoch die Kriterien nicht mit, die Aufschluss darüber geben könnten, ob das eine oder andere zutrifft. Sie sind diesbezüglich offen bzw. unentschieden. Es bedarf mithin Entscheidungsprogramme, welche die Unentschiedenheit der Codewerte in Entscheidungen zu transformieren erlauben.
Die Frage stellt sich somit, welches die Entscheidungsprogramme sind, die es den an der modernen Kleinfamilie beteiligten Personen ermöglichten, festzustellen, dass sie geliebt bzw. nicht mehr geliebt werden. Eine sachadäquate Antwort muss berücksichtigen, dass es im Falle der modernen Kleinfamilien als Funktionssystem nicht die Entscheidungsprogramme von Organisationen sein können, welche die Zuordnung zu den Codewerten entscheidbar machen. Sie reproduzieren sich nämlich, wie wir sahen, als selbstorganisierte Interaktionssysteme. Deren Besonderheit besteht im Unterschied zu Organisationen darin, dass sie durch Selbstrekrutierung in Form der Geburt mindestens eines Kindes qua Ehepaar entstehen und nicht durch Stellenausschreibungen. Die moderne Kleinfamilie schließt aufgrund der geringen Zahl der in sie inkludierten Personen sowohl die für Organisationen typische Differenz von hierarchisch gestaffelten Entscheidungsebenen als auch die damit verbundene Trennung von divergierenden Entscheidungskompetenzen unterschiedlicher Personen aus. Ihre interaktive Einheit als Elternpaar und Kinder ermöglicht allenfalls eine Binnendifferenzierung, welche die temporäre Trennung des Subsystems Ehepaar und der Subsysteme Mutter/Kind(er), Vater Kind(er) vorsieht. Für die familialen Entscheidungsprogramme bedeutet dies, dass sie einerseits aufgrund der Formvorschrift des Familiencodes der Inklusion der Vollpersonen eine Indifferenzzone – wie sie Organisationen einbauen – weitestgehend aus-
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schließen. Ihre Verhaltenserwartungen tangieren potenziell alle Familienpersonen. Und andererseits sind sie in ihrem Vollzug den Kontingenzen und dem Entscheidungszwang der Kommunikation unter Anwesenden des familialen Interaktionssystems ausgesetzt. Ihre spezifische Form – so unsere Antwort – erhalten die familialen Entscheidungsprogramme dadurch, dass sie, was immer ihr Inhalt sein mag, sich daran orientieren müssen, ob und wie ihre Verhaltenserwartungen das Erleben der anderen Familienpersonen berücksichtigen. M.a.W.: Ob sich diese durch die Entscheidungen nach wie vor als geliebt beobachten können oder nicht. Wenn wir sagten, »was immer ihr Inhalt sein mag«, so impliziert dies, dass die familialen Entscheidungsprogramme das Gesamtverhalten der Familienpersonen, also sowohl ihre familieninternen als auch ihre familienexternen Rollen, betreffen. So können sie sich auf die geschlechtsspezifische Rollentrennung des Ehepaares als Elternpaar, die Anzahl der zu zeugenden Kinder, ihre Namensgebung, die Wahl des Wohnortes, die Einrichtung der Wohnung, die Erziehung, aber auch Karriereprobleme des Ehemannes, Konsumgüter des Haushaltes, außerhäusliche Aktivitäten der Kinder etc. beziehen. Dabei ist davon auszugehen, dass eine temporäre Nichtberücksichtigung der Ansprüche und Erwartungen einer der Familienpersonen durchaus normal ist und familieninterne Konflikte miteinschließt. Man denke nur an die vielfältigen Zumutungen der Erziehung für die Kinder, zurückzustellende individuelle Konsumansprüche der Familienpersonen angesichts knapper monetärer Ressourcen, divergierende Geschmackspräferenzen hinsichtlich der zu servierenden Mahlzeiten, die zeitlichen Abstimmungen der Familienpersonen angesichts der unterschiedlichen An- und Abwesenheit des Ehepaares, den Wohnortwechsel aufgrund von Karriereentscheidungen des Ehemannes und Vaters etc. Dass die Entscheidungsprogramme mithin zu vorübergehenden Zweifeln an der Liebe der Eltern oder des Ehepartners führen, muss nicht erstaunen, wenn man das hohe Enttäuschungspotential in Betracht zieht, das mit ihnen verbunden sein kann. Man denke nur an mögliche Vorwürfe wie »Warum servierst Du schon wieder Fisch, Du weißt doch, dass ich ihn nicht mag?«, »Schon wieder kommst Du so spät nach Hause, das Essen ist bereits kalt!«, »Kannst Du einmal beim Essen nicht schlingen!«, »Warum muss ich jetzt schon ins Bett, die anderen Kinder dürfen immer länger aufbleiben!«, »Warum müssen wir sonntags morgens immer in die Kirche gehen?« Deutlich wird anhand dieser nahezu beliebig erweiterbaren Aufzählung familialer Konfliktthemen die Konfliktnähe der familialen Entscheidungsprogramme. Diese basiert vor allem auf einer persönlichen Attribuierung der mit ihnen verbundenen Verhaltenserwartungen, welche die organisationsspezifische Strategie der Trennung von Rolle und Person weitestgehend ausschließt. Die Entschuldigung oder Rechtfertigung einer auf Widerspruch stoßenden Entscheidung mit den Worten »das hat mit Dir als Person nichts zu tun«, oder »das war nicht persönlich gemeint«, läuft von daher ins Leere. Ist es doch gerade die eigene Person, deren Erleben und Handeln durch die familialen Entscheidungen berücksichtigt werden soll. Wie diese getroffen werden, hängt freilich auch davon ab, wem sie familienintern primär zustehen. Zum einen können wir im Anschluss an das bereits Ausgeführte annehmen, dass das Elternpaar als dominantes Subsystem besonders in der Kleinkindphase die Verantwortung für zentrale Entscheidungen der modernen Kleinfamilie übernimmt. Zum anderen ist davon auszugehen, dass sich aufgrund der bereits dargestell-
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ten geschlechtsspezifischen Rollentrennung unterschiedliche Entscheidungszuständigkeiten im Laufe der Systemgeschichte der modernen Kleinfamilie herauskristallisieren. So ist die Ehefrau als Mutter und Hausfrau vorwiegend für Entscheidungen der Komplettbetreuung der Kinder und Haushaltsthemen zuständig. Während demgegenüber der Ehemann und Vater vor allem bei wichtigen Entscheidungen hinsichtlich langlebiger Konsumgüter, Erziehungsproblemen und die Familie betreffenden Berufsentscheidungen das Sagen hat. Generell ist es wohl der Ehemann und Vater, dem bei wichtigen, die ganze Familie betreffenden Entscheidungen eine dominante Rolle zukommt, während den Kindern nur eingeschränkte Mitspracherechte eingeräumt werden. Zusammenfassend können wir also festhalten, dass die Entscheidungsprogramme der modernen Kleinfamilie ihre spezifische Form dadurch erhalten, dass sie, was immer ihre Themen sind, das Erleben und Handeln der Familienpersonen berücksichtigen müssen. Wenn dies nicht dazu führt, dass sich eine der Familienpersonen durch sie dauerhaft als ungeliebt beobachtet, kann durch sie ein Crossing auf die andere Seite des Codes und eine Destabilisierung des Familiensystems vermieden werden. Dass damit temporäre Konflikte nicht ausgeschlossen sind, haben wir klarzumachen versucht. Ob und wie sie familienintern thematisiert werden, hängt nicht zuletzt davon ab, wie sich die geschlechtsspezifische Rollendifferenzierung des Ehe- und Elternpaares, dem die primäre Entscheidungskompetenz zukommt, bewährt und einspielt. Dabei ist davon auszugehen, dass sich im Laufe der Systemgeschichte bestimmte Entscheidungsroutinen ebenso ergeben wie ein Latenzschutz in Bezug auf die Thematisierung bestimmter Konflikte und diesbezügliche Bewusstseinsüberschüsse aller Familienpersonen. Zugleich können wir vermuten, dass das Risiko des Crossing mit der Trennung aufgrund der gesellschaftlichen Stigmatisierung und rechtlichen Hürden der Scheidung weitgehend vom Ehepaar vermieden wird. Dass deshalb auch moderne Kleinfamilien als mehr oder weniger offene Konfliktsysteme bei erkalteter Liebe des Ehepaares kontinuieren können, verweist auf die Tyrannei der Intimität (Sennett 1987, 425) als Schattenseite des Golden Age of Marriage und familialen Codes der Liebe.
3.2.2.5 Leistungen der modernen Kleinfamilie Wenn wir uns den Leistungen der modernen Kleinfamilien zuwenden, setzen wir eine Differenz ihrer bereits dargestellten gesamtgesellschaftlichen Funktion und ihrer Leistungen voraus. Mit diesen stellen wir auf ihr System-Umwelt-Verhältnis ab. Wir thematisieren ihre Interdependenz mit anderen Funktionssystemen anhand der reziproken Leistungserbringung und Leistungsabnahme. Mit der Differenz von einer Funktion und pluralen Leistungsbezügen lösen wir sowohl die Kontroversen der Familiensoziologen über die gesellschaftliche Multifunktionalität oder den gesellschaftlichen Funktionsverlust der modernen Kleinfamilien als auch über ihre gesellschaftliche Isolation bzw. Desintegration oder Integration in einer bestimmten Form auf (vgl. Burkart 2008, 143ff.). Die erste, indem wir zum einen die Multifunktionalität der modernen Kleinfamilien durch ihre Monofunktionalität, sprich die Inklusion der Vollperson, ersetzen. Und zum anderen ihren Funktionsverlust als konstitutiv für alle modernen Funktionssysteme betrachten, da er zugleich mit der Intensivierung und Steigerung einer jeweils spezifischen gesamtgesellschaftlichen Funktion verknüpft ist.
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Die zweite, indem wir einerseits die gesellschaftliche Desintegration der modernen Kleinfamilien mit ihrer Ausdifferenzierung und Schließung als autopoetische Sozialsysteme gleichsetzen. Deren codegebundene kommunikative Geschlossenheit aber nicht als Isolation oder Autarkie betrachten, sondern als notwendige Voraussetzung für ihre kommunikative Offenheit. Diese manifestiert sich als gesellschaftliche Integration der modernen Kleinfamilien im Sinne einer wechselseitigen Beschränkung der Selektionsfreiheiten durch Leistungszufuhr und Leistungsabnahme. Bevor wir uns diese im Hinblick auf ausgewählten Systeme/Umwelt-Beziehungen der modernen Kleinfamilien etwas genauer anschauen, wollen wir vorab darauf aufmerksam machen, dass ältere kybernetisch orientierte Systemtheorien von einer Differenz verschiedener Input- und Outputgrenzen ausgingen. Diese Begrifflichkeit übersieht, dass die modernen Kleinfamilien als autopoietische Sozialsysteme – wie alle anderen Funktionssysteme auch – den Input bzw. Output nicht einfach abnehmen oder zuführen können. Sondern als strukturdeterminierte und geschichtliche Sozialsysteme daran immer nur mittels ihrer eigenen kommunikativen Operationen anschließen können. Auf dem Hintergrund dieser systemtheoretischen Vorabklärungen wollen wir Im Folgenden einige der für die modernen Kleinfamilien relevantesten System/ Umwelt-Verhältnisse kurz beleuchten: Was das System/Umwelt-Verhältnis zum Erziehungssystem betrifft, bestehen die Leistungen der modernen Kleinfamilien primär darin, jenem Kinder zuzuführen, welche qua familialer Sozialisation und Erziehung anschlussfähige Lernkompetenzen aufweisen. Die Selektionsfreiheit des Erziehungssystems ist dadurch beschränkt, dass es zum einen die diesbezüglichen familialen Leistungen bis zum Grundschulalter nicht bindend beeinflussen kann. Und zum anderen hinsichtlich der jeweiligen Jahrgangsstärke der Schulkinder von der Geburtenzahl der Familien abhängig ist. Umgekehrt werden die Sozialisation und Erziehung der modernen Kleinfamilien in ihrer Selektionsfreiheit durch das Erziehungssystem ab Beginn der Schulpflicht begrenzt. Mit ihr müssen sie ihre Kinder erstmals qua obligatorischer Inklusion auf Dauer an ein Umweltsystem abgeben. Zugleich entlastet dieses die modernen Kleinfamilien, speziell die Mütter, von einer didaktisch und methodisch aufbereiteten Wissensvermittlung und darauf bezogenen verbindlichen Leistungsbewertungen der Kinder und ihrer umfassenden raumzeitlichen häuslichen Präsenz. Die Leistungen der temporären Unterbringung der Kinder sowie deren organisierte Erziehung und Selektion anhand von Zensuren erbringen folglich die Grundschulen des Erziehungssystems für die modernen Kleinfamilien. Das Medium der Erziehung nimmt somit die Form des Schulkindes und die Selektion seiner Leistungen die der Schulkarriere an. Diese endete für die Mehrzahl der Kinder bis in die 1960er Jahre bereits im Alter von 14 Jahren mit einem Volksschulabschluss, die »zu Beginn der Nachkriegszeit …für fast 80 % aller Schüler in der Sekundarstufe 1die normale Schule war.« (vgl. Joos 2001, 155). Die modernen Kleinfamilien müssen mithin ihre Eigenzeit und einen Teil ihrer Leistungen spätestens seit dem Grundschulalter ihrer Kinder auf deren kontinuierliche halbtägliche raumzeitliche Absenz durch Schulpflicht einstellen. Das erfordert nicht nur den täglichen Einschluss der Schule in die familiale Planung des regelmäßigen und rechtzeitigen Schulbesuchs der Kinder seitens der Eltern – speziell der Mütter. Sondern zugleich
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auch ein Abzwacken der Familienzeit für die Vor- und Nachbereitung der Hausaufgaben durch die Kinder und ihre elterliche Kontrolle. Die Schulen bzw. Lehrer wiederum können ihre Leistungen nur dann erbringen, wenn die Eltern raumzeitlich aus dem Unterricht exkludiert werden. Nur so lässt sich die Schulkarriere als sequenzielles Resultat der Kombination von Fremdselektion der Lehrer und Eigenselektion der Schüler im Kontext des Unterrichts und nicht als Ergebnis familialer Leistungen attribuieren. Das schließt es nicht aus, sondern ein, dass diese selektiv ebenso Thema der Schule sein können wie deren Leistungen Thema der Familie. Dass die wechselseitige Abhängigkeit von familialen und pädagogischen Leistungen für den Schulerfolg der Kinder jedoch auch gemeinsames Thema von Eltern und Lehrern sein kann, lässt sich exemplarisch anhand von Elternabenden und Elternsprechstunden zeigen. Ihre spezielle Form als temporär ausdifferenzierte organisierte Interaktionssysteme erhalten sie zum einen durch die Exklusion der Kinder. Und zum anderen dadurch, dass die Eltern, besonders die Mütter, und die Lehrer die abwesenden Kinder als dieselbigen und zugleich verschiedenen Personen thematisieren. Kennen die Lehrer die Kinder primär in ihrer Rolle als Schüler, was bestimmte Informationen über ihre externen Rollen nicht ausschließt; meinen die Eltern sie als Vollpersonen mit ihren individuellen Eigenarten und ihrem Gesamtverhalten zu kennen. Damit sind Irritationen vorprogrammiert, da zum einen das Verhalten und die Eigenarten desselben Kindes von Eltern und Lehrern nicht selten unterschiedlich bewertet werden. Und zum anderen die wechselseitige Leistungserbringung der Eltern und Lehrer jeweils anders gesehen und beurteilt werden kann. So tendieren die Eltern dazu, Lernschwierigkeiten ihrer Kinder den zu hohen Anforderungen der Schule oder bestimmten Eigenschaften der Lehrer zu attribuieren. Während diese wiederum sie unter anderem der Nachlässigkeit der Leistungskontrolle der Eltern zurechnen. Vermuten lässt sich, dass die Autorität der Lehrer, aber auch die Rücksichtnahme auf das eigene Kind, die direkte Kritik der Eltern an ihnen eher unwahrscheinlich macht. Ein weiteres bedeutsames System/Umwelt-Verhältnis der modernen Kleinfamilien ist das zum Wirtschaftssystem. Als Familienhaushalte bzw. Privathaushalte leisten sie ihren Beitrag zum Wirtschaftskreislauf einerseits durch die Befriedigung der wiederkehrenden Konsumbedürfnisse der Familienpersonen und den Verbrauch der entsprechenden Konsumgüter (vgl. Feil 2003 für die Kinder). Dies erfordert andererseits darauf zugeschnittene Leistungen der Konsumgüterindustrie und des Handels. Zugleich müssen die Familien in einer monetarisierten Wirtschaft die Zahlungsfähigkeit ihrer Haushaltsbudgets regenerieren, das durch die Konsumausgaben geschmälert wurde, können sie doch nur so ihre wiederkehrenden Konsumbedürfnisse realisieren und die verbrauchten Konsumgüter ersetzen. Die Regeneration der Zahlungsfähigkeit des Familienhaushaltes ist an den Lohn oder das Gehalt als Gegenleistung der Beschäftigungsorganisationen für die außerhäusliche Erwerbsarbeit gekoppelt, welche primär die Ehemänner und Väter erbringen. Für die modernen Kleinfamilien bedeutet dies, dass die Selektionsfreiheiten ihrer realisierbaren Konsumbedürfnisse und verfügbaren Haushaltsbudgets sowohl vom sicheren Arbeitsplatz und der Lohnhöhe der Ehemänner und Väter als auch von den Angeboten der Konsumgüterindustrie und des Handels abhängen. Und umgekehrt deren Selektionsfreiheiten und die der Beschäftigungsorganisationen wiederum von der Zah-
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lungsfähigkeit und den Konsumbedürfnissen der Familienhaushalte zum einen und der Bereitschaft ihrer Ehemänner und Väter, für sie durch Erwerbsarbeit zu sorgen, zum anderen. Die in den 1950er und 1960er Jahren prosperierende Wirtschaft induzierte eine doppelte Steigerung der Selektionsfreiheiten. Einerseits der Konsumbedürfnisse und Haushaltsbudgets der Familien wegen der sicheren Arbeitsplätze und Lohnsteigerungen der erwerbstätigen Ehemänner und Väter. Andererseits der Kaufoptionen aufgrund des erweiterten Angebots an Konsumartikeln durch das Produktivitätswachstum der Konsumgüterindustrie und des Handels sowie der Stellenoptionen aufgrund des erweiterten Angebots an Arbeitsplätzen der Beschäftigungsorganisationen (vgl. Kneer 2001, 433). Dabei sind die Ehefrauen als Hausfrauen primär für das Haushaltsbudget und das alltägliche Konsumprogramm der Familien zuständig. Die Werbungsleistungen der Konsumgüterindustrie und des Handels werden deshalb auch primär auf sie als Hausfrauen und Kundinnen zugeschnitten. Zwecks verantwortlichen Wirtschaftens müssen sie ihr Ausgabenverhalten als Kundinnen dem Haushaltsbudget anpassen, um eine Überschuldung der familialen Haushalte zu vermeiden. Was das System/Umweltverhältnis der modernen Kleinfamilien zum Recht betrifft, sichert die Verfassung die Unverletzlichkeit der Wohnung und den besonderen Schutz von Ehe und Familie (vgl. Peuckert 2012, 5). Damit schützt es die ausdifferenzierte Intim- und Privatsphäre der modernen Kleinfamilie vor Zugriffen Dritter, besonders des Staates, diskriminiert jedoch alles »Uneheliche« als weniger schutzbedürftig. Zugleich erwartet es als normative Gegenleistung der Familien eine entsprechende Verantwortung der Eltern für ihre Kinder und eine wechselseitige dauerhafte Bindung der Ehepartner, die es zusätzlich durch familienrechtliche Scheidungshindernisse zu stabilisieren versucht (vgl. Limbach/Willutzki 2002; Erler 2002, 123ff.; Peuckert 2012, 7). Darüber hinaus privilegiert das Recht den Ehemann und Vater in mehreren Hinsichten. So müssen die Ehefrau und die Kinder seinen Namen als Familiennamen annehmen. Dieser an totale Institutionen erinnernde Bruch der personalen Identität (vgl. Goffman 1977) wird noch dadurch rechtlich flankiert, dass die Ehefrau ohne das Einverständnis des Ehemannes keine Erwerbsarbeit aufnehmen darf und er allein über den Standort der Wohnung entscheiden kann. Obgleich nicht anzunehmen ist, dass im Alltag der Familienkommunikation die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit der Ehefrau oder die Präferenz zugunsten einer bestimmten Wohnung durch einen Hinweis des Ehemannes auf die entsprechende rechtliche Regelungen unterbunden oder vollzogen wurden, verweisen sie dennoch auf ein normatives Festzurren der Bindung der Ehefrau an die Familie und ihre patriarchale Form. Ebenso symbolisiert die Aufgabe des Geburtsnamens der Ehefrau durch Heirat das Paradox der Einheit einer Zweiheit des Ehepaares bzw. des Ganzen als eines Teils. Das Paradox bzw. verkappte hierarchische Dual kann offensichtlich nur so lange invisibilisiert werden, solange die Ehefrauen es nicht als Einbuße ihrer Individualität beobachten. Das System/Umweltverhältnis der modernen Kleinfamilie zu den Massenmedien war zunächst durch deren weitaus geringere Binnendifferenzierung gekennzeichnet als heute. Es dominierte das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem (vgl. Marcinkowski 1993, 153ff.), wobei bis in die 1960er Jahre die Printmedien und das Radio vorherrschten, die danach vom Fernsehen als primärem Medium abgelöst wurden (vgl. Logemann/ Feldhaus 2002, 208ff.). Erste zwingen zur Individualisierung, weil man normalerweise
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nur allein liest. Das Radio kann entweder als individuell oder familial genutztes Begleitmedium oder die Aufmerksamkeit der ganzen Familie absorbierendes Medium fungieren. Die massenmedialen Leistungen für die Familie und Familienpersonen bestehen im Wesentlichem aus Information, Unterhaltung und Werbung (Luhmann 1986). Diese können auch in Abwesenheit der anderen Familienpersonen rezipiert werden, wenn man z.B. als Hausfrau mit Hausarbeiten beschäftigt ist und Radio hört. Werden die Medien in Anwesenheit der anderen Familienpersonen benutzt, konfligiert die massenmediale Kommunikation von Abwesenden mit Abwesenden nicht selten mit der familialen Kommunikation unter Anwesenden, wenn z.B. ein Kind zu laut Musik hört oder der Vater sich Zeitung lesend aus der familialen Kommunikation ausklinkt. Zugleich kann jedoch auch ein Hörspiel, eine Sportübertragung oder Nachrichtensendung zum medialen Familienereignis werden, das die Aufmerksamkeit der ganzen Familie fesselt. Wie, zu welchen Zeiten und mit welchen Präferenzen die Familien und Familienpersonen die Printmedien und das Radio nutzen, sind familiale Leistungen, welche die Anbieter der Massenmedien bei ihren Programmangeboten berücksichtigen müssen. Sie schränken die Selektionsfreiheiten der Massenmedien ebenso ein, wie diese die der Familien limitieren, wenn sie andere familiale Präferenzen, z.B. Gesellschaftsspiele oder gemeinsame Mahlzeiten, zugunsten von medialen Lieblingssendungen zurückstellen. Was das System/Umwelt-Verhältnis der modernen Kleinfamilien zur Politik betrifft, beziehen sich die Leistungen der Familienpolitik des Sozialstaates in den 1950er und 1960er Jahren vornehmlich auf die finanzielle Förderung des Wohnungsbaus, Steuererleichterungen durch das Ehegattensplitting und bestimmte Kinderfreibeträge (vgl. Lampert/Althammer 2001, 335ff.). Betrachtet man diese monetären Leistungen im Zusammenhang mit den bereits erwähnten familienrechtlichen Regelungen, dominiert eine politische Präferenz zugunsten des Monopols der modernen Kleinfamilien. Diese wiederum beschränken ihre politischen Leistungen auf die Teilnahme der Eltern an den politischen Wahlen, die besonders auf der Bundesebene eine hohe Inklusionsquote und zunehmende Konzentration der Stimmabgabe auf die CDU, SPD und FDP aufweist (vgl. Rudzio 2015, 114ff.). Des Weiteren auf die Rolle des Steuerzahlers, welche primär den Ehemann und Vater als Erwerbstätigen betrifft und die Publikumsrolle als Leser und Hörer politischer Nachrichten. Parteipolitisches Engagement ist eher selten. Im Übrigen dominiert eine kriegsbedingte Skepsis gegenüber der Politik. Generell sind eher die Ehemänner an der Politik interessiert. Was schließlich das System/Umwelt-Verhältnis der modernen Kleinfamilien zur Religion angeht, spielen für jene vor allem die christlichen Kirchen eine wesentliche Rolle. Diese bezieht sich besonders auf solche Stationen der Familienkarriere und Karriere von Familienpersonen, welche die Ehepaare und Eltern bzw. Familien für sich als religiös relevant erachten. So trauen die Kirchen das Ehepaar, taufen die Kinder und begleiten sie bei der Kommunion und Firmung bzw. Konfirmation. Ferner beeinflussen sie die Eigenzeit der Familien durch die zentralen kirchlichen Feiertage und den sonntäglichen Kirchgang. Schließlich wirken sie auch mittels des Religionsunterrichts auf die Schulkinder ein.
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Die Familien wiederum docken an die Kirchen des Religionssystems durch Kirchenmitgliedschaft und Bezahlung von Kirchensteuern an, erbringen ihre Eigenleistungen durch Teilnahme an den religiösen Schlüsselereignissen und besuchen – je nach Intensität des religiösen Engagements – die Gottesdienste regelmäßig sonntags oder zumindest anlässlich herausragender kirchlicher Feiertage. Hinzukommen können auch gemeinsame Gebete zu den Mahlzeiten, der Verzicht auf Fleisch an Freitagen und bestimmte familiale Fastenrituale während der Fastenzeiten. Die Familien zollen dem Religionssystem folglich insofern Tribut, als sie ihre Eigenzeit temporär auf jenes einstellen. Diese muss dementsprechend mit den sonstigen familial zu erbringenden Leistungen und der durch sie bedingten zeitlichen An- und Abwesenheit der Familienpersonen systemintern abgestimmt werden. Dies erklärt, weshalb besonders die Ehefrauen und Mütter die religiösen Rituale pflegen und vor allem die kirchlichen Sonnund Feiertage familienintern und -extern auf religiöse Kommunikation zugeschnitten sind. Dass diese die familiale Systemgeschichte prägen, lässt sich speziell daran ablesen, dass vornehmlich die Weihnachtsfeste – neben der Heirat, Taufe, Kommunion und Firmung – zu den familialen Ereignissen gehören, welche im Systemgedächtnis der Familie und Familienpersonen besonders in Erinnerung bleiben. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die modernen Kleinfamilien als interaktive Funktionssysteme nicht nur durch Ausschluss in die moderne Gesellschaft kommunikativ eingeschlossen, sondern zugleich in diese durch familiale Leistungszufuhr und Leistungsabnahme integriert sind. Was dies für die modernen Kleinfamilien bedeutet, haben wir anhand ausgewählter System/Umwelt-Verhältnisse verdeutlicht. Eingangs betonten wir, dass diese nicht als Input/Output-Verhältnisse angemessen rekonstruiert werden können, weil Familien strukturdeterminierte Systeme mit Geschichte sind. Sie beobachten ihre Leistungszufuhr und Leistungsabnahme immer auch im Hinblick auf ihre systeminterne kommunikative Anschlussfähigkeit. Im Kern heißt dies, dass der Grad der gesellschaftlichen Integration, sprich die Selektionsfreiheiten der modernen Kleinfamilien, in Abhängigkeit von der Systemgeschichte ihrer Intimkommunikation und Selbstorganisation in Form der Entscheidungsprogramme variieren. So bewertet z.B. ein Teil der Familien die guten Schulnoten des eigenen Kindes als Bestätigung ihrer Vor- und Nachbereitung der Hausaufgaben, während sie für andere auch ohne jene als möglich erachtet werden. Wird die Lohnerhöhung des Ehemannes von einem Teil der Familien als Chance der Rücklagenbildung für ein Eigenheim betrachtet, nutzen sie andere für die Anschaffung von anderen langlebigen Konsumgütern. Ignoriert ein Teil der Familien die Fastenzeiten, richten andere ihre Mahlzeiten danach aus. Kurzum: Obwohl sich keine der modernen Kleinfamilien der gesellschaftlichen Integration entziehen kann, variiert ihr Grad, je nachdem welche Eigenwerte sich aufgrund der Systemgeschichte der familialen Intimkommunikation und Entscheidungsprogramme im Hinblick auf die jeweiligen System/Umwelt-Verhältnisse einspielen. Im Hinblick auf diese wurde zudem deutlich, dass sie vorwiegend mit unterschiedlichen individuellen strukturellen Kopplungen, sprich Inklusionsformen der Familienpersonen, mit den familienexternen Funktionssystemen verknüpft sind. Die Familien sind demgegenüber selten als ganze in diese inkludiert. Zum einen verweist dies auf die
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bereits erwähnte Entkopplung der Funktionssysteme von den Familien. Zum anderen macht diese deutlich, warum die familiale Funktion der Inklusion der Vollpersonen die Form der Einheit von familieninternen und –externen Rollen der Familienpersonen annimmt.
3.2.2.6 Reflexion als Selbstbeschreibung der modernen Kleinfamilie Wenn wir von Reflexion als Selbstbeschreibung der modernen Kleinfamilien sprechen, setzen wir voraus, dass diese sich – wie alle anderen Funktionssysteme auch, inklusive der modernen Gesamtgesellschaft – kommunikativ selbstthematisieren können (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 866ff.). Dabei bezieht sich die familiale Selbstbeschreibung im Unterschied zur Selbstthematisierung von selektiven Familienereignissen auf ihre Einheit bzw. Identität als Sozialsystem. Außerdem gilt es zu berücksichtigen, dass sich – wie wir bereits sahen – die modernen Kleinfamilien nicht als operative Einheit eines alle Familien einschließenden Sozialsystems selbstthematisieren, sondern nur als jeweils besonderes Sozialsystem. Ferner ist zu beachten, dass ihre Selbstbeschreibung keine dauerhafte kommunikative Operation sein, sondern nur zu bestimmten Anlässen stattfinden kann, da andere kommunikative Operationen nicht beliebig lange zurückgestellt werden können. Schließlich muss angemerkt werden, dass ihre Selbstbeschreibung – wie jede andere auch – mit einer Selbstsimplifizierung und einem blinden Fleck verbunden ist. Dies deshalb, weil sie zum einen in der Familie selbst vollzogen werden muss, welche bestimmte Möglichkeiten der Selbstthematisierung inhibiert. Und zum anderen jedes Sozialsystem, auch das der Familie, immer nur bestimmte im Unterschied zu anderen Möglichkeiten zur Selbstthematisierung heranziehen kann. Nach diesen Vorabklärungen stellt sich somit die Frage, wie und zu welchen Anlässen sich die modernen Kleinfamilien selbstthematisieren. Versucht man sie zu beantworten, bietet es sich zum einen an, zwischen zeitlicher, sachlicher, sozialer und räumlicher Sinndimension zu unterscheiden. Und zum anderen, sich in Erinnerung zu rufen, dass sich die modernen Kleinfamilien als interaktives Funktionssystem qua Code geliebt/ungeliebte Familienpersonen kommunikativ ausdifferenzieren. Was zunächst die zeitliche Dimension der familialen Selbstbeschreibung betrifft, bezieht sich ihre Reflexion in der jeweiligen Gegenwart auf die Einheit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft der Familie als Sozialsystem. Soll sie nicht durch das damit gegebene Paradox als zugleich identische und verschiedene Familie blockiert werden, muss sie es invisibilisieren. Dies geschieht durch Formen der familialen Selbstbeschreibung, welche Redundanz (=Kontinuität) und Varietät (=Diskontinuität) kombinieren. Präferiert man Redundanz, werden bestimmte wiederkehrende familiale Ereignisse – wie Geburtstage, Hochzeitstage, Feiertage, Urlaube etc. – zu Anlässen einer kommunikativen Selbstthematisierung, bei der die Familie als Personengemeinschaft im Vordergrund steht. Ihrer versichert man sich als Einheit, welche die Vergangenheit mit der Zukunft in der jeweiligen Gegenwart durch Kontinuität verbindet. Diskontinuitäten – wie das veränderte Alter der Familienpersonen oder die Kontingenzen der Zukunft – können zwar nicht ganz ausgeblendet werden, spielen jedoch eine nachrangige Rolle. Präferiert man hingegen Varietät (=Diskontinuität), muss sich die familiale Selbstbeschreibung auf Ereignisse umstellen, welche die Kontinuität des Sozialsystems Familie
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im Sinne des »Weiter so« in Frage stellen. Dazu gehören die Geburt eines Kindes, die Einschulung der Kinder, Schul- und Erziehungsprobleme der Kinder, der Arbeitsplatzwechsel des Ehemannes und Vaters, längere Krankheiten der Eltern oder Kinder, Überforderungen der Mutter und Hausfrau, Krisen des Ehepaares etc. Diese erfordern eine familiale Selbstanpassung, die vor allem davon abhängig ist, dass das dominante Subsystem Ehe- und Elternpaar die bisherigen Strukturentscheidungen des Familiensystems als kontingent beobachtet und durch neue ersetzt. Damit dies gelingt, ist zugleich eine Redescription der bisherigen familialen Selbstbeschreibung notwendig, welche der restabilisierten Einheit der Familie Tribut zollt. Dabei ist davon auszugehen, dass die familieninternen Selektionsfreiheiten der Selbstbeschreibung und Selbstanpassung insofern beschränkt sind, als bestimmte bereits dargestellte Strukturen der modernen Kleinfamilie, z.B. die geschlechtsspezifische Rollendifferenzierung des Ehe- und Elternpaares, noch einem gewissen Latenzschutz unterworfen sind. Wenn der Negativwert des familialen Codes »ungeliebt« zugleich auch als Kontingenz- bzw. Reflexionswert der familialen Kommunikation fungiert, lässt zudem die niedrige Scheidungsquote der 1950er und 1960er Jahren darauf schließen (vgl. NaveHerz 2002, 62; Peuckert 2012, 301ff.), dass sich das für die moderne Gesellschaft typische Kontingenzbewusstsein (vgl. Luhmann 1992a, 93ff.) noch nicht in für die Familie folgenreiche Exitoptionen transformiert. So schreibt Peuckert (2012, 16): »Zu Beginn der 1960er Jahre hielten noch 9 von 10 Männern und Frauen die Institution Ehe grundsätzlich für notwendig (Köcher 1985).« (Hervorhebung i. O.) Familiale Selbstbeschreibungen bzw. Selbstthematisierungen können auch an der sozialen Sinndimension der Familie ansetzen. Darunter verstehen wir die Familienpersonen als Adressstellen der familialen Kommunikation. Beziehen sie sich oder Umweltsysteme auf die Einheit der Familie, z.B. mittels Türschild oder Brief, fungiert der Nachnamen des Ehemannes als Familiennamen (vgl. Nave-Herz 2006, 140ff.). Die paradoxe Einheit einer Zweiheit bzw. einer Vielheit – wenn wir die Kinder hinzunehmen – indiziert nicht nur eine patriarchalische Dominanz des Vaters und Ehemannes als Autoritätsperson familienintern und im System/Umwelt-Verhältnis. Sondern sie lässt sich systemtheoretisch zugleich auch als funktionales Äquivalent für den Vorstand von Organisationen begreifen, wenn der Ehemann und Vater als Haushaltsvorstand familienintern und -extern mit der Familie als Adressstelle identifiziert wird. Anlässe zu einer diesbezüglichen familialen Selbstthematisierung ergeben sich immer dann, wenn Entscheidungen erforderlich werden, welche der Zustimmung des Ehemannes und Vaters bedürfen. Inwieweit diese zum Teil auch rechtlich abgesicherte Selbst- und Fremdzuschreibung der Einheit der modernen Kleinfamilien faktisch bereits auf eine überzogene Selbstsimplifizierung hinausläuft, kann nur empirisch geklärt werden. Deutlich macht sie jedoch die Notwendigkeit der Invisibilisierung der asymmetrischen familieninternen geschlechtsspezifischen Rollenverteilung des Ehe- und Elternpaares. Rückblickend mutet die diesbezügliche familiale Selbstbeschreibung vor allem deshalb als paradox an, weil sie die am stärksten in die modernen Kleinfamilien inkludierten Personen – nämlich die Ehefrauen und Mütter – als eigennamentliche Adressstellen aus ihr ausschloss. Was die Sachdimension der Selbstbeschreibung der modernen Kleinfamilien anbelangt, beziehen wir sie auf ihre System/Umwelt-Verhältnisse, sprich ihre gesellschaftliche Integration durch Leistungszufuhr und -abnahme. Der Selbstbeschreibung der mo-
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dernen Kleinfamilien liegt auch hier wiederum insofern ein Paradox zugrunde, als sie sich auf die Einheit der Differenz von Familiensystem und Umweltsystemen bezieht und ein Re-entry der Differenz von System und Umwelt auf der Seite der Familiensysteme erforderlich macht. Invisibilisieren muss die familiale Selbstbeschreibung dabei, dass die Einheit von Familie und Umweltsystemen wegen deren operativer und struktureller Differenz keine sein kann. Notwendig wird die diesbezügliche sachliche Selbstthematisierung der Einheit der Familien speziell dann, wenn die multiplen System/Umwelt-Verhältnisse entweder zu einer Überintegration oder zu starken Desintegration der Familien bezüglich bestimmter Umweltsysteme tendieren. Erstere liegt besonders dann vor, wenn die Familien ihre Leistungszufuhr und -abnahme im Hinblick auf ein Funktionssystem und damit auf Kosten der anderen Umweltbezüge zu stark ausweiten. Erhöhte Desintegration ist dann gegeben, wenn die familiale Leistungszufuhr und -abnahme bezüglich eines oder mehrerer Umweltsysteme zu stark schrumpft. So intensivieren im Falle der Überintegration die Familien z.B. angesichts von Schulschwierigkeiten ihrer Kinder die Umweltbeziehungen zur Schule durch sehr ausgedehnte Vor- und Nachbereitung der Hausaufgaben und starkes Engagement der Mütter und Kinder. Und steigern die Schulen komplementär ihre Bemühungen zur Erzielung ausreichender Leistungen von schwächeren Schülern. Umgekehrt entfällt im Falle einer zu starken Desintegration die Hausaufgabenbetreuung der Familie und bemühen sich die Schulen nicht durch spezifische Leistungsbeiträge um ihre schwachen Schüler. Die modernen Kleinfamilien werden somit zu einer sachlichen Selbstthematisierung ihrer Einheit in Form des Problems der familieninternen Koordination ihrer multiplen Umweltbeziehungen gezwungen. Beschränken sie dabei ihre Selbstbeschreibung auf die familiale Einheit als Haushalte, Sozialisations- oder Erziehungsinstanzen, Rechtsinstitutionen etc., handelt es sich um überzogene Simplifizierungen. Und zwar deshalb, weil sie damit die Einheit der Familien auf nur eines ihrer multiplen Umweltverhältnissen beziehen und zur Überintegration oder zu hohen Desintegration tendieren. Wollen sie dies vermeiden, müssen die modernen Kleinfamilien die sachliche Dimension ihrer Selbstbeschreibung sequenziell je nach Umweltbezug variieren. Sie entparadoxieren somit die familiale Selbstbeschreibung als Einheit multipler Umweltverhältnisse durch die Zeit, d.h. das Vorher/Nachher unterschiedlicher familialer systemexterner Beziehungen. Hinsichtlich der Raumdimension der familialen Selbstbeschreibung beziehen wir die Thematisierung der Einheit der modernen Kleinfamilien vor allem auf die Wohnung als sozial-räumlich ausdifferenzierter Intim- und Privatsphäre. Anlässe zur Selbstthematisierung ergeben sich hier besonders dann, wenn es entweder um Probleme der räumlichen An- und Abwesenheit der Familienpersonen in den Binnenräumen der Wohnung geht, z.B. um die verbindliche und notwendige Aufenthaltsdauer aller Familienpersonen im Wohnzimmer oder in der Küche aufgrund gemeinsamer Mahlzeiten, gemeinsamen Medienkonsums oder familialer Geselligkeit bzw. die Dauer und Möglichkeit des Rückzugs von Familienpersonen in vorhandene Individualräume. Oder um Probleme der Dauer und Aufenthaltsorte außerhalb der Wohnung durch Inklusion einzelner Familienpersonen respektive der Familie in Umweltsysteme. Schließlich kann auch ein Wohnungsumzug der Familien oder der Auszug der Kinder mit Problemen der Selbstthematisierung der räumlichen Einheit der Familien verknüpft sein.
3. Funktionssysteme
Da sich die modernen Kleinfamilien ihrer Einheit auch durch das räumliche Zusammenleben in einer Wohnung versichern, liegt dieser ebenfalls ein Paradox zugrunde. Es basiert auf der Einheit von räumlicher An- und Abwesenheit der gesamten Familie und einzelner Familienpersonen innerhalb und außerhalb der Binnenräume der Wohnung. Die Selbstbeschreibungen der Familien als räumlicher Einheit geraten mithin dann unter Reflexionsdruck, wenn entweder die räumliche Anwesenheit der ganzen Familie oder die räumliche Absenz einzelner Familienpersonen zu stark überzogen werden. Verweist die erste Variante des räumlichen familialen Zusammenlebens auf eine zu strikte wechselseitige Beschränkung der Selektionsfreiheiten der Familienpersonen durch übertriebene Verhäuslichung der Familie. Indiziert die zweite eine übertriebene Enthäuslichung durch zu hohe Selektionsfreiheiten der Familienpersonen. Dabei ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der modernen Kleinfamilien sowohl eine zu starke Verhäuslichung als auch eine übertriebene Enthäuslichung zu vermeiden versucht. Zum einen legen sie auf rituelle innerhäusliche Präsenzzeiten aller Familienpersonen besonders am Abend und Wochenende und außerhäuslich zwecks gemeinsamer Wochenendausflüge und Wochenendspaziergänge Wert. Und zum anderen beschränken sie die räumliche Absenz der Kinder in der Freizeit weitestgehend auf den Nahraum im Umfeld der Wohnung. Was rückblickend von einigen Familiensoziologen als traditionelle Straßenkindheit bezeichnet wird (vgl. Du-Bois-Reymond u.a. 1994; Herlyn 1997; Peuckert 2012, 271). Schließlich können sich die Ehemänner eher als die Ehefrauen dem familialen Präsenzdruck auch außerhalb der Erwerbsarbeit entziehen, indem sie ihren Hobbys nachgehen oder sich in Kneipen als Cliquen mit anderen Männern treffen. Gründe für das beschriebene räumliche familiale Arrangement sind in der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung des Ehe- und Elternpaares, der im Durchschnitt relativ kleinen Wohnungsgröße, der eher rigiden Erziehungsstile und der noch relativ gering ausdifferenzierten Massenmedien zu sehen. Für erfolgreiche Selbstbeschreibungen der räumlichen Einheit der modernen Kleinfamilien impliziert dies, dass sie das Paradox von gleichzeitiger An- und Abwesenheit der Familie und von Familienpersonen durch das Vorher und Nachher ihrer innen- und außerhäuslichen An- und Abwesenheit entfalten und invisibilisieren. Dabei ist aufgrund der oben genannten Gründe davon auszugehen, dass dies besonders dann gelingt, wenn die räumlichen Selektionsfreiheiten der Familienpersonen weder zu stark beschnitten noch zu groß sind. Dass dies Konsensfiktionen und unterschiedliche Präferenzen hinsichtlich der häuslichen Anwesenheit der ganzen Familie miteinschließt, ist angesichts der bereits erwähnten unterschiedlichen Bindung der Familienpersonen, speziell der Ehefrauen und Ehemänner, an die Wohnung gleichwohl nicht auszuschließen. Zusammenfassend können wir somit festhalten, dass die modernen Kleinfamilien – wie alle anderen Funktionssysteme auch – zu bestimmten Anlässen ihre Einheit in zeitlicher, sozialer, sachlicher und räumlicher Hinsicht explizit thematisieren müssen. Dabei stoßen sie auf konstitutiv mit ihr verknüpfte Paradoxien. Zeitlich auf die Einheit von Kontinuität/Diskontinuität, sozial auf die Einheit einer Zweiheit bzw. Vielheit, sachlich auf die Einheit multipler Umweltbeziehungen und räumlich auf die Einheit von Anwesenheit/Abwesenheit. Soll ihre familiale Kommunikation dadurch nicht blockiert werden, müssen sie sie entparadoxieren und invisibilisieren.
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Gelingt ihnen dies, sind damit nicht nur Bestätigungen der familialen Identität, sondern auch Revisionen ihrer bisherigen Selbstbeschreibungen und familialen Strukturen verbunden. Deren Kontingenzspielraum ist jedoch insofern limitiert, als sie sowohl bestimmte Transformationen zentraler Strukturmerkmale der modernen Kleinfamilie als auch bestimmte funktional äquivalente Familienformen weitestgehend ausschließen. Vermeiden müssen sie vor allem das Risiko einer familialen Selbstthematisierung, welche die Kontingenzen der familialen Einheit mit einer Reflexion verknüpft, die den Negativwert »ungeliebt« des familialen Codes dauerhaft ins Zentrum rückt. Dass dies für die Mehrzahl der modernen Kleinfamilien zumindest in dem Sinne möglich ist, dass sich nur wenige der Ehepaare trennen, darauf verweist u.a. die geringe Scheidungsquote in den 1950er und 1960er Jahren. Sie jedoch als Beleg dafür zu nehmen, dass die familiale Kommunikation überwiegend konfliktfrei verlief, wäre wohl übertrieben. So kontinuieren zum einen Familien als Konfliktsysteme, weil besonders die Ehefrauen und Mütter das Risiko des Crossing scheuen. Und ist zum anderen zu berücksichtigen, dass eine Selbstthematisierung der Familie, welche die Kommunikation des Zweifels an der Liebe des Partners oder der Partnerin bzw. der Eltern miteinschließt, nicht zwangsläufig in eine Trennung einmünden muss. Vielmehr kann sie als Test für die Stärke der Liebe beobachtet werden, die sich gerade darin bestätigt, dass sie sich auch in Schwierigkeiten und Krisen bewährt. Zu ihr gehört mithin auch ein Verzeihen und ein »Um Verzeihen Bitten«, welche die Fortsetzung der Familie auch dann ermöglicht, wenn ein Handeln von einer der Familienpersonen als Indiz für ein vorübergehendes Nichtmehr-geliebt-Werden beobachtet wird.
3.2.2.7 Zur Evolution der modernen Kleinfamilie als Funktionssystem Konsens scheint in der Familiensoziologie darüber zu existieren, dass die moderne Kleinfamilie spätestens ab den 1970er Jahren nicht mehr die einzige Familienform in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft darstellt. Zum einen wird sie durch andere Familienformen ergänzt. Dazu gehören vor allem die nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern, Commuter-Familien, Bi-kulturelle Familien, Ein-Eltern-Familien, Stieffamilien und sogenannte Binukleare Familien (vgl. Peuckert 2012, 20ff.). Zum anderen transformiert sich die moderne Kleinfamilie selbst, indem einige ihrer bisherigen Strukturmerkmale durch andere substituiert werden. Generell lässt sich dies als ein Verlust ihres Monopols beschreiben (vgl. Meyer 1993). Ferner kann man spätestens seit der obigen Zeit eine doppelte Schrumpfung der Gesamtzahl der modernen Familien beobachten. Einerseits bezieht sie sich auf deren quantitativ rückläufige Relation zur Gesamtzahl der Privathaushalte. Andererseits auf die Relation zur Zunahme der oben erwähnten anderen Familienformen (vgl. Peuckert 2012, 163ff.). Wie immer auch die ihr zugrundeliegenden empirischen Daten erhoben wurden, die darauf bezogene Beobachtung basiert auf der quantitativen Differenz von mehr/weniger. Dabei gewinnt ihr Weniger seine Brisanz dadurch, dass es in seiner ersten Variante eine rückläufige Kopplung erwachsener Personen mit dem Sozialsystem Familie – gleich welcher Form – indiziert. Und in seiner zweiten Variante mit einer Rückläufigkeit der Gesamtzahl der Geburten einhergeht. Semantisch wird im ersten Fall die moderne Gesellschaft als »Single-Gesellschaft« oder »Individualistische Gesellschaft« thematisiert (vgl. Hradil 1995; Beck 1986). Im zwei-
3. Funktionssysteme
ten als »Alternde Gesellschaft« (vgl. Mader 1995). Beide Gesellschaftssemantiken sind insofern schief, als sie die Differenz des Sozialsystems Gesellschaft und der Menschen als organisch-psychischer Umweltsysteme ausblenden. So kann die Gesellschaft im strikten Sinne weder als »individualistische« noch als »alternde« bezeichnet werden, wenn man sie als umfassendes Kommunikationssystem und nicht als aus Menschen bestehende begreift. Zudem steht die Gesellschaftssemantik der »Alternden Gesellschaft« in eigentümlichem Kontrast zur forcierten Modernisierung, sprich permanenten Erneuerung ihrer Teilsysteme, die das Älterwerden der Bevölkerung erst ermöglichen, auf die die Gesellschaftsbeschreibung der »Alternden Gesellschaft« eigentlich abzielt. Des Weiteren wird mit dem Monopolverlust der modernen Kleinfamilie und seiner gleichzeitigen Ergänzung durch andere Familienformen eine Formenvielfalt sichtbar, welche – begriffen als Pluralisierung – zugleich auf die gesteigerte Kontingenz und das erhöhte inhärente Risiko jeder der Familienformen hinweist. Schließlich wird die gesteigerte Kontingenz der modernen Familienformen auch dadurch deutlich, dass zum einen die nach wie vor nahezu allumfassende Inklusion in eine Herkunftsfamilie nicht mehr zwingend in eine selbst gegründete Familie einmünden muss. So werden nicht nur das Single-Dasein, sondern auch die kinderlose Ehe oder nichteheliche Lebensgemeinschaft zur Option der erwachsenen Personen. Und zum anderen verliert auch eine Form der Lebenskarriere ihre exklusive und gesellschaftlich anerkannte normative Verbindlichkeit, welche das Medium Liebe an sequenziell vorgeschriebene Partnerschafts- und Familienkarrieren koppelt. Stattdessen lassen sich vielfältige Formen der Kopplung und Entkopplung von Erwachsenen mit und ohne Kinder bezüglich der Intimsysteme Paar und Familie beobachten. Diese steigern nicht nur die möglichen Verlaufsformen von Partnerschafts- und Familienkarrieren, sondern zugleich auch die inhärenten Risiken des mit ihnen verknüpften Mediums Liebe. Wir können also festhalten, dass sich seit den 1970er Jahren bis heute eine Simultaneität von schrumpfender Gesamtzahl moderner Familien, Monopolverlust und Transformation der modernen Kleinfamilie mit zunehmender Pluralität der Familienformen, des Wachstums nichtehelicher Lebensgemeinschaften und Ehen ohne Kinder, des Single-Daseins und vielfältiger Partnerschafts- und Familienkarrieren beobachten lässt. Die Frage stellt sich mithin, wie sich diese oft als »Wandel« bzw. »Kontinuität und Wandel« (vgl. Peuckert 2012; Nave-Herz 2002) der modernen Kleinfamilie bezeichneten Veränderungen systemtheoretisch »erklären« bzw. einordnen lassen. Wenn wir im Folgenden eine vorläufige Antwort auf diese Frage zu geben versuchen, werden wir uns vor allem mit der Transformation der modernen Kleinfamilie und ihren familialen Alternativen befassen. Die anderen Formen der Intimität werden wir dort, wo es für unsere Argumentation notwendig ist, mitberücksichtigen. Vom Funktionssystem moderne Kleinfamilie zum Funktionssystem privater Lebensformen? Thomas Meyer (1993; 2002) vertritt im Anschluss an die neuere Systemtheorie die These, dass man die Veränderungsprozesse der modernen Kleinfamilie in den letzten drei Jahrzehnten als Herausbildung eines neuen Funktionssystems beschreiben könne. Dieses bezeichnet er als »Privatheitssystem« bzw. »Funktionssystem privater Lebensformen«
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(Meyer 1993, 25). Im Unterschied zur Individualisierungstheorie (vgl. Beck-Gernsheim 1986; Beck 1986; Beck-Gernsheim 1994; Beck/Beck-Gernsheim 1994), welche in erster Linie die Entstrukturierung der modernen Kleinfamilie zu erklären versuche, geht es ihm um die Begründung der neu sichtbar werdenden Formen der Privatheit bzw. Intimität (Meyer 1993, 23). In ihrem Zentrum steht für ihn der Rückgriff auf die Differenzierungstheorie als einer Teiltheorie der Systemtheorie (Meyer 1992, 19ff.; Meyer 1993, 24). Meyers Grundannahme ist die, dass die moderne Gesellschaft und ihre Subsysteme einem kontinuierlichen Differenzierungsprozess unterliegen. Dieser sei erforderlich, um die Anpassungsleistungen der jeweiligen Teilsysteme an die komplexer werdende Umwelt zu erhöhen. Als solche erzeuge die komplexer werdende Gesellschaft für jedes ihrer Teilsysteme sowohl neue Formen der Ausdifferenzierung als auch gesteigerte Formen der Binnendifferenzierung. Bezüglich der modernen Kleinfamilie bedeute die forcierte Modernisierung durch Differenzierung, dass sich ihr vormals einheitliches segmentär differenziertes Teilsystem bzw. Funktionssystem in vornehmlich drei Privatheitstypen bzw. Subsysteme ausdifferenziert habe (vgl. Meyer 1993, 27). Dabei handelt es sich erstens um den Privatheitstyp des kindorientierten Familiensystems, zweitens um den Privatheitstyp der partnerschaftsorientierten nichtehelichen Lebensgemeinschaft und kinderlosen Ehe und drittens um den individualistisch orientierten Privatheitstyp des Single oder der Wohngemeinschaft. Die drei Privatheitstypen des neuen Privatheitssystems indizieren jedoch nicht nur den Verlust bzw. Zerfall des Monopols der modernen Kleinfamilie, sondern zugleich auch ihre Restrukturierung und Funktionsverschiebung einerseits bzw. adäquatere Funktionserfüllung der Intimität durch die anderen zwei Privatheitstypen andererseits. Sie seien deshalb besser als die traditionelle moderne Kleinfamilie in der Lage, den Herausforderungen der komplexer gewordenen gesellschaftsinternen Umwelt in sozialer, sachlicher und zeitlicher Hinsicht gerecht zu werden. Wie die Restrukturierung der modernen Kleinfamilie bzw. die Emergenz der neuen Privatheitstypen nach Meyer im Einzelnen aussieht, wollen wir nun kurz darstellen. Für die transformierte Kleinfamilie als neuem Privatheitstyp lassen sich folgende wichtige Aspekte hervorheben (vgl. Meyer 1993, 27-29): a) Ihre zentrale Funktion sei nicht mehr die affektiv-expressive, sondern seien die erzieherisch-sozialisatorischen Funktionen. Dies erklärt Meyer besonders damit, dass die Kleinfamilie ihren Steigerungsimperativ bzw. ihre Handlungslogik besonders auf das Kind zentriere. b) Für die soziale Dimension der transformierten Kleinfamilie bedeute dies, dass das ehemals dominante Subsystem Ehepaar hinter das Eltern-Kind-Subsystem zurücktrete. Dieses werde nun zum Zentrum des neuen Privatheitstyps Kleinfamilie. c) Sachlich impliziere dies, dass diejenigen Themen, die sich um das Eltern-Kind-System drehen, dominieren und eine auf sexuelle und emotionale Passion basierende Paarliebe verblassen lassen. d) Hinsichtlich der Zeitdimension, die für Meyer von besonderer Relevanz ist, basiert die transformierte Kleinfamilie jedoch nach wie vor auf einer Langzeitperspektive, sofern die Ehe als lebenslange in eine Familie einmündet und das Vorhandensein
3. Funktionssysteme
der Kinder eine Kündigungsresistenz einschließt. Zugleich betont Meyer aber auch die relative Starrheit der familialen Eigenzeit, welche sich besonders gegenüber den zeitlichen Erfordernissen der gesellschaftsinternen Umwelten des Bildungs-, Beschäftigungs- und Freizeitsystems als hinderlich erweise (vgl. Meyer 1993, 35). Nicht nur die mangelnde Elastizität der familialen Eigenzeit, sondern auch ihre Langfristigkeit seien somit Hindernisse der Anpassung dieses Privatheitstyps an die o.g. Umweltsysteme der fortgeschrittenen modernen Gesellschaft. e) Hinzu kommt für Meyer als zentraler Faktor der Geschlechtsrollenwandel. Dieser habe zur Entdifferenzierung der Männer- und Frauenrollen geführt, womit sich die für die herkömmliche moderne Kleinfamilie funktionale Geschlechterpolarität weitgehend aufgelöst habe (vgl. Meyer 1993, 34). In der fortgeschrittenen Moderne erweise sich ihr Fortbestehen insofern als dysfunktional, als sie den gestiegenen Ansprüchen der Frauen – vor allem denjenigen jüngerer und gebildeter Milieus – sowohl an die Bildungs- und Erwerbskarriere als auch die eigene Selbstentfaltung im Wege stehe. Zusammenfassend kommt Meyer somit zum Ergebnis, dass die transformierte Kleinfamilie als kindzentrierter Privatheitstyp zwar nach wie vor eine 80 % Inklusionsquote der 33–55-Jährigen aufweise (vgl. Meyer 1993, 37), aber ihr Monopol eingebüßt habe. Und zwar deshalb, weil ihre »Strukturflexibilität« als eines Privatheitstyps, der sich primär auf erzieherisch-sozialisatorische Funktionen konzentriere, ziemlich ›ausgereizt‹ sei. (1993, 34). So verliere er seine Attraktivität speziell für diejenigen Männer und besonders Frauen, welche die familiale Zurückstellung der Paarbeziehung zugunsten der Kinder und ihre zeitliche Inelastizität und Bindung als Hemmnis für ihre individuelle Selbstverwirklichung wahrnehmen. Die Ausdifferenzierung der partnerschaftsorientierten und individualistisch orientierten Privatheitstypen indiziert mithin für Meyer eine der Umweltkomplexität besser angepasste Eigenkomplexität des neuen Privatheitssystems als das vormalige Teilsystem bzw. Funktionssystem der modernen Kleinfamilie. Die Frage stellt sich somit, wie er diese neuen Privatheitstypen charakterisiert. Was zunächst den partnerschaftsorientierten Privatheitstyp betrifft, so »signalisiert« er für Meyer (1993, 28–29) in Form der nichtehelichen Lebensgemeinschaft »den nachhaltigsten Wandel der Privatheit.« Diesen macht er anhand folgender Aspekte deutlich (vgl. Meyer 1993, 28–31): a) Nichteheliche Lebensgemeinschaften werden von Meyer (1993, 29) »als funktional auf Liebesbeziehungen spezialisierte Partnerschaftssysteme« (Hervorhebung i. O.) verstanden. Indem sie die Liebe tendenziell von der Ehe und ihrem Verweisungszusammenhang auf die Familie entkoppeln, dominieren »die affektive, die erotisch-sinnliche und die sexuelle Dimension« (Meyer 1993, 29). b) Was die soziale Dimension dieses partnerschaftsorientierten Privatheitstyps betrifft, setzt sie nach Meyer gleichsam den Code der romantischen Liebe, entkoppelt von der institutionellen Bindung an die Ehe, fort. Es handelt sich für ihn mithin um ein »exklusiv auf die Partner beschränktes Intimverhältnis (vgl. Meyer 1993, 29).« Ebenso wie die transformierte Kleinfamilie unterliege die nichteheliche Le-
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bensgemeinschaft einer Steigerungsdynamik, die jedoch auf die Erfüllung seiner emotional-expressiven Funktion bezogen sei. c) Thematisiert werden dementsprechend vornehmlich die intensivierte Kommunikation, die Zweierbeziehung und die Dauerreflexion über sich selbst als Person. Wegen der durch die institutionelle Entkopplung forcierten Abhängigkeit der Gründung und Stabilisierung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft von den persönlichen Ressourcen und ihrer inhärenten Steigerungsdynamik sei die Selbstthematisierung jedoch besonders riskant. Ihr wohne deshalb ein »Selbstdestruktionspotential« (Meyer 1993, 30) inne, wenn sich die gestiegenen Ansprüche an Sexualität und Liebe als unerfüllt erwiesen. d) Die Zeitdimension ist für Meyer wiederum von besonderer Relevanz. Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften seien nämlich im Unterschied zum kindzentrierten Privatheitstyp sowohl durch einen unklaren Beginn als auch die mehr oder weniger explizite Antizipation eines befristeten Zeithorizontes gekennzeichnet. Empirische Untersuchungen belegten die daraus resultierenden weitaus höheren Trennungsgedanken und -raten im Unterschied zu Ehepaaren und Trennungen wegen scheinbar geringfügiger Konflikte wie Langeweile, Routinisierung und Kommunikationsprobleme. Zudem betrachtet Meyer die nichtehelichen Lebensgemeinschaften weder als Vorläufer noch als Alternative zur Ehe – nicht zuletzt wegen der hohen Berufs- und/oder Freizeitorientierung, welche mit einer Elternschaft als unvereinbar angesehen werde. Sie indizierten vielmehr einen temporär befristeten Privatheitstyp, welcher mit sequenzieller Monogamie kompatibel sei. Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass die nichtehelichen Lebensgemeinschaften aus der Perspektive Meyers als neuer Privatheitstyp diejenige Funktion akzentuieren, welche die kindzentrierten Familien nicht mehr erfüllen können, nämlich die affektiv-expressive. Als solche entkoppeln sie sich zugleich von der Ehe und kontinuieren den Code romantischer Liebe ohne deren institutionelle Stützen und ohne ihren Verweis auf Elternschaft und deren Langfristhorizont. Ihre Entkopplung ermöglicht somit die Erfüllung von Steigerungsimperativen des Paarsystems im Medium der Liebe, erkauft sie jedoch durch seine Befristung. Nichteheliche Lebensgemeinschaften werden von Meyer somit weder als Vorstufe noch Alternative zur Ehe angesehen, sondern als Option vor allem für höher qualifizierte Frauen, denen sie die Konflikte zwischen Privatheit und Beruf erleichtern. So schreibt er (Meyer 1993, 35): »Die zunehmende Berufsorientierung der Frauen gilt als Motor der Dynamik der Familien- und Privatentwicklung. Dies findet z.B. bei den NELG seinen Ausdruck, dort in erster Linie bei den höher qualifizierten Frauen (Meyer/Schulze 1989), welche im Vergleich zu dem starren Institutionenkorsett von Ehe und Familie mit ihren Rollenzumutungen das ›lockerer geschnürte Korsett‹ der nur schwach institutionalisierten alternativen Privatheitsformen favorisieren […]« Was schließlich den individualistischen Privatheitstyp anbelangt, so unterscheidet ihn Meyer in die Lebensformen der Singles und Wohngemeinschaften (vgl. Meyer 1993, 31–33).
3. Funktionssysteme
Schauen wir uns zunächst die nach Meyer bestimmenden Strukturmerkmale der Lebensform der Singles an: a) Ihre primäre Funktion besteht für ihn in der Erweiterung der Handlungsspielräume der Personen, welche sich in Form eines »ausgeprägten Interesses an Autonomie, Unabhängigkeit und individuellen Entfaltungsmöglichkeiten« (Meyer 1993, 32) widerspiegele. Die Lebensform des Single werde besonders deshalb gewählt, weil sie diese Funktion besser allein als mit einem Partner erfüllen könne. b) In sozialer Hinsicht sei diese Lebensform nur schwach institutionalisiert. Im Rückgriff auf vorwiegend qualitativ verfahrende empirische Untersuchungen betont Meyer einerseits, dass die Mehrzahl der Alleinlebenden durchaus an einer Bindung orientiert oder zumindest »bindungsambivalent« sei. Andererseits verweist er darauf, dass die in Partnerbeziehungen lebenden Singles, speziell des Privatheitstyps ›Living apart together‹, die Einschränkungen ihrer Selbstverwirklichungsmöglichkeiten hervorheben. c) In sachlicher Hinsicht dominiere eine Hochschätzung des Berufs- und Freizeitbereichs, welche an ausgeprägte individualistische Werte und Einstellungen gekoppelt sei, die noch die der nichtehelichen Lebensgemeinschaften überstiegen. d) Die Zeitdimension der Singles ist nach Meyer (1993, 32) durch einen kurz- und mittelfristigen Zeithorizont gekennzeichnet, was diese Lebensform zu einer »tendenziell jederzeit disponiblen« bzw. »intermediären« mache (Hervorhebung i. O.).
Zusammenfassend können wir somit festhalten, dass der Privatheitstyp der Singles besonders von denjenigen Personen gewählt wird, welche die individuelle Selbstverwirklichung, entkoppelt von einem Partner oder dem dauerhaften Zusammenleben mit einem Partner, präferieren. Dabei handelt es sich auch hier vornehmlich um hochqualifizierte Frauen, die stark berufs- und freizeitorientiert sind, z.B. Freiberuflerinnen (vgl. Meyer 1993, 33 u. 35). Darüber hinaus um junge Erwachsene, die nach dem Auszug aus dem Elternhaus oder nach einer gescheiterten nichtehelichen Lebensgemeinschaft dieser Lebensform den Vorzug geben (vgl. Meyer 1993, 31). Und schließlich um Singles, die in einer Lebensform des ›Living apart together‹ räumlich getrennt voneinander leben. Typisch ist zudem für die Lebensform der Singles ihre schwache Institutionalisierung, die Befristetheit und die hohe Priorität individualistischer Werte. Dass es freilich auch ›Langzeitsingles‹ und ›unfreiwillige Singles‹ gibt, betont Meyer ebenfalls. Was abschließend den Privatheitstyp Wohngemeinschaften angeht, so gilt für ihn nach Meyer folgendes: a) Ihre Funktion bestehe ebenfalls im Wunsch nach individueller Selbstverwirklichung, wobei jedoch die kommunikative Einbettung in eine gemeinsame Wohnung von den in der Regel dort ohne Partner lebenden Personen präferiert werde. b) In sozialer Hinsicht manifestiere sich eine Ambivalenz zwischen Gemeinschaftswünschen und Autonomiebedürfnissen Ersteren komme die »kommunikative Wohnorientierung« entgegen. Letztere werden in Kommunikation mit Gleichgesinnten gesucht, welche den persönlichen Prozess der Selbstverwirklichung unterstützen.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf c) Thematisch seien mithin individuelle Emanzipationsbestrebungen, welche nicht in Isolation, sondern im sozialräumlichen Kontext mit Gleichgesinnten verfolgt werden. Dabei dominiere eine eher pragmatische Form des Zusammenwohnens. d) Es überrasche dementsprechend nicht, dass es sich bei den Wohngemeinschaften um transitorische Lebensformen handele, welche in der Regel nicht länger als knapp 2 Jahre halten und zudem durch eine hohe personelle Fluktuation gekennzeichnet seien.
Sieht man Meyers Darstellung auf einen Blick, so erhebt sie (vgl. Meyer 1993, 38) den Anspruch, im Anschluss an die neuere Systemtheorie »mit Hilfe des Differenzierungstheorems […] den Komplexitätszuwachs des Privatsystems nicht nur theoretisch konzis als Ausdifferenzierungsprozess beschrieben, sondern auch als einen Kompatibilitätsschwellen reduzierenden Anpassungsprozess an moderne Umwelten interpretiert (zu haben).« (Hervorhebung i. O.) Dabei unterscheidet Meyer (1993, 37) zwischen zwei Systemebenen der Privatheit. Einerseits einem Funktionssystem der Gesellschaft. Andererseits einem funktional ausdifferenzierten System unterschiedlicher Privatheitstypen, welche als Subsysteme privaten Zusammenlebens kind-, partnerschafts- und individualistisch orientiert sind. Begleitet werden sie von jeweils unterschiedlichen Semantiken, welche Meyer als Erziehungs-, Liebes- und Individualismussemantik der Elternschaft, Partnerschaft und dem Alleinleben zuordnet. Bevor wir einige zentrale Einwände zu Meyers systemtheoretischer Interpretation des Wandels des Funktionssystems der modernen Kleinfamilie vorstellen werden, wollen wir kurz noch erwähnen, dass Rosemarie Nave-Herz (1999) ebenfalls im Anschluss an die neuere Systemtheorie eine Interpretation des Wandels der modernen Kleinfamilie vorgelegt hat. Dabei bezieht sie sich, neben der Beschreibung des Wandels des Eheund Familiensystems, in erster Linie auf die nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Obwohl sie, ebenso wie Meyer, auf die Differenzierungstheorie als Teiltheorie der Systemtheorie Bezug nimmt und mit ihm übereinstimmt, dass das Ehe- und Familiensystem als Teilsystem heute nicht mehr das Monopol der Privatheit besitze, erklärt sie deren Fortbestehen und das Aufkommen der nichtehelichen Lebensgemeinschaft anders als dieser. Für sie ist es weniger die Umweltanpassung, speziell an das Wirtschaftssystem, welches zum Monopolverlust der klassischen bürgerlichen Ehe und Familie und zum Aufkommen der nichtehelichen Lebensgemeinschaften als neuer Formen der Privatheit geführt habe. Stattdessen betont sie zum einen die forcierte Leistungssteigerung des Ehe- und Familiensystems (vgl. Nave-Herz 1999, 45ff.) und zum anderen seine Komplexitätsreduktion, welche anstelle seiner weitergetriebenen Differenzierung vorwiegend die Form der Hierarchisierung und des Wandels der Systemziele angenommen habe (vgl. Nave-Herz 1999, 56). Im Kern kommt Nave-Herz (1999, 56) zum Ergebnis, das heute »der Nichtehelichen Lebensgemeinschaft die spezialisierte Leistung der physischen und psychischen Regeneration und Stabilisierung ihrer erwachsenen Mitglieder, dem
3. Funktionssysteme
Ehe-/Familiensystem nunmehr primär die Nachwuchssicherung zugeschrieben (werde).« Dabei betont sie, dass ersteres auch für kinderlose Ehen und Ehen in der nachehelichen Phase gelte. Zentral ist für Nave-Herz (1999, 54) zudem, dass für das Ehe- und Familiensystem heute mehr noch als früher die Sozialisationsfunktion im Zentrum stehe. Durch diese Leistungssteigerung verliere das Ehesystem seine dominante familieninterne Stellung. Das Systemziel – wie Nave-Herz es nennt – einer affektiv-emotionalen Liebesbeziehung wandere damit in die nichteheliche Lebensgemeinschaft ab (vgl. Nave-Herz 1999, 50). Demgegenüber dominiere nunmehr in der heutigen Familie das Systemziel Nachwuchssicherung bzw. Sozialisation, was eine Subordination der ehelichen unter die familialen Belange nach sich ziehe. Diese Prioritätensetzung gehe zugleich mit dem neuen normativen Komplex der »verantworteten Elternschaft« einher, der für Nave-Herz (1999, 51–52) zudem eine Gegenläufigkeit zum allgemeinen Modernisierungsprozess verdeutliche. Diese manifestiere sich anhand der Revitalisierung der Haushaltsfamilie der Vormoderne, der Kindzentrierung der Ehe und schließlich der Nichtzulassung der Revisionsmöglichkeit im Hinblick auf die einmal getroffene Entscheidung für ein Kind. Vergleicht man die systemtheoretischen Ansätze von Nave-Herz und Meyer, so kommen folgende Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Erklärung des Wandels der modernen Kleinfamilie als Funktionssystem in den Blick: Beide 1. stellen die Differenzierungstheorie als Teiltheorie der Systemtheorie ins Zentrum ihrer Erklärung; 2. betonen die Sozialisations- bzw. Erziehungsfunktion als dominante Funktionen des heutigen Ehe- und Familiensystems und ihre Kindzentrierung; 3. gehen von einem Funktionsverlust der Ehe als liebesorientiertem Paarsystem aus; 4. heben die Entdifferenzierung der Geschlechterrollen und die Rückgängigkeit der traditionellen Geschlechterpolarität hervor; 5. sehen in den nichtehelichen Lebensgemeinschaften das Substitut für die partnerschaftsorientierte Liebe der Ehe.
Sie unterscheiden sich jedoch anhand folgender Aspekte: 1. stellt Meyer die umweltinduzierten Anpassungsprozesse der modernen Privatheitstypen, inklusive der modernen Kleinfamilie, ins Zentrum seiner systemtheoretischen Erklärung, betont Nave-Herz stärker die Leistungsüberforderung des Eheund Familiensystems, besonders des Ehesystems; 2. hebt Meyer eher die ausgereizte Strukturflexibiltät der transformierten heutigen Kleinfamilie hervor, akzentuiert Nave-Herz stärker ihre Zielverschiebung und Stabilität im Sinne der Dominanz der Nachwuchssicherung; 3. verweist Nave-Herz auf eine Gegenläufigkeit der heutigen Kleinfamilie zum allgemeinen Modernisierungsprozess, sieht Meyer eher ihre Anpassungsprobleme an diesen.
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Wie dieser Vergleich von Meyer und Nave-Herz deutlich macht, überwiegen eher die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede im Hinblick auf die systemtheoretische Erklärung des Funktionssystems der modernen Kleinfamilie. Wir wollen uns nun zentralen Einwänden bezüglich des Meyerschen systemtheoretischen Ansatzes zuwenden. Sie treffen auch auf den Ansatz von Nave-Herz zu, sofern sie auf seine Gemeinsamkeiten mit Meyer abstellen. Als Erstes lässt sich die Prämisse Meyers in Frage stellen, dass der Wandel des Funktionssystems der modernen Kleinfamilie hinreichend bestimmt sei, wenn er systemtheoretisch nahezu ausschließlich an der Differenzierungstheorie festgemacht wird. Begreift man diese primär als die sachliche Sinndimension der Gesellschaftstheorie, die Evolutionstheorie als ihre zeitliche Sinndimension und die Kommunikationstheorie als ihre soziale Sinndimension (vgl. Luhmann 1997b, 2 Bde.), dann fällt auf, dass die letzten beiden Teiltheorien bei Meyer unterbestimmt bleiben oder weitgehend ausgeblendet werden. Zum einen führt dies dazu, dass die für die Evolution der modernen Gesellschaft, speziell für die des Teilsystems der modernen Kleinfamilie, typischen evolutionären Mechanismen der Varietät, Selektion und Restabilisierung außer Blick geraten (vgl. Luhmann 1997b, Bd.1, 498ff.). Zum anderen hat es die Konsequenz, dass es an der kommunikationstheoretischen Präzisierung der Intimkommunikation der Privatheitstypen mangelt. Zum Zweiten muss sich Meyer fragen lassen, ob es sowohl systemtheoretisch als auch empirisch gerechtfertigt ist, das neue Funktionssystem bzw. Teilsystem als Privatheitssystem zu bezeichnen, das sich wiederum in drei Subsysteme in Form von Privatheitstypen ausdifferenziert. Die Bezeichnung der ersten Systemebene als Privatheitssystem scheint mir insofern irreführend zu sein, als sie weder die gesamtgesellschaftliche Funktion angeben kann, die anstelle der Vollinklusion der Person der herkömmlichen Ehe und modernen Kleinfamilie getreten ist, noch klarstellt, welches ihr Code ist. Die von Meyer konstatierte Ausbzw. Binnendifferenzierung der drei Privatheitstypen sieht sich deshalb auch mit dem generellen Problem konfrontiert, wie sie ihre Binnendifferenzierung auf das Privatheitssystem als umfassendes Funktionssystem beziehen kann. Für die kindzentrierte Kleinfamilie als erstem Subsystem des ausdifferenzierten Privatheitssystems ergibt sich folglich die Frage, inwieweit es Sinn macht, ihm die erzieherischen und sozialisatorischen Funktionen als dominante zu attribuieren und zugleich dem Ehepaar und Eltern-Kind-Subsystem den Bezug auf den Liebescode abzusprechen. Damit stellt sich nämlich das Problem, worin sich sein Code und seine Funktion noch von denjenigen des Erziehungssystems unterscheiden, wenn nicht dadurch, dass es sich um die Sozialisation und Erziehung der eigenen geliebten Kinder handelt. Es scheint mithin sinnvoller zu sein, anstelle der o.g. Funktionen von einer von mehreren familialen Leistungen auszugehen, welche gegenüber den systeminternen Umweltsystemen von der heutigen Familie erbracht werden müssen. Ob es sich dabei um die dominante elterliche Leistung dreht, hängt nicht zuletzt davon ab, welche anderen Umweltbezüge für die Eltern und Kinder zu welchem Zeitpunkt eine relevante Rolle spielen, und ab wann und in welchem Umfang die Kinder in formale Organisationen des Erziehungssystems inkludiert werden. Man denke z.B. an die noch immer existierende
3. Funktionssysteme
Differenz der Erwerbsquoten der Frauen in den neuen Bundesländern und ihre größere Inklusionsquote der Kleinkinder in Kinderkrippen. Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften und kinderlosen Ehen als zweite partnerschaftsorientierte Typen sollen nach Meyer einerseits diejenigen Intimsysteme sein, die den Code der romantischen Liebe im Unterschied zu der auf die Elternschaft und Familie bezogenen Ehe kontinuieren. Andererseits werden sie jedoch als hochgradig instabil und befristet beschrieben. Sollte dem so sein, heißt dies, dass der Code der Liebe und die auf ihn bezogene Semantik der Intimität unter heutigen Bedingungen der fortgeschrittenen Moderne nurmehr labilere Formen außerhalb der Ehe und in ihr unter Verzicht auf Kinder annehmen können? Wird die Gattenliebe im Rahmen der Familie somit obsolet, oder ist sie – wie Nave-Herz (1999, 50) andeutet – nach dem Verlassen der Kinder aus dem Elternhaus wieder regenerierbar? Wie vertragen sich diese Annahmen Meyers darüber hinaus mit seinem eigenen Anspruch, die Restrukturierung der Privatheitstypen im Unterschied zum individualisierungstheoretischen Ansatz ins Zentrum seines systemtheoretischen Ansatzes zu rücken? Schließlich fällt auf, dass Meyer diejenigen nichtehelichen Lebensgemeinschaften nahezu völlig aus seiner Betrachtung ausschließt, die entweder in eine Ehe einmünden oder ihr Intimsystem auch mit Kindern auf Dauer stellen. Was abschließend den individualistisch orientierten Privatheitstyp der Singles und Wohngemeinschaften angeht, lässt sich bezüglich des ersteren bezweifeln, ob er – wie die Individualitätssemantik schon verrät – überhaupt als Sozialsystem und damit als Subsystem des neuen Funktionssystems der Privatheit angemessen beschrieben werden kann. Fehlt ihm doch mindestens ein Alter Ego, das die für Sozialsysteme konstitutive doppelte Kontingenz erzeugt. Sinnvoller scheint es mir deshalb zu sein, ihn mit einer temporär freiwilligen oder erzwungenen Selbstexklusion aus den Intimsystemen gleichzusetzen. Eine Option, die temporär auch im Hinblick auf andere Rollen erwachsener Personen bezüglich bestimmter Funktionssysteme möglich ist. Man denke nur an das Religionssystem, das Wissenschaftssystem oder Kunstsystem (vgl. Burzan u.a. 2008). Das gleiche Problem stellt sich im Übrigen für die Wohngemeinschaften, welche sich schon deshalb dem Intimsystem nicht zurechnen lassen, weil sie rein pragmatisch zusammenleben und an einer Partnerschaft mit den WG-Mitgliedern nicht interessiert sind. Zudem kommt auch hier ihre hohe Befristetheit in den Blick, was wiederum Zweifel an der Restrukturierung dieser Privatheitsform aufkommen lässt. Des Weiteren lässt Meyer die Beantwortung der Frage offen, was eigentlich die kommunikative Einheit des neuen Funktionssystems der Privatheit ist, die sich aus- und binnendifferenzieren soll. So spricht er zwar an einer Stelle von den millionenfach segmentär differenzierten modernen Einzelfamilien (vgl. Meyer 1993, 26), bleibt jedoch sowohl die Beantwortung der Frage schuldig, was denn ihre Einheit als auch die des transformierten neuen Privatheitssystems sein könnte. Ferner fällt auf, dass Meyer die ausgereizte Strukturflexibilität der heutigen Kleinfamilie hervorhebt, zugleich aber auch ihre Kündigungsresistenz und Langfristhorizonte im Unterschied zur Befristetheit der anderen flexibleren Privatheitstypen betont. Trifft dies zu, dann behauptet er damit das Paradox, dass das inflexible Sozialsystem Kleinfamilie stabiler sei als die flexibleren nichtfamilialen Privatheitstypen. Wenn nicht, ist dann die heutige Kleinfamilie eventuell doch flexibler als er unterstellt, oder erweist sie
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sich als kündbarer und weniger langfristig angesichts der gestiegenen Scheidungsquote? Statt diese auch auf die transformierte Kleinfamilie und nicht nur auf den Vergleich der Ehe mit den nichtehelichen Lebensgemeinschaften zu beziehen, rekurriert Meyer auf ein christliches Verständnis der Ehe, das erst durch Tod beendet werde (vgl. Meyer 1993, 30). Das überrascht insofern, als er im Verlauf seiner sonstigen Argumentation wiederholt den Wertewandel und die dadurch notwendig werdenden Anpassungsleistungen der Privatheitstypen an die forcierten Modernisierungsschübe akzentuiert hat. Zusätzlich springt ins Auge, dass Meyer im Zusammenhang mit den kindzentrierten Privatheitstypen weitestgehend all diejenigen Familienformen ignoriert, die heute neben die transformierte Kleinfamilie treten. So äußert er sich weder zu den Ein-ElternFamilien, Stieffamilien, Commuter-Familien, bikulturellen Familien oder – wie bereits erwähnt – den nichtehelichen familialen Lebensgemeinschaften. Indizieren diese vielleicht eine größere Strukturflexibilität der heutigen Familie als es Meyer wahrhaben will? Sie auszublenden, ist gerade dann prekär, wenn man – wie er – differenzierungstheoretisch argumentiert. Verweisen sie doch möglicherweise auf Anpassungsleistungen, die aufgrund der Eigenkomplexität dieser Familiensysteme ohne Weiteres mit denen der partnerschaftsorientierten Privatheitstypen konkurrieren können. Schließlich fehlt bei der Meyerschen Darstellung auch eine präzisere Beantwortung der Frage, ob und wie sich anhand der unterschiedlichen Privatheitstypen divergierende darauf bezogene Karrieremuster einer Single-, Partner- und Familienkarriere ergeben können, welche den bereits erwähnten traditionellen Verweisungszusammenhang sprengen. Die von ihm im Zusammenhang mit den nichtehelichen Lebensgemeinschaften angeführte serielle Monogamie reicht diesbezüglich ebensowenig aus wie die beiläufig zitierten enttäuschten Partnerschaftserfahrungen von Singles. Zusammenfassend können wir also feststellen, dass die prima facie durchaus bestechende differenzierungstheoretische »Erklärung« der Transformation des Funktionssystems der modernen Kleinfamilie zu einem neuen Funktionssystem der Privatheit mit drei ausdifferenzierten Subsystemen auf den zweiten Blick wichtige Leerstellen und offen gebliebene Fragen aufweist. So blendet die Fixierung auf die Differenzierungstheorie die evolutionstheoretischen und kommunikationstheoretischen Ansätze der neueren Systemtheorie weitgehend aus. Bleibt unklar, was die Funktion und der Code des neuen Privatheitssystems sein könnten. Werden ihm Privatheitstypen wie der individualistische attribuiert, die im strikten Sinne keine Intimsysteme sind. Bleibt die Frage nach der Einheit des neuen Privatsystems unbeantwortet und wird die mangelnde Strukturflexibilität des heutigen Ehe- und Familiensystems bei gleichzeitiger hoher Stabilität betont. Schließlich werden neuere Familienformen und die durch die Privatheitstypen induzierten veränderten Karriereformen nahezu ignoriert. Dass die soziologische Systemtheorie die von Meyer unzureichend beantworteten Fragen besser beantworten können muss, ist offensichtlich. Das damit verbundene Forschungsprogramm haben wir eingangs durch eine Vielzahl von Fragen angedeutet, ohne alle von ihnen beantwortet zu haben.
3. Funktionssysteme
3.3 Erziehung. Inclusive Society and Disability: Who is to be included? Some Fallacies and their Implications for the Realization of an Inclusive Educational System 3.3.1
Preface
The following lecture is treating the problem of the structural coupling of an inclusive society and its basic unit in the contemporary context of disability policy and the scientific discourse of inclusive education. From the point of view of Luhmann’s systems theory we first shall refer to some fallacies concerning the conceptualization of the basic unit that ought to be included. Then we characterize the present German educational system as one that is differentiated in three sectors with different forms of inclusion: the mainstream sector, the special sector of excluding inclusion and the special sector of exclusive inclusion. Finally, we draw some conclusions and put some questions concerning the ambivalence of the realization of an inclusive society and its postulate of full inclusion of disabled children and youth exemplified by the German educational system.
3.3.2
Some Fallacies of Full Inclusion
3.3.2.1 The holistic fallacy of including the »whole human being« The first fallacy assumes that the whole human being ought to be included in an inclusive society. Especially the German translation »Menschen mit Behinderung« of the term »persons with disabilities« of the »UN-Convention on the Rights of Persons with Disabilities« generates this fallacy. From the perspective of systems theory this is an expectation that neither any of the past societies has ever fulfilled nor the contemporary world society is about to realize, and no future inclusive society will ever be able to do without great risks. The reason why this is the case is based on the different operations through which the organic and psychic systems of the human beings function in contrast to the social system of society as particular autopoietic systems. Whereas the organism and the human body are the ontogenetic result of the production and destruction of its cells, the psychic system reproduces itself through perceptions and ideas, thus representing the consciousness system. In contrast to the organism and the psyche the society as a social system uses communication as its basic element in the context of its recursive network. Thus both, the consciousness system, and the society as a communicative system, refer to sense. Nevertheless, they cannot be reduced to one of the two. Instead, they represent irritating and interdependent environments for each other. The sketched conception of the society implies a non-human society insofar that it is neither a living nor a consciousness system. It is a communicative system that draws its boundary by fundamentally excluding the human-beings as organic-psychic systems
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and observing them as its external environment (Luhmann 1984, 64; Luhmann 1997b Bd.1, 70; Hohm 2006, 97ff.). A vision of an inclusive society intending to include the whole human being thus runs the risk of transforming the contemporary society in a »society with totally transparent human beings« reminding us of the anti-human utopias of Orwell and Huxley or its actually more realistic version of a supervised society indicated by activities like those of the NSA (Kastl 2014; Ahrbeck 2014, 7). Instead of sustaining the freedom of thought such a version of the inclusive society would totalize the transparency of thought by neglecting the difference between autopoietic social and organic-psychic systems. One could also speak of a diabolic structural coupling with the human being in the sense of the »oversocialized concept of man« (Wrong 1961).
3.3.2.2 The holistic fallacy of including the »individual« The application of the term »individual with disabilities« indicates a second version of the holistic fallacy. It ignores the structural fact that the contemporary society is functionally differentiated in a plurality of subsystems, such as economy, education, law, politics, science, mass media, traffic, religion etc., and forces the individual to divide itself in order to participate in each of them. The undivided whole thus becomes a »dividual« which can only be included with a part of itself in one of the subsystems of the functionally differentiated society. The semantics of inclusion therefore correspond to an individual that is substituted by a dividual which is structurally coupled as a manifold participant with the manifold functional systems as partial systems of the contemporary society. A version of an inclusive society that would emphasize the individual as a whole undivided unit as reference point of its structural coupling with the human being would reduce the individual to one role and thereby unintentionally reproducing the stigmatizing effects of a master status (Hughes 1945) or a unitarian role that traditionally was attributed to marginal or minority groups such as persons with disabilities. By the way this reductive semantics is paradoxically continued in addressing persons as »persons with disabilities« similar to the seemingly politically correct application of the German semantics »Menschen mit Migrationshintergrund« in the context of immigration policy. It’s therefore no wonder that Article 24 of CRPD speaks of »the right of every person who experiences disability« (Cologon 2013, 7).
3.3.2.3 The holistic fallacy of including the »whole person« The third version of the holistic fallacy occurs if the »person with disabilities« is equated with »the whole person« in the German sense of »ganze Person«. This reference to »the whole person« or »the child as a whole« (Colognon 2013, 36) and the German semantics of »Ganzheitlichkeit« on the one hand lacks an explicit and clear definition of the term »person« and on the other hand ignores the function of the structural differentiation of the person and its roles for the communication of the society and its subsystems (Luhmann 1995d; Luhmann 1972, Bd.1, 85ff.). Defining the person from the point of view of social systems as their communication address, we can differentiate it according to the medium of communication (Luhmann 2000a, 92). In the case of spoken language, the person is referred to and refers to itself
3. Funktionssysteme
as speaker or listener. In the case of written language as author or reader. Additionally, the person can be made a subject of discussion by others or himself. In order to avoid cacophony in face-to-face communications or to prevent the oblivion of a written answer in the social web, the social systems must take care of the sequence of the inputs by establishing turn taking rules. Addressing and identifying a person in the context of a social system doesn’t mean that it is well-known by the one it is being addressed and vice versa. The degree of familiarity can vary from alien and casual acquaintance to close relationship. For the communicative functioning of the majority of social systems it is not necessary to know the person on the whole with all her roles. In the contemporary society only close relationships – such as couples or families – seem to be social systems where the inclusion of the full person is expected (Luhmann 1982a, 18; Luhmann 1990d, 208). It is therefore no wonder that an inclusive society that aims at structural coupling with the whole person often refers to semantics of a community or – in German – »Gemeinschaft« (Tönnies 2005, 9–44). This either reminds us of a stage of development of a less differentiated society or of the micro-level of the contemporary society such as small communities. Both versions tend to be a romantic structural coupling of the social system and the person. Thus, ignoring the increased complexity of the role differentiation of the contemporary functionally differentiated society.
3.3.2.4 The fallacy of underestimating the complexity and differentiation of »roles« Understanding the term »persons with disabilities« in our above defined sense, another fallacy concerns the suppression of the complexity and differentiation of the roles in that they ought to be included. Thus, the Salamanca Statement and Framework for Action on Special Needs Education (1994, IX) emphasized the full inclusion of the children and young with disabilities in the educational system. And the UN-Convention (2008, 9ff.) and the corresponding German National Report (2011) as well as The First World Report on Disability (2011) not only refer to the access and participation of the various roles of the citizenship, but also to the professional roles of the plurality of functional systems. As to the complexity of the role-arrangement in contemporary society we restrict our argumentation to the functional differentiation between occupational and non-professional roles and relate it to the postulate of full inclusion (Hohm 2006, 105ff.; Burzan u.a. 2008; Stichweh 2009; Hohm 2012). 3.3.2.4.1 The postulate of full inclusion of disabled persons and the non-professional roles We start with its relationship to the non-professional roles by which we understand roles such as the voter, the legal person, the ensured person, the client, the patient, the customer, the believer, the audience, the pupil, the student, the passenger, the tourist, the playgoer, the moviegoer etc. Their characteristics are •
generalized normative expectations that prescribe what a person must do, ought to do or can do according to the particular programmes of the functional systems;
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•
• •
the assumption of the ability or capacity of the person to fulfill the generalized normative expectations as a result of the processes of socialization and education with no need for documentation through formal certification; being able to pay as condition of access to the majority of them; divergent time investments depending on the numbers of roles that must be coordinated in the different phases of the life-course (vgl. Hohm 2006, 107ff.).
Relating the postulate of »full inclusion« for the sake of simplicity to the adult persons with disabilities we assume that the difference of inclusion/exclusion is a hierarchic and opposing dual (Dumont 1980, 42ff.; Stichweh 2009; Hohm 2012). This implies •
• •
a socio-structural and semantic preference for mainstream inclusion for it enables the persons both to participate in the regular organizations of the functional systems and receive their services and goods without being members; that the greater the number of the regular organizations the weaker the ties and the degree of integration and hence the freedom of choice; that inclusion is more comprehensive than exclusion and almost every form of exclusion is in turn embedded in a new form of inclusion.
We distinguish between the terms • • •
Mainstream inclusion coupled with the idea of an inclusive society that aims at full inclusion; excluding inclusion referring to disprivileged forms of exclusion; exclusive inclusion indicating privileged forms of exclusion.
We believe that the opposite of mainstream inclusion in the form of excluding inclusion can be formulated as a scale of exclusion that varies from mono-exclusion to multi-exclusion up to full exclusion and suppose that the scale of exclusion of persons with disabilities is a complex result of the combination of the •
•
•
•
program-specific attribution of the body and/or psyche of persons according to different degrees (slight, serious, totally) of disability with respect to their sensomotoric, cognitive, and behavioral functioning by professionals of differently coded functional systems; moralization of communication (Luhmann 1989a) of part of the mass media, public opinion, or majority of the people by means of discriminating and stigmatizing persons with disability (Goffman 1970); idea of ability underlying the professional and the moral standards of the majority of people with the implication of marking disabled persons as persons of particular risk; individual and collective coping strategies of the persons labelled as disabled.
Following our previous assumptions, we first address to the forms of excluding inclusion.
3. Funktionssysteme
The full or total exclusion from non-professional roles without substitution or assistance from any quarter can be equated with the risk of or the death of the person. •
•
One of its forms represents the often-violent end of an involuntarily process of excluding inclusion that dominated and still dominates in the inhuman total institutions of totalitarian societies (Goffman 1977). Their inclusion is reduced to the unitarian role of inmates without rights and the exclusion of all non-professional roles besides the very few that the institution concedes. The victims of this extremist form of exclusion, as for instance euthanasia (Rohrmann 2008, 470 speaks about 100.000 victims in Germany between 1939 and 1945), are in the last decades of the 20th and the begin of the 21st century increasingly reincluded in democratic societies through the memory culture, which we suggest calling »commemorative reinclusion«. Another case is that of unconscious or immobile persons who are in intensive care. Here the medical apparatus in combination with the supervision and care of the nurses arrange the excluding inclusion.
In contemporary democratic societies multi-exclusion from non-professional roles varies and differs with the number and relevance of the excluded roles. 1. One of its forms of excluding inclusion corresponds to the inclusion in »homes for the disabled persons«. They demonstrate that the total exclusion from non-professional roles through mural exclusion continues in democratic societies on the basis of residential homes that resemble the total institutions of totalitarian societies, though without their programmatic target to kill the residents. The amount and quality of the remaining non-professional roles the inmates are still having varies among other things with • • • • •
their rights; their degree of disability; the values and programmes; the qualification of the professional and para-professional personal of the institution and their cooperation.
Regarding the German development Rohrmann (2008, 475ff.) emphasizes the growth of residential homes between 1993 and 2003 in spite of the political preference for community services since 1984 and refers to their still existing structural match with Goffman’s total institutions (ibid, 479). 2. Another form of excluding inclusion can be characterized as a combination of the inclusion in the family, part-residential and outpatient services.
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The amount and quality of the remaining non-professional roles in which the disabled person is included varies, besides the factors mentioned in point 1., most of all with the positive structural coupling of the three remaining social systems. 3. A last form of excluding inclusion can be identified with the total inclusion in the family and the corresponding exclusion from all other social systems of the disabled person. The amount and quality of the remaining non-professional roles varies dependent on the quality and resources of the family as interaction system together with the factors mentioned in point 2. Mono exclusion of only one of the non-professional roles seems to be the most harmless form of excluding inclusion. However, it is difficult to find examples for this form of excluding inclusion, for in the case of severely disabled persons the danger of being multi-excluded increases. Whereas in the case of slightly disabled persons the risk of being excluded from one of the nonprofessional roles seems to be improbable because it can be easily compensated by another non-professional role of the same particular functional system or technological assistance. Thus, it is difficult to imagine that a person with mild nearsightedness is excluded from a non-professional role of any functional system. We conclude that excluding inclusion of disabled persons with respect to non-professional roles refers to a decreasing quality of life; the rising risk of stabilizing a corresponding carrier of exclusion as a function of the • • •
•
•
attributed degree of disability; degree of spatiotemporal dedifferentiation by the homes for the disabled; reduction of the number of the remaining non-professional roles in the still existent social systems such as »homes for the disabled persons«, part-residential, outpatient care and the families; restriction of the choice of freedom with regard to the remaining number of nonprofessional roles by professional and para-professional together with family control; the risk of becoming negatively integrated in a disprivileged minority and marginal group of persons with disabilities.
Exclusive inclusion can be characterized • • •
•
as typically for a small, privileged minority representing an elite of the persons with disabilities that excels instead of falls below the standards of mainstream inclusion by being enabled and able through a variety of technical and personal possibilities of assistance to take all of the non-professional roles of the functional differentiated society and thus indicating a level of inclusion that even tops that of the mainstream of persons without disability.
3. Funktionssysteme
It is therefore not at all surprising that Steven Hawking (2011, IX), the famous physicist, as the author of the preface of the first world report on disability, describes himself as both the actual model of the vision of an inclusive society and the vehement critic of the great existing gap between him and the majority of the persons with disabilities. Thus, he writes: »But I realize that am very lucky, in many ways. My success in theoretical physics has ensured that I am supported to live a worthwhile life. It is clear that the majority of people with disabilities in the world have an extremely difficult time with everyday survival, let alone productive employment and personal fulfilment. In fact, we have a moral duty to remove the barriers to participation, and to invest sufficient funding and expertise to unlock the vast potential of people with disabilities.« Returning in the light of our previous reflections to the postulate of full inclusion and our basic question »who is to be included?« we suggest at least three versions or dimensions of incompleteness: •
• •
both the quantitative and qualitative dimension of full inclusion as an addition of the number and the corresponding rights of the non-professional roles the disabled persons are as yet excluded from and the completion of the rights of those they are already included. The claim of an increase of choice of freedom with respect to the access to alternatives of particular non-professional roles the disabled persons are already included. The completion of certain rights of the particular non-professional roles the disabled persons are already included.
Comparing the three versions of full inclusion we can observe that not only the degree of equality, the rights and freedom of inclusion is increasing, but also the complexity of the different degrees of obligations of the role expectations and their corresponding abilities to manage and coordinate them. Taking the forms of excluding inclusions and selective statistics concerning the custodianship and the institutionalization of disabled persons (Rohrmann 2008/www.bundesanzeigerverlag.de/betreuung/wiki/Betreungszahlen) as socio-structural starting point of the implementation of the postulate of full inclusion of the non-professional roles, the realization of an inclusive society seems to be not simply, to put it mildly. Without going into details, I finally should like to add some further questions with respect to the postulate of full inclusion: •
•
Does it imply that the status differences between first- and second-class non-professional roles such as public health and private patient, first and business class passengers, seat in a box and standing place in the stadium, front and back seat in the theatre etc. ought to be abolished? Does it mean that mainstream inclusion of an anticipated inclusive society aims at reducing or abolishing both exclusive inclusion and excluding inclusion by structurally supporting the disprivileged and fighting against the privileged persons?
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To what extent does mainstreaming semantically avoid the risk of absolutizing the value of equality as legitimacy of the postulate of full inclusion and thereby neglecting the reference to equal-ranking values such as ability, freedom, and unequal diversity? How far is mainstreaming inclusion morally invisibling its targeted paradox of the unity of diversity by simultaneously approving the equality of personal differences and disapproving ability as premise and result of unequal personal differences? If ability thus is criticized as an ideology of ableism, does this mean that the preference values of the difference able/disable, or ability/disability are changed, and able persons are »counter-stigmatized«?
3.3.2.4.2 The postulate of full inclusion of the disabled persons and the occupational roles Occupational roles in difference to the non-professional roles can be characterized as follows (vgl. Hohm 2006, 110): •
•
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•
generalized normative expectations that prescribe what a person must do, ought to do or can do according to the programme of the particular working organization of the functional systems; a testified and certified personal ability to fulfill the programme-specific normative expectations as result of education, professional socialization and learning on the job; having been hired as job applicant and being member of a mainstream organization of the first labour market with the right to receive a remuneration for one’s competence, motivation, and aspiration; obligation to invest much of one’s daily, weekly, and annually time for the job.
Before we relate the occupational role to the forms of excluding inclusion, we must draw attention to the adult worker model that can be equated with mono-inclusion in only one occupational role of the first labour market in contrast to the multi-inclusion of the nonprofessional roles. Its importance for and interdependence with the non-professional roles of the person hence is based on its enablement of monetary access to those. If we identify mono-inclusion with employment, its other side is mono-exclusion as unemployment. The scale of exclusion is thus restricted to those forms of excluding inclusion that refer to roles that compensate for mono-exclusion as insolvency by joblessness through access to alternative monetary resources as para-occupations of the informal economy or the second labour market on the one hand and/or through support by inclusion in remaining non-professional roles, especially the social insurance or client role of the welfare state or other social organizations respectively the family household or kinship on the other hand.
3. Funktionssysteme
Mono-exclusion as increasing risk of poverty and the role of the disabled beggar
1.
•
•
One version is the role of the disabled and homelessness beggar of developing countries. It can be identified with absolute poverty and the socio-structural imposition of living on the street as beggar asking for charity. Using the street as place of informal economy and access to money is high-risky because of the absence of a sheltered home, the permanent fear of being bodily attacked and the loss of most of the nonprofessional roles. A second version is the role of the disabled and homelessness beggar of developed countries. In its extremist variants it resembles the first version. In alleviate forms of relative poverty it can be found in the malls of the centers and peripheries of the metropolises and big cities. Especially subcultures of young adults with broken homes, school dropouts, careers in total institutions, drug careers, long-term unemployment and assisted living belong to them (Thomas 2010, 367ff.).
2. Mono-exclusion as stabilization unemployment and relative poverty or economic stability through the inclusion of the disabled persons in the insurance or the client role of the welfare state
Whether this form of excluding inclusion coincides with relative poverty and corresponding destigmatization of the disabled persons varies dependent on • • • •
the particular welfare regime (Esping-Andersen 1998) or the form of welfare pluralism (Kaufmann 2003); their particular relevance of the value of work in the context of other values such as ability, solidarity, or subsidiarity; the corresponding categorization of the types of disabled persons and the different rights or claims with respect to the provided services and money; the kind of home, i.e., family household, residential care home or home for disabled persons, and the access to the remaining non-professional roles linked to this. Rohrmann (2008, 474ff.) comes to the result that the German social policy is still dominated by paternalistic care and exclusion though since 1992 many political reforms have increased the rights of people with disabilities. He refers to three reasons for his evaluation: The sociopolitical understanding of disability as biological reduction in the sense of impairment; the still factual dominance of mural exclusion and the risk of becoming poor by receiving merely pocket money.
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3. Mono-exclusion as stabilization of relative poverty through the inclusion in the paraoccupational role of the second labour market
This form of excluding inclusion is mainly represented by the disabled persons working in sheltered workshops. Their disadvantages are • • • •
the income that is lower than the poverty line; the very low chance of transformation and inclusion in the first labour market; the restricted self-determination; the exploitation of the disabled persons (Kardorff von/Ohlbrecht 2013, 13, 22ff.).
4. Mono-exclusion as stabilization of relative poverty through the inclusion in a precarious employment role of the lower end of the first labour market
This form of excluding inclusion can be characterized by •
• •
an oscillation between temporarily working on the one hand and being jobless on the other and thus switching between inclusion in the occupation role and the role of the client of the welfare-state; an income that in spite of a full job in the first labour market is under the poverty line and must be supplemented through welfare benefits; the risk of rationalize jobs because of the low skills demanded.
Summarizing the divergent forms of excluding inclusion as consequence of the monoexclusion we can assert that the monetary risk of a decreasing quality of life for disability persons becomes more probable the less they are structurally enabled to compensate the joblessness through alternative roles out of or in the first labour market. Even if we don’t equate exclusion with economic poverty the restricted ability to pay has at least consequences for the monetary access to and inclusion in the non-professional roles with respect to economically more pretentious forms of them as we could already see. Exclusive inclusion of disabled persons with relation to the occupational role means their belonging • • • • •
to the functional elites as top manager, top politician, top musician, top military, top scientist, top actor, top journalist as result of a very successful career according to the program-specific achievement criteria of the positions of the mainstream working organizations of the first labour market of the functional systems with high income, high reputation, high power, and prestige as organizational rewards
3. Funktionssysteme
•
that enable them to afford the technical and personal assistances that guarantee them a high quality of life with respect to the non-professional roles.
If we here, too, address the question of »who is to be included?« or the postulate of full inclusion, we can differentiate between the following versions: •
• •
every adult disabled person ought to be included in one of the mainstream organizations of the first labour market of the functional systems in form of a full-time job with all rights and obligations and an income that enables her to live above the poverty line; every adult disabled person ought to be preferred by an application for a job of the first labour market if his ability is equal to a person with non-disability; every adult disabled person ought to be preferred by a promotion in a higher position within the first labour market if her ability is equal to a person with non-disability.
Considering our three versions of the postulate of full inclusion we on the one hand conclude that its structural realization seems to be the more difficult the more the disabled persons are excluded according to our scale of excluding inclusion just presented. On the other hand, the exclusive form of inclusion indicates that the type and degree of disability must not automatically lead to exclusion as Hawking and other prominent members of the functional elites, such as Schäuble, Pistorius, Streisand, Steinhoff etc. prove (Blahusch 1979, 419). A more subtle study of their careers could probably increase our understanding of both the socio-structural and personal aspects and their structural coupling that enabled and enable them to be included in the functional elite of the particular functional system. That the different including/excluding forms of occupational roles and their interdependence with various non-professional roles can lead to different social layers of the disabled persons should not be surprising in a discursive context that emphasizes the semantics of diversity and the conception of a diversity society. Thus the »Report of the German Government of the Social Layers of People with Impairments« (»Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen« 2013, 255ff.) refers to »typical constellations of participation of people with impairments« with low, median, and high constraints. Instead of going into details of the report, i.e., to ask the question in how far its three constellations of participation can be compared with our three forms of exclusive inclusion, mainstream inclusion and excluding inclusion, we finally want to draw attention to some actual tendencies of the labour market policy that in addition to our earlier remarks spell out the difficulties and contradictions as to answering our general question »who is to be included?« (von Kardorff/Ohlbrecht 2013, 119ff.): 1. If we define the employment career as a combination of external selection and selfselection (Luhmann 2000a, 103ff.), we can observe that there exists no universal right of inclusion in the first labour market nor a right of a successful employment career. Instead, there is the right of the working organization to hire and promote the person it prefers according to its own programme-specific criteria and to exclude the
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others. Thus, the selection of the working organizations even in the case of quotas can lead to paying a fee in preference to hiring a disabled person (von Kardorff/Ohlbrecht 2013, 25). The programme formula »rights and obligations« aims at the realization of a balance of rights and responsibilities. It especially addresses to long term unemployed persons who are capable to work and oblige them to cooperate with the job agencies if they do not want to be sanctioned. It thus implies a paradigm shift to a legal obligation to include in the labour market even if the criteria of self-selection or self-determination of the person do not correspond with the quality of inclusive conditions such as in the cases of precarization (Vogel 2008, Marchart 2013). The inclusion in the first labour market per se is no guarantee of a good quality of life though it is generally legitimatized by a preference for employment, i.e., being included, instead of unemployment, i.e., being excluded, if the inclusion for an increasing minority of employees can be a high risk as in the cases of precarization. The increasing relevance of the programme formula »work-life-balance« that obviously refers to a misbalance of work-life and life beyond the work concerning the different dimensions of the quality of work. It can exemplarily be proven with respect to the conflict of the legal extension of inclusive working lifetime which reveals that even some strata of the employees having been fully included during their whole employment career reject its legal extension. Finally, it should be mentioned that the legitimation of success/failure of the employment career and the corresponding belief in its legitimacy differs according to their values.
Whereas the proponents of new liberalism emphasize the values of personal ability, entrepreneurship, excellence and choice and criticize too much standardization, regulation and equalization, their opponents point to social injustice, increasing social inequality, poverty and exclusion as the consequence of the ideology of ableism and focus on realizing an inclusive society with the unity of equality and diversity (Colognon 2013).
3.3.3
The present German educational system and its three sectors of different forms of inclusion
In the following section we first sketch some of the basic characteristics of the present German educational system as a functional system. Then we describe its mainstream sector of inclusion. Thereafter the sector of excluding inclusion of the children and youth with disabilities and finally the sector of exclusive inclusion.
3.3.3.1 The present German educational system The present German educational system as a functional system can on the macro level be characterized by
3. Funktionssysteme 1. a combination of two binary codes, which draw the boundary to its social and human environment by respecifying the general communication of the society as educational communication. Whereas the selection code is guided by the formal binarity of better/worse, the pedagogical code consists of the formal dual communicable/uncommunicable respectively understandable/not understandable. Their preference values »better« and »communicable«/»understandable« facilitate the intrasystem communicative compatibility for both the pupils and the teachers. In contrast the negative values »worse« and »un-communicable´«/»not understandable« induce the necessity of reflection in the educational system (Luhmann 2002, 59ff.; 62ff.) 2. an intrasystemly differentiation in four programme-specific mainstream subsystems or sectors (Van Ackeren u.a. 2015, 47–72) 2.1 the elementary pre-school sector: pre-schools such as day cares, play schools; 2.2 the elementary school sector: elementary schools; 2.3 the secondary sector: secondary modern schools; junior high schools; grammar schools; 2.4 the tertiary sector: universities of applied sciences; universities, 3. their functional differentiation (=topic structure) in the form of an increasing degree of their curricular complexity and diversity of subjects; 4. their segmentally differentiation (=infrastructure) in the form of an increasing communal access to all of them and a quantitative communal increase of supply of the same organizations within each sector with the increasing size of the commune; 5. their socio-structural differentiation (=role-structure) in the form of an increasing degree of the academic specialization of the occupational roles on the one side and the corresponding requirements to gain theoretic knowledge of the non-professional roles on the other; 6. their temporal differentiation (=temporal structure) in the form of a sequence of different phases of educational careers the length of which increases with the age-roles of the cohorts with which the educational roles are structurally coupled by legal rights and duties.
3.3.3.2 The present German educational system: The sector of mainstream inclusion If we try to specify the forms of inclusion of the German educational system in the context of its sketched characteristics, we must refer to the variety of forms of educational careers that are the result of the structural coupling of the subsystems of the educational systems and the age-cohorts that are sequentially included: The pre-school inclusion in childcare and playschool increases because of a multitude of reasons, such as the transformation of family forms, rising requirements of the quality of education induced to scientific research, economic necessities of poor households and rising career aspirations especially of the academic women, and not least the goal of the political system to adapt to a knowledge and multicultural society. We want to characterize the increasing pre-school inclusion (Betz 2010, 124) as a growing tendency of pedagogisation and institutionalization of childhood combined with its defamilization of care and education as a process of increasing family exclusion of the children (Batz 2010, 123). This implies
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf 1. the implementation of a legal right to be included in both of them with a factual shift from a right to a duty to be included as can be observed form the history of the kindergarten (Betz 2010, 118, 122; Breuksch 2010); 2. the increase of the inclusive time by starting an educational career already at the age of 14 months and being longer included by full-time five days a week (Betz 2010, 117; van Ackeren u.a. 2015, 48); 3. a paradigm shift of the curricula through emphasizing the development of the cognitive capabilities and requirements instead of the playing ones (Betz 2010, 117, 123). Thus, not only changing the topics of the pedagogical code but also enforcing the competition of the pre-school children (Betz 2010, 119; van Ackeren u.a. 2015, 48); 4. a quantitative and qualitative expansion of diversity by an increase of inclusion of formerly excluded children with disprivileged, ethnic, racial and disability background (Betz 2010, 117); 5. a preference for a sequence of the educational career by which developmental exclusion will be bound more tightly with having successfully finished the educational career of a day care at the age of three and the playing school at the age of six as a professionally educated child than having been only included in the family as a family child (Geier, Riedel 2008; Betz 2010, 126).
The inclusion in the elementary school is continuing the increase of the pedagogisation and institutionalization of the educational career of the children though with some important modifications that manifest themselves in 1. inclusion as a legal duty in the form of compulsory education that normally is structurally coupled with the age of six of the children (Betz 2010, 122; see however van Ackeren u.a. 2015, 52ff. reference to exceptions). Thus, it not only tries to protect children against inadequate and unequal education of the family and other functional systems by generating the fiction of equality opportunities through homogenisation of the age of the children as starting point of the school career (Luhmann 2002, 127) and thereby attributing its differences to the school (Betz 2010, 137). New is above all that the reform-reflections of the educational system are addressed against selfgenerated risks of its special sector of excluding inclusion and demand a legal right of inclusion of the disabled children in the elementary school instead of being forced to be included in special schools (Klemm 2010, Preface; van Ackeren u.a. 2015, 65–67); 2. the increase of inclusive time through transforming the part-time day schools in bounded full-time day schools (Oelerich 2007, 16ff.; van Ackeren u.a. 2015, 51–52, 67); 3. an ambivalence of a paradigm shift of the curricula by adapting their pedagogical goals to the increasing diversity of the pupils and an enhancing importance to perform well as a basis of a system intern recommendation to at least the junior high school and at best the grammar school, indicating the shift of the former dominant subsystem of the mainstream sector »Volksschule« or »Hauptschule« to its contemporary marginal subsystem for a disprivileged minority (van Ackeren u.a. 2015, 61); 4. a quantitative and qualitative expansion of diversity by including more children with different ethnic, racial, and social background though less children with disabilities in comparison to the pre-school organizations (van Ackeren 2015, 66);
3. Funktionssysteme 5. the preference of the sequence of the educational career that ends with a successful performance enabling its continuation in a grammar school or at any rate in the junior high school (Betz 2010, 128) and refers to a developmental exclusion from the elementary school which as a bounded full-time day school coincides with a spatiotemporal dedifferentiation of the leisure time of the children.
The secondary sector of the educational system changes the educational career in so far as its secondary schools generate a distribution of the age-cohorts of the youth by a threefold form of mainstream inclusion instead of only one form of inclusion in its earlier phase as elementary school children. This means that they are locally segregated, functionally and socially differentiated as pupils of three educational classes according to the better/worse graded fulfilment/non-fulfillment of the program-specific achievement criteria. The inclusion in the secondary sector of the educational system and the educational career therefore can be characterized as follows: 1. the compulsory form of inclusion continues; however, it differs in accordance with the grading of the pupils’ performance by the teachers; 2. the length of compulsory inclusive time is limited to the 10th class. Generally, an increase of bounded full-time day schools can be observed and the recently enacted shortage of one year in the grammar school is by now revised in some of the states (van Ackeren u.a. 2015, 64). Its longer time of inclusion is not obligatory, yet de facto necessary for a subsequent study; 3. a complexity and diversification of the curricula with didactically adaptions to the new media that increases from the secondary modern to junior high schools and is highest in the grammar schools, especially concerning the theoretical knowledge; 4. a quantitative and qualitative inclusion of more children with different ethnical, racial, and social background referring to an expansion of diversity. However, it decreases from the secondary modern to junior high schools and is lowest in the grammar schools. Thus, indicating an unequal access to the higher status schools and roles with especially applies to disabled teenagers that are almost non-existent in the latter. Thus, van Ackeren u.a. (2015, 67) state that inclusion of disabled pupils in Germany takes place largely in exclusion; 5. an increasing preference for the sequence of an educational career that ends with an A level and enables the high-school graduate to continue its educational career in the tertiary sector. If this is impossible the junior high school certificate is regarded as the second option. Hence the earlier prevailing educational career ending with a certificate of the secondary modern school has been transformed in a marginal career within the mainstream sector. Both the shift of the German semantics »Hauptschule« and formerly »Volksschule« to the semantics of »Restschule« or »Randschule« and their actual existence in only six of the sixteen German federal states make clear the restructuring of the mainstream sector and its corresponding »normal« educational careers.
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3.3.3.3 The present German educational system: The sector of excluding inclusion of disabled children and youth 1. The structural coupling of the selection and pedagogical code of the mainstream sector of the educational system with the medical code of the health system leads to a system intern differentiation of a special sector of excluding inclusion. In 2009 it included from the small minority of 565.000 children and youth categorized as those with special needs 38,5 % in the age of 3–6 in contrast to 61,5 % who were included in the mainstream kindergarten, 66,4 % in the age of 6–10 in contrast to the 33,6 % who were included in the primary school and 85,1 % in the age of 10–16 in contrast to the 14,9 % who were included in the secondary schools (Klemm 2010, 7). Due to a diagnosed chronic illness or impairment of the body or the psyche on the one hand and their relating to the curricular requirements of the mainstream sector of the educational system on the other they are placed on the side of the negative or reflection values of the selection and pedagogical code. As a consequence, they are regarded as being unable to perform the minimum curricular requirements and generating problems of understanding that can’t be solved by general pedagogics and their educational communication. 2. The semantics »special« in difference to »general« needs thus seem to warrant a special support by an excluding inclusion in a separate sector of the educational system. It legitimizes its existence as facilitating communication by stronger emphasizing and enhancing both the values of communicability and understandability of the pedagogical code and mitigating the strictness of the selection code by preferring to evaluate and support the learning progress of the abilities of the pupils rather than concentrating on the critic of their deficits. 3. The special sector of excluding inclusion can also be termed para-educational sector insofar as it 3.1 is quantitatively reduced to a far smaller number of educational organizations. In 2012 it included ca. 20 % of the total number of 15.510 of the lower secondary sector schools, i.e., 3.258 special-needs schools (Bildungsbericht 2014, 69); 3.2 is qualitatively reduced to a limited selection of what might be called rather a mimicry than a functional equivalent of the preschool, elementary school, and the secondary modern school sector; 3.3 only enables a small minority to achieve a secondary modern school-leaving qualification. In 2009 23,7 % of the pupils of the special-needs schools achieved a schoolleaving qualification of the Hauptschule (Klemm 2010, 10) and in 2012 24,5 %, whereas only 2,7 % acquired a middle school diploma and 0,2 % achieved A-levels (Bertelsmann-Stiftung 2014, 8); 3.4 most widely excludes the upper secondary sector.
4. The para-special sector of excluding inclusion can further be characterized as
3. Funktionssysteme 4.1 functional differentiated in diverse special educational foci such as learning, mental development, emotional and social development, language, physical/motor development, hearing, vision. The first four of them represented in 2013 ca. 80 % with varying rates of excluding inclusion in the special-needs schools (Bertelsmann Stiftung 2014, 8–9). The semantics of the diverse special educational foci confirm the change of the code values by masking the negative value of disability and its specifications as the other side of the form such as learning difficulties, mentally retarded, emotional handicapped and antisocial behavior, physical handicapped, deafness, blindness. This indicates the dispensation of the semantic use of deviance and the invisibility of a paradoxical communication resorting to augmentative and alternative communications without communicating its reasons; 4.2 segmentally differentiated (=infrastructure) in the form of a spatial access that differs dependent on the special educational foci and the size of the local community in accordance with criteria such as distance, special transport media, spatial distribution, and freedom of barriers; 4.3 socio-structurally differentiated (=role structure) as a complementarity and competence gap of the professional roles of teachers of special pedagogics and the nonprofessional roles of kindergarden children and pupils with special needs varying according to the special educational foci; 4.4 temporal differentiated (=temporal structure) with a sequence of educational careers, which have less phases or stages, whose length is shorter, speed is slower, and which are often finished without any graduation at all; 4.5 generating a risk and a stabilization of an educational career the probability of which generally increases with the changing age-role of a child to the youth, specific special needs with corresponding special educational foci such as mental development and the role of the citizenship in one of the new federal states (Klemm 2010).
3.3.3.4 The present German educational system: The sector of exclusive inclusion The German educational system not only incorporates a mainstream sector and a special sector of excluding inclusion, but also a special sector of exclusive inclusion. It can be differentiated in an intrasystemly induced form of exclusive inclusion and an extrasystemly one. The intrasystemly induced form of exclusive inclusion can be characterized as follows: 1. an excelling of the preferred values good performance of the selection code and understandability of the pedagogical code of the mainstream sector by a minority of the children, pupils, and students, who are frequently labelled overachievers; 2. semantics of »special« in difference to »general« needs of the mainstream sector that seem to justify a special support or promotion of their extraordinary talents and high ability that can’t be guaranteed within the mainstream sector; 3. hence the differentiation of a special sector of exclusive inclusion that also can be termed »excellence sector« or »sector of the highly gifted« whose typical structural features are
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf 4. less school classes or educational organizations than the mainstream sector, but in contrast to the para-educational sector of the disabled pre-school and school children and youth including all sectors though in a selected form 5. having special curricula that are functionally differentiated and adapted to the special needs of the high able children and youth (Schneider u.a. 2014, 14, 16); 6. being spatially separated through special classes or groups within the mainstream sector or organizationally segregated from it and a spatial access whose barriers decrease according to the increasing size of the commune (Schneider u.a. 2014, 15ff.); 7. including a small minority of an educational elite of highly able pre-school/school children and youth with a correspondingly pedagogical staff specialized on their needs (Schneider u.a. 2014,15); 8. generating a sequence of educational careers which accelerates their speed and reducing their length, indicated by skipping a grade or less school years, thus graduating earlier than their age cohorts (Schneider u.a. 2014, 12ff.); 9. constructing the chance of brilliant educational careers according to the achievement criteria of the educational system on the one hand, with the simultaneously risk of being excluded of the mainstream of the age cohort on the other.
The extrasystemly induced form of exclusive inclusion in contrast can be featured as follows: 1. the structural coupling of the binary codes of the educational system with functionally specific positive values, such as high income and Christian confession of the family background of either a minority of socio-structural privileged children/youth and/or of their special confessional milieus; 2. semantics of »special« in difference to »general« needs that refer to special parentally educationally expectations which cannot be guaranteed by the mainstream sector and are resulting from scarcity of time, prestige, and economic ability on the one hand and/or the special emphasis of a confessional education on the other; 3. the differentiation of a special educational sector of exclusive inclusion that also could be labelled »exclusive ascriptive sector« whose characteristics are a) less classes and educational organizations than the mainstream sector, but in contrast to the para-educational sector of the disabled pre-school and school children and youth including all sectors though in a selected form. In 2011 442.000 pupils attended a confessional school (Lehrcare Magazin 2014); b) having special curricula stronger emphasizing the religious faith and/or the better educational resources with respect to the special needs of the pre-school and school children/youth (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2009, 10ff.); c) being spatially separated through special classes or groups restricted to the religious subject within the mainstream sector or segregated as catholic or protestant educational organizations on the one hand or educational organizations mainly financed from parental fees on the other. The barriers of spatial access decrease with the increasing size, and/or the dominance of the catholic/protestant confession and the economic welfare of the communes;
3. Funktionssysteme d)
e)
f)
including a small minority of catholic or protestant pre-school and school children/youth or wealthy ones with a correspondingly religious and/or privately financed staff specialized on their needs; generating a sequence of educational careers which differs from that of the mainstream sector by exclusive inclusion in catholic or protestant educational organizations with stronger emphasis on the church calendar on the one hand, or in full-time pre-school organizations with early defamilization and timeextension and later inclusion in residential schools on the other; constructing the chance of successful educational careers for a small minority within an educational sector whose inclusion is structural limited by privileged and exclusive ascriptive roles with the simultaneously risk of less career options, the stronger the confessional or economic parental ties of the youth/children are.
3.3.3.5 The Ambivalence of the Concept of the Inclusive Society with its Postulate of Full Inclusion of the Persons with Disabilities: The German Educational System as Typical Example In the light of the sketched arguments, I want to draw the following conclusions concerning the transformation of the present German educational system to a future inclusive one. In 1995 Luhmann (1995e, 262) wrote: »Every normative description measures the phenomenon against the norms, which the modern society establishes itself, such as the human rights. But norms are expectations that are not changed in the case of disappointment and therefore no sufficient instrument of recognizing the problems, the modern society is confronted with, if it develops along the difference of inclusion and exclusion.« In my opinion Luhmann’s statement wants to call attention to the limits of a normative perspective of the problems that are linked to the difference of inclusion and exclusion in the contemporary society. Merely insisting on the realization of the human rights, even if they are repeatedly abused, seems to be insufficient. This doesn’t mean to abolish them. Rather it means to understand more deeply, why their implementation seems to be so difficult. Especially, if they are coupled with the realization of an inclusive society that postulates the full inclusion of the disabled people as it is in the case of the UN-Convention. Restricting our focus to the present national level of the German educational system and its realization of an inclusive one we argued that the majority of the disabled children and youth is still included in a para-educational sector called special sector of excluding inclusion. Referring this present situation to the postulate of their full inclusion we regard it as a utopia in its strict semantic sense of »nowhere to be found«, if is equated with their organism, psyche, full person, individual or all of their roles (see also Speck 2011, 105ff.;
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especially 108). As we have tried to show from the perspective of systems theory, these are fallacies that apply to all roles, including the non-professional roles of the educational system. A similar position takes Ahrbeck (2014, 9) who writes: »Substantial and steady advances [inclusion] will achieve only then, if it is not overloaded with expectations, claims and hopes, that with a realistic view prove as unfulfillable.« But even if the proponents of the full inclusion don’t aim at these utopian versions, in their opinion its realization nevertheless seems to require the abolishment of all the forms of excluding inclusion in order to realize an inclusive educational system (Wocken 2012). Relating this premise to the different levels of the present German educational system, implies at the macro level the end of its special sector of excluding inclusion, at the meso level the desegregation of its organizations and at the micro level the end of separation of classes or groups. Simultaneously it corresponds to a threefold dedifferentiation of an inclusive educational system with a reduction of the intrasystemly complexity of its environment and an increase of its intrasystemly complexity. Thus, the mainstream sector would reduce its intrasystemly complexity of environment by loss of its functional specified sector of excluding inclusion and expanding its own complexity by communicatively including the special needs of all the ca. 500.000 disabled children and youth. This would be accompanied by a growth of its segmentally differentiated inclusive organizations which had to substitute the 3.258 special-needs schools and the specialneeds pre-schools. Thus, the dedifferentiation of the existing educational system would be transformed in something like a functional equivalent of the comprehensive preschools and schools as well as their classes with an increasing diversity. The legitimization of this threefold dedifferentiation is mainly based on three premises: a criticism of ableism, of a bio-psychological understanding of disability with its risk of discrimination and stigmatization and an incomplete form of inclusion and integration of the present educational system. If we first refer to the critic of ableism (Ahrbeck 2014, 69ff.; see for Australia Colognon 2013) its ambivalence can be seen on the one hand by present efforts of the educational system of expanding a special sector of exclusive inclusion that emphasizes the positive values of the selection and pedagogic code by supporting the high ability and excellence as well as realizing the postulate that Husen had already formulated in 1972: »Every child should have equal opportunity to be treated unequally.« (Schneider u.a. 2014, 11) And the ambivalence of the critic of ableism on the other hand manifests itself by the question whether the change of the values of the binary codes practiced by the present special sector of excluding inclusion shall be the future benchmark of the curricula of an inclusive educational system with the consequence of subchallenging the more capable pupils (Ahrbeck 2014, 8). As to the criticism of the bio-psychological understanding of disability and its substitution through a social understanding of disability the question remains what shall happen with the remaining differences of skill and ability of the persons, when the very
3. Funktionssysteme
ambitious goal of abolishment of all social barriers and inequalities of the disabling society should have been realized. One answer seems to be the substitution of the semantics of deviance by the semantics of diversity. Thus, the structural dedifferentiation of the educational system is combined with the assumption that the full inclusion will lead to an end of stigmatization and discrimination by an interactional moral of educational communication that prefers the esteem instead of contempt and the respect instead of the disrespect in the case of differences of performances (Ahrbeck 2014, 6, 116ff.). The emphasizing of diversity not only seems to blind-out phenomena such as mobbing, but also the wide range of knowledge that the research on deviance has accumulated. So, we can ask in the tradition of Merton’s (1968) theory of anomy: Is it probable that pupils abandon irregular strategies and means of achieving success if they are less able? And in the tradition of Goffman’s (1970) stigma theory: Is a class interaction imaginable without the necessity of strategies of stigma management? Lastly it seems to be that the protagonists of diversity assume a new socialized and educated human being behaving according to a new moral of interaction (Ahrbeck 2014, 60, 62, 117–118, 135). In the latest discussion of inclusion some of the obstacles of its realization have been worked out on different levels of the German educational system and particularly with regard to the implementation of the postulate of inclusion of the CRPD by the German political system (Wocken 2012; Bertelsmann Stiftung 2014, 4–5). The consequence of equating full inclusion with the abolishment of the sector of excluding inclusion, that is special schools (Ahrbeck 2014, 137), leave some questions unanswered. Is it possible that a successful educational career will be achieved by every pupil even by those with problems of mental development? Can it be that for certain pupils special schools are more appropriate? (Ahrbeck 2014, 125ff.) Is it realistic to ignore the destructive potential of the pupils in favor of an all-encompassing inclusive Community? (Ahrbeck 2014 133ff.)? If we define integration as interdependent restriction of self-selection (Luhmann 1997b, Bd.2, 604ff.), how far can a dedifferentiated integrated interaction system with an enhancement of complexity through diversity of the pupils successfully operate without redifferentiation through micro exclusion or disintegration? Thus, it seems to be realistic and highly probably that the degree of integration of focused interaction systems varies with the requirements and the possibilities of participation. If for example the better abled are forced to wait for the less abled it may be that the former disintegrate themselves by no longer be willing to restrict their freedom of self-selection by the slower learning speed of the other. Finally, it should be mentioned that every functional system in a specific way radicalizes its own perspective (Luhmann 1997, Bd.2, 746). Thus, the educational system constructs its own universal and functional perspective according to its code values, especially those of the pedagogical code by pedagogisation the world through enhancing the imperatives of communicability and understanding. May be that its reform proponents overlook the fact that in a functionally differentiated society not only the educational system conditions inclusion but also all the other functional systems. If this is the case the full inclusion in the educational system becomes a problem if its temporal expansion limits the multi-inclusion and restricts the self-selection with respect to other non-professional roles.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
That a further defamilization through a full-time inclusion in the educational system is simultaneously and selectively criticized by tendencies of refamilization is one indicator of stopping the trend of overemphasizing the perspective of pedagogisation. That full inclusion with respect to time resembles more a zero-sum game than a win-win game seems to be clear given the limited conscious time of the persons. Thus, one needs not to be a prophet to predict that other forms of inclusion will demand their right. The irritation of the education system through the increasing smart phone use of its pupils during the lessons is one example for the limits of its inclusive influence. It illustrates that our guiding question »who is to be included?« even in the case of compulsory education does not necessarily imply as answer the permanent full inclusion of the person in its role as pupil. Instead, the person is able to substitute at least for a limited time the obligatorily role of the pupil through a role of another functional system. This demonstrates once again that it is not the whole person or his organic-psychic system which is included in the educational system, but those parts of the person and his abilities that are necessary to fulfill the role expectations.
3.4 Verkehr. Die Straße als Ort automobiler Inklusion1 3.4.1
Einleitung
Die Straße des Verkehrssystems als Ort automobiler Inklusion soll im Folgenden in drei allgemeinen Schritten thematisiert werden. In Anlehnung an die Systemtheorie Luhmannscher Provenienz werden wir zunächst den Nachweis zu erbringen versuchen, dass sich das moderne Verkehrssystem, wie andere Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, als eigenständiges Teilsystem begreifen lässt. Seine Autonomie – so unsere zentrale Annahme – gewinnt es durch die Orientierung am Primärcode motorisierte Mobilität/Immobilität, der durch den Sekundärcode motorisierte Schnelligkeit/Langsamkeit ergänzt wird. Ihre jeweiligen Präferenzwerte – Mobilität und Schnelligkeit – präzisieren die spezifische Funktion des modernen Verkehrssystems in Form des motorisierten Transportes und führen zur Ausdifferenzierung eines sich qua Fahrten (Flüge) autopoietisch reproduzierenden Funktionssystems. Seine Binnendifferenzierung schließt, neben dem Flug,-Schiffahrtsund Bahnverkehr, den Straßenverkehr als weiteres Subsystem mit ein. Dieses wird im Anschluss an unsere allgemeinen Vorüberlegungen zum modernen Verkehrssystem in Form von fünf Schritten näher erörtert. Zunächst wird es allgemein im Kontext der Typen sozialer Systeme (Subsystem, Organisation, Interaktion) strukturell verortet. Dabei kommen wir zu dem Ergebnis, dass sich die motorisierten Fahrten der Straße als Sequenz von fester (öffentlicher Personennahverkehr) und loser organisierten flüchtigen Interaktionen (Individualverkehr) unterscheiden lassen. Ihre spezifische Form der Verkehrskommunikation, so der zweite 1
Ersterscheinung: Hohm, Hans-Jürgen, 1997: Die Straße als Ort automobiler Inklusion, in: ders. (Hg.): Straße und Straßenkultur. Interdisziplinäre Beobachtungen eines öffentlichen Sozialraumes in der fortgeschrittenen Moderne, Konstanz, 23–81.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
That a further defamilization through a full-time inclusion in the educational system is simultaneously and selectively criticized by tendencies of refamilization is one indicator of stopping the trend of overemphasizing the perspective of pedagogisation. That full inclusion with respect to time resembles more a zero-sum game than a win-win game seems to be clear given the limited conscious time of the persons. Thus, one needs not to be a prophet to predict that other forms of inclusion will demand their right. The irritation of the education system through the increasing smart phone use of its pupils during the lessons is one example for the limits of its inclusive influence. It illustrates that our guiding question »who is to be included?« even in the case of compulsory education does not necessarily imply as answer the permanent full inclusion of the person in its role as pupil. Instead, the person is able to substitute at least for a limited time the obligatorily role of the pupil through a role of another functional system. This demonstrates once again that it is not the whole person or his organic-psychic system which is included in the educational system, but those parts of the person and his abilities that are necessary to fulfill the role expectations.
3.4 Verkehr. Die Straße als Ort automobiler Inklusion1 3.4.1
Einleitung
Die Straße des Verkehrssystems als Ort automobiler Inklusion soll im Folgenden in drei allgemeinen Schritten thematisiert werden. In Anlehnung an die Systemtheorie Luhmannscher Provenienz werden wir zunächst den Nachweis zu erbringen versuchen, dass sich das moderne Verkehrssystem, wie andere Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, als eigenständiges Teilsystem begreifen lässt. Seine Autonomie – so unsere zentrale Annahme – gewinnt es durch die Orientierung am Primärcode motorisierte Mobilität/Immobilität, der durch den Sekundärcode motorisierte Schnelligkeit/Langsamkeit ergänzt wird. Ihre jeweiligen Präferenzwerte – Mobilität und Schnelligkeit – präzisieren die spezifische Funktion des modernen Verkehrssystems in Form des motorisierten Transportes und führen zur Ausdifferenzierung eines sich qua Fahrten (Flüge) autopoietisch reproduzierenden Funktionssystems. Seine Binnendifferenzierung schließt, neben dem Flug,-Schiffahrtsund Bahnverkehr, den Straßenverkehr als weiteres Subsystem mit ein. Dieses wird im Anschluss an unsere allgemeinen Vorüberlegungen zum modernen Verkehrssystem in Form von fünf Schritten näher erörtert. Zunächst wird es allgemein im Kontext der Typen sozialer Systeme (Subsystem, Organisation, Interaktion) strukturell verortet. Dabei kommen wir zu dem Ergebnis, dass sich die motorisierten Fahrten der Straße als Sequenz von fester (öffentlicher Personennahverkehr) und loser organisierten flüchtigen Interaktionen (Individualverkehr) unterscheiden lassen. Ihre spezifische Form der Verkehrskommunikation, so der zweite 1
Ersterscheinung: Hohm, Hans-Jürgen, 1997: Die Straße als Ort automobiler Inklusion, in: ders. (Hg.): Straße und Straßenkultur. Interdisziplinäre Beobachtungen eines öffentlichen Sozialraumes in der fortgeschrittenen Moderne, Konstanz, 23–81.
3. Funktionssysteme
Schritt, besteht in einer Substitution der Sprache durch einfache und wechselseitige visuelle Wahrnehmung, die mittels einer Kombination von Schrift, Zahlen und Piktogrammen der Verkehrsschilder und situationsflexibler elektronischer Lichtzeichen der Ampeln und des Fahrzeuges gesteuert wird. Dieses wird, so der dritte und vierte Schritt, auf den Fahrbahnen des in unterschiedliche Straßentypen binnendifferenzierten Verkehrssystems Straße entweder qua Leistungsrollen oder Laienrollen fortbewegt. Letztere spielen für die Binnendifferenzierung des Verkehrssystems Straße insofern eine bedeutsame Rolle, als durch die Automobilisierung seine Primärinklusion von motorisierter Fremdsteuerung (Fahrgast) auf motorisierte Selbststeuerung (Autofahrer) umgestellt wird. Deren Konsequenzen für die Infra-, Temporal- und Sozialstruktur des Verkehrssystems Straße und das Erleben und Handeln der automobil inkludierten Verkehrsteilnehmer werden wir abschließend behandeln. Dabei wird ein systemtheoretisch und phänomenologisch inspirierter Vergleich der Autobahnfahrten und der Fahrten im Kontext der urbanen Straßen im Zentrum unserer Analyse stehen. Schließlich werden wir die aktuellen Folgeprobleme und die daran ansetzenden Reformreflexionen und -maßnahmen des Verkehrssystems Straße auf dem Hintergrund unserer systemtheoretisch orientierten Beobachtungen kommentieren.
3.4.2
Das Verkehrssystem
3.4.2.1 Das Bezugsproblem des Verkehrssystems Wie ist es möglich, dass Personen, Dienstleistungen und Güter von einem zum anderen Ort kommen? Stellt man die Frage so, treten Verkehrsprobleme immer dann auf, wenn Personen, Dienstleistungen und Güter kopräsent verfügbar sein müssten, es aber aufgrund der räumlichen Differenzierung des jeweiligen Sozialsystems Gesellschaft nicht sind. Im Laufe der gesellschaftlichen Evolution von segmentär über stratifiziert zu funktional differenzierten Gesellschaften kann man grob folgende Entwicklung der Problemlösungen hinsichtlich des Ausgangsproblems beobachten: In der räumlichen Dimension kommt es zu einer zunehmenden infrastrukturellen Erschließung, Funktionalisierung und Ausdifferenzierung von weitestgehend offenen in Abgrenzung zu geschlossenen Sozialräumen (Gebäuden) via Land-, Wasser- und schließlich Luftwegen bis hin zum Weltall. In der technisch, sachlichen Dimension findet eine allmähliche Substitution von körpergebundener Energie und Transportmitteln (Personen und Tiere) durch technisch gebundene Transportmittel und entsprechende Energieformen statt. In der zeitlichen Dimension lässt sich eine Steigerung des Tempos der Transportmittel und eine entsprechende Ausdifferenzierung spezifischer Eigenzeiten im Unterschied zu den Temporalstrukturen der Umweltsysteme rekonstruieren. Und in der sozialen Dimension entsteht eine zunehmende Rollendifferenzierung von Leistungs- und Laienrollen mit Möglichkeiten der Multiinklusion in Form der Verkehrsteilnehmer. Das Resultat, das hier in seiner komplexen evolutionären Entstehung nicht Thema sein soll, ist die Aus-und Binnendifferenzierung des Verkehrssystems in den Bahn-, Schiffahrts-, Flug-und Straßenverkehr (Lay 1994). Sofern sich die Weltgesellschaft nicht nach dem Modell totaler Institutionen (Goffman 1977, 15ff.) strukturieren lässt, aber auch Telekommunikation oder publizistische
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Verbreitungsmedien (Luhmann 1981g; Marcinkowski 1993) die unmittelbare räumliche Kopräsenz von Personen, Dienstleistungen und Gütern nicht erzeugen können, gilt auch für die fortgeschrittene Moderne die Nichtsubstituierbarkeit des Verkehrssystems hinsichtlich seiner primären Funktion: der Transportfunktion. Das Verkehrssystem unterscheidet sich folglich von den publizistischen Verbreitungsmedien und den Datenautobahnen der Telekommunikation vor allem dadurch, dass für diese die räumliche Trennung der Kommunikationspartner Voraussetzung der Kommunikation ist, weil ihre Informationen und Daten via Kabel, Satellit und Telefonleitung zeitgleich übertragen werden und, trotz Übertragung an die Empfänger, am Absenderort kopräsent vorhanden bleiben. Und es unterscheidet sich von den in geschlossenen Gebäuden der einzelnen Funktionssysteme anzutreffenden Transportsystemen (Fahrstuhl, Rolltreppe, Förderbänder etc.) dadurch, dass die Mobilität hier räumlich auf den Nahraum der Gebäude beschränkt wird; die Geschwindigkeit aufgrund der Binnendifferenzierung der Gebäude in Geschosse limitiert ist; die Transporttechnik noch stark an die körpergebundene Eigenmobilität gebunden und die Transportfunktion anderen Primärfunktionen der jeweiligen Organisationen der Funktionssysteme nachgeordnet ist.
3.4.2.2 Zur Leitdifferenz und Funktion des Verkehrssystems Autopoietische soziale Systeme reproduzieren ihre Elemente selbst (Luhmann 1984, 60ff.). Sie sind insofern radikal geschlossene selbstreferentielle Systeme, zugleich aber auch offen für Fremdreferenz. Eine wichtige Voraussetzung für ihre Reproduktion ist ihre Differenz zur Umwelt qua eindeutiger Grenze. Diese muss sowohl für das System selbst als auch für die Umwelt identifizierbar sein. Für Funktionssysteme erfolgt die Grenzziehung vor allem durch Leitdifferenzen (Luhmann 1986, 75ff.), die Kommunikationen als Letztelemente sozialer Systeme binär codieren und alles das aussortieren, was sich ihrem jeweiligen Code nicht fügt. Wir behaupten nun, dass die Leitdifferenz des modernen Verkehrssystems als motorisierte räumliche Mobilität/Immobilität von Personen, Dienstleistungen und Gütern binär codiert wird. Wie bei jeder Leitdifferenz gibt es auch hier einen Präferenzwert und einen Negativwert. Als Präferenzwert gilt motorisierte räumliche Mobilität, während demgegenüber motorisierte räumliche Immobilität den Negativwert ausmacht. Verkehrskommunikation erzeugt immer dann höhere Anschlußmöglichkeiten im Verkehrssystem, wenn motorisierte räumliche Mobilität von Personen, Dienstleistungen und Gütern garantiert ist. Demgegenüber erschwert oder blockiert motorisierte räumliche Immobilität das reibungslose Kontinuieren des Verkehrssystems. Wie viele andere Funktionssysteme auch, weist das Verkehrssystem neben dem primären Code einen Zweitcode, nämlich motorisierte Schnelligkeit/Langsamkeit, auf. Zweitcodierungen ermöglichen besser technisierbare Codierungen, Öffnungen neuer Kontingenzräume, einen gesteigerten Programmbedarf und führen zu Problemen des Risikos und der Riskoabsorption (Luhmann 1990b, 192–193). Auch hier können wir zwischen einem Präferenz-und Negativwert unterscheiden, wobei motorisierte Schnelligkeit jenen und motorisierte Langsamkeit diesen symbolisiert. Das moderne Verkehrssystem erfüllt als autopoietisches System eine gesamtgesellschaftliche Funktion, die als Transportfunktion nur ihm zukommt, und reproduziert
3. Funktionssysteme
sich qua Verkehrskommunikation, die sich von anderen Formen der Kommunikation, z.B. der medizinischen, der rechtlichen oder der politischen Kommunikation, in spezifischer Hinsicht unterscheidet. Dabei stellt die Fahrt das basale selbstreferentielle Ereignis des modernen Verkehrssystems dar. Es gewinnt seine Differenz zur Umwelt und seine Eigenständigkeit als autopoietisches System durch die millionenfache Kopplung von Fahrten, die immer wieder beginnen und enden. Es ist insofern ein radikal verzeitlichtes Funktionssystem (Luhmann 1984, 388ff.), das erst dann zu existieren aufhörte, wenn alle Fahrten simultan eingestellt würden, nicht jedoch einzelne seiner Fahrten. Die paradoxe Einheit des Verkehrssystems besteht aus der Differenz von Fahren und Warten. Die System/Umwelt-Differenz von Fahren/Nichtfahren erfährt also ein Re-entry ins Verkehrssystem in dem Sinne, dass die diffusen Möglichkeiten des Nichtfahrens im Kontext der Umweltsysteme hier als Warten besonderer Art respezifiziert werden. An dieses können entsprechende situationsspezifische, aber auch systematische Selbstthematisierungen in Form von (Reform-)Reflexionen innerhalb und außerhalb des Verkehrssystems anknüpfen. Die Reproduktion des modernen Verkehrssystems hat sich ab dem Zeitpunkt entscheidend verändert, ab dem die zentrale Steuerung der Fahrten (Flüge) in Form von institutionalisierten Fahrplänen durch Automobilisierung im Verkehrssystem Straße dezentralisiert und deinstitutionalisiert wurde. Der motorisierte Individualverkehr eröffnete den automobil inkludierten Individuen damit Autonomiespielräume hinsichtlich Mobilität-und Zeitplanung, die bis dato im Verkehrssystem nicht anzutreffen waren.
3.4.2.3 Zur Binnendifferenzierung des Verkehrssystems Jedes relevante Funktionssystem der fortgeschrittenen Moderne erhöht seine Autonomie und Eigenkomplexität, indem es sich binnendifferenziert. Im Falle des Verkehrssystems geschieht dies durch die Subsysteme Schiffs-, Bahn-, Straßen-und Flugverkehr. Für die funktionale Differenzierung als dominantem Differenzierungsprinzip der Moderne bedeutet dies, dass im Zuge der Modernisierung eine Selektion der Fahrten stattgefunden hat. Der Schiffsverkehr befördert sowohl im Nah-wie auch im Fernraum eher die langsamen als schnellen Personen-und Gütertransporte. Demgegenüber hat sich der Flugverkehr auf den schnellsten Transport von Personen und Gütern im nationalen und internationalen Raum spezialisiert. Der Bahn- und Straßenverkehr fungieren im Wesentlichen als Transportweg für den Nah-, Regional- und Fernverkehr. In Bezug auf die Geschwindigkeit lassen sie sich zwischen dem Flug- und Schiffsverkehr einordnen. Hinsichtlich der stratifizierten Differenzierung des Verkehrssystems verkörpert der Flugverkehr dasjenige Subsystem, das für den Personenverkehr qua berufsgebundener Flüge die sozial exklusivste Transportmöglichkeit bietet. Demgegenüber symbolisiert der Straßenverkehr in Form der Fahrten des Omnibusses die »demokratischste« Form der Inklusion. Die Beförderungsangebote der übrigen Subsysteme des Verkehrssystems liegen zwischen diesen beiden Extremen. Die Verkehrsteilnehmer partizipieren qua Multiinklusion am Verkehrssystem. Hinsichtlich des Personenverkehrs kann man für jedes der Subsysteme zwischen einer Primär-und Sekundärinklusion unterscheiden. Unter Primärinklusion im Verkehrssystem
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
wollen wir die mögliche Teilnahme von jedermann in Form der Laienrolle verstehen. Hingegen indiziert die Sekundärinklusion die feinen Unterschiede der Partizipationschancen des Verkehrssystems. Die Differenz von erster und zweiter Klasse bei der Bahn, dem Schiffs- und Flugverkehr und die Differenzierung der Autoklassen beim Straßenverkehr machen dies deutlich. Die segmentäre Differenzierung lässt sich ebenfalls im Kontext der Subsysteme des Verkehrssystems in Form gleicher Einheiten (Busse, Züge, Flugzeuge etc.) identifizieren. Die räumliche Differenzierung der unterschiedlichen Subsysteme manifestiert sich anhand des Unterschiedes von nahräumigen (Stadt, Kreis) und fernräumigen (nationales und internationales Territorium) Verkehrswegen. Sie wird je nach Subsystem mit unterschiedlichen Prioritäten respezifiziert. So ist beispielsweise der Nahraum für den Flugverkehr von nachrangiger Bedeutung.
3.4.2.4 Typen sozialer Systeme und das Verkehrssystem Beobachtet man das Verkehrssystem in Bezug auf unterschiedliche Typen sozialer Systeme (Luhmann 1975c; Luhmann 1984, 16), kann man Folgendes konstatieren: Im Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Ebene erbringt das Verkehrssystem, wie bereits erwähnt, eine Funktion primär und exklusiv für die Gesamtgesellschaft: die Transportfunktion. Dabei ist die Autopoiesis des Verkehrssystems qua Fahrten auf Anschlüsse und Verbindungen der unterschiedlichen Subsysteme angewiesen, da die Fahrten oftmals nicht nur einem Subsystem zuzuordnen sind. Gleichzeitig findet auch Konkurrenz und wechselseitiges Lernen der unterschiedlichen Subsysteme qua Fremdbeobachtung statt. Ob dies zu einer zunehmenden Konvergenz führt, wie Marcinkowski (1991) für das publizistische System behauptet, oder eher zu einer gesteigerten Pluralität, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Im Anschluss an die Diskussionen um die Pluralisierung, Deinstitutionalisierung und Individualisierung einer reflexiven Moderne (Beck 1986) kann man jedoch zu dem Ergebnis kommen, dass das Verkehrssystem sich spätestens mit der Motorisierung des Individualverkehrs im Straßenverkehr zunehmend pluralisiert hat. Die Auflösung der Monopolstellung von Bahn und Bus als öffentlichen Anbietern entspricht dem Prozess der Deinstitutionalisierung und die Automobilisierung erhöht die Optionsspielräume selbstbestimmter Mobilität und Geschwindigkeit der Verkehrsteilnehmer. Die Begleitsemantik des Verkehrssystems drückt diese sozialstrukturelle Entwicklung in Formeln wie »Freiheit für die Autofahrer« aus. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die Umstellung auf eine neue Form der Primärinklusion des durch Exklusionsindividualität gegenüber der modernen Gesamtgesellschaft gekennzeichneten (Luhmann 1989b, 160ff.) Individuums im Verkehrssystem. Die Biografie ist nun auch im Verkehrssystem mit erhöhter Kontingenz konfrontiert, die die Individuen nicht mehr nur an ein Subsystem bindet. Man kann folglich von einer internen und einer externen Umwelt des Verkehrssystems sprechen. Die interne Umwelt wird durch die einzelnen Subsysteme des Verkehrssystems repräsentiert. Die externe Umwelt stellen die übrigen Funktionssysteme, aber auch die psychischen Systeme dar. Was die Ebene formaler Organisationen im Kontext des Verkehrssystem betrifft, so besteht ihre Besonderheit im Unterschied zu den anderen Funktionssystemen darin,
3. Funktionssysteme
dass die Verkehrskommunikation und darauf bezogene Rollenausübung außerhalb von geschlossenen Gebäuden im Kontext von mobilen Transportmitteln als formaler Organisationen stattfindet. Die Inhaber der Leistungsrollen (Piloten, Lokführer, Schiffskapitäne, Bus-, Straßenbahnfahrer etc.) tauschen insofern die Abhängigkeit vom unmittelbaren hierarchischen Druck ihrer standortgebundenen formalen Organisationen durch die relativ autonome Steuerung ihrer Transportmittel ein, während demgegenüber die Inhaber der Laienrollen (Fahrgäste), mit Ausnahme der Auto-und Motorradfahrer, Systemvertrauen in deren Steuerungsleistungen und die Technik des Transportmittels mitbringen müssen. Diese können folglich die Form freiwillig gewählter mobiler totaler Institutionen (zum Schiff vgl. Goffman 1977, 16) für die Fahrgäste (=Insassen) annehmen, die während der Fahrt (des Fluges) eine freiwillige Exitoption selbst dann ausschließen, wenn das eigene Leben gefährdet zu sein scheint oder tatsächlich ist. Was schließlich die Ebene der Interaktionssysteme im Verkehrssystem anbelangt, so wollen wir zwischen Fahrten (Flügen) als fest organisierten und lose organisierten Sequenzen flüchtiger Interaktionssysteme unterscheiden. Bei ersteren, deren Paradigmen der Flug-, Bahn- und Straßenbahnverkehr mit den entsprechenden Leistungsrollen der Piloten, Lokführer und Straßenbahnfahrer abgeben, ist die sequenzielle Begegnung auf den Transportwegen nicht zufällig, sondern im Normalfall qua Fahrplänen erwartbar. Ermöglicht wird diese prognostizierbare Begegnung darüber hinaus durch die enge strukturelle Kopplung von Transportmittel und Transportweg, die den Inhabern der Leistungsrollen wenig Spielräume für Abweichungen geben, und die gleichzeitige Begleitung der Fahrt (Flüge) durch räumlich entfernte und ortsgebundene zentrale Steuerungseinheiten (Funkzentralen, Bodenzentralen). Ferner ist es für die unmittelbare wechselseitige visuelle Wahrnehmung im Kontext der sequenziellen Begegnungen typisch, dass sie sich primär auf das Transportmittel und weniger auf den Rolleninhaber bezieht. Diese können sich als Kollegen, besonders im kleinräumigen Nahverkehr und bei gleichen Fahrt- und Flugrouten, durchaus ihre Bekanntschaft signalisieren. Im Normalfall dürfte aber die abstrakte und unpersönliche Typisierung in Form der Zugehörigkeit zur gleichen Berufsgruppe bei der Begegnung dominieren. In Bezug auf die Zeitdimension ist die Interaktion flüchtig, d.h. sie findet in wenigen Sekunden statt. Da es während der Fahrt (des Fluges) in der Regel zu einer Sequenz von Interaktionen kommt, lassen sich die Fahrten (Flüge) der Subsysteme Bahn-, Straßenbahn-und Flugverkehr auch als Paradigmen für sequenziell fest organisierte flüchtige Interaktionen begreifen. Das Paradigma für sequenziell lose organisierte flüchtige Interaktionssysteme stellen demgegenüber die Fahrten des Verkehrssystems Straße in Form des motorisierten Individualverkehrs dar. Typisch ist hier die Selbstorganisation der Fahrtroute durch die Autofahrer. Es dominiert, besonders im Kontext der Fahrten der Autobahn und der Hauptstraßen des Stadtverkehrs, die Sequenz von flüchtigen Zufallsbegegnungen. Deren rollenspezifische Anonymität wird allenfalls im Rahmen von Haupt- und Nebenstraßen nahräumiger Stadtteilfahrten durchbrochen. Wir kommen darauf noch ausführlich zurück.
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3.4.2.5 Das Verkehrssystem und Fahrten Im Anschluss an unsere Annahme, dass die Fahrten die Basisereignisse des modernen Verkehrssystems sind, müssen wir noch einige allgemeine Bemerkungen zur Relation von Fahrten und Verkehrssystem nachtragen. Wenn sich dieses qua motorisierter Fahrten von unterschiedlicher Dauer und Entfernung gegenüber körpergebundenen Formen der Eigenmobilität ausdifferenziert, kann diese jedoch als eingeschlossenes ausgeschlossenes Drittes parasitär auf dem motorisierten Transportweg wieder auftreten. Dass dies im erwartbaren und verbreiteten Sinne nahezu ausschließlich für das Verkehrssystem Straße in Form des Laufens, Gehens oder der Fahrradfahrt gilt, verweist auf die unterschiedlichen Grade der Ausdifferenzierung der Subsysteme des Verkehrssystems gegenüber den Formen der körpergebundenen Eigenmobilität. So muss zwar auch der Schiffs- oder der Flugverkehr auf gewissen Streckenabschnitten und zu bestimmten Zeiten mit Schwimmern oder Drachenfliegern rechnen, dabei handelt es sich jedoch normalerweise um Freizeit- und nicht um Verkehrskommunikation, wie im Falle des Verkehrssystems Straße. Gleichzeitig ist das Verkehrssystem systemintern offen für die Verknüpfung der unterschiedlichen Transportwege und-mittel seiner Subsysteme, da sich die Einzelfahrten als Gesamtfahrten zunehmend einem einzigen Subsystem nicht mehr zuordnen lassen. Dies hat zum einen Auswirkungen auf die Lenkung der Verkehrskommunikation durch vielfältige Möglichkeiten der Vernetzung in Form von Verbundsystemen. Zum anderen hat es auch Konsequenzen für das Fahrterleben. Es wird in zunehmendem Maße als Passage unterschiedlichster Arten der Mobilität und Geschwindigkeit wahrgenommen.
3.4.3
Das Straßensystem als Subsystem des Verkehrssystems
3.4.3.1 Das Straßensystem im Kontext der Systemtypen Knüpft man an die Überlegungen des vorhergehenden Kapitels zu den einzelnen Systemtypen an, so kann man diese in Bezug auf das Verkehrssystem Straße in folgender Weise respezifizieren: Das Verkehrssystem Straße ist nicht identisch mit dem Funktionssystem Verkehr, sondern stellt eines seiner in den letzten Jahrzehnten zugleich hervorstechendsten und umstrittensten Subsysteme dar. Eines seiner wichtigsten Spezifika besteht darin, dass es – im Vergleich zu allen anderen Subsystemen – die höchste Inklusionsquote der Gesamtbevölkerung als Verkehrsteilnehmer aufweist (So gab es, laut Datenreport 1994, 349, 1992 im früheren Bundesgebiet 32 Mio PKW, während es 1960 erst 4,5 Mio PKW waren.) und dies durch Automobilität im doppelten Sinne des Begriffes »Auto«. Dieser bringt nämlich zum einen hinsichtlich des Transportmittels das subjektive Recht und die private ökonomische Verfügbarkeit zur Selbststeuerung in Form der Rolle des Autofahrers in Differenz zur Rolle des fremdgesteuerten Fahrgastes des Autobusses (Omnibusses) zum Ausdruck. Und zum anderen indiziert er die Differenz von motorisierter und nichtmotorisierter Eigenmobilität qua technischer Substitution des Körpers der Person durch den Autokörper. Ein weiteres Spezifikum des Verkehrssystems Straße ist darin zu sehen, dass es bezüglich der Transportwege (=Fahrbahnen) das engmaschigste ist. Dies gilt insbesondere für die strukturelle Kopplung mit dem Sozialraum Wohnen des Funktionssystems In-
3. Funktionssysteme
timbeziehungen. Keines der übrigen Subsysteme des Verkehrssystems bietet in räumlicher Hinsicht einen so nahen und damit beinahe voraussetzungslosen Anschluss an die Verkehrskommunikation wie das Straßensystem. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass die Straßennamen und -nummern die konstante sozialräumliche Identität der modernen Individuen als Adressat von Kommunikation verkörpern. In einer Gesellschaft, die von einigen soziologischen Beobachtern als Organisationsgesellschaft (Schimank) typisiert wird, überrascht es nicht, dass formale Organisationen auch für das Verkehrssystem Straße eine bedeutsame Rolle spielen. So weist jedes der übrigen Funktionssysteme formale Organisationen auf, die unter ihrer Leitdifferenz und mit ihren Mitteln auf den Straßenverkehr einzuwirken versuchen: die Administration durch das Straßenbauamt, die Wirtschaft durch die Automobilindustrie, das Erziehungssystem durch den Verkehrsunterricht, die Wissenschaft durch verkehrswissenschaftliche Institute, die Politik durch das Verkehrsministerium, die Verbreitungsmedien durch Verkehrsinformationen und-werbung etc. Es ist nicht zu bestreiten, dass diese Organisationen und ihre Funktionssysteme infrastrukturelle Leistungen erbringen; Transportmittel verkaufen; Motive erzeugen und sozialisieren; Sachverständigengutachten erstellen; planen und entscheiden; Informationen über Unfälle und Staus verbreiten und Verkehrsästhetik propagieren. Zugleich gilt es jedoch zu beachten, dass sie die Straßenverkehrskommunikation nur in der Weise beeinflussen können, wie es deren autopoietische Operationen qua Selbstbezug von Fahrten zulassen. So mag es zwar sinnvoll sein, faires Fahren zu propagieren; es lässt sich jedoch nur schwer befolgen, wenn man bei einer Baustelle zum Hindernis wird, indem man sich an die vorgeschriebene Geschwindigkeit hält. Desgleichen nützen dem Autofahrer Staumeldungen nur wenig, wenn er bereits im Stau steht und die Empfehlungen zum weiträumigen Umfahren des Staus nicht mehr umsetzen kann; und die beste Verkehrserziehung nützt nichts, wenn sie von spezifischen Jugend(-milieus) durch gruppenspezifisches Fahrverhalten konterkariert wird. Wie sieht es nun in Bezug auf die Steuerungsmöglichkeiten derjenigen formalen Organisationen (öffentliche und private Transportunternehmen, Verkehrspolizei) aus, die dem Verkehrssystem Straße im engeren Sinne zuzurechnen sind? Einen wesentlichen Unterschied der interorganisatorischen Beziehung der Organisationszentralen zu ihren mobilen Transportmitteln (LKWs, Bus, Straßenbahn, Taxi etc.) im Kontext des Verkehrssystems Straße sehen wir im Vergleich zum Flug-, Bahn-und Schiffsverkehr darin, dass die Steuerung der Fahrten durch erstere (z.B. der Funkzentralen) nur relativ grob ausfallen kann, da die temporale Komplexität und räumliche Engmaschigkeit des urbanen Straßennetzes die Inhaber der Leistungsrollen wiederholt zu situationsflexiblem Fahrverhalten zwingt. So müssen sich beispielsweise die Bus- und Straßenbahnfahrer, trotz Schienen und teilweise vorhandener Busspuren, immer wieder auf den motorisierten Individualverkehr und nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer einstellen, die das pünktliche Einhalten von Fahrtzeiten wiederholt konterkarieren. Und die LKW-Fahrer der privaten Transportunternehmen müssen darüber hinaus noch zusätzlich mit den komplexen Kontingenzen der Autobahnen rechnen, z.B. mit nichtvorhersehbaren Wartezeiten, die durch ihre Steuerungszentralen nur bedingt antizipierbar sind.
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Trifft also die Untersteuerung durch öffentliche und private Organisationszentralen der Verkehrsunternehmen schon für die Leistungsrollen der mobilen Transportorganisationen zu, dann gilt dies in noch stärkerem Maße für die Fahrten der motorisierten Verkehrsteilnehmer als Inhaber von Laienrollen. Zum einen sind ihre Fahrten nicht an Organisationsmitgliedschaften gebunden, deren Zentralen die Fahrpläne vorgeben und mitzusteuern versuchen. Zum anderen sind die zentralen und dezentralen Steuerungsund Kontrollmechanismen der Verkehrspolizei (noch) zu grob und reaktiv, z.B. bei Verkehrsunfällen und Staus, als dass von einer einschneidenden Beeinflussung der Fahrten der motorisierten Verkehrsteilnehmer gesprochen werden könnte. Diese sind jedoch nicht ins Voraussetzungslose gebaut, sondern durchaus, wie wir noch sehen werden, an Strukturen des Verkehrssystems Straße gebunden, die ihre potenziell mögliche Komplexität in spezifischer Weise reduzieren. Die Fahrten des Verkehrssystems Straße lassen sich als Sequenz von flüchtigen Interaktionssystemen begreifen, die sich in fester und loser organisierte differenzieren. Während ersteres für die Fahrten der Inhaber von Leistungsrollen zutrifft, gilt letzteres, wie wir bereits erwähnten, für die motorisierten Verkehrsteilnehmer als Inhaber von Laienrollen. Auf deren Fahrten werden wir noch ausführlicher im Folgenden eingehen.
3.4.3.2 Spezifika der Straßenverkehrskommunikation Die Straßenverkehrskommunikation orientiert sich, wie das allgemeine Verkehrssystem, an den Leitdifferenzen motorisierte Mobilität/Immobilität und Schnelligkeit/ Langsamkeit. Abstrahiert man zunächst von der Binnendifferenzierung des Verkehrssystems Straße und von besonderen Straßentypen, dann lassen sich für den soziologischen Beobachter folgende Spezifika der Straßenverkehrskommunikation festhalten: Beim motorisierten Straßenverkehr wird die Sprache als Kommunikationsmedium weitestgehend durch andere Verständigungsmittel ersetzt. Mit Schrift, Zahlen, Piktogrammen auf Verkehrsschildern oder qua elektronischer Lichtzeichen durch Ampeln oder den Autokörper kommunizieren sie entweder generalisierte oder situationsspezifische raumzeitliche Hinweise und/oder Verhaltenserwartungen. Sie erscheinen als symbolische Kürzel bzw. kurzfristige Licht-und Farbveränderungen, denn sie müssen eindeutig und schnell verstanden und qua einfacher oder wechselseitiger visueller Wahrnehmung beobachtet werden können, da die motorisierten Verkehrsteilnehmer in der Regel fahren und nur in besonderen Fällen warten oder anhalten. Die kommunikativen Probleme des Verstehens und des Erreichens von Adressaten (Luhmann 1981g) werden im Kontext der Straßenverkehrskommunikation also nicht durch Sprache, sondern durch die den Tempoanforderungen der Fahrt angepassten konstanten und situationsspezifischen Verkehrszeichen gelöst. Gilt dies auch für das Problem des kommunikativen Erfolges? Das generelle Ausgangsproblem ist hier die Frage, wie Kommunikationsteilnehmer A durch seine Kommunikationsofferte B dazu bringt, diese zu akzeptieren, d.h. in sein Erleben oder Handeln zu übernehmen. Gibt es also für die Straßenverkehrskommunikation, wie bei anderen Funktionssystemen auch, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die als Sprachverstärkung bzw.-ersatz fungieren? Handelt es sich etwa um Macht bzw. Recht, Geld, Wahrheit, Liebe oder Glaube? (Luhmann 1975b; 1982a, 21ff.)
3. Funktionssysteme
Zunächst wäre man am ehesten geneigt, an durch Macht gedecktes Recht in Form der Straßenverkehrsordnung zu denken. In diesem Falle würde die Straßenverkehrskommunikation über normative Erwartungen in Form von Rechtsnormen gesteuert und die Fahrten würden sich durch die wechselseitige Befolgung von Rechtsnormen reproduzieren, auf denen die Erwartungssicherheit beruhte. Im Falle der Enttäuschung, z.B. eines Unfalles, würden entsprechende Rechtsverfahren mit Versicherungsschutz der Betroffenen einspringen. Eine weniger normativ orientierte Alternative kann jedoch nicht nur auf Recht als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium setzen. Dies deshalb nicht, weil die Autopoiesis des Verkehrssystems Straße qua Fahrten eine temporale Komplexität aufweist, die nicht allein durch den Mechanismus des lernunwilligen Rechtes steuerbar, sondern sehr stark auf die situationsflexible Akkordierung und Entscheidung der Verkehrsteilnehmer angewiesen ist. Deutlich wird dies u.a. am Fahrstil des Fahrschülers, der sich strikt an die Verkehrsregeln hält und gerade dadurch zum Verkehrshindernis wird, oder anhand vielfältiger Formen rechtswidrigen Fahrverhaltens, die aufgrund des Fahrttempos und der daraus resultierenden Identifikations-und negativen Sanktionsschwierigkeiten ungeahndet bleiben (z.B. Geschwindigkeitsüberschreitungen, Nötigungen durch Lichthupe, zu dichtes Auffahren etc.). Sucht man also nach einem Substitut (oder einer Ergänzung) des Rechtes als symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium der Straßenverkehrskommunikation, kann man die Kombination von symbolisch generalisierten Verkehrszeichen und situativ qua Ampeln und Autokörper mitgeteilten elektronischen Lichtzeichen als spezifisches symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium des Verkehrssystems Straße bezeichnen. Der kommunikative Erfolg/Misserfolg der Straßenverkehrskommunikation bemisst sich dann weniger an der Leitdifferenz konform/abweichend gemäß der Straßenverkehrsordnung als an den Leitdifferenzen schnell/langsam bzw. mobil/immobil. In einem gewissem Sinn ist dabei das Transportmedium Auto auf der Fahrbahn die Message (McLuhan/Fiore 1967), an dessen Zeichen und mobilem Vorhandensein man sich als Adressat der Kommunikation selbst dann orientiert, wenn sie, rechtlich betrachtet, regelwidriges Fahrtverhalten indizieren. Die Autopoiesis der Straßenverkehrskommunikation qua Fahrten erzeugt also eine spezifische Form der technisch ermöglichten Risikokommunikation, die sich im Zweifelsfall eher der Eigendynamik des Verkehrsflusses mit seinen überhöhten Geschwindigkeiten, zu dichten Abständen etc. als der Konformität der Verkehrsregeln fügt. Dass daran weder Radarkontrollen noch die hohe Zahl von Unfällen Entscheidendes ändern, verweist einmal mehr auf die spezifischen Erfolgsbedingungen der Straßenverkehrskommunikation, die sich nicht nur durch Recht steuern lassen.
3.4.3.3 Zur Binnendifferenzierung des Verkehrssystems Straße Wenn wir nun das Verkehrssystem Straße näher betrachten, wollen wir zunächst einige Aspekte respezifizieren, die wir im Zusammenhang mit dem Verkehrssystem in allgemeiner Form dargestellt haben. Was zunächst den Primärcode des Verkehrssystems Mobilität/Immobilität anbelangt, so differenziert sich das Straßensystem als Sozialraum entlang der Differenz von nah und fern in Europa-, Bundesautobahnen, Bundes-, Landes- und kommunale
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Straßen aus. Bedeutsam für die sozialräumliche Dimension in Form der Infrastruktur der Straßenverkehrskommunikation sind nun folgende Aspekte: Eine erste allgemeine Grenzziehung des Verkehrssystems Straße erfolgt durch die Unterscheidung von Fahrbahn, Randzone (Seitenstreifen, Parkplätze, Haltestellen, Rufsäulen etc.), Zwischenzone (Fahrradwege, Fußgängerwege) einerseits und Gebäudezonen und Freiflächen der übrigen Funktionssysteme andererseits. Eine zweite für die sozialräumliche Ausdifferenzierung des modernen Verkehrssystems Straße bedeutsamere Grenze stellt die zwischen Fahrbahn als Ort motorisierter Mobilität/motorisierter Immobilität und der Rand- und Zwischenzone dar. Während die Fahrbahn der Straße den exklusiven Ort motorisierter Mobilität verkörpert und motorisierte Immobilität hier normalerweise die Form temporären Wartens im Kontext einer lose gekoppelten Fahrzeugkette annimmt, wird die motorisierte Immobilität zusätzlich durch die Randzone symbolisiert. Hier signalisiert das stehende Fahrzeug primär ein Fahrtende durch Parken, was Formen des Einfädelns zu Fahrtbeginn oder temporären Wartens jenseits von Fahrzeugketten nicht ausschließt. Die Fahrrad-und Fußgängerwege der Zwischenzone gehören dann nicht mehr zur Fahrbahn. Sie indizieren stattdessen einen eigenständigen Sozialraum im Rahmen der erstgenannten Variante des erweiterten Verkehrssystems Straße, der sich auf körpergebundene Formen der Eigenmobilität bezieht. Als ausgeschlossenes eingeschlossenes Drittes können diese allerdings temporär auf der Fahrbahn erscheinen. Je nach Straßentyp liegt die Differenzierung der o.g. Raumzonen in unterschiedlicher Form vor. So scheiden für Autobahnen die Zwischen-und Gebäudezonen weitestgehend aus, während sie demgegenüber im Zusammenhang mit kommunalen Hauptund Nebenstraßen sehr wohl eine bedeutsame Rolle spielen. Die Differenzierung der Straßentypen führt zu einer graduellen Abstufung des Präferenzwertes räumliche Mobilität in der Form, dass von der Orts-, über die Landes-, Bundes- und Europastraße (-autobahn) die zurückzulegenden Distanzen zunehmen. Die Verkehrsinfrastruktur der Straßen ermöglicht damit Fahrten unterschiedlichster Entfernung, d.h. den kleinräumigen Nah- und Regionalverkehr einerseits und den großräumigen nationalen und internationalen Fernverkehr andererseits. Im Anschluss an die Leitdifferenz motorisierte Schnelligkeit/Langsamkeit können wir folgende allgemeine Beobachtungen der Temporalstruktur des Verkehrssystem Straße festhalten: Diese symbolisiert eine weitere Grenzziehung des Verkehrssystems Straße und schließt zunächst an die Raumzonen qua Inklusion aller Formen zielgerichteter Fortbewegung an, während sie das Flanieren, den Schaufensterbummel und die Fortbewegung im Rahmen geschlossener Gebäude an den Rand der Zwischen-und in die Gebäudezonen der übrigen Funktionssysteme abdrängt. In einem zweiten für die Temporalstruktur des Verkehrssystems Straße relevanteren Sinne der Grenzziehung exkludiert dieses qua Mindestgeschwindigkeiten alle nichtmotorisierten Formen der Fortbewegung von der Fahrbahn der Straßen. Diese erzeugt somit eine Eigenzeit von Fahrten qua Mindestgeschwindigkeit, die nur für motorisierte Fahrzeuge gilt und für die Rand- und Zwischenzonen nicht zutrifft. Durch graduelle Abstufung der zugelassenen Mindest-und Höchstgeschwindigkeiten, sprich Geschwindigkeitsbegrenzungen, entsteht eine Binnendifferenzierung der
3. Funktionssysteme
Eigenzeiten von Straßentypen mit entsprechender Inklusion/Exklusion von potenziellen Fahrzeugen. Dabei kommt es zu einer Kopplung von Raum und Geschwindigkeit. Je kleinräumiger die Straße, desto geringer, und je fernräumiger, desto höher ist die zugelassene Höchst- und Mindestgeschwindigkeit. Wir haben es also mit einer Steigerung und Limitierung der Fahrttempi des Verkehrssystems Straße zugleich zu tun. Die Eigenzeit des Verkehrsystems Straße wird darüber hinaus in Form der Fahrpläne des öffentlichen Nahverkehrs (Bus, Straßenbahn) deutlich. Sofern diese als Programme des Straßenverkehrs die Fahrtzeiten institutionalisieren, entstehen Probleme der Abstimmung mit den Temporalstrukturen der übrigen Funktionssysteme. Die verdichteten Taktzeiten der morgendlichen und abendlichen Rushhour lassen sich beispielhaft als ein systeminterner Lösungsversuch für diese Anpassungsprobleme anführen. Es überrascht deshalb auch nicht, dass die Automobilisierung im Sinne des motorisierten Individualverkehrs zunächst als Steigerung der Zeitautonomie und Erweiterung von Mobilitätschancen der Verkehrsteilnehmer interpretiert werden konnte. Indem sich die motorisierten Verkehrsteilnehmer von den fremdgesteuerten Fahrplänen der Anbieter des kommunalen Nahverkehrs befreien und in gewissen Grenzen ihre Fahrtzeiten selbst festlegen konnten, kam es zu einer simultanen Steigerung der Geschwindigkeit und Mobilität auf den Straßen und einer flexibleren Koordination der Eigenzeiten des Verkehrssystems mit denen der übrigen Funktionssysteme. Wartezeiten des Verkehrssystems Straße lassen sich in institutionalisierte (Rotphasen an der Ampel, Zebrastreifen, Anhalten an der Haltestelle etc.) und nichtinstitutionalisierte (Stop und go, Staus etc.) unterscheiden. Sie führen zu einer spezifischen Form motorisierter Langsamkeit bzw. Immobilität auf der Fahrbahn der Straße, die auf dem Hintergrund des Präferenzwertes motorisierte Schnelligkeit als gesteigerte Differenz von potenziell möglicher und faktischer Geschwindigkeit und der entsprechenden Störung kontinuierlicher Mobilitätserwartungen erlebt und kommuniziert wird. Betrachtet man die Grenzen des Verkehrssystems Straße im Hinblick auf die soziale Dimension, also im Zusammenhang mit Problemen der Sozialstruktur, so lassen sich folgende Aspekte herausarbeiten: Die Institutionalisierung des Verkehrssystems Straße erfolgt zunächst dadurch, dass im Kontext des kommunalen und regionalen Nahraums prinzipiell jedermann ohne besondere ökonomische, fachliche und altersgebundene Voraussetzungen am motorisierten öffentlichen Personennahverkehr teilnehmen kann. Man kann in diesem Zusammenhang von einer komplementären Rollendifferenzierung von primär inkludierten Laienrollen (Fahrgast) und Leistungsrollen (Busfahrer, Straßenbahnfahrer) sprechen. Diese symbolisiert die soziale Ausdifferenzierung gegenüber dem Fahrradund Fußgängerverkehr mit den Laienrollen der Fahrradfahrer und Fußgänger zum einen und den übrigen Funktionssystemen zum anderen. In dem Maße, in dem seit den 1960er Jahren bis heute die Automobilisierung in Form des motorisierten Individualverkehrs zunahm und zur dominanten Variante des Straßenverkehrs wurde, büßten Omnibus und Straßenbahn ihre exklusive Funktion als Transportmittel im Personennahverkehr ein und die Form der Primärinklusion ging auf den motorisierten Individualverkehr über. Diese ist an besondere Zulassungsvoraussetzungen (Führerschein) gebunden. Durch die Fahrschulen entsteht eine
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wichtige sozialisatorische Grenzstelle zum Straßenverkehr, die zur Standardisierung und Institutionalisierung der Verkehrsbiografie durch die Rolle des Fahrschülers führt. Andererseits springt die zunehmende Pluralisierung und Deinstitutionalisierung qua Automobilisierung und aktiver Übernahme der Rolle des Autofahrers ins Auge. Durch sie steigt die Multiinklusion in Form der Übernahme von Laienrollen im Verkehrssystem Straße, wobei die Rollen des Fahrgastes, des Fahrradfahrers und Fußgängers zunehmend kontingent werden, indem sie mit der Rolle des Autofahrers kombiniert oder durch sie ersetzt werden können. Mit der Automobilisierung steigert das Verkehrssystem Straße folglich Bindungen (neben der Übernahme der Rolle des Fahrschülers zugleich die des Versicherten), aber auch riskante Freiheiten (Beck/BeckGernsheim 1994) der Individuen dadurch, dass die Mobilität über den Nahraum des Straßensystems hinaus erweitert wird; die Verantwortung in Bezug auf die Sicherheit und Wartung des Automobils von den Inhabern der Leistungsrollen auf die der Laienrolle übergeht und die Geschwindigkeit des selbstgesteuerten Fahrzeugs sich im Vergleich zu Bus und Straßenbahn erhöht und selbst verantwortet werden muss. Neben der stratifizierten Differenzierung, die auf der Basis divergierender Einkommenschancen in das Verkehrssystem hineinwirkt und sich in Form von Conspicous consumption (vgl. Veblen 1981, auf dessen Titelseite der dtv- Taschenbuchausgabe typischerweise ein Auto abgebildet ist.) qua unterschiedlicher Autoklassen manifestiert, erzeugt das Verkehrssystem Straße selbst systeminterne feine Unterschiede. Zum einen durch die Differenz von fremd- und selbstgesteuerter Mobilität qua exklusiver Rollen des Fahrgastes und Autofahrers. Zum anderen durch Primär- und Sekundärinklusion im Hinblick auf die Fahrbahnspuren, die man mit Autos unterschiedlicher Geschwindigkeitsklassen befahren kann. Die funktionale Differenzierung des Verkehrssystems Straße lässt sich zum einen anhand der Grenzziehung in sachlicher Hinsicht und zum anderen bezüglich der Leistungen thematisieren, die es für die Umweltsysteme, inklusive der psychischen Systeme, erbringt. Die allgemeinste Differenz ist die von Personen und Gütern. Das Verkehrssystem Straße sortiert seine Umwelt grob nach der Art des Gegenstandes, den es zu transportieren gilt. Dies ist mit der Differenzierung von Personen- und Güterverkehr gemeint. Eine weitere Form der Differenzierung ergibt sich in Bezug auf die Transportmittel Bus, Straßenbahn, PKW, LKW, Motorrad, Moped und Fahrrad. An diese Differenz der Transportmittel schließt der Unterschied von motorisiertem Massenverkehr (öffentlicher Personennahverkehr) und motorisiertem Individualverkehr (PKW, LKW) einerseits und nichtmotorisiertem Individualverkehr (Fahrrad) andererseits an. Ferner lässt sich das Verkehrssystem Straße hinsichtlich des Fahrtanlasses differenzieren. Die Differenzierung von Berufs-, Schul-, Urlaubs-, Einkaufsverkehr usw. macht dies deutlich. Darüber hinaus gibt es Fahrtanlässe, die sich auf besondere Leistungen spezialisieren, wie Kontrolle, Verkehrs- und Unfallregelung, Krankentransporte und Rettungsdienste. Ihr Spezifikum besteht u.a. darin, dass sie den Folgeproblemen des Straßensystems Verkehr für die physische Integrität der Verkehrsteilnehmer durch besondere Privilegien (Blaulicht, situative Suspension der Verkehrsregeln etc.) im Kontext der Straßenverkehrskommunikation Tribut zollen dürfen.
3. Funktionssysteme
Schließlich lässt sich das Verkehrssystem Straße noch dahingehend unterscheiden, ob die Zulassung zum Straßenverkehr an besondere Organisationsmitgliedschaften gebunden ist oder nicht. Damit ist die Differenzierung zwischen öffentlichen und privaten Straßen gemeint. Letztere dürfen nur von Mitgliedern der jeweiligen Organisationen der Funktionssysteme oder von Nichtmitgliedern mit besonderer Genehmigung befahren werden. Die funktionale Differenzierung des Verkehrssystems Straße führt also zur Simultaneität von Geschlossenheit und Offenheit gegenüber der Umwelt dadurch, dass es die zu transportierenden Gegenstände und Transportmittel selegiert, seine Infra-, Temporal-und Sozialstruktur auf diese zuschneidet und sich zugleich qua Fahrtanlässen für die sachlichen Leistungserwartungen der Umweltsysteme öffnet. Dabei kann es aufgrund der Eigenlogik der Straßenverkehrskommunikation immer wieder zu Diskrepanzen zwischen der Funktion und den Leistungen des Verkehrssystems Straße kommen, an denen entsprechende Reformreflexionen (Luhmann/Schorr 1979) ansetzen.
3.4.3.4 Allgemeine Voraussetzungen automobiler Inklusion Unter automobiler Inklusion wollen wir vor allem die Teilnahme desjenigen Teils der Gesamtbevölkerung am Verkehrssystem Straße verstehen, die mit der Übernahme der Laienrolle des Autofahrers erfolgt. Um diese näher zu präzisieren, werden wir zunächst einige allgemeine Voraussetzungen und Implikationen der automobilen Inklusion; dann die spezifischen Funktionen des Autos und schließlich die körperliche Dimension der Inklusion der Person qua Rolle des Autofahrers erörtern. 3.4.3.4.1 Der Autofahrer Die soziale Rolle des Autofahrers kann potenziell jedermann übernehmen, der, wie bereits erwähnt, qua Verkehrssozialisation und -ausbildung einen Führerschein erworben, also die Rolle des Fahrschülers durchlaufen hat. Darüber hinaus muss er in sozio-ökonomischer Hinsicht in der Lage sein, sich den Kauf und Unterhalt eines Autos zu leisten, um die potenzielle Rolle in eine aktuelle zu transformieren. Die Laienrolle des Autofahrers ist also eng an das Einkommen qua Leistungsrolle oder andere Arten des Einkommens gebunden. Ferner übernimmt der Autofahrer qua Zulassung die Rolle des Pflichtversicherten, was auf die immanenten Risiken der Rolle des Autofahrers verweist. Schließlich ist die Übernahme der Rolle des Autofahrers keine rechtlich vorgeschriebene Rolle, wie z.B. die Schülerrolle oder die Rolle des Steuerzahlers, sondern eine freiwillig übernommene Rolle. Gleichzeitig gehört es jedoch zunehmend zur Normalerwartung an einen Erwachsenen, ein Auto zu besitzen oder zumindest fahren zu können. Wir können also als vorläufige Zwischenbilanz festhalten, dass die automobile Inklusion an komplexe sozialstrukturelle Voraussetzungen des Ausbildungs-, Wirtschaftsund Rechtssystems gebunden ist. Biografisch setzt die automobile Inklusion normalerweise mit der Volljährigkeit ein und kann dann potenziell bis zum Lebensende realisiert werden. Es handelt sich folglich um eine Form der Übernahme der Rolle des Verkehrsteilnehmers, die typisch für die Erwachsenenphase und, wenn auch mit abnehmender Tendenz, die Altersphase ist. Die Kindheits- und Teile der Jugendphase sehen eine automobile Inklusion qua Rolle des
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Autofahrers nicht vor. Ein Tatbestand, der sowohl auf ökonomische als auch auf die der Rolle des Autofahrers immanenten Risikofaktoren verweist. Ferner muss die Rolle des Autofahrers nicht mit dem Erreichen der Volljährigkeit übernommen werden, sondern es steht dem Individuum mit gewissen Einschränkungen (z.B. bestimmten Berufs-und Einwohnerrollen) weitestgehend frei, wann es sie nach Eintritt der Volljährigkeit übernehmen will. Die automobile Inklusion ist darüber hinaus an bestimmte Zeitbindungen und -rhythmen der übrigen Rollen (z.B. Ausbildungs-und Berufsrolle) des Individuums gebunden, was u.a. die zeitlich unterschiedlichen Verkehrsdichten verdeutlichen. Schließlich ermöglicht die automobile Inklusion eine relativ autonome Zeitplanung sowohl in Bezug auf den Beginn, die Dauer und die Beendigung der Fahrtzeit als auch das Fahrttempo. Indem der Autofahrer nicht mehr an die Fahrpläne der öffentlichen Verkehrsmittel gebunden ist, übernimmt er in einem erheblichen Maße die Verantwortung für das Timing seiner Fahrten. Man kann das Autoradio mit den Verkehrsmeldungen als ein funktionales Äquivalent für die simultane zeitliche Steuerung der Fahrten der öffentlichen Verkehrsmittel durch die Funkzentralen begreifen. Die Rolle des Autofahrers unterscheidet sich von vielen anderen Laienrollen u.a. dadurch, daß sie an eine Prüfung (Führerschein) gebunden ist. Man könnte sie folglich mit Stichweh (1988) auch als sekundäre Leistungsrolle bezeichnen, da sie z.B. im Unterschied zum Fußgänger oder Fahrgast des Omnibusses mit einer höheren Qualifikationsvoraussetzung verknüpft ist. Dagegen spricht, dass die Inklusion qua sekundärer Leistungsrolle (vgl. z.B. für das soziale Ehrenamt Goll 1991: 250ff.; Jakob 1993: 15ff.) normalerweise auf Minderheiten der Gesamtbevölkerung bezogen ist, während es sich bei der Rolle des Autofahrers um eine Rolle handelt, die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung in Anspruch genommen wird. Die Führerscheinprüfung als normative Voraussetzung der automobilen Inklusion hängt wohl primär damit zusammen, dass das Auto eine potenzielle Gefahrenquelle darstellt. Es ist deshalb notwendig, dass der Autofahrer das theoretische, normative und kognitive Wissen und die minimale praktische Erfahrung formal nachweisen kann, um zum Straßenverkehr zugelassen zu werden. Sein eigentliches Erfahrungs- bzw. Routinewissen erlangt er aber erst durch die Fahrpraxis, wie man unschwer am Vergleich zwischen einem Fahrschüler und erfahrenen Autofahrer beobachten kann. In Bezug auf die räumliche Dimension der automobilen Inklusion wird das Individuum mit der Übernahme der Rolle des Autofahrers in dem Sinne autonomer, als es sich von den Fahrplänen der öffentlichen Verkehrsmittel loslösen und seinen eigenen Streckenplan entwerfen kann. Der Autoatlas stellt in diesem Zusammenhang ein Substitut des Streckenplanes der öffentlichen Verkehrsmittel dar. Ferner ermöglicht die automobile Inklusion in räumlicher Hinsicht einen Beginn und eine Beendigung der Fahrt, die sehr nah mit dem Ausgangs-und Zielort verbunden sind. Die noch durch körpergebundene Eigenmobilität zurückzulegenden Strecken fallen entsprechend kurz aus. Schließlich erhöht sich generell die selbstbestimmte Mobilität sowohl in Bezug auf den Nah- als auch den Fernraum.
3. Funktionssysteme
3.4.3.4.2 Zur Multifunktionalität des Autos Wir wollen im Folgenden das Auto in räumlicher, zeitlicher, sozialer und sachlicher Hinsicht als privaten mobilen Transportraum, riskantes motorisiertes Geschwindigkeitsmobil, mobiles Kommunikationsmedium und Karrierevehikel unterscheiden. Das Auto als autonomer und privater mobiler Transportraum Die autonome Transportfunktion: die Reduktion der Binnendifferenzierung des Autos in normalerweise nur zwei Vorder- und maximal drei Rücksitze einerseits, Kofferraum und Dachrainer andererseits erzeugt eine spezifische Nähe des Transportraums, die durch den Privateigentümer (Fahrzeughalter) des Autos in einen mobilen Privatraum durch die autonome Selektion von Personen und Gütern transformiert werden kann. Dem Autofahrer ist somit die Möglichkeit eingeräumt, sich der räumlichen Nähe von unerwünschten Dritten und deren Habe zu entziehen und die Rolle des mobilen Gastgebers zu übernehmen. Darüber hinaus kann der Autofahrer der Tendenz nach jederzeit entscheiden, wo er anhält. Damit ist er dem Auto als mobilem Transportraum nicht in dem Maße ausgeliefert wie dem Bus, der Straßenbahn, der Bahn oder gar dem Flugzeug, wo er als Fahrgast (Insasse) beinahe wie in einer totalen Institution von den vorgegebenen Streckenzielen der Fahrer abhängig ist. Die Schutzfunktion: das Auto verkörpert einen mobilen und normalerweise geschlossenen Transportraum, der den Autofahrer gegenüber Gefährdungen der natürlichen Umwelt (z.B. Wetter, Insekten) und der sozialen Umwelt (z.B. andere Autos) relativ gut absichert. Die Beobachtungsfunktion: das Auto ermöglicht die Beobachtung und das Beobachtetwerden durch Windschutzscheiben, Seitenfenster und Rückfenster. Es konstituiert dadurch zugleich auch einen transparenten mobilen Sozialraum, der selbst bei widrigen Witterungsverhältnissen eine relativ unbehinderte Beobachtung, z.B. durch Scheibenwischer, garantiert. Tendenzen der Privatisierung lassen sich auch hier anhand der Abdunkelung von Seiten-und Rückfenstern, die den Einblick von außen erschweren, beobachten. Die ästhetische Funktion: schließlich ist dem Autofahrer als Besitzer die Möglichkeit der räumlichen Innen-und Außenausstattung des Autos qua Eigeninitiative gegeben. Er kann somit das Auto nicht nur als Transportmittel nutzen, sondern zugleich auch als Autokörper ästhetisch im Sinne einer Autokultur als Teil der Verkehrskultur zu kommunikativen Zwecken der Selbstdarstellung einsetzen (Bette 1989). Das Wohnmobil ist letztlich die radikalisierte Konsequenz dieser Tendenzen. Fazit: sieht man die Funktionen des Autos als mobilem Transportraum auf einen Blick, so kann man den Siegeszug des Autos und damit die Inklusionsverschiebung vom öffentlichen zum Individualverkehr hinsichtlich der räumlichen Funktionen des Autos damit erklären, dass das Auto offensichtlich dasjenige Transportmedium darstellt, das der Wohnung am nächsten kommt. Man kann von einer Reprivatisierung respektive Reintimisierung der Mobilität qua Auto sprechen, für die weder der Bus oder die Straßenbahn noch die motorisierten Zweiräder funktionale Äquivalente darstellen.
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Das Auto als autonom gesteuertes und riskantes motorisiertes Geschwindigkeitsmobil Die Geschwindigkeits-und kontinuierliche Mobilitätsfunktion: Das Auto ist vor allem ein mobiler Transportraum. Der Präferenzwert motorisierte Schnelligkeit lässt sich anhand vielerlei technischer Standards des Autos ablesen: beginnend bei der PS-Zahl und dem Hubraum des Motors, über die sportliche Konstruktion des Autos, die Reifenstärke und das Reifenprofil bis hin zum Tachometer, der die potenzielle Höchstgeschwindigkeit anzeigt. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass der Autofahrer qua Auto in die Lage versetzt wird, das Tempo und die Fahrtzeit weitestgehend selbst zu bestimmen. Bedeutsam ist darüber hinaus die kontinuierliche Mobilitätsfunktion des Autos. Auf diese stellen zum einen die Verbreitungsmedien Autofunk und Autotelefon ab, die den Autofahrer während der Fahrt über eventuelle Fahrtverzögerungen informieren. Zum anderen die Fernsehwerbung der Automobilindustrie, die zunehmend mit dem geringeren Spritverbrauch ihrer Modelle wirbt (z.B. VW). Die Sicherheitsfunktion: Das Auto stellt als Geschwindigkeitsmobil in Kombination mit seiner Größe und Schwere eine Gefahr für die Insassen und Dritte dar. Die diversen Sicherheitsvorkehrungen (Sicherheitsgurt, Airbag, besondere Bremssysteme (ABS), spezielle Reifenprofile, Türen mit Seitenschutz, Feuerlöscher etc.) verweisen auf das Auto als mobiles Risiko. Mit der Übernahme der Rolle des Autofahrers geht also nicht nur eine Steigerung der Zeitautonomie mit entsprechender Verantwortung für die Gestaltung der Zeitpläne einher, sondern zugleich auch eine größere Eigenverantwortung für die Wartung und Sicherheit des Autos. Zwar werden dem Autofahrer gewisse Entscheidungsfreiheiten durch Sicherheitsvorschriften, Überwachungsdienste (TÜV) und serienmäßige Einbauten von Schutzvorkehrungen genommen, dennoch ist er letztlich selbst für die Kontrolle seines Autos zuständig. Fazit: Indem das Auto dem Autofahrer die Möglichkeit einräumt, seine Fahrtzeit und das Tempo seiner Fahrt relativ autonom zu bestimmen, steigert der Autofahrer qua Teilnahme am Individualverkehr seine Freiheit im Hinblick auf institutionalisierte Fahrpläne des öffentlichen Straßenverkehrs. Gleichzeitig wächst jedoch auch seine Eigenverantwortung und sein Risiko und die Gefahr für Dritte, indem er nun in stärkerem Maße als als Fahrgast für die Folgeprobleme wie überhöhte Geschwindigkeit, Verspätungen und mangelnde Sicherheitsvorkehrungen haftbar gemacht werden kann. Das Auto als mobiles Kommunikationsmedium Die Identifikationsfunktion: Da das Auto und nicht der Fahrer primär auf der Straße wahrgenommen wird, ersetzt es in gewissem Sinne die Identifikation der Person als Adressstelle von Kommunikation (Luhmann 1995d). Das Fahrzeugkennzeichen ist das evidenteste Beispiel dafür. Die Kommunikationsfunktion: Weil der Autofahrer während der Fahrt weder sprachlich noch mit seinem Körper in einem relevantem Maße mit anderen Verkehrsteilnehmern kommunizieren kann, sieht man einmal von gewissen Elementen der Körpersprache ab, die sich häufig auf negative expressive Äußerungen infolge von faktischem oder scheinbarem Fehlerverhalten anderer Verkehrsteilnehmer beziehen, dominieren die von dem Autofahrer betätigten elektronischen Lichtzeichen (Scheinwerfer, Vorder-und Rücklichter, Blinker, Lichthupe) die Kommunikation. Dabei spielt deren selektive wechselseitige visuelle Wahrnehmung am Autokörper eine entschei-
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dende Rolle für die gelingende Kommunikation. Akustische Zeichen, wie Hupen, treten demgegenüber eher in den Hintergrund. Die Selbstdarstellungsfunktion: Die Automarke, die Autoklasse, die Ausstattung, das Baujahr des Autos, die Farbe und das Design, die Autopflege und nicht zuletzt der Fahrstil verweisen auf komplexe Möglichkeiten der individuellen Selbstdarstellung des Autofahrers qua Autokörper mit Präferenz-und Negativwerten, die je nach Milieu, Geschlecht und Alter des Fahrers variieren und in Anknüpfung an eine Verkehrskultur decodiert werden müssten (bei Schulze 1993: 322 lassen sich dafür erste Ansätze im Zusammenhang mit dem Unterhaltungsmilieu finden). Fazit: Das Auto ist also nicht nur privater mobiler Transportraum und Geschwindigkeitsmobil, sondern auch ein mobiles Kommunikationsmedium, das aufgrund der spezifischen Form der körperlichen Inklusion des Autofahrers das Individuum weitestgehend von körpergebundenen Formen der Kommunikation entlastet. Darüber hinaus stellt es wohl eines der wichtigsten Statussymbole dar. Das Auto als Karrierevehikel Anhand des Autotyps (Familienauto, Sportwagen, Dienstauto, Stadtauto, Zweitwagen, Gebrauchtwagen, Off-road Auto, Cabriolet etc.) lässt sich seine primäre Nutzung ablesen, so dass man von einer Autokarriere sprechen kann, die in einer nichtbeliebigen Relation zum Lebenslauf und den übrigen Rollen des Individuums steht. Mit der Automobilisierung geht somit eine Pluralisierung des Fahrzeugangebotes durch die Autoindustrie einher, die den Ansprüchen der unterschiedlichen Funktionssysteme (Familie, Beruf, Freizeit), Jahreszeiten, Milieus und Altersgruppen Tribut zollt. 3.4.3.4.3 Zur körperlichen Inklusion des Autofahrers Mit der Übernahme der Rolle des Autofahrers entsteht während der Fahrt eine eigentümliche simultane Dynamik von Eigenmobilität des Autos durch den es sitzend steuernden Fahrer und Fremdmobilität durch das den sitzenden Fahrer transportierende Auto. Er wird zum unbewegten und bewegten Beweger zugleich. Die wesentliche Energie und Mobilität geht auf das Auto über, das zur dominanten Erscheinung auf der Fahrbahn der Straße wird. Die Immobilität des Autos (z.B. ein stehendes Auto) und der Körperhaltung von Personen (Liegen, Sitzen oder Stehen), entkoppelt von einem Transportmittel, alarmieren deshalb auch den Autofahrer in höchstem Maße, wenn sie unerwartet auf der Fahrbahn der Straße wahrgenommen werden. Der Autofahrer muss die sitzende Haltung im Auto mit anderen Operationen seines Körpers koordinieren, die für ihn zu Routinehandlungen geworden sind. Mit seinen Händen lenkt er das Steuerrad und mit seinen Füßen bedient er, je nach Verkehrssituation, die Bremse, das Gas- und das Kupplungspedal. Diese Routinehandlungen sind die Voraussetzung dafür, dass er den Blick frei hat für die Beobachtung der Fahrbahn. Dabei beobachtet er unter spezifischen Bedingungen, nämlich nach vorne durch die Windschutzscheibe, nach rechts und links mit Hilfe von Seitenspiegeln und nach hinten qua Rückspiegel. Während der Autofahrer im Auto sitzt, ist er auf keine besondere Schutzkleidung oder einen Schutzhelm angewiesen, da er sich normalerweise in einem geschlossenen
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Transportmittel fortbewegt. Er sitzt auch relativ bequem, indem er sich mit dem Rücken anlehnen und den Sitz seiner Größe anpassen kann. Den einzigen Tribut, den sein sitzender Körper potenziellen Gefahren zollen muss, besteht in der Anschnallpflicht. Da sich nicht der Autofahrer, sondern das Auto unmittelbar auf der Fahrbahn fortbewegt, erlebt er die Geschwindigkeit, die Beschaffenheit der Fahrbahn und Umwelteinflüsse nicht direkt am Körper, sondern indirekt durch den Autokörper, z.B. qua Motorgeräuschen, Erschütterung der Karosserie oder Irritationen der Spurenführung. Es ist primär die Energie des Autos, die in Form von Sprit, Öl etc. verbraucht wird, und nicht die Körperenergie des Autofahrers im Gegensatz zum Fahrgast, Fußgänger oder Fahrradfahrer. Gleichwohl investiert der Autofahrer durchaus Körperenergien, indem er kontinuierlich das Fahrtgeschehen beobachten muss. So darf er es sich im Unterschied zum Fahrgast keineswegs erlauben, für längere Zeit seine Aufmerksamkeit von der Fahrbahn dadurch abzuziehen, dass er während der Fahrt schläft, die Landschaft beobachtet, liest etc. Kurzum: er muss seinen Körper in einem bestimmten Sinne disziplinieren, der es ihm jederzeit ermöglicht, auf unvorhergesehene Verkehrssituationen zu reagieren. Das soeben Gesagte schließt es freilich nicht aus, dass er während er fahrend sitzt, zugleich anderen Aktivitäten, z.B. Rauchen, Telefonieren, Essen, Trinken, Radio hören, sich unterhalten etc., in gewissem Rahmen nachgehen kann. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass sie immer der kontinuierlichen Beobachtung des Fahrtgeschehens untergeordnet bleiben müssen und sich nicht zu Eigenhandlungen mit besonderer Aufmerksamkeit verselbständigen dürfen. Sofern dies geschieht, z.B. eine Zigarette herunterfällt; eine Unterhaltung mit dem Beifahrer zu einem Streitgespräch eskaliert oder ein Telefonat eine wichtige Information mitteilt, kann es zu nichtkalkulierbaren Risiken mit drastischen Folgeproblemen für andere Verkehrsteilnehmer und den Autofahrer selbst kommen. Im Kontext der Straßenverkehrskommunikation spielt der Körper des Autofahrers eine periphere Rolle als Kommunikationsmedium. Die zentralen körpergebundenen Gesten, wie sie z.B. beim Fahrradfahrer in Form von Handbewegungen beim Abbiegen vorliegen, werden qua Lichtzeichen des Autokörpers substituiert. Fazit: Das Spezifikum der körperlichen Inklusion qua Automobilisierung des Autofahrers besteht also darin, dass er sich sitzend qua Auto fortbewegt. Dies geschieht zum einen im Unterschied zu stärker körpergebundenen Formen der Eigenmobilität im Straßenverkehr (z.B. Fußgänger, Fahrradfahrer, motorisierter Zweiradfahrer) unter verhältnismäßig komfortablen und sicheren Bedingungen. Zum anderen impliziert die körperliche Inklusion des Autofahrers im Gegensatz zur Rolle des Fahrgastes eine weitaus stärkere Konzentration auf das Fahrtgeschehen. Während dieser sich nahezu völlig aus der Beobachtung der Straßenverkehrskommunikation ausklinken kann, ist dies beim Autofahrer mit grob fahrlässigen Fahrverhalten gleichzusetzen.
3.4.3.5. Straßentypen Wir wollen im Folgenden unsere bisherigen allgemeinen Überlegungen zum Verkehrssystem Straße in der Form konkretisieren, dass wir unsere Beobachtung auf zwei zentrale Straßentypen lenken: die Autobahn und die urbanen Straßen. Dabei werden wir jeweils zunächst die je spezifischen strukturellen Voraussetzungen der beiden Straßen-
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typen und daran anschließend die Implikationen für das Erleben und Handeln der Autofahrer vergleichend herausarbeiten. Im Vordergrund steht also bewusst die Perspektive des automobil inkludierten Autofahrers und nicht die der anderen Verkehrsteilnehmer. 3.4.3.5.1 Die Autobahn als Paradigma der Fernmobilität und Höchstgeschwindigkeit Strukturmerkmale der Autobahn Die Infra-, Temporal-und Sozialstruktur der Autobahn reduzieren die Komplexität der sich kontinuierlich tagtäglich reproduzierenden millionenfachen Fahrten des Verkehrssystems einer nationalen Gesellschaft qua Interdependenzunterbrechungen zu den anderen Subsystemen des Verkehrssystems. Dadurch ermöglichen sie eine bestimmte Form von Fahrten, die sich als Autobahnfahrten im Unterschied zu anderen Fahrten beobachten lassen. Andererseits transzendieren die einzelnen Fahrten als Gesamtfahrten des Verkehrssystems immer auch das Subsystem Autobahn, da der Ausgangs- und Zielort einer Autobahnfahrt selten mit dem Ausgangs- und Zielort der Gesamtfahrt übereinstimmt. Die Autobahnfahrten stellen insofern normalerweise eine Teilstrecke respektive Teilphase einer Gesamtfahrt dar. Was zunächst die Infrastruktur und damit den Sozialraum der Autobahn anbetrifft, so fällt auf, dass hier semantisch von Autobahn und nicht von Autostraße die Rede ist. Dies deutet bereits auf mehrere Besonderheiten hin, wie wir sie nun im Anschluss an die Leitdifferenz motorisierte Mobilität/Immobilität entwickeln wollen. Hinsichtlich des Präferenzwertes motorisierte Mobilität stellt die Autobahn denjenigen Straßentyp dar, dessen Straßennetz als Fahrbahnnetz bezüglich der Entfernung am weitesten reicht und insofern die nahezu grenzenlose Mobilität im Kontext des Straßensystems am deutlichsten zum Ausdruck bringt. Räumliche Grenzen des Fahrbahnnetzes der Autobahn lassen sich jedoch noch zum einen intern an den Übergängen zu den Nationalstaaten beobachten, wenn diese auch zunehmend aufgeweicht werden. Zum anderen in Bezug auf die externe Umwelt in Form anderer Straßentypen, da die Ausgangsund Zielorte der Fahrten in den seltensten Fällen direkt an das Fahrbahnnetz der Autobahn angebunden sind. Dabei fällt auf, dass die sozialräumliche Anbindung an die externe Umwelt der anderen Straßentypen nur in größeren Abständen erfolgt. Dies reduziert einerseits die Notwendigkeit der Tempodrosselung durch Zufahrtsverkehr, führt andererseits dazu, dass im Falle des Irrtums des Fahrtziels lange Umwege in Kauf zu nehmen sind und diejenigen Kommunen, die fernab von der Autobahn liegen, infrastrukturell schwerer erreichbar sind. Ferner ist das Fahrbahnnetz der Autobahn sozialräumlich weitestgehend segmentär differenziert, d.h. Autobahn schließt an Autobahn an. Der Vorteil dieser Form der Vernetzung der Fahrbahn besteht darin, dass Zeitverzögerungen durch die Notwendigkeit des Überwechselns auf andere Straßentypen über weite Strecken verhindert werden. Die sozialräumliche Identifikation der Fahrbahnstrecken des Autobahnnetzes erfolgt sowohl qua Nummerierung von Teilautobahnen als auch durch Kilometersteine, die für eine groß- und kleinräumige Verortung des jeweiligen Streckenabschnittes sorgen. Dabei fällt im Unterschied zum übrigen Straßensystem die abstraktere und funktionalere Identifikationsfolie auf. Es wird nämlich von Namen auf Ziffern umgestellt. Dies drückt den zugleich passageren und anonymen Typus der Autobahn als Straßentyp in besonderer Form aus. Notwendig ist die sozialräumliche Identifikation
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der Fahrbahnstrecke aus den unterschiedlichsten Gründen: für die Verkehrsplanung und-steuerung, die Reiseplanung, für Staumeldungen, Hilfeleistungen bei Unfällen etc. Ein weiteres Spezifikum der Autobahn besteht darin, dass ihre Fahrbahnen in der Regel mindestens zwei Fahrspuren in jeweils eine Richtung aufweisen. Damit wird zum einen verhindert, dass den Verkehrsteilnehmern Fahrzeuge in der gleichen Fahrtrichtung entgegenkommen (das Phänomen der Geisterfahrer wird damit als eine spezifische Form der Abweichung strukturell erst erzeugt). Zum anderen wird die Möglichkeit des Überholens ohne Gegenverkehr erleichtert. Darüber hinaus kann schneller als auf anderen Fahrbahnen gefahren werden. Und schließlich wird dadurch die räumliche Präferenz für kontinuierliches Vorwärtsfahren radikalisiert und die Möglichkeit des Rückwärtsfahrens, wie beispielsweise beim Rückwärtseinparken im Kontext eines Teiles der urbanen Straßen, zu einem strukturellen Tabu. Eine weitere Besonderheit der Infrastruktur der Autobahn ist darin zu sehen, dass an die Fahrbahn der Autobahn allenfalls Randzonen in Form von Seitenstreifen anschließen, Zwischenzonen jedoch ebenso wie Gebäudezonen anderer Funktionssysteme in der Regel wegfallen (Ausnahmen stellen Stadtautobahnen dar). Es dominieren die Freiflächen der übrigen Funktionssysteme. Parkzonen sind in Form von Parkplätzen in regelmäßigen Abständen abseits der eigentlichen Fahrbahn angelegt und für sonstige Fahrtunterbrechungen (z.B. Fahrtpausen mit der Möglichkeit eines Imbisses) gibt es Autobahnraststätten. Darüber hinaus werden mögliche Gefahren durch nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer von vornherein vermieden, indem diese auf Sonderzonen (z.B. die o.g. Parkzonen) abgedrängt werden, wo sie ihren übrigen Rollen nachgehen können. Schließlich zeichnet sich die Infrastruktur der Autobahn als Fahrbahn dadurch aus, dass sie weder von Fußgängerwegen (Zebrastreifen) noch von Kreuzungen oder Ampelschaltungen unterbrochen wird. Resümiert man den Aufbau der Infrastruktur des Fahrbahnnetzes der Autobahn und der sich an sie anschließenden Raumzonen, so wird deutlich, dass sie denjenigen Straßentyp verkörpert, der sozialräumlich am stärksten gegenüber der Umwelt ausdifferenziert und am spezifischsten auf die Mobilitätserfordernisse und damit auf die ungehinderte Fortbewegung für weite Entfernungen qua Fahrten zugeschnitten ist. Was nun den Sekundärcode motorisierte Schnelligkeit/Langsamkeit, also die Temporalstruktur der Autobahn betrifft, so wird der Präferenzwert Schnelligkeit in Richtung Höchstgeschwindigkeit gesteigert. Die Autobahn stellt also denjenigen Straßentyp dar, der im Rahmen der graduellen Abstufung der Geschwindigkeit als Maßeinheit (gefahrene Kilometer pro Stunde) der Leitdifferenz Schnelligkeit/Langsamkeit potenziell die höchsten Geschwindigkeiten zulässt, was nicht zuletzt durch die bereits erwähnte Infrastruktur zum Ausdruck kommt. Die Besonderheit der Temporalstruktur der Autobahn wird darüber hinaus dadurch deutlich, dass nichtmotorisierte Transportmittel, also Fahrräder und Fußgänger, ebensowenig zur Straßenverkehrskommunikation zugelassen sind, wie bestimmte motorisierte Transportmittel (Omnibusse, Straßenbahnen des Personennahverkehrs, Zweiräder, z.B. Mopeds und Mofas). Die Ausdifferenzierung der Autobahn findet also auch durch Mindestgeschwindigkeiten statt, die ein Transportmittel fahren können muss, soll es zur Autobahnfahrt zugelassen werden. Die temporale Selektivität führt mithin dazu, dass ein gewisses Fahrttempo nicht unterschritten werden darf, das
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im Kontext anderer Straßentypen (z.B. Ortsstraßen) die Höchstgeschwindigkeit verkörpert. Andererseits indiziert sie die Exklusion bestimmter Bevölkerungssegmente als Autofahrer, z.B. die von Kindern und Jugendlichen (Dass Anhalter vornehmlich Jugendliche sind, hängt u.a. damit zusammen). Die Temporalstruktur der Autobahn wird auf der Basis der Limitierung durch eine zugelassene Mindestgeschwindigkeit nochmals binnendifferenziert, indem die Fahrtspuren binär in schnellere (Überholspur) und langsamere schematisiert werden. Gibt es weitere Fahrtspuren, werden die langsameren Fahrzeuge, speziell die LKWs, auf die äußerst rechte Spur verwiesen. Dort, wo keine Tempolimits explizit vorgeschrieben sind, geht die Entscheidung der gefahrenen Geschwindigkeit auf den Fahrer über. Die Verkehrskommunikation der Autobahn wird in diesem Fall zu einer gesteigerten Form der Risikokommunikation, indem sie die Bestimmung der Tempogrenzen der autonomen Entscheidung der Autofahrer überlässt. In Abhängigkeit von der möglichen Höchstgeschwindigkeit des eigenen Autos sowie der Risikobereitschaft und Fähigkeit zur Selbstbegrenzung des Autofahrers kann die Autobahn dann zu einer Rennstrecke werden, die das Abenteuer des eigenen Geschwindigkeitsrausches zur potenziellen Lebensgefahr für andere Verkehrsteilnehmer werden lässt. Eine weitere Besonderheit der Temporalstruktur der Autobahn besteht darin, dass die Konditionierung der Fahrtzeiten nicht, wie beispielsweise beim Flug-, Bahn-oder Busverkehr, durch zentral gesteuerte Fahrpläne erfolgt, sondern allenfalls durch Tempolimits mittels der oben erwähnten Mindest-und Höchstgeschwindigkeiten. Dies impliziert zum einen, dass die Planung der Fahrtzeiten den Verkehrsteilnehmern überlassen, also autonomisiert wird. Zum anderen bedeutet es eine Reduktion zeitlicher Steuerungsmöglichkeiten der Autobahnfahrten durch entsprechende Organisationen des Verkehrssystems. Die Autobahn lässt sich also resümierend im Hinblick auf die Temporalstruktur des Verkehrssystems Straße als Paradigma des fließenden Verkehrs und der Möglichkeit der prinzipiell nur qua technischer Limitierung des Autos oder Motorrades begrenzten Höchstgeschwindigkeit begreifen. Da es keine infrastrukturell vorgesehenen Stopps auf der Fahrbahn gibt, ist darüber hinaus eine potenziell sich ständig reproduzierende Mobilität von Fahrten möglich, die selbst zu Nachtzeiten nicht zum Stillstand kommt. Dies schließt es allerdings nicht aus, dass es situativ zu nichtinstitutionalisierten Wartezeiten und damit zu Formen motorisierter Langsamkeit bis hin zum Stillstand kommt, wie wir noch sehen werden. Die Sozialstruktur der Autobahn ist zunächst durch das Prinzip der segmentären Differenzierung gekennzeichnet, d.h. dass es mehrere Einheiten des gleichen Typs Autobahnen gibt, die einen regional annähernd gleichen Zugang der motorisierten Verkehrsteilnehmer zu ihnen ermöglichen. Das Prinzip der stratifizierten Differenzierung liegt in Bezug auf das Gesamtsystem der Autobahn nicht mehr in der Form vor, dass die Primärinklusion qua Übernahme der Rolle des Autofahrers an traditionelle schichten-oder klassenspezifische Voraussetzungen gebunden ist (Geißler 1992; Hradil 1993). Sofern Formen der stratifizierten Differenzierung weiterhin kontinuieren, lassen sie sich allenfalls anhand der Primärexklusion der von Einkommensarmut betroffenen sozialen Randschichten (Geißler 1992, 166ff.) festmachen. Statusdifferenzierungen manifestieren sich jedoch qua Wahl der jeweiligen
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Autoklasse, an die sich entsprechende Differenzkriterien wie Automarke, Formschönheit, Größe, Sicherheit, Benzinverbrauch etc. anschließen lassen. Sie können sich zu feinen Unterschieden im Sinne der Sekundärinklusion ausweiten, die sich durch höhere Mobilitätsraten und eine Präferenz für die Überholspur auf der Autobahn bemerkbar machen. Was schließlich die funktionale Differenzierung der Autobahn anbelangt, so stellt sie denjenigen Straßentyp dar, der im Unterschied zu allen anderen Subsystemen des Verkehrssystems Straße den Typus des motorisierten Individualverkehrs am deutlichsten verkörpert. Die Rolle des Fahrgastes wird hier am ehesten durch die des automobilen Fahrers oder Motorradfahrers in Form der Laienrolle substituiert; darüber hinaus eignet sich die Autobahn am besten für weite und schnelle Fahrten, stellt also das Paradigma für den Fernverkehr mit entsprechenden Differenzierungsformen (Reise-, Güter- und Dienstleistungsverkehr) dar; ferner hat sie zusätzlich den Pendlerverkehr zu bewältigen, sofern es sich um Autobahnen in der Nähe von Ballungszonen handelt, und schließlich symbolisiert sie eine Art Passage im Kontext des Verkehrssystems Straße, da sie in den seltensten Fällen Ausgangs-und Zielort der einzelnen Fahrten ist, sondern strukturell mit dem übrigen Straßensystem verknüpft ist, das zum Ausgangs- oder Zielort führt. Die Autobahnfahrt: das Erleben und Handeln des Autofahrers Wenn wir im Folgenden die Autobahnfahrt aus der Perspektive des Erlebens und Handelns des Autofahrers soziologisch beobachten, dann gehen wir von mehreren Prämissen aus, die an die bisherigen Ausführungen anschließen. Wir begreifen die Autobahn als ein Subsystem des Verkehrssystems Straße. Die einzelne Autobahnfahrt ist dabei als ein räumliches und temporales Basisereignis zu sehen, das, sofern der Autofahrer sich nicht allein auf der Autobahn fortbewegt, aus einer Sequenz von lose organisierten flüchtigen Interaktionen besteht. Diese werden zwar durch die Einschränkungen der erörterten Strukturen des Subsystems Autobahn und die Steuerungszentralen der Verkehrspolizei in ihrer spezifischen Selektivität überhaupt erst möglich, weisen jedoch gleichwohl eine spezifische Eigenkomplexität auf, die nicht nur auf jene zurückzuführen ist (Vgl. dazu auch allgemein Luhmann 1984, 388ff. und 551ff.). Darüber hinaus handelt es sich bei der Autobahnfahrt um eine Teilfahrt einer Gesamtfahrt. Sie beginnt mit der Auffahrt zur und endet mit der Abfahrt von der Autobahn, ist aber retrospektiv durch den Abfahrtsort und prospektiv durch den Ankunftsort zeitlich mitbestimmt, aber nicht determiniert. Schließlich verzichten wir bewusst auf eine Feinanalyse im Sinne einer Typendifferenzierung von unterschiedlichen Fahrtanlässen oder Autofahrern. Wir konzentrieren uns vielmehr bei unseren systemtheoretisch und phänomenologisch gesteuerten Beobachtungen auf zentrale Fahrt-, Erlebens-und Handlungsmuster, an die, so hoffen wir, detaillierte empirische Analysen mit Gewinn anschließen können. Wenn der Autofahrer auf die Autobahn fährt, wechselt er von einem Straßensystem (Autobahnzubringer, Bundes-, Landstraße und kommunale Straße) in ein anderes über. Seine fokussierte Aufmerksamkeit ändert sich nun in dem Sinne, dass sein Erleben und Handeln der Verkehrskommunikation eine Differenz zu den vorhergehenden Straßentypen aufweist. In räumlicher Hinsicht ist von besonderer Bedeutung, dass sich die Selektion seiner Wahrnehmung in der Weise verschiebt, dass bestimmte Umwelten von ihm nicht mehr
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beobachtet werden müssen, während demgegenüber andere Umwelten an Relevanz gewinnen. Der Autofahrer kann sich gegenüber dem Geschehen auf der Gegenfahrbahn weitestgehend indifferent verhalten, weil die von ihm befahrene Fahrbahn in der Regel durch Mittelleitplanken von jener abgegrenzt ist. Das sozialräumliche Arrangement der Autobahn ermöglicht ihm somit eine Reduktion und Konzentration des Beobachtungsraumes auf seine Fahrbahn. Die Randzonen, Zwischenzonen und Gebäude-bzw. Freizonen der übrigen Funktionssysteme spielen für seine Wahrnehmung als Autofahrer eine untergeordnete Rolle. Zwischen- und Gebäudezonen kommen kaum vor und die Randzonen besitzen für ihn nur dann eine Relevanz, wenn von dort aus Irritationen für die Fahrt auftreten könnten, z.B. durch eine Autopanne. Sofern überhaupt Gebäudezonen für seine Beobachtung von Bedeutung sind, handelt es sich um Tankstellen oder Raststätten, also um Sozialräume, die funktional auf den Straßenverkehr und die automobile Inklusion zugeschnitten sind, sei es durch Energiezufuhr oder Wartung des Autos, sei es in Form der Ermöglichung von Pausen für den Autofahrer. Letzteres gilt auch für bestimmte Freizonen wie Parkplätze. Dies schließt nicht aus, dass der Autofahrer zugleich Teile der Landschaft oder der vorbeiziehenden Gebäudezonen der Gemeinden und Städte mitwahrnehmen kann. Dabei handelt es sich aber um systemexterne Wahrnehmungen, die die Komplexität der Raumwahrnehmung temporär wieder in sein Beobachtungsfeld hineinholen und der funktional spezifischen Raumwahrnehmung des Fahrtgeschehens nachgeordnet bleiben müssen. Eine weitere Reduktion des räumlichen Beobachtungsfeldes des Autofahrers findet in der Form statt, dass er sich über weite Teile der Fahrtstrecke nur auf die Fahrzeuge, die vor, hinter und neben ihm fahren, konzentrieren und mit Zugangsverkehr nur in relativ großen Abständen rechnen muss. Gleichzeitig hat er es nur mit motorisierten Verkehrsteilnehmern zu tun, andere spielen für das Fahrtgeschehen im Normalfall keine Rolle. Da der Autofahrer qua automobiler Inklusion an der Autobahnfahrt teilnimmt, beobachtet er sein räumliches Wahrnehmungsfeld sitzend aus dem Auto als einem geschlossen Transportraum durch Fenster und Spiegel heraus. Damit ist eine weitere Reduktion der Komplexität seines Wahrnehmungsfeldes verbunden. Face-to-face-Begegnungen sind somit aufgrund des bereits erwähnten Ausschlusses des Gegenverkehrs auf der Autobahn eher selten anzutreffen (z.B. beim Überholen). Die Präferenz für die räumliche Vorwärtsorientierung des Blickes ist eng an die Fahrtrichtung gebunden, die ein Rückwärtsfahren auf der Autobahn strengstens sanktioniert. Der Autofahrer verändert ständig durch Automobilität seine Raumstelle auf der Fahrbahn der Autobahn und wird damit auch kontinuierlich mit neuen Raumwahrnehmungen konfrontiert. Dies führt zu einer flüchtigen Form der jeweiligen Wahrnehmung des Raumes, besonders des Autokörpers, vor allem aber auch des Körpers anderer Autofahrer, die ein längeres Verweilen des Blickes und eine genauere Beobachtung nur aufgrund von Fahrtunterbrechungen oder konstanten Fahrtabständen ermöglicht. Sofern der Autofahrer seine Fahrtstrecke kennt, bedarf er keines Autoatlasses zur Orientierung, sondern hat er die Fahrtstrecke im Gedächtnis gespeichert. Gleichwohl kann und wird er sich qua Autofunk darüber informieren, ob bestimmte Veränderungen, z.B. Baustellen, Sperrungen von Abfahrten, Unfälle oder Staus, vorliegen. Er beob-
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achtet also nicht nur unmittelbar, sondern lässt sich zusätzlich qua Autofunk über auf ihn zukommende Beobachtungen informieren, um nicht von Veränderungen der Fahrtstrecke oder der Fahrbahn überrascht zu werden. Dabei wird von ihm erwartet, dass er sich diesen Veränderungen kognitiv, also in der Bereitschaft des Lernens, anpasst. Freilich beobachtet bzw. erlebt der Autofahrer nicht nur die räumlichen Gegebenheiten auf der Autobahn als Fahrbahn und die der angrenzenden Raumzonen, sondern er handelt bzw. entscheidet auch, indem er sein Auto steuert. Da er qua automobiler Inklusion an keine institutionell vorgegebene Fahrtroute gebunden ist, kann er diese in räumlicher Hinsicht weitestgehend selbst bestimmen. So kann und muss er sich entscheiden, ob er eher auf der Überholspur oder der rechten Spur fahren will; im Falle eines qua Autofunk angekündigten Staus die Autobahn rechtzeitig verlassen will oder nicht, welchen Abstand er vom vorausfahrenden Fahrzeug halten will etc. Der Autofahrer ist insofern auch verantwortlich für die Folgen seiner Entscheidungen, z.B. im Falle von Verspätungen durch falsche Wahl der Fahrtroute, bei Unfällen durch schlechte Sicht, mangelnden Abstand oder unsachgemäßes Einfädeln etc. Hinsichtlich der Zeitplanung ist der Autofahrer relativ autonom, da er nicht an institutionalisierte Fahrpläne als Zeitprogramme gebunden ist. Die Kehrseite seiner Zeitautonomie besteht darin, dass Verspätungen normalerweise ihm zugerechnet werden und nicht den Umständen, z.B. den Verkehrsverhältnissen auf der Autobahn. Es ist für ihn deshalb von Fahrtbeginn an, wichtig zu wissen, welche Fahrtverzögerungen eventuell auf der von ihm befahrenen Fahrtstrecke vorliegen. Da sich der Autofahrer allein aufgrund der unmittelbaren Beobachtung des Fahrtgeschehens die diesbezüglichen Informationen nicht besorgen kann, ist er auf das Kommunikationsmedium Funk (Autoradio) angewiesen. Dieses informiert ihn qua Verkehrsmeldungen relativ kontinuierlich darüber, an welchen Streckenabschnitten der Autobahn er mit Zeitverzögerungen (Staus, Stop und go, Baustellen) rechnen muss. Die Selektivität dieser Informationen verweist zum einen auf Langsamkeit als Negativwert der Verkehrskommunikation. Zum anderen indiziert sie zugleich die Möglichkeiten und Grenzen der Verkehrssteuerung qua zentral zusammengefasster und vermittelter Informationen durch das Autoradio. Sie helfen dem Autofahrer auf der Autobahn nämlich nur dann, wenn er rechtzeitig informiert wird und über zeitlich funktional äquivalente Strecken zur Erreichung seines Zielortes verfügt. Besitzt der Autofahrer ein Handy, kann er während der Autobahnfahrt potenziell jederzeit mit Adressaten des Ziel-und Ausgangsortes Verbindung aufnehmen. Der Vorteil dieses Kommunikationsmediums besteht u.a. darin, dass er selbst im Falle von Verzögerungen auf der Autobahn die systemexternen zeitlichen Folgeprobleme durch rechtzeitige Informationen der Adressaten reduzieren kann. Während der Autofahrer in aller Regel die Fahrtstrecke in der Raumdimension nicht verkürzen kann, kann er dies in Bezug auf seine Fahrzeit. Dies gilt besonders für die Autobahn. Hier kann er, sofern keine Tempolimits oder sonstige Fahrtverzögerungen vorliegen, die Fahrtzeit durch das selbst gewählte Fahrttempo beeinflussen. Der Autofahrer erlebt die Fahrt auf der Autobahn normalerweise in einem Rhythmus, der durch Tempowechsel in einer Geschwindigkeitszone charakterisiert ist, der die Höchstgeschwindigkeit von urbanen Straßen weit überschreitet. Dies hat zur Folge, dass seine Eigenaktivität stark reduziert ist. Er kann gewissermaßen kontinuierlich im
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vierten oder fünften Gang fahren, ist also relativ wenig mit Operationen des Schaltens befasst. Wenn es sich um eine Routinestrecke handelt, kann sich aufgrund der relativ starken Ausdifferenzierung der Autobahn gegenüber den Raumzonen jenseits der Fahrbahn ein Zeiterleben einstellen, das gewissermaßen der Gegenwart voraus-oder hinterherläuft. Die Monotonie relativ konstanter Geschwindigkeit kann dazu führen, dass der Autofahrer Ereignisse seiner anderen Rollen gedanklich nacharbeitet oder vorwegnimmt. Die Autopoiesis des Bewusstseins (Luhmann 1995a; Luhmann 1995d) des Autofahrers konfligiert dann tendenziell mit der Autopoiesis der Verkehrskommunikation und der strukturell notwendigen Kopplung bewussten Verkehrsverhaltens. Ergeben sich in der Gegenwart des Fahrtgeschehens plötzliche Veränderungen durch Bremsen des Vordermannes, riskante Überholmanöver oder andere überraschende Ereignisse, kann das gedankliche Umschalten in bestimmten Fällen zu lange dauern. Es kommt zu Unfällen. Die Zeitmodi Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bestimmen das Zeiterleben des Autofahrers auf der Autobahn nicht durch eine institutionalisierte Sequenz von Fahrtetappen des Fahrplans, wie z.B. beim öffentlichen Nahverkehr, der qua Rhythmus von Fahren und Anhalten eine institutionalisierte Eigenzeit aufweist, deren Einhalten der Busfahrer qua Vergleich mit der chronologischen Zeit seiner Uhr jederzeit kontrollieren kann, sondern sie sind deinstitutionalisiert und kontingenter. Der Autofahrer stellt gewissermaßen seine eigenen Fahrtetappen auf, an denen er durch Erfahrungswerte kontrollieren kann, ob er in der jeweiligen Gegenwart »in time« ist. Dies können bestimmte markante Streckenabschnitte (z.B. Ausfahrten, Landschaftsausschnitte) oder Verkehrsschilder mit Angaben von Entfernungen zum Zielort sein. Dabei kann er in der jeweiligen Gegenwart registrierte Verspätungen zum Anlass von Tempoerhöhungen nehmen, um der Zukunft Zeit abzugewinnen. Dies ist umso eher möglich, desto länger die noch bevorstehende Fahrtstrecke und Fahrtzeit ist und umgekehrt. Die Knappheit der Zeit im Zusammenspiel mit der Möglichkeit der relativ unlimierten Tempoerhöhung, kann somit zu riskantem Fahrverhalten (=Rasen) mit entsprechenden Möglichkeiten der Selbst-und Fremdgefährdung führen. Wartezeiten (Staus, Stop und go, Verkehrsunfälle) sind auf der Autobahn keine institutionell erwartbaren Wartezeiten, wie das Warten an der Haltestelle oder der Ampel, sondern kontingente zukünftige Ereignisse, die zur Autopoiesis der Gesamtfahrten der Autobahn dazugehören können, aber nicht immer müssen. Sie sind Teil der riskanten Freiheit der automobilen Inklusion und können durch den Autofahrer nur im System selbst bewältigt werden. Mit der hohen Geschwindigkeit der Autobahnfahrt ist schließlich eine besondere Form der Verkehrskommunikation verbunden, die man als Paradigma der Sequenz von lose organisierten flüchtigen Interaktionen begreifen kann. Deren Betrachtung wollen wir uns nun zuwenden. Bei der Autobahnfahrt handelt es sich insofern um eine Sequenz von lose organisierten flüchtigen Interaktionen, als der Autofahrer von Fahrtbeginn (Zufahrt zur Autobahn) an bis zum Fahrtende (Ausfahrt der Autobahn) in unterschiedlichen zeitlichen Intervallen anderen automobil inkludierten Verkehrsteilnehmern unmittelbar begegnet. Das differenzstiftende Kriterium der unmittelbaren raumzeitlichen Anwesenheit des Sys-
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temtypus flüchtige Interaktion trifft also für die Autobahnfahrt voll zu, wenn auch in einer spezifischen Weise. Spezifisch ist zunächst die unmittelbare visuelle wechselseitige Wahrnehmung qua automobiler Inklusion. Es wird nicht die konkrete Person, ja nicht einmal die soziale Identität des Autofahrers primär wahrgenommen, sondern in erster Linie die Zeichen und die Bewegungen, die der Autofahrer als Informationen selegiert und über den Autokörper in einer Form mitteilt, die auf Verstehen, Erreichen des Adressaten und kommunikativen Erfolg abstellen. Kommunikativer Erfolg heißt hier, dass der Autofahrer das Fahrverhalten der anderen anwesenden Autofahrer mittels elektronisch gesteuerter Lichtzeichen beeinflussen möchte. Sie verkörpern mithin das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium der Autobahnfahrt – aber auch der Stadtfahrt, wenn auch mit spezifischen Unterschieden – und lassen sich durch folgende Merkmale charakterisieren: a) Sie sind auf das Tempo der Autobahnfahrt zugeschnitten, indem sie sich auf die wechselseitige visuelle Wahrnehmung der Autokörper beziehen, die die schnellste Form der Informationsverarbeitung durch die Autofahrer darstellt (vgl. dazu generell Luhmann 1975a). b) Sie funktionieren nach einem binären Schematismus, der die wechselseitige visuelle Wahrnehmung entlang der Codierung an/aus steuert. Kommunikative Initiativen, die Fahrtänderungen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht indizieren sollen, werden vor allem durch Betätigen der Lichtzeichen via Autokörper mitgeteilt, z.B. das Anzeigen der rechten oder linken Fahrtrichtung durch Blinker, das Überholen durch die Lichthupe, der Hinweis auf einen Fahrzeugdefekt durch die Warnblinkanlage, das Durchführen von Bremsvorgängen durch das Aufleuchten der Rücklichter oder der Einbruch der Nacht durch das Einschalten der Scheinwerfer. Die Aufmerksamkeit für und das Aufmerksammachen auf Fahrtänderungen erfolgt also durch temporäres Einschalten der elektronischen Lichtzeichen. Demgegenüber verweisen die ausgeschalteten elektronischen Lichtzeichen während des Tages auf die Kontinuität des Fahrtverhaltens und vermitteln somit die Erwartungssicherheit des Immerweiter-so. c) Ihre binäre Codierung schließt im Unterschied zu den Verkehrsampeln dritte Möglichkeiten (Farbe Orange) aus und zwingt darüber hinaus den Autofahrer auf der Autobahn zu klaren Entscheidungen im Sinne eines Entweder/Oder. d) Im Unterschied zu Schrift, Zahlen und Piktogrammen der Verkehrsschilder an und über der Autobahn zeichnen sich die elektronischen Lichtzeichen durch ihre größere Situationsflexibilität aus, da sie im Gegensatz zu deren konstanten generalisierten Hinweisen und Verhaltenserwartungen die konkreten raumzeitlichen Veränderungen des Fahrverhaltens mitteilen können. Damit verlieren situative Richtungsänderungen oder Tempoveränderungen des Autokörpers ihren Überraschungswert, was angesichts der hohen Geschwindigkeiten auf der Autobahn für die wechselseitige Orientierung des Fahrverhaltens von großer Bedeutung ist. Typischerweise entstehen Unfälle besonders dann, wenn Richtungs- oder Tempoänderungen ohne vorherige Mitteilung qua elektronischer Lichtzeichen vorgenommen werden.
3. Funktionssysteme e) Ihre Unersetzbarkeit für das Fahrtverhalten, lässt sich auch daran ablesen, dass sie beim Ausfall nicht durch körpergebundene Gesten substituiert werden können und eine Nachtfahrt ohne sie unmöglich ist. Diese macht im Übrigen besonders deutlich, dass die Wahrnehmung der Person des Autofahrers für das Gelingen der Autobahnfahrt sekundär ist. f) Die Reichweite der elektronischen Lichtzeichen endet dort, wo sie nicht mehr wahrgenommen werden können. Sie hängt vor allem von der Verkehrsdichte auf der Autobahn ab. Ist diese hoch, so ist sie auf die unmittelbar anwesenden Fahrzeuge beschränkt, also diejenigen, die unmittelbar voraus, nebenher oder hinterher auf der Fahrbahn der Autobahn fahren. Ist sie gering, können die elektronischen Lichtzeichen, z.B. qua Lichthupe, auch noch relativ weit vorausfahrende Fahrzeuge erreichen. g) Da die übrigen Raumzonen für die Autobahn nur eine geringe oder gar keine Rolle spielen, gibt es keine nichtmotorisierten Dritten, wie z.B. die Fußgänger im Kontext urbaner Straßen, für die diese Lichtzeichen von Relevanz sein könnten.
Da es sich bei der Autobahnfahrt um eine Sequenz von Interaktionen handelt, lässt sich ihre lose Form der Organisation zunächst daran ablesen, dass der Zeitpunkt der je spezifischen unmittelbaren Begegnung zufällig ist, da die Autofahrer ihre Fahrstrecken und Zeitpläne individuell planen können. Sie wird ferner daran deutlich, dass die situative Zugehörigkeit zur Interaktion in Form von Situationsrollen der Autofahrer nicht immer eindeutig feststeht. So kann die wechselseitige unmittelbare visuelle Wahrnehmung der jeweiligen Fahrzeuge und ihrer elektronischen Lichtzeichen unklar definierte Grenzen zur Umwelt der jeweils nicht in Sichtweite befindlichen Fahrzeuge aufweisen und kann durch eigenes oder fremdes Fahrverhalten (z.B. Überholen, Fahrtverlangsamung mit der Möglichkeit des Einfädelns durch Dritte) tendenziell jederzeit und ohne Folgen aufgelöst werden. Als Sequenz von Interaktionen manifestiert sich die lose Form der Organisation der Autobahnfahrt des Autofahrers im Vergleich zum organisierten Kolonnenfahren (z.B. von Fahrzeugen der Bundeswehr) darin, dass die Reihenfolge der Fahrzeuge auf der Fahrbahn rein zufällig und ungeordnet ist, und es fast unmöglich erscheint, ohne besondere organisatorische Vorkehrungen über eine längere Fahrtstrecke in einer geordneten Kolonne von zwei oder mehreren Fahrzeugen (z.B. mit Freunden in den Urlaub) auf der Autobahn zu fahren. Die Flüchtigkeit der einzelnen Interaktionen der Autobahnfahrt lässt sich zum einen an ihrer normalerweise sehr kurzen Dauer und zum anderen an der Anonymität und Unpersönlichkeit der sozialen Identifikationsaufhänger festmachen, die sich aufgrund des gefahrenen Tempos primär auf den Autokörper und nur sehr ausschnitthaft auf die wahrgenommene Person des Autofahrers beziehen können. Aus der Sicht des Autofahrers wird die Autobahnfahrt dementsprechend als eine ständige Abfolge wechselnder automobil inkludierter Verkehrsteilnehmer erlebt, die außer Lichtzeichen des Autokörpers und dem jeweiligen Autotyp wenig Erinnerungsspuren zurücklassen. Die lose Kopplung von flüchtigen Interaktionssystemen und psychischen Systemen im Kontext der Autobahnfahrt lässt sich im Übrigen auch mit Hilfe von Verkehrsunfällen belegen. Hier werden im Nachhinein Interaktionssysteme mühsam als eigenständige Sozialsysteme rekonstruiert, und es sind weniger
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die Beobachtungen der Verkehrsteilnehmer als die Spuren am Autokörper, die qua hochmoderner technischer Rekonstruktionsverfahren letztlich den Ausschlag über die Attribuierung von Schuld/Nichtschuld abgeben. Die geschilderten Beobachtungen der Autobahnfahrt erfahren eine Veränderung im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Situationen, die Anlässe von Warten darstellen (Staus, Stop und go, Verkehrsunfälle, Pannenhilfe). Im Rahmen dieser nichtinstitutionalisierten Wartezeiten und Situationen der motorisierten Immobilität, die die Negativwerte der Leitdifferenzen des Autobahnsystems zum Ausdruck bringen, entstehen Phasen der Langsamkeit oder temporären Fahrtunterbrechung mit unterschiedlichen Anknüpfungsmöglichkeiten für den Aufbau länger andauernder Interaktionssysteme. Im Rahmen von Stop und go kann es zu intensiveren gegenseitigen Blickkontakten der Autofahrer und zur genaueren wechselseitigen Typisierung der Relationierung von Auto und Autofahrer hinsichtlich seines Fahrstils, sozialen Status, seines möglichen Fahrtzieles und Herkunftsortes kommen. Im Kontext von Staus können die vorhergegangen Anlässe zur Interaktion noch um die Dimension eines Gemeinschaftserlebnisses erweitert werden, das je nach Fahrtziel und Fahrtanlass als negativ oder gar positiv bewertet werden kann. Dabei können die Autofahrer ihre Autos verlassen und mit den unmittelbar vor, neben oder hinter ihnen stehenden Autofahrern auf der Fahrbahn stehend verbalen Kontakt aufnehmen. Je nach Länge des Wartens können sich dann über situationsspezifische Themen (z.B. Ursache des Staus) hinaus, Themen und Aktivitäten ankristallisieren, die die systemexternen Rollen der Autofahrer zunehmend miteinbeziehen. Im Extremfall kann es bei Urlaubsreisenden zur Spaßkommunikation (Bette 1989: 144ff.) in Form von Picknick oder Spielen auf der Fahrbahn kommen. Im Falle von Verkehrsunfällen, die Anlass von Staus oder Stop und go sein können, lässt sich eine temporäre Transformation der Verkehrskommunikation in eine Hilfskommunikation beobachten. Je nach Nähe und Betroffenheit des Autofahrers zum Unfallgeschehen können unterschiedliche Formen des Zuschauens respektive der laienförmigen Kooperation mit professionellen Helfern der Sonderdienste des Gesundheitssystems, der Autobahnpolizei oder der Feuerwehr einrasten. Wenn es schließlich zu einer Fahrtunterbrechung qua Panne kommt und der Autofahrer noch rechtzeitig die rettende Randzone des Seitenstreifens der Fahrbahn der Autobahn erreicht, kann er zur körpergebundenen Form der Eigenmobilität gezwungen sein, um die Pannendienste via Nottelefon zu informieren. Es schließen sich dann organisierte Interaktionssysteme mit professionellen Helfern (Reparaturen vor Ort) oder Sonderfahrten (z.B. mit Abschleppseil) zur Werkstatt an. In selteneren Fällen kann es auch zur spontanen Form nichtorganisierter Laienhilfe durch anhaltende Autofahrer kommen. Seltener ist diese insofern, als die Schwellen, die der Autofahrer normalerweise zu überwinden hat, vergleichsweise hoch sind. So hat er eigene Fahrtziele und Zeitpläne, die im Falle der Unterbrechung zu Nachteilen für ihn führen können (z.B. Verspätungen); weiß er, dass es organisierte Hilfssysteme in Form von Pannendiensten (ADAC) gibt, an die sich der Hilfsbedürftige wenden kann; ist seine eigene Betroffenheit aufgrund der Anonymität des Hilfsbedürftigen relativ gering; weiß er nicht, ob er kompetent helfen kann etc.
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Zusammenfassend können wir also festhalten, dass die Autobahnfahrt ein hochkomplexes Ereignis ist, das vom Autofahrer im Normalfall als Sequenz von lose organisierten flüchtigen Interaktionssystemen erlebt wird. Es dominiert deshalb auch die wechselseitige visuelle Wahrnehmung des Autokörpers und seiner elektronischen Lichtzeichen und weniger die Wahrnehmung der Insassen, die nur schemenhaft oder – z.B. in der Nacht– gar nicht wahrgenommen werden. Dies wird vom Autofahrer normalerweise auch gar nicht anders erwartet, steht für ihn doch die Transportfunktion und damit das schnelle und pünktliche Erreichen seines Ankunftsortes im Vordergrund, und kann er sich darüber hinaus durch Autoradio, Kassetten oder Beifahrer Ersatzkommunikation während der Fahrt verschaffen. Zum Aufbau länger andauernder Interaktionssysteme kommt es mithin nur im Falle von nichtinstitutionalisierten Wartezeiten, also Unterbrechungen der Autobahnfahrt. Dabei können, je nach Anlass und Dauer des Wartens, neben situationsspezifischen Themen, Themen und Aktionen der übrigen Funktionssysteme temporär die Interaktionen auf der und an den Randzonen der Fahrbahn der Autobahn bestimmen. Bei der Mehrzahl der Autofahrer besteht die primäre Funktion der Beteiligung an den spontan entstehenden Interaktionssystemen wohl in der Überbrückung der Leerzeiten und der aufkommenden Langeweile. Handelt es sich um schwere Unfälle, können auch Funktionen der emotionalen Stressreduktion und der Absorption von Angst und Unsicherheit hinzukommen. Eine positive Umwertung erfahren die Wartezeiten wohl noch am ehesten von denjenigen Verkehrsteilnehmern, die nicht an Termine gebunden sind oder sich im Rahmen der Freizeit oder des Urlaubes auf der Autobahn bewegen und die qua Wartezeiten induzierten Unterbrechungen als willkommenen Anlass für außeralltägliche Begegnungen, Beobachtungen oder Actions betrachten. 3.4.3.5.2 Urbane Straßen als Paradigmen kleinräumiger Mobilität und rascher Tempowechsel Strukturelle Merkmale der Stadtstraßen Die Infra-, Temporal-und Sozialstruktur der städtischen Straßen reduzieren– wie die Autobahn – die Komplexität potenziell möglicher Fahrten des Verkehrssystems Straße. Sie konstituieren dadurch eine bestimmte Form von Fahrten: die Stadtfahrten. Diese können im Unterschied zur Autobahnfahrt mit einer Gesamtfahrt identisch sein; können aber auch eine Teilstrecke bzw. Teilphase einer Gesamtfahrt verkörpern, die andere Subsysteme des Verkehrssystems Straße mit einbezieht. Schließt man seine Beobachtungen auch hier wiederum zunächst an die Leitdifferenz von motorisierter Mobilität/Immobilität an, dann kann man zunächst generell hinsichtlich der Infrastruktur davon ausgehen, dass sich der Präferenzwert Mobilität auf den Nahraum und nicht den Fernraum bezieht. Das Straßennetz der Stadtstraßen endet jeweils an den Stadtgrenzen, an die Stadtstraßen anderer Städte (z.B. in Ballungsgebieten), Landstraßen, aber auch Autobahnen anschließen können. Während also das räumliche Außen des städtischen Straßennetzes durch die Stadtgrenzen klar markiert ist, die nochmals in Nord-Süd, West-Ost differenzierbar sind, lässt sich das städtische Straßennetz nach Innen bezüglich der Stadtbezirke bzw. Stadtteile unterscheiden. Dabei kann eine Straße durchaus durch zwei oder mehrere Stadtteile hindurchführen. Die Differenzierung von Zentrum und Peripherie
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bzw. innerstädtischen und peripher gelegenen Stadtteilen mit den entsprechenden städtischen Straßentypen stellt in diesem Zusammenhang ein erstes wichtiges räumliches Differenzierungsprinzip des Straßennetzes dar. Hinzu kommen die dazwischen liegenden citynahen Stadtteile mit Ringstraßen und Stadtautobahnen in größeren Städten. Typisch für die städtischen Straßen ist ferner, dass sie im Gegensatz zur Autobahn oder Landstraße in gleichsam paradigmatischer Form die Differenzierung der Raumzonen in Fahrbahn, Randzone, Zwischenzone, Gebäudezone und Freifläche aufweisen. Dies hängt damit zusammen, dass jede größere Stadt der Tendenz nach eine lokale Binnendifferenzierung der zentralen supralokalen Funktionssysteme der Gesamtgesellschaft mit entsprechenden formalen Organisationen und der Multiinklusion der Einwohner und Nichteinwohner in Form der Leistungs-und Laienrollen verkörpert. Dabei spielt die automobile Inklusion im Zusammenhang mit den Funktionssystemen der Intimbeziehungen (zur quantitativen Besonderheit der millionenfach vorfindbaren Intimbeziehungen im Gegensatz zum einmaligen Vorkommen der übrigen Funktionssysteme vgl. Luhmann 1990d) und ihrer räumlichen Ausdifferenzierung qua Wohnen insofern eine bedeutsame Rolle, als für den automobilen Anschluss von den Randzonen der Straße oder besonderen Parkzonen (Garagen, privaten Parkplätzen) aus auf die Fahrbahn durch die Infrastruktur des städtischen Straßennetzes für jeden Einwohner gesorgt ist. Es gibt also fast keine Straße, die nicht zumindest in eine Fahrbahnrichtung an eine andere Straße angeschlossen ist. Gleichzeitig ist jedoch die kontinuierliche Mobilität im Sinne ununterbrochener Fahrten eingeschränkt, da die hohe Verdichtung des städtischen Straßennetzes zu gesteigerten Problemen der Sequentialisierung im Straßenverkehr führt. Die sich darauf beziehende Sekundärdifferenzierung der städtischen Straßen in Haupt-und Nebenstraßen führt zur Einrichtung von Kreuzungen mit Ampelschaltungen, Fußgängerüberwegen, Vorfahrtsregelungen etc. und zur Simultaneität von gesteigerter motorisierter Mobilität und Immobilität. Während jene eher auf den Hauptstraßen anzutreffen ist, lassen sich Phasen der motorisierten Immobilität (z.B. Wartezeiten) primär auf den Zufahrtsstraßen beobachten. Mobilitätsdifferenzen der städtischen Straßen ergeben sich auch im Anschluss an die räumliche Binarisierung der Fahrbahn in zwei Fahrtrichtungen. Sind die Fahrbahnen durch Mittelleitplanken und/oder Pflanzen voneinander getrennt, wie bei citynahen und -fernen Hauptstraßen (Ringstraßen, Stadtautobahnen etc.), erhöht dies normalerweise den Verkehrsfluss. Demgegenüber erzeugt die infrastrukturelle Möglichkeit des Gegenverkehrs auf der gleichen Fahrbahn (-seite), wie sie bei der Mehrzahl der städtischen Straßen vorliegt, Risiken und Verzögerungen der Mobilität. So muss beim Überholen mit Gegenverkehr gerechnet werden und kommt es zur Verlangsamung bis hin zum zähfließenden Verkehr mit Stillstand, wenn Überholmanöver zu riskant sind oder die PKWs sich dem Tempo von LKWs, Bussen, Mofas oder Fahrräder anpassen müssen. Zudem beeinflussen im Gegensatz zur Autobahn die Rand-und Zwischenzonen die Mobilität der städtischen Straßen erheblich. Die Randzonen als Parkzonen beeinträchtigen die Mobilität der Fahrbahn dadurch, dass der Autofahrer mit potenziell sich einfädelnden Fahrzeugen zu rechnen hat; seine Wahrnehmung durch parkende Autos eingeschränkt werden kann und diese nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer in erheblichem Maße behindern können. Die Zwischenzonen spielen insofern eine bedeutsame Rolle,
3. Funktionssysteme
als Passanten auch jenseits der vorgesehenen Raumzonen (Zebrastreifen) die Fahrbahn überqueren und somit zu unvorhergesehenen Gefahren für die Autofahrer werden können. Schließlich hat jede städtische Straße einen Eigennamen. Dies ermöglicht den Aufbau von sozialraumbezogenen Straßengeschichten (Herlyn 1990), die lokale Identifizierung der Einwohner qua Straße-und Hausnummer und eine sehr kleinräumige Identifizierung und Rekonstruktion von Vorfällen, die auf der Fahrbahn der Straße stattfinden. Resümee: Kontrastiert man die Infrastruktur der städtischen Straßen mit der der Autobahn, dann fällt auf, dass die Mehrzahl der städtischen Straßen hinsichtlich vergleichbarer Parameter des Raumes durch weitaus größere Probleme strukturell erzwungener temporärer Immobilität gekennzeichnet sind. Gleichzeitig ermöglicht ihre umfassende Vernetzung eine nahezu voraussetzungslose Übernahme automobiler Inklusion. Diese könnte eine Erklärung dafür sein, dass Probleme der Immobilität bis zu einem gewissen Grad in Kauf genommen werden. Die Temporalstrukturen der Stadtstraßen können den Präferenzwert motorisierte Schnelligkeit nicht in dem Maße steigern wie die der Autobahn. Die Höchstgeschwindigkeit wird für jeden Straßentyp (Stadtautobahnen, Ring-, Haupt- und Nebenstraßen) graduell abgestuft und liegt in der Mehrzahl der Fälle weit unterhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung der Autobahn. Für Nebenstraßen lässt sich sogar eine Umwertung der Leitdifferenzen in Richtung motorisierter Langsamkeit als Präferenzwert beobachten. Die Leitdifferenz Schnelligkeit/Langsamkeit wird also für urbane Straßen in der Form respezifiziert, dass die Möglichkeit der nahezu unlimitierten Steigerung der Schnelligkeit strukturell blockiert ist. Die Verselbständigung des Sekundärcodes in Richtung motorisierte Schnelligkeit, wie sie tendenziell für die Autobahn zutrifft, stößt hier an infrastrukturelle Grenzen, die vor allem auf die Engmaschigkeit, Kleinräumigkeit und stärkere strukturelle Kopplung des urbanen Straßennetzes mit den Gebäudezonen der Funktionssysteme zurückzuführen sind. Die graduelle Abstufung der Höchstgeschwindigkeit und vergleichsweise niedrige Mindestgeschwindigkeit führen – im Gegensatz zur Autobahn – zu einer größeren Pluralität der auf den Fahrbahnen der Stadtstraßen simultan anzutreffenden motorisierten Fahrzeuge. Neben dem Auto ist zusätzlich mit Omnibussen, Straßenbahnen, LKWs, motorisierten Zweirädern und, bei Neben- und Hauptstraßen ohne separate Fahrradwege, sogar mit Fahrrädern zu rechnen. Im Zusammenspiel mit der im Vergleich zur Autobahn seltener anzutreffenden binären Differenzierung von schnelleren und langsamen Fahrspuren des städtischen Straßennetzes nimmt folglich das Risiko von Überholmanövern zu. Gleichzeitig wächst aber auch dadurch die Notwendigkeit, sich dem Tempo der vorausfahrenden Fahrzeuge, unabhängig von den eigenen Tempoansprüchen und PS-Zahlen, anzupassen. Die zugelassene Mindestgeschwindigkeit und die Infrastruktur der städtischen Straßennetzes erzeugen somit zumindest für einen Teil der urbanen Straßen eine gewisse Nivellierung der Tempodifferenzen der Fahrzeuge in Richtung Langsamkeit bzw. Tempodrosselung. Hinzu kommt, dass das Tempo der Fahrten der Stadtstraßen im Gegensatz zur Autobahn durch einen wechselnden Rhythmus von Fahren und institutionell vorgesehenem Anhalten bzw. Warten gekennzeichnet ist. Dieser ist u.a. auf die Vernetzung der unterschiedlichen Stadtstraßen (Haupt-und Zufahrtsstraßen), die infrastrukturell vor-
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gesehenen Stopps (Kreuzungen, Verkehrskreisel) und das Crossing der Fahrbahn durch Passanten an Ampeln und Zebrastreifen zurückzuführen. Abweichende Fälle, wie Unfälle, Umleitungen, Straßenbauarbeiten und die zunehmend zum Normalfall werdenden Rush-hours ergänzen das Bild. Die infrastrukturelle Vernetzung der unterschiedlichen urbanen Straßen (Stadtautobahn, Hauptstraße, Nebenstraße) induziert zusätzlich einen ständigen Tempowechsel von schnelleren und langsameren Fahrtabschnitten. Schließlich lässt sich auf den Stadtstraßen, im Unterschied zur Autobahn, eine Kombination von institutionalisiert gesteuerten Fahrtzeiten des öffentlichen Personennahverkehrs und autonomen Fahrtzeiten des Individualverkehrs beobachten. Dies führt zu Koordination-und Steuerungsproblemen, die letzteren zunehmend qua Reformreflexionen und-maßnahmen der kommunalen Verkehrspolitik in die Defensive zu drängen scheint. Wir werden darauf abschließend noch zurückkommen. Während also die Autobahn das Paradigma des motorisierten Individualverkehrs mit der Möglichkeit kontinuierlicher Höchstgeschwindigkeit darstellt, trifft dies nur für einen Teil der urbanen Straßen (z.B. Stadtautobahnen, Ringstraßen) und zudem in abgeschwächter Form zu. Es dominiert hingegen für die Mehrzahl der städtischen Straßen eine Tempodrosselung durch weitaus niedrigere Höchstgeschwindigkeiten und relativ niedrige Mindestgeschwindigkeiten. Damit kommt es zu einer Begrenzung der Verselbständigung des Präferenzwertes motorisierte Schnelligkeit. Sie führt zu einer Relativierung der Dominanz der automobilen Inklusion qua Multiinklusion der Verkehrsteilnehmer und zu Zeitrhythmen, die sich als Wechsel von Fahren und Warten und steter Tempodrosselung und-beschleunigung auf den Fahrbahnen der urbanen Straßen beobachten lassen. Auch hinsichtlich der Sozialstruktur des städtischen Straßennetzes lässt sich das Prinzip der segmentären Differenzierung in Form gleicher Einheiten (Haupt-, Nebenstraßen etc.) beobachten, wenn auch mit einer stadtteilspezifischen Konzentration der Stadtautobahnen an der Peripherie der Städte und der Ringstraßen in den citynah gelegenen Stadtteilen. Das Prinzip der stratifizierten Differenzierung manifestiert sich in einer ersten Variante in Form der ungleichen Verteilung und Bewältigung der Folgeprobleme des städtischen Fahrbahnnetzes. So beeinträchtigen der Verkehrslärm, die Luftverschmutzungen und Verkehrsdichte vor allem die Wohnqualität der Anwohner von Wohnquartieren, die an Stadtautobahnen, Ring- und Hauptstraßen gelegen sind (Herlyn/Lettko 1991, 528). Darüber hinaus führt die Verknappung der Parkmöglichkeiten an den Randzonen der Fahrbahnen citynaher Stadtteile zunehmend zu Verteilungsproblemen und Konflikten zwischen Anwohnern und Pendlern einerseits und Anwohnern und Geschäftsleuten andererseits. Schließlich kommt es zur selektiven Etablierung von verkehrsberuhigten Zonen in den Nebenstraßen gutsituierter Wohnquartiere, die bestimmte Bevölkerungsteile privilegieren. Eine zweite Variante der stratifizierten Differenzierung des städtischen Straßennetzes lässt sich anhand von Beeinträchtigungen der Mobilitätschancen bestimmter Bevölkerungsgruppen (Kinder, Jugendliche, Teile der alten Menschen und spezifische Randgruppen) beobachten. Sofern diese in verstärktem Maße auf öffentliche oder nichtmotorisierte Verkehrsmittel angewiesen sind, kann es zu erschwerten Formen der primären
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Inklusion ins Verkehrssystems Straße bis hin zu partiellen Formen der Exklusion kommen. Dies kann durch zu lange Taktzeiten der Busse und Straßenbahnen, unzureichende Verkehrsanbindung durch zu weit von den Wohnungen entfernte Haltestellen, aber auch durch ein ungenügend ausgebautes Fahrradwegenetz bedingt sein. Hinsichtlich der funktionalen Differenzierung des urbanen Straßennetzes lassen sich die urbanen Straßentypen zunächst anhand der dominanten Fahrtanlässe unterscheiden. Differenziert man zwischen Berufs-, Schul-, Einkaufs-und bestimmten Formen des Freizeitverkehrs, dann kann man idealtypisch zwischen einer multifunktionalen Nutzung derjenigen Straßentypen unterscheiden, an die Zwischen-und Gebäudezonen der unterschiedlichen Funktionssysteme in konzentrierter Form anschließen, und einer reduzierten Nutzung derjenigen Straßentypen, an denen vor allem Wohnquartiere gelegen sind. Während die erstgenannte Nutzung primär für Ringstraßen und Hauptstraßen der Innenstadt und citynaher Stadtteile mit der Konzentration der Dienstleistungsangebote gilt, trifft die zweitgenannte Nutzung eher auf exklusive Wohnstraßen dezentral gelegener Stadtteile zu. Dazwischen liegen dezentrale Hauptstraßen, die primär für kleinräumige Einkaufs-und Besuchsfahrten genutzt werden. Schließlich sei noch der Durchgangs-und Pendlerverkehr erwähnt. Wenn dieser nicht durch Park and Ride-Systeme an die Peripherie der Städte abgedrängt wird, belastet er zusätzlich vor allem die Ringstraßen, Stadtautobahnen und Hauptstraßen der City. Darüber hinaus kann man die urbanen Straßentypen danach unterscheiden, in welchem Maße der motorisierte Individualverkehr dominiert und die übrigen Formen des Straßenverkehrs exkludiert werden. Paradigmatisch sind hier die Stadtautobahnen, die Ring-und Hauptstraßen zu nennen, die die nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer weitestgehend an die Rand- und Zwischenzonen der Fahrbahn verbannen. Diesen stehen die exklusiven Wohn-, Nebenstraßen und Sackgassen gegenüber, die in Form von verkehrsberuhigten Zonen den nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern, z.B. in Form von Spielstraßen, mehr Straßenraum zur Verfügung stellen. Schließlich sei noch erwähnt, dass die Differenz von öffentlichen und privaten Straßen zu Formen der Sekundärinklusion qua Kopplung von Mitgliedsrollen formaler Organisationen und Fahrerrolle führen kann und die Randzonen (Parkplätze) bestimmter Hauptstraßen (z.B. Boulevards) für Formen von Conspicous consumption besonders gut geeignet sind. Fahrten auf Stadtstraßen: das Erleben und Handeln des Autofahrers Bei den folgenden Überlegungen zum Erleben und Handeln des Autofahrers im Kontext des urbanen Straßennetzes gehen wir davon aus, dass dieses ein Subsystem des Verkehrssystems Straße ist. Die einzelne Autofahrt kann dabei eine Teilfahrt sein, ereignet sich aber in stärkerem Maße als eine Autobahnfahrt auch als abgeschlossene Gesamtfahrt. Zugleich unterscheidet sie sich, wie bereits im Zusammenhang mit dem Vergleich der Strukturen der Autobahn und der Stadtstraßen angedeutet wurde, aufgrund der Kleinräumigkeit und Engmaschigkeit des urbanen Straßennetzes hinsichtlich wesentlicher Strukturvorgaben in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht. Dies schließt es jedoch nicht aus, dass auch die einzelne Stadtfahrt des Autofahrers eine spezifische Eigenkomplexität aufweist, die durch jene Strukturvorgaben nur unzureichend determiniert ist. Bei ihrer Beobachtung wollen wir, ebenso wie im Rahmen der Autobahnfahrt, zentrale
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Merkmale der Stadtfahrten und entsprechende Erlebens-und Handlungsmuster des Autofahrers ins Zentrum rücken und auf eine Feinanalyse unterschiedlicher Typen von Fahrtanlässen und Autofahrern verzichten. Typisch ist für das Erleben des Autofahrers in der räumlichen Dimension, dass er seine Stadtfahrt vergleichsweise oft von den Randzonen der Fahrbahn oder den besonderen Parkzonen der unterschiedlichen Funktionssysteme aus antritt oder beendet. Er wechselt also nicht nur von einem zu einem anderen Straßentyp qua bereits erfolgter automobiler Inklusion über, wie bei der Autobahnfahrt, sondern er erlebt zu Beginn und am Ende der Fahrt die Differenz der Immobilität des geparkten Autos zur Automobilität des fahrenden Autos als Raumpassage, die er qua körpergebundener Eigenmobilität überwinden muss. Dabei unterscheidet sich der durch körpergebundene Eigenmobilität zurückzulegende Weg durch die Nähe oder Ferne der Gebäude-und Zwischenzonen zu den Parkzonen, von denen aus er seine Fahrt antritt oder an denen er sie beendet. Die allgemeine Präferenz für eine Minimierung der körpergebundenen Eigenmobilität wird am deutlichsten in Form der Garagen, die eine nahezu voraussetzungslose Übernahme und Beendigung der Autofahrt zur Wohnung ermöglichen. Im Unterschied zur Autobahnfahrt muss der Autofahrer nach Fahrtantritt in der Regel das Geschehen auf der Gegenfahrbahn mitbeobachten, da diese – mit Ausnahme von Stadtautobahnen, Ringstraßen und bestimmten Hauptstraßen – nicht durch Mittelleitplanken oder Pflanzen räumlich invisibilisiert, sondern nur symbolisch abgegrenzt ist und deshalb immer eine potenzielle Gefahr durch abweichendes Fahrverhalten entgegenkommender Autofahrer darstellt. Indem er also seine Aufmerksamkeit zugleich auf das Fahrtgeschehen seiner eigenen und der entgegenkommenden Fahrbahn richten muss, erhöht sich die räumliche Komplexität des Beobachtungsfeldes während der Fahrt. Diese wird noch dadurch gesteigert, dass er zusätzlich das Geschehen der Rand-und Zwischenzonen der Straße während der Fahrt verfolgen muss. So können Passanten, besonders Kinder und ältere Menschen, aber auch Fahrradfahrer urplötzlich von den Zwischenzonen oder hinter den parkenden Autos der Randzonen auf die Fahrbahn überwechseln. Dies ist vor allem deshalb möglich, weil es sich bei der räumlichen Grenzziehung der städtischen Fahrbahnen zu den Rand-und Zwischenzonen der Straße, ebenso wie zur Gegenfahrbahn, normalerweise nur um durchlässige symbolische Grenzen und nicht um räumliche Hindernisse handelt, die qua körpergebundener Eigenmobilität nur schwer zu überwinden sind. Diese werden z.B. anhand von Lärmschutzmauern der (Stadt-)Autobahnen, Schlagbäumen bei Grenzübergängen oder Absperrungen bei Fahrradrennen auf den Stadtstraßen ersichtlich. Die Notwendigkeit komplexerer Raumbeobachtung lässt sich ferner daran festmachen, dass der Autofahrer mit dem regulären Crossing von Passanten und Fahrradfahren an den Ampeln und Zebrastreifen rechnen und je nachdem, ob er sich auf der Haupt-oder Nebenstraße befindet, das Fahrtgeschehen auf der Fahrbahn der jeweils anderen Straße beobachten muss. Die angeführten Anlässe der Komplexitätssteigerung der Raumbeobachtung des städtischen Autofahrers machen es erforderlich, dass er – im Gegensatz zum Autobahnfahrer – während, zu Beginn und am Ende der Fahrt in stärkerem Maße auf die technischen Sehhilfen des Autos, besonders die Seiten-und Rückspiegel, angewiesen
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ist. Diese sind für das Abbiegen, Einfädeln, Überholen und nicht zuletzt das Einparken unerlässlich. Gleichzeitig impliziert die größere Einbeziehung der übrigen Raumzonen der urbanen Straßen in das Wahrnehmungsfeld des Autofahrers auch größere Gefahren der räumlichen Ablenkung. So können z.B. Schaufenster, Straßencafés, Leuchtreklamen, Bauveränderungen, Fahrradfahrer und Passanten die funktional spezifische Wahrnehmung des Verkehrsgeschehens in eine diffuse Wahrnehmung transformieren und zu folgenreichen Formen der Selbst-und Fremdgefährdung durch Fahrfehler führen. Der Autofahrer erlebt die urbanen Straßen nicht nur qua gesteigerter Komplexität der Raumwahrnehmung, sondern er agiert auch. Handelt es sich um einen ortskundigen Autofahrer, stehen ihm aufgrund der Engmaschigkeit des urbanen Straßennetzes vielfältige Optionen zur Erreichung seines jeweiligen Zielortes zur Verfügung. Unvorhergesehene Anlässe des Wartens lassen sich deshalb auch tendenziell leichter durch entsprechende räumliche Abkürzungsstrategien vermeiden als für den Autobahnfahrer. Gleichzeitig ist er im Gegensatz zu diesem durch die Engmaschigkeit und Kleinräumigkeit des urbanen Straßennetzes mit einer höheren situativen Entscheidungskomplexität konfrontiert. So muss er u.a. entscheiden, ob er noch bei der auf die Farbe Orange geschalteten Ampel über die Kreuzung fahren oder anhalten soll; den zögernden Fußgänger über den Zebrastreifen gehen lassen oder durchstarten soll; den Fahrradfahrer beim Rechtsabbiegen noch überholen oder vorbeifahren lassen soll, und ob er im Falle entgegenkommender Fahrzeuge schnell noch überholen oder sich dem Tempo des langsamer vor ihm fahrenden Autos anschließen soll. Zusätzlich zu dem im Vergleich zur Autobahnfahrt komplexeren räumlichen Wahrnehmungsfeld muss sich der Autofahrer auf eine höhere temporale Komplexität des Fahrtgeschehens im Kontext des engmaschigen und kleinräumigen urbanen Straßennetzes einstellen. Er erlebt die Fahrt in Form von relativ kurzzeitigen und abrupten Tempowechseln beim Übergang der unterschiedlich schnell befahrbaren einzelnen Straßentypen. Ferner ist er mit einem in zeitlich kurzen Abständen erfolgenden Wechsel von Fahren und institutionell vorgeschriebenen Wartezeiten (z.B. an der Ampel, dem Zebrastreifen oder einer Vorfahrtsstraße) konfrontiert. Darüber hinaus muss er mit temporären Unterbrechungen seiner Fahrt aufgrund der zeitlichen Abstimmung mit dem Schienenverkehr (Bahn, Straßenbahn) rechnen. Schließlich sind die Anlässe für unvorhergesehene Wartezeiten und abrupte Stopps aufgrund des stärkeren Einbezugs der Raumzonen jenseits der Fahrbahn vielfältiger als bei der Autobahnfahrt. Das Erleben der gesteigerten temporalen Komplexität im Rahmen urbaner Fahrten hat Konsequenzen für die Eigenaktivitäten des Autofahrers. Im Gegensatz zur Autobahnfahrt ist er in weitaus höherem Maße mit körpergebundenen Aktionen beschäftigt. Er muss bremsen, beschleunigen, schalten, die Sehhilfen des Autos benutzen, den Motor starten und abschalten etc. Seine Aufmerksamkeit für die temporalen Veränderungen des Fahrtgeschehens ist zudem mehr gefordert, so dass eine temporäre Entkoppelung des Bewusstseins von den Erwartungen der urbanen Verkehrskommunikation zugleich unwahrscheinlicher und folgenreicher ist. Hinzu kommt, dass im Rahmen der Zeitmodi Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bei kleinräumigen Fahrten die unmittelbare Gegenwart mit ihren kurzfristigen
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Terminen und Zeithorizonten in Führung geht. Damit wird die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten für den Autofahrer zu einer besonderen Form des Zeiterlebens, das sich zu einem Diskrepanzerleben zwischen technisch möglicher Höchstgeschwindigkeit des eigenen Autos und faktisch möglichem Fahrttempo steigert, wenn potenzielle Verspätungen durch reguläre oder irreguläre Wartezeiten eintreten. Im Gegensatz zur Autobahnfahrt kann er diese nämlich weniger durch schnelleres Fahren als durch räumliche Abkürzungsstrategien verhindern. Jene Alternative ist ihm weitestgehend verbaut, weil er durch die ortsüblichen Tempolimits und verhältnismäßig geringe Anzahl von Schnellstraßen wenig Möglichkeiten besitzt, sein Tempo ohne potenzielle Sanktionen, aber auch erheblicher Gefahren für Dritte zu erhöhen. Der Autofahrer ist hinsichtlich der Zeitplanung seiner Fahrt relativ autonom und kann im Falle der Ortskundigkeit die Fahrtdauer aufgrund seines Erfahrungswissens ungefähr abschätzen. Die Kehrseite dieser Zeitautonomie besteht darin, dass ihm und nicht den Verkehrsverhältnissen in der Regel Verspätungen zugerechnet werden. Er trägt folglich auch die Verantwortung für das Zeitmanagement der Fahrt. Dabei können ihm Verbreitungsmedien (Autoradio) qua Verkehrsmeldungen nur bedingt behilflich sein, da sie aufgrund der Engmaschigkeit des urbanen Straßenverkehrsnetzes, der hochkomplexen Anzahl von aktuellen Verkehrsstörungen und der spezifischen Verbreitungstechnik (Ansagen, die sequenziell erfolgen und Zeit kosten) in der Regel nur zentrale Verkehrsstörungen selegieren und an den Autofahrer weitergeben. Der Autofahrer muss folglich Zeitpuffer einbauen, will er die Folgen der oben erwähnten Zeitprobleme vermeiden. Er wird sich zudem während der Fahrt durch eigene RaumZeit-Relationen, z.B. dem Vergleich von bestimmten Straßen, markanten Gebäuden oder Verkehrsknotenpunkten mit der aktuellen Uhrzeit, darüber vergewissern, ob er »in time« ist. Diese Zeitstrategie gilt besonders für Routinefahrten, schützt jedoch nicht vor unvorhergesehenen Fahrtereignissen. Betrachtet man die Fahrt im Kontext des urbanen Straßennetzes als Sequenz von Interaktionen, dann lassen sich im Anschluss an die bisherigen Überlegungen weitere Differenzen der städtischen Fahrt im Unterschied zur Autobahnfahrt herausarbeiten. Zunächst einmal lässt sich die Sequenz nichtorganisierter flüchtiger Interaktionssysteme paradigmatisch am ehesten auf denjenigen Straßentypen des urbanen Straßennetzes beobachten, die, wie die Stadtautobahnen, Ringstraßen und Hauptstraßen citynaher Stadtteile, der Autobahn am nächsten kommen. Die Begegnung der automobil inkludierten Verkehrsteilnehmer auf der Fahrbahn kommt hier aufgrund der zufälligen temporären Simultaneität der jeweils autonom geplanten Zeit-und Fahrstreckenplanung zustande. Die wechselseitige unmittelbare visuelle Wahrnehmung – und damit das jeweilige Interaktionssystem – dauert so lange an, solange sich die Autofahrer und ihre Autokörper in für das jeweils eigene Fahrverhalten relevanter Sichtweite befinden. Bei der Engmaschigkeit des urbanen Straßennetzes ist das normalerweise nur sehr kurzzeitig möglich, da sich den Autofahrern durch die in dichter Sequenz folgenden Ab-und Zufahrtsmöglichkeiten vielfältige Gelegenheiten der Richtungsänderung bieten. Zudem kommt hinzu, dass sich die Autofahrer wechselseitig nicht kennen, also fremd sind. Ihre kurze Kommunikation beschränkt sich folglich selbst dann, wenn sie sich nicht nur am Autokörper, seinem Fahrttempo und elektronischen Lichtzeichen orientieren können, normalerweise auf flüchtige Wahrnehmungen der Person des Au-
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tofahrers. Gleichwohl lassen sich schon hier Unterschiede des Erlebens und Handelns des Autofahrers im Vergleich zur Autobahnfahrt beobachten. Zunächst fällt auf, dass die o.g. Stadtstraßen in weitaus dichteren räumlichen Abständen als die Autobahn und teilweise simultan generalisierte Verkehrshinweise und -erwartungen in Form von Schrift und Piktogrammen (Verkehrsschilder, Straßenmarkierungen, Zebrastreifen, symbolische Abbildungen von Schulkindern, Fahrradfahrern und Fußgängern, Hinweise auf Krankenhäuser, historische Gebäude, Parkhinweise usw.) über, an und neben der Fahrbahn einerseits und situationsflexible elektronische Lichtzeichen (Ampeln, elektronische Lichttafeln mit Tempoangaben) andererseits aufweisen. Dies indiziert, dass der Autofahrer die unmotorisierten Verkehrsteilnehmer, die sich als Fußgänger und Fahrradfahrer entlang der Rand-, Zwischen- und vor den Gebäudezonen bewegen, und das Verkehrsgeschehen der anderen Straßen (z.B. Seitenstraßen) stärker in seine Interaktion mit einbeziehen muss. Wir wollen zwei Konsequenzen für die Fahrt als Sequenz von flüchtigen Interaktionen kurz verdeutlichen. Zum einen wird die Flüchtigkeit der Interaktion auf der Fahrbahn dadurch forciert, dass es aufgrund der Möglichkeit des Einfädelns und der institutionalisierten Wartezeiten immer wieder zu Veränderungen der Fahrzeugketten kommt, so dass sich die Reihenfolge der unmittelbar voraus- und hinterherfahrenden Fahrzeuge aus der Sicht des Autofahrers ständig verändert. Interaktionen mit der Möglichkeit relativ dauerhafter wechselseitiger Wahrnehmung sind insofern eher unwahrscheinlich. Zum anderen kann es aufgrund der institutionalisierten Wartezeiten zur Intensivierung der Kommunikation in Form von Interaktionen mit Autofahrern und die Fahrbahn überquerenden Passanten und Fahrradfahrern kommen. So kann der ortsfremde Autofahrer das Auto für kurze Zeit verlassen und sich nach einer Straße erkundigen oder beim Vorder- oder Hintermann wegen des Fahrstils beschweren. Die Wartezeit kann auch dazu genutzt werden, um Autoaufkleber des voranstehenden Autos zu lesen, das Design eines originellen Autos zu bewundern oder mit einem/einer attraktiven Fußgänger(in) zu flirten. Im Unterschied zur Autobahnfahrt bedarf es also keiner unvorhersehbaren oder nichtinstitutionalisierten Wartezeiten, um die o.g. Interaktionssysteme in Gang zu setzen, sondern es genügen dazu im Kontext der urbanen Straßenfahrten die institutionalisierten Wartezeiten. Da diese jedoch sehr kurz sind, eignen sie sich weder zur ausführlichen Metakommunikation über das Fahrtgeschehen, dies muss in aller Regel der Beifahrer oder die Beifahrerin ertragen, noch zur Anknüpfung von persönlichen Kontakten. Im Gegensatz zur Autobahnfahrt und den Fahrten auf den o.g. Stadtstraßen kann es jedoch auf den Haupt-, Neben- und Wohnstraßen der jeweiligen Stadtteile zu Formen der Interaktion kommen, die sich von der Flüchtigkeit der oben erwähnten Begegnungen im Hinblick auf wichtige Gesichtspunkte unterscheiden. So können die institutionalisierten Temporalstrukturen gemeinsamer Fahrtziele, z.B. der stadtteilspezifischen formalen Organisationen der unterschiedlichen Funktionssysteme (Schule, Supermarkt, Kirche, Kindergarten, Arztpraxis etc.), zu wiederholten Begegnungen der automobil inkludierten Einwohner auf der Fahrbahn führen. In diesen Fällen handelt es sich nicht mehr nur um Fremde, sondern um bekannte Personen unterschiedlichen Grades bis hin zu guten Nachbarn und Freunden.
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Da die Autofahrer sich mehr als nur flüchtig kennen, ist zumindest zu erwarten, dass sie sich durch die Lichthupe, Autohupe oder körpergebundenen Gesten ihre wechselseitige Vertrautheit signalisieren und somit systemexternen Rollen Tribut zollen. Lässt es die Verkehrssituation zu, z.B. bei weniger stark befahrenen Nebenstraßen, können die Autofahrer ihre Autos für kurze Zeit auf der Fahrbahn anhalten und ein Gespräch aus dem Auto heraus führen bis nachfolgende Autos die Weiterfahrt nötig machen. Im Falle einer Begegnung von guten Nachbarn oder Freunden können die Autofahrer ihre Fahrzeuge sogar an den Randzonen der Straße parken und ihre Interaktion dort fortsetzen. Temporäre Anknüpfungsmöglichkeiten des Autofahrers an systemexterne Rollen und Kontakte ergeben sich auch durch die institutionalisierten Wartezeiten (z.B. an der Ampel oder dem Zebrastreifen). Dabei kann er seine Vertrautheit durch ein kurzes Winken aus dem Auto signalisieren, für kurze Zeit das Auto verlassen und mit seinem Hinter-oder Vordermann einen kleinen Plausch führen oder via elektronische Lichtzeichen oder Autohupe kommunizieren. Schließlich kann der Autofahrer auch mit ihm vertrauten Passanten kommunizieren, die sich an den Rand-oder Zwischenzonen aufhalten oder gerade die Fahrbahn überqueren. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass sich bestimmte Straßentypen des urbanen Straßennetzes, besonders weniger stark befahrene Neben-und Wohnstraßen, dazu eignen, die institutionalisierten Wartezeiten für Interaktionen zu nutzen, die an systemexterne Rollen und Kontaktnetze anknüpfen. Wird die Fahrt nicht für längere Zeit unterbrochen, indem der Autofahrer sein Auto an den Randzonen parkt, kann es sich aber nur um temporäre Einsprengsel handeln, da er sonst ein Hindernis für die Fortführung des Straßenverkehrs darstellen würde. Schließlich wollen wir noch die Implikationen der nichtinstitutionalisierten Wartezeiten für das Erleben und Handeln des Autofahrers im Kontext der Sequenz von flüchtigen Interaktionen auf den urbanen Straßen herausarbeiten. Dabei lassen sich im Unterschied zur Autobahnfahrt weitaus mehr systemexterne Anlässe für Wartezeiten beobachten. Dies ist vor allem auf die bereits erwähnte engere Kopplung der übrigen Raumzonen und ihre Akteure mit der Fahrbahn der Stadtstraßen zurückzuführen. Infolge der temporären räumlichen Entdifferenzierung der Randzonen und der Fahrbahn durch die an den Randzonen und auf Teilen der Fahrbahn haltenden Lieferwagen, LKWs, Müllautos, Omnibusse oder Umzugswagen kann es zu kürzeren oder längeren Wartezeiten kommen. Dabei handelt es sich um Dienstleistungen, die qua Leistungsrollen für die Mitglieder der Gebäudezonen der übrigen Funktionssysteme erbracht werden. Die temporäre Inanspruchnahme der Randzonen und von Teilen der Fahrbahn kann zum Anlass für flüchtige Interaktionssysteme unterschiedlichster Art werden. So können Schulkinder in den wartenden Omnibussen die Kommunikation mit wartenden Autofahrern aufnehmen; ungeduldige Autofahrer ein Hupkonzert beginnen, um LKW-Fahrer oder Fahrer von Müllautos zum Weiterfahren zu stimulieren; riskante Manöver des Vorbeifahrens auf der Zwischenzone der Straße gestartet und Streitgespräche durch das offene Fenster mit ordnungswidrig haltenden Fahrern von Lieferwagen geführt werden. Ferner kann die temporäre räumliche Entdifferenzierung von Rand-bzw. Zwischenzonen und der Fahrbahn durch nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer, speziell Kinder
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und Fahrradfahrer, zu Kollisionen mit Autofahrern führen. Die durch diese Unfälle induzierten Wartezeiten können spontane Interaktionssysteme laienförmiger Erster Hilfe bis zum Eintreffen professioneller Hilfe auslösen, an denen sich, neben den nichtbetroffenen Autofahrern, auch Passanten als Helfer oder Beobachter (Zeugen) beteiligen können. Um besondere und vergleichsweise seltenere Fälle von Wartesituationen, handelt es sich dann, wenn andere Funktionssysteme temporär die Fahrbahn für ihre Zwecke nutzen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an die Festivalisierung der urbanen Straßen durch das Sport-und Religionssystem im Rahmen von Marathonläufen (Bette 1989, 79ff.) oder Prozessionen, aber auch an die Politisierung der urbanen Straßen durch Demonstrationen (Warneken 1991; Friedrichs 1994; Gilcher-Holtey 1994). Hier wird der Autofahrer zum kurzfristigen Beobachter von Formen der Rückeroberung des Sozialraums Straße durch körpergebundene Formen der Eigenmobilität auf der einen und der multifunktionalen Nutzung der Straße jenseits der Transportfunktion auf der anderen Seite. Je nach Fahrtanlass und Zeitdruck kann er das Ende dieser Ereignisse ungeduldig abwarten; sich auf kurzfristige Kommunikationen mit Veranstaltungsteilnehmern (z.B. bei einer Demonstration) einlassen; aber auch einen vorübergehenden Rollenwechsel vollziehen und die Rolle des Zuschauers mit der jeweiligen Erwartung desjenigen übernehmen, auf den die Straßenakteure jeweils abheben, also des Sportpublikums, des Gläubigen oder politisch interessierten Staatsbürgers. Zusammenfassend kommen wir zu dem Ergebnis, dass die Autofahrt auf urbanen Straßen ein hochkomplexes Ereignis darstellt. Im Unterschied zur Autobahnfahrt erlebt der Autofahrer die Präferenzwerte Mobilität und Schnelligkeit des Verkehrssystems Straße in Form einer erhöhten Verdichtung und Vernetzung der Nahraummobilität einerseits und einer gestiegenen temporalen Komplexität bei vergleichsweise niedrigem Tempolimit andererseits. Dies führt dazu, dass er sich während der Fahrt in viel stärkerem Maße auf weitere motorisierte und nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer, die engere Verknüpfung der Rand-und Zwischenzonen mit der Fahrbahn und institutionalisierte und nichtinstitutionalisierte Wartezeiten erlebnis-und handlungsmäßig einstellen muss. Letztere können Anlässe für die temporäre Aufnahme von flüchtigen Interaktionen sein, die über die situationsspezifische Selbstthematisierung des Fahrtgeschehens hinaus auch freiwillig oder unfreiwillig an Themen und Rollen anderer Funktionssysteme anschließen. Dies ändert allerdings nichts an der Autopoiesis der Fahrten des urbanen Straßennetzes, dessen Rhythmus von Fahren und Anhalten und Sequenzen lose organisierter flüchtiger Interaktionen der Autofahrer sich freiwillig nur dann entziehen kann, wenn er aus dem Auto am Ankunftsort aussteigt und damit die automobile Inklusion beendet.
3.4.4
Die Straße des Verkehrssystems im Wandel: Ein Ausblick
Abschließend wollen wir anhand unserer bisherigen systemtheoretisch und phänomenologisch inspirierten Überlegungen drei uns wichtig erscheinende aktuelle Veränderungen des Verkehrssystems Straße beleuchten. Einen ersten Wandel sehen wir in der Tendenz der selektiven Rückeroberung des Verkehrssystems Straße durch das ausgeschlossene eingeschlossene Dritte der Formen kör-
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
pergebundener Eigenmobilität (dazu Bette 1989, 82ff.). Eine zweite Veränderung beobachten wir anhand der graduellen Umwertung der bisherigen Präferenzwerte der Leitdifferenzen des Verkehrssystems Straße (zu Tendenzen der Umwertung der Präferenzwerte im Medizin- und Pflegesystem vgl. Schaefer 1989; Voss 1993, 243ff.). Und seine dritte Transformation stellt die zunehmende Bedeutung einer von uns bisher nur beiläufig im Zusammenhang mit der Risikokommunikation der Fahrten thematisierten Leitdifferenz von Risiko/Sicherheit mit der Präferenz für Sicherheit dar (vgl. zur begrifflichen Differenzierung Risiko/Gefahr-Sicherheit generell Luhmann 1991). Man könnte auch von einer Steigerung der Relevanz eines weiteren Sekundärcodes des Verkehrssystems Straße sprechen. Die strukturellen Anlässe für die erwähnten Veränderungen sind systeminterne und -externe Folgeprobleme des Verkehrssystems Straße, die sich aus der Verselbständigung der bisherigen Präferenzwerte respektive des scharfen binären Zuschnittes der Leitdifferenzen ergeben haben. Diese führten zu neuen sozialen Bewegungen und Reformreflexionen mit entsprechenden selektiven Strukturveränderungen im Verkehrssystem Straße. Ihr blinder Fleck besteht darin, dass sie die paradoxe Einheit der Leitdifferenzen entweder dadurch entparadoxieren und invisibilisieren, dass sie den Gegenwert nicht hinreichend mitreflektieren oder beim Rückgriff auf das eingeschlossene ausgeschlossene Dritte die raumzeitliche Selektivität der an den Nahraum gebundenen Formen der körpergebunden Eigenmobilität ausblenden.
3.4.4.1 Straße für alle? Möglichkeiten und Grenzen der Reinklusion körpergebundener Eigenmobilität Unter der Überschrift »Straße für alle« (Monheim/Monheim-Dandorfer 1990) lassen sich heterogene empirische Tendenzen und entsprechende theoretische Beobachtungen (Bette 1989, 81ff.) bzw. Reformreflexionen (Monheim/Monheim-Dandorfer 1990; Nokielski 1985) des Verkehrssystems Straße bündeln. Ihre Gemeinsamkeiten sind darin zu sehen, dass sie einen selektiven Ausschnitt des Verkehrssystems Straße, nämlich primär urbane, teilweise sogar nur Wohnstraßen, beobachten. Ihre Differenzen sind in der Tiefenschärfe der theoretischen Beobachtungen und in den Folgen für das Verkehrssystem Straße zu finden. Während Bette (1989) die Grenzen der temporären Rückeroberung des Verkehrssystems Straße durch sportliche Formen der körpergebundenen Eigenmobilität (Jogging, Marathonlauf) auf dem Hintergrund systemtheoretisch inspirierter Analysen der Simultaneität von Körperaufwertung und-distanz zutreffend herausarbeitet, gehen die Reformreflexionen anders vor. Ausgehend vom Differenzschema automobiler/nichtautomobiler Inklusion optieren sie für letztere. An dieses hängen sie die Differenz von Gleichheit/Ungleichheit an und präzisieren die Ungleichheit zielgruppenspezifisch als sozialräumliche Segregation bestimmter Verkehrsteilnehmer (Kindern, Jugendliche, Alte und Behinderte). Daraus leiten sie räumliche Einschränkungen der Fahrbahn zugunsten der Erweiterung der anderen Raumzonen der Straße (Ausbau von Fahrradwegen, Reduktion von Parkmöglichkeiten) und Mobilitätsbarrieren für Spielstraßen auf der Fahrbahn ab. Die Grenzen und damit der blinde Fleck der Reformreflexionen geraten dabei aus dem Blick. So ist ihre Reichweite, sofern sie nicht eine autofreie Stadt postulieren, auf Subsysteme des Verkehrssystems Straße beschränkt. Ferner klammern sie die Folgepro-
3. Funktionssysteme
bleme der Multiinklusion der Betroffenen ins Verkehrssystem aus, und schließlich übersehen sie die Vorteile der automobilen Inklusion, wie wir sie im Zusammenhang mit den Funktionen des Autos herausgearbeitet haben. Letztlich geht es also um eine Umwertung der Leitdifferenz motorisierter Mobilität/ Immobilität in Richtung reduzierter motorisierter Mobilität auf der einen und dauerhafter Reinklusion körpergebundener Eigenmobilität auf der anderen Seite. Diese findet jedoch auf dem Hintergrund einer neuen Technikstufe statt. So ist beispielsweise das Fahrrad inzwischen zu einem technisch hochgerüsteten Fortbewegungsmittel in Anlehnung an das Sportsystem (Rennrad) oder unwegsame nichturbane Freizonen (Mountain-Bike) geworden. Damit können gerade diejenigen Zielgruppen (Kinder, Jugendliche) aufgrund ihrer technisch vermittelten Eigenmobilität zur Gefahr für Dritte werden, die es zu schützen galt, wenn sie die technisch möglichen Potenziale auf den Fahrbahnen und an den Rand-und Zwischenzonen der urbanen Straßen auszureizen versuchen. Im übrigen zollen sie dadurch gerade demjenigen Präferenzwert (motorisierte Schnelligkeit) qua körpergebundener Eigenmobilität Tribut, der, wie wir nun sehen werden, an Relevanz im Verkehrssystem Straße zu verlieren scheint.
3.4.4.2 Die Straße als Ort der wiederentdeckten Langsamkeit? Möglichkeiten und Grenzen von Tempobeschränkungen Die Schnelligkeit automobiler Inklusion und ihre Risiken geben den Anstoß zu weiteren Reformreflexionen ab, die sowohl an der Autobahn als auch den urbanen Straßen ansetzen. Die Leitdifferenz motorisierte Schnelligkeit/Langsamkeit des Verkehrssystems wird also ebenfalls umgewertet –und zwar in Richtung motorisierte Langsamkeit als Präferenzwert. Dabei wird erstens auf bestimmte systemexterne Folgeprobleme der temporalen Verselbständigung des Verkehrssystems für die ökologische Umwelt (Waldsterben, Umweltverschmutzung etc.) und die körperliche Umwelt der psychischen Systeme (die Anzahl der Verkehrstoten und Schwerverletzten) abgehoben. Zum zweiten wird auf systeminterne Folgeprobleme des Verkehrssystems (Staus, Stop und go; Rushhour) verwiesen, die den Präferenzwert Schnelligkeit bereits immanent qua nichtinstitutionalisierter Wartezeiten relativieren. Und schließlich wird mit dem selektiven Wertewandel von Teilmilieus der nachwachsenden Generation argumentiert, die im Rahmen von neuen sozialen Bewegungen bereits den Präferenzwert Langsamkeit für sich entdeckt haben (Bette 1989, 88ff.; Schulze 1993, 312ff.) Im Zentrum der sich an diese Reformreflexionen anschließenden Forderungen und selektiven Strukturveränderungen des Verkehrssystems Straße stehen u.a. verschärfte Tempolimits auf den Autobahnen (Tempo 100) und den urbanen Straßen (z.B. die Etablierung von verkehrsberuhigten Zonen: Tempo 40 und 30); die Konstruktion umweltfreundlicher Autos; die Präferenz zugunsten der Bahn im Fernverkehr und von öffentlichen Verkehrsmitteln und Fahrradwegen im Nahverkehr. Unstrittig ist, dass viele dieser Forderungen und Veränderungen des Verkehrssystems Straße sinnvoll sind, doch lässt sich auch hier fragen, ob die tendenzielle Umwertung der Leitdifferenzen des Verkehrssystems Straße in Richtung motorisierter Langsamkeit und die sich daran anschließenden Reformreflexionen hinreichend zu Ende gedacht sind. So ist es fraglich, ob andere Subsysteme des Verkehrssystems (Bahn oder
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Flugzeug) funktionale Äquivalente für die Autobahn als bisheriger Ort der Fernmobilität und Höchstgeschwindigkeit sein können. Dies gilt sowohl für die ökologischen Folgeprobleme als auch die Inklusionschancen in Bezug auf die Höchstgeschwindigkeitszüge der Bahn (z.B. ländliche Bewohner). Ferner lässt sich fragen, ob der öffentliche Nahverkehr ein funktionales Äquivalent für die nahezu voraussetzungslose Teilnahme am Verkehrssystem qua automobiler Inklusion darstellt und die Mehrheit der Verkehrsteilnehmer bereit ist, die selbstgewählten durch die fremdgesteuerten Wartezeiten einzutauschen. Schließlich stellt sich die Frage nach der Kompatibilität verlangsamter Eigenzeiten des Verkehrssystems Straße mit den Eigenzeiten der übrigen Funktionssysteme, die eher auf Tempobeschleunigung angelegt zu sein scheinen. Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Autorennen im Hochleistungssport, die Datenübertragung im Internet der Telekommunikation, die Forderungen des Wirtschaftssystems nach Lieferungen just in time, die Beschleunigung des Wissensumlaufes im Wissenschaftssystem, ja der gesellschaftlichen Evolution überhaupt.
3.4.4.3 Die Straße als Ort zunehmender Sicherheitsvorkehrungen durch Verrechtlichung? Möglichkeiten und Grenzen der Individualisierung qua automobiler Inklusion Wenn sich automobile Inklusion auch als ein Prozess der Deinstitutionalisierung in Form der Automobilisierung zunehmender Teile der Bevölkerung ab den 1960er Jahren bis heute rekonstruieren lässt, erzeugt sie eine Simultaneität gesteigerter Autonomiespielräume der Individuen hinsichtlich von Zeit und Raum und gesteigerter Risiken mit entsprechenden Gefahren für Dritte. Diese wurden in den letzten Jahren zunehmend qua Angstkommunikation (Luhmann 1986, 237ff.) politisiert und vom politischen System mit seinen Steuerungsmitteln (Recht, Geld und technische Infrastruktur) im Rahmen unterschiedlicher Konditional-und Zweckprogramme zu entschärfen versucht. So wurde die Autoindustrie zu unterschiedlichen Sicherheitsmaßnahmen (Air-bag, Seitenschutz, Bremssysteme, Sicherheitsgurt) verpflichtet bzw. stimuliert. Es wuchsen die Tempolimits auf den Autobahnen und auf den Nebenstraßen des urbanen Straßennetzes wurden die Höchstgeschwindigkeiten reduziert. Es stiegen die Steuerungsversuche qua computergesteuerter Verkehrsleitsysteme; Sonderspuren für Omnibusse mit entsprechenden Vorfahrtsregelungen wurden errichtet; das Fahrradnetz erweitert; der Führerschein auf Probe für Jugendliche eingeführt und die Achtsamkeit für Kinder durch vermehrte Hinweisschilder erhöht. Ferner kam es zur Reduktion der Promillegrenze und der Erhöhung rechtlicher Sanktionen für Verkehrssünder. Schließlich wurden die Mineralölsteuer und Kraftfahrzeugsteuer wiederholt erhöht, und es wurde der Katalysator zur Pflicht gemacht. Betrachtet man die skizzierten Maßnahmen auf einen Blick, so verweisen sie auf die Leitdifferenz von Risiko/Sicherheit mit dem Präferenzwert Sicherheit. Damit kommt es im Verkehrssystem Straße zur stärkeren Institutionalisierung eines bis dato eher implizit vorhandenen Codes. Sie lässt sich als der Versuch begreifen, die gesteigerten Kontingenzen der Fahrten und Entscheidungsmöglichkeiten der automobil inkludierten Verkehrsteilnehmer durch die Orientierung an Sicherheit anstelle von Risiko zu reduzieren. Diese kann durchaus zum Abbau von Selbst-und Fremdgefährdung auf den Straßen des Verkehrssystems führen. Solange die strukturellen Veränderungen durch Ver-
3. Funktionssysteme
kehrstechnologien jedoch nicht zu Sicherheitsstandards führen, die von den komplexen Bewusstseinsleistungen der beteiligten psychischen Systeme gänzlich abstrahieren können, wird die Autopoiesis der Fahrten immer auf eine enge und zugleich prekäre strukturelle Kopplung der Verkehrskommunikation und des Bewusstseins sowie des daraus selektiv resultierenden und persönlich zurechenbaren riskanten Handelns der automobil inkludierten Verkehrsteilnehmer angewiesen bleiben.
3.5 Hochleistungssport. Ein wettbewerbsorientiertes und körperbetontes Funktionssystem 3.5.1
Einleitung
Dass der Hochleistungssport ein Teilsystem bzw. Funktionssystem der heutigen spätmodernen Gesellschaft repräsentiert, scheint innerhalb der neueren Systemtheorie unstrittig (vgl. Schimank 1988, 183ff.; Cachay/Thiel 2000, 29ff.; Bette 2005, 169ff.), wenngleich die Frage nach seiner evolutionären Durchsetzung unterschiedlich beantwortet wird (Schimank 1988, 194; Werron 2010, 247ff.). Wir wollen im Folgenden anhand von systemtheoretisch inspirierten Vergleichskriterien vor allem die Besonderheiten des Hochleistungssports in Relation zu anderen Funktionssystemen herausarbeiten (vgl. dazu Hohm 2020). Dazu bedienen wir uns hauptsächlich der Teiltheorien der soziologischen Systemtheorie Luhmanns bzw. der Bielefelder Schule. Wenn dabei als Abfallprodukt auch Gemeinsamkeiten mit sehr heterogenen Funktionssystemen in den Blick geraten, betrachten wir dies als konstruktives Ergebnis einer Theoriearbeit, deren Begrifflichkeit den Blick auf die soziale Welt durch gesteigerte Eigenkomplexität zu schärfen ermöglicht. Zunächst stellen wir die Frage nach der Funktion des Hochleistungssports, daran schließt sich die Thematisierung seines Codes und der Programme an. Es folgt die Beobachtung des Körpers und von Objekten als Wahrnehmungsmedien. Danach geht es um die Präzisierung des autopoietischen Vollzugs des Hochleistungssports . Die strukturelle Kopplung von Training und Wettkampf als seine zentralen Interaktionssysteme wird darauffolgend ebenso erörtert wie seine strukturellen Kopplungen mit anderen Funktionssystemen sowie die Aus-und Binnendifferenzierung der zentralen sportspezifischen Rollen des Leistungssportlers und Trainers . Abschließend werden wir die Sinndimensionen, Selbstbeschreibungen sowie die Differenz von Hochleistungssport, Breitensport und Schulsport diskutieren. Da sich der Hochleistungssport in eine Vielfalt von Sportarten binnendifferenziert, ist es unmöglich die systemtheoretischen Einsichten anhand von jeder von ihnen zu exemplifizieren. Wir haben uns methodisch deshalb dafür entschieden, hauptsächlich die Mannschaftsballsportarten und bei diesen wiederum besonders das Fußballspiel als Beispiele für unsere systemtheoretische Argumentation heranzuziehen. Das schließt es nicht aus, dass wir selektiv auch Beispiele der anderen Sportarten berücksichtigen werden. Den Vorteil unserer empirischen Selektion sehen wir darin, dass es sich beim Fußball um den dominanten Populärsport handelt. Wir können deshalb eine breitere Kenntnis seiner Regeln und sonstigen strukturellen Voraussetzungen voraussetzen,
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3. Funktionssysteme
kehrstechnologien jedoch nicht zu Sicherheitsstandards führen, die von den komplexen Bewusstseinsleistungen der beteiligten psychischen Systeme gänzlich abstrahieren können, wird die Autopoiesis der Fahrten immer auf eine enge und zugleich prekäre strukturelle Kopplung der Verkehrskommunikation und des Bewusstseins sowie des daraus selektiv resultierenden und persönlich zurechenbaren riskanten Handelns der automobil inkludierten Verkehrsteilnehmer angewiesen bleiben.
3.5 Hochleistungssport. Ein wettbewerbsorientiertes und körperbetontes Funktionssystem 3.5.1
Einleitung
Dass der Hochleistungssport ein Teilsystem bzw. Funktionssystem der heutigen spätmodernen Gesellschaft repräsentiert, scheint innerhalb der neueren Systemtheorie unstrittig (vgl. Schimank 1988, 183ff.; Cachay/Thiel 2000, 29ff.; Bette 2005, 169ff.), wenngleich die Frage nach seiner evolutionären Durchsetzung unterschiedlich beantwortet wird (Schimank 1988, 194; Werron 2010, 247ff.). Wir wollen im Folgenden anhand von systemtheoretisch inspirierten Vergleichskriterien vor allem die Besonderheiten des Hochleistungssports in Relation zu anderen Funktionssystemen herausarbeiten (vgl. dazu Hohm 2020). Dazu bedienen wir uns hauptsächlich der Teiltheorien der soziologischen Systemtheorie Luhmanns bzw. der Bielefelder Schule. Wenn dabei als Abfallprodukt auch Gemeinsamkeiten mit sehr heterogenen Funktionssystemen in den Blick geraten, betrachten wir dies als konstruktives Ergebnis einer Theoriearbeit, deren Begrifflichkeit den Blick auf die soziale Welt durch gesteigerte Eigenkomplexität zu schärfen ermöglicht. Zunächst stellen wir die Frage nach der Funktion des Hochleistungssports, daran schließt sich die Thematisierung seines Codes und der Programme an. Es folgt die Beobachtung des Körpers und von Objekten als Wahrnehmungsmedien. Danach geht es um die Präzisierung des autopoietischen Vollzugs des Hochleistungssports . Die strukturelle Kopplung von Training und Wettkampf als seine zentralen Interaktionssysteme wird darauffolgend ebenso erörtert wie seine strukturellen Kopplungen mit anderen Funktionssystemen sowie die Aus-und Binnendifferenzierung der zentralen sportspezifischen Rollen des Leistungssportlers und Trainers . Abschließend werden wir die Sinndimensionen, Selbstbeschreibungen sowie die Differenz von Hochleistungssport, Breitensport und Schulsport diskutieren. Da sich der Hochleistungssport in eine Vielfalt von Sportarten binnendifferenziert, ist es unmöglich die systemtheoretischen Einsichten anhand von jeder von ihnen zu exemplifizieren. Wir haben uns methodisch deshalb dafür entschieden, hauptsächlich die Mannschaftsballsportarten und bei diesen wiederum besonders das Fußballspiel als Beispiele für unsere systemtheoretische Argumentation heranzuziehen. Das schließt es nicht aus, dass wir selektiv auch Beispiele der anderen Sportarten berücksichtigen werden. Den Vorteil unserer empirischen Selektion sehen wir darin, dass es sich beim Fußball um den dominanten Populärsport handelt. Wir können deshalb eine breitere Kenntnis seiner Regeln und sonstigen strukturellen Voraussetzungen voraussetzen,
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was, so unsere Hoffnung, das Verständnis der komplexen und für manchen Leser sperrigen Begrifflichkeit der Systemtheorie erleichtert.
3.5.2
Funktion
Fragt man nach der gesellschaftlichen Funktion (vgl. dazu generell Luhmann/Schorr 1979, 35ff.; Luhmann 1997b, Bd.2, 757ff.), welche nur der Hochleistungssport und kein anderes Teilsystem bedient (skeptisch zur Notwendigkeit der Funktionsbestimmung des Spitzensports äußern sich Schimank 1988 183ff. sowie Bette 2005, 170. Siehe demgegenüber Stichweh 1990, 379ff.), so spielt der menschliche Körper insofern eine besondere Rolle, als er unter kompetitiven, sprich Wettbewerbsbedingungen, beobachtet wird. Die gesellschaftliche Funktion, welche nur der Hochleistungssport erfüllt, wollen wir dementsprechend als rollenspezifische Inklusion von Sportprofis betrachten, welche vor anwesenden Zuschauern und massenmedialem Publikum unter Wettbewerbsbedingungen ihre körperliche Leistungen durch neutrale Dritte beobachten und bewerten lassen. Mit dieser Funktionsbestimmung des Hochleistungssports grenzen wir ihn einerseits vom Breitensport bzw. Amateursport dadurch ab, dass es sich bei den Akteuren und Adressaten der Sportkommunikation um Profis, sprich Inhabern von primären Leistungsrollen, handelt. Andererseits jedoch auch von Leistungsbeurteilungen des Körpers, welche sich nicht auf Wettbewerbsbedingungen, sondern auf Diagnostiken beziehen – wie z.B. bei der Medizin, der Pflege und der Sozialversicherung. Zugleich unterstellen wir, dass es sich um gesunde Körper handelt, was u.a. auf strukturelle Kopplungen zur Sportmedizin und auf Abgrenzungen zum Behindertensport verweist. Der Hochleistungssport differenziert sich somit dadurch aus, dass er sowohl Amateure und Breitensportler als auch kranke und gehandikapte Sportler als nicht wettbewerbsfähig exkludiert. Hinzu kommt, dass die neutralen Dritten als Schiedsrichter bzw. Kampfgericht eine Selbstbeobachtung bzw. Selbstbewertung der Leistung der Kombattanten als verbindliches Wettbewerbsergebnis ausschließen. Dies soll zum einen eine Parteilichkeit der Leistungsbeurteilung verhindern, wie sie z.B. überall dort zu beobachten ist, wo Wettkämpfe ohne Schiedsrichter stattfinden. Zum anderen weist sie eine Kontinuität zum Amateursport auf, die dort unterbrochen wird, wo Profischiedsrichter agieren. Die Funktionserfüllung und damit die Ausdifferenzierung des Hochleistungssportes wird dann wahrscheinlicher, wenn die moderne Gesellschaft zunehmend Jugendlichen und jungen Erwachsenen die strukturelle Möglichkeit offeriert, Berufssportler zu werden, zudem komplementär ein breites Publikum generiert (Werron 2010), das sich die Zeit nehmen kann, entsprechende Sportereignisse vor Ort oder vermittelt durch die Massenmedien zu beobachten, und schließlich professionelle neutrale Schiedsrichter ausdifferenziert. Auf der Rollenebene ist die Ausdifferenzierung des Spitzensports somit an eine Rollendifferenzierung von primärer Leistungsrolle und komplementärer Laienbzw. Publikumsrolle sowie eine neutrale dritte Schiedsrichterrolle gebunden.
3. Funktionssysteme
3.5.3
Der Sportcode: Sieg/Niederlage
Um sich auf einer abstrakteren Ebene ausdifferenzieren zu können, muss der Hochleistungssport wie jedes andere Funktionssystem einen binären Code aufweisen, der es ihm ermöglicht, sich als ausdifferenziertes Teilsystem von anderen Teilsystemen zu unterscheiden. Die bisher vorliegenden systemtheoretischen Codevorschläge des Hochleistungssportes laufen mehrheitlich auf die Leitdifferenz von Sieg/Niederlage bzw. den Sportcode als Siegescode hinaus (vgl. Schimank 1988, 185ff.; Cachay/Thiel 2000, 134ff.; Bette 2005, 171). Wird die Leitdifferenz Sieg/Niederlage als Sportcode betrachtet, muss im Unterschied zum Code des Militärsystems bzw. Kriegssystems (Matuszek 2007, 31ff.; vgl. auch Bette 2005, 172ff.) hervorgehoben werden, dass beim Hochleistungssport sowohl die wechselseitige Tötung der Kombattanten als auch ihre regelwidrige Verletzung ausgeschlossen wird. Zudem wird eine Feind-Semantik tabuisiert. Was die Differenz zum Wahlkampf der Parteien und einer Gerichtsverhandlung betrifft, werden Sieg oder Niederlage im Gegensatz zum politischen System nicht an eine Wahl des Publikums oder der Zuschauer gebunden, was Umfragen oder Wetten hinsichtlich des Sieges oder der Niederlage nicht ausschließt. Und anders als im Rechtssystem wird über Sieg und Niederlage im Hochleistungssport im Normalfall nicht in einer Verhandlung entschieden, sondern im Wettbewerb oder kurz nach dem Wettbewerb. Der Sportcode weist also mit seinem Dual zwar semantische Affinitäten zum Militärsystem, politischen System und Rechtssystem auf. Bei seinen Siegen und Niederlagen geht es jedoch weder um Leben und Tod noch um die Wahl des Siegers durch das Publikum – wenngleich es Sportlerwahlen gibt, welche jedoch oft von Mitgliedern des Sportsystems selbst vorgenommen werden –, aber auch nicht primär um Entscheidungen am »grünen Tisch« oder in einer Verhandlung. Dass es dennoch strukturelle Kopplungen mit den genannten Teilsystemen, aber auch zum Medizinsystem, Wirtschaftssystem und den Massenmedien gibt, werden wir noch sehen. So gibt es eine Sportmedizin, Sportgerichte und eine Sportpolitik ebenso wie Sponsoren der Wirtschaft und Sportübertragungen in den Massenmedien. Diese weisen jedoch andere funktionssystemspezifische Formen der Kommunikation und andere Codes als der Sportcode und die durch ihn induzierte Sportkommunikation auf. Was nun den Sportcode selbst betrifft, so besteht er aus einem Präferenzwert (=Sieg) und einen Negativwert (=Niederlage). Als eingeschlossenes ausgeschlossenes Drittes existiert auch noch das »Unentschieden«. Dieses gilt jedoch normalerweise nur für den einzelnen Wettkampf. Im rekursiven Netzwerk der Wettkämpfe trägt es als Elementarereignis des Sportsystems letztlich entweder zum Gesamtsieg oder zur Gesamtniederlage bei. Dass dies so ist, hängt mit dem Präferenzcode des Sportsystems zusammen. Dieser toleriert nur in Ausnahmefällen zwei Sieger, ansonsten erzwingt er eine Entscheidung zugunsten von Sieg und Niederlage. Als Präferenzcode impliziert der Sportcode die höhere systeminterne Anschlussfähigkeit des Sieges (vgl. Bolz 2009, 19). Wer siegt hat Erfolg. Siege fungieren gleichsam wie Positivkarrieren als sich selbstaufbauende autopoetische Ereignisse. Sie werden sowohl als selbstmotivierende anschlussfähige Ereignisse von den beteiligten Sportlern und Teams erlebt als auch als Bestätigung der Wettbewerbsvorbereitung (=Training).
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Zudem steigern sie die Reputation im Sportsystem wie man an dem Respekt ablesen kann, der erfolgreichen Sportlern und Teams gezollt wird. Die Unbesiegbarkeit einzelner Sportler und Teams wird zu einem Mythos gesteigert und mit Semantiken wie »Genie« oder »Dream Team« zur einzigartigen supererogatorischen Leistung aufgeladen. Vergleichbar mit der Moral der Meritokratie im Sinne des Übertreffens erwartbarer Leistungen (vgl. Luhmann 1995a, 92ff.). Trotz des Präferenzcodes gilt es jedoch zu beachten, dass Sieg und Niederlage auch symmetrische formale Werte sind. Wer nicht gewinnt im Sportsystem, der verliert, und wer nicht verliert, gewinnt. Was auf die Engführung und das leichte Crossing beider Werte sowie auf ihr Reflexivwerden verweist. Die Niederlage ist sowohl der Negativwert als auch Kontingenz- bzw. Reflexionswert des Sportsystems. Kontingenzwert deshalb, weil es vorab nicht feststeht bzw. nicht feststehen sollte, wer von beiden Kombattanten gewinnt oder verliert. Ansonsten ginge die in das einzelne Sportereignis eingebaute Spannung über die Offenheit des Ausgangs a priori verloren (vgl. Bette 2005, 173ff.; Bolz 2009, 18). Der Nimbus der Unbesiegbarkeit hat von daher für das Sportsystem bzw. die einzelne Sportart auch seine Kehrseite. Seine Unwahrscheinlichkeit erschließt sich dadurch, dass die Niederlage als andere Seite der Form des Sportcodes normalerweise immer miteinkalkuliert wird. Die Spannung, die bei bis dato unbesiegten Sportlern oder Teams noch übrigbleibt, ist von daher eine Spannung, die ihren Reiz aus der erstmaligen Niederlage bezieht. Sie reduziert sich in dem Maße, in dem diese unwahrscheinlicher wird. Man denke nur an die frühere Dominanz von Michael Schumacher in der Formel 1, die deutsche Fußballmannschaft der Herren bei WM-Turnieren –was Gary Lineker zu der Äußerung veranlasste: »Football is a simple game; 22 men chase a ball for 90 minutes and at the end, the Germans always wins.«–, Bayern München als Seriensieger der 1. Bundesliga oder Usain Bolt im Sprint der Leichtathletik. Sieht man einmal von den höchst unwahrscheinlichen Einzelfällen der Unbesiegbarkeit einzelner Sportler oder Teams ab, so sorgt das Sportsystem als autopoietisches System – ähnlich wie das politische System – vor allem durch seine Eigenzeit dafür, dass die Spannung erhalten bleibt. Wesentliche Indikatoren sind hier zum einen die Befristetheit der einzelnen Sportlerkarriere, welche normalerweise nicht länger als 10 bis 15 Jahre ein Topniveau ermöglicht. Und zum anderen und primär die Saisons, welche garantieren, dass die in der Vergangenheit erreichten Siege im Sportsystem an aktueller Relevanz verlieren. Das Systemgedächtnis des Sportsystems operiert wie jedes Gedächtnis anhand der Differenz von Erinnern und Vergessen mit der Präferenz für Vergessen (Luhmann 1995h, 45) nach dem Motto »Neues Spiel, neues Glück« bzw. »Neue Saison, neue Chancen«. Das genaue funktionale Äquivalent der oftmals vierjährigen Legislaturperioden des politischen Systems mit seiner Möglichkeit des Crossings von Regierung und Opposition sind im Sportsystem die Olympiade und die Fußballweltmeisterschaft. Es dominiert jedoch der kürzere Zeithorizont der jährlichen Saison, welche die Ergebnisse der vergangenen Saison annulliert. Das schließt es nicht aus, dass bestimmte vergangene Siege systemintern als Vorteile in die neue Saison mit hinübergenommen werden können, sei es im Ranking, sei es als Teilnahmevoraussetzung für internationale Wettbewerbe, jedoch nicht auf Dauer. »Nach dem Spiel, ist vor dem Spiel«, diese Aussage des einstmaligen DFB-Bundestrai-
3. Funktionssysteme
ners Sepp Herbergers ist sowohl ein intuitiver Hinweis auf die Autopoiesis als auch die funktionssystemspezifische Codeorientierung des Sportsystems. So geht es im Sportsystem immer weiter, wenn auch nicht zwangsläufig nur erfolgreich oder erfolglos. Der Kontingenzwert im Sportsystem lässt sich folglich wie der Selektionscode im Bildungssystem (vgl. dazu Luhmann 2002, 62ff.) sowohl auf das Einzelereignis (=einzelne Hausarbeit) als auch das Gesamtergebnis von Einzelereignissen (=Abschlussprüfung, Zeugnis) beziehen. So wie ein einzelner Sieg oder eine einzelne Niederlage noch nicht über das Endergebnis im Sportsystem entscheiden muss, so auch nicht eine einzelne Note. »Am Ende wird abgerechnet«, heißt es deshalb auch oft im Sportsystem. Dennoch gibt es besondere Sportereignisse, vergleichbar mit den Abschlussprüfungen des Bildungssystems, denen ein besonderer systeminterner Stellenwert zukommt. Man denke nur an Endspiele, Weltmeisterschaften, Olympiaden oder nationale Meisterschaften, bei denen die vorherigen Ergebnisse zwar sehr wohl die Voraussetzung für die Teilnahme sind, jedoch schließlich ein einzelnes Ereignis über Sieg und Niederlage entscheidet und alle vorherigen Ergebnisse relativiert. Die Zuspitzung des Sportcodes als Siegescode kann dann so weit gehen, dass ein zweiter Platz für den betroffenen Sportler oder das betroffene Team nicht als Erfolg, sondern als Niederlage bewertet wird. Der Kontingenzwert kann jedoch auch im Sportsystem als Reflexionswert fungieren, wenn eine einzelne bedeutende Niederlage oder mehrere Niederlagen hintereinander zum Anlass der Selbstthematisierung genommen werden. Niederlagen erschweren nämlich die kommunikative Anschlussfähigkeit im Sportsystem, da sie entweder zum vorübergehenden Ausscheiden des Sportlers oder Teams führen oder den möglichen Abstieg innerhalb des Sportsystems indizieren. Sieg und Niederlage im Sportsystem machen mithin deutlich, dass es Auf- und Abstiege erzeugt, wobei vor allem letztere Selbstreflexionen auslösen, die durch daraus resultierendes Handeln zukünftig vermieden werden sollen. Reflexion ist dabei nicht nur auf den einzelnen Sportler oder das einzelne Team begrenzt, sondern – wie wir noch sehen werden – vor allem an die Rolle eines Sonderbeobachters gebunden, der als Trainer oder Coach nicht unmittelbar als Akteur am Wettbewerb teilnimmt. Da der Sportcode seine Form als Dual durch zwei formale Werte erhält, also eine Form mit zwei Seiten ist, einem Präferenz- und einem Negativwert, die reflexiv aufeinander verwiesen sind, ist er entscheidungsoffen. Die Entscheidungen werden – wie wir noch genauer thematisieren werden – vor allem durch die körperbezogenen Leistungen der Kombattanten innerhalb des Wettbewerbs präjudiziert. Ratifiziert werden sie jedoch in aller Regel durch die Schiedsrichter oder ein Kampfgericht, die als neutrale Beobachter fungieren und von den Verbänden rekrutiert, ausgebildet sowie in den jeweiligen Wettkämpfen eingesetzt werden (vgl. Schimank 1988, 191; Ahrne/Brunsson 2005). Über Sieg und Niederlage entscheidet somit in aller Regel nicht nur die Leistung der Sportler, sondern ein neutraler Dritter, der ihre Performance interpretiert und formal ratifiziert. Im Unterschied zum Rechtssystem besteht die besondere Problematik der Schieds- oder Kampfrichter darin, dass sie ihre Entscheidungen nahezu zeitgleich mit den Ereignissen innerhalb des Wettkampfes treffen müssen. Ihre sogenannten »Tatsachenentscheidungen« sind zum einen unangreifbarer als die der Richter im Rechtssystem. Zum anderen sind sie zugleich fehlerhafter und stärker der Kritik der Sportler und
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von parteiischem Publikum ausgesetzt, ohne dass sie dieses, wie im Rechtssystem, ausschließen können, wenn es zu emotional reagiert. Das Sanktionspotential des Schiedsrichters bezieht sich im Wesentlichen auf die Sportler, jedoch weniger auf das Publikum, wenn man einmal von Platzsperren bei besonderen Ausschreitungen absieht. Entscheidungen des Schiedsrichters unterliegen mithin einem besonderen Druck sowohl durch die Kombattanten als auch das Publikum, zu dem oftmals noch die Kritik der Trainer und der Vereinsvertreter hinzukommt.
3.5.4
Programme des Hochleistungssports
Bei den Programmen des Sportsystems handelt es sich entweder um Konditionalprogramme, sprich um Entscheidungen, die an Wenn-Dann-Bedingungen gekoppelt sind, oder um Zweckprogramme (vgl. dazu generell Luhmann 2000a, 256ff.; siehe für das Sportsystem Schimank 1988, 189ff., der zwischen sportartspezifischen Regelwerken, evaluativen, normativen und kognitiven Orientierungen statt Programmen unterscheidet, dem sich Cachay/Thiele 2000, 134ff. für den Spitzensport anschließen). Eine erste Variante des Konditionalprogramms bezieht sich auf die von den Wettbewerbern einzuhaltenden Regeln. Wenn z.B. ein Tor im Fußball regelkonform geschossen wurde, dann wird es vom Schiedsrichter als Tor bewertet, wenn nicht, dann nicht. Wenn eine bestimmte Zeit, eine bestimmte Höhe oder Weite regeladäquat vom Athleten erzielt worden ist, dann wird sie vom Kampfgericht entsprechend bewertet. Dabei gilt, dass die Eindeutigkeit der Konditionalprogramme in dem Maße zunimmt, wie Technologien, z.B. Messinstrumente, die Leistungsbeurteilung durch die Schiedsrichter erleichtern, und in dem Maße abnimmt, wie es primär auf ihre Beobachtung und Bewertung ankommt. Dies gilt besonders für alle die Sportdisziplinen, bei denen ästhetische Bewertungen, die nicht eindeutig messbar sind, eine Rolle spielen. Die Semantik »Kunst« im Zusammenhang mit Ausdruckssportarten wie Kunstturnen, Eiskunstlauf, rhythmische Gymnastik, bei denen die künstlerische Note eine wichtige Rolle spielt, sei hier als Beispiel genannt. Eine zweite Variante der Konditionalprogramme bezieht sich nur auf einen der Kombattanten, wenn z.B. bestimmte Standardsituationen in Mannschaftsballsportarten im Training eingeübt und im Wettkampf angewandt werden, wenn sie eintreten, z.B. Eckbälle, Freistöße oder Strafstöße. Schließlich gibt es auch noch Zweckprogramme, die sich auf Taktiken und Strategien der Individualsportler und Teams als Mittel beziehen, um zum Sieg zu kommen (vgl. dazu ausführlicher weiter unten 6.2.1 a4).
3.5.5
Körper und Objekte als Wahrnehmungsmedien des Hochleistungssportes
Aus Sicht der Systemtheorie wird wiederholt die These aufgestellt, dass der Hochleistungssport kein Erfolgsmedium wie andere Funktionssysteme aufweist, z.B. Wahrheit, Macht, Liebe oder Geld (vgl. Bette 2005, 169). Die Funktion von Erfolgsmedien wird dabei darin gesehen, die Unwahrscheinlichkeit der Annahme von Kommunikation wahrscheinlich zu machen und damit die Akzeptanz bzw. den Erfolg von Kommunikation auch dann zu ermöglichen, wenn die Zumutbarkeitsschwelle, eine Selektion als Kom-
3. Funktionssysteme
munikationsofferte anzunehmen, sehr hoch ist (Luhmann 1997b, Bd.1, 332ff.) Oder anders ausgedrückt, die Motivation aufgrund einer Fremdselektion anfänglich gering ist. Vorausgesetzt wird in diesem Zusammenhang oftmals eine Engführung der Sprache im Sinne einer Spezialsprache respektive ihre Verstärkung bzw. Ersetzbarkeit durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie Geld, Macht, Wahrheit, Liebe. Die Besonderheit des Hochleistungssportes besteht nun darin, dass sowohl der menschliche Körper als auch bestimmte Objekte, auf die er sich bezieht oder die er in Anspruch nimmt, im Fokus der Aufmerksamkeit der Kombattanten stehen. Die Sprache als Medium der Mitteilung, Information und des Verstehens spielt eher eine sekundäre Rolle. Im Zentrum des Sportsystems stehen hingegen der menschliche Körper und seine Wahrnehmung als Ausdrucksmedium, Fortbewegungsmedium oder Medium der Koordination (vgl. dazu Stichweh 1990, 378ff.). Hinzu kommt seine systeminterne Limitierung und Konditionierung durch die Ausdifferenzierung von Sportarenen, bestimmte Wegstrecken, aber auch spezifische Techniken, Objekte (Ball, Schusswaffen, Skier etc.) oder Geräte. Anders ausgedrückt: das Spezifische des Hochleistungssportes ergibt sich daraus, dass die Sportkommunikation weitestgehend auf die Sprache als Medium der Kommunikation verzichtet. An ihre Stelle tritt die Beobachtung bzw. Wahrnehmung des Körpers des oder der Sportler im Kontext von Wettbewerbsbedingungen. Dabei gilt, dass – je nach Sportdisziplin – unterschiedliche Wahrnehmungsschemata des Körpers oder der Sportler in Führung gehen. Als Erstes lassen sich Individualsportarten anführen, bei denen der Leistungssportler daraufhin wahrgenommen wird, wie er sich ohne unmittelbare Konkurrenz, sei es gegen die Uhr, sei es an einem bestimmten Gerät, sei es mit einem Tier, sei es mit einem bestimmten Objekt, einem Kampfgericht und dem Publikum präsentiert. Man denke hier nur beispielhaft an Bahnfahren, Kunstturnen, Turmspringen, Reiten oder rhythmische Gymnastik. Der Fokus der Wahrnehmung bzw. der Beobachtung und Bewertung liegt hier darauf, dass der Sportler als jemand von der Jury wahrgenommen werden möchte, der mittels seines Körpers darüber informiert, dass er, gemessen an Normalerwartungen des Alltagskörpers, unwahrscheinliche bzw. unzumutbare körperliche Leistungen als selbstverständlich erbringt. Hinzu kommt, dass er diese im Vergleich zu anderen Leistungssportlern, die sich vor oder nach ihm präsentieren, besser gemäß der Programmkriterien durchführen will. Über Sieg oder Niederlage entscheidet in diesem Fall nicht die unmittelbare bzw. simultane Wettbewerbssituation zwischen den raumzeitlich anwesenden Sportlern. Vielmehr wird die sequenzielle Darbietung der Athleten durch die Bewertung der Beobachter in eine nachträgliche Rangfolge gebracht, die ihre Leistungen zuordnet und nach Sieg und Niederlage unterscheidet. Kriterien sind die schneller oder langsamere Zeit, die geringere oder höhere Fehlerquote oder der bessere oder schlechtere Ausdruck, den der Leistungssportler mit seinem Körper erzielt hat. Die Besonderheit dieser Form des Wettbewerbs besteht in der Sozialdimension darin, dass sich der Sportler als Individualsportler mit zwar anwesenden, aber nicht unmittelbar konkurrierenden anderen Sportlern misst. Hinsichtlich der Zeitdimension ist der damit verknüpfte Leistungsvergleich an eine Abfolge der Beiträge der verschiedenen Sportler gebunden; in der Raumdimension an die Fokussierung auf die Performance des
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einzelnen Sportlers am jeweiligen Austragungsort und in Bezug auf die Sachdimension auf die Präsentation der Fertigkeiten und das Können seines individuellen Körpers. Die Attribution von Sieg und Niederlage ist eine individuelle. Entweder waren er und sein Körper in besserer Form als die anderen Sportler oder nicht. Vorausgesetzt wird Chancengleichheit, so dass z.B. weder die Zeit anders läuft, die Hindernisse andere sind oder die Sportgeräte unterschiedliche. Die Reihenfolge der Darbietung kann entweder ausgelost werden oder verdankt sich sportimmanenten Kriterien. Als Zweites lassen sich Individualsportarten beobachten, bei denen sich die einzelnen Sportler in unmittelbarer Konkurrenz bzw. im unmittelbaren Wettbewerb mit anderen Sportlern messen. Unterscheidet man zwischen einem Zweikampf oder Mehrkampf, wird entweder Körperkontakt zugelassen, Sieg oder Niederlage folglich der überlegenen körperlichen Stärke des Judokas, Ringers oder Boxers attribuiert, oder zählen, wie im Tischtennis, Tennis, bei bestimmten Radsportarten und Eisschnellläufen, sportliche Leistungen ohne unmittelbaren Körperkontakt. Das gilt auch in abgeschwächter Form für den Mehrkampf, z.B. Siebenkampf der Frauen oder Zehnkampf der Männer in der Leichtathletik, bei dem sich die Sportler bei den Laufdisziplinen unmittelbar miteinander messen, ohne in unmittelbaren Körperkontakt mit ihren Konkurrenten zu treten. Für die Wahrnehmungsschemata impliziert dies unterschiedliche Formen der Fokussierung und Spannung. Findet beim Zweikampf eine Reduktion auf zwei Sportler statt (Boxen, Ringen, Judo), kommt es beim Mehrkampf zu einer Steigerung der Komplexität der Wahrnehmung. Dies gilt vor allem für die Leichtathletik und den Schwimmsport. Wenn die Individualsportarten an einen direkten Vergleich mit anderen Sportlern unter Bedingungen der unmittelbaren Anwesenheit gekoppelt sind, werden Sieg oder Niederlage normalerweise eindeutig zurechenbar. So hat, wer als Erstes über die Ziellinie kommt oder am Beckenrand anschlägt, gewonnen, während die anderen die Zweitund Drittplatzierten etc. sind. Das Gleiche gilt für die Zweikämpfe. Wer hier am Ende mehr Punkte, mehr Treffer oder den anderen k.o. geschlagen hat, ist der Sieger. Zeitlich hat dies den Vorteil, dass man nicht auf die Ergebnisse der anderen Sportler warten muss. Was jedoch nicht ausschließt, dass auch hier eine gewisse Wartefähigkeit angesagt ist, wenn die Leistungsabstände äußerst gering sind und erst die technische Auswertung der erbrachten Leistungen abgewartet werden muss. Der Vergleich ist im Gegensatz zur ersten Variante des Individualsportes ein unmittelbarer bzw. direkterer. Die Aufmerksamkeit der Beteiligten gilt hier nicht nur sich selbst, sondern vor allem im Zweikampf immer auch dem anderen. Die doppelte Kontingenz, ich tue, was Du tuest, wenn Du tuest, was ich tue, wird hier insofern unterlaufen, als man besonders im Zweikampf jede körperliche Veränderung, gleichsam jeden Zug des anderen beobachten und antizipieren muss, um genau das zu tun, was das Gegenüber nicht erwartet, um zum Erfolg zu kommen. In abgeschwächter Form tritt das auch auf den Mehrkampf zu – und zwar je länger bzw. weiter der Wettkampf dauert. Im Kern gilt jedoch auch hier, dass der einzelne Athlet sich seine Leistung selbst zurechnen kann und muss, da er es ist, der sich im Medium seines Körpers mit anderen misst. Dabei kommt es besonders darauf an, wie er die Mitteilungen des Körpers seiner Konkurrenten versteht, d.h. welche Informationen diese ihm durch ihre Körper zu verstehen geben. Der Körper wird somit zum Medium von
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Taktik und Strategie, sei es, dass man in der Leichtathletik bei Vorläufen bewusst austrudelt, um Reserven sichtbar zu machen; sei es, dass man durch hervorragende Zeiten die anderen Athleten zu beeindrucken versucht. Als Drittes lassen sich Mannschaftssportarten anführen, bei denen es vor allem um die Koordination bzw. Kooperation der Körper der Einzelsportler geht und letztlich um Sieg und Niederlage, welche der Mannschaft bzw. dem Team und nicht einzelnen Sportlern zugeschrieben werden. Teamsportarten sind im Unterschied zu Individualsportarten komplexere Formen, weil sie der kommunikativen Eigendynamik von Teams unterliegen und als eine wichtige Erfolgsvoraussetzung ein hohes wechselseitiges Verständnis des Mediums Körper der Beteiligten untereinander implizieren. Die Sprache ist hier typisch zu langsam und muss durch wechselseitige, möglichst klare Wahrnehmung der Körperdarstellung und -bewegung der Mitspieler bzw. Teammitglieder ersetzt werden, welche Mehrdeutigkeiten weitgehend ausschließt. Das sogenannte »blinde Verstehen« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Spielzüge von den Akteuren so eingeübt wurden, dass sie nahezu automatisiert ablaufen können. Was den menschlichen Körper und Objekte als Medium des Hochleistungssportes betrifft, so nehmen sie – je nach Sportart– unterschiedliche Formen an, um erfolgreich sein zu können. Begreift man den Sportkörper als ein Medium im Sinne einer losen Kopplung, welcher je aktuell in eine strikte Kopplung durch eine Selektion bestimmter Möglichkeiten transformiert wird (vgl. Luhmann 1997b, Bd.1, 199ff. generell zu den Begriffen lose/feste bzw. strikte Kopplung), so kommt vor allem der Selektion der Sportler und der Trainingsmethoden in Kombination mit dem Wettkampf eine wichtige Rolle zu. Dabei fällt auf, dass bei der Rekrutierung von Spitzensportlern – je nach Sportdisziplin – von den Trainern, unterstützt durch wissenschaftliche Methoden diverser Experten und Disziplinen, unterschiedliche Erwartungen an den Körper als Medium gestellt werden. Beispielsweise trifft man beim Turnen primär kleine, um nicht zu sagen kleinwüchsige und leichtgewichtige Athleten an, gilt das Gegenteil für Basketball, Handball, Volleyball und Schwimmen und wiederum für Speerwerfen, Hammerwerfen sowie Kugelstoßen. M.a.W. schon bei der Rekrutierung der Athleten des Hochleistungssportes wird deutlich, dass dem Körper als Medium unterschiedliche Inklusionschancen bezüglich der verschiedenen Sportdisziplinen attribuiert werden (vgl. dazu auch Bette 2005, 196ff.). Im Kern geht es also darum, die Potenzialität seiner Kombinationsmöglichkeiten – je nach Sportart – in einer Weise auszuschöpfen, welche Formbildungen ermöglicht, die am ehesten den Erfolg garantieren. Dass dabei besonders die Kopplung zum Medizinsystem und zur Pharmaindustrie eine oftmals dubiose Rolle spielt, lässt sich am Dopingproblem ablesen (Bette/Schimank 1995). Stößt der Körper der Athleten als Medium an Grenzen der Formbarkeit durch Training, wächst das Risiko von Grenzüberschreitungen, welche durch Dopingmittel die Wettbewerbsfähigkeit und die Siegchancen der Athleten erhöhen sollen. Wir kommen darauf im Zusammenhang mit den strukturellen Kopplungen nochmal zurück.
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3.5.6
Der Hochleistungssport als autopoietisches Funktionssystem
Betrachtet man den Spitzensport als autopoietisches Funktionssystem, stellt sich die Frage, wie die Sportkommunikation als seine Elementaroperation näher bestimmt werden kann, die alle Elemente, Prozesse und Strukturen des Sportsystems immer wieder aufs Neue reproduziert (Luhmann 1997b, Bd.1, 65ff.). Sportkommunikation im Unterschied zu anderen Kommunikationsformen, so unsere Ausgangsthese, ist dann gegeben, wenn sich eine Differenz von Wettkampf und Training als rekursives Netzwerk von Sportereignissen ausdifferenziert (vgl. Bette 2005, 181ff.). Diese wiederum sind eingebettet in die Strukturen der Fachverbände, welche weltweit operieren und anhand der Saisonzeiten ihre Eigenzeiten organisieren. Dabei fungiert der Körper als Medium der Kommunikation und vermittelt die Dreistelligkeit von Mitteilung, Information und Verstehen. Wenn Sportsoziologen (vgl. Rittner 1991) vom Sport als einem körperbetonten oder körperorientierten Sozialsystem sprechen, wird der Primat des menschlichen Körpers als Kommunikationsmedium im Sportsystem offenkundig. Die Sprache tritt hinter ihm in der Kommunikation zurück und fungiert allenfalls als Begleitmedium. (Siehe auch Luhmanns 1995i, 39–40 Hinweis in Bezug auf das Kunstsystem: »Kunst gewinnt ihre Eigenart daraus, dass sie es ermöglicht, Kommunikation stricto sensu unter Vermeidung von Sprache, also auch all der an Sprache hängenden Normalitäten durchzuführen. Ihre Formen werden als Mitteilung verstanden, ohne Sprache, ohne Argumentation. Anstelle von Worten und grammatikalischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann.«) Der Wettkampf als Kern des Hochleistungssportes reproduziert sich durch die Selbstund Fremdbeobachtung des leistungsorientierten menschlichen Körpers im Hinblick auf Sieg/Niederlage. Die Kriterien, die über Sieg und Niederlage entscheiden, sind Programme, die auf der Basis schneller/langsamer, höher/niedriger, stärker/schwächer, eleganter/weniger elegant oder mehr/weniger Treffer die körperlichen Leistungen beobachten und bewerten. Dabei wollen die Sportler als Personen verstanden werden, welche anhand ihres Körpers die Differenz von Mitteilung und Information »transportieren« bzw. kommunizieren (vgl. Stichwehs (1990, 379) Formulierung: »Ein Speerwurf ist als die Mitteilung »Ich kann den Speer so weit werfen!« zu verstehen.«). Die Ebene der körperlichen Mitteilung lässt sich mit den Teilen des Körpers gleichsetzen, die in der jeweiligen Sportart dominieren, z.B. Hand, Fuß, Brust, Rücken. Wohingegen sich die Information auf die jeweilige Raum-Zeit-Stelle bezieht, innerhalb der sich die jeweiligen Körperteile bewegen. Im Fokus des kommunikativen Verstehens der Körperbewegung stehen, je nach Sportdisziplin, jeweils andere Körperteile als Mitteilungsmedium, die unterschiedliche Informationen an Dritte, seien es das Kampfgericht oder Schiedsrichter, seien es die Sportler des eigenen oder anderen Teams, vermitteln. Beim Spitzensport Schwimmen ist z.B. klar, dass das Schwimmbecken und seine jeweiligen voneinander getrennten acht Bahnen und nicht die Tartanbahn oder der Rasen
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den räumlichen Kontext des Wettkampfes abgeben. Dabei wird in einem ersten Schritt der schwimmende Körper statt des laufenden oder springenden Körpers als eine Mitteilung aus dem Bereich möglicher mitteilbarer Körperbewegungen ausgewählt und in einem zweiten Schritt ein bestimmter Schwimmstil, z.B. Butterfly, und nicht Brust oder Rücken. Die Reduktion der Komplexität auf Butterfly qua doppelter Selektivität impliziert somit eine Mitteilung, welche im buchstäblich Sinne die Differenz zu den anderen Schwimmstilen verkörpert. Da es jedoch bei einem Schwimmwettbewerb um Sieg und Niederlage geht, genügt es nicht, sich als Spitzenschwimmer an den vorgeschriebenen Schwimmstil zu halten, um keine Disqualifikation zu riskieren. Stattdessen ist die Geschwindigkeit der spezifischen Fortbewegung die Differenz, welche anhand von schneller/langsamer von entscheidender Relevanz ist. Hinzu kommt die zurückzulegende Distanz, z.B. 100 Meter. Sieg und Niederlage werden mithin so verstanden, dass am Ende der zurückzulegenden Strecke derjenige gewonnen hat, der sich mit seinem Körper an einen vorab entschiedenen Schwimmstil orientiert hat und mit ihm zugleich schneller als alle anderen Schwimmer am Ziel angekommen ist, selbst wenn sein Vorsprung nur eine Tausendstelsekunde betrug. Erfolg oder Misserfolg kommen also nicht dadurch zustande, dass man behauptet, der schnellste Schwimmer zu sein, sondern im Schwimmbecken der schnellste war. Der im Fußball kursierende Satz »Die Wahrheit liegt auf dem Platz« kann folglich hier durch »Die Wahrheit liegt im Schwimmbecken« ersetzt werden. Damit wird deutlich, dass es für einen Erfolg nicht ausreicht, ihn herbeizureden oder verbal vor dem Wettkampf anzukündigen. Er muss qua Körper errungen werden, will man nicht bei einer Niederlage den Vorwurf des »Großmauls« riskieren, wie z.B. diejenigen Boxer, die bei Pressekonferenzen vollmundig den frühen Knockout ihres Gegners prognostizieren und dann im Gegensatz zu Mohammed Ali oder Vitali Klitschko schon in der 1. Runde selbst ausgeknockt werden. Es ist also der Körper und seine messbare bzw. bewertbare Leistung, der als Erfolgsmedium fungiert, und nicht die gesprochene Sprache. Die Leistung des Körpers spricht gleichsam für sich. Zieht man zusätzlich eine Mannschaftsspielsportart als Vergleich heran, existiert auch hier zunächst die wettkampfspezifische Limitierung bzw. Reduktion. So gilt z.B. für Ballsportarten, dass bestimmte Körperteile als Mitteilungsmedium verboten und andere zugelassen sind. Die Semantiken Fußball und Handball unterscheiden sich dementsprechend durch den Primat des Fußes bzw. der Hand als kommunikative Grundoperation des jeweiligen Spiels. Hinzu kommt ein Objekt, sprich der Ball, auf den sich der Fokus der Aufmerksamkeit der Sportler sowie Zuschauer konzentriert und dessen Anzahl von Treffern im gegnerischen Tor über Sieg und Niederlage entscheidet (vgl. Baecker 2009; Willke 2009). Darüber hinaus spielen die Limitationen von Raum und Zeit (vgl. Simon 2009) und die Bewegungen der Spieler beider Mannschaften mittels Spielzügen eine zentrale Rolle für die Sportkommunikation von Mannschaftsballsportarten. Ein Spezifikum besteht nun darin, dass – neben der Verfeinerung des Umganges mit dem Ball –, sprich der Mitteilung der jeweiligen technischen Kompetenz des einzelnen Spielers, die Kooperation der Spieler untereinander zentral ist. Das Verständnis der Informationen, die eine Differenz ausmachen, erfolgt dabei sowohl durch die Mitspieler
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als auch gegnerischen Spieler, die als Beobachter fungieren, wenn einer der Spieler am Ball ist. Eine Mannschaft ist um so erfolgreicher, desto wahrscheinlicher die jeweiligen Mitspieler einerseits und der ballführende Spieler anderseits die möglichen nächsten Züge der Mitspieler erahnen können (vgl. Willke 2009, 69ff.). Im Kern geht es darum, sich vom eigenen Mitspieler nicht überraschen zu lassen, jedoch die Spieler des Gegners zu überraschen. »Ein Spiel lesen zu können«, impliziert, dass diejenige Mannschaft im Vorteil ist, welche so gut eingespielt ist, dass sie sich intern so berechenbar wie eine Trivialmaschine verhält, für den Gegner jedoch als Nichttrivialmaschine operiert (von Foerster/Pörksen 2011, 54ff.). Ein eingespieltes Team unterscheidet sich dementsprechend von einem nichteingespielten durch »Automatismen«, sprich, durch vorhersehbare Spielzüge bzw. ein »blindes Verstehen«, wie wir bereits erwähnten. Mitteilung und Information werden somit von den Mitspielern deshalb leichter decodiert, weil sie eine Redundanz von gleichen Spielzügen unterstellen. Gleichwohl muss auch für Varietät gesorgt werden, soll eine zu schematische Spielweise unterbunden und ein zu schnelles »Sich-ein-Stellen« des Gegners auf die eigenen Spielzüge verhindert werden. Der Individualität der Solisten oder Stars im Team kommt mithin die Funktion zu, Irritationen mittels ihres Körpers zu produzieren, die auch für die eigenen Mitspieler neu sind. Dass es von bestimmten Spitzenspielern heißt, sie machten oftmals für den Spielausgang die Differenz aus oder seien immer für eine Überraschung oder etwas Unvorhersehbares gut, bringt dies pointiert zum Ausdruck. Als Fazit können wir also festhalten, dass besonders Mannschaftsballsportarten dadurch gekennzeichnet sind, dass sie Redundanz (=Eingespieltsein) und Varietät (=Überraschungen) in ihre Operationen einbauen müssen, soll das Verständnis der eigenen Spielzüge durch den Gegner nicht zu leicht erfolgen. Kommunikationstheoretisch bedeutet dies, dass der Sportkörper im Mannschaftsballsport Verstehen und Nichtverstehen kombinieren muss. Ersteres ist ebenso Voraussetzung für ein erfolgreiches Team wie letzteres. Denn nur, wenn der Gegner bestimmte Spielzüge nicht durchschaut, macht er die Fehler, welche letztlich über Sieg oder Niederlage entscheiden. Da es sich beim Sportsystem um ein autopoietisch operierendes Funktionssystem handelt, bedeutet dies, dass es sich von der gesellschaftsinternen Umwelt anderer Teilsysteme durch eine codespezifische Form der Kommunikation, die Sportkommunikation, unterscheidet. Insofern es ein körperbetontes Funktionssystem ist (vgl. Rittner 1983; Rittner 1991), stellt sich die Frage, ob seine Autopoiesis und Körperbetonung durch die Kommunikation über den oder mittels des Körpers stattfindet. Für die zweite Option spricht, dass man im Sport den Körper »sprechen« lässt und im Wettkampf als Sportler oder Team weitgehend schweigt (vgl. Willke 2009, 69ff.). Bolz (2009, 17) schreibt dazu in Bezug auf den Fußball: »Fußball ist weitgehend sprach- und kommunikationsunbedürftig.« Ja selbst das Reden oder Anfeuern der Zuschauer wurde und wird bei manchen Sportarten wie im Tennis als Störung empfunden, solange der Spielzug nicht abgeschlossen ist. Man denke nur an das »Quiet please!« der Schiedsrichter. Dass man im Sportsystem den Körper sprechen lässt, ist klar, bedeutet allerdings nicht, dass es gänzlich auf die Kommunikationsmedien Sprache oder die Verbreitungsmedien Schrift oder Telekommunikation verzichten kann. So werden qua letzterer die Sportereignisse angekündigt sowie kommentiert und sind bei bestimmten Sportarten
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kurze Zurufe zur Koordination der Spielzüge oder der Darbietungen, z.B. beim Synchronspringen, notwendig. Im Kern vollziehen sich die zentralen Ereignisse des Sportsystems, die Wettkämpfe, jedoch durch die Kommunikation mittels des Sportkörpers. Wenn dieser nicht anwesend ist und sich durch Mitteilung, Information und Verstehen auf einen oder andere anwesende oder als abwesend eingeschlossene Körper anderer Athleten bezieht, liegt kein Sportereignis vor. Damit Sportereignisse an Sportereignisse anknüpfen können, sich somit das Sportsystem autopoietisch reproduzieren kann, muss qua Verbreitungsmedien mitgeteilt werden, wann, wo, mit wem und wie lange, welche Sportereignisse stattfinden. Ohne die kommunikative Verbreitung in den Sportteilen der Massenmedien oder Sportsendern der elektronischen Medien könnten die Sportereignisse in ihren immer wiederkehrenden Saisonzeiten gar nicht stattfinden. Die Massenmedien sind es auch, die durch ihre mitlaufende Kommentierung und Konferenzschaltungen die Sportereignisse vernetzen, so dass z.B. auch in den Pausen von Mannschaftssportarten die Zuschauer und Mannschaften vor Ort wissen wie der momentane Spielstand in anderen Stadien ist. Die strukturelle Kopplung mit ihnen ist für die Ausdifferenzierung des Hochleistungssports insofern konstitutiv, als es erst durch sie möglich wird, seine simultan stattfindenden Sportereignisse einem vor Ort abwesenden Publikum zu präsentieren (Werron 2010, 72ff.). Dass die im Medium des Körpers erfolgende Sportkommunikation vor, während und nach dem Wettkampf durch das Medium der Sprache oder Schrift begleitet bzw. gerahmt wird, sei ebenfalls hervorgehoben. Dabei muss jedoch zwischen dem einzelnen Interaktionssystem vor Ort und seiner Kommentierung durch Sportjournalisten der elektronischen Medien Radio und Fernsehen für ein anonymes Publikum unterschieden werden. Die Autopoiesis des Funktionssystems Sport basiert mithin auf dem rekursiven Netzwerk von Sportereignissen, welche in der jeweiligen Gegenwart kommunikativ an vergangene anschließen und auf zukünftige verweisen. Die gegenwärtigen Sportereignisse stellen mithin die zukünftige Vergangenheit und die zukünftigen Sportereignisse die zukünftige Gegenwart dar. Sie nehmen die Form von Großinteraktionen als Wettkämpfe an, die für die jeweilige Saison von Sportfachverbänden organisiert werden.
3.5.7
Zur Aus- und Binnendifferenzierung des Hochleistungssportes: Training und Wettkampf als strukturell gekoppelte zentrale Interaktionssysteme
3.5.7.1
Training
Wie schon am Anfang unserer Darstellung beiläufig im Zusammenhang mit der Rollendifferenzierung von Spitzensportlern und Trainern angedeutet, handelt es sich beim Training und Wettkampf um die zentralen Interaktionssysteme, welche den Hochleistungssport kennzeichnen (Bette 2005, 181ff.). Was zeitlich zuerst kommt und was danach, ist letztlich eine Frage der Interpunktion – vor allem, wenn man die Saison als diejenige strukturelle Klammer nimmt, welche die wechselnde Abfolge von beidem zusammenhält. Die Saison ist gewissermaßen die Einheit von Training und Wettkampf, die nur kurz durch eine Pause unterbrochen wird. Das eine ist ohne das andere nicht
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denkbar, es verweist wechselseitig aufeinander. Ohne Training kein Wettkampf und ohne Wettkampf kein Training. Dabei springt ins Auge, dass die Trainingszeiten bei Weitem die Wettkampfzeiten überschreiten. Die Herstellung der sportlichen Leistung erfordert folglich mehr Zeit als ihre Darbietung. Mit struktureller Kopplung ist gemeint, dass beide Interaktionssysteme in dem Sinne miteinander integriert sind, dass die Selektionsfreiheiten des einen durch das andere beschränkt sind (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 603ff. allgemein zu diesem Integrationsbegriff). Die Fehler, die im Wettkampf gemacht werden, werden im Training zu korrigieren versucht, während die eingeübten Trainingsleistungen möglichst eins zu eins im Wettkampf reproduziert werden sollen. Bette (2005, 181) drückt dies wie folgt aus: »Der Output des Trainingssystems ist gleichsam der Input, der im Wettkampf zur Disposition von Leistungs- und Konkurrenzkommunikationen und -handlungen gestellt wird.« Was zunächst das Training betrifft, so weist es folgende Spezifika auf (siehe dazu auch Bette 2005, 182ff.): a) Typisch ist zunächst, dass der Wettkampfgegner als ausgeschlossener eingeschlossener Dritter anwesend ist, indem man sich fiktiv auf seine beobachteten Stärken und Schwächen einzustellen versucht. Fiktiv heißt, dass man seine Anwesenheit nur mit den Spielern der eigenen Mannschaft oder mit anderen Sportlern als die des Wettkampfgegners simulieren kann. Man denke z.B. an Trainingspartner von Boxern, die einen ähnlich Stil wie der nächste Gegner aufweisen, oder an Freundschaftsspiele mit Mannschaften im Trainingslager, die eine affine Spielweise mit der von einigen der Gegner im Wettkampf teilen. b) Im Training wird im Gegensatz zum Wettkampf sehr zeitnah über die gerade absolvierte sportliche Darbietung gesprochen. Zudem lassen sich bestimmte Übungseinheiten immer wieder trainieren, bis sie den Erwartungen des Trainers und der Spieler genügen. Das gilt z.B. für Standardsituationen wie Eckbälle, Freistöße, einzelne Spielzüge, die Abseitsfalle etc. (vgl. Simon 2009d, 94). Die Semantik von Standardsituationen ist im Übrigen sehr aufschlussreich, verweist sie doch auf die Gegenbegrifflichkeit der nichtstandardisierten Situationen, die auf die Varietät jedes Wettkampfes, seine eingeschränkte Prognostizierbarkeit und temporale Eigenkomplexität abstellt. Da sich Varietät nur bedingt einüben oder antizipieren lässt, muss der Trainer diesbezüglich auf die Situationsflexibilität seiner Sportler vertrauen. Bolz (2009, 21) schreibt dazu: »Bewusste Kontrolle und Planung spielen zum Leidwesen der Trainer und ihrer ›Taktik‹ nur eine untergeordnete Rolle.« c) Im Unterschied zum Wettkampf fehlt im Training der Schiedsrichter, ein Part den der Trainer oft selbst übernimmt. Dies indiziert den informelleren Aspekt des Trainings, dessen Ergebnisse im Unterschied zu denen des Wettkampfs nicht tabellarisch oder in einer anderen Form zwecks körperlichen Leistungsvergleichs mit gegnerischen Sportlern formal dokumentiert werden. Gleichwohl sind sie vereins- bzw. verbandsintern insofern von Bedeutung, als sie etwas über die Entwicklung der kör-
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perlichen oder strategischen Fähigkeiten bzw. die aktuelle Form des Sportlers oder der Mannschaft aussagen. d) Das Training schließt nicht immer, aber in der Regel eine große Zuschauermenge aus. Bestimmte Trainingsabläufe sollen einer breiten Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden, damit der Gegner nicht alle taktischen und strategischen Winkelzüge der Mannschaft oder des einzelnen Sportlers im Voraus weiß. Dass diese Rückzugsstrategie bei bestimmten Sportarten auch Argwohn hinsichtlich der Einnahme unerlaubter Mittel auslösen kann, ist die Kehrseite der Abschottung, besonders wenn man sich für seine Trainingsvorbereitungen in exotische Länder begibt. e) Das Training dient vor allem bei Mannschaftsballsportarten auch der Steigerung der Konkurrenz innerhalb der eigenen Mannschaft. Es fungiert mithin als eine Möglichkeit, sich in eine Mannschaft hinein- oder sich aus ihr herauszuspielen. Dabei kommt den Leistungen im vorhergehenden Wettkampf insofern eine wichtige Rolle zu, als z.B. eine gute Wettkampfleistung ein gewisser Startvorteil im Training ist und umgekehrt. Besonders nach Niederlagen gilt es für die Spieler wieder Selbstvertrauen zu gewinnen. Der Trainer ist dafür mitverantwortlich, dass dieses so schnell wie möglich gelingt. Während er einen Teil der Spieler eher dadurch motivieren kann, indem er ihnen ihre vergangene Leistungsstärke z.B. durch Videopräsentationen, vor Augen führt, können andere besser durch härteres Training oder eine Nichtnominierung dazu angeregt werden, an ihre frühere Leistungsstärke anzuschließen.
3.5.7.2 Wettkampf. Das Beispiel Fußball 3.5.7.2.1 Strukturelle Voraussetzungen Die Saison als Temporalstruktur (=Zeitdimension) Die Saison ist die Temporalstruktur, welche dem Fußball der Topligen im Vorher und Nachher der Wettkämpfe der Spieltage seine Eigenzeit verleiht. Das impliziert, dass zu Saisonbeginn die Tabelle ein unbeschriebenes Blatt ist, da noch kein Spieltag mit Wettkämpfen stattgefunden hat und die Resultate der vorherigen Saison allenfalls als Erwartung, jedoch noch nicht als Enttäuschung oder Erfüllung eine verbindliche Rolle spielen. Wenn also die Saison startet, bedeutet dies für den einzelnen Wettkampf, dass klar ist, wann die Saison zu Ende sein wird, wie viel Spiele sie dauert, dass es zwei Saisonhälften gibt und die zukünftige Gegenwart des letzten Saisonspiels noch weit weg ist und die vergangene Gegenwart der letztjährigen Saison ebenfalls zurückliegt. Es überrascht von daher nicht, dass der Saisonbeginn von allen Beteiligten mit Spannung erwartet wird, weil die Tabellenstände der letzten Saison nicht mehr zählen, so wie die Preise der Wirtschaft oder Noten des vorherigen Jahres oder der Schulzeit nur noch selektiv im Systemgedächtnis mitgeführt werden. Zwar gibt es Vermutungen und Prognosen, wer die potenziellen Favoriten und Absteiger sein werden und viel Talk darüber, aber letztlich kommt die Zukunft überraschend (vgl. Luhmann 1982b) und das Endergebnis ist zu Beginn noch offen. Auch werden die vergangenen Erfolge und Misserfolge insofern als Systemgedächtnis mitgeführt, als es Titelverteidiger und Aufsteiger gibt und besser und schlechter eingelöste
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Ansprüche, sie zählen jedoch insofern nichts, als sie nicht als verbindlicher Anspruch auf Wiedereinlösung in die neue Saison hinübergerettet werden können. Der Saisonbeginn ist also durch eine formale Chancengleichheit gekennzeichnet, da keine der Mannschaften bereits Punkte oder Tore in der Tabelle aufweist, es sei denn es lägen Vergehen gegen die Regeln vor. Dann muss die betroffene Mannschaft bereits zu Saisonbeginn mit der Hypothek eines Punkteabzuges in den Wettbewerb starten. Eine unterschiedliche Belastung der Teams und ihrer Spieler ist auch dadurch gegeben, dass die Topmannschaften ein größeres Spielprogramm zu absolvieren haben als diejenigen, die nur in der Liga Wettkämpfe absolvieren müssen. Der vergangene internationale Erfolg kann somit auf nationaler Ebene Probleme besonders bei denjenigen Teams erzeugen, die es sich finanziell nicht leisten können, ihren Kader entsprechend breit aufzustellen. Der erste Spieltag beginnt nicht notwendigerweise am gleichen kalendarischen Tag, sondern kann sich durchaus auf Wettkämpfe, verteilt auf mehrere Tage, erstrecken. Eine kommunikative Vernetzung der einzelnen Wettkämpfe besteht dabei in der Form, dass sich die Trainer, Manager, Spieler und die anwesenden Zuschauer über die Zwischenstände und das Endergebnis der anderen Wettstätten informieren können. Allerdings ist die Information zu Saisonbeginn noch nicht ganz so bedeutend wie gegen Saisonende, da noch Vieles im Hinblick auf den endgültigen Tabellenstand möglich ist. »Abgerechnet wird zum Schluss«, oder »Wir denken von Spieltag zu Spieltag« sind hierzu die typischen Kommentare der Trainer, Manager und Spieler. Informationen über die simultan an anderen Orten stattfindenden Spiele können die anwesenden Zuschauer gleichwohl auch schon am Saisonanfang sehr wohl irritieren, wie jeder weiß, der den tausend kehligen Jubel oder das entsprechende enttäuschte Schweigen kennt, wenn die Zwischenstände auf den Leuchttafeln der Stadien eingeblendet werden. Wenn wir uns die Zeitdimension des einzelnen Wettkampfes des Fußballspiels genauer vor Augen führen, so gibt es normalerweise eine Differenz von normativ vorgeschriebener Spielzeit von 90 Minuten und tatsächlich gespielter Zeit (vgl. dazu Simon 2009a, 49–50). Während bei manchen Mannschaftsballsportarten nur diejenige chronologische Zeit als Spielzeit gilt, die tatsächlich auf dem Spielfeld gespielt wird, eine Diskrepanz von chronologischer und Spielzeit folglich der Normalfall ist – wie im Basketball, Eishockey etc. – trifft dies für den Fußball nicht zu Hier ist die Diskrepanz von normativ vorgeschriebener und faktischer Spielzeit geringer. Die sogenannte Nachspielzeit steht im Ermessen des Schiedsrichters (Bei der Fußball-WM 2022 in Katar versuchte man allerdings erstmals die Nettospielzeit durch längere Nachspielzeiten zu erhöhen). Ferner wird die Zeit nicht angehalten, wenn der Ball im Aus ist oder es zu kürzeren Unterbrechungen kommt. Das »Anhalten der Zeit« fungiert folglich in der Mehrzahl der Mannschaftsspielsportarten als Einhalten der »reinen Spielzeit«. So dauert ein Basketballspiel, was die reine Spielzeit anbelangt, immer 40 Minuten. Insgesamt mit den »Auszeiten« und »Unterbrechungen« kann es jedoch die doppelte Zeit in Anspruch nehmen. Die Spielzeit und die Chronologie der Zeit fallen hier nicht zusammen, sondern es wird von letzterer systemimmanent künstlich abstrahiert, indem die das Spiel begleitende Uhr sich von ihr als Eigenzeit entkoppelt. Die »Auszeit« gibt es beim Fußball im Gegensatz zur Mehrzahl der anderen Mannschaftsspiele ebenfalls nicht. Sie ermöglicht eine von vornherein formal festgelegte An-
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zahl von Interventionen des Trainers durch Unterbrechungen des Spiels. Wann er diese vornimmt, hängt von der Dramaturgie des Spielverlaufes ab und kann sowohl in taktischer als auch reflexiver Hinsicht genutzt werden. Die Zeit für die verbale Kommentierung des nonverbal ablaufenden Wettkampfes ist hier länger als beim Fußballspiel, bei dem nur die Halbzeitpausen oder kurze Unterbrechungen wie Trinkpausen diese Funktion erfüllen können (vgl. Bolz 2009, 17). Der Beobachtung zweiter Ordnung durch den Trainer und die Kommunikation seiner Erkenntnisse an die Spieler sind mithin beim Fußball geringer. Das spielimmanente Tempo ist abhängig von der Größe der Spielfläche der Wettkampfstätte, der Anzahl der Spieler, der Sicherheit des Ballbesitzes, der Beförderung des Balles von einem zum anderen Spieler, seiner Kontrolle und der Möglichkeit der Anzahl erzielbarer Tore, Körbe, Treffer etc. Gemessen an diesen Kriterien, ist der Fußball im Vergleich zum Handball, Basketball, Volleyball, Tischtennis und Tennis ein vergleichsweise langsames Spiel. Die Differenz schnell/langsam bezieht sich dabei auf mehrere Aspekte, die mit den oben erwähnten Variablen zusammenhängen. Schnelligkeit als Präferenzwert verweist erstens auf die Geschwindigkeit des Balles, mit der er von Spieler zu Spieler wechselt; zweitens auf das Tempo der Spieler; drittens auf den Wechsel von Defensive und Offensive; viertens auf die Abfolge von Torraumszenen; fünftens auf die Anzahl der möglichen Treffer innerhalb der Spielzeit und schließlich auf die Wucht, mit der der Ball auf das Tor oder ins gegnerische Feld gezielt wird. Dabei gilt jedoch, dass die Differenz von schnell/langsam durchaus auch eine taktische Variable ist, obwohl Schnelligkeit als einer der beiden Seiten dieser Form normalerweise ein Vorrang eingeräumt wird. Man denke nur an die bewusste Rekrutierung von schnellen Spielern in den Topligen des Fußballs. Gleichwohl hängt es oftmals vom Spielstand und der jeweils erreichten Spielzeit ab, ob ein schnelles oder langsames Spiel bzw. eine Tempobeschleunigung oder – verlangsamung angezeigt ist. So macht es z.B. Sinn, »auf Zeit zu spielen«, wenn man in Unterzahl ist, kurz vor Spielschluss in Führung liegt oder beobachtet, dass die Kräfte der Spieler nachlassen (vgl. Simon 2009a, 50). Demgegenüber ist ein Tempogegenstoß bzw. ein Konter dann ratsam, wenn der Gegner in Unterzahl ist; eine Erhöhung des Spieltempos notwendig ist, man kurz vor Schluss in Rückstand liegt oder die Zeit abläuft, innerhalb derer man einen Angriff abschließen muss und der Gegner ansonsten wieder in Ballbesitz kommt. Die Sozialstruktur als pyramidenförmige Ligen (=Sozialdimension) Zum Zweiten wollen wir uns die Sozialdimension (=Sozialstruktur) des Wettkampfes anhand folgender Aspekte näher anschauen: Als Erstes gilt, dass die Sozialstruktur des Sportsystems in seinem Hochleistungsbereich nur Mannschaften und Individualsportler der globalen, kontinentalen oder nationalen Topligen inkludiert. Entsprechend werden zum Wettkampf in den Topligen des Fußballs ausschließlich solche Teams zugelassen, die sich von rangniedrigeren Klassen durch ihre systeminternen sportlichen Leistungen unterscheiden. Aus dem Wettkampf exkludiert wird mithin die Mehrzahl der Mannschaften und inkludiert nur eine kleine Elite von maximal 20 Teams in den jeweiligen Topligen des Fußballs.
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Die Funktion dieser reduzierten Inklusion besteht in der Herstellung der formalen Chancengleichheit, die wiederum durch den Sportcode Sieg/Niederlage bedingt ist, der bei einer zu großen Leistungsdifferenz der teilnehmenden Mannschaften von vornherein die Spannung und Offenheit sowie Unentschiedenheit der formalen Werte des Sportcodes vermissen lassen würde. Individuelle Voraussetzung für die Inklusion in die Top-Ligen ist eine Positivkarriere der Mannschaftssportler, welche wiederum das Resultat einer längeren Inklusion ins Sportsystem ist. Die systeminterne pyramidenförmige Hierarchie bzw. vertikale Differenzierung des Sportsystems in Topligen des Profisportes und nachrangige Ligen des Breiten- bzw. Amateursportes (vgl. dazu Stichweh 1990, 378) ermöglicht somit individuelle Auf- und Abstiege nicht nur der Mannschaften, sondern vor allem auch der Leistungssportler. Wettkämpfe der Profiligen exkludieren mithin sowohl Mannschaften der Amateurligen als auch Hobbymannschaften. Darüber hinaus existiert im Sportsystem sowohl eine geschlechtsspezifische als auch altersspezifische Segregation. Diese wird durch die Idee der Chancengleichheit und den Sportcode legitimiert, der im Sportsystem körperliche Differenzen von männlich/weiblich und jung/alt, also systemexterne Unterschiede der Personen, als Indikatoren für ungleiche Leistungsvoraussetzungen bewertet. Das schließt es jedoch nicht aus, dass sich bei gleichem Geschlecht oder Alter wiederum vertikale Differenzierungen bilden, so dass inzwischen sowohl bei den Frauen als auch bei den Kindern und Jugendlichen Abstufungen der Leistungsklassen nach besser und schlechter vorhanden sind. Das Sportsystem scheint im Vergleich zu allen anderen Funktionssystemen die geschlechtsspezifische Segregation am stärksten zu realisieren. Diese impliziert trotz verstärkter Bemühungen der Herstellung von Gendergleichheit nach wie größere mediale Aufmerksamkeit, stärkeres Zuschauerinteresse, umfangreichere finanzielle Unterstützung von Sponsoren und weitaus höhere Bezahlung zugunsten der Männer. Beispielhaft lässt sich dies anhand der 1. Fußball Bundesliga der Männer und Frauen ablesen und gilt selbst dann, wenn die sportlichen Leistungen der Frauen im Fußball wie im Falle der deutschen Nationalteams international besser sind als die der Männer (vgl. dazu Sinning (Hg.) 2012; Bolz 2009, 16ff.). Für den einzelnen Wettkampf der Topligen bedeuten die vorangegangen Ausführungen, dass nur eine kleine Zahl, 2 von 18 Mannschaften, aus der potenziellen Zahl von Tausenden von Vereinsmannschaften gegeneinander antritt und die Nationalmannschaft sogar nur durch ein einziges Team repräsentiert wird. Die drastische quantitative Selektion bedeutet für die Selbst- und Fremdbeobachtung der Spieler, dass es sich bei den jeweils 11 zu vergebenen Mannschaftspositionen um knappe Positionen mit hoher sportimmanenter Reputation und Anerkennung handelt, ihre konstante Übernahme als Stammspieler aber auch ständig durch Konkurrenz von Mitspielern gefährdet wird. Die Knappheit induziert mithin Rollenstress, bedeutet sie doch, dass man sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nie ganz sicher sein kann, seine Position zu behalten. Dies gilt einerseits für die teaminterne Konkurrenz, zugespitzt für besonders knappe Positionen wie den Torwart. Und andererseits für den Klassenerhalt der Mannschaft innerhalb der Top-Liga, da sie Abstiege vorsieht. Die sogenannte Aufstellung der Mannschaft bedeutet dementsprechend organisationssoziologisch, dass jede Position des Teams eine Stelle innerhalb der Profiabteilung
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des Vereins repräsentiert. Als solche teilt sie mit den Stellen anderer Organisationen die Kombination von Person, Programm und horizontalem bzw. vertikalem Kommunikationsweg, die zugleich sehr gut honoriert wird (Luhmann 1976, 141ff.; Luhmann 2000a, 231ff.). Der verschärfte Konkurrenz- und Erfolgsdruck führt mithin dazu, dass die Spitzenvereine ihre Elastizität und Anpassung an die systeminterne Umwelt der anderen Top-Mannschaften dadurch erhöhen, dass sie ihr Personal, ihr Programm und ihre horizontalen und vertikalen Kommunikationswege auszutauschen versuchen. So erstaunt es nicht, wenn Spielertransfers immer schneller erfolgen und die Summen für bestimmte Top-Stars in horrende Höhen klettern; immer wieder mit dem jeweiligen taktischen Spielsystem experimentiert wird und schließlich auch die teaminterne Rangordnung, inklusive der Autorität des Trainers, sehr schnell zur Debatte steht. Man denke hier nur an die konträre Diskussion über die Notwendigkeit von Führungsspielern bei gleichzeitiger Forderung nach Abflachung von Hierarchien durch mehr Mitsprache der Spieler oder eine stärkere Variabilität der Positionen, was man auch als Flexibilisierung der Positionszuweisungen verstehen könnte (vgl. dazu Simon 2009c, 92ff.). Hinzu kommt, dass es – gegenläufig zur vertikalen Differenzierung – im Mannschaftsballsport eine Art punktuelle Umkehr der Hierarchie oder partielle Öffnung der Top-Ligen für Mannschaften unterer Ligen durch sogenannte Pokalwettbewerbe gibt. Indem diese die Inklusion rangniedrigerer Amateurvereine zulassen, ermöglichen sie Begegnungen der Topmannschaften mit – nach systeminternen Kriterien – strukturell weniger leistungsfähigen Mannschaften. Dem Leistungsunterschied wird u.a. dadurch Tribut gezollt, dass Amateurvereine prinzipiell Heimrecht haben, um ihre geringere Leistungsfähigkeit zumindest durch die Unterstützung des eigenen Publikums kompensieren zu können. Es überrascht somit nicht, dass solche Wettkämpfe ihre Spannung und ihren Reiz vor allem daraus beziehen, dass es punktuell zu Sensationen kommen kann, wenn das strukturell unterlegene Amateurteam die Profi-Mannschaft besiegt. Die Semantik der Sensation ist im Übrigen eine Bestätigung für die unterstellte Leistungsdifferenz. Sie ist gleichsam eine andere Formulierung für den Kampf David gegen Goliath. Die Infrastruktur der Wettkampfstätten (=Raumdimension) Was drittens die Raumdimension (=Infrastruktur) des Wettkampfes betrifft, können wir Folgendes festhalten (vgl. dazu auch Simon 2009a, 44–48): Ein Wettkampf findet entweder in einer Wettkampfstätte in einem Binnenraum, d.h. einer Halle, statt, oder Outdoor bzw. in Außenräumen, die als Stadion bzw. Sportarena überdacht sein können, oder für die Zeit des Wettkampfs eigens abgegrenzt werden, seien es Straßen, Gewässer oder Wälder. Man denke nur an Etappen von Radrennen, Ruderregatten oder Biathlon. Beim Fußball dominiert die Outdoor-Variante mit der Tendenz zur Überdachung bzw. mindestens größeren Schutz der Zuschauer gegenüber Wettereinflüssen. Hinzu kommt eine räumliche Binnendifferenzierung zwischen der Spielzone, der Zwischenzone, die z.B. für die Trainer als Coaching-Zone reserviert ist, und den Zuschauerrängen. Die räumlich für den Wettkampf wichtigste Zone ist das Spielfeld oder die Spielfläche, die bei der Mehrzahl der Ballsportarten einem Viereck entspricht, dessen Größe – je nach Mannschaftssportart – variiert. Dabei wird das Viereck in aller Re-
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gel in zwei gleichgroße Spielhälften unterteilt, die jeweils zwei Seiten- und Außenlinien aufweisen. Die Trennung zur systeminternen Umwelt der Coaches, Manager und dem Publikum erfolgt mithin durch die Außen- und Seitenlinien. Im Fußball variiert die Länge der Seitenlinie zwischen 90m und 120m, während die Breite zwischen 45m und 90m liegt. Aus Gründen der Chancengleichheit müssen die Spielhälften durch die Mannschaften gewechselt werden, was im Fußball an die zeitliche Binnendifferenzierung der zwei Halbzeiten gekoppelt ist (Kurze Bemerkungen zu diesen finden sich bei Simon 2009a, 50). Mannschaftsballsportarten unterscheiden sich u.a. dadurch, wie groß oder klein das Viereck der Spielfläche ist und ob die Spielhälfte des Gegners betreten werden darf oder nicht. Zusätzlich im Hinblick darauf, welcher Raum des Gegners mit dem Ball überschritten oder berührt werden muss, damit ein Treffer, Punkt oder Tor erzielt wird. Darf der gegnerische Raum nicht betreten werden, wie beispielweise beim Tennis und Volleyball, was durch ein Netz in der Mitte der Spielfläche markiert wird, geht es darum, den Ball über dieses im gegnerischen Feld zu platzieren. Beobachtet man anhand dieser Kriterien den Fußball, so weist er die größte Spielfläche auf und erwartet von den Spielern als Musserwartung – es sei denn sie spielen Fußballtennis –, dass sie das gegnerische Spielfeld betreten, um Tore erzielen zu können. Betrachtet man die bisherigen Raumdimensionen als invariante Gegebenheiten, die gleichsam als Erwartungsstruktur von allen Beteiligten akzeptiert werden müssen, wenn sie negative Sanktionen vermeiden wollen, gibt es in ihrem Kontext zusätzlich Bewegungen und Wahrnehmungen der beiden Mannschaften, die die Variabilität und Dynamik des Spiels erst ausmachen (vgl. dazu Willke 2009, 66ff.). Dabei spielt vor allem die wechselseitige visuelle Wahrnehmung in Kopplung mit der Mobilität/Immobilität der Spieler und der Mobilität/Immobilität des Balles eine zentrale Rolle. Es lässt sich also eine doppelte Selektivität des Raumes beobachten. Einerseits im Hinblick auf die Invarianz des Raumes, den man weder erweitern noch verkleinern kann. Andererseits hinsichtlich der Trias Immobilität/Mobilität der Spieler, des Balles und ihrer wechselseitigen Wahrnehmung. Bei den Ballsportarten, die nicht durch ein Netz die Spielhälften voneinander trennen, wie es beispielsweise beim Fußball der Fall ist, kommt es mithin darauf an, die eigene Spielhälfte zu verteidigen und die des Gegners zu erobern, was als Differenz von Defensive und Offensive identifiziert wird. In diesem Kontext verteidigt man nicht einen argumentativen Standpunkt oder attackiert den des Gegners, sondern den Raum. Es geht also bei Defensive und Offensive nicht um die Wahrheit einer Aussage oder Richtigkeit einer Norm, aber auch nicht um den Besitz oder Nichtbesitz eines Eigentums, sondern primär um die überlegene Präsenz in der Spielhälfte des Gegners als Voraussetzung zur Erzielung eines Treffers. Die Semantik der Eroberung und Verteidigung, Begriffe wie Angriff und Verteidigung, Abwehrschlacht, Treffer, Sudden death, Kampf etc. suggerieren eine Nähe zur Semantik des Militärs, ohne mit dieser zu koinzidieren, wie wir bereits bei unseren Ausführungen zum Sportcode erläutert haben. Unabhängig davon trifft jedoch zu, dass beide Mannschaften sowohl verteidigen als auch angreifen können und müssen. Es wird hier eine doppelte Kontingenz in dem Sinne vorausgesetzt, dass Ego weiß, dass Alter Ego weiß, also beide voneinander wissen, dass sie sowohl verteidigen als auch angreifen
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können bzw. im Handball, Basketball etc. angreifen müssen, sollen sie nicht den Ballbesitz verlieren. Geht man also von der doppelten Kontingenz von Verteidigung und Angriff als Ausgangsvoraussetzung des Wettkampfes aus, dann wird dieser Zirkel »ich greife an, wenn Du verteidigst, ich verteidige, wenn Du angreifst«, dadurch aufgelöst, dass eine der beiden Mannschaften in Ballbesitz kommen muss oder darf, um sich für angreifen oder verteidigen zu entscheiden. Zu Beginn des Wettkampfes geschieht dies dadurch, dass die eine Mannschaft den Ball durch Los zugesprochen bekommt und die andere die Entscheidung über die Platzwahl bzw. Spielhälfte. Mit Ausnahme des Fußballspieles bedeutet dies, dass von dem Team mit Ballbesitz ein Angriff erwartet wird, der zugleich innerhalb einer bestimmten Zeit abgeschlossen werden muss. Im Fußball hingegen kann es sein, dass der Ball zunächst in die eigene Spielhälfte zurückgespielt oder sofort vom gegnerischen Team in Besitz gebracht wird, wenn ein ungenaues Abspiel in die Richtung der gegnerischen Hälfte erfolgte. Für den Spielverlauf heißt dies, dass die Elementaroperation der Sportkommunikation, welche den Wettkampf autopoietisch vorantreibt, der sequenzielle Wechsel von Angriff und Verteidigung ist, wobei der jeweilige Angriff entweder mit einem Treffer, einem Gegenangriff der verteidigenden Mannschaft durch Ballabnahme der angreifenden Mannschaft oder der Vermeidung eines Treffers durch Fehlwurf, Fehlschlag oder Abwehr des Wurfes, Schusses oder Kopfballs durch den Torwart abgeschlossen wird. Im Gegensatz zum Fußball ist beim Volleyball, Tischtennis oder Tennis darüber hinaus ein misslungener Angriff mit einem Gegentreffer identisch. D.h. hier kommt es auf jeden Fall zu einem Treffer, unabhängig davon, wer angreift oder abwehrt, ein Drittes ist ausgeschlossen. Wird der erste Angriff von einem der Teams erfolgreich abgeschlossen, verändert sich die symmetrische Ausgangssituation des Spielstandes zugunsten dieser Mannschaft, während die andere im Rückstand liegt. Ist dies nicht der Fall, bleibt es bei der Ausgangssymmetrie des Spielstandes und die erfolgreich verteidigende Mannschaft bekommt ihrerseits die Möglichkeit, durch einen eigenen Angriff in Führung zu gehen. Die Sequenz von Angriff und Verteidigung und ihr anschließender Rollentausch führen mithin zu einer Selbstbezüglichkeit des Spieles, welche aufgrund der inhärenten Symmetrie des Rollentausches von Angriff und Verteidigung eine Asymmetrie generiert, die – je nach Spielverlauf – die Asymmetrie entweder stetig im Falle einer überlegenen Mannschaft erhöht oder bei zwei ausgeglichenen Mannschaften die Symmetrie des Spielstandes immer wieder erneut herstellt. Dabei ist davon auszugehen, dass die beteiligten Mannschaften durch den jeweils sich verändernden Zwischenstand in ihren Angriffs- und Verteidigungsbemühungen unterschiedlich motiviert werden. Von journalistischen Beobachtern wird dies u.a. als »verzweifeltes Anrennen«, als »Demotivierung« oder als »Spielrausch« kommentiert. Der Erfolg oder Misserfolg der einzelnen Sequenzen wird von einem Systemgedächtnis begleitet, dass die weiteren Spielzüge mitbeeinflusst. Die symmetrische Ausgangssituation des Spieles transformiert sich somit sukzessive in eine entweder systemimmanent erzeugte Asymmetrie oder eine Symmetrie, die sich von der Ausgangssituation des Wettkampfes durch die inzwischen erfolgten Treffer unterscheidet. Ein 15:15 ist zwar mathematisch das Gleiche, nämlich ein Unentschieden, wie das 0:0 des Anfanges, jedoch
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soziologisch etwas Anderes, nämlich das Resultat einer Systemgeschichte, die im Übrigen auch für das Torverhältnis von Relevanz ist. Dass allerdings beim Fußball ein 15:15 ausgeschlossen ist, während ein 3:3 wahrscheinlicher ist, hängt von den bereits angeführten Kriterien, wie größere Spielfläche, geringere Ballsicherheit und Zielgenauigkeit des Fußes etc. ab. So schreibt Gumbrecht (2009, 83): »Eben die Grenzen der Ballbeherrschung räumen im Fußball ja auch für die Intention der nicht im Ballbesitz befindlichen Mannschaft, den Ball zurückzugewinnen, stets Gelingenschancen ein.« Zur Systemgeschichte gehört auch, dass die Teams bei ihren Angriffen und ihrer Verteidigung die Räume des Spielfeldes in einer Form nutzen, welche die Positionierung der eigenen Spieler im Raum nicht dem Zufall bzw. nur der Entscheidung des einzelnen Spielers überlässt. So stellen im Training eingeübte Spielsysteme wie 4-2-4, 4-4-2 oder 4-3-3 Reduktionen der möglichen Raumverteilung der Spieler auf dem Spielfeld dar, welche die Alternativen Angriff und Verteidigung bzw. Ballbesitz und Ballverlust in unterschiedlichem Maße erfolgreich gestalten sollen. Der Raum wird somit selbst zu einer variablen Größe hinsichtlich der Relation Spieler/Raumstelle auf dem Spielfeld. Ob man z.B. eher den Raum oder den Mann deckt, sind strategische und taktische Varianten, welche nicht zuletzt auch in Abhängigkeit von den konditionellen, taktischen und technischen Fähigkeiten der eigenen und der gegnerischen Mannschaft vom Trainer flexibel entschieden werden. Strategien im Umgang mit dem Raum werden außerdem beim Praktizieren von Abseitsfallen, des Pressings sowie der Durchführung von Standardsituationen wie Eckbällen, Freistößen oder Elfmeter sichtbar. Der Raum spielt also während eines Wettkampfes eine zentrale Rolle. Dass dabei vor allem der Teil des Spielfelds im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, in dem sich gerade der Ball befindet und vor allem denjenigen Räumen erhöhte Aufmerksamkeit zugewandt wird, welche zugleich die Gefahr und Chance des Spiels ausmachen, versteht sich von selbst. Die damit implizit angesprochenen Torräume bzw. die Box sind somit für das defensive Team die Schutzzonen bzw. Gefahrenzonen, die es abzusichern und zu verteidigen gilt, um ein Tor zu vermeiden, während sie zugleich für das angreifende Team die Zonen symbolisieren, die erobert werden müssen, um die Wahrscheinlichkeit eines Treffers zu erhöhen. Die Spannung des Wettkampfes variiert folglich mit der Nähe oder Entfernung zum Tor oder Korb. Es erstaunt von daher auch nicht, dass diejenigen Spieler innerhalb der Mannschaft und durch die Beobachter besonders hervorgehoben werden, welche die meisten Treffer erzielt oder vorbereitet haben. Und es ist verständlich, dass die Spannung zunimmt, wenn sich der Ball dem Tor nähert und abnimmt, wenn er sich in der Mitte des Spielfeldes befindet. Dass das Fußballspiel ein vergleichsweise torarmes Spiel ist und sein Geschehen sich seltener als bei anderen Mannschaftsballsportarten vor dem Tor abspielt, steht insofern in einem interessanten Gegensatz zu seiner Popularität.
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Programme bzw. Themenstruktur (=Sachdimension) Generelles Thema des Wettkampfes im Unterschied zum Training ist zweifellos die verbindliche Entscheidung über Sieg und Niederlage, sprich die mitlaufende Orientierung am Sportcode. Durch die ligenspezifische interne pyramidenförmige Hierarchisierung ist zunächst klar, dass nur die Teams bzw. Individualsportler miteinander im Wettbewerb stehen, welche die nötige Qualifikation, sprich die funktional spezifische Kompetenz aufweisen, um zur Sache, sprich Sieg und Niederlage, etwas beitragen zu können. Dabei variiert diese funktional spezifische Kompetenz in Abhängigkeit von der im Wettbewerb praktizierten Sportart und dem mit ihr verknüpften Programm. So werden mit Konditionalprogrammen beim Wettkampf Wenn-Dann-Bedingungen für jede Sportart qua generalisierter Erwartungen vorab als allgemeines Regelwerk festgelegt, die das Verhalten der beteiligten Akteure im Falle des Eintritts bestimmter Ereignisse klar strukturieren. Um z.B. im Tischtennis einen Punk zu erzielen, gilt als wesentliche Bedingung, dass der Tischtennisball auf der Hälfte der Tischtennisplatte des gegnerischen Spielers landete, ohne dass er ihn returnen konnte. Im Fußball wird ein Schuss oder Kopfball dann als Tor anerkannt, wenn der Ball die gegnerische Torlinie überschritten hat und der Torschütze dabei nicht im Abseits stand, einen Gegner gefoult oder die Hand benutzt hat. In der Leichtathletik kann man nur dann siegen, wenn man in den Laufdisziplinen auf den kürzeren Strecken als erster durch die Ziellinie läuft, ohne die Laufbahn der anderen Sportler betreten zu haben, und bei Wurf- und Sprungdisziplinen bestimmte markierte Linien beim Absprung oder Abwurf nicht übertritt. Dabei wird die Einhaltung der Regeln der Konditionalprogramme durch immer ausgefeiltere Techniken wie VAR (Video Assistant Referee), genaueste Abbildungen der Torlinien oder Laufwege bei Abseitsentscheidungen, Zeitmessungen bis auf die tausendstel Sekunde, Zielfotos etc. kontrolliert. Dass gleichwohl immer noch über daraus resultierende Schieds- oder Kampfrichterentscheidungen diskutiert wird, ist der durch die Parteilichkeit und das Eigeninteresse der Kombattanten bedingten unterschiedlichen Konstruktion der Wirklichkeit geschuldet (Watzlawick, Beavan, Jackson 1969). Zusätzlich zu dieser Form der Konditionalprogramme, die als generalisierte Erwartungen für beide Kombattanten des Wettkampfs als Regelwerk gelten (vgl. Baecker 2009, 54), gibt es noch solche Konditionalprogramme, die nur für einen von beiden Beteiligten Geltung beanspruchen können und im Unterschied zur ersten Variante eine strategischtaktische Funktion aufweisen (vgl. dazu Willke 2009, 67ff. bezogen auf das Spiel ohne Ball). So sind innerhalb einer Mannschaft bei der Ausführung gewisser Standardsituationen wie Eckball, Freistoß, Elfmeter, Einwurf oder »Aufstellen einer Mauer« während des Wettkampfes nur der Spieler X oder die Spieler Y zuständig. Da Standardsituationen in jedem Spiel auftreten, werden sie im Training durch die entsprechenden Spieler eingeübt, um dem Team bei Eintritt des Ereignisses durch eine möglichst gelungene Umsetzung Vorteile verschaffen zu können. Konditionalprogramme entsprechen mithin in diesen Fällen Verhaltenserwartungen, für die sich die jeweiligen Mannschaften im Training vorab entschieden und ihre Umsetzung qua Üben der Spieler getestet haben. Sie kommen im Wettkampf dann zum Einsatz, wenn bestimmte Ereignisse eingetreten sind, z.B. ein Foul, ein Ball, der vom Gegner ins Aus befördert wurde oder eine Elfmeterentscheidung. Da sich Programme als Identifikation von Erwartungen von Werten durch die Möglichkeit der Zuschreibung
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von Fehlern unterscheiden, während die Werte nur abstrakte Präferenzen wie z.B. Freiheit statt Gleichheit als Verhaltenserwartung formulieren können (Luhmann 1984, 428ff.; Luhmann 2000a, 256ff.), wird es deshalb vom Trainer und den Mitspielern als ein Fehler bewertet, wenn ein nichtvorgesehener Spieler die Standardsituation ausführt oder dem/den dafür vorgesehenen Spielern die Durchführung misslingt. Fehler sind überhaupt eine wichtige Komponente der Beobachtung des Wettkampfes. So hört man immer wieder bei der medialen Nachbetrachtung der Trainer, dass zu viele Individualfehler gemacht wurden oder, dass der Spieler seinen Fehler im Verlaufe des Spieles wieder ausmerzte bzw. wieder gut machte. Fehler können aber nur als solche beobachtet und bewertet werden, wenn sie sich auf ein Programm beziehen, hier zunächst die Konditionalprogramme, die wiederum die Kriterien abgeben, die letztlich über Sieg und Niederlage entscheiden. Wenn die Programmentscheidungen letztlich die Unentschiedenheit des Sportcodes in Richtung von Sieg oder Niederlage auflösen, geht es im Wettkampf primär darum, wer einerseits sein Konditionalprogramm möglichst fehlerfrei durchzieht und sich andererseits regelkonform gegenüber den allgemeinen Konditionalprogrammen verhält. Zweckprogramme sind im Unterschied zu Konditionalprogrammen nicht vergangenheitsorientiert, sondern zukunftsorientiert. Mit ihnen versucht man das Wettkampfgeschehen aktiv zu beeinflussen und nicht erst auf eingetretene Ereignisse zu reagieren. Dass dabei die Grenzen fließend sind, wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass das an Konditionalprogrammen orientierte Verhalten auch mit einer aktiven Beeinflussung des Wettkampfes einhergeht. Zweckprogramme versuchen einen Generalzweck oder Unterzwecke mit geeigneten Mitteln durchzusetzen. Ist der Generalzweck des Wettkampfes der Sieg, geht es mithin darum, ihn anhand verschiedener Mittel zu optimieren. Unter Mitteln lassen sich alternative Strategien verstehen, zu einem Treffer, Tor oder Punkt zu gelangen, d.h. die zukünftige Situation des Wettkampfes in Richtung der Überlegenheit der eigenen Mannschaft zu verbessern. Zweckprogramme lassen sich von daher ebenso wie Konditionalprogramme dem »Spielsystem« subsumieren, das im Hochleistungssport als Taktik und Strategie beobachtet und bewertet wird (vgl. Simon 2009b, 78–79). Die Semantik des »Systems« bezieht sich dabei auf die Zuordnung und Koordination der Positionen, die bei Mannschaftsballsportarten wie Fußball die Spieler auf dem Spielfeld einnehmen sollen. Dies erhellt zugleich, dass Programme im Unterschied zu Rollen komplexer strukturiert sind, da sie mehrere Stellen bzw. Positionen von mehreren Personen miteinander hinsichtlich bestimmter sachlicher Erwartungen verknüpfen sollen und nicht nur die einer konkreten Person. Spielsysteme wie 4-2-2, 4-3-3, 4-4-2 etc. weisen den Spielern mithin bestimmte Erwartungen bezüglich ihrer funktional spezifischen Fertigkeiten und Kompetenzen zu, die sie innerhalb des Programmes erfüllen sollen. Dazu gehören die Rollendifferenzierung in Torwart, Defensiv-, Mittelfeld- und Offensivspieler, funktionalspezifische Fähigkeiten wie Balltechnik, Abwehr- und Angriffsverhalten, aber auch eine körperliche Fitness, welche sich in Kondition, Laufbereitschaft, Zweikampfstärke und Schnelligkeit manifestiert.
3. Funktionssysteme
Dabei lässt sich zunehmend beobachten, dass eine verstärkte Rollenflexibilität in der Form erwartet wird, dass jeder der Spieler, unabhängig von seiner strategischen Position, bestimmte Erwartungen anderer Rollen mit erfüllen muss, z.B. als Defensivspieler Offensivaufgaben und umgekehrt. Die Elastizität und Komplexität des Spielsystems nimmt folglich in dem Maße zu, in dem nahezu alle Spieler auch bestimmte Fähigkeiten der anderen mit übernehmen müssen, z.B. Tore zu schießen und zu verhindern. Allerdings gibt es Flexibilitätsgrenzen, welche sowohl durch die individuellen Fähigkeiten als auch durch die Spielregeln gezogen werden. So wird aus einem Goalgetter in der Regel kein hervorragender Defensivspieler und aus diesem nicht ein überragender Regisseur. Des Weiteren wird die Substituierbarkeit des Torhüters durch Feldspieler limitiert, was Abwehrverhalten auf der Torlinie durch sie bei bestimmten Mannschaftsballsportarten nicht ausschließt. Da bei diesen die Defensive und Offensive zwei reflexiv aufeinander bezogene Spielzüge sind, dreht sich letztlich jedes der Programme darum, beides so gut wie möglich einzuüben. Der Stil einer Mannschaft (vgl. Gumbrecht 2009; Simon 2009c, 93) variiert entsprechend dahingehend, ob sie vom Spielsystem eher offensiv oder defensiv eingestellt ist, wobei der Offensive in den meisten Mannschaftsballsportarten eine Präferenz zukommt, da letztlich nur die Mannschaft gewinnen kann, die am Ende mindestens ein Tor, einen Treffer oder zwei Punkte mehr erzielt hat. Die Präferenz für Offensive ist u.a. auch daran abzulesen, dass diejenigen Spieler normalerweise mehr im Fokus des Interesses der Sportöffentlichkeit stehen, aber auch die Trainer und Mannschaften, die besondere offensive Qualitäten aufweisen. Die individuelle Leistung eines Spielers wird somit auch im Mannschaftssport – neben der Teamleistung – mit beobachtet und besonders bewertet, obwohl das Ergebnis und damit das »Produkt« sowohl am Ende des Wettkampfes als auch in der Tabelle der Mannschaft zugeschrieben wird. Dabei kann die individuelle Leistung dem einzelnen Spieler im Positiven wie im Negativen zugerechnet werden. So gibt es Stars und Superstars, die sich im Sportsystem eine besondere Reputation erworben haben, und Mitläufer, welche ihre Rolle eher unauffällig ausüben (vgl. Simon 2009c, 91, 99–101). Zudem tendieren auch Beobachter dazu, seien es Trainer oder Spieler, die Differenz des Spielausganges bei annähernd gleichstarken Mannschaften Einzelspielern zuzuschreiben, seien es ihren hervorragenden Leistungen, seien es ihren »Schnitzern« oder individuellen Fehlern. Je nach Spielausgang wird dann auch von der schwachen oder überragenden Leistung eines Einzelspielers gesprochen, dessen Fehler oder Leistung spielentscheidend war, oder von einer schwachen oder überragenden Leistung des Gesamtteams. Die auf letztere bezogene Phrase »Kompliment an die Mannschaft« bei einer gelungenen Performance wird inzwischen nicht nur vom Trainer, sondern auch von den Spielern benutzt. Dass besonders die öffentliche Zuschreibung individueller, aber auch kollektiver Fehler zu Konflikten sowohl innerhalb der Mannschaft als auch mit dem Trainer resultieren kann, ist naheliegend. Auf die daraus resultierende Ambivalenz im Umgang mit Stars verweist Simon (2009c, 99): »Die Funktion des Trainers ist immer auch, als höhere Macht zu fungieren, die nicht berechenbar ist, sodass auch Stars nie sicher sein können, dass sie noch länger zei-
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gen können, dass sie die Stars sind. Und dazu braucht der Trainer kein Held zu sein. Es reicht, wenn er die formale und – faktische – Macht hat. Denn auf der Ersatzbank kommt niemand groß raus. Trotz allem: Stars sind ein wahrscheinlich unverzichtbarer Bestandteil des Fußballs. Denn Fußball hat gewisse funktionelle Gemeinsamkeiten mit Religionen.« Beziehen sich das Wettkampfverhalten bzw. die Sportkommunikation letztlich auf das Medium des Körpers und den Ball, geht es bei den Spielsystemen bzw. –programmen darum, beide, in Abhängigkeit von den Positionen der Spieler, so zu koordinieren und zu formen, dass sie ihre Beiträge möglichst optimal zum Sieg im Wettkampf beisteuern können. Die Programme mit ihren auf sie bezogenen Fehlern bzw. Nicht-Fehlern werden somit letztlich am Körperverhalten im Kontext des Spielfeldes festgemacht. Ihre Erwartungen beziehen sich auf die visuelle Wahrnehmung des im Medium des Körpers durchgeführten bzw. kommunizierten Verhaltens, sei es in konditioneller, technischer oder taktisch-strategischer Hinsicht. Indiziert die Kondition des Spielers beim Mannschaftsballsport wie Fußball die Form, d.h. Ausdauer und Fitness seines Körpers, beim Laufen, Springen, Zweikämpfe austragen etc., wobei Wahrnehmungsschemata wie schnell/langsam, hoch/niedrig, steif/geschmeidig etc. einrasten, verweist die Technik als »funktionierende Simplifizierung« (Luhmann 1997b, Bd.2, 524) auf den Umgang mit dem Ball, z.B. die Schuss- oder Passtechnik, die Ballkontrolle, das Dribbelvermögen oder die Kopfballtechnik. Technik rückt hier in die Nähe zur Semantik der Kunst und damit der Ästhetik, wenn z.B. der Ball in einer Form traktiert wird, die sich den normalen Kausalitäten der Ballistik entzieht. Man spricht deshalb oft auch von den »Ballkünstlern« oder »Ballzauberern«. Die Mitspieler und selbst einige der gegnerischen Spieler, vor allem aber auch die anwesenden Zuschauer und das massenmediale Publikum sind entsprechend beeindruckt von der Einzigartigkeit des körperlichen Umganges mit dem Ball. Im Unterschied zur Kunst gilt jedoch, dass die »Spielkunst« nur dann zählt, wenn sie letztlich zum Erfolg, sprich zum Sieg, führt. Es irritiert dementsprechend auch nicht, dass der Eigensinn – eine sehr zutreffende Semantik – eines Ballzauberers, der sich gleichsam selbstvergessen dem Spiel mit dem Ball hingibt, aufgrund der primären Orientierung am Sieg von den Trainern und Mitspielern nicht gerne gesehen wird. »Ballverliebtheit« wird mithin negativ sanktioniert, wenn sie nicht der programm- bzw. systemgesteuerten Teamdisziplin und der Orientierung am Sieg unterworfen wird. Es heißt deshalb, der betroffene Spieler spiele für die Kulissen, jedoch nicht für die eigene Mannschaft. Und es erstaunt auch nicht, dass dieser Spielertyp oft ambivalent beobachtet und bewertet wird. Mal wird er zum »Fußballgott« hochstilisiert, wenn er zum Erfolg seiner Mannschaft beiträgt, indem er Treffer vorbereitet oder schießt, die sonst keinem gelingen. Mal wird er als Repräsentant einer brotlosen Kunst abgetan, der – wie Uli Hoeneß über den früheren Spieler der Eintracht Frankfurt Okocha sagte – eher im Zirkus als auf dem Sportplatz auftreten sollte. Schließlich geht es auch und vor allem um die Beobachtung und Bewertung des taktischen und strategischen Verhaltens des Körpers der Spieler (vgl. Willke 2009, 68 zur Spielintelligenz). Hier werden anhand der oben erwähnten Konditional- und Zweckprogramme die Bewegungen des Körperverhaltens der Spieler daraufhin beobachtet, ob sie
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die offensiven oder defensiven Spielzüge in wechselnden Situationen oder Standardsituationen so umsetzen, wie sie im Training eingeübt wurden. Die Kriterien der Beobachtung und Bewertung sind hier nicht schön/hässlich, elegant/unelegant, sondern eher intelligente/unintelligente Auslegung des Spielgeschehens, gutes/schlechtes Spielverständnis oder diszipliniertes/undiszipliniertes Systemverhalten. Zusammenfassend können wir also festhalten, dass die Attribuierungen der programmspezifischen Beiträge des Körperverhaltens der Spieler auf sinnkonstituierten Erwartungen basieren, welche auf die visuelle Wahrnehmung der Kondition, Technik und Taktik bzw. Strategie abstellen. Dabei werden Kausalbeschreibungen unterstellt, die auf die Bewertung der Fitness, des Umgangs mit dem Ball und das Spielverständnis abzielen. Die strukturelle Kopplung von Körper, Bewusstsein und Sportkommunikation erfolgt dabei in einer Form, welche letztere an der Koordination des Körperverhaltens abliest, das Bewusstsein an dem Umgang des Körperverhaltens mit dieser Koordination und die Fitness an der Kondition. Es überrascht dementsprechend nicht, dass Fitness, Technik und Taktik die drei zentralen Komponenten der Trainingsprogramme sind, wobei der Körper der Spieler und der Ball jeweils unterschiedlich an das Bewusstsein und die Sportkommunikation gekoppelt sind. 3.5.7.2.2 Stadionsprecher Wie bereits erwähnt, wird der Wettkampf als Großinteraktion, d.h. als Interaktionssystem, das sich durch die Differenz von Anwesenheit (Tausenden von Zuschauern vor Ort) und Abwesenheit (massenmediales Publikum) von seiner Umwelt abgrenzt, kommunikativ im Medium von Sprache und Schrift durch einen Stadionsprecher gerahmt. Bei Mannschaftsspielsportarten wie Fußball begrüßt er die Mannschaften und Zuschauer, gibt darüber hinaus während des Spiels die Treffer und Tore sowie die Zuschauerzahl bekannt und verabschiedet am Ende die Mannschaften und Zuschauer. Im Unterschied zum Sportjournalist, der den gleichen Wettkampf für ein abwesendes Publikum sprachlich kommentiert, hält er sich ansonsten weitgehend zurück, was nicht ausschließt, dass er sowohl die Heimmannschaft als auch ihre Fans temporär animiert. Die Rolle des Stadionsprechers kann somit zwischen höflichem Gastgeber des Heimvereins und parteilichen Animateur changieren, was je nach Sportart variiert. Bei nationalen Meisterschaften oder Endkämpfen, die an einem neutralen Standort stattfinden, ist eine Parteilichkeit des Stadionsprechers eher unerwünscht. 3.5.7.2.3 Inklusion des abwesenden Publikums qua Übertragung durch Massenmedien und Berichterstattung des Sportjournalismus Wird der Wettkampf live im Fernsehen übertragen, wissen die Anwesenden, seien es Sportler, Trainer, Vereinsvorstände, Schiedsrichter oder Zuschauer, dass sie zeitgleich von Abwesenden beobachtet werden, die jedoch nicht unmittelbar in den Wettkampf intervenieren können. Großereignisse im Sportsystem, aber auch kleinere Sportereignisse sind dementsprechend dadurch gekennzeichnet, dass das abwesende Publikum als eingeschlossenes ausgeschlossenes Drittes von den Anwesenden mitberücksichtigt wird. Dabei sind die entsprechenden Sender der Medien in Form ihrer Sportjournalisten präsent, die deshalb auch vor dem Wettkampf, während Wettkampfpausen und nach dem
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Wettkampf die Sportler und Trainer für das anonyme Publikum nach ersten Stellungnahmen befragen, kurz: sie interviewen. Wettkämpfe des Hochleistungssportes unterscheiden sich von denen des Breitensportes u.a. dadurch, dass vor allem das Fernsehen live überträgt, während demgegenüber bei letzteren eher die Print-Medien berichten – wenn überhaupt. Das impliziert, dass sie eine weitaus größere Reichweite haben bis hin zu einem Millionen- bis Milliardenpublikum bei globalen Großereignissen wie Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen. Es erklärt u.a. auch die Zugehörigkeit der Spitzensportler zur »Prominenzklasse« (vgl. Luhmann 1985, 145ff.; Bolz 2009, 21) – im Grenzfall zu einem Weltstarsystem. Dies wiederum wirkt sich auf die Zuschauerresonanz vor Ort und am Bildschirm aus, die vor allem bei Auswärtsspielen von Topteams wie Bayern München oder Real Madrid anhand von ausverkauften Stadien und hohen massenmedialen Einschaltquoten abzulesen ist. 3.5.7.2.4 Der Einfluss der Zuschauer auf den Wettkampf Einleitung Neben dem Stadionsprecher und den kommentierenden Sportjournalisten der Massenmedien begleiten besonders die Zuschauer als anwesendes Publikum den Wettkampf im Medium der Sprache, Schrift oder mittels Wahrnehmungsmedien wie Transparenten. Typisch ist die Binnendifferenzierung von solchen Sportdisziplinen, deren Wettkämpfe das Medium der Sprache durch das Publikum konstant zulassen, und solchen, bei denen dies nur am Ende einer Wettkampfsequenz oder gar erst am Ende des Gesamtwettkampfes erlaubt ist. Bei den meisten Mannschaftsspielsportarten ist eine permanente sprachliche Kommentierung des Wettkampfes gestattet, während bei der Mehrzahl der Individualsportarten dies nur am Ende einer Teilsequenz oder des Wettkampfes möglich ist. So feuern z.B. im Fußball die mit ihrem Team sympathisierenden Zuschauer dieses relativ permanent an, was demgegenüber beim Tennis, Reiten oder Turnen weniger der Fall ist. Fragt man nach den diesbezüglichen Gründen, so dürften hier zum einen klassen- oder schichtenspezifischen Traditionen, also sportexterne Formen der persönlichen Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit, eine Rolle spielen. Und zum anderen sportimmanente Formen der körperlichen Konzentration der Sportler und die damit zusammenhängende notwendige Vermeidung von Störungen und Irritationen durch das Publikum. Selbst bei Mannschaftsspielsportarten ist das beobachtbar, wenn die Spannung z.B. beim Elfmeterschießen (vgl. Simon 2009a, 52) steigt und der speziellen Konzentration des jeweiligen Torschützen bedarf. Gleichwohl sind auch hier Irritationen durch Pfiffe der generischen Fans nicht auszuschließen. Die wettkampfimmanente Notwendigkeit der Konzentration, d.h. die Kopplung von kommunikativen Erwartungen und Bewusstsein der betroffenen Sportler, nimmt in dem Maße zu, in dem die eigene körperliche Leistung über Sieg und Niederlage entscheidet. Irritationen durch das Publikum oder den Gegner sind dementsprechend umso unerwünschter, desto relevanter die eigene konzentrierte körperliche Leistung für den Gesamtsieg ist.
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Die Differenz von laut/ruhig bzw. laut/still und damit der wettkampfinterne Geräuschpegel hängen mithin auch von bestimmten Fairness-Erwartungen an die Zuschauer, gekoppelt mit der wettkampfimmanenten Spannung, zusammen (vgl. Bolz 2009, 20–21). Dabei scheint man den Zuschauern bei Mannschaftswettbewerben mehr Freiheiten hinsichtlich der sprachlichen Kommentierung und anderer Wahrnehmungsmedien zu konzedieren als in Individualsportarten. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass hier die Kopplung von Konzentration und körperlicher Leistung im Hinblick auf Sieg/Niederlage klarer persönlich attribuiert werden kann als im Fall des Mannschaftssports. Entsprechend kristallisiert sich die Übernahme von individueller Verantwortung in einem Team-Wettkampf erst in besonders heiklen Situationen heraus, z.B. dem bereits erwähnten Elfmeterschießen. Wenn wir uns auf Fußball als Wettkampf beschränken, können wir vorab konstatieren, dass bei den Zuschauern ein spezifischer Umgang mit den Kommunikationsmedium Sprache, den akustischen Medien Musik und Singen sowie den visuellen Wahrnehmungsmedien, inklusive der Schrift, dominiert. Dazu gleich mehr. Vorab wollen wir darauf hinweisen, dass die massenmediale Übertragung der Wettkämpfe des Hochleistungssportes von Teilen der anwesenden Zuschauer dazu benutzt wird, um mit dem anonymen abwesenden Publikum zu kommunizieren, um für ihren Ort oder ihr Herkunftsland zu werben. Dabei bedient man sich der Schrift oder Fahnen. Die Kommunikation von Abwesenden mit Abwesenden entspricht einer nichtkommerziellen Sekundärwerbung in Differenz zur offiziellen kommerziellen Primärwerbung, die sich u.a. qua elektronischer Bandenwerbung am Rande des Spielfeldes kontinuierlich reproduziert. Die Zuschauer vor Ort lassen sich grob in parteiische und neutrale unterscheiden, wobei erstere in abgestufter Form parteiisch sind, d.h. vom Sympathisanten über den Fan bis hin zum Mitglied eines Fanclubs und Fanatikers (vgl. Werron 2010, 127ff. zur Binnendifferenzierung von Publikumsfiguren). Die Bevorzugung der Parteilichkeit entspricht einer Identifikation mit dem Präferenzwert des Sportcodes, dem Sieg. Während die Sportler um diesen im Wettkampf primär im Medium des Körpers kämpfen, also weitgehend ohne Sprache (vgl. Willke 2009, 69ff.), es sei denn es kommt zu temporären Beleidigungen des Gegners oder Schiedsrichters, tragen die Anhänger der jeweiligen Mannschaften den Wettbewerb stellvertretend verbal aus. Im Grenzfall auch mit Beleidigungen gegen den Schiedsrichter und bei Konflikteskalationen auch mit physischer Gewalt gegen die gegnerischen Fans. Die Zuschauer erfüllen oft die Funktion des sogenannten »zwölften Manns« (vgl. Simon 2009b, 48), besonders für die Heimmannschaft, da sie aufgrund der lokalen und regionalen Nähe ihres Wohnortes mehrheitlich mit der Heimmannschaft sympathisieren. Ausgeglichen wird der Heimvorteil jedoch durch ein Hin- und Rückspiel. Beim einzelnen Wettkampf greifen die parteiischen Zuschauer u.a. auf folgende Formen der Unterstützung ihres Teams zurück: Gemeinsame Sprachverwendung Dominant ist zunächst die gemeinsame Inanspruchnahme der Sprache. Dabei spielt deren dadurch erzielte Verstärkung und größere kommunikative Erreichbarkeit bzw. Verstehbarkeit eine wichtige Rolle, die wiederum mit dem Wettkampf als Großinteraktion zusammenhängt. Soll die eigene oder gegnerische
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Mannschaft adressiert werden, muss man sich, wenn man sich nicht technologischer Hilfsmittel wie Trompeten oder Lautsprecher bedienen kann, gemeinsam artikulieren. Die Lautstärke ist dann zum einen an die eigene Mannschaft gerichtet, der man als Supporter zusätzliche moralische Unterstützung verschaffen will (siehe Simon 2009a, 48). Zugleich jedoch auch an die gegnerische Mannschaft und ihre Fans, die man sowohl demoralisieren als auch »mundtot« machen möchte, indem man sie durch die eigene Lautstärke zur Wirkungslosigkeit zu verdammen versucht. Dabei fällt auf, dass die Fans die Sprache nicht in Form ganzer Sätze verwenden, sondern abgekürzt in Form weniger Worte kommunizieren. So skandieren sie z.B. zu Beginn die Nachnamen der Spieler der eigenen Mannschaft, während sie die des Gegners verhöhnen. Oder sie rufen »Attacke, Schieber, Absteiger, St. Pauli« und artikulieren Laute wie »Uiiiuh«, »Ah« oder »Tor«. Es werden mithin nur wenige Worte oder Laute selegiert, die gemeinsam und lautstark geschrien werden. Dass dies so ist, ist dem Tempo des Wettkampfes geschuldet. Da die Sprache langsamer als die Wahrnehmung des Bewusstseins operiert, zollen die Zuschauer der Geschwindigkeit des Spiels intuitiv durch reduzierte Formen der Sprache Tribut (vgl. Hohm 1997 zur Nachrangigkeit der Sprache als Kommunikationsmedium des Verkehrssystems). Hinzu kommt eine sprachliche Kurzkommentierung bzw. -bewertung, welche die Aktionen der eigenen Mannschaft positiv unterstützt und die des Gegners negativ. Es findet also sowohl eine Lob- als auch Schimpfkommunikation statt. Letztere befreit von jeglicher pädagogischen Intention und jedwedem Takt. Höflichkeit und Takt werden durch Ironie, Lächerlichmachen und Verhöhnung des Gegners sowie seiner Fans einerseits und der nahezu kritikfreien Unterstützung der eigenen Mannschaft andererseits ersetzt. Bolz (2009, 18) schreibt dazu passend: »Der Fußballplatz ist der Schauplatz des gesellschaftlich anerkannten Wettbewerbs, des symbolisch Konflikts. Auf diesem Schauplatz sind Dinge möglich, die überall sonst tabu sind.« Je nach Spielverlauf und Leistung der eigenen Mannschaft kann die Stimmung allerdings auch kippen und sich gegen die eigene Mannschaft als Adressat der Kritik sowie Nichtakzeptanz der Performance richten. Enttäuschungen über den Spielverlauf oder das Ergebnis können dann sprachliche Formen annehmen, die von Rufen wie »Absteiger«, »Aufhören«, »Trainer raus« bis hin zu »Scheißmillionäre« und Aufforderungen wie »Wir woll’n Euch kämpfen sehen!« reichen. Das Negationspotential der Sprache und das Risiko jeder Kommunikation, das in der Möglichkeit der Mitteilung eines Widerspruchs besteht (Luhmann 1997b, Bd.1, 222ff.), verweisen mithin auf das labile Medium der Stimmung der Zuschauer. Musik und gemeinsames Singen Zusätzlich spielen die Musik bzw. das gemeinsame Singen eine zentrale Rolle. Nicht nur, dass die Zuschauer zu Beginn und am Ende eines Spieles durch internationale Hits wie »You never walk alone« oder »We are the champions« auf den Wettkampf eingestimmt oder von ihm verabschiedet werden. Vielmehr gehört das den Wettkampf begleitende Singen zu einem zusätzlichen Ritual, das von den
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Fans sowohl als Kommentierung des Spiels, aber auch Ausdruck des Gemeinschaftserlebens sowie Solidarität und Identifikation in Anspruch genommen wird. Wenn z.B. nach einem Sieg »We are the champions« gesungen wird, wird deutlich, dass man sich, obwohl nur Zuschauer, mit der Mannschaft als Sieger betrachtet und feiert. Gleiches gilt, wenn man bereits während des Spieles »So ein Tag, so wunderschön wie heute singt«. Aber auch im Falle einer Niederlage wird mit Liedern wie »You never walk alone« oder »Wir alle sind Mainzer« die Loyalität und Vereinstreue zum Ausdruck gebracht. Je nachdem werden auch Formen der Selbstironie oder ironischen Kommentierung gegnerischer Leistungen eingebracht, wenn z.B. gesungen wird »Wir sind nur ein Karnevalsverein« oder »Zieht den Bayern die Lederhosen aus, Lederhosen aus!« oder die Verletzung eines Spielers der gegnerischen Mannschaft mit »Uiuuh«, »Uiiuh« kommentiert wird. Ergänzt wird das Singen bisweilen auch durch Trompeten, Trommeln oder gar durch ein kleines Orchester wie beispielsweise bei Spielen der holländischen Nationalmannschaft. Visuelle Wahrnehmungsmedien Zusätzlich zur Sprache und Musik sind auch die visuellen Wahrnehmungsmedien bedeutend. Sie bringen die Sympathie oder Identifikation mit der eigenen Mannschaft und/oder dem eigenen Verein durch das Outfit, z.B. das Tragen von Trikots der Lieblingsspieler, dem Anmalen der Gesichter oder der Haare mit den Vereinsfarben, dem Mitführen von Vereinsfahnen und Transparenten zum Ausdruck. Entindividualisierung durch Gemeinschaftserleben Typisch für das Gemeinschaftserleben und die Parteilichkeit zugunsten der eigenen Mannschaft ist mithin eine gewisse Entindividualisierung, die durch die wechselseitige Wahrnehmung der Zugehörigkeit und Treue zur eigenen Mannschaft kompensiert wird, mit der man gewinnt und verliert und von deren Siegen sowie Niederlagen man seine eigene emotionale Stimmung abhängig macht. So braucht man z.B. nicht ein Fußballspiel besucht zu haben, um allein an den Gesichtern der das Stadion verlassenden Zuschauer ablesen zu können, wer gewonnen und verloren hat. Sieg und Niederlage der eigenen Mannschaft können dementsprechend die Kommunikation gemeinsamer Emotionen hervorrufen, welche von Tränen über Freudentaumel bis hin zu den wüstesten Beschimpfungen des Schiedsrichters oder der gegnerischen und eigenen Mannschaft reichen. Letzteres z.B. nach dem Spiel, wenn die Spieler in ihre Vereinsbusse einsteigen. Das Engagement der Fans baut mithin durch den Ausgang des Wettkampfes nicht nur Spannungen ab, sondern setzt zugleich Emotionen frei, die in ihrer Kontinuität und bezüglich des Anteils der Bevölkerung angesichts der öffentlichen Beobachtung durch Dritte nur in wenigen anderen Funktionssystemen in ähnlicher Form beobachtet werden können. Allenfalls Pop-Konzerte der Musikindustrie bzw. des Show-Business sind damit vergleichbar. So schreibt Bolz (2009, 22): »Wie die Popmusik ist das Fußballspiel ein Glaube ohne Worte, eine Art sprachunbedürftiger Weltverständigung.« Ob jedes Fußballspiel allerdings auch ein »containment of excitement« ist, wie er im Anschluss an Berscheid behauptet (vgl. Bolz 2009, 24), mag man u.a. anhand von Hooligans bezweifeln. Wir kommen darauf später zurück.
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Zur Autopoiesis, Dynamik und Grundoperation des Fußballspiels als Wettkampf Als zugehörig zum Hochleistungssport grenzt sich das Fußballspiel als Wettkampf von der systeminternen Umwelt als organisiertes Interaktionssystem ab und orientiert sich am Sportcode Sieg/Niederlage. Dabei verweist die Attribution »organisiert« darauf, dass, wie bereits erwähnt, durch den Spielplan als Programmstruktur vorab entschieden und sichergestellt wird, welche Mannschaften (soziale Dimension) jeweils im Unterschied zu anderen gegeneinander antreten; wo, also in welcher Sportarena (Raumdimension), dies stattfindet; wann, d.h. an welchem Spieltag (Zeitdimension) und welcher Uhrzeit während der Saison dies im Unterschied zu anderen Spieltagen geschieht; und in welcher Sportart, sprich Fußball, (Sachdimension) im Gegensatz zu anderen der Wettkampf ausgetragen wird. Ferner steht auch vorab fest, welcher Schiedsrichter im Vergleich zu anderen pfeift und wieviel Zuschauer aktuell im Unterschied zur potenziellen Zuschauerzahl anwesend sind. Der Wettkampf erzeugt damit seine Individualität auf einer ersten generalisierten Ebene. Der einzelne Wettkampf als Interaktionssystem ist zudem in das rekursive Netzwerk der 34 Spieltage der vergangenen und zukünftigen Wettkämpfe eingebettet, wie sie der Spielplan für die Saison festgelegt hat. Das ist deshalb von Bedeutung, da es einen Unterschied für den Sportcode Sieg/Niederlage ausmacht, ob es der erste Wettkampf der Saison ist, einer in der Mitte oder am Saisonende. Je nachdem ist die Ausgangssituation im Hinblick auf die für die Mannschaften und ihre Vereine entscheidende Platzierung innerhalb der Tabelle unterschiedlich. Diese repräsentiert das aggregierte und gradualisierte Ergebnis der einzelnen Siege, Niederlagen und Unentschieden und ist das Systemgedächtnis, das die einzelnen Wettkämpfe begleitet und die jeweilige Rangordnung der einzelnen Mannschaften wiedergibt. Der Sportcode ist somit – wie im Erziehungssystem – ein Selektionscode, der die Leistungen der Mannschaften nach besser und schlechter sortiert und dokumentiert (vgl. Luhmann 2002, 67ff.). Dabei wird die Semantik der einzelnen Siege, Niederlagen und Unentschieden in ein Punkte- und Torsystem überführt, das die bessere und schlechtere Leistungen in Relation zu den anderen Mannschaften tabellarisch registriert. Aus der Perspektive des Saisonendes oder des Endes der Meisterschaft gibt es dann nur einen Gesamtsieger, der die Meisterschaft gewonnen hat. Die Differenz Sieger/Verlierer, wie sie am Tabellenplatz ablesbar ist, unterscheidet sich jedoch vom Selektionscode des Erziehungssystems dahingehend, dass es durchaus zwei Klassenprimi geben kann, jedoch nur einen Meister. Sie ähnelt ihm wiederum dahingehend, dass zum einen mehrere Sieger hinter dem Champion und mehrere Verlierer vorgesehen werden können. Obwohl die Schlusstabelle vom ersten bis zum letzten Tabellenplatz ordinal skaliert ist, gibt es – bezogen auf den Sportcode – zwar die Extrema des Tabellenführers und Tabellenschlusslichtes, jedoch nicht nur einen Sieger oder Aufsteiger oder nur einen Verlierer oder Absteiger, sondern mehrere Sieger und mehrere Verlierer. Während z.B. die ersten drei Tabellenplätze der 1. Bundesliga zur Teilnahme bzw. Qualifikation an der Champions-League berechtigen, müssen die Inhaber der letzten zwei Tabellenplätze absteigen, während das Team, das am Ende auf dem 16. Tabellenplatz steht, zwei Relegationsspiele gegen den Dritten der 2. Bundesliga bestreiten muss. Die Mitte der Tabellenplätze
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verkörpern die ausgeschlossenen eingeschlossenen Dritten, da sie weder am UEFA-Cup noch am UI-Cup teilnehmen können. Wir können also festhalten, dass der Sportcode beim Fußball zwar nur einen Champion kennt, aber darüber hinaus den Sieges-Code mehrmals auf sich selbst anwendet bzw. im Hinblick auf die hierarchische Ordnung der Tabellenplätze gradualisiert (Vgl. dazu Cachay/Thiel 2000, 138ff.). Nur die Mitte bzw. das Mittelfeld scheinen gleichsam als Durchschnitt die Verlierer zu sein, weil die betroffenen Mannschaften keine gewinnbringende Anschlussmöglichkeiten im Kontext der internationalen Wettbewerbe erwarten können, sprich sich weder für die Champions-League oder den UEFA-Cup qualifizieren Dass die aktuelle Tabellenplatzierung als Resultat der bisherigen Systemgeschichte der Mannschaften als Ausgangsvoraussetzung eines einzelnen Wettbewerbes im Systemgedächtnis aller Beteiligten mitgeführt wird, ist ein Indiz für die Ausdifferenzierung und Selbstbezüglichkeit des Spitzenfußballs. Dieser informiert sich mithin anhand der Tabelle, sprich der Punkte- oder Torzahl und dem entsprechenden Ranking, in abgekürzter Form über die systeminterne Leistung von Mannschaften und Individualsportlern. Dem Sportpublikum, das nicht jeden Wettkampf verfolgen kann, genügt mithin ein kurzer Blick in die Massenmedien, um über den Leistungsstand seiner Mannschaft am Laufenden zu sein (vgl. Bolz 2009, 22). Betrachtet man also einen isolierten Wettkampf, so kommt es aufgrund des Gesagten entscheidend darauf an, zu welchem Zeitpunkt in der Saison er stattfindet. Im Grenzfall kann ein Pflichtspiel am Ende der Saison bedeutungslos geworden sein, weil es – wie es oft heißt – »um nichts mehr geht«. Dass dies der Fall ist, ist ohne Berücksichtigung des Systemgedächtnisses, also ohne Einschluss der vergangenen Ergebnisse, nicht verstehbar und kommunizierbar. Typischerweise können sportlich weniger Interessierte die Spannung oder Langeweile eines Wettkampfes ohne diese Information nicht begreifen. Im Kern besagt dies jedoch auch, dass man sich nicht wundern muss, wenn es am Ende der Saison zu Ergebnissen kommt, die in ihrer Klarheit oder ihrem vermeintlichen Überraschungseffekt darauf zurückzuführen sind, dass eine der beiden Mannschaften oder gar beide ihr Saisonziel bereits erreicht haben oder keines mehr erreichen können. Das Risiko einer Wettbewerbsverzerrung, welche nicht notwendigerweise von den Beteiligten intendiert sein muss, liegt dann ebenso auf der Hand wie die Indifferenz gegenüber dem Sportcode. Ob Sieg oder Niederlage macht dann für die beteiligten Mannschaften keinen Unterschied. Das Zuschauerinteresse lässt dementsprechend auch nach. Dass der Sportcode nicht nur den Champion prämiert, eine Tendenz, die im Mannschaftssport in den letzten Jahrzehnten zu beobachten ist, verweist mithin auch darauf, dass man die Spannung bis zum Ende der Saison aufrechterhalten möchte. Es überrascht deshalb auch nicht, dass manche Sportarten wie z.B. der Basketball, das Eishockey oder der Handball bis zum Saisonschluss einer großen Zahl der Mannschaften die Chance einräumen, die bisherigen Ergebnisse durch eine Play-off-Runde zu korrigieren. Im Fußball verweist die Relegation auf ein reduziertes funktionales Äquivalent dieser Strategie.
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Fragt man sich, wie sich der Wettkampf im Fußball autopoietisch reproduziert, muss zunächst berücksichtigt werden, dass er nicht primär konversationell, sondern körperbetont abläuft. Bolz (2009, 21) drückt dies pointiert und überspitzt wie folgt aus: »Es macht die Faszination des Fußballspiels aus, dass die Koordination der Körper rein durch Wahrnehmung erfolgt-Kommunikation ist überflüssig.« Dabei muss klar sein, welche Mannschaft im Ballbesitz ist und welche nicht (Baecker 2009, 56ff.; Willke 2009, 69ff.). Der Fokus des Wettkampfs sowie die Eigendynamik der Erzeugung und Reduktion seiner Komplexität resultieren mithin hauptsächlich aus der Differenz von Haben des Balles und Nichthaben des Balles (Baecker 2009, 59), die für seinen Ablauf von zentraler Bedeutung ist. Da nur ein Ball zugelassen ist (Baecker 2009, 55) – was man an der Irritation ablesen kann, die entsteht, wenn vorübergehend zwei Bälle auf dem Spielfeld liegen – heißt das, dass normalerweise immer nur einer der Akteure im Unterschied zu allen anderen beteiligten Spielern den Ball hat. Beim Mannschaftsballsport kann man auch sagen, dass immer nur eines der Teams den Ball haben kann und nicht beide zusammen. Selbst, wenn der Ball irgendwo auf der Spielfläche liegt, geht es darum, wer ihn von beiden Mannschaften am ehesten bekommt. Grenzfälle sind dabei nicht ausgeschlossen, wenn z.B. zwei Spieler um den Ball kämpfen und noch unentschieden ist, wer ihn erkämpft (vgl. dazu Baecker 2009, 60). Der Ball ist mithin das Objekt der Begierde, das Objekt, das im Fokus der beteiligten Bewusstseinssysteme und Kommunikation steht (Bolz 2009, 23 spricht vom Fußball als Quasi-Objekt, dessen Umlauf das Wir schaffe). Während es für die Spieler der eigenen Mannschaft darum geht, die Entscheidungen des eigenen ballbesitzenden Spielers möglichst so zu beeinflussen, dass seine Alternativen auf eine für die eigene Mannschaft positive Entscheidung hinauslaufen, kommt es für die gegnerische Mannschaft darauf an, dies zu vermeiden. Die gelungene Sportkommunikation des Wettkampfes reproduziert sich mithin in einer Form, die es dem ballbesitzenden Spieler der jeweiligen Mannschaft ermöglicht, Entscheidungen mit dem Ball zu treffen, die von ihr als positiv anschlussfähig erlebt werden, während dies gerade für die gegnerische Mannschaft vermieden werden muss. Dabei wird letztlich diejenige Mannschaft erfolgreicher sein, der es gelingt, eine Sequenz von Entscheidungen mittels der jeweiligen individuellen Körper der Spieler zu realisieren, welche den Ball als zentrales Objekt des Wettkampfes ohne Intervention des Gegners in sein Ziel befördert (vgl. Baecker 2009, 57). Dazu müssen sich die eigenen Spieler im Raum der Spielfläche so positionieren, dass sie dem jeweils in Ballbesitz befindlichen Mitspieler Entscheidungsalternativen offerieren, welche die Wahrscheinlichkeit der Intervention des Gegners unwahrscheinlicher werden lassen und die eines Tores oder Treffers erhöhen (Willke 2009, 69). Umgekehrt gilt, dass die nicht in Ballbesitz befindliche Mannschaft die Entscheidungsalternativen des in Ballbesitz befindlichen Spielers so reduziert, dass sie selbst den Ball erobern oder zumindest einen Treffer vermeiden kann. Die kommunikative Reproduktion und Anschlussfähigkeit des Wettkampfes bzw. seine einzelnen Sequenzen lassen sich in seiner kleinsten Einheit als Spielzug begreifen, der immer dann als abgeschlossen beobachtet wird, wenn der Ballbesitz von einer zur anderen Mannschaft wechselt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Ballwechsel mit einem Tor beendet wird, ist, wie wir bereits sahen, beim Fußball am geringsten, bei
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dem weitaus mehr Ballwechsel als Treffer vorkommen. Seine Autopoiesis besteht aus einem Überhang von erfolglosen Angriffen der jeweils ballbesitzenden Mannschaft. Seine Reflexivität kommt in Form seiner erfolgreichen Defensive zum Ausdruck. Das gleiche Ereignis ist insofern verschieden, als ein erfolgloser Angriff der einen Mannschaft als erfolgreiche Verteidigung von der anderen und umgekehrt ein erfolgreicher Angriff von der anderen Mannschaft als erfolglose Abwehr bewertet wird. Die Attribution des gleichen Spielzuges wird also binär schematisiert und als Erfolg/Misserfolg, sei es des Angriffs oder der Verteidigung, mit unterschiedlichen systemimmanenten Folgen bewertet. Damit wird zum einen ausgeschlossen, dass ein erfolgreicher Angriff eine erfolgreiche Verteidigung ist und zum anderen eine erfolgreiche Verteidigung ein erfolgreicher Angriff (Baecker 2009, 61 spricht von vier Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, dass das ballbesitzende Team entweder für ein defensives oder offensives Spiel optiert, während das Team ohne Ballbesitz entweder das Team mit Ballbesitz blockiert oder ihm den Ball abzujagen versucht). Die Mitteilung, Information und das Verstehen der Sportkommunikation und ihr Erfolg/Misserfolg beziehen sich auf Operationen, die als Angriff und Verteidigung qua Körper der Spieler und seiner strukturellen Kopplung mit dem Ball erfolgen. Dabei wird ein Angriff als ein Spielzug verstanden, der eine raumzeitliche Kooperation mehrerer Spieler mit dem Ball voraussetzt, wobei dieser von einem zum anderen Spieler ohne Eingriffsmöglichkeit des Gegners bewegt wird. Man kann auch von einer Entscheidungskette sprechen, an deren Ende der erfolgreiche Abschluss durch einen Treffer steht. Dieser wird desto wahrscheinlicher, desto treffsicherer die Antizipation der Ballabgabe der eigenen Mitspieler durch den ballführenden Spieler und je unwahrscheinlicher sie auf Seiten des Gegners ist. Wiederum gilt hier, dass das gleiche Ereignis unterschiedlich wahrgenommen und verstanden wird. Antizipiert z.B. die verteidigende Mannschaft eine Ballabgabe an einen bestimmten Spieler der im Ballbesitz befindlichen Mannschaft, ist diese nur dann erfolgreich, wenn sie diese Antizipation durchkreuzt. Das Durchschauen der Differenz des Vortäuschens und Täuschens des ballführenden Spielers, wohin er den Ball scheinbar und wohin er ihn tatsächlich spielt, gehört somit mit zum Verstehen seitens seiner Mitspieler wie auch der gegnerischen Spieler. Die informationelle Differenz von dorthin und nicht dahin bzw. zu dem und nicht einem anderen Spieler darf somit nicht zu eindeutig an der Bewegung des Fußes als Mitteilung abgelesen werden können. Er fungiert als bewusstes Medium der Mitteilung. Da jedoch alle Spieler auf der Ebene des Bewusstseins wechselseitig füreinander Black box sind, können sie nicht immer sicher wissen, was ihre Mitspieler und die gegnerischen Spieler in einem bestimmten raumzeitlichen Kontext des Wettkampfes mit dem Ball tun werden. Damit ihnen dies gleichwohl leichter fällt, müssen sie deshalb in dem Sinne als Team eingespielt sein, dass sie aufgrund der eingeübten Konditional- und Zweckprogramme sowohl die Laufwege ihrer Mitspieler als auch die möglichen Optionen ihres ballbesitzenden Mitspielers besser kennen bzw. erahnen können. Eine höchst unwahrscheinliche Prämisse, die jedoch bei besonders erfolgreichen Teams besser zu funktionieren scheint. Abschließend wollen wir noch einige interaktions- bzw. wettkampfspezifische Aspekte hinzufügen.
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Zunächst einmal ist wichtig, dass die Mannschaften auf der Basis einer Symmetrie den Wettkampf beginnen. Sie bedeutet, dass es sich beim Wettkampf um eine Paarung, d.h. ein Zweiersystem von zwei Teams handelt, die gegeneinander um Sieg oder Niederlage kämpfen. Der einzelne Wettkampf binnendifferenziert sich entsprechend in zwei Mannschaften, die zum einen gleich besetzt sind, d.h. gleich viele Positionen aufweisen. Und zum anderen nicht miteinander, sondern gegeneinander spielen, wie die Semantik des Kampfes indiziert. Wenn Baecker (2009, 63) in Anlehnung an Simmel von einem indirekten Wettbewerb im Sinne einer zivilisatorischen Zähmung des Kampfes statt eines Wettkampfes spricht, übersieht er die direkte körperbetonte Auseinandersetzung um den Ballbesitz, die konstitutiv zum Fußballspiel gehört und sowohl zu Verletzungen der Spieler als auch zu Aufforderungen der Fans an sie führt, zu kämpfen, wenn sie sich körperlich zu passiv verhalten. Verweist die Symmetrie auf die gleichen Ausgangsvoraussetzungen, so besagt der Kampf um Sieg und Niederlage, dass am Ende des Wettkampfes die Ausgangsgleichheit durch eine systemintern erzeugte Ungleichheit ersetzt werden kann, was Unentschieden bei manchen Mannschaftsballsportarten nicht ausschließt. Die Kampfsemantik impliziert also, dass es bei gleichen Startvoraussetzungen im Laufe des Spieles darum geht, dass die Mannschaften die positionelle Ausgangssymmetrie in eine Asymmetrie des Resultates zu transformieren versuchen. Die Eigenkomplexität des Wettkampfes ergibt sich dabei durch die Kombinationsmöglichkeiten, welche jeweils ausgehend von der gleichen Anzahl der Spieler den zwei Mannschaften taktisch und strategisch zur Verfügung stehen. Im Unterschied zum Schachspiel wird die Unwahrscheinlichkeit der Kombinationsmöglichkeiten dadurch potenziert wird, dass es sich nicht um Figuren handelt, die zwei Spieler bewegen, sondern um jeweils elf Personen, die keine berechenbare Trivialmaschinen sind, sondern kreative Nichttrivialmaschinen. Was immer auch der Trainer für Spielzüge als Bestandteil eines komplexen Trainingsprogramms mit diesen eintrainiert haben mag, die Personen als aktive Teilnehmer des Spieles erleben und beobachten das Spiel in der jeweiligen Situation anders als der es nur beobachtende, aber nicht mitspielende Trainer – zumal für die Spieler die gegnerische Mannschaft als Störfaktor der eigenen Taktik und Strategie mitberücksichtigt werden muss. Die gleiche Anzahl der Positionen der Mannschaft bedeutet jedoch nicht, dass sich die Mannschaften deshalb neutralisieren und immer unentschieden spielen müssten. Vielmehr kann der Möglichkeitsspielraum der Kombinationen bzw. Spielzüge dadurch an Grenzen stoßen, dass einzelne Spieler, die an sie adressierten Erwartungen aufgrund ihres körperlich-technischen, psychischen und taktisch-strategischen Leistungsvermögens nur eingeschränkt realisieren können und damit die Chancen des gegnerischen Teams erhöhen, den Wettkampf zu gewinnen. Die Eigenkomplexität des Wettkampfes manifestiert sich auch darin, dass kein Spieler und auch nicht der Schiedsrichter die Fülle der simultan ablaufenden Ereignisse des Interaktionssystems wahrnehmen, geschweige denn kommunizieren kann. Hinter dem Rücken des Schiedsrichters und einzelner Spieler kann mithin vieles geschehen, was sie nicht sehen, aber Fremdbeobachter, z.B. die Mitspieler, gegnerischen Spieler, Linienrichter oder das Publikum, sehen können. Die vermeintlichen Kontrolleure werden demnach zu kontrollierten Kontrolleuren. So kann ein Mitspieler den ballführenden Team-
3. Funktionssysteme
kollegen darauf aufmerksam machen, dass sich in seinem Rücken ein gegnerischer Spieler nähert; kann dieser im Gegensatz zu den Spielern des anderen Teams übersehen, dass er im Abseits steht; der Linienrichter den Schiedsrichter darauf hinweisen, dass er ein Foul ignoriert hat, und das Publikum die Spieler des eigenen Teams durch Zurufe darüber aufklären, wie sie sich in einer wichtigen Strafraumszene hätten entscheiden müssen.
3.5.8
Strukturelle Kopplungen des Hochleistungssportes
3.5.8.1 Strukturelle Kopplungen mit Funktionssystemen Der Spitzensport ist nicht nur durch Ausdifferenzierung und autopoietische Reproduktion von seiner gesellschaftsinternen Umwelt entkoppelt, sondern seine Eigendynamik wird auch durch Integration mit spezifischen Umweltsystemen gedrosselt respektive beschleunigt. Wichtige strukturelle Kopplungen weist er vor allem mit dem politischen System, den Massenmedien, dem Medizinsystem, Wirtschaftssystem, Rechtssystem und Religionssystem auf (vgl. dazu auch Schimank 1988, 217ff.; Bette 2005, 205ff.; Werron 2010, 210ff.). Was zunächst die Massenmedien betrifft, so findet eine wechselseitige Beschränkung der Selektionsfreiheiten statt. So kann und konnte zum einen das Sportsystem ohne die Übertragung durch die Massenmedien keine Differenz von unmittelbaren Zuschauern und anonymen Publikum erzeugen. Die kommunikative Verbreitung der Sportereignisse wäre entsprechend ohne Massenmedien nicht möglich. Zum anderen konkurrieren und konkurrierten diese um die Aufmerksamkeit sowie die Einschaltquoten des Publikums, was sie wiederum von den Fachverbänden und Vereinen des Sportsystems in dem Sinne abhängig macht, dass diese ihnen – besonders im Falle der Kern- und Volkssportarten – die Übertragung ihrer Sportereignisse gestatten. Bette (2005, 205) schreibt dazu passend: »Aber erst durch die gedruckte Schrift, das Radio und die elektronischen Medien können derartige Interaktionen an breite Populationen weiterkommuniziert werden und sich in der Art verselbständigen, dass sie an anderen Orten, zu anderen Zeiten und von anderen Zuschauern gesehen und gehört werden können.« Und Werron (2010, 218ff.) hebt im Anschluss an den für ihn zentralen Publikumsbegriff dreierlei hervor: Erstens: Das Sportpublikum als »eine Form der strukturellen Kopplung von Massenmedien und Sport (ebd., 218).« Zweitens: Die Erzeugung zusätzlicher Abhängigkeiten durch die Autonomie von Sport und Massenmedien. Drittens: dass sich diese Abhängigkeiten von Anfang an wechselseitig und nicht einseitig konstituierten. So hebt er hervor: »Ohne Presse ist das Sportpublikum im modernen Sinne vielmehr nie vorstellbar gewesen, wie auch umgekehrt natürlich die Sportpresse nicht ohne Sport(publikum).« (Hervorhebung i. O.) Wenn die qua organisierter Verhandlungssysteme (=Interaktionssysteme) realisierten strukturellen Kopplungen zu Vereinbarungen führen, welche die Übertragungsrechte an die meistbietenden Sender verkaufen, kann es zur stärkeren oder geringeren wechselseitigen Abhängigkeiten kommen. So müssen die Fachverbände des Sport-
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systems ihre sportspezifischen Eigenzeiten den Programmzeiten der Massenmedien anpassen, wenn bestimmte Sportereignisse in der Prime-time deren Einschaltquoten und damit zugleich ihre Werbeeinahmen erhöhen. Umgekehrt müssen die Massenmedien im Falle von globalen Sportereignissen (Olympische Spiele, Weltmeisterschaften) den Zeitverschiebungen Tribut zollen, was geringere Einschaltquoten impliziert, wenn die Übertragungen nachts stattfinden. Zudem kann die zunehmende Vergabe der Übertragungsrechte an das Pay TV die Bereitschaft des Sportpublikums reduzieren, die erhöhten monetären Beiträge zu bezahlen, und wachsenden Protest und/oder die freiwillige oder erzwungene Exklusion eines Teils des massenmedialen Sportpublikums induzieren (vgl. Hirschman 1974). Was das Wirtschaftssystem betrifft, spielt die Werbung eine zentrale Rolle. Sie gefährdet die operative Schließung der Sportereignisse insofern, als sie ihre autonome Eigenzeit qua simultaner Bandenwerbung sowie selektiven Werbeunterbrechungen während ihrer Übertragungen und Pausen partiell einbüßen. Diese Werbestrategien führen dazu, dass das massenmediale Sportpublikum stärker als die unmittelbaren Zuschauer seine Aufmerksamkeit nicht nur auf die Sequenz der Sportereignisse und ihrer Systemgeschichte konzentrieren kann, sondern in regelmäßigen Abständen zwischen der Rolle als Konsument und Sportpublikum zu switchen gezwungen ist. Hinzu kommt, dass die Athleten selbst nicht mehr nur als zugehörig zu einem Fachverband bzw. Verein und der entsprechenden Sportart beobachtet werden und sich selbst beobachten, sondern ihr sportliches Outfit als Medium der Werbung fungiert. Trotz aller Unterschiede, die durch den Wettbewerb des Sportsystems generiert werden, kann es dann zu einer vereinsübergreifenden Loyalität mit einem oder mehreren Sponsoren kommen. Die enge Kopplung von Sportsystem und Wirtschaft wird dementsprechend daran sichtbar, dass bestimmte Superstars des Sportsystems gemeinsam für weltweit agierende Sportausrüster wie Nike, Adidas und Puma werben. Die Markenidentität konfligiert dann nicht selten mit der Identität und Loyalität zum eigenen Sportverein und Sportverband, wie sich anhand der Konflikte zwischen Werbestunden und Trainingsstunden ablesen lässt. Zugleich führt die Konkurrenz bestimmter Spitzenvereine um Topspieler nicht selten dazu, dass diese oftmals nicht nur wegen ihrer überragenden sportlichen Leistung, sondern auch wegen ihres Werbewertes rekrutiert werden. Man denke nur an den Umsatz, den Spitzenvereine früher mit Trikots von Beckham, Zidane oder Rooney machten und heute mit Messi, Ronaldo oder Harland erzielen. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass selbst die Sportarenen nicht mehr nach einem bestimmten, in der Sportgeschichte bekannt gewordenen Ort oder Spieler benannt werden, z.B. Bökelberg, Volksparkstadion, Waldstadion oder Fritz Walter Stadion, sondern zunehmend den Namen des jeweiligen Sponsors, z.B. AOL-Arena, Allianz-Arena oder Amadeus-Tribüne, tragen. Die strukturelle Kopplung von Spitzensport und (Werbe-)Wirtschaft scheint somit die Selektionsfreiheiten des ersteren zugunsten der Sponsoren stärker einzuschränken. Die Integration beider Funktionssysteme tendiert damit in eine Richtung, welche die Abhängigkeit vom Wirtschaftssystem in einem Maße erhöht, welche die Corporate Identity bestimmter Vereine und ihrer Vereinsgeschichte zu gefährden scheint. Forcierte Konflikte zwischen den Funktionären und den Vereinsmitgliedern sowie
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sympathisierenden Fans indizieren einen zunehmenden Unmut mit der wachsenden Kommerzialisierung des Sportsystems, wie er sich zusätzlich an dem steigenden Einfluss von Milliardären wie Kind, Hopp, Mateschitz, Windhorst und Oligarchen auf die Struktur der Vereine festmachen lässt. Gleichwohl scheint es übertrieben, wenn soziologische Beobachter dies als Erscheinungsformen des Turbokapitalismus generalisieren und dabei übersehen, dass der Sieg in aller Regel noch nicht gekauft werden kann (vgl. Werron 2010, 212). Dass schließt Skandale nicht aus, welche besonders im Fußballsport auf Absprachen des Spielergebnisses mit einzelnen Spielern, Schiedsrichtern und Vereinsfunktionären sowie Repräsentanten der organisierten Kriminalität basieren, wie wir sie in Deutschland in der Saison 1970/71 und 2005 erlebt haben. Hinzu kommt, dass zumindest die Fans sich nicht primär als Anhänger von irgendeinem Sponsor, sondern immer noch als die ihres Vereins oder eines Individualsportlers begreifen. Letztere allerdings – speziell die Spitzensportler – tendieren zunehmend dazu, ihren Eigenwert im Sportsystem dazu zu nutzen, zu dem Verein abzuwandern, der sie am besten bezahlt. Eine Tendenz, die im Übrigen auch für bestimmte Spitzenkarrieren der anderen Funktionssysteme gilt. Man denke nur an Manager, Wissenschaftler oder Anwälte. Die Organisationsloyalität der Spitzensportler ist folglich normalerweise geringer als die von Durchschnittsportlern und der Fans. Strukturelle Kopplungen gibt es auch mit dem politischen System, das – je nach politischer Ebene – das Sportsystem und seine Fachverbände unterschiedlich fördert. Dies gilt im besonderen Maße für Diktaturen, welche sich durch die Sportförderung eine Zufuhr an politischer Legitimation versprechen. Es überrascht folglich nicht, wenn sich bestimmte Spitzenpolitiker besonders für ihren Verein einsetzen. In demokratisch verfassten politischen Systemen gilt dies in abgeschwächter Form auch, indem beispielsweise der Innenminister für die Sportführung zuständig ist oder Landesminister oder Bürgermeister sich eine Werbung für ihre Stadt, ihre Region oder ihr Land durch die Leistungen der Sportvereine und der Sportler versprechen. Die Autonomie des Sportsystems steht und fällt diesbezüglich damit, inwieweit es durch entsprechende politische Fördermaßnahmen zu einer Wettbewerbsverzerrung und somit zu einem Durchgriff in die Ergebnisoffenheit der Sportereignisse kommt. Dass z.B. bei den olympischen Spielen die G8 Staaten oftmals die ersten Plätze in den Medaillenrängen belegen, verweist auf eine enge Kopplung von Sport und Politik. Gleichwohl behauptet sich die Autonomie des Sportsystems immer wieder dadurch, dass bestimmte Sportarten von Nationen beherrscht werden, die in der Weltpolitik eher als Schwellenländer oder gar als Dritte Welt-Länder gelten. Man denke nur an die Langläufer aus Äthiopien, Eritrea und Kenia. Allerdings lässt sich auch hier in den letzten Jahren eine Abwanderung aus den Heimatländern in die Erste Welt mit schneller Einbürgerung beobachten. Aus dem Brain-Drain wird damit ein Body-Drain. Eine zunehmend skandalisierte und die Glaubwürdigkeit des Sportsystems gefährdende strukturelle Kopplung stellt die von Medizin und Sport dar. Zentral ist hier die Dopingproblematik (vgl. Bette/Schimank 1995), welche die Sondermoral des Sportes im Sinne des Fairnesspostulats durch eine Untergrundmoral gefährdet (vgl. Bette 2005, 198ff.). Das Problem besteht hier darin, dass der Körper das zentrale Erfolgsmedium des Sportsystems und der Sportler darstellt.
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Wenn der Sportkörper im Hochleistungssport Erfolge erzielen muss, die aus der Perspektive des Breitensportlers eine Zumutung für seinen Körper indizieren, besteht die Kopplung mit dem Medizinsystem zunächst darin, die Fitness und Gesundheit des Sportlers zu garantieren. Die Sportmedizin fungiert insofern zunächst als eine Beschränkung der Selektionsfreiheit des Sportlers, was Überschreitungen seiner Leistungsgrenze betrifft. Prävention, körperliche Check-ups, gesunder Trainingsaufbau, sinnvolle Regenerationszeiten und hinreichendes Auskurieren von Verletzungen sind mithin normative Erwartungen an die Sportmedizin und ihr professionelles Personal. Problematisch wird die strukturelle Kopplung des Sportes mit der Medizin immer dann, wenn die Erfolgserwartungen des Sportsystems und ihre Leistungsimperative zur strukturellen Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Körper des Sportlers führen. Doping, Fit-Spritzen, zu schnelles Aufnehmen des Trainings sind dann Restriktionen der Sportmediziner, welche zu ihrer Instrumentalisierung durch den Sport führen (siehe Schimank 1988, 213ff.; Bette 2005, 198). Die Medikalisierung des Sports ist dann ebenso ein Risiko des Sportes wie seine Kommerzialisierung und Politisierung. Umgekehrt werden die angeführten Umweltsysteme durch den Sport gefährdet, wenn sie sich ihren Erwartungen zu stark beugen und es zu einer Versportlichung der Medizin, der Werbewirtschaft und der Politik kommt. Versportlichung impliziert dann, dass Folgeprobleme in den genannten Systemen, wie Verstöße gegen die Sondermoral der Medizin, Verschuldung von Sponsoren oder der Politik entstehen. Dass die Medikalisierung des Sportes zur systemimmanenten Chancenungleichheit des Sportes und damit zu illegalen Erfolgen führt, verweist auf ein systemimmanentes Risiko, das jedem Funktionssystem inhärent ist, wenn seine Fremdreferenz in dem Sinne überhandnimmt, dass es sich von bestimmten Funktionssystemen zu stark abhängig macht. Da Systemintegration von hoch bis niedrig variieren kann, besteht das Problem des Sportsystems offenbar darin, dass es zu hoch und negativ mit bestimmten Funktionssystemen integriert sein kann. Eine verschärfte und erfolgreiche Dopingkontrolle indizierte mithin eine stärkere Forcierung der Entkoppelung vom Medizinsystem und seiner pharmazeutischen Präparate und damit eine Reduktion dieser negativen Integration. Dies führt uns zur strukturellen Kopplung mit dem Rechtssystem. Die eigene Sportgerichtsbarkeit des Sportsystems ist zunächst einmal unmittelbar wirksam in Form der Schiedsrichter und Kampfgerichte, denen zudem, neben den Fachverbänden, die unmittelbare und indirekte Initiative für Sportgerichtsverfahren eingeräumt wird. Mit einem eigenen Rechtssystem beharrt der Spitzensport zunächst auf einer Form der Selbstkontrolle, welche Regelverstöße ohne Hinzuziehung des öffentlichen Rechtssystems ahndet. Nur in besonders spektakulären Fällen wird eine Regelverletzung an dieses verwiesen. Die Verrechtlichung des Sportsystems reduziert sich mithin zunächst auf die unmittelbare Interpretation und Entscheidung von Sportereignissen durch ausdifferenzierte Sonderrollen wie Schiedsrichter und Kampfrichter. Diesen kommt eine bedeutende Rolle zu, da normalerweise ihre Entscheidungen von den beteiligten Sportlern und ihren Vereins- und Verbandsvertretern als Tatsachenentscheidungen akzeptiert werden müssen. Da diese jedoch oftmals in den besonders kommerzialisierten Sportarten mit großen monetären Gewinnen und Verlusten verknüpft sind, ist ein Trend der Verrechtli-
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chung des Sportsystems im Sinne der Anrufung ordentlicher Gerichte zu beobachten. Man denke nur an das Bosman-Urteil, Rocky Rocciagnis Gerichtsverfahren gegen den Weltboxverband, die Doping-Verfahren der ehemaligen DDR-Sportler, aber auch von Doping-Sündern bei der Tour de France und nicht zuletzt das Gerichtsverfahren gegen den damaligen designierten Bundestrainer der Fußballnationalelf Christoph Daum etc. Die Verrechtlichung verdeutlicht somit, dass die Sportgerichtsbarkeit an ihre Grenzen stößt und zunehmend Konflikte, welche die Ablöse von Sportlern, die Medikalisierung des Erfolges, den Bau von Stadien und die Zuteilung von Austragungen großer Sportereignisse betreffen, vor ordentlichen Gerichten ausgefochten werden. Zugleich lässt sich in jüngerer Zeit beobachten, dass mit Hilfe neuer Techniken, z.B. Video Assistant Referee (VAR), Messung der Torlinie etc., die Schiedsrichterentscheidungen zu nachträglichen Korrekturen bereits vor Ort durch den Referee führen können. Die strukturelle Kopplung des Sportsystems mit dem Rechtssystem führt also zu Formen der Verrechtlichung, welche einerseits im Sportsystem selbst zunehmen und andererseits auch Rechtskonflikte vor ordentlichen Gerichten induzieren. Hinzu kommen wachsende Polizeieinsätze und die zunehmenden Sicherheitsvorkehrungen bei sportlichen Großereignissen, welche sich nicht nur auf gewaltbereite Hooligans, sondern auch auf mögliche Terroranschläge beziehen. Das Sportsystem hat es somit zum einen mit selbst erzeugten Risiken zu tun, welche durch eine Minderheit gewaltbereiter oder protestbereiter Zuschauer entstehen. Und zum anderen mit Gefahren, welche ihm durch politisch motivierte Terroristen drohen, wobei letzteres vor allem für Sportereignisse gilt, welchen globale Aufmerksamkeit zukommt. Eine Konsequenz davon ist eine Zunahme von Sicherheitsvorkehrungen, denen sich sowohl die Spieler als auch die Zuschauer ausgesetzt sehen. Dies führt u.a. auch dazu, dass die räumliche Ausdifferenzierung der Sportarenen bzw. die räumliche Trennung der Sportler und Zuschauer forciert wird. Der unmittelbare Kontakt von beiden nimmt entsprechend ab und ähnelt im Falle von Spitzensportlern der Abschirmung von Spitzenstars im Showbusiness und von Spitzenpolitikern im politischen System. Body-guards sind für Spitzensportler von Populärsportarten gleichsam selbstverständlich geworden. Eine weitere interessante, wenngleich einseitige strukturelle Kopplung ist die des Sportsystems mit dem Religionssystem. So lässt sich zunehmend beobachten, dass sich Spitzensportler vor einem Wettkampf, nach einem Torerfolg oder Sieg bekreuzigen. Die religiöse Symbolik, welche von ihnen in Anspruch genommen wird, soll offensichtlich darauf hinweisen, dass der eigene Erfolg zusätzlich durch Gott – und sei es nur die »Hand Gottes« wie bei Maradona – zustande gekommen ist oder gekommen sein soll. Speziell in Bezug auf die Zuschauer – besonders die Fans – verweisen mehrere Indikatoren auf eine Affinität zu religiösen Ritualen. So das gemeinsame Absingen von Vereinsliedern oder international bekannten Liedern »You never walk alone« oder »We are the champions«. Darüber hinaus die Devotionalien, welche – wie bei Prozessionen die Messdiener – die Fans in die Farben des Vereins und die Trikots hüllen. Das Skandieren der Spieler, das dem Anrufen der Heiligen in der Messe entspricht. Ferner spielt die religiöse Semantik eine Rolle, wenn vom »heiligen Rasen«, »Fußballgott« oder »Wunder von Bern« die Rede ist. Speziell die Semantik des Wunders – wie Wunderknabe, Wunderläufer – steht offensichtlich für Leistungen, die sich dem wissen-
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schaftlich Erklärbaren entziehen. Sie indiziert gewissermaßen das Paradox der Möglichkeit des Unmöglichen. Wenn Bolz (2009, 24) zur Relation Fußball-Religion schreibt: »[…]Das Fußballfestspiel ersetzt die Religion: es bietet präparierte, konfektionierte Transzendenzerfahrung«, wird deutlich, weshalb wir eingangs von einer einseitigen strukturellen Kopplung von Sport und Religion sprachen. Man könnte auch von Instrumentalisierung der Religion durch den Sport insofern sprechen, als jene offensichtlich umgekehrt wenig eigenständige Leistungen dem Spitzensport anzubieten hat. So scheint sie als moralische Instanz, die z.B. die Doppelmoral von offizieller und Binnenmoral des Spitzensports anprangert, auf wenig Resonanz im Spitzensport zu stoßen. Dass die Religion allerdings in denjenigen Regionen der Weltgesellschaft den Spitzensport noch durch moralisch aufgeladene Restriktionen beeinflussen kann, in denen Politik und Religion nicht hinreichend voneinander strukturell getrennt sind und die Religion den gesellschaftlichen Primat als Teilsystem beansprucht, wird offensichtlich, wenn man die primär okzidentale Perspektive durch eine globale Perspektive ersetzt. Es wird dann ersichtlich, dass bestimmte Interpretationen des Islams dem Spitzensport und seinen Akteuren weitreichende religiös motivierte Vorschriften machen, die dessen Autonomie beschränken. Fazit: Deutlich wird anhand der vielfältigen strukturellen Kopplungen des Sportsystems, dass es sehr wohl in seine Umwelt integriert ist. Je nachdem, um welches Umweltsystem es sich dabei handelt, korrelieren die strukturellen Kopplungen mit unterschiedlich hohen oder niedrigen Niveaus der Integration und damit der Beschränkung der Selektionsfreiheiten des Spitzensports. Seine Autonomie wird gefährdet, wenn die Medialisierung, Kommerzialisierung, Politisierung, Verrechtlichung, Medikalisierung, Sakralisierung Formen der Negativintegration bzw. diabolische Kopplungen verursachen, die den Kern des Spitzensports betreffen: nämlich die Tilgung der Kontingenz des Codes, sprich von Sieg oder Niederlage, durch manipulierte Resultate, sei es mit Hilfe gedopter Körper, gekaufter Siege, politisch, rechtlich sowie religiös legitimierter Einschränkung der teilnehmenden Sportler und Sportlerinnen oder medial einseitiger Berichterstattung bzw. Kritik. Die Autonomie des Spitzensports wird demgegenüber dann bewahrt, wenn die strukturell notwendigen Kopplungen mit den Umweltsystemen eine positive Integration induzieren, die die wechselseitige Steigerung der Funktionserfüllung der jeweiligen Teilsysteme erzeugen sowie die Realisierung des Sieges und/oder der Niederlage der autopoetischen Reproduktion der wettkampforientierten Sportkommunikation der Athleten und Athletinnen überlassen.
3.5.8.2 Strukturelle Kopplung der Sportkommunikation mit dem Körper und Bewusstsein der Sportler Wenn sich die Sportkommunikation wie jede funktionssystemspezifische Kommunikation durch die Dreistelligkeit von Mitteilung, Information und Verstehen reproduziert und darüber hinaus noch die Akzeptanz/Nichtakzeptanz der Kommunikationsofferte beinhaltet, stellen sich die Fragen, wie die Probleme des Verstehens, des Erreichens und des Erfolgs durch die Sportkommunikation gelöst werden. Anders ausgedrückt: wie
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transformiert sie die damit verbundenen Unwahrscheinlichkeiten in Wahrscheinlichkeiten? Um diese Fragen angemessen beantworten zu können, wollen wir uns noch einmal knapp einige unserer bisherigen Argumente thesenartig vergegenwärtigen. Unsere Ausgangsthese war die, dass Wettkampf und Training diejenigen Sozialsysteme sind, die als organisierte Interaktionssysteme den Kern des Sportsystems ausmachen und in ihrer Herstellung und Darstellung kommunikativ aufeinander verweisen. Des Weiteren setzten wir voraus, dass ihre Infra-, Temporal-, Sozial- und Themenstruktur durch die Ausdifferenzierung von Wettkampfstätten, Saisons, Ligen und Sportarten erst möglich wird, ohne mit ihnen zusammenzufallen. Hinzu kam der Sportcode Sieg/Niederlage, dessen Unentscheidbarkeit durch die Spielzüge der Wettkämpfe entschieden wird, die wiederum anhand von programmspezifischen Kriterien die Beobachtung der richtigen und falschen Kondition, Technik, Taktik und Strategie – und damit die Zuordnung von Fehlern und Fehlerfreiheit der gewinn- und verlustbringenden Spielzüge ermöglichen. Klar war auch, dass die Sprache nicht das Kommunikationsmedium ist, welche das Verstehen im Wettkampf und die Vermeidung von Missverständnissen erzeugt, so ist z.B. ein Fehlpass nicht das Produkt eines sprachlichen Missverständnisses. Die kommunikative Erreichbarkeit der Mitspieler im Wettbewerb basiert nicht auf Verbreitungsmedien wie z.B. dem Mikrophon, aber auch nicht notwendigerweise auf Zurufen. Und der kommunikative Erfolg wird nicht durch Geld, Liebe, Wahrheit oder Macht erzielt, verliert man im Wettkampf doch nicht Geld gegen ein eingetauschtes Konsumgut; macht man sich nicht das exklusive Erleben des anderen durch sein vorwegnehmendes Handeln zu eigen; erlebt man nicht theorie- und methodenorientiert gleichsinnig und motiviert man sein Gegenüber nicht zu einem Handeln aufgrund des eigenen Handelns, das er eher vermeiden wollte. Wenngleich der Wettkampf auf den ersten Blick einer Machtkommunikation am nächsten zu kommen scheint. Dagegen spricht jedoch bei näherem Zusehen, dass eine strukturelle Asymmetrie von Vermeidungsalternativen vorab in den Wettkampf nicht eingebaut ist, sondern eher eine symmetrische Ausgangssituation, wenn man so will ein Unentschieden oder ein Patt. Typisch für die Sportkommunikation scheint mithin eher eine Nähe zu solchen Kommunikationsformen zu sein, bei denen – wie in der Kunst, der Medizin, der Mode und Pflege – dem Körper und damit der wechselseitigen Wahrnehmung eine zentrale Funktion für das Verstehen, Erreichen und den kommunikativen Erfolg zukommt. Die damit verknüpften kommunikationstheoretischen Probleme und ihre Unwahrscheinlichkeiten müssen mithin qua Medium des Körpers gelöst werden, wenn man so will nonverbal, was nicht heißt ohne Rückgriff auf das Medium Sinn. Dabei reicht es nicht aus, eine regel- oder normtheoretische Position zu beziehen, da die Wettkampfregeln zwar die zugelassenen Bewegungen des Körpers und Balls vorschreiben und nicht erlaubte Bewegungen durch einen neutralen Dritten zu sanktionieren erlauben (vgl. Baecker 2009, 54.) Jedoch weder angeben, wie fit, groß oder klein die Spieler sein müssen, ob sie den Ball mit dem Absatz oder dem Spann weiterspielen sollen und schon gar nicht, ob das Spiel mit einem Kantersieg oder einem knappen Sieg enden soll und für welche Taktik oder Strategie sich die Trainer und Mannschaft entscheiden dürfen – um nur das Beispiel Fußball anzuführen.
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Will man also das Spezifische der Sportkommunikation erfassen, erhält, wie bereits mehrfach erwähnt, der Körper ohne oder mit Ball eine zentrale Rolle. Medientheoretisch bedeutet dies, dass der Körper sowohl als vornehmlich visuelles Wahrnehmungsmedium der beteiligten Bewusstseinssysteme der Spieler einerseits fungiert als auch als Kommunikationsmedium des Sozialsystems Wettkampf andererseits. Oder anders ausgedrückt, dass der Körper an die Stelle von Sprache oder Schrift tritt, was die strukturelle Kopplung von Bewusstsein und Sportkommunikation betrifft. Einerseits fungiert er als Wahrnehmungsmedium, wenn es um die externe Umweltbeobachtung der Bewusstseinssysteme, z.B. der Mitspieler, geht. Andererseits als Kommunikationsmedium, wenn die Mitteilung, Information und das Verstehen, die Erreichbarkeit und der Erfolg/Misserfolg thematisch sind. Was das Verstehen anbelangt, beobachten die Spieler den Körper eines oder mehrerer Spieler daraufhin, welche Möglichkeiten der Bewegung bestimmter Körperteile diese für eine strikte Kopplung nutzen und ihnen die Form einer Mitteilung geben. D.h. ob ihr Körperverhalten z.B. die Form eines Vorwärts- oder Rückwärtslaufens, eines Sprints oder eines Sprunges annimmt. Optieren die Spieler für eine bestimmte im Unterschied zu anderen Bewegungen, teilt sie den anderen Spielern in ihrer systeminternen Umwelt den Beginn eines Spielzuges mit. Die Information bezieht sich dabei wiederum auf eine Selektion, nämlich auf eine Veränderung ihres Körpers an einer Raumstelle des Spielfeldes, z.B. Lauf zur Außenlinie und nicht in die Spielmitte, zurück in die eigene Spielhälfte und nicht nach vorn. Die Differenz von Körperbewegung als Mitteilung und Veränderung des Körpers im Raum als Information, kann nun von den Mitspielern und gegnerischen Spielern verstanden oder missverstanden werden. Ob dies der Fall ist oder nicht, lässt sich bei Ballsportarten anhand des Verlustes oder Behaltens des Balles ablesen. Hinzu kommt der Ball als Fokus der Kommunikation. Die Bewegung, welche der ballführende Spieler als Mitteilung selegiert, z.B. Ausholen des Fußes anstelle des Hochspringens zum Köpfen, und die Information, welche er damit über sich und den Ball an einer bestimmten Raumstelle gibt, z.B. Kurzpass anstelle eines langen Passes, wird als kommunikatives Verstehen/Missverstehen des Körperverhaltens beobachtet, je nachdem, welche Anschlusskommunikation seine Ballberührung ermöglicht. Erreicht der Ball einen Spieler der eigenen Mannschaft wird die Ballberührung als richtig im Sinne eines genauen Zuspiels verstanden. Erreicht sie ihn nicht, wird sie als Missverständnis im Sinne eines Fehlpasses beobachtet. Da die Sportkommunikation jedoch wie jede Kommunikation die Ja/Nein-Bifurkation enthält, also auch dann weiter operiert, wenn ein Missverständnis zustande kommt, geht mit dem Wechsel des Ballbesitzes die Initiative der Kommunikation auf den ballführenden Spieler der gegnerischen Mannschaft über. Die Beobachtung der Differenz von Mitteilung und Information, welche durch Körperverhalten und dessen taktilen Bezug zum Ball erzeugt wird, führt mithin auf jeden Fall zur Anschlusskommunikation, unabhängig davon, ob sie als Verstehen oder Missverstehen beobachtet wird. Hierbei gewinnt das Problem der kommunikativen Erreichbarkeit deshalb an Relevanz, als es im Ballsport nicht durch die Lautstärke der Stimme oder ihre technischen Verstärker, sondern durch Kontakte des Körpers mit dem Ball, z.B. den Wurf des Balles mit der Hand beim Einwurf oder den Stoß des Balles mit dem Fuß, gelöst werden muss,
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die sowohl der ausführende Spieler selbst als auch sein Adressat als gelungen oder misslungen verstehen bzw. beobachten kann. Der kommunikative Erfolg bzw. die Akzeptanz der Sportkommunikation resultiert demzufolge daraus, dass der Ball durch die Koordination der ihn werfenden, tretenden oder köpfenden Spieler die gegnerische Torlinie, ihren Korb oder das Feld überschreitet oder erreicht, ohne dass dies ein Spieler der gegnerischen Mannschaft verhindern kann. Die Sportkommunikation reproduziert sich somit im Rahmen eines Wettkampfes dadurch, dass sie als Grundoperation eines hochgradig temporalisierten Sozialsystems ein rekursives Netzwerk von körpergebundenen Spielzügen generiert, die im Moment ihrer Entstehung schon wieder verfallen. Die Sprache oder Schrift wären viel zu langsam, müssten sie die Kommunikation dominieren. An ihre Stelle treten einerseits die wechselseitigen, vornehmlich visuellen Wahrnehmungen der beteiligten Spieler und andererseits ihre Fokussierung bzw. Aufmerksamkeit für die mittels der Körper- und Ballbewegungen vollzogenen kommunikativen Operationen. Wahrnehmung und Kommunikation werden somit im Sportsystem dadurch gekoppelt, dass es nicht primär um Kommunikation über Sport, sondern durch Sport geht, um an Luhmanns (1995i, 13ff.) Bemerkungen zur Kunst anzuschließen. Erstere findet analog zur Kunstkritik oder Kunsttheorie in den Sportmedien als kritische Kommentierung oder Sporttheorie in der Sportwissenschaft statt, letztere nur im Wettkampf. Dabei übernimmt in Mannschaftsballsportarten vor allem der Ball die Funktion, die anderen Objekten und Materialen des Alltages in der Kunst zukommt, nämlich der Bearbeitung durch die Techniken, Taktiken und Strategien des Körpers. Im Unterschied zur Kunst verweilen jedoch weder die Spieler noch der Ball länger an einer Raumstelle. Vielmehr verändern sie diese ständig während des Wettkampfes.
3.5.9
Zur Aus- und Binnendifferenzierung von sportspezifischen Rollen
3.5.9.1
Vorbemerkungen zur Inklusion, Exklusion und Rollen
Die erste These zur Ausdifferenzierung des Sportsystems auf der Rollenebene ist die, dass die primäre Leistungsrolle hauptsächlich durch die Spitzensportler repräsentiert wird, die sekundäre Leistungsrolle durch die Amateure, die sich ehrenamtlich engagieren, und die komplementäre Laienrolle durch die Zuschauer vor Ort und das massenmediale Publikum. Hinsichtlich der Inklusion und Exklusion im Kontext des Sportsystems impliziert dies, dass sich die primäre Leistungsrolle dem Hochleistungssport, wenn man so will, dem Beschäftigungssystem des Sportsystems zuordnen lässt, da in seinem Kontext die Professionalisierung des Sportes stattfindet (vgl. Cachay/Thiel 2000, 170ff.). Demgegenüber lässt sich die sekundäre Leistungsrolle dem Breitensport bzw. Amateursport zurechnen, wobei die Inklusionsanforderungen sowohl in funktional spezifischer als auch zeitlicher Hinsicht geringere sind als im Hochleistungssport und auch das Entgelt – je nach Sportart – eher einer Aufwandsentschädigung entspricht. Dabei kann man zwischen einem konventionellen und unkonventionellen sportlichen Engagement unterscheiden. Gilt jenes für die an eine Vereinsmitgliedschaft gebundene Ausübung des Sports, trifft die unkonventionelle Sporttätigkeit eher dann zu, wenn man z.B. oh-
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ne Vereinszugehörigkeit an Stadtmarathonläufen teilnimmt, joggt oder regelmäßig ins Fitness-Studio geht (vgl. Schimank 1988, 209). Schließlich repräsentieren die Zuschauer und das massenmediale Publikum die Komplementärrollen zum Leistungs- und Amateursportler. Die Zuschauerzahl des Leistungssports übertrifft die des Amateursports bei weitem, der zum Teil nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Inkludiert in das Sportsystem sind die Zuschauer und das Publikum – wie wir bereits dargestellt haben – vor allem durch das unmittelbare oder massenmediale individuelle bzw. Gemeinschaftserleben der Präsentation körperlicher Leistungen durch die Spitzensportler. Im Gegensatz zu Cachay/Thiel (2000,175ff.) gehen wir von einer Komplementarität von primärer und sekundärer Leistungsrolle einerseits und Laienrolle andererseits aus und machen die Differenz der ersten beiden nicht an der des Spitzensportlers und Trainers bzw. Sportbetreuers fest wie jene. Die Ausdifferenzierung des Sportsystems setzt somit an einer doppelten Inklusion der Rollen des professionellen bzw. Amateursportlers zum einen und den komplementären Laienrollen der Sportzuschauer und des Sportpublikums zum anderen an. Dabei wird zwischen diesen und jenen sowohl eine Asymmetrie der Erbringung körperlicher Leistungen als auch eine Unmöglichkeit des Rollentausches vorausgesetzt. Den Sportunterricht im Erziehungssystem kann man in Anlehnung an das politische System mit der Zwangsinklusion des Verwaltungsbürgers vergleichen und die Wählerrolle mit der Entscheidung bzw. Sympathie und Antipathie des Zuschauers und Publikums für oder gegen einen Sportler oder eine Mannschaft, die in der Rolle des Fans am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Offen bleiben bei dieser systemtheoretischen Verortung von Inklusion/Exklusion die Positionen des Trainers (Übungsleiters, Sportlehrers), der Trainerassistenten, der Scouts, des Sportmediziners und der Physiotherapeuten – also des »Teams hinter dem Team«, wie es seit neuestem heißt. Betrachtet man einen Teil des Laiensystems bzw. Breitensportes des Sportsystems, z.B. Freizeitkicker, Jogger, Radfahrer, Straßensportler, so fällt auf, dass diese sowohl auf einen Trainer als auch Zuschauer verzichten ebenso wie auf das Team hinter dem Team. Hier finden sich gewisse Parallelen zu Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeinitiativen, die sich sowohl gegen die Entmündigung durch Experten als auch existierende Organisationen wenden, die sie als dysfunktional und reformbedürftig bewerten. In der Politik könnte man dazu Bürgerinitiativen und Protestbewegungen zählen. Was die Position des Trainers für die Ausdifferenzierung des Sportsystems anbelangt, könnte man geneigt sein, ihn in Anlehnung an das Erziehungs- bzw. Bildungssystem als einen lizensierten bzw. diplomierten Sportpädagogen zu betrachten, dessen »Schüler« bzw. Trainees die Sportler sind. Die für das Bildungs – bzw. Erziehungssystem typische Rollenkomplementarität von Lehrer-Schüler/Student/Auszubildender würde sich dann im Sportsystem überall dort wiederfinden, wo Sport wettkampfmäßig betrieben wird und einer ständigen Übung bedarf. Die Klassenarbeiten und Prüfungen wären die Sondersysteme, welche dem Wettkampf entsprechen, und der Unterricht die Vorbereitung im Sinne eines Trainings. Der pädagogische Code vermittelbar/nicht vermittelbar dominierte im Training, im Wettkampf hingegen der Sportcode
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Sieg/Niederlage, vergleichbar mit dem Selektionscode besser/schlechter im Erziehungssystem. Eine zweite These würde in der Rollenkomplementarität von Trainer und Sportler oder Sportteam die für die rollenspezifische Ausdifferenzierung des Sportsystems zentrale Rollendifferenzierung sehen. Ihre Problematik bestünde allerdings darin, den pädagogischen Code und damit das Erziehungssystem ins Zentrum des Sportsystems zu rücken und den Sportcode Sieg/Niederlage eher als nachrangig zu betrachten. Zwar kommt ein Großteil der Trainer im Spitzensport von der Hochschule – man denke nur an den früheren Rudertrainer Prof. Adam oder an die Kölner Sporthochschule, die für die Ausbildung der Fußballtrainer zuständig ist –, doch wäre es offensichtlich zu kurz gegriffen, würde man diese Form der Rollenkomplementarität zur entscheidenden Voraussetzung der rollenspezifischen Ausdifferenzierung des Sportsystems machen. Und zwar deshalb, weil ohne die Komplementarität der Zuschauer oder Publikumsrollen die umfassende Inklusion der Gesamtbevölkerung, die für die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems notwendig ist, nicht denkbar wäre (vgl. dazu Werron 2010, 72ff.). Zu einer dritten These bezüglich der rollenspezifischen Ausdifferenzierung des Sportsystems gelangt man beim Vergleich zum Kunstsystem oder zur von Goffman (1983/1959) »Wir alle spielen Theater« herausgearbeiteten dramaturgischen Rollentheorie, die u.a. mit der Differenz von Back- und Frontstage arbeitet. Der Trainer wäre dann mit dem Regisseur eines Theaterstücks gleichzusetzen und die Sportler mit den Schauspielern. Die Theaterproben in der Backstage mit dem Ensemble entsprächen dem Training mit der Mannschaft und die Aufführung auf der Bühne vor Publikum dem Wettkampf vor Zuschauern und Publikum. Die Semantik der Theatersaison der der Sportsaison und die Sequenz der gezeigten Stücke der Sequenz der Wettkämpfe. Die einzelnen Akte der Stücke wären mit den Intervallen der Sportereignisse, z.B. den Halbzeiten oder Dritteln bzw. Vierteln diverser Mannschaftsballsportarten, identisch. Der Unterschied zum Sportlehrer im Erziehungs- und Hochschulsystem und seinen Schülern bzw. Studenten ist dabei vor allem der, dass – ähnlich wie beim Theaterregisseur – der Trainer und die Mannschaft unter einem stärkeren Erfolgsdruck als der in der Regel immer noch verbeamtete Sportlehrer steht. So zählen beim Regisseur und seinem Ensemble die Besucherzahlen und beim Trainer und seiner Mannschaft die Siege und Zuschauerzahlen, bei deren Ausbleiben die Kündigung droht. Hinzu kommt, dass der Trainer im Sport, besonders im Hochleistungssport, ähnlich wie der Regisseur, ein starkes Mitspracherecht hat, welche der Sportler eingekauft, gefördert oder eingestellt werden, besonders, wenn er die Mannschaft oder Sportler länger trainiert, was für den Sportlehrer normalerweise nur in Sportinternaten, jedoch nicht an normalen Gymnasien gilt. Anders sieht dies im Hochschulsystem aus, in dem die Hochschullehrer durch Aufnahmeprüfungen und entsprechende Förderkurse die Talente aussieben können. Dies gilt vor allem für amerikanische Colleges, die auf die Rekrutierung von Sportlern besonderen Wert legen.
3.5.9.2 Leistungssportler Was die Differenz von Inklusion/Exklusion und den Aufbau einer Sportkarriere im Sportsystem betrifft, gilt zunächst generell, dass der Amateur- oder Breitensportler,
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ähnlich wie der Amateurwissenschaftler, zunehmend aus dem Hochleistungssport exkludiert wird, da er die Leistungsimperative nicht mehr hinreichend erfüllen kann. Zwar stellt der Amateur- bzw. Breitensportsport nach wie vor ein Rekrutierungsreservoir für den Hochleistungssport dar (vgl. Bette 2005, 219; Schimank 1988, 224–225 zu weiteren Abhängigkeiten des Spitzensports vom Breitensport in Form eines Organisations-, Finanzierungs- und Legitimationskontinuums), wird von ihm jedoch zunehmend an die Peripherie des Sportsystems gedrängt. So schreibt Schimank (1988, 227): »Der Leistungssport wird, trotz seiner dargestellten Abhängigkeiten vom Breitensport, stets dazu tendieren, sich, ähnlich wie die Oberschicht in einer stratifizierten Gesellschaft als Teil, der das Ganze repräsentiert, aufzufassen.« Fragt man sich genauer, was die Differenz von Inklusion/Exklusion im Sportsystem im Hinblick auf eine Sportkarriere im Spitzensport und im Breitensport ausmacht, so lässt sie sich vor allem daran ablesen, dass die Karriere im Spitzensport sowohl was das Training als auch den Wettkampf anbelangt zunehmend zeitlich die Rollenkombination der betroffenen Personen dominiert. Dabei gilt zusätzlich, besonders für die Populärsportarten – Fußball, Basketball, Formel 1, Tennis, Eishockey –, dass sich die Person, die sich für eine Profikarriere entschieden hat, sukzessive durch monetäre Gegenleistungen von anderen Leistungsrollen, Beruf, Studium oder Schule entkoppelt (vgl. Schimank 1988, 212ff.). Hinzu kommt, dass die aktive Karriere im Hochleistungssport im Gegensatz zu Karrieren in vielen anderen Funktionssystemen sehr früh im Lebenslauf begonnen werden muss, wenn Aussichten auf eine erfolgreiche Karriere bestehen sollen, und zudem in den meisten Fällen bereits ab der 4. Lebensdekade endet (siehe dazu Schimank 1988, 212). Oftmals bereits in der Kindheit, auf jeden Fall aber in der Jugend, findet der Einstieg in eine potenzielle Profikarriere statt. Dies führt dazu, dass eine entsprechende Karriere besonders von der Zustimmung und Begleitung der Eltern abhängig ist, die ihr Plazet für einen eventuellen Umzug, entsprechende Verträge und mögliche Vernachlässigungen einer Schul- und Bildungskarriere geben müssen. Dies birgt ein großes Risiko in sich, weil ein Erfolg nicht garantiert ist und zudem das Erfolgsmedium Körper durch Verletzungen, Krankheiten, aber auch Altern schnell die dunkle oder diabolische Seite der Sportkarriere in den Vordergrund rücken lässt (vgl. Bette 2005, 167). Als Folge der verschärften Risiken einer Sportkarriere ist zu beobachten, dass sich besonders die Spitzensportler mit Beratern umgeben, die ihre Vertragsangelegenheiten, aber auch ihre monetären Angelegenheiten z.B. mit Sponsoren und Investoren im Falle langfristiger Geldanlagen lösen sollen. Damit die Beratung erfolgreich verläuft, ist ein Vertrauensverhältnis zum persönlichen Berater konstitutiv, was wiederum von seiner adäquaten Auswahl abhängt. Es ist von daher nicht erstaunlich, dass oft Mitglieder der Familie, vor allem die Väter, die Funktion des Beraters übernehmen. Gilt doch für sie, dass man ihnen am ehesten vertrauen kann. Dass auch hier Folgeprobleme auftreten können, lässt sich u.a. im Tennis beobachten, wenn man an die familieninternen Konflikte im Falle Graf oder Seles zurückdenkt. Es überrascht deshalb auch nicht, dass es oft in einer späteren Karrierephase zu Entkopplungen oder Konflikten mit den entsprechenden Elternteilen kommt. Eine ähnliche Ambivalenz bzw. entsprechende Konflikte lassen sich im Verhältnis der Sportler zum Trainer beobachten. So entsteht aufgrund der sehr intensiven Trai-
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nings- und Wettkampfzeiten, die eine enge Beziehung zwischen Trainer und Sportler generieren, vor allem im Individualsport zwischen Trainer und Sportlerin oder Trainerin und Sportler zusätzlich zur Trainingsgemeinschaft des Öfteren auch eine Lebensgemeinschaft. Man denke nur an die Rekordruderin Fischer, an die Hockeyspielerin Rinne oder den Leichtathleten Baumann. Dass dies – wie in anderen Familienunternehmen, inklusive dem unter d) erwähnten von Vater oder Mutter als Berater oder Beraterin ihres Profikindes – neben bestimmten Vorteilen auch zu Nachteilen führen kann, liegt auf der Hand. Ist doch nicht immer klar, wie die Rollentrennung und -kombination von Beruf und Paarbeziehung zu handhaben ist. So schreibt Simon (2012b, 24–25): »Der Blick auf Unternehmen und Familie als Kommunikationssysteme mit unterschiedlichen Spielregeln kann erklären, weshalb viele Menschen, die es mit Familienunternehmen zu tun haben, sich verwirrt fühlen. Denn nur zu oft sind ja die Personen, die in diesen beiden Systemen agieren, dieselben. Man sieht einem Menschen nicht an, ob er gerade als Vater oder als Vorgesetzter, als Mutter oder Chefin, als Bruder oder Mitarbeiter, als Schwester oder Teammitglied handelt, und der oder die Betreffende weiß es selbst meist auch nicht. Er/sie hat zwei Rollen inne, an die unterschiedliche Erwartungen gerichtet sind.« Hinzu kommt, dass die Entscheidungen des Trainers die Karriere des Sportlers sowohl positiv und negativ beeinflussen können. So kann besonders in Mannschaftssportarten eine Degradierung auf die Ersatzbank den Marktwert und die Reputation des Spitzensportlers ebenso sinken lassen wie die Präferenz, als Stammspieler behandelt zu werden, das Gegenteil bewirken kann. Des Weiteren stellt eine Sportkarriere besonders für gesellschaftlich benachteiligte Personengruppen die Aussicht auf einen gesellschaftlichen Aufstieg dar, wie sie speziell durch massenmediale Vorbilder von Spitzensportlern und globalen Stars vermittelt wird. Man denke nur an Beckham, Zidane, Maradona im Fußball oder Stars wie Michael Jordan im Basketball. Für einen zunehmenden Teil von Sportkarrieren lässt sich außerdem eine über die aktive Sportkarriere hinausreichende Karriere im Sportsystem als Trainer, Manager, Funktionär oder Sportkommentator beobachten. Der Hochleistungssport tendiert mithin zu einer stärkeren Selbstselektion besonders in Bezug auf die o.g. Rollen. Seiteneinsteiger ohne vorhergehende Karriere als aktive Sportler beschränken sich vor allem auf das Management der Fachverbände oder Profivereine. Die Rollendifferenzierung von Leistungs- und Amateursport lässt auch als die der Übernahme einer primären Leistungsrolle im ersten Fall und sekundärer Leistungsrolle im zweiten Fall bezeichnen (vgl. Stichweh 1988, 281ff.). Zunehmend scheint zu einer erfolgreichen Sportkarriere auch die Selbstdarstellung in den Medien und die Selbstbeobachtung durch die Beobachtung der Medien zu gehören. Wer mit ihnen nicht adäquat umgehen kann, sich z.B. nicht hinreichend verbal auszudrücken versteht oder die Kooperation mit ihnen schwierig gestaltet, muss bei gleicher sportlicher Leistung damit rechnen, im Vergleich mit anderen Sportlern den Kürzeren zu ziehen. So unterschied sich z.B. das Medienverhalten von Gerd Müller gravierend von dem von Franz Beckenbauer, dessen offenere Art bei Interviews zu folgen-
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reichen Unterschieden der Medienpräsenz in Sportsendungen wie der Sportschau der ARD oder dem Aktuellen Sportstudie des ZDF führte. Gleiches gilt heute z.B. für die unterschiedliche mediale Resonanz von Thomas Müller und Robert Lewandowski. Zu diesem Bild gehört auch, dass verstärkt Sportlerinnen aus Randsportarten vor großen Events Aufmerksamkeit zu erzielen versuchen, indem sie z.B. Nacktfotos von sich ablichten lassen (vgl. vereinsleben.de 2021). Da ihr Körper ihre wichtigste Ressource ist, werben sie mit ihm in einem Kontext, der sie nicht nur als Sportlerin mit einem athletischen Körper, sondern auch mit einem sexuell attraktiven Körper präsentiert. Der Sportkörper wird somit zugleich auch zu einem Werbekörper. Dass der damit verknüpfte monetäre Vorteil nicht nur an den sportlichen Erfolg oder die sportliche Popularität gebunden sein muss, kann man u.a. an der russischen Tennisspielerin Kurnikowa ablesen. Wikipedia (2022: Anna Sergejewna Kurnikowa) schreibt dazu: »Neben ihren sportlichen Leistungen verdankt Kurnikowa ihre große Bekanntheit ihrem Aussehen; sie wurde oft als Sexsymbol der jüngeren Zeit bezeichnet. Ihr Name gehörte eine Zeit lang zu den am häufigsten eingegebenen Suchbegriffen bei Internet-Suchmaschinen.« Wie ambivalent die mediale Präsenz im Rahmen einer Sportkarriere ist, lässt sich auch daran ablesen, dass ihr plötzliches Ende bei einigen Sportlern massive Selbstachtungsprobleme auslöst. Durch die damit einhergehende Exklusion aus der Prominenzklasse (Luhmann 1985, 145) geraten manche von ihnen in ein tiefes Loch, das nicht selten durch Alkohol, Drogen, begleitet von Depressionen, und einem sozialen Abstieg gekennzeichnet ist. Beispiele sind hier u.a. Maradona, Deisler, Nykänen und Tyson. Des Öfteren produzieren Spitzenkarrieren auch einen Lifestyle, der gerade junge Sportler überfordert, gehören sie doch mit ihrem Einkommen oft zu den bestverdienenden Personengruppen der Bevölkerung. Zum einen erzeugt dies beim Publikum und in den Medien, die diese Einkommen veröffentlichen, überzogene Erwartungen hinsichtlich ihrer Leistung. Im Falle der Enttäuschung werden sie dann nicht selten harsch kritisiert und bisweilen von ihren Fans auch als »Scheißmillionäre« an den Pranger gestellt. Zum anderen kommt es wiederholt zur Trennung vom Ehe- oder Lebenspartner, sei es, dass dieser nicht mehr zum neuen Lifestyle passt, sei es, dass der Spitzensportler sich den Verführungen durch anderer Partnerinnen oder Partner nicht entziehen kann. So kann man vermuten, dass die Scheidungsquote von Spitzensportlern der von Inhabern anderer Spitzenpositionen der Funktionssysteme, z.B. der Politiker, Schauspieler oder Manager, ähnelt. Exemplarisch seien hier nur Boris Becker, Rudi Völler, Stefan Effenberg oder Lothar Matthäus genannt. Paare, die länger zusammenbleiben, wie die Beckhams, die Schumachers oder Graf/Agassi werden auf dem Hintergrund dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit bereits zu Exoten. Gleiches gilt im Übrigen für die Trainer. Erinnert sei hier nur an die ehemaligen Trainer Vogts, Erikson oder Beckenbauer oder die heutigen Trainer Klopp, Nagelsmann und Tuchel. Der Hochleistungssport vollzieht bestimmte Elemente des gesellschaftlichen Wertewandels, wie die forcierte Labilität und Pluralität der Intimsysteme (vgl. Peuckert 2012), mit und eignet sich besonders für den Teil der Massenmedien, der gemeinhin dem Boulevard zugerechnet wird, für eine dramaturgische Inszenierung der Karriere der Spitzensportler jenseits des Sportsystems. Dass dies wiederum auf die sportliche Leistung
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zurückschlagen kann, lässt sich anhand der Affären von Spitzensportlern beobachten, die mit vorübergehenden Leistungseinbrüchen verknüpft waren und sind.
3.5.9.3 Trainer Trainern kommt im Sportsystem insofern eine besondere Bedeutung zu, als sie Sonderbeobachter (Schimank 2008 190–91 spricht von der »aus der Sportlerrolle ausdifferenzierte (n) Reflexionsinstanz.«) des Trainings und Wettkampfes sind, denen zugleich der Erfolg oder Misserfolg ihres Teams oder ihrer Athleten zugerechnet wird. So zitiert Simon (2009c, 96) den ehemaligen Trainer des SC Freiburg Volker Finke wie folgt in Bezug auf den Erfolg der spanischen Nationalelf bei der EM 2008: »Den Unterschied hat der Trainer gemacht.« Indem sie die Verantwortung für den Erfolg oder Misserfolg ihres Teams oder Athleten von der Öffentlichkeit zugeschrieben bekommen, wird von ihnen erwartet, dass sie jene in geeigneter Form auf die Saison und Saisonhöhepunkte vorbereiten. Dabei macht es einen bedeutsamen Unterschied aus, ob es sich um Mannschaften oder Einzelsportler handelt, die von ihnen gecoacht werden. Im Falle von Mannschaften oder Teams ist es für den Verband oder Verein in aller Regel einfacher, den Trainer zu entlassen als das ganze Team. Im Falle des Misserfolges eines Einzelsportlers kann sich ein Verein oder Verband auch von diesem trennen oder ihn in der Förderung abstufen, besonders dann, wenn andere Individualsportler des gleichen Trainers erfolgreich waren. Die Trainerkarriere ist mithin besonders in den Profivereinen eine noch riskantere, was ihre Stetigkeit betrifft. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass die Sportöffentlichkeit eine überdurchschnittlich lange Karriere eines Trainers bei einem Bundesligaverein besonders hervorhebt. Man denke nur an Christian Streich, den Trainer vom SC Freiburg. Gleichwohl gibt es für einen kleinen Kreis von Trainern der 1. und 2. Bundesliga in den Ballsportarten immer wieder Alternativen, wenn sie von einem Profiverein entlassen wurden. Misserfolg muss folglich nicht zwangsläufig mit einer Abstiegskarriere oder gar der Exklusion aus dem Spitzensport einhergehen. Zumal klar ist, dass aufgrund des Sportcodes Niederlagen ebenso zum Wettkampfsport gehören wie Siege. Das Sportsystem nähert sich auch hier den Codes anderer Funktionssysteme an, indem es Niederlagen nicht moralisiert und denjenigen verachtet, der sie mitzuverantworten hat. Allerdings ist zu beobachten, dass sich die Trainer wie nur wenige andere öffentliche Figuren, z.B. Berufspolitiker, mit einer massiven Kritik der Medien und Zuschauer auseinandersetzen müssen, inklusive lautstarker Forderungen nach ihrem Rauswurf (vgl. Simon 2009c, 97). Wie zur Karriere eines erfolgreichen Spitzensportlers, gehört es auch zu der eines erfolgreichen Spitzentrainers, dass er stark von anderen Vereinen oder Verbänden umworben wird. Ihm wird also nicht nur der Misserfolg, sondern auch der Erfolg im Sportsystem zugerechnet. Die Exit-Option kann also sowohl ein Rauswurf sein als auch eine Selbstkündigung wie in jeder Organisation. Vereine und Verbände versuchen deshalb stark umworbene Trainer oft durch langjährige und gut dotierte Verträge an sich zu binden, um ihren Exit zu verhindern. Gleichwohl gilt auch hier, dass im Misserfolgsfall die Reputation schnell aufgebraucht ist und es zur vorzeitigen Lösung der Verträge kommt. So lässt sich immer wieder das gleiche Ritual beobachten, dass der neue Trainer mit viel Vorschusslorbeeren
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antritt, sich im Fall einer Nichterfüllung der Erwartungen das Verhältnis von Vorstand und Trainer schnell abkühlt, bis schließlich am Ende die gemeinsame Trennung steht. Die im Übrigen nicht ausschließt, dass man einige Jahre später, wenn sich das Personal im Vorstand verändert hat, wieder den gleichen Trainer einstellt. Da der Trainer die Funktion eines Sonderbeobachters hat, impliziert dies, dass es für ihn nicht notwendigerweise darauf ankommt, körperlich fit zu sein oder den Sportlern etwas vormachen zu können. Stattdessen gilt für ihn, dass er vor allem die Fehler beobachtet, die seine Schützlinge im Training und beim Wettkampf machen, und diese mittels Interventionen und wiederholten Übungen unterschiedlichster Art abzustellen versucht. Besonders in Mannschaftsballsportarten muss er zudem sein Team auf ein bestimmtes System einstellen und zugleich auch durch Beobachtung der gegnerischen Mannschaften um deren Stärken und Schwächen wissen. Dafür trägt er die Letztverantwortung als Cheftrainer – trotz eines Teams hinter dem Team, zu dem auch Trainerassistenten und Scouts gehören–, ebenso wie bei Entscheidungen in Bezug auf die Aufstellung und Nichtaufstellung der Spieler (vgl. Simon 2009c, 97). Eine Spezifizität des Hochleistungssportes scheint es im Vergleich mit anderen Funktionssystemen zu sein, dass zumindest für eine bestimmte Zeit Sportler angestellt werden, die nur trainieren, nicht jedoch für den Ernstfall bereitstehen müssen. Der Trainer beeinflusst die Sportlerkarriere insofern zentral, indem er über die Nominierung oder Nichtnominierung des Spitzensportlers bei Wettkämpfen entscheidet (vgl. dazu Simon 2009d, 97). Dass der Trainer einen großen Einfluss auf die Leistung und Karriere des Spitzensportlers hat, sieht man auch daran, dass Sportler, die von Journalisten interviewt werden, oft auf den Trainer verweisen, z.B. bei der Frage nach einer späten Einwechslung oder ihrer Nichtnominierung. Die Kooperation von Trainer und Team ist von daher immer auch eine konfliktbehaftete, da nicht alle Spieler spielen können, was die nicht nominierten Spieler dann oftmals zur direkten oder indirekten Kritik am Trainer verleitet (vgl. Cachay/Thiel 2000, 228ff.; Simon 2009c, 98–99). Eine wichtige zusätzliche Aufgabe des Trainers ist es mithin, die notwendig anfallenden Enttäuschungen nichtnominierter Spieler so aufzufangen, dass er nicht seine Autorität verliert und damit seinen Trainerposten gefährdet. Wie die Bezeichnung Trainer bereits andeutet, ist seine zentrale Aufgabe die Vorbereitung auf den Wettkampf durch Training. Dabei fällt auf, dass dieses weitaus mehr Zeit in Anspruch nimmt als der eigentliche Wettkampf. Die Relation von Herstellung und Darstellung der sportlichen Leistung ähnelt in Bezug auf diese Asymmetrie einigen anderen Funktionssystemen, z.B. dem Kunstsystem im Hinblick auf die Vorbereitung und Proben für die Aufführung oder dem Wissenschaftssystem hinsichtlich der Publikationen, in die oft jahrelang Zeit investiert wird. Umgekehrt gilt jedoch auch, dass eine hervorragende Leistung auf der Bühne des Sportes bzw. in den Sportarenen die vielen Trainingsstunden vergessen macht. Der Vorteil des Trainings für den Trainer besteht darin, dass er in ihm sein Team oder den Individualsportler direkt und unmittelbar bei beobachteten Fehlern korrigieren kann. Zudem kann er an den Trainingseinheiten unmittelbar teilnehmen, was ihm – mit Ausnahme eines Spielertrainers – im Wettkampf nicht gestattet ist. Die Rollenkombination von Spieler und Trainer ist im Übrigen ein Indikator dafür, ob eine Sportdisziplin professionell betrieben wird oder nicht. Man geht wohl nicht fehl,
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anzunehmen, dass in keiner der Ligen des Hochleistungssportes Spielertrainer operieren. Offensichtlich ist diese Rollenkombination in der Karriere nur sequenziell möglich, d.h. durch die lebensphasenspezifischen Trennung beider Rollen, nicht jedoch gleichzeitig. Die Durchführung der sportlichen Leistung und ihre gleichzeitige Selbstbeobachtung, die nicht nur die Kritik der Mitspieler, sondern auch die Selbstkritik beinhaltet, ist wohl zu kompliziert und kritikanfällig, als dass sie noch von ein und derselben Person realisiert und erwartet werden könnte. Dort, wo sie noch gehandhabt wird, handelt es sich typischerweise um ehemalige Profis, die Amateurmannschaften trainieren und dort gleichzeitig auch mitspielen. Sie zehren offensichtlich noch von ihrer Reputation und sind aufgrund ihrer sportlichen Überlegenheit gegenüber Kritik erhaben. Gerade, weil sie sich selbst aufstellen und kritisieren müssen, scheint jedoch dieser Interrollenkonflikt für Profivereine zu riskant, als dass sie ihn auf sich nehmen würden. Hinzu kommt, dass die Trainer eine entsprechende Lizenz vorweisen müssen, die typischerweise von Profispielern mit Trainerambitionen erst am Ende ihrer Karriere erworben wird.
3.5.10 Sinndimensionen Geht man davon aus, dass Sinn das Medium ist, das – sei es als Kommunikation, sei es als Bewusstsein – psychische bzw. soziale Systeme konstituiert (vgl. Luhmann 1984, 92ff.), dann lassen sich für das Sportsystem die Zeit-, Sozial-, Sach- und Raumdimension abstrakt unterscheiden.
Zeitdimension Zunächst einmal handelt es sich beim Sportsystem um ein vergleichsweise spätes modernes Funktionssystem (Schimank 1988, 194; Werron 2010, 247ff.). Man kann es deshalb auch in evolutionärer Hinsicht als sekundäres Funktionssystem betrachten. Dass dies der Fall ist, wird u.a. daran ersichtlich, dass es keiner der Klassiker der Soziologie berücksichtigt. Möglich wird seine Ausdifferenzierung offensichtlich erst dann, wenn die Gesellschaftssemantik mit Freizeit (Opaschowski, 2008), Erlebnis (Schulze 1993) oder Wohlfahrt (Kneer 2001) auf Strukturen der Gesellschaft abstellt, welche dem Sportsystem genügend Eigenzeit sowohl für eine professionelle Sportkarriere als auch ein entsprechendes Potenzial an Zuschauern und massenmedialem Publikum zur Verfügung stellen. Seine Temporalstruktur gewinnt das Sportsystem vor allem dadurch, dass es durch Aus- und Binnendifferenzierung von Saisonzeiten eine Eigenzeit erzeugt, die sich durch eine Sequenz von Sportereignissen bestimmen lässt, welche wir als am Wettkampf orientierte Interaktionssysteme bezeichneten. Der Anfang und das Ende der Saison geben den zeitlichen Rahmen für die unterschiedlichen Sportarten vor. Dabei löst sich die Saison des Sportsystems zunehmend von den Jahreszeiten, indem seine dominanten Sportdisziplinen nahezu ganzjährig global betrieben werden. Die Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden im Sportsystem mit einem Systemgedächtnis gekoppelt, das Erinnern und Vergessen in einer Form kombiniert, bei dem das Vergessen insofern dominiert, als vergangene Erfolge für die Zukunft in der Gegenwart nur bedingt anschlussfähig sind. Zwar werden bestimmte herausragende Erfolge bzw. Leistungen der Vergangenheit im System memoriert und archi-
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viert, z.B. die globalen, kontinentalen und nationalen Rekorde (Schimank 1988, 186–187; Stichweh 1990, 384). Für die neue Saison zählen sie jedoch nur als Vergleichsmaßstab, der erst wieder durch entsprechende Leistungen annähernd erreicht werden muss. Das Sportsystem ist folglich ein schnelllebiges und hochmodernes System, indem es den Kredit, den man sich durch vergangene Leistungen erworben hat, schnell verbraucht. Aufund Abstieg gehören dementsprechend konstitutiv zum Sportsystem dazu. Typisch für es ist zudem seine temporale Komplexität durch Aus- und Binnendifferenzierung vielfältiger Sportarten, die teilweise gleichzeitig, teilweise zu verschiedenen Zeiten stattfinden. Dies impliziert, dass nicht jedes Sportereignis vom Publikum wahrgenommen werden kann, da dies seine Informationsverarbeitung aufgrund der Knappheit der Aufmerksamkeit überstrapazieren würde. Es ist deshalb plausibel, dass bestimmte Populärsportarten die Aufmerksamkeit des Publikums aufgrund ihrer größeren Resonanz eher erwecken können und sichtbarer sind als andere, die deshalb auch Randsportarten genannt werden. Die Sportereignisse sind zeitlimitierte Interaktionssysteme und benutzen die Zeit in vielfältiger Form. In vielen Sportdisziplinen fungiert sie als dominantes Kriterium der Leistungsbewertung. Die Differenz von schneller/langsamer wird zum Maßstab von Erfolg/ Misserfolg bzw. Sieg/Niederlage. Sie wird gradualisiert und der schnellste Sportler bzw. die schnellste Mannschaft wird als Sieger prämiiert. Des Weiteren wirkt sich die Zeit als Wettkampfzeit auf die anderen Sinndimensionen aus. Als zu viel und zu wenig Zeit indiziert sie systemspezifische Kriterien, die z.B. bei Mannschaftsballsportarten qua aktuellem Spielstand erzeugt werden. Die gleiche chronologische Zeit wird durch ihn systemintern asymmetrisiert. Führt die eine Mannschaft, hat sie mehr Zeit als die aktuell im Rückstand befindliche Mannschaft und umgekehrt. Zeitsemantiken wie »die Zeit läuft ihnen davon«, »Zeit von der Uhr nehmen« oder »auf Zeit spielen« drücken diesen Sachverhalt aus der Perspektive eines zumeist journalistischen Beobachters aus. Die Zeit wird somit im Kontext des Wettkampfsportes zu einer strategischen Ressource, die sich auf die Spielzüge der Kombattanten und die Spannung der Zuschauer auswirkt. Semantiken wie Spielzeit, Halbzeit, Auszeit, Nachspielzeit etc. (Simon 2009b, 50ff.) machen die Relevanz der Zeitdimension für das einzelne Sportereignis besonders deutlich. Dabei unterscheiden sich die Sportdisziplinen nicht zuletzt dadurch, inwieweit sie die chronologische Zeit mit der Spielzeit koppeln oder von ihr entkoppeln. So gibt es solche – wie wir bereits sahen – die die Zeit jedes Mal anhalten, wenn es zu einer Unterbrechung kommt, Eishockey, Basketball, Handball, und solche, wo dies nicht der Fall ist, z.B. Fußball. Man unterscheidet folglich auch zwischen »reiner Spielzeit« und chronologischer Zeit. Die Systemzeit oder Eigenzeit von Sportereignissen fungiert zugleich auch in unterschiedlicher Form als Aufbau einer Geschichte, welche bei außerordentlichen Sportereignissen noch Jahrzehnte später im Systemgedächtnis fortwirkt und zur Legendenbildung dient. Man denke nur an das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 von Bern. Dabei variiert die Möglichkeit des Aufbaus einer Geschichte mit der Dauer des einzelnen Interaktionssystems. So liegt es auf der Hand, dass sich ein Fußballspiel, ein Marathonlauf oder ein Tennisspiel aufgrund der längeren Dauer eher dazu eignen als ein
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100 m Lauf der Leichtathletik von 9,8 Sekunden oder ein 100 m Schwimmwettbewerb im Kraul von weniger als 50 Sekunden. Die Produktion einer Systemgeschichte impliziert in den ersten Fällen, das Vergangenheit und Zukunft durch die jeweilige Gegenwart so gekoppelt sind, dass einerseits die Kombattanten bereits stattgefundene Taktiken, Spielzüge und/oder Treffer in der jeweiligen Gegenwart des Spiels oder Laufes als Systemgedächtnis mitführen. Und dass andererseits die systemimmanente Zukunft des Spiels oder Laufs noch Möglichkeiten offeriert, die vergangenen Ereignisse zu korrigieren. Die Zukunft wird hier als eine noch offene gesehen, welche durch die Vergangenheit nicht eindeutig determiniert ist, sondern durch gegenwärtige Entscheidungen als veränderbar erscheint. Es erstaunt von daher nicht, wenn Kommentatoren, seien es Fremdoder Selbstbeobachter, davon sprechen, dass sich das Spiel noch gedreht hat, dass es zwei grundverschiedene Halbzeiten oder völlig unterschiedliche Sätze waren. Gleichwohl gilt auch hier, dass sich mit dem Schrumpfen der Zukunft, sprich mit dem Nahen des Spielendes, die Optionen und Möglichkeiten verringern. Langeweile und Spannung (vgl. dazu Bette 2005, 173ff.) und damit die Dramatik der Geschichte eines Sportereignisses variieren somit in dem Maße, in dem die Vergangenheit die Zukunft nicht in vorhersehbarer Form bestimmt. Je höher eine Mannschaft führt oder je weiter ein Sportler vorausläuft, desto unwahrscheinlicher wird dementsprechend eine Überraschung und desto langweiliger der weitere Verlauf. Dies ist jedoch auch abhängig vom Beobachter. So mögen die Spieler der klar führenden Mannschaft und ihre Fans das Spiel gleichwohl für unterhaltsam und abwechslungsreich halten, während die Spieler der unterlegenen Mannschaft das Spiel frustrierend finden, was sie mit ihrer Körpersprache zum Ausdruck bringen, während ihre Fans ihre Enttäuschung z.B. durch ein Pfeifkonzert lautstark artikulieren. Der Unterschied zu einem Drama der Literatur und einem Gerichtsverfahren lässt sich bezüglich der Literatur daran festmachen, dass dem Zuschauer nicht wie dem Leser oder Theaterpublikum von einem Autor oder Regisseur die Rolle des Beobachters 2. Ordnung zugewiesen wird, der mehr über den weiteren Verlauf weiß und sieht als die beteiligten Akteure. Und im Falle des Gerichtsverfahrens daran, dass nicht der Richter bzw. Schiedsrichter derjenige ist, der von den Kombattanten (Rechtsanwälte) hinsichtlich seiner noch offenen Entscheidung beeinflusst werden muss, sondern als neutraler Dritter im Regelfall das durch die Leistungen der Sportler generierte Ergebnis nurmehr ratifiziert, wenn es regelkonform zustande gekommen ist. Hinsichtlich der Differenz Spannung/Langeweile gilt mithin für die Sportereignisse eine Präferenz für Spannung, sprich für eine offene Entscheidung über Sieg und Niederlage (Bette 2005, 173ff.). Dass diese je nach Spieltag der Saison, d.h. ihrer Systemgeschichte, variiert, wird beispielhaft anhand des Spieles zwischen dem Tabellenersten und Tabellenletzten in der Rückrunde deutlich. So steht für die Mehrheit der Zuschauer und des Publikums der Sieg des Tabellenersten von vornherein fest. Die Vergangenheit der bisherigen Saison wirkt hier gleichsam als Systemgedächtnis und »Spannungskiller«. Dass dies sowohl zu Motivationsproblemen als auch zum Ausbleiben von Zuschauern führen kann, ist offensichtlich. Dass dies zugleich aber auch überraschende Niederlagen nicht ausschließt, wird, wie bereits erwähnt, durch die Semantik der Sensation im Sportsystem beschrieben.
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Sensationen sind Siege im Sportsystem, welche die Erwartungssicherheit hinsichtlich des Spielausgangs torpedieren. Sie symbolisieren das Eintreten von unwahrscheinlichen Ergebnissen, wobei die Kontingenz der Zukunft die Unmöglichkeit einer Niederlage ebenso wie die Notwendigkeit eines Sieges Lügen straft. Sensationen werden dementsprechend zum einen mit Erstaunen wahrgenommen und entziehen sich zum anderen oftmals einer unmittelbaren Erklärung. Sofern kein Dopingverdacht im Raum steht, müssen dann oftmals andere Erklärungen wie Unterschätzung seitens des vermeintlichen Favoriten oder das Spiel des Lebens des vermeintlichen Underdogs herhalten. Wird – wie bereits eingangs erwähnt – die Zeit selbst als Maßstab von Sieg und Niederlage im Sportsystem herangezogen, so dass der jeweils Schnellste siegt, wie z.B. bei den Laufdisziplinen der Leichtathletik, dann dominiert die Beobachtung der Fortbewegung des Körpers des Sportlers im Kontext der zurückzulegenden Strecke. Dabei kann entweder die Zeit als universeller Vergleichsmaßstab im Zentrum stehen oder nur die Tatsache als erster am Ziel angekommen zu sein, unabhängig wie schnell oder langsam man in Bezug auf eine erwartbare Durchschnittszeit oder gar Rekordmarke war. Die Zeit spielt bei der Messung also insofern eine Rolle, als sie als Systemgedächtnis im Sinne von jeweiligen Normalerwartungen oder einer Rekordmarke hinsichtlich der Schnelligkeit im Kontext der jeweiligen Sportart mitgeführt wird. Und sie spielt eine interaktive Rolle, indem derjenige der aktuell anwesenden Sportler siegt, der anlässlich des jeweiligen Events der schnellste im Wettkampf mit den anderen Sportlern war. Der sportimmanente Imperativ sowie Komparativ »Schneller, höher, weiter, stärker« unterliegt so einem doppelten Vergleich bezüglich der Zeit. Einerseits fungiert er als interaktionsimmanenter des jeweiligen Wettkampfes bzw. des Events, das in der jeweiligen Gegenwart stattfindet. Andererseits als Relation zu einem Rekord, der zu einem gewissen Zeitpunkt in der Vergangenheit in der jeweiligen Sportdisziplin aufgestellt wurde und als Systemgedächtnis mitgeführt wird. Erster bzw. Sieger im Sportsystem zu sein, bedeutet mithin in denjenigen Sportdisziplinen, bei denen die schnellste Zeit ausschlaggebend ist, immer auch an der Differenz zu einer in der Vergangenheit erzielten Rekordmarke gemessen zu werden und nicht nur an der Differenz zu den langsameren Sportlern des jeweiligen Wettkampfs. Je nach Event kann dies dazu führen, dass es beim Wettkampf nur darauf ankommt, zu gewinnen, ganz gleich in welcher Zeit, oder zusätzlich einen vergangenen Rekord zu überbieten. Letzteres gilt besonders dann, wenn ein Athlet als Weltranglistenerster die gegenwärtigen Konkurrenten über längere Zeit klar dominiert, so dass die Konkurrenz mit dem in der Vergangenheit erzielten Rekord bzw. dem vergangenen Rekordhalter die eigentliche Herausforderung darstellt. Allerdings muss bei der Jagd nach Rekorden berücksichtigt werden, dass sich die Kontextbedingungen des zeitlichen Vergleiches nicht nur durch subtilere technische Zeitmessungen verändert haben, z.B. elektronische Zeitmessungen statt handgestoppte Zeiten, sondern auch durch die anderen Sinndimensionen des Sportsystems. Eine Kontinuitätsprämisse im Sinne einer ceteribus paribus – Annahme der Bedingungen der Leistungserbringung und des Leistungsvergleichs ist dementsprechend nur partiell zutreffend. Schimanks (1988, 187) Behauptung:
3. Funktionssysteme
»Der Stellenwert der Idee des Rekords im modernen Sport zeigt sich nicht zuletzt an denjenigen Sportarten, deren Struktur die Messbarkeit von Höchstleistungen ausschließt. Dies gilt insbesondere für die Sportspiele«, trifft somit bis zu einem gewissem Maße auch auf alle anderen Sportarten zu.
Raumdimension Im Hinblick auf die systemtheoretisch vernachlässigte Raumdimension fällt auf, dass das Sportsystem in seinem Leistungsimperativ bzw. seinen Leistungserwartungen – neben der Zeitdimension – vor allem auch den Raum betont, wenn es um »höher« und »weiter« geht. Der Komparativ »höher« weist zugleich die andere Seite »niedriger« als Gegenbegrifflichkeit auf und der Komparativ »weiter« die von »kürzer«. Bei beiden symbolisiert der erstgenannte Wert den Vorzugswert und beide beziehen sich in erster Linie auf die Leichtathletik. Wir wollen die Betrachtung der Relevanz der Raumdimension für das Sportsystem in folgenden Hinsichten vertiefen: Zunächst einmal kann man Sportarten danach unterscheiden, ob sie in Binnenräumen oder in Außenräumen als Indoor- oder Outdoor-Sportarten stattfinden. Generell scheint es einen Trend des Sportsystems zu geben, Outdoor-Sportarten in IndoorSportarten zu transformieren, um zum einen den Risiken unvorhergesehener Ausfälle durch Wettereinflüsse zu entgehen und zum anderen die Spannung der jeweiligen Wettkämpfe zu erhöhen. So können die modernsten Sportarenen im Falle widriger Wetterbedingungen die Sportarena durch ein Dach schließen; hat der Hallenhandball den allzu langsamen und spannungsarmen Feldhandball nahezu völlig abgelöst und differenzieren sich generell zunehmend Indoor-Veranstaltungen komplementär zu den einstmals vorherrschenden Outdoor-Events aus. Erinnert sei nur an Hallenleichtathletik, Hallentennis, Radrennen, Springreiten oder Free-Climbing in der Halle. Dass es dabei auch entgegengesetzte Tendenzen – wie Beach-Volleyball und Street-Credibility – gibt, sei der Vollständigkeit halber erwähnt. Durch die Raumdimension wird zudem die Ausdifferenzierung zu Umweltsystemen des Sportsystems sichtbar. Zum einen gilt dies für unterschiedliche Sportarenen. Zum anderen für die sportspezifische Abgrenzung von Außenräumen, seien es Straßen, Flüsse, Seen oder Meeresabschnitte im Falle von Outdoor-Sportarten, die nicht durch Sportarenen mit oder ohne Dach abgegrenzt sind (vgl. Bette 1997). Dabei gilt es zwischen den Räumen zu unterscheiden, die für die Wettkämpfe reserviert sind, und solchen, die den Zuschauern, inklusive den Trainern und anderen Vereinsangehörigen sowie den nicht beteiligten Sportlern, zugeordnet werden. Die räumliche Ausdifferenzierung des Sportsystems erfolgt mithin durch die Teilnahme an nur für die Sportler zugelassene Territorien, vor allem dem Spielfeld, und solchen die nur für die Zuschauer reserviert sind (vgl. Simon 2009a, 44ff.). Bette (2005, 190) formuliert dies wie folgt: »Es kommt vielmehr zu einer deutlichen Trennung zwischen aktiver und passiver Teilnahme. Akteur und Zuschauer werden voneinander getrennt, bleiben aber aufeinander bezogen.« Zuschauer sind somit daran zu erkennen, dass sie das für den Wettkampf abgegrenzte Territorium oder Spielfeld nicht betreten dürfen, solange dieser stattfindet. Die Diffe-
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renz von Drinnen und Draußen wird hier besonders im Falle der Sportarenen nochmals dupliziert, indem die Zuschauer zwar in der Sportarena, aber nicht auf ihrem Spiel- oder Wettkampffeld sein dürfen. Darüber hinaus gibt es eine Differenz von Front- und Backstage, wobei letztere in Form der Kabinen hauptsächlich den Sportlern zur Verfügung steht und ihnen als Rückzugs- und Ruheraum im Kontrast zur hektischen und die öffentliche Beobachtung sowie Kontrolle konstituierenden Frontstage dient. Betrachtet man die eigentlichen Wettkampfstätten, so gilt für jede Sportart eine Raumlimitierung, die nur um den Preis einer Disqualifizierung, einer Spielunterbrechung oder einer Ungültigkeit der sportlichen Leistung überschritten werden darf. Die Raumlimitierung bedeutet mithin, dass der Wettkampf auf der einzuhaltenden Differenz von Inside und Outside basiert, wobei das Crossing mit negativen Sanktionen für die Kombattanten verknüpft ist. So gelten in der Leichtathletik besonders bei den Wurfdisziplinen, aber auch beim Weitsprung Markierungen, die nicht übertreten werden dürfen, soll die Leistung als regelkonform und nicht als ungültig gewertet werden. Bei den Mannschaftsballsportarten gibt es verbotene Räume, die z.B. semantisch als Abseits bezeichnet werden, wie im Fußball, aber auch Außen-, Seiten- und Torlinien, die vor allem für die räumliche Verortung des Balles innerhalb oder außerhalb des Spielfeldes oder hinter/auf/vor der Torlinie wichtig sind. Erinnert sei an das bis heute umstrittene Wembleytor der Fußballweltmeisterschaft der Männer 1966 in England. Findet der Wettkampf innerhalb des vorgeschriebenen Raumes statt, variieren –je nach Sportart – die Eigenkomplexität des Raumes und die zugelassenen und nichtzugelassenen Bewegungsmöglichkeiten der Sportler. So gibt es Sportarten, bei denen es entscheidend ist, dass man an einem bestimmten Zielort innerhalb vorgeschriebener Bahnen oder Straßen ankommt. Ferner gibt es Sportarten, bei denen ein Objekt – oftmals ein Ball – innerhalb eines Spielfeldes entweder in ein Tor, einen Korb oder in die andere Hälfte des Spielfeldes befördert werden muss, ohne dass ihn der Gegner erreicht. Darüber hinaus gibt es Sportarten, bei denen innerhalb des vorgegebenen Raumes Hindernisse mit oder ohne Pferd übersprungen werden müssen, ohne dass sie fallen. Des Weiteren gibt es Sportarten, bei denen ein Gerät so weit wie möglich geschleudert oder geworfen werden muss. Schließlich gibt es Sportarten, bei denen ein Ziel getroffen, ein Gegner körperlich mit oder ohne Waffen besiegt werden muss oder nur eine Fläche oder ein Medium wie Wasser als Präsentation von Körperkoordination und/oder Körperbeherrschung fungiert. Wie immer auch die Vielfalt der Raumnutzung in den einzelnen Sportarten aussehen mag, entscheidend scheint zu sein, dass eine Limitierung bzw. Reduktion der Komplexität als unterschiedliche und spezifische Steigerung der Bewegungskomplexität im Raum fungiert. Sieg oder Niederlage sind dabei nicht notwendigerweise an die Schnelligkeit im Raum gebunden – wie in einigen Disziplinen der Leichtathletik oder im Schwimmen –, sondern vor allem an die Raumaufteilung innerhalb der durch ihn gegebenen Limitierungen. Dies gilt beispielhaft für Mannschaftsballsportarten, die darauf abzielen, das Tor als durch den Torwart geschützten Raum durch Treffer mit einem Ball zu überwinden und in einen Sieg zu transformieren. Im Kern geht es bei diesen Sportarten darum, durch geschickte Raumaufteilung und entsprechende Vorwärts- und Rückwärtsbe-
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wegungen bzw. offensive und defensive Spielzüge den Gegner an Treffern zu hindern und eigene Treffer zu erzielen. Beispiel: Fußball. Betrachtet man z.B. einen der populärsten Mannschaftsballsportarten genauer, so spielt der Raum, wie wir schon teilweise sahen, in Kopplung mit dem Sportkörper in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Wir wollen im Folgenden das bereits Dargestellte um einige weitere Strukturmerkmale ergänzen und vertiefen (vgl. Simon 2009a, 44ff.). •
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Die räumliche Ausdifferenzierung wird anhand der Sportarenen sichtbar, die gleichsam einen Sonderraum gegenüber der systemexternen Umwelt abgrenzen, der wiederum in die Spielzone und die Zuschauerzone unterschieden wird. Die viereckige Spielzone wird in sich nochmals in zwei gleiche Spielhälften, einen Mittelkreis und einen 16 Meter Raum, binnendifferenziert. Innerhalb dieses Raumes befindet sich ein 5 Meter-Raum in beiden Spielhälften, der auch als Torraum bezeichnet wird. An beiden Enden – der sogenannten Außenlinie des Spielfeldes – sind in der Mitte jeweils die Tore und an den Ecken die Eckfahnen. Die Länge des Spielfeldes von 90–120m grenzt sich gegenüber einer Zwischenzone durch die Seitenlinien ab, die Breite von 45–90m durch die Außenlinien. Über Sieg und Niederlage entscheidet die größere Anzahl der Treffer, die ins Tor des jeweiligen Gegners geschossen wird. Je nach Beobachter – sprich Mannschaft – ist der Torraum in der eigenen Spielhälfte deshalb die Gefahrenzone und der in derjenigen des Gegners die Angriffszone, um Treffer zu erzielen. Das so beschriebene Spielfeld bzw. die Spielzone stellen mithin eine Kombination von einem Viereck und zwei Spielhälften dar, die sich gegenüber der Zwischenzone mittels Seiten- und Außenlinien abgrenzen. In der Mitte der beiden Außenlinien steht jeweils ein Tor, in das der Spielball mit dem Fuß, Kopf oder anderen Körperteilen mit Ausnahme der Hand befördert werden muss. Betrachtet man die Raumdimension als Medium, so gewinnt das Spielfeld seine Form durch die Reduktion der Komplexität von geometrischen Kombinationsmöglichkeiten. Im Fußball – wie bei den meisten anderen Ballspielen – ist es in der Regel ein Viereck, das in zwei Hälften geteilt wird mit einem Tor. Sofern der so beschriebene Raum invariant bleibt, lässt er sich auch als Infrastruktur des Fußballspiels als Interaktionssystem beschreiben. Seine Invarianz impliziert, dass der Raum während des Spieles nicht verkürzt, verlängert, verbreitert oder verkleinert werden kann. Entscheidend für das Fußballspiel als Interaktionssystem ist nun, dass sich die beteiligten Mannschaften und ihre Spieler nur innerhalb dieses invarianten Raumes aufhalten dürfen. Die strukturelle Kopplung mit den Spielern findet so statt, dass – mit Ausnahme des Torhüters, der normalerweise in seiner Spielhälfte bleibt und nur am Ende eines verloren zu gehenden Spiels als 11. Feldspieler die Box betritt – sich alle anderen Spieler innerhalb des Spielfeldes bewegen können und müssen. Im Unterschied zu anderen Interaktionssystemen, bei denen die Körper der Personen vorwiegend eine sitzende Haltung einnehmen – z.B. einem Sitzungsraum, in dem diverse Ausschüsse tagen – dominiert eine dynamische Erwartung an die Körper der Spieler. Dazu gehören im Unterschied zum Sitzen auf der Ersatzbank u.a. das Lau-
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fen, Sprinten, Dribbeln und Hochspringen in Richtung des fliegenden Balles. Hinzu kommen speziell die Füße, die eine zentrale Rolle spielen. Auch der Kopf und alle anderen Körperteile außer der Hand, die mit Ausnahme des Einwurfs nur für den Torwart reserviert ist, werden selektiv im Umgang mit dem Ball oder beim Zweikampf mit dem Gegner genutzt. Zentral bei der Körperbewegung ist die räumliche Position der Spieler der jeweiligen Mannschaft auf dem Spielfeld. Hinsichtlich der damit verknüpften Spielsysteme (vgl. Simon 2009b) bedeutet der Systembegriff, dass von der Kombination potenzieller Raumpositionen oder -stellen der 10 Spieler auf dem Spielfeld wenige Möglichkeiten aktuell realisiert werden. Dabei steht ein Objekt im Vordergrund der Aufmerksamkeit: der Ball. Da über Sieg und Niederlage die größere Anzahl der geschossenen Tore entscheidet, kommt es darauf an, in Ballbesitz zu kommen und den Ball so innerhalb der eigenen Mannschaft zuzuspielen und zu kombinieren, dass im Erfolgsfall ein Treffer möglich wird. Die Semantik des Spielsystems dupliziert sich in das der eigenen Mannschaft und des Gegners. Die Raumdimension spielt dabei insofern eine entscheidende Rolle, als das jeweilige Spielsystem darauf abstellt, die invariante Spielfläche so zu nutzen, dass die Wahrscheinlichkeit des eigenen Ballbesitzes zunimmt und die des Gegners abnimmt. Es geht somit darum, die Spieler so auf dem Spielfeld zu verteilen, dass sowohl eine erfolgreiche Defensive möglich ist, wenn der Gegner am Ball ist, als auch eine erfolgreiche Offensive, wenn man selbst im Ballbesitz ist. Das Typische des Fußballspiels im Gegensatz zu anderen Ballspielen besteht darin, dass der Ballbesitz normalerweise nur relativ kurz möglich ist und ständig wechselt. Hinzu kommt, dass Tore vergleichsweise selten fallen, wenn man z.B. Handball oder Basketball vor Augen hat, was mit dem größeren Spielfeld sowie der größeren Unsicherheit des Ballbesitzes und der geringeren Treffer- bzw. Zuspielgenauigkeit durch den Fuß zusammenhängt. Die Dynamik des Fußballspieles basiert vor allem darauf, dass die durch das jeweilige System festgelegte Position der Spieler im Raum und der Ballbesitz ständig wechseln. Typisch ist in diesem Zusammenhang, dass immer nur ein Spieler in Ballbesitz ist, wohingegen alle anderen Spieler sich während des Ballbesitzes selektiv auf das übrige Spielfeld verteilen. Dies erinnert an das Medium der Sprache, bei dem immer auch nur einer sprechen kann, während die anderen zuhören. Überträgt man die sogenannten Turn-taking rules (Schegloff 2000) auf das Fußballspiel, kann man in Analogie dazu feststellen, dass immer nur einer den Ball hat, während ihn die Mitspieler und Spieler der gegnerischen Mannschaft daraufhin beobachten, was er mit dem Ball beabsichtigt. Interessant ist dabei, dass – je nach Spielsystem – die übrigen Spieler unterschiedlich nah und fern von dem im Ballbesitz befindlichen Spieler sind. Da der Ball vornehmlich mit dem Fuß berührt und sehr weit getreten werden kann, impliziert dies jedoch, dass sich alle anderen Spieler, unabhängig davon wie nah oder fern sie sind, auf den ballführenden Spieler konzentrieren müssen. Überhaupt gilt, dass während des ganzen Spieles alle Spieler aufmerksam sein müssen, ermöglicht doch das Treten des Balles eine schnelle Raumverlagerung des Spielgeschehens. Diese macht es auch notwendig, dass das Spielsystem eine möglichst flexible Ausnut-
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zung der Spielfläche vorsieht, weshalb Raumdeckung, Pressing und Überzahlspiel zunehmend an die Stelle der Manndeckung getreten sind. Es reicht also nicht aus, dass – wie oftmals bei Schülerspielen – alle dem ballführenden Spieler hinterherlaufen, sondern es kommt auf eine geschickte Raumaufteilung bzw. ein intelligentes Spiel ohne Ball an (vgl. Willke 2009), die zum einen die Anspielstationen und damit die Entscheidungsalternativen des ballführenden Spielers erhöhen. Und zum anderen im umgekehrten Falle bei Ballbesitz des Gegners dessen Entscheidungsalternativen reduzieren. Die Elementaroperation des Fußballspieles besteht in räumlicher Hinsicht darin, dass sich bei Ballbesitz eines Spielers der eigenen Mannschaft die Mitspieler so positionieren müssen, dass dieser möglichst viele Anspielstationen hat. Dabei sollte das Anspiel mit Raumgewinn einhergehen, da das Ziel des Spieles ein Sieg ist, zu dessen Realisierung mindestens ein Tor mehr gehört als der Gegner erzielen konnte. Damit dies möglich ist, müssen sowohl die Laufwege der Mitspieler dem ballführenden Spieler vertraut als auch deren ständige Laufbereitschaft vorhanden sein. Hinzu kommt, dass bestimmte Positionen in der gegnerischen Spielhälfte als Abseits bewertet werden. Der Raum des Spielfeldes wird so noch einmal in zugelassene und verbotene Zonen in Abhängigkeit von den Laufwegen und dem Abspiel der Mitspieler unterschieden. Das müssen die Spieler wissen, sollen ihre Spielzüge nicht ständig durch den Schiedsrichter unterbrochen werden. Diese Erkenntnisse können wiederum dazu benutzt werden, sich darauf einzustellen, indem man die sogenannte Abseitsfalle trainiert und entsprechend anwendet. Die Raumaufteilung fungiert mithin vor allem auch als strategische und taktische Komponente im Kontext des Fußballspieles. Da jedoch im Unterschied zum Schachspiel, sofern es sich nicht um Blitzschach handelt, die Spielzüge unter hohen Tempoanforderungen und oftmaligen Pressing des Gegners erfolgen müssen, ist die Zeit für Entscheidungsalternativen immer nur äußerst kurz. Ähnlich wie bei der Kommunikation unter Anwesenden, die auf schnelle Selektion der gesprochenen Sätze basiert, kann sich der ballführende Spieler nicht lange entscheiden, was er mit dem Ball tut, sondern muss diesen so schnell wie möglich an einen anderen Spieler der eigenen Mannschaft weiterleiten oder in Bedrängnis als Befreiungsschlag einfach wegtreten.
Sozialdimension Bei der Sozialdimension des Sportsystems geht es um die Adressstellen der Kommunikation respektive um die doppelte Kontingenz von Ego und Alter Ego, seien es Individualsportler oder Mannschaftssportler. Da der Hochleistungssport primär ein körperbetontes Funktionssystem ist, vollzieht sich der Wettkampf als sein Kernereignis weniger qua Medium der Sprache oder gar Schrift, sondern durch das Medium des Körpers der Kombattanten (vgl. Bolz 2009, 21). Es geht also vor allem um wechselseitige Wahrnehmung des Wettbewerbskörpers einerseits und um Kommunikation qua Medium des Körpers andererseits. Mitteilung, Information und Verstehen und der kommunikative Erfolg bedienen sich mithin des Mediums des Körpers, der sich – je nach Sportdisziplin – in eine funktionsspezifische Form bringt.
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Gesprochen wird vor allem im Training und nach dem Wettkampf mit den Journalisten. Im Wettkampf hingegen geht es darum, mit Hilfe der jeweiligen funktionsspezifischen Körperteile darüber zu informieren und als jemand beobachtet und verstanden zu werden, der die Erwartungen in Bezug auf Schnelligkeit, Höhe, Weite oder Treffer erfüllt oder nicht. Was die Adressaten der Sportkommunikation anbelangt, so lässt sich eine Rollendifferenzierung in Spitzensportler, die miteinander konkurrieren, einerseits und Trainer, Zuschauer und Publikum anderseits beobachten. Hinzu kommen die Sport- bzw. Verbandsfunktionäre, welche für die Organisation der Wettkämpfe zuständig sind. Die doppelte Kontingenz – ich tue, was Du tuest, wenn Du tuest, was ich tue – wird im Sportsystem vor allem dadurch aufgelöst, dass einer der Sportler oder Mannschaften einen ersten Zug tut und daraufhin die Gegenzüge des anderen Sportlers oder der anderen Sportler erfolgen. Dabei geht es nicht primär um Verständigung, sieht man einmal von den Wettkampfregeln ab, welche von den Kombattanten akzeptiert werden müssen, sondern um einen Sieg, der auch von den Unterlegenen akzeptiert werden muss. Die Unwahrscheinlichkeit der Akzeptanz einer Niederlage wird von dem Besiegten dadurch in eine Wahrscheinlichkeit transformiert, dass er zum einen die Ratifizierung und/oder Beurteilung des Ergebnisses durch die Schiedsrichter anerkennen muss (vgl. Bette 2005. 190). Und dass er zum anderen dies desto eher tun kann, desto leichter ihm die Möglichkeit offensteht, in einem weiteren Wettkampf aus einer Niederlage einen Sieg zu machen. Indem sich die Kombattanten den Entscheidungen des Schiedsrichters unterwerfen und zudem in der Mehrzahl die Überlegenheit des Gegners durch dessen körpererzeugte Leistung selbst direkt oder indirekt erleben, können sie nicht anders als die Überlegenheit des Gegners zu akzeptieren. Die Zumutbarkeitsschwelle, die es zu überschreiten gilt, ist die, dass der überlegene Wettkämpfer, sei es ein Individualsportler, sei es eine Mannschaft, durch die körpergenerierten Leistungen den Unterlegenen dazu bringt, die Überlegenheit zu akzeptieren. Ist dieser dazu nicht bereit, wird er als unfairer Verlierer bzw. als jemand betrachtet, der nicht verlieren kann. Unterscheidet man zwischen Inflationierung und Deflationierung des Sportkörpers als Erfolgsmedium (vgl. generell zur Differenz Inflation/Deflation im Kontext der Erfolgsmedien Luhmann 1997b, Bd.1, 382ff.), so impliziert eine Inflationierung, dass seine Siege an Wert einbüßen, wenn sie z.B. gegen drittklassige Gegner erzielt werden. Man denke an Boxsiege, die gegen sogenannte Aufbaugegner errungen werden. Oder an Siege bei Freundschaftsspielen von Topteams des Fußballs gegen zweitklassige Mannschaften. Demgegenüber liegt eine Deflationierung des Erfolgsmediums vor, wenn die betroffenen Mannschaften oder Individualsportler zu selten ihre Titel gegen gleichwertige Herausforderer verteidigen oder zu selten starten. Sie machen in diesem Fall von ihrer Überlegenheit im Sportsystem zu wenig Gebrauch. Bezieht man diese Überlegungen auf das gesamte Sportsystem, so kann eine Inflationierung auch dann vorliegen, wenn es zu einer Übersättigung des Publikums durch zu viele Sportübertragungen kommt, z.B. indem jedes Tennisturnier oder jedes drittklassige Fußballspiel im Fernsehen übertragen wird. Wohingegen eine Deflationierung dann dominiert, wenn es zu langen Pausen zwischen den Saisons kommt.
3. Funktionssysteme
Sachdimension Was schließlich die Sachdimension des Sportsystems betrifft, so bezieht sie sich auf seine Binnendifferenzierung in unterschiedliche Sportarten. Da wir bereits auf diese an unterschiedlichen Stellen ausführlich Bezug genommen haben, beschränken wir uns im Folgenden auf einige wenige Aspekte. Die Sportarten lassen sich grob in Individual- und Mannschaftssportarten unterscheiden. Des Weiteren dahingehend, ob sie in ihren Vollzug ein Objekt (Diskus, Hammer, Ball oder Gerät) integrieren oder nicht. Ferner gibt es in Abhängigkeit von den betrachteten Regionen der Weltgesellschaft Populärsportarten und Randsportarten mit hoher respektive niedriger Inklusionsquote der Zuschauer und des massenmedialen Publikums. Zudem kommt es immer wieder zur Innovativen von Sportarten, sei es durch einen Mix der Geschlechter, sei es durch neue Objekte, sei es durch neue Kontexte. Es fällt auf, dass – mit Ausnahme von Pferden und Kamelen – Tiere im Spitzensport weitgehend exkludiert werden (vgl. Stichweh 1990, 379). Die mit der Sachdimension eng verknüpften sportartspezifischen Programme variieren hinsichtlich ihrer Messgenauigkeit, je nachdem, ob sie die Erfolgskriterien an der erzielten Weite, Höhe, Schnelligkeit, den realisierten Toren, Treffern und Punkten oder dem ästhetischen Ausdruck sowie der gelungenen Koordination bzw. Synchronizität der Körper festmachen (vgl. Bette 2005, 190–191). Als Fazit lässt sich konstatieren, dass sich die vier Sinndimensionen des Spitzensports wechselseitig positiv ergänzen, aber auch blockieren können. So kann eine eingespielte Mannschaft bei einem Turnier mit einem positiven Teamspirit zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort glanzvolle Siege erringen. Demgegenüber können Konflikte innerhalb eines Teams suboptimale Leistungen erzeugen; kann die Knappheit der Zeit bei Mannschaftsballsportarten die Exaktheit des Passspiels negativ beeinflussen; können bestimmte Bodenbeläge und -verhältnisse die Leistungsfähigkeit sowie Realisierung von Spielsystemen und Stilen von Spitzensportlern und Teams reduzieren, kann die Beschleunigung des Tempos zum Abgehängtwerden der langsameren Konkurrenten führen und können zu enge Räume die Anwendung bestimmter Spielzüge verhindern.
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Selbstbeschreibungen
Sucht man nach Selbstbeschreibungen (vgl. generell Luhmann 1997b, Bd.2, 1082ff.; zum Spitzensport Schimank 1988, 227; Bette 2005, 189ff.; Werron 2010, 167ff.) des Hochleistungssportes, also nach Theorien, die das Sportsystem über sich selbst anfertigt, sprich nach der Einheit der Differenz, so wird vom Sportestablishment u.a. der Fairness-Gedanke oder auch die friedensstiftende Funktion des Spitzensports hervorgehoben, besonders wenn sich die Nationen zu Weltmeisterschaften oder der Olympiade treffen. Ferner wird auch auf die Sinnstiftung und Vorbildfunktion für die Jugend abgestellt, was nicht überrascht, wenn man bedenkt, dass die Mehrzahl der Sportler Jugendliche oder junge Erwachsene sind.
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Ob solche einheitsstiftenden Selbstbeschreibungen jedoch noch glaubwürdig sind, muss angesichts des zunehmenden Dopingverdachts, der politisch motivierten Boykotte von nationalen Verbänden oder der körperschädigenden Langzeitfolgen des Hochleistungssportes zunehmend bezweifelt werden. In den letzten Jahren rückt allerdings im Zuge der vielfältigen Protestbewegungen, die sich gegen Diskriminierungen und Benachteiligungen von Personengruppen unterschiedlichster Art richten, der Inklusionsgedanke in Anlehnung an die Menschenrechte als Möglichkeit der positiven Selbstbeschreibung im Sinne der Anerkennung von Diversität bzw. Otherness ins Zentrum des Hochleistungssports. So wendet man sich gegen Rassismus, unterstützt die Behindertenbewegung, protestiert gegen Homophobie und versucht vor allem auch, die Gleichbehandlung des Frauensports, z.B. hinsichtlich der Reduktion der Gender Pay Gap, voranzutreiben. Dass auch hier massive Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Selbstbeschreibung durch Menschenrechtsorganisationen kommuniziert werden, machte nicht zuletzt die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer nach Katar sehr deutlich. Doch selbst, wenn der Inklusionsgedanke in Anlehnung an die Menschenrechte im Spitzensport realisiert werden würde, stellt sich die Frage, ob die damit verknüpfte moralische Selbstbeschreibung dem Spitzensport als Reflexionstheorie gerecht wird. Reproduziert er sich doch als ein Funktionssystem, das den körperbetonten Leistungsvergleich qua Wettkampf durch Exklusion all derjenigen Personen und Teams auf Dauer stellt und ins Zentrum rückt, die den supererogatorischen Anforderungen als Breitenund Amateursportler nicht gewachsen sind. Bette (2005, 187) drückt dies treffend wir folgt aus: »Die Herstellung von Ungleichheit ist das Systemziel des Spitzensports. Exklusives Können auf der Grundlage von Technik, Taktik und hochspezialisierter Körperlichkeit dient dazu, genau dies sicherzustellen. Der Athlet, der seinen Wettbewerb gewinnen möchte, will nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit auf der Rangebene des Systems.« (Hervorhebung i. O.) Wenn er (2005, 188) ergänzt: »Die interne Hierarchisierung der Athleten untereinander erfolgt nicht nach Geburts-, Alters-, Religions- oder Standeskriterien, sondern nach dem Leistungsprinzip« (Hervorhebung i. O.), dann kann man dem hinzufügen: auch nicht nach Geschlecht, sexueller Präferenz oder ethnischer Zugehörigkeit. Eine angemessene Selbstbeschreibung des Spitzensports als Funktionssystem muss folglich das körperorientierte Leistungsprinzip des Wettkampfs berücksichtigen, dessen Einheit und gesellschaftliche Funktion er repräsentiert.
3. Funktionssysteme
3.5.12 Zur Differenz von Breitensport, Hochleistungssport und Schulsport Da wir den Hochleistungssport bereits ausführlich thematisiert haben, beschränken wir uns abschließend bei der angeführten triadischen Binnendifferenzierung des Sportsystems hauptsätzlich auf den Breiten- und Schulsport. Wie die Semantik von Breitensport bereits indiziert (siehe Schimank 1988, 210ff.; Cachay/Thiel 2000, 113ff.), scheint hier im Gegensatz zur Engführung des Hochleistungssportes auf Spitzenleistungen einer Funktionselite eine größere Inklusion der Bevölkerung vorzuliegen. Bevor wir auf einige Unterschiede zu sprechen kommen, können wir uns ihnen in einem ersten Schritt durch den Vergleich mit anderen Funktionssystemen zu nähern versuchen. Fragt man sich, was das funktionale Äquivalent zum Breitensport in anderen Funktionssystemen darstellt, so kann man in einer ersten Überlegung von einer Differenz eines professionellen Systems und Laiensystems ausgehen. Die Semantik der Breite impliziert die Inklusion tendenziell der Gesamtbevölkerung qua Laienrolle in ein Funktionssystem im Unterschied zur Inklusion von Inhabern der primären Leistungsrollen. Während diese normalerweise nur ein kleines Segment der Bevölkerung in das Beschäftigungssystem des jeweiligen Funktionssystems inkludieren und mehrere primären Leistungsrollen einer Person im gleichen Funktionssystem die Ausnahme darstellen, gilt dies nicht für die Laienrollen. Diese müssen zwecks Leistungsbezugs potenziell in jedem der Funktionssysteme übernommen werden und können im Inklusionsbereich der Funktionssysteme zudem mehrfach realisiert werden, z.B. als Museums-, Theater- und Kinobesucher im Kunstsystem oder Wähler, interessiertes Publikum sowie Entscheidungsempfänger im politischen System (vgl. dazu Burzan u.a. 2008; Hohm 2015; Hohm 2016; Hohm 2023). Jedes Funktionssystem weist zudem eine sekundäre Leistungsrolle als eingeschlossenes ausgeschlossenes Drittes auf (vgl Stichweh 1988, 281ff.), welche hinsichtlich der Inklusionsquote und der an sie adressierten rollenspezifischen Erwartungen zwischen der primären Leistungsrolle und der Laienrolle anzusiedeln ist. Man denke hierbei nur an die Elternvertreter im Erziehungssystem, die Gemeindevertreter und Wahlhelfer im politischen System, die Küster oder Messner im Religionssystem, die Vertreter sozialen Ehrenamtes im System der Sozialen Hilfe und die Teilnehmer an Flohmärkten im Wirtschaftssystem. Für die Differenz von Leistungs- und Breitensport besagen diese Vergleiche, dass es offensichtlich auch im Sportsystem eine solche Trias gibt. Setzt man die Laienrolle als die umfassendste Inklusion ins Sportsystem voraus, so entspricht sie entweder dem Sportpublikum oder demjenigen Teil der Gesamtbevölkerung, der sich – wie der Wähler im politischen System oder der Kranke im Medizinsystem – ohne formale Organisationszugehörigkeit temporär am Sportsystem als Laie aktiv beteiligt. Dazu gehört z.B. jemand, der unregelmäßig mit anderen Mannschaftssport betreibt, ab und zu ins Schwimmbad geht oder gelegentlich joggt. Im Unterschied zu dieser Form des Breitensportes gibt es eine zweite, enger gezogene Form, die eine gewisse Regelmäßigkeit aufweist und sich mit dem Hobby oder Amateursport gleichsetzen lässt. Im Anschluss an die Diskussion des Ehrenamtes und bürgerschaftlichen Engagements (vgl. Jacob 1993) kann man sie in konventionelle und unkonventionelle sekundäre Leistungsrollen unterscheiden und als Indikator für eine
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Binnendifferenzierung des Breitensportes begreifen. Die klassische sekundäre Leistungsrolle schließt dann sowohl ehrenamtliche Trainer und Amateursportler in all den Sportarten ein, welche in herkömmlichen Vereinen organisiert sind, seien es Turn-, Mannschaftssport-, Leichtathletik- oder Tennisvereine. Typisch für diese Form des ehrenamtlichen Engagements und der sekundären Leistungsrolle ist eine hohe Loyalität zum Sportverein, dessen Mitglied man ist. Des Weiteren eine gewisse Kontinuität der Sportaktivität, welche sich auch dem regelmäßigen Wettbewerb stellt, und eine Aufwandsentschädigung. Demgegenüber entkoppelt die neuere oder unkonventionellere Form des Breitensportes die Übernahme einer sekundären Leistungsrolle von einer Vereinszugehörigkeit mit der entsprechenden Loyalität, wendet sich zum Teil neueren Sportarten zu, die u.a. in kommerziell betriebenen Sportstätten wie Fitnessstudios oder zu Hause durch Teilnahme an Onlinekursen regelmäßig ausgeübt werden. Wettkämpfe werden nicht notwendigerweise an eine Saison gebunden, aber durchaus selbst organisiert. Möglich ist auch, dass man sich, unabhängig von jedweder Sportstätte, Outdoor oder Indoor regelmäßig als Jogging-Läufer, Power-Walker oder an seinem Heimtrainer sportlich betätigt. Der Code Sieg/Niederlage des Sportsystems hat nach wie vor seine Gültigkeit, wenn auch in Anwendung auf oftmals rein selbstbezügliche individuelle sportliche Aktivitäten. Gesprengt wird der Sportcode von Vertretern, die den Siegescode bewusst ignorieren, wie die von Schimank (1988, 209–10) dargestellte New-Games-Bewegung. Für sie ist körperliche Betätigung ohne das Telos des Sieges möglich. Es dominiert eine (ebd., 210) »leistungsentlastete Geselligkeits- und Spaßkultur.« Der Hochleistungssport unterscheidet sich von den dargestellten Varianten des Breitensportes vor allem dadurch, dass er •
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die am Siegescode orientierten Leistungserwartungen in einem Maße steigert, der alle diejenigen Personen exkludiert, die diese hochgeschraubten Erwartungen nicht mehr erfüllen können oder wollen und sich deshalb mit einer Laienrolle oder sekundären Leistungsrolle begnügen müssen oder wollen; eine Ausdifferenzierung der Rollenkomplementarität von primärer Leistungs- und Laienrolle in Form von bezahlten Profisportlern (siehe dagegen Schimank 1988, 211, der die Differenz von Breiten- und Leistungssport nicht mit der von Amateuren und Berufssportlern gleichgesetzt wissen möchte.) und anwesenden Zuschauern sowie massenmedialem Publikum generiert und reproduziert (vgl. Werron 2010). Hochleistungssport ohne Zuschauer und Publikum ist dementsprechend eher eine Ausnahme, wie wir anhand von Corona sehen konnten, wenngleich bestimmte Randsportarten selbst im Spitzensport nur vor einem geringen Publikum ihre Wettkämpfe absolvieren; aufgrund der gesteigerten Leistungsvergleiche die Inklusion der zusätzlichen professionellen Rolle eines unparteiischen Schiedsrichters erfordert, der die qua Parteilichkeit und Gegnerschaft gesteigerte Konfliktbereitschaft emotional zu neutralisieren ermöglicht (vgl. Bette 2005, 190).
Was den Schulsport betrifft, so stellt er diejenige Form des Breitensportes dar, die – neben dem vereinsmäßig organisierten Breitensport, der oftmals auch Freizeitsport heißt,
3. Funktionssysteme
weil er die primäre Leistungsrolle ausschließt – die umfassendste Inklusion ins Sportsystem bedeutet. Typisch für den Schulsport sind folgende Merkmale (vgl. dazu Schimank 1988, 198ff.; Stichweh 1990, 374ff.; Cachay/Thiel 2000, 82ff., 195ff., die jedoch primär auf vormoderne, frühmoderne und hochmoderne Aspekte der Instrumentalisierung und Sozialisation sowie Erziehung des Sports durch das Erziehungssystem abstellen.): •
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Zentral im Unterschied zur Freiwilligkeit des Breiten- und Freizeitsports ist eine an die Schulpflicht gebundene Inklusionspflicht hinsichtlich des Sportunterrichts. Das erklärt, weshalb unsportliche Schüler, die Sport als Unterrichtsfach – analog zu bestimmten anderen Fächern – eher abgewählt hätten oder abwählen würden, es aber nicht konnten und können, den Sportunterricht oft als Zumutung rückblickend und gegenwärtig wahrnehmen. In der Regelschule wird Sport oft als Nebenfach bewertet, das oftmals ausfällt und einen marginalen Stellenwert für das Gesamtzeugnis hat. Es sei denn es handelt es sich um ein Wahlfach. Unabhängig davon, ob der Sport als Neben- oder Wahlfach fungiert, ist er an den Selektionscode der Schulnoten gekoppelt. Die Sportlehrenden müssen demzufolge die Leistungen der Schüler und Schülerinnen in den curricular angebotenen Sportarten als besser/schlechter bewerten. Ist die Bewertung bei denjenigen Sportarten noch weitgehend transparent, die sich an den Kriterien des ZGS-Systems, Zentimeter, Gramm, Sekunden, orientieren, wächst die Intransparenz und Nichtakzeptanz der Bewertungen bei den kompositorischen Sportarten wie z.B. Turnen, Eiskunstlaufen und Rhythmische Sportgymnastik (vgl. Bette 2005, 190–191 für den Spitzensport). Es verwundert von daher nicht, dass die Grenzen der Messrationalität im Falle schlechter (Haltungs-)Noten seitens der Bewerteten eher dem subjektiven, wenn nicht sogar parteiischen Urteil der Sportlehrenden als der eigenen Performance attribuiert werden. Dass dies Lehrer-Schüler-Konflikte induzieren und die Motivation der Schüler sowie Schülerinnen hinsichtlich der aktiven Teilnahme am Sportunterricht negativ beeinflussen kann, liegt auf der Hand. Die Orientierung am Sportcode Sieg/Niederlage reduziert sich jedoch nicht nur auf den Klassen- oder Kursvergleich der individuellen Leistungen oder Mannschaftsleistungen im Kontext der jeweiligen Schule mit entsprechender Bewertung durch den Selektionscode der Noten. Der Vergleichshorizont wird vielmehr durch Sportfeste der einzelnen Schulen und interschulische Wettkämpfe forciert, die landesund bundesweit stattfinden. Der Selektionscode der Noten im Zusammenspiel mit dem Siegescode des Sportes trägt damit zur Rekrutierung von Talenten bei, welche sich nicht nur gegenüber lokaler, sondern auch translokaler Konkurrenz mit ihren sportlichen Leistungen durchzusetzen in der Lage sind. Da bestimmte Sportarten – Segeln, Reiten, Beach-Volleyball, Hockey, Tennis, Rafting, Skispringen, Biathlon etc. – curricular von der Mehrzahl der Regelschulen aus finanziellen, infrastrukturellen, regionalen, milieuspezifischen, personellen Gründen etc. – nicht angeboten werden, sind es oft Sportgymnasien, Sportinternate oder Nachwuchszentren die Schüler mit entsprechenden sportlichen Talenten an sich zu binden versuchen. Dabei kommt es zur strukturellen Kopplung von sportzentrierten
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Schulen und Vereinen sowie Kommunen, die sowohl ihre Sportstätten für die Nachwuchstalente zur Verfügung stellen als auch die Schul- und Sportkarriere so zu integrieren und fördern versuchen, dass die Kontingenzen der letzteren nicht zu Lasten der ersteren gehen. Sieht man abschließend den Schulsport auf einen Blick, so antizipiert er zum Teil die Rollendifferenzierung von primärer Leistungs-, sekundärer Leistungsrolle und Laienrolle, aber auch die dezidierte Exklusion aus dem Sportsystem aufgrund der Fremd- und Selbstbeobachtung der sportlichen Fähigkeiten der Schüler. Neben der Rekrutierung für den amateurhaft betriebenen vereinsförmigen Breitensport sowie den selbstorganisierten Freizeitsport fungiert er somit als eines der wichtigsten Rekrutierungsreservoire für den Hochleistungssport, aber auch seiner komplementären Rolle des anwesenden Zuschauers und massenmedialen Publikums. Zugleich unterscheidet der Schulsport sich jedoch von der Freiwilligkeit des Breiten- und Freizeitsports durch die Inklusionspflicht. Die Kopplung an den Selektionscode des Erziehungssystems und die curriculare Einbettung in den übrigen Fächerkanon lässt ihn oft sowohl zeitlich als auch sachlich zu einem Randfach werden, wenn er im Kontext der Regelschule stattfindet und nicht in besonders auf die Förderung von Sporttalenten zugeschnittenen Sportgymnasien, Sportinternaten oder Nachwuchszentren. Durch die Inklusionspflicht zwingt er zudem auch diejenigen Schüler zur Teilnahme am Sport, die sich als unsportlich definieren und deshalb nach der Schulzeit durch Selbstexklusion aus dem Sportsystem ausscheiden.
3.6 Pflege. Das Pflegesystem: ein auf Pflegebedürftigkeit spezialisiertes sekundäres Funktionssystem 3.6.1
Einleitung
Wir starten unsere soziologische Beobachtung des Pflegesystems mit der Thematisierung des Pflegekreislaufs in Analogie zum Wirtschaftskreislauf. Es folgt die Analyse des Pflegecodes und seiner entscheidungsabhängigen Ergänzung durch Pflegeprogramme. Was die Ausdifferenzierung von Pflegekommunikation bedeutet, folgt darauf. Die Trias Funktion, Leistungen, Reflexion diskutieren wir zusammen mit der Kontingenzformel des Pflegesystems sowie dessen strukturellen Kopplungen mit ausgewählten Umweltsystemen. Die Eigenkomplexität des Pflegesystems und seine Pflegeorganisationen zusammen mit der familialen Pflege sind danach das Thema. Die Inklusion/Exklusion bezüglich des Pflegesystems und den Körper als Medium, Form und Wahrnehmungsmedium erörtern wir anschließend. Die Behandlung der Technik der Pflege, der Beobachtungsmodi des Pflegesystems und seiner Sondermoral schließt sich an. Beendet wird die Betrachtung des Pflegesystems mit der Grundpflege als Basisoperation anhand des Essens und Trinkens sowie Schlussbemerkungen.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Schulen und Vereinen sowie Kommunen, die sowohl ihre Sportstätten für die Nachwuchstalente zur Verfügung stellen als auch die Schul- und Sportkarriere so zu integrieren und fördern versuchen, dass die Kontingenzen der letzteren nicht zu Lasten der ersteren gehen. Sieht man abschließend den Schulsport auf einen Blick, so antizipiert er zum Teil die Rollendifferenzierung von primärer Leistungs-, sekundärer Leistungsrolle und Laienrolle, aber auch die dezidierte Exklusion aus dem Sportsystem aufgrund der Fremd- und Selbstbeobachtung der sportlichen Fähigkeiten der Schüler. Neben der Rekrutierung für den amateurhaft betriebenen vereinsförmigen Breitensport sowie den selbstorganisierten Freizeitsport fungiert er somit als eines der wichtigsten Rekrutierungsreservoire für den Hochleistungssport, aber auch seiner komplementären Rolle des anwesenden Zuschauers und massenmedialen Publikums. Zugleich unterscheidet der Schulsport sich jedoch von der Freiwilligkeit des Breiten- und Freizeitsports durch die Inklusionspflicht. Die Kopplung an den Selektionscode des Erziehungssystems und die curriculare Einbettung in den übrigen Fächerkanon lässt ihn oft sowohl zeitlich als auch sachlich zu einem Randfach werden, wenn er im Kontext der Regelschule stattfindet und nicht in besonders auf die Förderung von Sporttalenten zugeschnittenen Sportgymnasien, Sportinternaten oder Nachwuchszentren. Durch die Inklusionspflicht zwingt er zudem auch diejenigen Schüler zur Teilnahme am Sport, die sich als unsportlich definieren und deshalb nach der Schulzeit durch Selbstexklusion aus dem Sportsystem ausscheiden.
3.6 Pflege. Das Pflegesystem: ein auf Pflegebedürftigkeit spezialisiertes sekundäres Funktionssystem 3.6.1
Einleitung
Wir starten unsere soziologische Beobachtung des Pflegesystems mit der Thematisierung des Pflegekreislaufs in Analogie zum Wirtschaftskreislauf. Es folgt die Analyse des Pflegecodes und seiner entscheidungsabhängigen Ergänzung durch Pflegeprogramme. Was die Ausdifferenzierung von Pflegekommunikation bedeutet, folgt darauf. Die Trias Funktion, Leistungen, Reflexion diskutieren wir zusammen mit der Kontingenzformel des Pflegesystems sowie dessen strukturellen Kopplungen mit ausgewählten Umweltsystemen. Die Eigenkomplexität des Pflegesystems und seine Pflegeorganisationen zusammen mit der familialen Pflege sind danach das Thema. Die Inklusion/Exklusion bezüglich des Pflegesystems und den Körper als Medium, Form und Wahrnehmungsmedium erörtern wir anschließend. Die Behandlung der Technik der Pflege, der Beobachtungsmodi des Pflegesystems und seiner Sondermoral schließt sich an. Beendet wird die Betrachtung des Pflegesystems mit der Grundpflege als Basisoperation anhand des Essens und Trinkens sowie Schlussbemerkungen.
3. Funktionssysteme
3.6.2
Pflegekreislauf
Wenn wir – wie beim Wirtschaftssystem vom Wirtschaftskreislauf und beim Politiksystem vom Machtkreislauf (Luhmann 1988, 131ff.; Luhmann 1987b; Luhmann 2000b, 253ff., bes. 264) – von einem Pflegekreislauf sprechen, gehen wir davon aus, dass sich das Pflegesystem im rekursiven Netzwerk seiner Pflegekommunikation selbstreferentiell mit dem Blick für Fremdreferenz reproduziert. Seine Selbstreferenz konstituiert der Pflegecode, der als Leitdifferenz die Form pflegekompetent/pflegeinkompetent bzw. pflegefähig/pflegeunfähig aufweist (vgl. Hohm 2002, 141ff. und im Anschluss dazu Bauch 2005, 75ff.; Zimmermann u.a. 2012, 229ff.; Ketzer 2015, 22; Dietrich 2020, 202. Wir kommen auf die Beiträge dieser Autoren am Ende unserer Darstellung unter 15. Schlussbemerkungen zurück). Er beobachtet seine paradoxe Einheit als Pflegekompetenz, die zwischen Pflegekompetenz und Pflegeinkompetenz unterscheiden kann. Die eine Seite der Form behauptet folglich zugleich die Einheit und damit das Selbige und die Differenz zu sein. Da jedoch reine Selbstreferenz im Pflegesystem letztlich auf der Identität als leerer Tautologie (Pflegekompetenz ist Pflegekompetenz) basiert, die eine Unterscheidung reklamiert, die keine ist, oder auf eine Paradoxie hinausläuft, die das Selbige und Differente als identisch betrachtet, muss Information und damit Fremdreferenz ins System eingeführt werden. Identifiziert man diese mit der Differenz Pflegebedarf/kein Pflegebedarf bzw. pflegebedürftig/nichtpflegebedürftig, dann lässt sich der doppelte Kreislauf des Pflegesystems genauer bestimmen. Er basiert darauf, dass die beiden Leitdifferenzen pflegekompetent/pflegeinkompetent und Pflegebedürftigkeit/keine Pflegebedürftigkeit zusammen die Autopoiesis des Pflegesystems kommunikativ reproduzieren. Wenn der menschliche Körper dasjenige Medium ist, das im Pflegesystem zirkuliert und die Kontinuität des Pflegekreislaufes sichert, dann muss man sich zunächst klarmachen, was die unwahrscheinliche kommunikative Ausgangskonstellation ist, die ihn dazu werden lässt. Die Unwahrscheinlichkeit besteht darin, dass der menschliche Körper zum Thema der Kommunikation wird, weil die mit ihm untrennbar verbundenen Personen temporär oder auf Dauer unfähig sind, sich selbst zu pflegen, d.h. ihre Selfcare zu bewerkstelligen. Beobachtet man den doppelten Pflegekreislauf in Analogie zum Wirtschaftskreislauf, so erzeugt Pflegefähigkeit beim inneren Kreislauf die kommunikative Anschlussfähigkeit im Pflegesystem dadurch, dass es die mangelnde Selfcare der Pflegebedürftigen durch eigene Leistungen kompensiert. Das funktioniert solange, solange das Pflegesystem genügend Kompetenz in Form der Bereitstellung von Pflegepersonal für die Durchführung von Grund- und Behandlungspflege in ihren verschiedenen Subsystemen zur Verfügung hat. Pflegeunfähigkeit indiziert im Gegensatz zur Pflegefähigkeit Probleme der systeminternen Anschlussfähigkeit. Diese kann man einerseits systemintern an Grenzen der Bereitstellung der Pflegefähigkeit respektive der Kompetenz des Pflegesystems durch Personalknappheit sowie inkompetentes Personal im Sinne einer selektiven Professionalisierung festmachen (Hohm 1996; Michaelis 2005, 266–267; Winter 2005, 292–93). Andererseits systemextern, wenn es zum vorübergehendem Rückgang der Pflegebedürftigkeit durch eine geringere Zahl von Behinderungen, Krankheiten und Unfällen sowie
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
längerer Gesundheit im Alter kommt. Hätte niemand einen Pflegebedarf, würde das das Ende des Pflegesystems und seines Pflegekreislaufs bedeuten, da die Pflegefähigkeit des Pflegesystems keine Anwendungsmöglichkeiten mehr hätte.
3.6.3
Codierung und Programmierung des Pflegesystems
Wenn es sich beim Pflegesystem um ein autopoietisches System handelt, dass seine Elemente, Prozesse und Strukturen durch das rekursive Netz seiner Kommunikation selbst reproduziert (Luhmann 1984, 60ff.; Luhmann 1997b, Bd.1, 65ff.), dann gilt es den Nachweis zu erbringen, dass es – wie alle anderen Funktionssysteme der modernen Gesellschaft – seine Ausdifferenzierung und autonome Selbstorganisation durch einen spezifischen Code herstellt. Anders ausgedrückt: das Pflegesystem muss seine Grenzen zur Umwelt dadurch erzeugen können, dass es sich selbst im Unterschied zu anderen Systemen in seiner Umwelt als identisch beobachten kann. Damit dies möglich ist, muss es sich in der Gesellschaft gegenüber gesellschaftsinternen Umweltsystemen schließen können. Dies realisiert sein Pflegecode, der durch die semantische Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz die Ausdifferenzierung des Pflegesystems sicherstellt. 1. Fragt man sich, wie der Pflegecode beschaffen sein könnte, der die Invarianz und damit Identität des Pflegesystems gewährleistet, so wollen wir – wie bereits anfangs angeführt –, seine Leitdifferenz als pflegekompetent/pflegeinkompetent bezeichnen. Seine Identität indiziert damit eine Form, dessen paradoxe Einheit eine Differenz mit zwei Seiten ist. Indem die Selbstbeschreibung des Funktionssystems an die Semantik Pflegesystem im Sinne der Pflegefähigkeit als seiner Einheit anschließt und sich nicht als pflegeinkompetentes System bezeichnet, invisibilisiert es für sich die Paradoxie dieser Einheit. Es setzt nämlich die Einheit des Codes mit der einen Seite, sprich dem Pflegesystem als demjenigen Wert bzw. derjenigen Semantik gleich, die in der Umwelt anschlussfähig ist. Eine Parallele zum Medizinsystem, das sich auch als Gesundheitssystem und nicht als Krankheitssystem darstellt. Für einen soziologischen Fremdbeobachter, der beobachtet, wie das Pflegesystem kommunikativ operiert, sieht dies jedoch insofern anders aus, da im Pflegesystem der Präferenzwert pflegekompetent zusätzlich auf die Pflegebedürftigkeit seiner Adressaten in Form des doppelten Pflegekreislaufs angewiesen ist. Schaut man nämlich genauer hin, dann fällt auf, dass die Pflegekommunikation sich nur dann im rekursiven Netzwerk ihres Vorher und Nachher in der jeweiligen Gegenwart reproduzieren kann, wenn sie ihre Differenz von Mitteilung und Information an der Pflegebedürftigkeit von immer wieder neu ins Pflegesystem inkludierten pflegebedürftigen Patienten orientiert. Aus dem gleichen Grund kann man das Medizinsystem mit Luhmann (1990b, 184, 186, 194) auch als System der Krankenbehandlung oder in Zuspitzung seiner Argumentation als Krankheitssystem bezeichnen, da es nur operativ tätig ist, wenn es immer wieder mit kranken Personen als Patienten versorgt wird. So schreibt Luhmann (1990b, 186–187): »Im Anwendungsbereich des Systems der Krankenbehandlung kann dies nur heißen: der positive Wert ist die Krankheit, der negative Wert die Gesundheit. Nur Krankheiten sind für den Arzt instruktiv, nur mit Krankheiten kann er etwas anfangen. Die Gesund-
3. Funktionssysteme
heit gibt nichts zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand krank ist. Entsprechend gibt es viele Krankheiten und nur eine Gesundheit.« Wenn die durch den Pflegecode induzierte Pflegekommunikation durch Pflegebedürftigkeit Pflegeoperationen in Gang setzt, mutiert der in der systemexternen Umwelt als negativ betrachtete Wert Pflegebedürftigkeit im Pflegesystem zum Positivwert. Dabei gilt es zu beachten, dass der Pflegecode zugleich invariant und kontingent ist. Invariant ist er insofern, als er – wie immer die Pflegeprogramme wechseln mögen – nur zwei Werte aufweist, den Positiv- und Negativwert. Kontingent ist er, indem er erst durch Entscheidungen, die Kriterien durch Programme nötig machen, festlegt, ob Pflegebedürftigkeit vorliegt, die durch die Pflegekompetenz des Pflegesystems bearbeitet werden kann. Dies schließt vorübergehende Zweifel ein, ob das eine oder andere zutrifft. Ja es beinhaltet auch Irrtümer in Bezug auf die Zuordnung der Werte, die im Pflegesystem als Fehler der Programmanwendung abgebucht werden. Indem der Pflegecode jeweils zwei Werte im Kontext des Pflegekreislaufs aufweist, wird dieser zu einem doppelten Pflegekreislauf: nämlich Pflegekompetenz/ Pflegeinkompetenz einerseits und Pflegebedürftigkeit/keine Pflegebedürftigkeit andererseits. Verweisen die beiden erstgenannten auf die Selbstreferenz des Pflegesystems, indizieren die zwei anderen Werte dessen Fremdreferenz. Die Inkompetenz der Personen, Selfcare im Falle der Pflegebedürftigkeit zu leisten, ist also der Ausgangspunkt für die Erbringung der kompetenten Pflege durch das Personal des Pflegesystem. Sein Pflegecode rejiziert dementsprechend alle Drittwerte, z.B. zahlungsfähig/zahlungsunfähig, Recht/Unrecht, Sieg/Niederlage, wahr/falsch. Das schließt nicht aus, sondern setzt vielmehr voraus, dass sich die Umweltsysteme des Pflegesystems auf der Basis dieser Codes als je spezifische Funktionssysteme ausdifferenzieren und ihre Eigendynamik entfalten. Es impliziert darüber hinaus – wie wir im Zusammenhang mit der strukturellen Kopplung des Pflegesystems mit anderen Systemen sehen werden –, dass es sowohl auf Leistungen dieser anderen Systeme angewiesen ist als auch diese auf seine Leistungen, um seine Autonomie zu entfalten. Das Pflegesystem steigert somit seine Unabhängigkeit durch den Pflegecode bei gleichzeitiger Abhängigkeit vom Funktionieren der Umweltsysteme und deren Codes sowie ihrer Leistungen (vgl. dazu Schimank 1988, 208 der ähnlich hinsichtlich der Ausdifferenzierung und Autonomie des Spitzensports argumentiert.) Gleichwohl muss es vermeiden, soll es autonom operieren können, dass sich die Pflegekommunikation z.B. an einem Pflegecode orientiert, der pflegebedürftig/zahlungsfähig oder pflegebedürftig/wahr heißt. Indem der Pflegecode also nur zwei Werte, einen Positiv- und Negativwert aufweist, ermöglicht dies das erleichterte Crossing von einem zum anderen Wert. Da es jedoch nicht gleichzeitig erfolgen kann, soll die Pflegekommunikation nicht durch Unentscheidbarkeit blockiert werden, geschieht dies sequenziell. Dabei dient die Zeit als Entfaltung der sachlichen Paradoxie pflegefähig=pflegeunfähig. Das Pflegesystem entwickelt in diesem Zusammenhang eine Eigenzeit, z.B. in Form zeitlimitierter Interaktionssysteme wie Pflegende und pflegebedürftiger Patient, die nicht notwendigerweise mit der Zeit der Umweltsysteme kompatibel sein muss. Für den Pflegecode gilt des Weiteren, dass er sich – wie andere Codes auch – von der Alltagsmoral distanzieren muss, soll es nicht zu moralisch induzierten Konflikten kom-
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
men (vgl. Luhmann 1975b, 184–185; Luhmann 1997b, Bd.1, 371). So darf es im Pflegesystem z.B. keine Frage von Achtung/Missachtung sein, warum jemand pflegebedürftig wurde und in welchem Ausmaß jemand pflegebedürftig ist. Man denke z.B. an eine Schlägerei, einen selbstverschuldeten Unfall, bestimmte Formen der Lebensführung, Obdachlosigkeit oder Sucht, die von der Mehrheit der Bevölkerung eher moralisch verurteilt werden, oder Pandemien wie Covid. Stattdessen kommt es zur Ausdifferenzierung einer Sondermoral (vgl. weiter unten), welche die kompetente Pflege auch in diesen Fällen ermöglicht, wenn auch nicht garantiert. Der Pflegecode zeichnet sich demzufolge dadurch aus, dass er potenziell jeden pflegebedürftigen Körper einer Person zum Thema der kompetenten Pflegekommunikation durch die Pflegenden machen kann. Die strukturelle Kopplung des Pflegesystems mit der organisch-psychischen Umwelt des Menschen als Person erzeugt mithin Patientenkarrieren mit vielfältigen Verlaufsmustern dadurch, dass der Körper als Medium durch vielerlei Ursachen (Krankheit, Sucht, Behinderung, Unfall, Alter) in die Form eines pflegebedürftigen Körpers transformiert werden kann. •
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Dabei repräsentiert die Unterscheidung von Medium und Form selbst eine Form mit zwei Seiten. Während das Medium lose gekoppelt ist, indem es eine Fülle von Kombinationsmöglichkeiten des Sehens, Hörens, Bewegens und Greifens bereithält, ist die Form strikt gekoppelt, indem sie bestimmte Varianten des Sehens, Hörens, Bewegens und Greifens durch Selektion erzeugt. Wird der Körper zum Thema der Pflegekommunikation, sind seine Kombinationsmöglichkeiten durch Störungen restringiert. Er wird zum pflegebedürftigen Körper, der zu bestimmten Formbildungen qua strikter Kopplungen nicht mehr in der Lage ist. Wenn z.B. eine Person beide Hände durch einen Unfall gebrochen hat, ist eine eigenständige Essenszubereitung und Nahrungszufuhr unmöglich. Die Hände als Körpermedium sind hier gleichsam deformiert und machen eine kompetente Form der Selfcare unmöglich. Die Grundpflege durch Assistenz beim Essen ist dann solange nötig, bis zusätzlich durch Physiotherapie und eine medizinische Operation die Hände der betroffenen Person von ihr wieder autonom im Sinne der Selfcare benutzt werden können. Unterscheidet man zwischen dem Organismus als Innenseite des menschlichen Körpers und den Extremitäten sowie der Gestalt als seiner Außenseite und der Haut als Grenze von Innen- und Außenseite, kann der Mensch als psychisches System sowohl seine Organe als auch seine Extremitäten und Gestalt im Medium von Bewusstsein erleben und wahrnehmen. So kann er z.B. im Hinblick auf seinen Organismus Magen- oder Herzschmerzen empfinden, bezüglich seiner Haut Veränderungen in Form von Pickeln oder Jucken wahrnehmen, aber auch Bewegungseinschränkungen seiner Beine nach einem Sturz. Im Kontext der Pflegekommunikation wird der Körper der pflegebedürftigen Person sowohl von dieser als auch dem Pflegepersonal wahrgenommen. Dabei kommt es jedoch zu einer Asymmetrie, die Gleichsinnigkeit des Körpererlebens qua pflegekompetentem Pflegepersonal und pflegeinkompetenten Patienten insofern ausschließt, als nur dieser pflegebedürftig ist. Die Unwahrscheinlichkeit der Pflegekommunikation ergibt sich also dadurch, dass die mit ihr verknüpfte Selektion des auf den pfle-
3. Funktionssysteme
gebedürftigen Körper bezogenen Handelns des Pflegepersonals durch den pflegebedürftigen Patienten in einer Form erlebt werden soll (muss), die sein eigenes Körperhandeln temporär in spezifischer Weise ausschließt. Die Pflegebedürftigkeit rückt somit in die Nähe des Geldmediums und seiner Kopplung mit den Bedürfnissen des Konsumkörpers im Wirtschaftssystem, für dessen Wirtschaftskommunikation gilt, dass der Zugriff (=Handeln) auf knappe Güter (Eigentum) seitens anderer durch diejenigen, die nicht zahlungsfähig sind, qua Nichthandeln bzw. Erleben geduldet wird bzw. werden muss. Die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen als Paradoxie der Pflegekommunikation muss folglich Zumutbarkeitsschwellen überschreiten, die darin bestehen, dass der pflegebedürftige Patient es zulässt, seinen Körper als »behandelt« zu erleben, ohne selbst in Bezug auf seinen Körper handeln zu können. Diese Überlegungen sind insofern von Bedeutung, als die Unwahrscheinlichkeit der Pflegekommunikation und die Möglichkeit ihrer Überwindung in Richtung Wahrscheinlichkeit die Ausdifferenzierung der Pflegekommunikation mit den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien anderer Funktionssysteme (vgl. Luhmann 1975b; Luhmann 1997b, Bd.1, 316ff.) und ihrer je spezifischen symbiotischen Mechanismen des Körpers (Luhmann 1981f) zu vergleichen erlaubt (vgl. zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und dem Körper als symbiotischen Mechanismus auch Borutta 2015, 168ff., der im Anschluss an die Erörterungen zur romantischen Liebe von Tyrell die Frage thematisiert, ob Freundschaft in der heutigen funktional differenzierten Gesellschaft als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium betrachtet werden kann, und diesbezüglich zu einem positiven Ergebnis [ebd., 196] kommt). •
So weist die Pflege eine Nähe zur Macht- bzw. Gewaltkommunikation auf. Erstere besteht darin, dass das Pflegepersonal den pflegebedürftigen Patienten durch die Selektion seines Handeln dazu motiviert, in Bezug auf seinen Körper in einer Weise zu handeln, die er eher vermeiden würde. Während die Nähe zur Gewaltkommunikation dadurch induziert wird, dass das Pflegepersonal, die Pflegehandlung selbst anstelle des Pflegebedürftigen ausübt, wenn dieser von sich aus nicht bereit ist, das von ihm an ihn adressierte Handeln zu realisieren. Hier gibt es eine Parallele zur Politik und zum Recht, indem die Selektion des Handelns des Pflegepersonals die Selektion des Handelns des Pflegebedürftigen durch Macht und im Grenzfall Gewalt ermöglicht. Im Kern bedeutet dies, dass die Pflegenden den Pflegebedürftigen – wie die Polizei den Staatsbürger – dazu bringen können, eine Alternative des Handelns zu realisieren, die er eigentlich vermeiden wollte. Dass dies auch mit Drohungen einhergehen kann, konnte ich als teilnehmender Beobachter in einem Zweibettzimmer in einer Uniklinik nachts um vier Uhr anhand eines Begleitdialogs zur Korrektur eines deplatzierten Blasenkatheters bei einem Mitpatienten erleben. Während der pflegebedürftige Patient wiederholt seine Finger als Schutz zur Vermeidung der starken Schmerzen auslösenden Pflegehandlung einsetzte, rief der Pflegende jedes Mal »Finger weg«, bis er schließlich den Blasenkatheter an der richtigen Stelle platziert hatte.
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Nimmt man Sexualität hinzu, so stellt sich die Frage, wie durch die Pflegekommunikation verhindert werden kann, dass aufgrund der Intimität bestimmter Pflegehandlungen (Kathetisieren, Waschen von Genitalien, An- und Auskleiden) und der Bettlägerigkeit des pflegebedürftigen Patienten das Erleben der Handlungen des Pflegepersonals beim pflegebedürftigen Patienten nicht in sexuelles Erleben und Handeln und umgekehrt transformiert wird. Offensichtlich müssen in die Pflegekommunikation bestimmte Inhibitionen eingebaut werden, die diese »sexuellen« Übergriffe verhindern. So schreibt Rohde (1962, 298): »Schon die symbolische Entsexualisierung der Rolle der Pflegeperson durch den Namen ›Schwester‹ ist eine Frühform, die vor Verstrickungen in den sprengkräftigsten Affektbereich bewahren soll.«
Anders ausgedrückt: es ist davon auszugehen, dass es auf beiden Seiten zu bestimmten Bewusstseinsüberschüssen im Sinne von sexuellen Fantasien kommt, die nicht kommuniziert werden dürfen, soll Pflegekommunikation möglich sein. Auch hier kann man jedoch davon ausgehen, dass es Situationen gibt, in denen beide Seiten die Kommunikation sexueller Anspielungen präferieren. •
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Ferner lässt sich die Pflegekommunikation auch nicht auf wissenschaftliche Kommunikation und die durch sie erzeugte Gleichsinnigkeit des Wahrnehmens (Erlebens) bestimmter Sachverhalte reduzieren. Die Mitteilung der für die Forschung konstitutiven Erfahrung des Nichtwissens und der Unsicherheit des vermeintlich sicheren Wissens könnte zusätzliche Ängste beim pflegebedürftigen Patienten auslösen und die Expertise des Pflegepersonals in Frage stellen. Schließlich sei noch die spirituelle Komponente des Glaubens erwähnt, die in der oftmals konfessionell ausgerichteten christlichen Pflege eine wichtige Rolle spielt. Dies gilt besonders dann, wenn es um Fragen des Sterbens oder schwerer Krankheiten geht. Sieht man einmal davon ab, dass Andersgläubige und Ungläubige nicht von der Pflegekommunikation exkludiert werden können, dann geht es hierbei vor allem darum, inwieweit die Gleichsinnigkeit des transzendenten Erlebens und Handelns im Rahmen der Pflegekommunikation kommunikabel ist (vgl. dazu Rohde 1962, 298–299). Sieht man unsere Abgrenzungen zu anderen Medien auf einen Blick, so wird zum einen deutlich, dass sich die Frage stellt, inwieweit es die durch den Pflegecode binär codierte Pflegekommunikation vermeiden kann, auf andere Medien zurückzugreifen und damit ihre Autonomie einzubüßen. Eine Frage, die im Rahmen des Kapitels struktureller Kopplungen des Pflegesystems mit Umweltsystemen zu beantworten sein wird. Und es stellt sich die andere Frage, ob das Pflegesystem ein eigenes symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium aufweist, und ob dies der pflegebedürftige Körper ist? Wenn wir dafür votieren, die Kombination von Pflegehandeln des Pflegepersonals und Pflegeerleben der Pflegebedürftigen als Voraussetzung für die Ausdifferenzierung der Codierung der Pflegekommunikation durch den Pflegecode und damit für ihre Wahrscheinlichkeit der Unwahrscheinlichkeit ihres Eintritts anzunehmen,
3. Funktionssysteme
dann ist es das Körpermedium, welches als Erfolgsmedium fungiert. M.a.W.: der pflegebedürftige Körper wird in dem Maße zu einem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium, wie im Rahmen der Pflegekommunikation der Zugriff auf den pflegebedürftigen Körper durch die Selektion der Pflegehandlungen des Pflegepersonals vom Patienten zugelassen wird (=Compliance) und dadurch Informationen möglich werden, die verstanden und akzeptiert oder nichtverstanden und nichtakzeptiert werden können. Optieren wir für Pflegekompetenz/Pflegeinkompetenz als Pflegecode des Pflegekreislaufs, schließen wir damit an eine zentrale Prämisse der klassischen Professionstheorie von Parsons (1978, 35ff.) an. Mit der Differenz Kompetenz/Inkompetenz verweist er auf die wissensfundierte Kompetenzkluft (=»competence gap«) der akademisch ausgebildeten Professionellen in Relation zu den Laien bzw. Klienten (ebd., 40, 45) und erklärt damit die funktional spezifische Ausdifferenzierung der modernen Professionen sowie die daraus resultierende interaktive Asymmetrie, die besonderer institutionalisierter Schutzmechanismen bedarf (vgl. dazu auch Parsons 1970, 428ff. und im expliziten Anschluss an ihn Rohde 1962, 277ff.). Luhmann (1988, 136–37) spricht im Zusammenhang mit dem doppelten Kreislauf des Wirtschaftscodes von Zahlungsfähigkeit/Zahlungsunfähigkeit. In Strukturanalogie dazu haben wir den doppelten Pflegekreislauf des Pflegecodes als Pflegefähigkeit/Pflegeunfähigkeit formuliert. Er indiziert eine Gegenläufigkeit der binären Werte, indem der Positivwert Pflegekompetenz der Profession mit dem Negativwert der Pflegeinkompetenz des Patienten im Sinne einer temporären oder dauerhaften Unfähigkeit von Selfcare korrespondiert und der Negativwert Pflegeinkompetenz der Profession mit dem Positivwert Selfcare. Allerdings auch mit der zusätzlichen Einsicht, an Grenzen der professionellen Pflegekompetenz zu stoßen, vor allem dann, wenn diese als bedside care nur selektiv in Deutschland akademisiert ist (vgl. Hohm 2001, 7; Winter 2005, 289). Dabei hängt es nicht zuletzt von den Entscheidungsprogrammen des Pflegesystems ab, welche Kriterien die Zuordnung auf die Codewerte Pflegekompetenz/-inkompetenz bzw. Pflegebedürftigkeit/keine Pflegebedürftigkeit ermöglichen. Die aktuelle Qualitätsdiskussion in der Pflege, die mit den Begriffen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität im Pflegeestablishment diskutiert wird, muss dementsprechend daraufhin unterschieden werden, ob sie sich mit politischen Reformen der Strukturen und Prozesse der vertikalen und horizontalen Binnendifferenzierung der Pflegeorganisationen durch Organisationsentwicklung und Kompetenzenzwicklung des Personals sowie besserer Ressourcenausstattung und Bezahlung befasst (vgl. dazu Michaelis 2005; Winter 2005), oder mit Pflegediagnosen, Pflegetheorien, Pflegeplanung, Pflegeprozess, Pflegestandards, die sich auf die Gradualisierung der Pflegebedürftigkeit der Patienten beziehen (vgl. dazu Zimmermann u.a. 2012, 234ff.). 2. In Ergänzung zur bisherigen Argumentation möchten wir gleichsam gedankenexperimentell erkunden, was man zu sehen bekommt, wenn man von der Leitdifferenz gepflegt/ungepflegt als Pflegecode ausgeht (vgl. dazu auch Ketzer 2015, 22ff.). Dem Präferenzwert gepflegt steht in diesem Fall der Negativ- bzw. Reflexionswert ungepflegt gegenüber. Ersterem entspricht eine gepflegte Erscheinung, gepflegte
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Person, gepflegte Kleidung etc. Die Kriterien sind Wahrnehmungsschemata wie sauber/schmutzig, rein/unrein etc. Wir haben es mit Körperpflege zu tun, also mit Formen der Selbstdarstellung einer Person (Goffman 1983), von denen wir im Sinne einer Alltagsästhetik annehmen, dass ihre Positivwerte normalerweise präferiert werden, wenn die Aufmerksamkeit nicht zu stark auf die Wahrnehmung der Person gelenkt werden soll. •
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Der Unterschied einer gepflegten Person zu einem gepflegten Rasen, Auto oder Garten besteht darin, dass sie sich selbst im Gegensatz zu jenen Objekten als gepflegt wahrnehmen kann. Für einen soziologischen Fremdbeobachter kommt hinzu, dass die Selbstwahrnehmung dann interessant wird, wenn sie mit wechselseitiger Wahrnehmung gekoppelt ist, so dass zwei Bewusstseine sich jeweils selbst, aber auch den anderen als gepflegt wahrnehmen. So sieht Ego, dass Alter Ego gepflegt ist und Alter Ego sieht, dass Ego sieht, dass er gepflegt ist, und Ego sieht, dass er gepflegt ist und Alter Ego sieht, dass er dies sieht. Die wechselseitige Wahrnehmung von Ego und Alter Ego ist also insofern etwas anderes als die ausschließliche Wahrnehmung Egos von sich selbst in einem Spiegel oder die Wahrnehmung Egos von einem Objekt in seiner Umwelt (vgl. dazu generell Hohm 2016, 175ff.). Da Wahrnehmung nicht mit Kommunikation identisch ist, bedeutet wechselseitige Wahrnehmung von gepflegten Personen zunächst nur, dass sie auf der Basis von Medien wie Licht, Akustik, Berührung, Geruch, Stoffen etc. Formen ihres Körpers wahrnehmen, die ihnen als gepflegt erscheinen. Bei wiederholter Begegnung mit der gleichen Person kann es zu einer generalisierenden Konfirmierung und einer Kondensierung im Sinne der Reduktion auf eine identische Wahrnehmung als gepflegt kommen (vgl. Luhmann 1990e, 108ff. zu den Begriffen Kondensierung/ Konfirmierung), z.B. in Form einer gepflegten Sprache und Semantik, eines angenehmen Körpergeruchs oder eines gut abgestimmten Kleidungsstils. Da eine gepflegte Selbstdarstellung zur interaktiven Normalerwartung bzw. Normalwahrnehmung gehört, stört sie die Kommunikation nicht durch Ablenkung der Aufmerksamkeit der Beteiligten auf die äußere Wahrnehmung der Person. Das schließt bei besonders gelungenen Formen der gepflegten Selbstdarstellung Komplimente nicht aus. Setzt aber voraus, dass diesen keine Sekundärmotive zugrunde liegen und der Adressat sie nicht missversteht.
Anders ist tendenziell all das Gesagte beim Negativwert ungepflegt. •
Eine ungepflegte Selbstdarstellung unter Bedingungen der Anwesenheit kann dazu führen, dass der Körper einer Person, seine Kleidung oder Sprache als unsauber, schmutzig, eklig, dreckig, derb etc. wahrgenommen werden. Dabei hängt es von der Attribution des Beobachters ab, wie die ungepflegte Selbstdarstellung perzipiert und kommuniziert wird. Ob sie z.B. vom Fremdbeobachter der Person oder seiner Umwelt zugerechnet wird, und ob diese sie sich selbst zurechnet oder ihrer Umwelt. M.a.W.: Fremd- und Selbstbeobachtung können konvergieren und divergieren, je nachdem welche Zuschreibung für die ungepflegte Selbstdarstellung selegiert wird.
3. Funktionssysteme
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So kann z.B. ein Punk durch seinen Protestkörper auf die Wegwerfgesellschaft sowie die Marginalisierung der arbeitslosen Jugendlichen aufmerksam machen wollen (Bette 2005, 121ff.), während ein Gegenüber sein ungepflegtes Äußeres seiner Pubertät und Jugendlichkeit zuschreibt. Je nach Systemkontext kann die Attribution zudem zur Exklusion der Person aus den entsprechenden Sozialsystemen führen, mit einer eingeschränkten Zulassung zu ihnen einhergehen oder als Normalerwartung fungieren. So wird niemand von einem Automechaniker oder Bauarbeiter erwarten, dass sie während des Vollzuges ihrer Tätigkeit sauber oder rein bleiben, ja es kann sogar als ein Indiz von mangelnder Einsatzbereitschaft gelten, wenn sie am Ende eines Arbeitstags mit sauberer Kleidung den Arbeitsplatz verlassen. Demgegenüber kann ein unangemessener Dresscode der Person die Nichtzulassung zu einem öffentlichen Empfang induzieren und der Eindruck der Verwahrlosung einer Person bis hin zum Grenzfall des Obdachlosen ihre Mehrfachexklusion implizieren. Eine Codierung des Pflegesystems, die an der Differenz gepflegt/ungepflegt ansetzt, muss folglich von einer Ausgangskonstellation ausgehen, welche die Zumutung von Kommunikation eher unwahrscheinlich macht und gleichwohl ihre Wahrscheinlichkeit dadurch erhöht, dass sie ein Medium bereitstellt. Im Falle der Differenz gepflegt/ungepflegt besteht die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation darin, dass die Präsentation und Wahrnehmung des Ungepflegtseins mit Formen zivilisierter Selbstdarstellung der Körper von Personen unter Bedingungen der Anwesenheit konfligiert. Es ist deshalb eher wahrscheinlich, dass die Kommunikation mit den betroffenen Personen unterbleibt. In vormodernen stratifizierten Gesellschaften bedeutete dies eine Exklusion entlang der Schichten, so dass die Mehrheit des Volkes keinen Zugang zur schichteninternen Kommunikation der Oberschicht erhielt. Luhmann (1980b, 75) beschreibt dies pointiert wie folgt: »Die Funktion dieses Ordnungstyps (=Hierarchie: Ergänzung Hohm) wird aber nicht über Ungleichheit, sondern über dazu kontrastierende Gleichheit und entsprechende Zugangserleichterungen erfüllt; sie liegt in der Absonderung von Gleichen für relativ unwahrscheinliche Kommunikation.« (Hervorhebung i. O.) Die Verfeinerung der Umgangsformen innerhalb der Oberschicht der höfischen Gesellschaft schloss zunehmend Formen ungepflegter Selbstdarstellung als obszön, schmutzig, unrein aus (Elias 1977). Nur eine gepflegte Semantik galt als tradierfähig (vgl. zu diesem Begriff Luhmann 1980a, 19ff.). Dies erklärt u.a. auch, weshalb körperliche Tätigkeiten, welche die Person beschmutzen konnten, abgelehnt und durch Diener erbracht wurden, die sich im Übrigen der Etikette unterwerfen mussten (Veblen 1981, 42ff.). Die Transformation von Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit der Kommunikation musste zusätzlich die Schwelle überspringen, welche die ungepflegte Selbstdarstellung in die Nähe der Moralkommunikation rückte, durch die die ungepflegten Personen verachtet, d.h. als ganze Personen aus der Kommunikation ausgeschlossen wurden (vgl. Luhmann 1989a, 361ff.). Die Differenz von gepflegt/ungepflegt wurde mit dem Moralschema gut/schlecht im Falle des Handelns bzw. gut/böse im Falle der Gesinnung gekoppelt, so dass die betroffenen Personen nicht nur durch die
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
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Wahrnehmungsmedien, sondern zugleich auch durch die Kommunikation exkludiert wurden. Sie galten als unberührbar, übelriechend, schmutzig, unrein etc. Es überrascht dementsprechend nicht, dass es zunächst bestimmte religiöse Orden waren, die gleichsam durch eine Gegensemantik bzw. Umkehrsemantik der Keuschheit, Reinheit und Armut die Zumutbarkeitsschwelle der Kommunikation überwanden. Im Medium der Gottesliebe wurden die gesellschaftlich Geächteten zu achtenswerten Personen und im Dienst an Gott (Agape, Caritas) zu Adressaten der Pflegekommunikation (»Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt Ihr mir getan.«) in Form der Armenpflege (vgl. Rohde 1962, 63ff.). Das Inklusionsrisiko der ungepflegten Selbstdarstellung wurde gleichsam auf Armut zurückgeführt und strukturell durch ein Armutsgelübde kopiert sowie eine religiöse Sondermoral aufgefangen, die sich an der Differenz von Immanenz und Transzendenz orientierte, welche dem Pflegecode gepflegt/ungepflegt übergeordnet blieb (vgl. Hohm 2002, 19ff.).
Die für moderne funktional differenzierte Gesellschaften bedeutsame Frage lautet nun: Wie kann es zur Ausdifferenzierung eines Pflegesystems mit einem Pflegecode kommen, wenn zum einen die religiös gebundene Ordenspflege rückläufig ist, zum anderen das Inklusionsrisiko einer ungepflegten Selbstdarstellung nicht mehr nur auf Armut zurückführbar ist, das zudem weitgehend vom Funktionssystem Sozialer Hilfe und den sozialpflegerischen Berufen übernommen wird (Hohm 2011, 89ff.)? •
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Offensichtlich muss die interaktive Ausgangskonstellation, die die Wahrscheinlichkeit der Pflegekommunikation unwahrscheinlich macht, sich in der Weise ändern, dass das Risiko einer ungepflegten Selbstdarstellung zugleich universalisiert und spezifiziert wird. Das bedeutet, dass es potenziell jeden treffen kann, die Anlässe aber nicht beliebig, sondern besondere sind, nämlich Krankheit, Behinderung, Unfälle und Alter. Sachlich bezieht sich der potenzielle Anlass also auf die gerade angeführten Ursachen. Sozial auf potenziell jeden der Bevölkerung und zeitlich auf die Zukunft, die in der Gegenwart als Risiko antizipiert wird. Entscheidend ist also für die interaktive Ausgangskonstellation, dass die Inklusion im Sinne einer gepflegten Selbstdarstellung dann unmöglich wird, wenn die von Krankheit und Behinderung betroffene Person sich als jemand wahrnimmt, der sich nicht, nicht mehr oder noch nicht als gepflegte Person darstellen kann. Eine radikalere Version könnte man auch so formulieren, dass die Unwahrscheinlichkeit der Ausgangskonstellation darin besteht, dass eine Interaktion vorliegt, in der eine Person, unabhängig von seinem eigenen Erleben, als jemand wahrgenommen wird, der sich nicht mehr als gepflegte Person präsentieren kann. Man denke hier an bewusstlose Personen, irreversibel geistig behinderte Personen, Sterbende oder Kleinkinder. Eine soziologische Fremdbeobachtung des Pflegesystems, aber auch eine Selbstbeobachtung des Pflegesystems muss diese Fallkonstellationen der Schwerstpflegebedürftigkeit mit einbeziehen, ohne sie als die einzigen oder dominanten Pflegefälle zu generalisieren, will sie nicht bestimmte Adressaten des Pflegesystems vorab aus den Blick verlieren (vgl. dazu auch Ketzer 2015, 23).
3. Funktionssysteme
Die Differenz gepflegt/ungepflegt der Körperpflege, so unser Fazit, lässt sich •
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zunächst am ehesten mit Sozialpflege bzw. Armenpflege verknüpfen. Die äußere Erscheinung der Person wird dabei kausal ihrer sozial deprivierten Lebenslage attribuiert. Die unreine bzw. schmutzige Erscheinung des Körperbildes verweist auf Verwahrlosungstendenzen und Exklusionen der betreffenden Personen in Bezug auf zentrale Funktionssysteme. Es stehen die Regeneration der Zahlungsfähigkeit der betroffenen Personen durch Vermittlung in den Arbeitsmarkt, aber auch Formen der Personenveränderung durch entsprechende Therapieangebote im Zentrum. Man könnte auch formulieren, die Differenz gepflegt/ungepflegt ist hier eng an Formen sozialer Ungleichheit und Negativkarrieren durch vielfältigen Ausschluss aus zentralen Funktionssystemen gebunden. Gleichwohl lässt sich als Zweites festhalten, dass die Codierung gepflegt/ungepflegt durchaus auch auf die Kranken-, psychiatrische und Altenpflege bezogen werden kann, wenn der Negativwert ungepflegt das Resultat von Krankheit, Behinderung, Unfall oder Alter ist und damit die Inklusion ins Pflegesystem nach sich zieht. Man kann dann den Code pflegefähig/pflegeunfähig als inneren Pflegekreislauf und den äußeren Kreislauf mit gepflegt/ungepflegt statt pflegebedürftig/nicht pflegebedürftig bezeichnen. Wenn wir die Unwahrscheinlichkeit der Ausgangskonstellation der Pflege darin sehen, dass die Person als eine wahrgenommen wird, die sich in graduell unterschiedlicher Weise nicht selbst pflegen kann, wird die Schwelle hin zur Pflegekommunikation dann überschritten, wenn der Körper der Person durch Handeln des ihn beobachtenden Pflegenden beeinflusst werden soll und kann. Dieser legitimiert seine Intervention dadurch, dass sein Adressat aufgrund von Krankheit, Behinderung, Unfall oder Alter seinen eigenen Körper nicht in mehr in der Weise pflegen kann, die für die problemlose Teilnahme an den gesellschaftlichen Teilsystemen Voraussetzung ist. Grundpflege unterscheidet sich dann von Behandlungspflege dahingehend, dass sie auf elementare Körperoperationen abstellt, bezogen auf die der Körper einer Person sich als gepflegt/ungepflegt präsentiert. D.h. hier geht es um gewaschen/ungewaschen, gekämmt/ungekämmt, saubere Kleidung/unsaubere Kleidung, guter Geruch/schlechter Geruch etc. Wie immer man die Wahrnehmungsschemata des Körpers weiter ausdifferenziert, geht es bei den Operationen der Grundpflege gleichsam um gewohnheitsmäßige Beobachtungen, die ein Prozessieren von Unterscheidungen implizieren. Dabei ist der Körper das Medium, dem gewisse Formen durch eigene Operationen des Handelns und Erlebens imprägniert werden. Körperpflege als ein Teil der Grundpflege fungiert im Normalfall jenseits des Pflegesystems als eine Basisoperation, die als Herstellung der Darstellung im Modus der Selbstbeobachtung abläuft und die Anwesenheit Dritter ausschließt. Die Selbstdarstellung als gepflegte Person ist eine Form mit zwei Seiten, deren eine die ungepflegte abwesende Unperson und die andere Seite die gepflegte anwesende Person ist. (vgl. zum formtheoretischen Ansatz der Person Luhmann 1995a. Zu weiteren soziologischen Ansätzen der Person bei Luhmann siehe Hohm 2015). Dabei finden die Operationen der Self-Care im Kontext der Privat- und Intimsphäre der Wohnung,
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
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besonders dem Badezimmer, als Backstage statt, während die Frontstage durch Inklusion des gepflegten Körpers in Funktionssysteme repräsentiert wird. Es handelt es sich um eine Form der Selbstbeobachtung, die zwischen Erleben und Handeln oszilliert. Die Pflegehandlungen verkörpern hierbei eine Sequenz von Operationen, die vorwiegend an der Haut als Außenseite des Körpers vollzogen und von der Psyche durch Schemata wie angenehm/unangenehm, wohltuend/belastend, sauber/unsauber etc. erlebt werden. Die Herstellung der Darstellung erfolgt unter Rücksichtnahme auf die zukünftige Beobachtung durch andere, wobei der Spiegel oftmals als Hilfs- und Kontrollmittel fungiert. Die Kriterien der Pflegequalität divergieren durchaus, je nachdem welche Eigensozialisation die Personen durchlaufen haben und welchem Milieu sie alltagsästhetisch angehören (vgl. dazu Schulze 1993). So mag für die eine Personengruppe tägliches Duschen, täglicher Wechsel der Unterwäsche, Waschen mit Dusch-Gel etc. angesagt sein, während andere Personengruppen anders optieren.
3. Sieht man all dies auf einen Blick, dann wird die Unwahrscheinlichkeit der Ausdifferenzierung der Pflegekommunikation u.a. daran deutlich, dass mit der Substitution der selbständig durchgeführten Grundpflege durch andere Personen bzw. Rollenträger die Intimität der Herstellung der Darstellung eines gepflegten Körpers der Person aufgehoben wird. Eine strukturelle Voraussetzung zur Ausdifferenzierung der Pflegekommunikation des Pflegesystems ist somit die Ersetzung der Selfcare im Kontext der familialen Intimität und Privatsphäre durch das Pflegehandeln des Pflegepersonals im Kontext der Pflegeorganisationen (vgl. dazu bereits Rohde 1962, 289). Im Unterschied zur Haarpflege, Fußpflege, Schönheitspflege oder Rückenpflege besteht die Ausdifferenzierung der Kranken-, Alten- oder psychiatrischen Pflege etc. nun darin, dass der Ersatz der eigener Pflegeoperationen durch Dritte nicht im Modus der Möglichkeit – wie im Falle des Kunden bei den anderen Angeboten der Pflege – erfolgt, sondern zur Notwendigkeit aufgrund von Krankheit, Behinderung, Verunfallung oder Alter wird. Die eigene Fähigkeit zur Körperpflege wird damit kontingent. Das Pflegesystem übernimmt die Herstellung und Darstellung der gepflegten Person. Es entscheidet anhand seines Pflegecodes und seiner Programme darüber, wie pflegeunfähig der Patient ist und welcher Grad des Pflegebedarfs bzw. des Ungepflegtseins vorliegt. Dabei oszilliert das Pflegesystem – wie die Zahlungsfähigkeit/Zahlungsunfähigkeit des Wirtschaftssystems hinsichtlich der Konsumbedürfnisse – zwischen Überfluss und Knappheit der Pflegefähigkeit in dem Maße, in dem die Pflegebedürftigkeit bzw. das Ungepflegtsein durch Self-Care der Patienten ab- oder zunimmt. Im Grenzfall der Bettlägerigkeit nach einer größeren Operation übernimmt das Pflegesystem nahezu alle Pflegeverrichtungen. In Fällen fortgeschrittener Regeneration überlässt sie diese als aktivierende Pflege immer mehr dem Patienten. Entsprechend variiert auch der Grad des Pflegebedarfs/des Ungepflegtseins. Beobachten lässt sich dies an der Pflegedokumentation, deren Eintragungen in dem Maße abnehmen, in dem die Pflegefähigkeit des Patienten zunimmt und umgekehrt. Man kann dies auch aus der Perspektive des Pflegebedürftigen/Ungepflegten als Heteronomie und Autonomie der
3. Funktionssysteme
Pflege begreifen, wobei die Pflegekommunikation im Kontext des Pflegesystems jeweils beendet wird, wenn der Pflegebedürftige bzw. Ungepflegte seine Autonomie, sprich Selfcare, wiedererlangt hat, oder trotz aller Pflegehandlungen des Pflegesystems stirbt. Es lässt sich somit konstatieren, dass das Pflegesystem solange als rekursives Netzwerk der Pflegekommunikation kontinuiert, solange durch Krankheit, Behinderung, Verunfallung und Alter immer wieder Bedarf an Pflegefähigkeit durch kranke, behinderte, verunfallte und alte Menschen erzeugt wird. Die Evolution des Pflegesystems erfolgt durch Variation, Selektion und Restabilisierung seiner Strukturen (Programme, Rollen) und Semantik als selbstsubstitutive Ordnung (vgl. dazu allgemein Luhmann 1997b, Bd.1, 413ff.; Luhmann 1980a; in Bezug auf die Pflege Hohm 2002, 15ff.). Das bedeutet, dass es letztlich nur selbst den Austausch seiner Strukturen und seiner Semantik realisieren kann, sollen die mit ihnen verbundenen Erwartungen im Pflegesystem Anschlussfähigkeit erzeugen können. Dabei stellen die Erwerbskarrieren des Pflegepersonals und die Patientenkarrieren der pflegebedürftigen Personen Episoden der autopoietischen Reproduktion des Pflegesystems dar (vgl. Gerhardt 1986 zur krankheitsorientierten Patientenkarriere bei chronischem Nierenversagen ohne engeren Bezug zum Pflegesystem; zur Pflegekarriere des Personals und der pflegebedürftigen Patienten vgl. Ostner/Beck-Gernsheim 1979; Ostner/Krutwa-Schott 1981; Rabe-Kleberg u.a. 1991; Hohm 1996; Hohm 2002, 92ff.; Borutta/ Giesler 2006).
3.6.4
Ausdifferenzierung der Pflegekommunikation und erste Überlegungen zur Funktion des Pflegesystems
Wenn wir von Ausdifferenzierung der Pflegekommunikation sprechen, dann müssen Beobachtungsoperationen erster und zweiter Ordnung in einem rekursiven Netzwerk der Pflegekommunikation identifizierbar sein, die diese von der übrigen Umwelt zu unterscheiden erlauben (vgl. Luhmann 1997b, Bd. 2, 374ff.; 766ff. zur Differenz von Beobachtung erster und zweiter Ordnung hinsichtlich unterschiedlicher Funktionssysteme). Beginnt man mit der Beobachtung erster Ordnung, so operiert diese mit einer Unterscheidung, die sich als Pflegeoperation dadurch identifizieren lässt, dass sie sich, sei es als Handlung, sei es als Erleben, auf den Körper einer zu pflegenden Person bezieht. Soll die Pflegeoperation identifizierbar sein, muss sie wiederholt in verschiedenen Situationen vorkommen, d.h. ihren Sinn durch Konfirmierung generalisieren und ihn der Situation durch Kondensierung flexibel anpassen können, ohne ihre Identität zu verlieren. In Bezug auf Pflegeoperationen gehört zu diesen Beobachtungen erster Ordnung z.B. die Rollendifferenzierung Pflegepersonal/Pflegebedürftige, die Unterscheidung in Grund-und Behandlungspflege, der menschliche Körper der zu Pflegenden und ein bestimmter raumzeitlich getrennter Kontext wie Krankenhäuser oder Altenpflegeheime. Eine Beobachtung erster Ordnung liegt dann vor, wenn die Unterscheidungen und Bezeichnungen, die der Pflegeoperation zugrunde liegen, so vollzogen werden, dass die Kontingenz, die mit der anderen Seite der Bezeichnung gegeben ist, beim Vollzug der Pflegeoperationen ausgeklammert wird, indem man bei der bezeichneten Seite verweilt. Man pflegt so wie man pflegt im Unterschied zu allem anderen in der Welt. Man wäscht, lagert, mobilisiert diesen Patienten und keinen anderen.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Dies ändert sich dann, wenn die Pflegeoperationen von der Beobachtung erster zur Beobachtung zweiter Ordnung überwechseln, d.h. wenn man im System oder von einem anderen System aus beobachtet, wie man beobachtet. Die Reduktion der Komplexität wird dann in Kontingenz transformiert und man sieht nicht nur die eine Seite der Unterscheidung, die man bezeichnet, sondern die andere Seite der Unterscheidung wird mitkommuniziert bzw. wird zusätzlich bewusst Für die Pflegeoperationen impliziert dies, dass ihre Unterscheidungen berücksichtigen, dass sie sich entweder durch Anwesende oder Abwesende des Pflegesystems oder durch seine Umwelt bei ihren Beobachtungen der Beobachtung durch andere ausgesetzt sehen. Der Pflegende vollzieht dementsprechend seine Pflegeoperationen im Hinblick auf deren unmittelbare Beobachtung durch anwesende Kollegen oder im Falle ihrer Abwesenheit durch deren potenzielle Beobachtung, z.B. im Falle der Pflegedokumentation. Erfolgen die Pflegeoperationen im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung, wird die andere Seite der Bezeichnung gleichsam reflexiv als Erfolgskontrolle mitgesehen. Andererseits gilt, dass auch die Beobachtung zweiter Ordnung nur dann anschlussfähig ist, wenn sie nicht beide Seiten der Unterscheidung gleichzeitig bezeichnet. So kann man z.B. nicht simultan waschen und nicht waschen, wenn es um die Pflege eines einzelnen Patienten geht. Wenn wir von der Ausdifferenzierung der Pflegekommunikation bzw. des Pflegesystems sprechen, setzen wir voraus, dass die moderne Gesellschaft durch den Primat der funktionalen Differenzierung gekennzeichnet ist. Das impliziert, dass sich das umfassende System Weltgesellschaft (vgl. Luhmann 1975e; Stichweh 2000; Luhmann 1997b, Bd.1, 145ff.) durchgesetzt und in Teil- bzw. Funktionssysteme ausdifferenziert hat (siehe Luhmann 1997b, Bd. 2, 707ff.). Jedes von ihnen erhält seine äußere Grenze durch das autopoietische System der Weltgesellschaft und ist als autopoietisches System in dieses durch Ausschließung der anderen Funktionssysteme eingeschlossen. Die Weltgesellschaft reproduziert sich somit als paradoxe Einheit einer Differenz von Teilsystemen, die wiederum je für sich als gesellschaftliche Funktionssysteme die Einheit der umfassenden Gesellschaft in zugleich universeller und spezifischer Weise reproduzieren. So wiederholen sie die Ausdifferenzierung der Gesamtgesellschaft gegenüber der gesellschaftsexternen Umwelt in der Gesellschaft, indem sie sich auf diese durch ihre je spezifische Funktion beziehen und sich zugleich von allen anderen Teilsystemen abgrenzen, die für sie zur gesellschaftsinternen Umwelt gehören. Sie vollziehen mithin gesellschaftliche Kommunikation in je spezifischer Weise und werden zum Fremdbeobachter der gesellschaftsinternen Umwelt, in der sie als Teilsystem nicht noch einmal selbst vorkommen und zum Selbstbeobachter in Bezug auf sich selbst. Trotz dieser Grenzziehung sind sie hoch integriert, indem sie wechselseitig auf die Funktionserfüllung und Leistung der anderen Teilsysteme angewiesen sind. Damit wir die Pflege als Teil- bzw. Funktionssystem bezeichnen können, muss man angeben können, welches die spezifische Funktion ist, die seine Ausdifferenzierung mit entsprechender Pflegekommunikation notwendig macht. Wie wir bereits im Zusammenhang mit dem Pflegecode gesehen haben, handelt es sich bei dieser Funktion offensichtlich um eine, die auf die gesellschaftsexterne Umwelt in Form des pflegebedürftigen Menschen bezogen werden kann und mit der Umstellung der Gesellschaft von stratifizierter auf funktionale Differenzierung an Relevanz gewinnt.
3. Funktionssysteme
Mit dieser entfallen zum einen die strukturellen Voraussetzungen von Sozialsystemen, die wie das ganze Haus, der Familienhaushalt oder die Schicht multifunktionale Problemlösungen darstellen. Und zum anderen kommt es zur Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, die potenziell jedermann durch Inklusion – zumindest in den Modernisierungszentren – die Teilnahme an ihnen mit ihrer jeweils exklusiven Funktion ermöglichen. Hinzu kommt, dass die Weltgesellschaft und ihre Funktionssysteme es zunehmend mit gesellschaftsexternen Problemen zu tun bekommen, seien es solche der äußeren Natur, seien es solche der Menschen als organisch-psychischer Systeme. Dabei handelt es sich um Effekte ihrer kommunikative Eigendynamik auf ihre systemexterne Umwelt, die auf sie als Probleme zurückwirken (vgl. Luhmann 1986). Besonders trifft dies auf die organisch-psychischen Systeme der Menschen zu. Diese werden vor allem in den Modernisierungszentren durch gesellschaftlich induzierte Tempoanforderungen und erhöhte konfligierende Rollenanforderungen, demographische Veränderungen im Sinne einer immer älter werdenden Bevölkerung, Risiken von Hochleistungstechnologien, Migrationsbewegungen, dramatische Veränderungen der Intimsysteme, durch Zivilisationskrankheiten, Stressphänome, Unfälle, genetische Defekte und Behinderungen betroffen. Dies führt zu verstärkten Irritationen der gesellschaftlichen Funktionssysteme durch den Menschen, gleichzeitig aber auch zur je spezifischen kommunikativen Berücksichtigung seiner erhöhten Ansprüche (vgl. Hohm 2016, 221ff.) Die Ausdifferenzierung eines spezifischen Funktionssystems der Pflege wird evolutionär umso wahrscheinlicher, umso mehr auch andere gesellschaftliche Probleme nicht mehr multifunktional, sondern exklusiv durch Funktionssysteme monopolisiert und gelöst werden. Hinzukommen muss jedoch noch Mehreres. •
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Zunächst muss eine hinreichende Anzahl von Menschen aus den genannten Gründen der Eigendynamik der gesellschaftlichen Funktionssysteme durch Krankheit, Unfälle, Behinderung, Alter temporär oder auf Dauer nicht mehr in der Lage sein, seinen Körper selbständig zu kontrollieren bzw. zu pflegen und insofern ein Inklusionsrisiko für diese darstellen. Ferner müssen die Anlässe, die zum Inklusionsrisiko der Pflegebedürftigkeit führen, als gesellschaftlich induziert, aber in Bezug auf die einzelne Person als kontingent wahrgenommen werden. Des Weiteren muss die Mehrzahl der bestehenden Funktionssysteme das Inklusionsrisiko durch ihre Funktionserfüllung nicht mitbetreuen können, aber durchaus zu Leistungen im Hinblick auf die Pflegebedürftigkeit bereit sein. Darüber hinaus muss es bereits Teilsysteme gegeben haben bzw. geben, die das Inklusionsrisiko mitgetragen haben bzw. mittragen. Schließlich muss sich eine gesellschaftliche Semantik von Gleichheit und Freiheit sukzessive als Menschenrecht durchsetzen, die sich auf die Gesamtbevölkerung bezieht und nicht nur die temporär notwendige Exklusion, sondern auch die dauerhafte Exklusion aus relevanten Funktionssystemen bei Pflegebedarf als Recht der betroffenen Personen anerkennt und nicht mit moralischer Verachtung und Marginalisierung verknüpft.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Sieht man all diese Voraussetzungen auf einen Blick, so wird deutlich, dass die Ausdifferenzierung des Pflegesystems eine evolutionär unwahrscheinliche und späte gesellschaftsstrukturelle Angelegenheit ist, die es rechtfertigt, von der Etablierung eines sekundären Funktionssystems zu sprechen (vgl. Hohm 2002) Grob lässt sich für den modernen deutschen Entwicklungspfad Folgendes konstatieren (siehe Hohm 2002, 15ff.). Erste Anläufe zur Ausdifferenzierung des Pflegesystems wurden zunächst auf der Organisationsebene des Religionssystems und im Rahmen caritativer Organisationen realisiert (vgl. Rohde 1962, 63ff.). Gleichwohl dominierten die Familienhaushalte noch als Orte der Pflege. Daraufhin folgte die Anlehnung der Pflege an den Staat und das Medizinsystem, wobei besonders die strukturelle Kopplung an dieses bis heute vorherrscht. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts kommt es in selektiver Weise und in verstärktem Maße zur Anlehnung an das Wissenschaftssystem und den Wohlfahrtsstaat des politischen Systems. Mit dessen Finanzkrise wird die Anlehnung an das Wirtschaftssystem mit dem Ziel der Effizienz- und Effektivitätssteigerung der Pflege vorangetrieben (Hohm 2001, 8) und die stärkere finanzielle Unterstützung der familialen Pflege mit dem Ziel ambulant vor stationär forciert. Gleichzeitig werden durch Stärkung der Rechte bisheriger Minderheiten bestimmte Teilgruppen der Pflege, besonders die Kinder, Alten, Behinderten und psychisch Kranken, vermehrt ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. In einer zugestanden groben Zusammenfassung der evolutionären Entwicklung des Bezugsproblems der Pflege lässt sich konstatieren, dass •
bei der Anlehnung an das Religionssystem die Armenpflege dominierte, mit der Orientierung am Medizinsystem die Krankenpflege ins Zentrum rückte und mit der engeren Kopplung an die sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen des Wissenschaftssystems und das Sozialversicherungssystem, flankiert von der Betonung der Menschenrechte, die Kinder-, Alten- und Behindertenpflege stärker berücksichtigt wurde. Zugleich wurde durch die Finanzkrise des Sozialstaates die strukturelle Kopplung an das Wirtschaftssystem durch Marktöffnung und Verbetrieblichung vollzogen und die Effektivität und Effizienz auf allen Organisationsebenen des Pflegesystems zu steigern versucht.
Im Anschluss an die funktionalistische Bestimmung des Bezugsproblems (vgl. dazu generell Luhmann 1984, 30ff.), die besagt, dass es funktional äquivalente Problemlösungen gibt und zwischen Selbstbeobachtung und soziologischer Fremdbeobachtung im Hinblick auf das Bezugsproblem unterscheidet, lassen sich folgende Schlussfolgerungen anführen: •
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Es geht darum, dass Bezugsproblem weder zu eng noch zu weit zu fassen. Wählt man es zu eng, kommen zu wenig Vergleichsmöglichkeiten in den Blick, fasst man es zu weit, zu viel. Unterscheidet man zwischen Selbst- und Fremdbeobachtung, ist es wahrscheinlich, dass die Funktionseliten bzw. Reflexionseliten das Bezugsproblem des Pflegesys-
3. Funktionssysteme
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tems zu eng sehen, während die Fremdbeobachter es zu weit fassen. Geht man z.B. im Pflegesystem davon aus, dass das Bezugsproblem der Pflege die somatisch orientierte Krankenpflege ist, während der Fremdbeobachter das Bezugsproblem in der Prävention sieht (vgl. Bauch 2005; Michaelis 2005, 270ff.), werden andere Problemlösungen möglich, von denen jedoch offenbleibt, ob sie im Pflegesystem operativ anschlussfähig sind. Ausgehend von der Differenz von Selbst- und Fremdbeobachtung und der Differenz von Problem und Problemlösungen kann man einige aktuelle Diskussionen um die Ausdifferenzierung des Pflegesystems neu betrachten, z.B. die pflegewissenschaftliche Reflexion als Selbstbeobachtung des Pflegesystems (Pflegetheorien, Lehrbücher) und die Fremdbeobachtung des Pflegesystems, z.B. durch die Systemtheorie der Wissenschaft. So lässt sich z.B. fragen, was es für den Pflegecode bedeutet, wenn das Bezugsproblem der Pflege im Pflegesystem von akuter bzw. reaktiver Pflege (=eingetretene Pflegebedürftigkeit) auf präventive Pflege (=zu vermeidende Pflegebedürftigkeit) umgestellt werden sollte, folglich das Vorher (Vergangenheit) durch das Nachher (Zukunft) substituiert würde (vgl. Michaelis 2005, 270ff.). Oder welche Folgen es für das Pflegesystem hat, wenn die somatische durch die ganzheitliche Pflege bzw. Beziehungspflege ersetzt werden soll, die den Menschen als organischpsychisches System und Person thematisiert (vgl. Michaelis 2005, 271 und 273 zu einem »ganzheitlich orientierten Pflegesystem«). Man kann die Frage zu beantworten versuchen, ob die Möglichkeit/Unmöglichkeit der Formulierung des Bezugsproblems bzw. der Funktion des Pflegesystems nicht auch etwas darüber aussagt, inwieweit das Pflegesystem überhaupt ein autonomes und sich selbstorganisierendes System repräsentiert (vgl. Bauch 2005, 75, der das mit der Nähe der Behandlungspflege zum Medizinsystem und der Grundpflege zum Alltagshandeln bezweifelt. Bette 2005, 169 und Werron 2010, 40–41 sehen ähnliche Probleme bei der Funktionsbestimmung des Spitzensports.). Man kann vermuten, dass sich die Reformreflexionen je nachdem unterscheiden, wie das Bezugsproblem gewählt wird, und ob ein selbständiger Pflegecode im Unterschied zu den anderen Codes der Funktionssysteme unterstellt wird oder nicht (vgl. Bauch 2005, 77, der in der Kopplung mit dem basalen Code des Gesundheitssystems krank/gesund den Grund dafür sieht, dass »das Pflegesystem eben nicht über einen eigenen ausdifferenzierten Code verfügt.«).
3.6.5
Funktion, Leistungen, Reflexion des Pflegesystems und Kontingenzformel
1. Wir wollen am Anfang dieses Kapitels die Beantwortung der Frage vertiefen, was das gesellschaftliche Bezugsproblem bzw. die Funktion ist (vgl. generell zur Relation von System und Funktion Luhmann 1984, 30ff.), durch das sich das Funktionssystem der Pflege von anderen Funktionssystemen unterscheidet und welche funktional äquivalenten Problemlösungen es für dieses Bezugsproblem gibt. Zunächst gilt generell, dass es sich aus systemtheoretischer Perspektive, also aus der eines sozialwissenschaftlichen Fremdbeobachters, um ein Bezugsproblem handelt, das sich auf die gesellschaftsexterne Umwelt als Referenz bezieht: den Menschen.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Mit dieser ersten Präzisierung des Bezugsproblems als Umweltproblem des Pflegesystems ist schon eine Differenz zwischen sozialen und organisch-psychischen bzw. mentalen Systemen unterstellt, der diejenigen nicht zustimmen können, die annehmen, dass die Gesellschaft und damit auch das Pflegesystem aus Menschen als ihren Teilen besteht (vgl. Luhmann 1997b, Bd. 1, 29ff.). Dass diese Vorstellung nicht zutreffen kann, kann man sich dadurch schnell klarmachen, •
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dass in diesem Fall die Menschen nur jeweils einem System zugeordnet wären, z.B. einige dem Pflegesystem, andere dem Wirtschaftssystem und wiederum andere dem politischen System etc. Damit würde man die Menschen in Pflegemenschen, Wirtschaftsmenschen, politische Menschen etc. unterteilen und unterschlagen, dass sie sich normalerweise zeitlich nicht nur in einem Sozialsystem aufhalten, sich sachlich nicht nur mit einem Thema beschäftigen, sozial nicht nur mit anderen Menschen eines Systems kommunizieren und sich räumlich nicht nur an einem Ort aufhalten. Zudem kann diese Vorstellung der Kopplung von Gesellschaft und Menschen nicht erklären, wie es kommt, dass die Menschen im Pflegesystem kommen und gehen, sprich sowohl auf der Seite der Pflegenden als auf der der Pflegebedürftigen über Generationen hinweg ersetzt werden, und es trotzdem weiter operiert und existiert. Schließlich stellt sich die Frage, wie sich die paradoxe Einheit der Differenz von ganzem Menschen und Pflegemensch erklären lässt. Ist er der ganze Mensch, dann ist er nicht nur der Pflegemensch und umgekehrt. Im Übrigen ist mit dieser humanistischen Vorstellung des Pflegesystems das Risiko einer totalitären Beobachtung der Relation von Gesellschaft und Mensch bzw. Pflegesystem und Mensch verbunden, die diesem jedwede Option für ein anderes System nimmt. Es kommt dann nicht von ungefähr, dass gerade die Subsysteme des Pflegesystems, nämlich Pflege- und Behindertenheime (vgl. Koch-Straube 1997), also sogenannte totale Institutionen (vgl. Goffman 1977, 15ff.), in denen der zu pflegende Mensch auf Dauer und irreversibel als Insasse total inkludiert wird, wiederholt kritisiert werden (vgl. Ziemann 1998).
Lehnt man als systemtheoretischer Fremdbeobachter eine humanistische Konzeption des Pflegesystems und seines Bezugsproblems ab, die ihre inhumanen Folgeprobleme übersieht, dann bleibt gleichwohl die Frage offen, wie das Bezugsproblem als gesellschaftsexternes Problem näher zu bestimmen ist. Begreift man das Pflegesystem als soziales System, das sich durch Pflegekommunikation von anderen Kommunikationsformen seiner Umwelt unterscheidet und dadurch schließt, lässt sich sein Bezugsproblem in einem ersten abstrakten Anlauf so fassen, dass die Pflegekommunikation Personen adressiert, deren Körper im Rahmen der gesellschaftlichen Kommunikation der übrigen Funktionssysteme bewusst als ein Inklusionsrisiko wahrgenommen und als ein solches kommunikativ thematisiert werden. Fasst man das Bezugsproblem so weit, dann steckt die entscheidende Variable, die den Bereich der funktional äquivalenten Problemlösungen und damit die Ausdifferen-
3. Funktionssysteme
zierung eines eigenständigen Pflegesystems limitiert, in der begrifflichen Präzisierung des körperlichen Inklusionsrisikos einer Person. •
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Unterscheidet man Risiko von Gefahr und bezieht beide Begriffe auf die Möglichkeit der Unsicherheit durch einen zukünftig eintretenden Schaden (Luhmann 1991, 9ff.; bes. 30–31), dann impliziert die kommunikative Attribuierung des Körpers einer Person als Risiko, dass man ihr unterstellt, dass sie mit diesem andere oder sich selbst durch körperbezogene Entscheidungen schädigen kann. Wohingegen die Attribuierung eines Körpers einer Person als Gefahr bedeutet, dass von ihm Schaden auch dann ausgehen kann, wenn sie keine Entscheidung trifft. An dieser Unterscheidung wird deutlich, dass das Bezugsproblem zu abstrakt gewählt ist, wenn es den Körperbezug nicht genauer präzisiert. So kann z.B. die Gefährdung Dritter bei Demonstrationen durch den Protest- oder Gewaltkörper protestierender Personen die Polizei auf den Plan rufen, oder die Präsentation eines nackten Körpers in einem deplatzierten Kontext die Skandalisierung durch die Berichterstattung der Massenmedien auslösen. Wir müssen folglich das Inklusionsrisiko durch den Körper einschränken, wenn deutlich werden soll, was das Bezugsproblem der Pflege ist und funktional äquivalente Problemlösungen in den Blick kommen sollen.
Wenn wir das Inklusionsrisiko des Körpers als Wahrnehmung und Kommunikation von Krankheit, Behinderung, Verunfallung und Alter respezifizieren, können wir in einem ersten Zwischenschritt das Bezugsproblem bzw. die Funktion der Pflege präziser bestimmen. Der Take-off für die Ausdifferenzierung des Pflegesystems ist nämlich dann gegeben, wenn die Fortsetzung der funktionssystemspezifische Kommunikation der übrigen Teilsysteme deswegen unsicher wird, weil die Personen die an sie adressierten rollenspezifischen Erwartungen aufgrund von Krankheit, Behinderung, Verunfallung und Alter nicht mehr erfüllen können und somit den jeweiligen Funktionssystemen Schaden durch ihre Entscheidungen oder Nichtentscheidungen zufügen können. Doch reicht selbst diese Spezifikation des Bezugsproblems der Pflege noch nicht aus, sofern der pflegebedürftige Körper und nicht der kranke, behinderte, verunfallte oder alte Körper ein Inklusionsrisiko im Kontext der übrigen Funktionssysteme darstellen soll. Im Kern geht es somit darum, dass das Inklusionsrisiko des pflegebedürftigen Körpers von Personen sich daraus ergibt, dass sie aufgrund von Krankheit, Behinderung, Unfall und Alter zentrale Pflegeoperationen nicht mehr selbst durchführen können, sondern temporär oder auf Dauer auf andere Personen angewiesen sind, die sie pflegen. Die Wahrscheinlichkeit der Fremdexklusion der pflegebedürftigen Person durch die jeweiligen Funktionssysteme erhöht sich damit ebenso wie die Notwendigkeit der Ausdifferenzierung des Pflegesystems, das die gesellschaftliche Funktion der Inklusion der pflegebedürftigen Exkludierten durch pflegekompetente Substitution der Selfcare übernimmt. Zusammenfassend lässt sich Folgendes konstatieren: Das Bezugsproblem bzw. die Funktion des Pflegesystems besteht darin, dass ein konstantes Inklusionsrisiko der Pflegebedürftigkeit im Kontext der übrigen gesellschaftlichen Funktionssysteme durch be-
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stimmte, jedoch nicht eindeutig prognostizierbare Personengruppen der Gesamtbevölkerung aufgrund von Krankheit, Behinderung, Unfall und Alter entsteht. Es hindert diese daran, temporär oder auf Dauer bestimmte Formen körperlicher Wahrnehmung oder körperlichen Handelns durchzuführen, die für die selbständige und verantwortliche rollenspezifische Inklusion in die Funktionssysteme notwendig sind. Da diese jedoch auf die möglichst reibungslose strukturelle Kopplung mit den organisch-psychischen Systemen der Personen durch Karrieren (vgl. Luhmann 1989b, 232ff.) angewiesen sind, entsteht der Bedarf für ein weiteres gesellschaftliches Teilsystem, das Pflegesystem, dessen Funktion auf die Pflegebedürftigkeit zugeschnitten ist. Diese wird in dem Maße zwingender, in dem zum einen die Familienhaushalte die Pflegekommunikation nicht mehr dauerhaft erbringen können und zum anderen die Reinklusion in die funktionssystemspezifischen Beschäftigungssysteme zunächst der erwerbstätigen Männer und danach der erwerbstätigen Frauen für die ökonomische Reproduktion der Familienhaushalte zunehmend bedeutender wird. Hinzu kommt, dass das Medizinsystem auf die Ausdifferenzierung eines Pflegesystems verstärkt angewiesen ist, da es die »Alltagsaktivitäten« (=Grundpflege) nicht mehr mitbedienen kann. Ferner wächst der wohlfahrtsstaatliche und verfassungsrechtliche Druck, auch diejenigen Teile der Bevölkerung nicht sich selbst zu überlassen und in den Exklusionsbereich der Gesellschaft abdriften zu lassen, die noch nicht oder nicht mehr erwerbsfähig oder dauerhaft erwerbsunfähig sind. Die Differenz von Zentrum und Peripherie des Pflegesystems, d.h. die systeminterne Relation von Krankenhauspflege als Zentrum in Relation zur Alten-, Behindertenund psychiatrischen Pflege als Peripherie, gerät deshalb sowohl aus der Perspektive der Fremdbeobachtung als auch derjenigen der Selbstbeobachtung verstärkt in die Kritik. •
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Die Repräsentanten der beiden christlichen Konfessionen des Religionssystems, die durch die Pflegeorganisationen der beiden größten Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie – trotz der stark rückläufigen Zahl der klassischen Ordensschwestern und Diakonissen – die Entwicklung im Pflegesystem nach wie vor entscheidend mit beeinflussen, unterstützen im Zusammenspiel mit einem Teil der Pflegewissenschaftler qua Semantik der ganzheitlichen und patientenorientierten Pflege die stärkere Akzentuierung der Peripherie des Pflegesystems und Abgrenzung von der Medizin (vgl. Zimmermann u.a. 2012, 249ff.). Gleichzeitig expandiert das Pflegesystem, legitimiert qua politischer Programmformel des Primates der ambulanten Pflege, ins Familiensystem (vgl. Ketzer 2015, 18ff.). Schließlich führen die finanziellen Belastungsgrenzen des Wirtschaftssystems und politischen Systems dazu, dass man die Systemgrenzen des Pflegesystems in Richtung der stärkeren Anwendung betriebswirtschaftlichen Wissens öffnet und nicht nur im Zentrum mit der Formel der Kundenorientierung und Strukturelementen der profitorientierten Wirtschaftsunternehmen experimentiert (Ketzer 2015, 18ff. für die ambulante Pflege).
2. Unterscheidet man zwischen Funktion, Leistungen und Reflexion des Pflegesystems, so bezieht sich seine Funktion auf die Gesamtgesellschaft, die Leistungen auf Teilsyste-
3. Funktionssysteme
me in der Gesellschaft und seine Reflexion auf die Selbstbeschreibung des Pflegesystems (vgl. dazu generell Luhmann/Schorr 1979, 34ff.). Was zunächst die von uns bereits erörterte Funktion betrifft, so kann diese als Bezugsproblem und Problemlösung, also als Einheit von Problem und Problemlösung, für einen Fremdbeobachter anders ausfallen als für die Selbstbeobachter des Pflegesystems. •
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So kann z.B. eine neomarxistische Fremdbeobachtung die gesamtgesellschaftliche Funktion des Pflegesystems darin sehen, die pflegebedürftigen Patienten möglichst schnell wieder für das kapitalistisch organisierte Wirtschaftssystem fit zu machen. Oder kann eine feministische Fremdbeobachtung die gesamtgesellschaftliche Funktion des Pflegesystems daran festmachen, die Frauen als billige Arbeitskräfte in seine Pflegeorganisationen zu inkludieren.
Die Funktionsbestimmung hängt also im Wesentlichen davon ab, wie der Beobachter beobachtet und mit welchen theoretischen Interessen. Im Gegensatz zu den neomarxistischen und feministischen Funktionsbestimmungen halten wir daran fest, dass das gesellschaftliche Bezugsproblem des Pflegesystems bzw. seine Funktion darin besteht, die gesellschaftliche Inklusion für diejenigen Teile der Bevölkerung auch dann noch zu ermöglichen, wenn sie ein Inklusionsrisiko aufgrund eines Mangels an temporärer oder dauerhafter Selfcare und dadurch induzierter Pflegebedürftigkeit ihres Körpers für andere Funktionssysteme darstellen (vgl. Hohm 2002, 145ff.). Die Leistungen (vgl. Hohm 2002, 146–147) für die gesellschaftsinternen Umweltsysteme des Pflegesystems sind vielfältige. In Bezug auf die Intimsysteme basieren sie sowohl auf der Ermöglichung temporärer oder dauerhafter Inklusion der pflegebedürftigen Personen in die stationären Pflegeorganisationen als auch auf der partiellen ambulanten pflegerischen Unterstützung der Familien bzw. Single-Haushalte. Im Kern geht es dabei darum, die diversen Folgeprobleme zu reduzieren oder zu vermeiden, die auftreten, wenn die Intimsysteme und ihre Personen durch die Erbringung der Pflegeleistungen an ihre Leistungsgrenzen stoßen. Dabei kann es sich um monetäre, psycho-soziale und Probleme der vorübergehenden Berufsaufgabe der familial Pflegenden handeln, aber auch um Probleme der mangelnden Pflegekompetenz. Das Risiko der Transformation der Intimsysteme in Konfliktsysteme (vgl. zu diesen allgemein Luhmann 1984, 488ff.; Messmer 2003; Hohm 2016, 68ff.) mit negativen Folgen für die Intimkommunikation ist dann naheliegend. Je nach vorhergehender Systemgeschichte kann das Medium der Liebe dann rasch ins Medium der Macht und im Grenzfall der Anwendung von hasserfüllter Gewalt mutieren. Die Leistung des Pflegesystems für das Wirtschaftssystem ist darin zu sehen, dass es zu Kostenreduktionen dadurch beiträgt, dass wichtige Arbeitskräfte nicht zu lange absent sind und sich mittels ihrer wiedererlangter Pflegekompetenz in die jeweiligen Beschäftigungssektoren reinkludieren können. Zudem erzeugt es Bedarf an bestimmten Gütern (Heilhilfsmitteln, Techniken, Gebäuden etc.), die bestimmte Sektoren des Wirtschaftssystems in Investitionsprogramme und positive Bilanzen transformieren können. Für das politische System trägt es zur Legitimation bei, indem es den Akteuren des Wohlfahrtsstaates ermöglicht, darauf hinzuweisen, dass dessen Sozialpolitik auch diejenigen Teile der Gesamtbevölkerung durch eine Pflegeversicherung unterstützt, die mit
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dem Risiko der Pflegebedürftigkeit im Kontext ihres Lebenslaufs konfrontiert werden. Dass die Pflegebedürftigkeit als lebenslaufspezifisches Inklusionsrisiko im Gegensatz zu den Iebenslaufspezifischen Inklusionsrisiken Unfall, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Behinderung gesellschaftshistorisch am spätesten als zu versicherndes Inklusionsrisiko anerkannt wurde (vgl. Bäcker u.a. 2010), ist ein weiteres Indiz für die späte Ausdifferenzierung des Pflegesystems als sekundäres Funktionssystem. Schließlich ermöglicht das Pflegesystem dem Wissenschaftssystem Fachdisziplinen wie die Pflegewissenschaft, Pflegepädagogik, Pflegemanagement, Pflegeökonomie, Pflegesoziologie etc. (vgl. Schroeter/Rosenthal 2005b) zu etablieren, die wissenschaftliches Personal und Studierende rekrutieren, die sich in Forschung und Lehre mit der Fremdbeobachtung des Pflegesystems befassen (vgl. Winter 2005). Was die Reflexion im Sinne einer Selbstbeobachtung oder Selbstbeschreibung des Pflegesystems betrifft (Hohm 2002, 147ff.), so ist besonders das Pflegeestablishment darum bemüht, durch Pflegetheorien die Einheit des Pflegesystems zu thematisieren. Dabei hängt es nicht zuletzt davon ab, welche Funktion die Reflexionseliten im Pflegesystem einnehmen, ob sie sich primär mit Reformreflexionen oder mit Theorien befassen, die noch offenlassen, ob sie im Pflegesystem anschlussfähig sind. Grob gefasst geht es den Pflegewissenschaftlern primär um die stärkere strukturelle Kopplung des Wissenschaftssystems ans Pflegesystem, wobei die Strategie der selektiven Professionalisierung durch praxisorientierte Lehre und Forschung im Zentrum steht (vgl. Hohm 2001, 7). Zu einer Reflexion des Gesamtsystems der Pflege kommt es eher selten. Die Pflegemanager, ob akademisiert oder nicht, sind primär an der strukturellen Kopplung mit dem Wirtschaftssystem und seinen effektiven und effizienten Unternehmen interessiert. Dabei steht die Reorganisation der Pflegeorganisationen im Zentrum der Reformreflexion und je nach Reichweite der Reflexion geraten einzelne oder alle Segmente des Pflegesystems in den Blick. Die Pflegefunktionäre der Berufsorganisationen und der Politik priorisieren eine Reform der Ausbildung und eine zugleich kostensparende und bestandserhaltende Strategie der jeweiligen Subsysteme des Pflegesystems. Im Kontext von Verhandlungssystemen stehen vor allem die Öffnung zu privaten gewinnorientierten Trägern und die stärkere Berücksichtigung der ambulanten Pflege im Zentrum. Alles in allem gewinnt man den Eindruck, dass die radikale Reflexion auf die Einheit des Pflegesystems vermieden wird und man sich mit Teilerfolgen von Reformen – wie Etablierung von Fachbereichen im Wissenschaftssystem, Einführung der Pflegeversicherung im politischen System, Reorganisation von Pflegeorganisationen – zufriedengibt und über die Folgeprobleme nicht weiter reflektiert. 3. Jedes ausdifferenzierte Funktionssystem hat eine Kontingenzformel. Das Wirtschaftssystem z.B. Knappheit, das Religionssystem Gott und das Erziehungssystem Lernen (vgl. Luhmann 1988, 64 u. 191; Luhmann 2000c, 147ff.; Luhmann/Schorr 1979, 94ff.). Kontingenzformeln machen deutlich, dass das jeweilige Funktionssystem ein Problem bzw. eine Funktion zu erfüllen hat, die erst im Laufe der Ausdifferenzierung des Funktionssystems zunehmend präziser das Bezugsproblem anzugeben erlaubt, das sei-
3. Funktionssysteme
ne Ausdifferenzierung ermöglicht. Kontingenzformeln haben für die Funktionssysteme eine andere Funktion als für den Fremdbeobachter. Sie dienen gleichsam wie Werte einer Art Selbstbestätigung des Systems, in dem sie sich für ihre eigenen Operationen die Frage ihrer Funktion verbieten. Sie sind eine Art Abschlussformel im System, die alternative Möglichkeiten der Selbstbeobachtung inkommunikabel macht. Beobachtet man aus der soziologischen Perspektive die Kontingenzformel des Pflegesystems, so könnte man sie den primären Bezug auf den Patienten bzw. das Patientenwohl nennen. Anders ausgedrückt: die Begriffe Patientenorientierung, ganzheitlicher Patient, Patientenwohl, das Dasein für den Patienten etc. sind die Kontingenzformeln, die sich letztlich auch auf die gesamtgesellschaftliche Funktion des Pflegesystems beziehen, das Inklusionsrisiko pflegebedürftiger Körper bzw. pflegebedürftige Person zu thematisieren. Die Kontingenzformel Patientenwohl erhellt u.a., weshalb sich die Pflege immer wieder in ihren Selbstbeschreibungen (z.B. mit der merkwürdigen Formulierung eines Metaparadigmas) um das Menschenbild kümmert. Es ist die Kontingenzformel, auf die sich die Dienstleistungen im Sinne der Pflegekompetenz normativ beziehen. Sie macht auch deutlich, warum im professionellen Selbstverständnis der Pflegenden das Helfen immer wieder ins Zentrum rückt. Die Humanisierung der Kontingenzformel tritt zum einen in dem Maße im Pflegesystem stärker in den Fokus, in dem die Kontingenzformel Gott qua Rückläufigkeit der Bindung ans Religionssystem im Pflegesystem nicht mehr konsensfähig ist. Und sie wird zum anderen in dem Maße im Pflegesystem wichtig, in dem sich die Zentren des Medizinsystems – die High-Tech-Kliniken – aus dem Blickwinkel der Pflegenden vom Patienten zurückziehen, ihn auf seinen Körper reduzieren bzw. Körper und Psyche sowie Person voneinander trennen. Die Entwicklung der pflegerischen Kontingenzformel lässt sich wie folgt zusammenfassen: Vom durch Gott legitimierten Dienst am Menschen als göttliche Kreatur, über den Dienst an dem durch Krankheit und Armut hilfsbedürftigen Menschen sowie den Menschen als kranken Patienten zum Patienten als ganzheitliche Person und schließlich zum anspruchsvollen Kunden statt Patienten. Mit dieser Zusammenfassung wird anhand der Kontingenzformel zum einen die zunehmende Spezifikation deutlich, die sich auf die Einheit des Pflegecodes von Pflegekompetenz/-inkompetenz und das Bezugsproblem des Pflegesystems bezieht. Konterkariert allerdings durch die Ökonomisierung der Pflege, die die Patientenrolle zunehmend durch die Kundenrolle ersetzt (vgl. Michaelis 2005). Zum anderen wird auch evident, dass mit der Kontingenzformel »ganzheitlicher Patient« das Pflegesystem ein Auffangbecken für gesellschaftliche Exklusion durch Inklusion ist, wenn man das Bezugsproblem des Pflegesystems als Inklusionsrisiko der pflegebedürftigen Person für die übrigen Funktionssysteme definiert. Darüber hinaus wird manifest, dass das Pflegesystem die zunehmende Individualisierung der Personen durch die Umstellung von Stratifikation auf funktionale Differenzierung semantisch mit ihrer Kontingenzformel nachvollzieht. •
So wird der Dienst am Menschen durch die Orden zunächst eher als paradoxe Hinwendung zu Gott gesehen. Es ist nicht primär der Mensch, der gepflegt wird, son-
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dern die Kreatur Gottes, die sich im Menschen als sein Geschöpf zeigt. Es geht auch weniger um sein körperliches Wohlbefinden als um sein Seelenheil (vgl. Rohde 1962, 66ff.). Das ist auch kompatibel mit der Armenpflege, die gleichsam in einer Umwertung der gesellschaftlichen Hierarchie gerade diejenigen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, die ansonsten von der Gesellschaft, speziell ihren Familienhaushalten, exkludiert werden. Indem das Pflegesystem im Zuge der Ausdifferenzierung des Medizinsystems es jedoch nicht mehr nur mit armen Pfleglingen, sondern vermehrt mit allen Bevölkerungsgruppen zu tun bekommt, hat sie es in der Behandlungspflege in den Zentren des Medizinsystems stärker mit den Körpern von Patienten zu tun, die zunehmend auf die segmentär differenzierten Fachdisziplinen des Krankenhauses verteilt und auf ihre jeweiligen Körperfunktionen reduziert werden. Das Patientenwohl wird somit der Pflege unter individuierteren, aber gleichzeitig auch medizindominierten Ansprüchen überlassen. Wenn schließlich im Zuge der verstärkten Individualisierung und der stärkeren Ausdifferenzierung der Pflegekommunikation die einzelne Person, gestärkt durch wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme, auch die Pflege mit eigenen Ansprüchen konfrontiert, wird die von der High-Tech-Medizin negierte Patientenorientierung ins Zentrum des Pflegesystems gerückt. Es geht nun um das Wohl des ganzheitlichen Patienten in der Grund- und Behandlungspflege. Gleichzeitig werden damit auch diejenigen Patienten aufgewertet, die bis dato an der Peripherie des Pflegesystems in Altenpflegeheimen vor sich hin darbten. Die Tradition der Exklusion wird schließlich mit der Kontingenzformel des pflegebedürftigen Kunden invisibilisiert, der nunmehr sein Wohl selbst in die Hand zu nehmen hat.
Trifft diese Rekonstruktion der Kontingenzformel des Pflegesystems zu (vgl. auch Hohm 2002, 164ff.), dann lassen sich aus der Perspektive der soziologischen Fremdbeobachtung bestimmte Folgeprobleme beobachten, die im Pflegesystem inkommunikabel bleiben müssen, soll es nicht zu folgenreichen Irritationen der Pflegekommunikation und des Pflegebewusstseins kommen. •
Es überrascht deshalb auch nicht, dass die feministische Kritik des Pflegesystems in diesem auf kommunikativen Widerstand und Verdrängung durch die Bewusstseine stieß und stößt, indem die Mehrheit der in der Pflege adressierten Frauen mit der akademisch vorgetragenen Kritik an der ideologischen Verschleierung der Ausbeutung der pflegenden Frauen nur wenig anfangen kann und konnte. Diese an der Differenz von Wahrheit und Ideologie (vgl. zu dieser Unterscheidung allgemein Luhmann 1970d) orientierte Kritik des Pflegesystems stieß auf ähnlichen Widerstand wie die neomarxistische Kritik der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre an der Fabrikorganisation und ihrer Ausbeutung bei den an sie adressierten Arbeitern.
Nimmt man also die soziologische Perspektive der Fremdbeobachtung der Kontingenzformel des Pflegesystems, sprich Patientenwohl im Sinne der ganzheitlichen Pflege, ein, dann ist nicht wissenschaftliche Besserwisserei gefragt, die ohnehin im Pflegesystem
3. Funktionssysteme
nicht anschlussfähig ist. Stattdessen geht es darum, dafür zu sensibilisieren, wie das Pflegesystem mit der Kontingenzformel seine Ausgangsparadoxie als Einheit von Pflegekompetenz/-inkompetenz und inneren Pflegekreislauf entfaltet. •
Es bezieht seine Pflegekompetenz als Einheit auf den ganzheitlichen Patienten und invisibilisiert damit die Kontingenz, die mit der anderen Seite verknüpft ist, und macht sie inkommunikabel. Diese manifestiert sich nämlich in der strukturell und operativ notwendigen Reduktion auf die Ausschnitthaftigkeit des Menschen in der unfreiwilligen Rolle des Patienten auf der einen Seite und der Erzeugung der Ohnmacht durch die Erkenntnis der pflegerischen Grenzen und des Nichtwissens hinsichtlich kompetenter Pflege auf der anderen Seite.
Sucht man nach Beispielen für diese anderen Seiten des Patientenunwohls und der rollenspezifischen Teilhaftigkeit des Patienten, dann springt zunächst elementar ins Auge, dass das Pflegebewusstsein und die Pflegekommunikation sich nur sehr bedingt zugestehen können, dass es im Pflegesystem um etwas anderes als das Patientenwohl geht. Für das Pflegesystem und sein Personal gehört es gleichsam zur Betriebsbedingung, ja es ist sein Zweck, für das Patientenwohl zu sorgen. Damit geht einher, dass seine Vorzüge und nicht mehr seine Defizite ins Zentrum der Pflegetheorien im Pflegesystem treten. •
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Die Kehrseite der Beobachtung des Patienten als schwierigem Patienten wird ebenso ausgeblendet wie die Frage, wie man wissen kann, was denn sein Wohl ist, wenn dieser im Zweifelsfalle gar nicht zustimmen kann, wie er behandelt werden möchte. Die Kontingenzformel Patientenwohl rückt damit als ganzheitliche Pflege in die Nähe der Pflegemoral, die ja ebenfalls die Achtungs-/Missachtungsbedingungen auf die ganze Person bezieht. Da man jedoch mit dem Patientenwohl nur Gutes im Sinn hat, müssen diejenigen Verstöße gleichsam dem Latenzschutz unterworfen werden, welche zur Missachtung der Person führen. Angeführt seien hier Formen sexualisierter Gewalt, despektierliche Adressierungen des Patienten (vgl. Rohde 1962, 300), Infantilisierung im Umgang mit ihm, bewusste Unterlassung von Pflegeleistungen aus Zeitknappheit oder Ressentiments gegenüber bestimmten Patienten, Schimpfklatsch über einzelne Patienten, offene Konflikte mit »schwierigen Patienten«, die zu Beziehungs- und Machtkonflikten führen etc.
Die überbetriebene kommunikative Betonung der Würde des Patienten oder Bewohners erzeugt dann gerade durch ihre starke Akzentuierung einen Motivverdacht und führt in manchen Fällen zur Beobachtung zweiter Ordnung im Falle aufmerksamer Angehöriger. Dass die pflegerischen Verstöße gegen die Würde des Patienten oftmals jedoch lange latent bleiben, wenn diese sich gegenüber pflegerischen Grenzüberschreitungen nicht wehren können oder ihre Beschwerden verpuffen, wird anhand ihrer extremen Auswüchse in Form von Serienmorden wie im Fall Högel deutlich.
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3.6.6
Strukturelle Kopplungen des Pflegesystems mit den Umweltsystemen
Die Rede von strukturellen Kopplungen des Pflegesystems indiziert seine Integration mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen. Sie macht auf die wechselseitige Einschränkung der Freiheit mit jeweils unterschiedlichen Graden von niedrig, mittel bis hoch aufmerksam. Zunächst betrachten wir die strukturelle Kopplung mit dem Medizinsystem. Diese ist deshalb von besonderer Relevanz, weil immer wieder auf der Ebene der pflegewissenschaftlichen und professionstheoretischen Fremdbeobachtung die einseitige Abhängigkeit der Pflege von der Medizin thematisiert und die stärkere Entkopplung von diesem durch jenes gefordert wird (vgl. Zimmermann u.a. 2012, 236). Eine wesentliche Form der strukturellen Kopplung mit dem Medizinsystem stellt vor allem das Krankenhaussystem als zentrales Subsystem des Gesundheitssystems (=System der Krankenbehandlung) dar, das die Pflege mit dem pflegebedürftigen und die Medizin mit dem kranken Körper des Patienten verbindet. Dabei fungiert dessen Körper als Medium und Form sowohl für die Medizinkommunikation mit ihrem Code krank/gesund als auch für die Pflegekommunikation mit dem Code pflegekompetent/inkompetent. Strukturelle Kopplung bedeutet hier, dass der kranke und pflegebedürftige Körper im Kontext zeitlimitierter Systeme wie Operationen durch biprofessionelle Teams temporär gemeinsam thematisiert und behandelt wird. Während er davor und danach durch die Aufklärung des Anästhesisten und Chirurgen und die ärztliche Visite einerseits sowie die Grund- und Behandlungspflege auf Station andererseits voneinander entkoppelt adressiert wird. Dabei manifestiert sich die Asymmetrie der strukturellen Kopplung u.a. nach wie vor darin, dass die Pflegenden und die pflegebedürftigen Pateinten in vielerlei Hinsicht auf die ärztlichen Vorleistungen, wie z.B. die Auswertung der Laborwerte, die Infusion der chemischen Substanzen bei der Chemotherapie, das Anstechen des Ports bei der Blutentnahme, mit den entsprechenden Wartezeiten angewiesen sind. Eine weitere strukturelle Kopplung stellen Verhandlungssysteme von Politik und Pflege dar. Hier geht es bei Pflegesätzen, z.B. im ambulanten Bereich des Pflegesystems, um die Herstellung der rechtlich abgesicherten Zahlungsfähigkeit der Pflegeorganisationen und ihrer Träger zum einen und die Anschlussfähigkeit an das politische System zum anderen. Die Zusammentreffen erzeugen politische Entscheidungen, die als Pflegepolitik zu temporären Kopplungen zwischen Pflege und Politik führen, an die im Pflegesystem jedoch anders angeschlossen wird als in der Politik. Müssen die Pflegefunktionäre die Interessen des Pflegepersonals angemessen vertreten, um deren Compliance auf Dauer zu sichern und nicht ihre Abwanderung in andere Berufe zu riskieren, müssen die Politiker der Öffentlichkeit und der Wählerschaft zu vermitteln versuchen, dass sie die Probleme der Pflege adäquat zu lösen in der Lage sind. Schließlich sei noch die strukturelle Kopplung von Pflege und Intimsystemen durch die ambulante Pflege erwähnt. Auch hier kommt es zum befristeten Zusammentreffen von Pflege und Familie, ohne dass sich die Pflegekommunikation und Intimkommunikation entdifferenzieren. Wenn z.B. eine berufliche Pflegeperson eine familiale Pflegeperson
3. Funktionssysteme
bei der Dekubitusprophylaxe berät, dann bedeutet dies die vorübergehende Etablierung eines neuen Systems der Beratung. Die Pflegedokumentation dieses Gesprächs durch die Pflegeperson der Sozialstation und die anschließende Veränderung der familialen Pflegekommunikation aufgrund der neuen Kenntnisse der pflegenden Angehörigen erzeugen somit jeweils unterschiedliche Anschlüsse. Strukturelle Kopplung bedeutet mithin die Integration des Pflegesystems mit anderen Umweltsystemen, ohne auf Entdifferenzierung hinauszulaufen. Sie verdeutlicht die simultane Steigerung von Unabhängigkeit und Abhängigkeit der Pflege. Unabhängigkeit, indem sie nur diejenigen Entscheidungen im eigenen System prozessieren kann, die sie als strukturdeterminiertes System an ihre Strukturen anschließen kann. Abhängigkeit, indem sie durch die Funktionserfüllung der Medizin, Politik und Familien an strukturelle Voraussetzungen gebunden wird, ohne die sie nicht erfolgreich operieren könnte. So ist sie auf Diagnosen der Medizin in Bezug auf den kranken Körper angewiesen, um entsprechend pflegen zu können; bedarf es bestimmter Zahlungsmittel und rechtlich festgesetzter Pflegesätze, damit bestimmte Pflegeoperationen möglich werden können und muss die familiale Pflege an Beratungswissen der Pflege anschließen können, soll eine kompetente häusliche Pflege möglich werden.
3.6.7
Zur Eigenkomplexität und Binnendifferenzierung des Pflegesystems
Die Ausdifferenzierung des Pflegesystems wiederholt sich systemintern anhand gleicher Einheiten, die mehrfach vorkommen und als segmentäre Differenzierung bezeichnet werden können. Sie finden wir in jedem Funktionssystem in Kombination mit deren Subsystemen. So die unterschiedlichen Disziplinen im Wissenschaftssystem mit ihren jeweiligen universitären Fachbereichen, die Supermärkte, Betriebe und Genossenschaftsbanken der unterschiedlichen Wirtschaftssektoren (Handel, Industrie, Banken) im Wirtschaftssystem oder die Grundschulen und weiterführenden Schulen im primären sowie sekundären Sektor des Bildungssystems. Dabei kann es – wie im Fall der Kunst, der Wissenschaft, aber auch der Medizin – durchaus sein, dass sich die Ausdifferenzierung von Subsystemen in unterschiedlichem Tempo vollzieht und mit ihnen die Durchsetzung der segmentären Einheiten. So entstehen z.B. die naturwissenschaftliche Disziplinen weitaus früher als die Sozialwissenschaften, was sich in der entsprechend früheren segmentären Differenzierung der naturwissenschaftlichen Fachbereiche an den Universitäten widerspiegelt (Stichweh 1994, 132ff.). Im Pflegesystem handelt es sich bei der segmentären Differenzierung (vgl. dazu bereits Rohde 1962, 277ff.; auch Bäcker u.a. Bd.2 2010, 178ff.) zunächst um die Organisationen der Subsysteme Krankenpflege, psychiatrische Pflege und Altenpflege. Als Pflegestationen der Krankenhäuser und psychiatrischen Kliniken sowie als Altenpflegeheime beziehen sie sich auf den Pflegecode als paradoxe Einheit der Vielheit. Unterscheidet man die Pflege in einer zweiten komplexeren Variante in Krankenpflege, psychiatrische Pflege, Kinderkrankenpflege, Altenpflege und familiale Pflege, dann fällt auf, dass die Krankenpflege im Pflegesystem lange Zeit eindeutig dominierte. Das geht und ging so weit, dass das Pflegesystem mit der Krankenpflege gleichgesetzt wurde
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und die anderen Subsysteme in den Hintergrund traten (Rohde 1962, 277ff. überschreibt dementsprechend seine Kapitel § 28 u. 29 mit »Rolle der Krankenschwester I u. II«). Steigert man den Grad der Beobachtung der Eigenkomplexität nochmals in Form einer dritten Variante, stellt sich die Frage, wie sich zusätzlich die ordens- bzw. konfessionell gebundene Pflege und die stationäre, teilstationäre und ambulante Pflege, die Kurzzeit- und Langzeitpflege, die Brückenpflege, die Grundpflege- und Behandlungspflege, die Intensiv-, Anästhesie- und OP-Pflege etc. im Pflegesystem verorten lassen. Eine erste grobe Binnendifferenzierung des Pflegesystems lässt sich am Anlass festmachen, der Personen abhängig von Pflege macht: z.B. Krankheit oder Alter. Eine zweite Binnendifferenzierung kann man darauf beziehen, inwieweit Krankheit und Alter in sich noch einmal unterschieden werden, z.B. organisch krank/psychisch krank und jung/alt. Dabei unterscheiden sich beide Unterscheidungen insofern, als organisch und psychisch krank die eine Seite einer Form sind, deren andere organisch und psychisch gesund ist. Demgegenüber indiziert die Differenz jung/alt ein Dual, das sich nicht als Code in dem Sinne eignet, dass ein Crossing von der einen zur andere Seite problemlos stattfinden kann. Und zwar deshalb nicht, weil das Erreichen eines Alters irreversibel ist, so dass sich ein 70-Jähriger nicht einfach als 20-Jähriger darstellen kann und umgekehrt. Eine dritte Binnendifferenzierung gerät in den Blick, wenn man die Formen von Pflegeorganisationen genauer betrachtet und die Differenz stationäre/nichtstationär berücksichtigt. Krankenhäuser, psychiatrische Kliniken und Altenpflegeheime unterscheiden sich entsprechend von Organisationen der ambulanten Krankenpflege, psychiatrischen Pflege und Altenpflege. Was nicht ausschließt, dass sie auch ambulante Angebote selektiv anbieten. Entscheidend für die Differenz von stationär/nichtstationär sind in diesem Zusammenhang mindestens die folgenden Strukturmerkmale: • •
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Erstens, ob der Adressat der Pflegekommunikation in einem Subsystem des Pflegesystems oder in einem seiner Umweltsysteme gepflegt wird. Im Falle der stationären Pflege ist klar, das ersteres gilt. Der Pflegebedürftige bleibt dort unterschiedlich lang –im Grenzfall bis zu seinem Tod. Seine umfassende Anwesenheit rund um die Uhr indiziert als Zweites Strukturmerkmal die Form der totalen Institution (Goffman 1977) der stationären Pflegeorganisationen, die drittens an eine totale Inklusion des Pflegebedürftigen gekoppelt ist. Ihre Bezeichnung stationär verweist zudem viertens auf die selektive Inklusion in die Pflegeorganisationen, nämlich die Station als ihrem zentralen Interaktionssystem. Demgegenüber unterstellt die ambulante Pflege als nichtstationäre Pflege zum Ersten, dass der Adressat der Pflegekommunikation in der Regel in der Wohnung seines Intimsystems dauerhaft anwesend ist, während das Pflegepersonal diesen dort vorübergehend aufsucht. Die Organisationen der ambulanten Pflege haben es damit zweitens mit dem Problem zu tun, dass sie temporär ein drittes System ausdifferenzieren, in dem ihr Personal sein Heimatsystem Sozialstation verlässt und als Gast die Pflegekommunikation im Intimsystem Familie/Haushalt vollzieht im Gegensatz zur Gastgeberrolle im Kontext der stationären Pflegeorganisationen. Die ambulante Pflege ist drittens das ausgeschlossene, eingeschlossene Dritte von stationärer und
3. Funktionssysteme
familialer Pflege (vgl. Luhmann 1997c zur ähnlichen Verortung von therapeutischen Systemen). Man könnte sie auch als Grenzgänger bezeichnen, der seine Grenze ins Intimsystem ausdehnt, ohne als Mitglied zu gelten, während das Intimsystem umgekehrt seine Grenze zum Pflegesystem öffnet, ohne mit einer Pflegestation gleichgesetzt werden zu können. Eine vierte Binnendifferenzierung des Pflegesystems referiert auf die familiale Pflege, die auch häusliche Pflege genannt wird, wobei die erste Bezeichnung präziser ist, weil sie die Systemreferenz der Pflege klarer zum Ausdruck bringt. Sie unterscheidet sich von der stationären Pflege dadurch, dass sie die Pflegekommunikation in das Intimsystem Familie mit dem Code geliebt/ungeliebt integriert (vgl. dazu unseren Beitrag zur Familie in diesem Buch). Die Frage, ob die familial betriebene Krankenpflege, psychiatrische Pflege oder Altenpflege dem Pflegesystem zuzurechnen oder mit der Externalisierung der Pflege gleichzusetzen sind, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Ausdifferenzierung der Komplementarität von primärer Leistungs- und Laienrolle konstitutiv für die Ausdifferenzierung jedweden Funktionssystems ist, oder ob es neben den Intimsystemen auch andere Funktionssysteme gibt, welche die primäre Leistungsrolle (=Berufsrolle) substituieren und dennoch als Funktionssysteme gelten können. Kann man dementsprechend von der ambulanten Pflege als Überschneidungsbereich des Pflege- und Intimsystems sprechen und die familiale Pflege als Umwelt des Pflegesystems thematisieren oder gehören beide zum Pflegesystem? Wenn ja, handelt es sich dann um eine Differenz von Zentrum und Peripherie des Pflegesystems? Wenn ich recht sehe, geht eine Variante der Selbstbeobachtung des Pflegesystems von einer Zugehörigkeit der ambulanten und familialen Pflege zum Pflegesystem aus, z.B. mit der Programmformel »Ambulant vor stationär«. Andererseits gibt es aber auch Selbstbeobachter und vornehmlich Fremdbeobachter, die die familiale Pflege dem Laiensystem zuordnen und deshalb in der Strategie ambulant vor stationär eine politisch gewollte Externalisierung des Pflegesystems sehen (Bäcker u.a. Bd.2 2010, 590ff.). Aus der Perspektive des soziologischen Fremdbeobachters kommt es mithin entscheidend darauf an, ob die Ausdifferenzierung des Pflegesystems einen Pflegecode voraussetzt, an die klare Grenzziehung der Pflegekommunikation durch diesen gebunden ist und eine Rollendifferenzierung von primärer Leistungsrolle und Laienrolle erfordert. Teilt man diese drei Kriterien, gehört die familiale Pflege nicht zum Pflegesystem, da ihr Primärcode der Intimcode ist, die Grenzen zwischen familialer und pflegerischer Kommunikation verschwimmen und die Angehörigenpflege am ehesten mit der sekundären Leistungsrolle, also einem Ehrenamt, identisch ist, das ebenfalls zeitlich sehr entgrenzt stattfindet. Versucht man ausgehend von den Unterscheidungen krank/gesund, alt/jung, stationär/nichtstationär weitere Formen der Binnendifferenzierung des Pflegesystems zu identifizieren, dann haben wir es zusätzlich mit teilstationären Pflegeorganisationen zu tun, die gewissermaßen die Anwesenheit der pflegebedürftigen Adressaten zeitlich auf den Tag beschränken und seine Abwesenheit nachts vorsehen. Die eine Seite der Unterscheidung stationär/nichtstationär, nämlich stationär, wird somit noch einmal in ganzstationär/teilstationär, also nach der Logik des Ganzen und seiner Teile dif-
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
ferenziert. Die teilstationäre Pflegeorganisationen sind mithin das eingeschlossene, ausgeschlossene Dritte von stationär und nichtstationär. Eine weitere Binnendifferenzierung, nämlich die von Kurzzeit- und Langzeitpflege, bezieht sich auf die unterschiedliche Zeitdauer, in der eine Person in stationären Pflegeorganisationen inkludiert ist. Die damit angedeutete unterschiedliche Verweildauer von Pflegebedürftigen in Pflegeorganisationen korreliert vor allem mit ihrem Grad an Pflegebedürftigkeit. Als zusätzliche Binnendifferenzierung des Pflegesystems wollen wir die von Grund- bzw. allgemeiner und Behandlungspflege bzw. spezieller Pflege thematisieren. Sie verweist auf die unterschiedliche strukturelle und operative Kopplung der Pflegeorganisationen und Pflegekommunikation mit dem Medizinsystem. Indiziert die Grundpflege die Universalität und Diffusität der Pflege, drückt demgegenüber die Behandlungspflege die Respezifikation der Pflege in Bezug auf das Medizinsystem aus. Rohde (1962, 288ff.) unterscheidet dementsprechend in Anlehnung an Parsons Pattern Variables zwischen funktional diffuser und funktional spezifischer Pflege und bezieht letztere auf die an der Medizin orientierten Behandlungspflege. Dabei heißt dies für ihn jedoch nicht (ebd., 292), »daß die Pflege der Medizin untergeordnet wird, sondern daß sie Teil des »Heilungsprozesses« ist.« •
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Die Unterscheidung allgemeine/spezielle Pflege lässt sich auch so interpretieren, dass mit der allgemeinen Pflege die Primärinklusion ins Pflegesystem gemeint ist, während die spezielle Pflege die Sekundärinklusion im Pflegesystem repräsentiert (vgl. zu diesem Begriffsdual Hohm 2016, 145ff.). Die Differenz allgemeine/spezielle Pflege kann dann in Abhängigkeit vom Problembezug (=Funktion) in sich selbst noch einmal in System/Umwelt-Beziehungen binnendifferenziert werden. Die Pflegebereiche der Intensiv-, OP-, Anästhesiepflege werden deshalb auch als Funktionspflege bezeichnet. Die Differenz allgemeine/spezielle Pflege ermöglicht speziell auf der einen Seite der Unterscheidung (=spezielle Pflege) Konkretisierungen des Bezugsproblems bzw. der speziellen Pflege, die mit der Differenz von Medium und Form des Körpers des zu Pflegenden verknüpft sind. Die Differenzierung zwischen Grund- und Behandlungspflege bzw. allgemeiner und spezieller Pflege verweist auf eine Kombination von Universalität und Spezifizität, die es ermöglicht, diese im Pflegesystem – je nach Respezifikation des Bezugsproblems (=Funktion) der Pflege – als Einheit von Problem und Problemlösung weiter organisationsspezifisch und berufsspezifisch auszudifferenzieren. Die Differenzierung von Allgemeinen- und Sonderkrankenhäusern ist dementsprechend eine Manifestation für die Präzisierung des Pflegecodes und seines Bezugsproblems auf der Organisationsebene wie die Differenzierung von Allgemeinstation der Pflege und Sonderstation der Intensivpflege bzw. allgemeiner Pflege und Funktionspflege auf der beruflichen Ebene.
Schließlich lassen sich noch die unterschiedlichen Träger von Pflegeorganisationen identifizieren, z.B. religiöse, freigemeinnützige Wohlfahrtsverbände, Kommunen und gewinnorientierte Organisationen.
3. Funktionssysteme
Die Frage ist, wie man diese »Trägervielfalt« im Pflegesystem als externer soziologischer Beobachter unterscheiden soll. •
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Geht man von den Codes aus, an denen sich diese Träger als Organisationen jeweils primär orientieren, dann handelt es sich um Immanenz/Transzendenz bei den religiösen Trägern, Hilfe/Nichthilfe bei den Wohlfahrtsverbänden, Regierung/Opposition bei den Kommunen und zahlungsfähig/zahlungsunfähig bei den gewinnorientierten Organisationen. Für das Pflegesystem und seine jeweiligen Pflegeorganisationen ist entscheidend, wie stark ihr Pflegecode durch den Religionscode, Code Sozialer Hilfe, den politischen Code und Wirtschaftscode beeinflusst, d.h. sakralisiert, politisiert, ökonomisiert und »sozialarbeiterisiert« wird. Dass Pflegeorganisationen auf der Ebene der Wertideen durch ihre Leitbilder oder Corporate Identity sich selbst in Differenz zu anderen Pflegeorganisationen beobachten, z.B. als religiös versus nicht religiös, staatlich vs. nicht staatlich, soziale Hilfsorganisationen vs. Nichthilfeorganisationen, gewinnorientiert vs. Non-Profit orientiert, ist unstrittig. Klar ist, dass sie durch die unterschiedlichen Wertideen unterschiedliche Verlaufsmuster von Pflegekarrieren generieren. Dies kann sowohl durch Stellenausschreibung und Verträge, die an die Konformität mit den Wertideen gekoppelt sind, als auch durch Selbstselektion der potenziellen beruflichen und pflegebedürftigen Mitglieder geschehen, welche diese Wertideen in unterschiedlicher Weise akzeptieren oder ablehnen. Der Tendenzbetrieb ist ein schlagendes Beispiel dafür. Dabei wird die Autopoiesis der Pflegekommunikation dann systemintern riskant, wenn die Kriterien der Zurechnung des Pflegekreislaufs, d.h., ob Pflegekompetenz oder Pflegeinkompetenz bzw. Pflegebedürftigkeit oder keine Pflegebedürftigkeit vorliegt, zu sehr die Zahlungsfähigkeit der Pflegeorganisation, die Glaubensbereitschaft der Pflegenden, ihre politische Zugehörigkeit oder soziale Hilfsbedürftigkeit berücksichtigen müssen.
Das schließt es nicht aus, sondern setzt es voraus, dass Pflegeorganisationen nicht ohne Geld überleben können, sich durchaus an gewisse Wertideen binden müssen, sozial Hilfsbedürftigen besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen oder die Organisationsspitzen mit Managern besetzen können, die der Regierungspartei und ihren pflegepolitischen Programmen gegenüber loyal eingestellt sind. Prekär werden diese strukturellen Rücksichtnahmen auf der Ebene der Pflegeorganisationen dann, wenn die mit der Integration gegebenen Einschränkungen der Freiheit der Pflege zu Pflegeentscheidungen führen, die sich nicht mehr nach den Imperativen des eigenen Pflegecodes und der Pflegeprogramme richten. Beobachtet man die Trägervielfalt der Pflegeorganisationen auf dem Hintergrund der ausgeführten Überlegungen, dann ist offensichtlich, dass sie die Trends der letzten Jahrzehnte in der Pflege unterschiedlich beobachten und bewerten. •
So bedauern die religiösen Träger die Säkularisierung der Pflege, versuchen aber, an bestimmten Elementen des Religionscodes festzuhalten, bei allen Konzessionen, die sie an die nichtreligiöse Umwelt machen müssen. Ablesbar an den
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Stellenbeschreibungen einerseits, den Tendenzen der Verbetrieblichung durch Organisationsentwicklung andererseits. Die gewinnorientierten Pflegeorganisationen hingegen kritisieren die konfessionellen und wohlfahrtsverbandlichen Pflegeorganisationen in Bezug auf ihre Dominanz, organisationsspezifischen Defizite und wohlfahrtsstaatlich unterstützten Privilegien; machen aber im Übrigen durch kundenorientierte Pflegeprogramme und Kooperation mit den gemeinnützigen Wohlfahrtsverbände sowie dem Wohlfahrtsstaat ebenfalls Konzessionen an die nichtwirtschaftliche Umwelt.
3.6.8
Pflegeorganisationen und familiale Pflege
Systemtheoretisch lässt sich die Moderne zwischen drei Systemebenen unterscheiden: Funktional differenzierte Gesellschaft, Organisationen und Interaktionen. Sie setzen sich wechselseitig voraus. Dabei schieben sich zwischen die Ebenen der Gesellschaft und Interaktion spätestens seit dem 19. Jahrhundert moderne Organisationen, vor allem Arbeitsorganisationen. Geht man von der Ausdifferenzierung des Pflegesystems durch Pflegekommunikation aus, dann stellen sich u.a. die folgenden Fragen: Was ist das Spezifische von Pflegeorganisationen im Unterschied zu anderen Organisationen? Gibt es Pflegeorganisationen, die im Pflegesystem eine größere Relevanz als andere aufweisen, d.h. zentrale und periphere Organisationen? Wie sind Kinder- und Altenpflege organisatorisch einzuordnen? 1. Was zunächst die erste Frage anbetrifft, so fällt auf, dass Pflegeorganisationen als stationäre Subsysteme von Krankenhäusern und psychiatrischen Kliniken sowie als Altenpflegeheime zu den Non-Stop-Betrieben gehören, deren Kommunikation sich kontinuierlich reproduziert, sprich Tag und Nacht. Dieses Strukturmerkmal teilen sie mit bestimmten Arbeitsorganisationen anderer Funktionssysteme, z.B. denjenigen der Massenmedien, der Polizei, einigen Industrieorganisationen, Gefängnissen. Sie unterscheiden sich allerdings dadurch von diesen, dass die Funktion des Pflegesystems auf die temporäre oder dauerhafte Substitution der Selfcare der Pflegebedürftigen zugeschnitten ist. Die kontinuierliche Anwesenheit des Pflegepersonals qua Schichtdienst ist folglich nötig. Ein weiteres Spezifikum der Pflegeorganisationen besteht darin, dass die Pflegebedürftigen als Adressaten der Pflegekommunikation, die temporär oder dauerhaft in das Pflegesystem inkludiert sind, den Großteil ihrer Zeit im Bett oder zumindest Indoor auf Station sowie auf dem Gelände der Pflegeorganisationen zubringen. Sie verkörpern insofern eine funktionsspezifische Respezifikation der Totalinklusion der allgemeinen Insassenrolle (Goffman 1977, 24ff.; Koch-Straube 1997). Schließt man an Goffmans (1977, 15ff.) klassische Darstellung der totalen Institutionen an, kann man als zusätzliche Spezifika der Pflegeorganisationen ihre Entindividualisierung durch uniforme Behandlung, die Entwürdigung der Pflegebedürftigen qua mangelnder Privatsphäre, die umfassende Kontrolle durch das Pflegepersonal, die Reduktion der Rollenvielfalt etc. angeben. 2. Was die weitere Frage betrifft, ob die Differenzierung von zentralen Organisationen und peripheren Organisationen im Pflegesystem existiert, wie z.B. der Staat vs. Parteien im po-
3. Funktionssysteme
litischen System, die Zentralbank im Wirtschaftssystem im Kontrast zu den Geschäftsbanken oder das Verfassungsgericht im Rechtssystem im Unterschied zu den nachrangigen Gerichten, so hatten wir bereits das Krankenhaus ohne nähere Erläuterung als organisatorischen Repräsentanten des Zentrums des Pflegesystems erwähnt. Schaut man genauer hin, handelt es sich vor allem um die Spitzenkrankenhäuser bzw. Gesundheitszentren, die quantitativ eine Minderheit im Gegensatz zur Mehrheit der Krankenhäuser der Regelversorgung, sprich Peripherie, darstellen. Die enge strukturelle Kopplung mit Spitzenleistungen der Medizin erfordert auch solche der Pflege, die hauptsächlich im Kontext der Intensivmedizin als Intensivpflege erbracht werden. Ist die Zentrum/Peripherie-Differenz etabliert, erzeugt sie eine Sonderbeobachtung der Leistungen der Zentren, inklusive der zugehörigen Subsysteme der Pflege, qua peripherer Pflegeorganisationen und ihrem Personal. 3. Was schließlich die organisatorische Verortung der Kinder- und Altenpflege im Kontext des Pflegesystems betrifft, lässt sich konstatieren, dass Kinderpflege als Grundpflege bzw. allgemeine Pflege immer schon in der Kleinkindphase betrieben wird. Die Durchführung der Aktivitäten täglichen Lebens, sprich der Ausscheidung, Ankleidung, des Essens und Trinkens etc., wird aus alters- bzw. entwicklungsspezifischen Gründen bzw. der noch nicht hinreichenden Selbsterziehung des Kindes zunächst in der Familie durch die Eltern, vor allem die Mutter, organisiert. Verläuft die Entwicklung innerhalb der Familie normal, werden spätestens in der Kindergartenzeit die entsprechenden Handlungen der Grundpflege/Aktivitäten täglichen Lebens durch Eigenleistung (=Selbstselektion) bzw. Selfcare vom Kindergartenkind erbracht. Demgegenüber wird in der Kinderkrippe und zu Beginn der Kindergartenzeit die Grundpflege von den Erzieherinnen mitbedient. Fragt man, worin sich Kinder- und Altenpflege unterscheiden, dann kann man eine erste Differenz darin sehen, dass die Familie im Normalfall den alten Menschen so lange wie möglich die Selbstselektion bzw. Selfcare im Hinblick auf die erwähnten Aktivitäten täglichen Lebens unterstellt bzw. gewährt. Eine weitere und entscheidende Differenz zwischen Kinder- und Altenpflege besteht darin, dass die alten Menschen sich selbst als Personen wahrnehmen, die die entsprechende Aktivitäten des Alltags eigenständig verrichten können. In der eigenständigen Haushaltsführung kommt dies am deutlichsten zum Ausdruck. Ist diese nicht mehr möglich, stellt es für das Familiensystem ein anderes Problem als das der Kinderpflege dar. Gilt nämlich für die Kinder, dass sie Selfcare erst noch lernen müssen, haben die alten Menschen die entsprechende Kompetenz entweder verlernt oder werden mit dem Problem konfrontiert, dass sie ein vorhandenes Können und Wissen aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit nicht mehr praktizieren können. Ist die eigentliche Funktion der Familie die Vollinklusion der Personen (Luhmann 1990d; Fuchs 1999), dann gehören aufgrund des Mediums Liebe (Eltern-, Kinder- oder Partnerliebe) zunächst auch die Kinder- und Altenpflege zu den Leistungen der familialen Kommunikation. Die Substitution der familial praktizierten und selbstorganisierten Kinder- bzw. Altenpflege durch die Organisationen des Pflegesystems ist eine Unwahrscheinlichkeit, deren Wahrscheinlichkeit der Erklärung bedarf. Sie ist erst dann möglich und auch notwendig, wenn eine zunehmende Zahl der Familien temporär oder auf Dau-
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
er die Operationen der Pflege nicht mehr in ihre Kommunikation einbauen kann (vgl. dazu bereits Rohde 1962, 286, 289). Dass dabei die dauerhafte Exklusion von pflegebedürftigen Kindern seltener als die von pflegebedürftigen Alten vorkommt, sich ihre Inklusionsquote in die segmentär differenzierten Pflegeorganisationen der Kinder- und Altenpflege im Pflegesystem auch empirisch unterscheidet, hängt mindestens von den folgenden strukturellen, semantischen und lebenslaufspezifischen Aspekten ab: Strukturell macht es einen Unterschied aus, in welcher Phase sich die Familie als Sozialsystem befindet, ob es sich um die Gründungs-, Stabilisierungs- oder Schrumpfungsphase handelt und sie sich in diesen Phasen strukturell restabilisiert oder destabilisiert; wieviel Mitglieder die Familie umfasst; was die Ursache (Krankheit, Behinderung, Verunfallung, Alter) für die und den Grad der Pflegebedürftigkeit ist; wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung des Elternpaares gehandhabt wird; ob die Infrastruktur der Wohnung für die Pflege geeignet ist etc. Semantisch spielt es eine Rolle, wie ein Kind bzw. ein Senior als Person typisiert wird, sprich welche Möglichkeiten der Selbstselektion bzw. Selfcare man ihr seitens der Familie schon oder noch zutraut. Hinzu kommt das Medium Elternliebe, das eine Exklusivität zum eigenen Kind mit Komplettbetreuung vorsieht (vgl. Fuchs 1999). Es überrascht mithin nicht, dass sich gerade Eltern, besonders Mütter, so lange wie möglich darum bemühen, zu verhindern, dass Kinder auf Dauer ins Pflegesystem kommen und wenn dies der Fall ist, diejenigen sind, die sich temporär qua Rooming-in mit ihrem Kind in das System der Kinderkrankenpflege inkludieren oder bereit sind, behinderte Kinder lange Zeit im Familiensystem zu pflegen. Der Lebenslauf und die Lebenskarriere eines Kindes werden als zukunftsoffen im Unterschied zu denen des alten Menschen, der in der Gegenwart auf eine längere Vergangenheit zurückblickt, familienintern beobachtet und kommuniziert. Die temporäre oder gar dauerhafte Exklusion eines Kindes durch Pflegebedürftigkeit wird deshalb in der Selbstbeobachtung familialer Kommunikation tendenziell zu einem weitaus dramatischeren Ereignis als die Pflegebedürftigkeit eines alten Menschen. Gleichwohl schließt das nicht aus, dass auch deren Inklusion in die Pflegeorganisationen aus den unterschiedlichsten Gründen von der Familie hinausgeschoben wird, sei es weil die stationären Pflegesätze zu hoch sind, sei es weil die pflegebedürftigen Senioren nicht bereit sind, ihre vertraute häusliche Umgebung durch die der »Fremden Welt Pflegeheim« (Koch-Straube 1997) einzutauschen, sei es, weil sowohl den pflegebedürftigen Senioren als auch ihren Familien bewusst ist, dass das Pflegeheim die letzte biografische Station ist, auf die die Totalexklusion als kommunikativ adressierbare und lebende Person durch den Tod folgt. Zusammenfassend lässt sich mit Bezug auf die familiale Pflege konstatieren, dass sie sich von der nichtfamilalen Pflege u.a. dadurch unterscheidet, dass die Familie als Funktionssystem die Inklusion der Vollperson vorsieht, gekoppelt an die Liebe als Medium. Aufgrund der kommunikativen Verdichtung und der gemeinsamen Systemgeschichte kennen sich die familialen Pflegepersonen und der Pflegebedürftige höchstpersönlich. Die umfassendere Kenntnis der Person schließt Idiosynkrasien und individuelle Skripts bzw. Wahrnehmungsschemata gerade im Hinblick auf die Aktivitäten täglichen Lebens ein. Wenn deshalb die in der Pflege sowohl von ihrem Personal vor Ort als auch dem Pflegeestablishment oft benutzte Semantik der »Ganzheitlichkeit« (vgl. Michaelis 2005, 271
3. Funktionssysteme
u. 283) annähernd pflegerisch realisiert werden kann, dann am ehesten im Familiensystem. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass in ihm normalerweise spätestens ab dem Kindergartenalter Selfcare die Pflege durch die Eltern ablöst. Die Reaktualisierung der Abhängigkeit von familialen Pflegepersonen im Falle des Eintritts von Pflegebedürftigkeit kann deshalb entweder aufgrund des intergenerationellen Rollentausches im Falle der Pflege der Eltern durch die Kinder oder der Wiederaufnahme der Pflege der älter gewordenen Kinder qua Eltern zu kommunikativen und bewusstseinsmäßigen Widerständen sowie Konflikten führen. Es kann zu Paradoxien kommen, dass man den fürchtet, den man liebt und dies inkommunikabel bleibt. Stärke/Schwäche, Kontinenz/Inkontinenz, Geduld/Ungeduld, Sauberkeit/Schmutz, Präsenz/Absenz, Verstehen/Missverstehen etc. werden durch die Beobachtung zweiter Ordnung teilweise in ein Crossing überführt und müssen bei Zunahme der Negativwerte im Familiensystem bei den Familienpersonen erlebnismäßig und kommunikativ anschlussfähig sein. Wenn die Familiensysteme bei Eintritt der Pflegebedürftigkeit selektiv dem Pflegesystem zuzurechnen sind, dann muss die Unwahrscheinlichkeit der Pflegekommunikation und die Wahrscheinlichkeit von Konflikten mitthematisiert werden. Man kann das in Anlehnung an die verbindende (=symbolische) und trennende (=diabolische) Funktion von generalisierten Kommunikationsmedien zu formulieren versuchen (Luhmann 1988, 230ff.). Berücksichtigt werden muss dabei vor allem, dass der Familie im Unterschied zu den Pflegeorganisationen für die Pflege kein austauschbares Personal zur Verfügung steht, sondern auf die Selbstorganisation der gleichen Personen angewiesen ist. Dass dies besonders für Frauen nach wie vor eine höhere Belastung als für Männer mit sich bringt, gehört ebenfalls zur Realität der familialen Pflege. Es ist deshalb auch verständlich, dass strukturelle Kopplungen der Familie mit der ambulanten Pflege in Gang gesetzt werden, um die Belastungen zumindest teilweise zu reduzieren. 4. Bezieht man die Beobachtung zweiter Ordnung auf die segmentäre Differenzierung des Pflegesystems durch unterschiedliche Pflegeorganisationen und Pflegedisziplinen, dann stellt sich die Frage: wie beobachtet man im Pflegesystem, ob erfolgreich oder erfolglos gepflegt wird? Im Wissenschaftssystem sind Publikationen diejenigen basalen Ereignisse, über deren Resonanz durch andere Forscher mittels Häufigkeit der Zitationen, Qualität der Rezensionen und Ansehen der Verlage sowie Kollegen man sich selbst und andere hinsichtlich der Reputation anhand der Differenz erfolgreich/erfolglos beobachtet (vgl. Luhmann 1990e, 245ff.). In der Wirtschaft informieren die Preise und die Anzahl verkaufter Produkte darüber, ob ein Unternehmen erfolgreich investiert hat oder nicht. Und im Bildungssystem sind es die Noten und Zeugnisse, die den Schülern vermitteln, wie erfolgreich sie gelernt haben. Zur Frage der Beobachtung des Erfolgs/der Erfolglosigkeit in der Pflege möchte ich zwei Varianten vorschlagen. Die erste Variante der Beobachtung zweiter Ordnung besteht darin, dass man sich darüber informiert, wie vergleichbare Pflegefälle in den jeweiligen Segmenten des Pflegesystems behandelt werden.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
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Das Pflegesystem kommt dadurch zu Eigenwerten (=Pflegequalität), dass es bestimmte Pflegefälle daraufhin beobachtet, welche Pflegeoperationen kommunikativ prozessiert wurden und welche Ergebnisse daraus resultierten. Dabei kann es nicht nur um erfolgreiche Pflegefälle im Sinne der Wiederherstellung der Pflegekompetenz des Pflegebedürftigen gehen, sondern auch um Misserfolge, welche die Selfcare nicht mehr herzustellen ermöglichen. Damit werden im Übrigen zugleich die Grenzen der Pflegefähigkeit des Pflegesystems bzw. Pflegepersonals manifest. Pflegestandards sind dementsprechend diejenigen Pflegeprogramme im Pflegesystem, anhand deren die jeweiligen Subsysteme der Pflege beobachten können, wie im Pflegesystem gepflegt werden muss, um erfolgreich/erfolglos zu sein. Die Diskussion zur Pflegequalität lässt sich dementsprechend in der Form präzisieren, dass die Variation von den Pflegefällen ausgeht, die Selektion von den darauf bezogenen Pflegestandards und die Restabilisierung von der strukturellen Stabilisierung derjenigen Erwartungen, die mit denjenigen Pflegestandards verbunden sind, die sich am ehesten zur Pflegekommunikation im Kontext des Pflegecodes eignen. Die Differenz zur Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität der Qualitätsdiskussion kann dann in der Weise präzisiert werden, dass Pflegestrukturen die Reproduktion von Pflegeereignisse (=Pflegeprozess) ermöglichen, welche die Wahrscheinlichkeit von Resultaten (=Ergebnissen) erhöhen, an deren Ende die Wiedererlangung der Selfcare des Pflegebedürftigen steht. Dabei wird die Differenz von Qualität/keine Qualität anhand der jeweiligen Pflegeprogramme bewertet.
Die zweite Variante der Beobachtung zweiter Ordnung bezieht sich auf die Differenz von Zentrum/Peripherie im Pflegesystem. •
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Die Subsysteme des Pflegesystems sind ähnlich wie die Parteien in Bezug auf den Staat, die Geschäftsbanken hinsichtlich der Zentralbank, die nachgeordneten Gerichte bezüglich der Bundesgerichte etc. auf die Beobachtung bestimmter hierarchisch übergeordneter Pflegeorganisationen angewiesen, welche die Zirkulation der Pflegefälle im Pflegesystem ähnlich steuern, wie die Zentralbanken die Konditionen des Handelns mit den Risiken des Geldes, die höchsten Gerichte und der Staat bestimmte rechtlich und politisch bindende Entscheidungen. Kandidaten dafür sind Pflegekassen und Vertreter von Spitzenorganisationen der Pflege, die zusammen mit ausgewählten Pflegeexperten festlegen, welche Standards Pflegeorganisationen aufweisen müssen, um die Pflegekommunikation strukturell, prozessual und vom Ergebnis her mit einer entsprechenden Qualität durchzuführen.
3.6.9
Inklusion/Exklusion hinsichtlich des Pflegesystems
1. Das Begriffsdual Inklusion/Exklusion ist eine Form mit zwei Seiten (Hohm 2016; Hohm 2023). Während sich die Inklusion als die eine Seite der Form auf die strukturellen Voraussetzungen der Teilnahme von Personen an Funktionssystemen bezieht, stellt die andere auf ihren Ausschluss (=Exklusion) ab.
3. Funktionssysteme
Wenn in modernen funktional differenzierten Gesellschaften keine Person wie früher nurmehr in einen Haushalt, Stand oder Status inkludiert ist, muss potenziell jedermann an jedem der Funktionssysteme teilnehmen können, da keines der Teilsysteme all die Funktionen und Leistungen erfüllt, die für den Menschen als organisch-psychisches System und Person zur eigenen Autopoiesis notwendig sind. Semantisch wird diese gesellschaftsstrukturelle Voraussetzung in der modernen Gesellschaft als Gleichheit beschrieben, deren andere Seite Ungleichheit repräsentiert. Die Form Inklusion/Exklusion lässt sich als eine Unterscheidung bezeichnen, welche die Gesamtbevölkerung in der Gesellschaft als gleich beobachtet, wenn sie strukturell durch Inklusion an allen Teilsystemen teilnehmen kann und als ungleich, wenn sie durch diese strukturell an der Teilnahme gehindert und exkludiert wird. Die Menschen werden nicht nur durch die Inklusion in die einzelnen Teilsysteme als Personen gleich oder durch Exklusion ungleich gestellt, sondern auch mittels der Semantik von Freiheit/Unfreiheit beobachtet. Diese bezieht sich darauf, inwieweit die gesellschaftlichen Teilsysteme die Inklusion der Personen modalisieren, d.h. für strukturell notwendig, unmöglich oder möglich erachten. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die gesellschaftlichen Teilsysteme als Kommunikationssysteme und die Menschen als organisch-psychische Systeme sowie ganze Personen jeweils Umwelt füreinander sind. Gleichzeitig sind sie jedoch auch aufeinander in dem Sinne angewiesen, dass Kommunikation ohne mindestens zwei Bewusstseinssysteme nicht in Gang gesetzt werden kann und diese ohne Irritation durch Kommunikation nicht kontinuieren können. Hinsichtlich der modernen Inklusionsform gilt es zusätzlich festzuhalten, dass zu keinem Zeitpunkt in der Gegenwart alle Personen der Gesamtbevölkerung an allen Funktionssystemen teilnehmen oder umgekehrt keine von ihnen an irgendeiner Form der Kommunikation teilhat. Würde in diesem Fall die Autopoiesis der gesellschaftlichen Kommunikation beendet, da sie niemand adressieren könnte, ist der erste Fall nicht möglich, da die Personen sich nur sequenziell, jedoch nicht simultan an der Vielfalt der Teilsysteme beteiligen können. Die erste Konsequenz unserer gedankenexperimentellen Überlegungen ist also die, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Gegenwart die Funktionssysteme unterschiedliche Inklusionsquoten der Gesamtbevölkerung aufweisen und global aufgrund der Tag/Nacht-Differenz sich ein beträchtlicher Teil der Gesamtbevölkerung durch Schlaf von der bewussten Inklusion in jedwedes Funktionssystem entkoppelt. Als zweite Konsequenz können wir konstatieren, dass sich kein Funktionssystem auf Dauer autopoietisch kommunikativ reproduzieren kann, wenn sich die Gesamtbevölkerung kontinuierlich aus ihm exkludiert bzw. dauerhaft aus ihm exkludiert wird. Jedes Funktionssystem muss folglich zu einem bestimmten Zeitpunkt zumindest eine Mindestzahl von inkludierten Personen aufweisen. 2. Unterscheidet man zwischen Inklusion/Exklusion in Bezug auf das Pflegesystem, so gilt zunächst einmal, dass dieses sich nur autopoietisch reproduzieren kann, wenn Krankheit, Behinderung, Unfall und Alter einen Teil der Gesamtbevölkerung zu Pflegebedürftigen werden lassen und ihn in es inkludieren. Ihm steht der andere Teil gegenüber, der durch Selfcare nicht auf es angewiesen und aus ihm exkludiert ist.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Die Inklusion ins Pflegesystem durch Pflegebedürftigkeit wird von den anderen Funktionssystemen als Übernahme einer unfreiwilligen Rolle und Karriere betrachtet, deren Übernahme und Verlauf vermieden werden sollte. •
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Dabei kann, je nach Anlass und Grad der Pflegebedürftigkeit, die Inklusion ins Pflegesystem von kürzerer oder längerer Dauer sein, d.h. zu unterschiedlich langen Pflegekarrieren führen. Unterscheidet man zwischen Positiv-/Negativkarrieren und Nullkarrieren, stellt die Pflegekarriere sowohl für die Umweltsysteme als auch die Betroffenen selbst normalerweise eine Negativkarriere dar. Wenn sich jede Karriere – also auch die Pflegekarriere – als eine Kombination aus Selbst- und Fremdselektion ergibt (vgl. Luhmann 1989b, 232ff.), dann spielt bei der soziologischen Fremdbeobachtung der Pflegekarriere eine bedeutende Rolle, wie die Phasen der Pflegekarriere durch die Umweltsysteme, das Pflegesystem und die Pflegebedürftigen geformt werden. Aus der Perspektive der Selbstbeobachtung des Pflegesystems lassen sich Pflegekarrieren in abstraktester Weise als zeitlimitierte Ereignisse beobachten, die Personen ab dem Zeitpunkt durchlaufen, ab dem sie ins Pflegesystem eintreten bis zu dem Zeitpunkt, ab dem sie es verlassen. Das Pflegesystem reproduziert sich dementsprechend kommunikativ dadurch, dass es anhand seines Pflegecodes und seiner Pflegeprogramme die Pflegekommunikation ausdifferenziert, die von Moment zu Moment Pflegekarrieren beginnt, kontinuiert und beendet. Dabei informiert es sich z.B. durch Statistiken darüber, wie seine Inklusionquote im Laufe der Zeit variiert. Der Beginn, die Dauer und Beendigung, kurzum die Unterscheidung von Anfang und Ende von Pflegekarrieren, sind jedoch nicht identisch mit dem Pflegesystem. Anders ausgedrückt, die evolutionären Mechanismen der Varietät, Selektion und Restabilisierung des Pflegesystems sind zwar mit einer Unzahl von Pflegeereignissen als Pflegekarrieren strukturell und operativ gekoppelt, sie sind aber nicht mit diesen identisch. Insofern ist es auch nicht der Zweck des Pflegesystems Pflegekarrieren zu beginnen und zu beenden, auch wenn dies aus der Sicht der einzelnen Person so erscheinen mag, sondern es geht um die Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion bzw. eines gesellschaftlichen Bezugsproblems, das sich so lange als Problem reproduziert, solange die Anlässe von Pflegebedürftigkeit durch Fremd-, Selbstselektion und/oder Zufall erzeugt werden. Das Pflegesystem als Funktionssystem ist sowohl mit Pflegekarrieren von Leistungsals auch Laienrollen strukturell gekoppelt, die wiederum temporär in Form von fluktuierenden Berufs- bzw. Patientenrollen durch doppelte Inklusion ins Pflegesystem eingeschlossen sind. Beide Formen von Karrieren bilden sich im Medium des Lebenslaufes, dessen kommunikative Ereignisse als Teilkarrieren des Lebenslaufes das Pflegesystem in unterschiedlicher Weise zur strukturellen und semantischen Voraussetzung haben. Wenn wir den Lebenslauf von Personen als Medium und dessen Form als Karriere begreifen, trägt das Pflegesystem durch seine segmentäre Differenzierung von Pflegeorganisationen und Pflegedisziplinen sowohl zu unterschiedlichen beruflichen als auch Pflegekarrieren von betroffenen Patienten bei.
3. Funktionssysteme
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Die Pflegekarrieren des Personals (vgl. Hohm 1986; Hohm 2002, 92ff.) unterscheiden sich dadurch von denen der Pflegebedürftigen, dass die Pflegeorganisationen des Pflegesystems über Mitgliedschaft/Nichtmitgliedschaft qua Rekrutierung von Personen für Stellen entscheiden. Der Stellenwert der einzelnen Pflegeperson wird gemäß der Kriterien der Personalprogramme festgelegt, welche die unterschiedlichen Stellen horizontal und vertikal auf die Personen verteilen. Spiegelt diese die pyramidenförmige Abstufung vom Pflegemanagement über die Fachbereichsleitungen bis hin zu Stationsleitungen, examiniertem Pflegepersonal und Pflegehelfern wider, indiziert die horizontale Differenzierung die Zuordnung zu den jeweiligen Pflegesegmenten der Krankenpflege, psychiatrischen Pflege und Altenpflege, die hier nur stellvertretend genannt werden (vgl. dazu auch Vogd 2011, 77). Beendet werden diese beruflichen Pflegekarrieren u.a. durch Verrentung, Krankheit, Verunfallung, Betriebseinstellungen, Abwanderung in andere Berufe etc. Letztlich läuft das auf das Dual Fremd- und Selbstexklusion durch Kündigung hinaus, was die doppelte Kontingenz der modernen Pflegeorganisationen im Unterschied z.B. zur Ordenspflege verdeutlicht, bei der normalerweise der Tod oder eine chronische Krankheit die Exklusion implizierte. Dabei variieren die wechselseitigen Beschränkungen der Freiheiten von Pflegeorganisationen und Pflegepersonal in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Pflegebedarf, der Attraktivität der Arbeitsbedingungen und nicht zuletzt der Option der jeweiligen Generationen zugunsten des Pflegeberufs (vgl. dazu Michaelis 2005). Betrachtet man die Pflegekarrieren der Pflegebedürftigen etwas genauer, so werden diese in Pflegeorganisationen auf Betten statt Stellen verteilt. Die hierarchische Differenzierung manifestiert sich als Unterschied von Kassen- und Privatpatienten, was u.a. das Recht auf ein Einbettzimmer und die Behandlung durch den Chefarzt impliziert. Die Inklusionszeit der Pflegekarriere korreliert normalerweise mit der Schwere der Pflegebedürftigkeit und Krankheit. Die Selbstexklusion als funktionales Äquivalent der Kündigung durch das Pflegepersonal kommt bei Pflegebedürftigen seltener vor. Vielmehr dominiert die Fremdexklusion durch die Feststellung des Pflegepersonals, dass der Pflegebedürftige seine Selfcare zurückgewonnen hat und die Diagnose der Ärzte, dass die Krankheit geheilt ist oder der Pflegebedürftige mit ihr relativ autonom leben kann. Allerdings kann es bei schwereren Verlaufsformen der Pflegekarriere auch sein, dass die Inklusion in die Pflegeorganisationen durch den Tod des Pflegebedürftigen beendet wird. Das trifft vor allem auf die Altenpflege zu, aber auch auf die anderen Pflegesegmente, wenn die Ursache der Pflegebedürftigkeit z.B. eine schwere Krankheit ist.
3.6.10 Körper als Medium/Form und Wahrnehmungsmedium der Pflegekommunikation Bezieht man die Pflegeoperationen als Beobachtungen erster und zweiter Ordnung qua Pflegekommunikation auf den menschlichen Körper, unterscheidet sich ihre Systemreferenz vom Pflegebewusstsein dadurch, dass sie auf das Pflegesystem als operative Einheit eines Sozialsystems im Unterschied zu den pflegenden Menschen bzw. gepflegten Menschen als operative Einheit psychischer Systeme referiert.
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Dabei reicht es für die Beobachtung der Ausdifferenzierung der Pflegekommunikation nicht aus, wenn man diese daran festmacht, dass der menschliche Körper als Umwelt des Pflegesystems zu ihrem Thema wird, d.h. dass man über ihn, sei es in seiner Anwesenheit, sei es in seiner Abwesenheit, reden oder schreiben kann. Dass dies im Pflegesystem geschieht, ist unbestritten, wenn man an die Übergabe des Schichtpersonals, Pflegevisiten, Pflegedokumentation und Publikationen denkt. Es reicht aber deshalb nicht aus, weil der menschliche Körper im Pflegesystem behandelt (Behandlungspflege) wird, was Berührungen, Transport, Veränderungen seiner Haltung (Lagerung), Bewegung, Zufuhr von Flüssigkeit und Nahrung, Waschen etc. beinhaltet. Pflegeoperationen erschöpfen sich somit nicht in einer Spezialsprache der Pflege oder ihrer Duplikation durch Schrift, sondern schließen Handeln und Erleben ein. Das legt es nahe, diese in der Perspektive einer rollen- oder berufssoziologischen Beobachtung dem Pflegepersonal und den pflegebedürftigen Patienten zu attribuieren (vgl. Michaelis 2005). Bei der Beobachtung erster Ordnung bewirkt das Handeln des Pflegepersonals ein bestimmtes Erleben und/oder Handeln der Pflegebedürftigen. Ihr kommunikativer Widerstand wird qua Autorität des Pflegepersonals gebrochen und von diesem der Inkompetenz des pflegebedürftigen Adressaten zugeschrieben. Das ermöglicht die Reduktion von Komplexität, abstrahiert von der Beobachtung zweiter Ordnung und der Kontingenz bzw. den Bewusstseinsüberschüssen auf beiden Seiten. Bevor wir darauf noch einmal zurückkommen, müssen wir uns genauer der Beobachtung des menschlichen Körpers im Pflegesystem zuwenden. M.a.W.: wo bleibt der Körper, wenn man nur über ihn, aber nicht mit ihm sprechen oder schreiben kann? Lässt er sich als nichtsprachliches Kommunikations- und Wahrnehmungsmedium bzw. als nichtsprachliche Form beobachten, die im Pflegesystem kommunikativ anschlussfähig ist? Fungiert er als Unterscheidung von Mitteilung und Information, anhand dessen sich die Pflegekommunikation selbst beobachtet? Betrachtet man z.B. Kunstwerke, so lässt man sich auf diese im Kunstsystem (Luhmann 1995, 112ff.) nur dann adäquat ein, wenn man ihre akustischen, visuellen oder sprachlichen Formen als Aufforderung zur Beobachtung zweiter Ordnung versteht. D.h., wenn man nicht auf die Intentionen des Künstlers, der sie hergestellt hat, sondern auf dessen Disposition achtet. Die operative Einheit des Kunstsystems und damit der Kunstkommunikation erschließt sich dadurch, dass die vom Künstler hergestellten Kunstwerke – Opern, Bilder, Romane – als Formen im Rahmen von Wahrnehmungsmedien gehört, gesehen und gelesen werden. Die kommunikative Differenz von Mitteilung und Information und dass darauffolgende Verstehen erschließen sich je nach Schwierigkeit des Prozessierens von Formen in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Inklusions- und Exklusionsbedingungen. Überträgt man diese Beobachtungen auf das Pflegesystem, geht es im Kern darum, dem menschlichen Körper auch dann noch eine gepflegte Form der Darstellung zu ermöglichen, wenn die Herstellung des gepflegten Körpers durch Krankheit, Behinderung oder Alter temporär oder auf Dauer durch die zu pflegenden Personen nicht mehr möglich ist (vgl. Ketzer 2015, 23). Die Unwahrscheinlichkeit der Pflegekommunikation besteht dann darin, dass die pflegebedürftigen Personen es zulassen müssen, bei der Herstellung der Darstellung ihres gepflegten Körpers nicht nur beobachtet zu werden, son-
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dern die Herstellung der Darstellung ihres gepflegten Körpers durch das Pflegepersonal zu dulden. Anders ausgedrückt: die Unwahrscheinlichkeit gelingender Pflegekommunikation ergibt sich daraus, dass die pflegebedürftige Person beobachtet, sprich als psychisches System erlebt, wie ihr eigener Körper durch das Handeln der Pflegepersonen als gepflegter Körper hergestellt wird. Soll dies möglich sein, müssen deren körperbezogene Selektionen des Pflegehandelns von der zu pflegenden Person als Mitteilung und Information unterschieden, verstanden und akzeptiert werden. Dabei unterscheidet sich der pflegebedürftige Körper von Objekten oder Dingen (z.B. Bett, Dusche, Transportwagen etc.) als Wahrnehmungsmedium dadurch, dass er mit dem psychischen System und der Präsenz einer Person operativ und strukturell gekoppelt ist. Wir hatten an anderer Stelle bereits darauf hingewiesen, dass sich der Körper als Medium als eine Vielfalt von Kombinationsmöglichkeiten beobachten lässt, die zunächst lose gekoppelt vorliegen und erst durch die Form strikt gekoppelt werden. Erst die Form – so könnte man formulieren – ermöglicht ein Körpererleben und Körperhandeln, das kommunikativ anschlussfähig ist. Es geht also bei der soziologischen Beobachtung darum, inwieweit Kommunikationssysteme dem Körper im Medium von Sinn eine Form abgewinnen können oder Bewusstseinssysteme ihn im Medium von Sinn wahrnehmen (=erleben) oder behandeln bzw. mit ihm handeln. Auf das Pflegesystem und die Pflegekarriere des Patienten bezogen impliziert das, dass diese immer dann einsetzt, wenn der betroffene Mensch wahrnimmt, dass bestimmte Kombinationsmöglichkeiten seines Körpers nicht mehr oder noch nicht in eine Form gebracht werden können, die kommunikative Anschlussmöglichkeit ermöglicht. Dabei kann es sowohl um das eigene Körpererleben als auch um das Erleben des eigenen Körperhandelns gehen. In Form gebracht wird der Körper vornehmlich durch Teilnahme an Kommunikation und durch Eigensozialisation als Resultat von Wahrnehmungsschemata, aber auch qua Mitteilungen und Informationen über den Körper, die verstanden und akzeptiert werden. Wird eine pflegekompetente Teilnahme an Kommunikationssystemen vorausgesetzt, impliziert dies eine Reflexivität der Wahrnehmung, die zwischen normalen und anormalen körperlichen Selbstdarstellungen der Person unterscheiden kann. Als anormal gelten körperliche Selbstdarstellungen, die in Kommunikationssystemen als riskant, sei es für die betroffene Person selbst, sei es für andere erlebt werden. Entscheidend ist dabei, mit welchen Unterscheidungen die Anomalität der körperlichen Selbstdarstellung beobachtet bzw. attribuiert wird. Fällt z.B. eine erwachsene Person auf dem Bürgersteig um und bleibt liegen, wird sie als eine Person wahrgenommen, die die Kombinationsmöglichkeiten ihres Körpermediums nicht mehr in eine Form bringen kann, welche das Gehen (Fortbewegung) im Unterschied zum Liegen ermöglicht. Versucht eine andere Person, sie aufzurichten, stellt sich die Frage, ob es sich hierbei um Hilfe oder Pflege handelt. Offensichtlich verweist dieses Beispiel darauf, dass es zur Pflegekarriere der Ausdifferenzierung von Pflegekommunikation und eines Pflegesystems bedarf, das durch funktionssystemspezifische Rollen (vgl. Rohde 1962 277ff.) und den Pflegecode sowohl
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für die Selbstbeobachtung des Pflegesystems als auch die beteiligten Bewusstseine deutlichmacht, dass Pflegekommunikation vorliegt. Die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Kommunikation spielt für die Pflege insofern eine bedeutende Rolle, als es das Pflegepersonal immer auch mit visueller, akustischer und taktiler Wahrnehmung des zu pflegenden Körpers und des Pflegebedürftigen zu tun hat. Dabei stellt sich auch die Frage, wie Pflegekommunikation möglich ist, die durch die Mitteilungen des Körpers Informationen über ihn erhält, ohne dass dieser sich durch Sprache auf sich selbst beziehen kann. Man denke nur an einen schlafenden oder bewusstlosen Menschen auf der Intensivstation sowie einen Menschen, der sich aufgrund von Aphasie oder Demenz nicht mehr sprachlich angemessen mitteilen kann. M.a.W.: Pflegekommunikation muss auch dann möglich sein, wenn ihr Adressat durch Sprache nicht mehr erreichbar ist. Durch Kinästhetik und basale Stimulation versucht man dies zu realisieren. Ist der menschliche Körper das symbolisch generalisierte Medium des Pflegesystems, dessen Pflegebedürftigkeit zur temporären oder dauerhaften Pflegeunfähigkeit der betroffenen Personen führt, kann man folgende Unterscheidungen treffen: Pflegebedürftigkeit=Pflegeunfähigkeit im Sinne vom Mangel an Selfcare und Pflegefähigkeit als Selfcare=keine Pflegebedürftigkeit. Die Parallele zur Zahlungsfähigkeit und zu den Konsumbedürfnissen des doppelten Wirtschaftskreislaufs macht deutlich, dass professionelle Pflegefähigkeit mit Pflegebedürftigkeit einhergehen muss. Ohne Pflegebedarf kein Anlass zu jener und umgekehrt.
3.6.11
Technik im Pflegesystem
Versteht man unter Technik die Simplifizierung von Kausalität bzw. »funktionierende Simplifikation« (vgl. Luhmann 1997b, Bd.1, 524) in dem Sinne, dass aus dem unendlichen Horizont von Ursachen und Wirkungen einige selegiert und derart gekoppelt werden, dass im Sinne einer Trivialmaschine ein Input zum vorhersehbaren Output führt, wenn keine Bedienungsfehler gemacht werden, dann liegt im Pflegesystem immer auch Technik vor. Beobachtet man die Pflegetechnik im Kontext der Pflegekommunikation, dann kann sie in vielfältiger Form einen Beitrag zur Problemlösung im Falle der Pflegebedürftigkeit leisten. Sie schiebt sich zwischen die Selektion des Erlebens und Handelns der Pflegeperson und der zu pflegenden Person, in dem sie den Einsatz des Körpers als Medium bei beiden kommunikativ marginalisiert. Die Pflegetechnologie ermöglicht nämlich die Entkopplung von unmittelbarer wechselseitiger Wahrnehmung und Handeln durch die Anwendung von Konditionalprogrammen. Immer dann, wenn bestimmte Apparate und Geräte (Fieberthermometer, Dialysegeräte etc.) gewisse Informationen des Körpers als Daten wiedergeben, führen sie dazu, dass die Pflegekommunikation kontinuieren kann oder nicht. Indem Daten als Informationen über den Körper vermittelt werden, dienen diese als Konditionierungen für Pflegeentscheidungen. In einer Variante erfüllt die Pflegetechnologie die Funktion, die Pflegenden davon zu entlasten, Informationen von der pflegebedürftigen Person mitgeteilt zu bekommen.
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Das ist vor allem dann erforderlich, wenn bestimmte Vitalfunktionen in Gang gehalten werden müssen und der Pflegebedürftige – z.B. aus Gründen des Schlafes, der Bewusstlosigkeit oder großer Schmerzen – sein Körpererleben nicht mitteilen kann. Die strukturelle Kopplung von Pflegekommunikation und wahrnehmenden Bewusstsein des Pflegebedürftigen fällt dann aus bzw. ist massiv eingeschränkt. Dass die Pflegetechnologie an die Stelle der Information durch den zu Pflegenden treten kann, setzt voraus, dass das Pflegepersonal die Informationen der Pflegetechnologie richtig versteht und aufbauend auf ihnen Entscheidungen in Bezug auf den Körper des zu Pflegenden treffen kann. Wie dessen Körper darauf reagiert, informiert das Pflegepersonal darüber, ob seine Entscheidungen angemessen waren oder nicht. Ein Großteil der Pflegekommunikation besteht auch darin, dass der Körper des zu Pflegenden mit Hilfe der Pflegetechnik transportiert (mobile Betten), gelagert (verstellbare Betten) und behandelt (Infusionen etc.) wird, ohne dass das Bewusstsein der pflegebedürftigen Patienten daran beteiligt ist, sei es durch Erleben, sei es durch Handeln. Der Zugriff auf den Körper des Pflegebedürftigen muss also, wie bereits erwähnt, auch dann im Pflegesystem möglich sein, wenn sein Bewusstsein ausgeschaltet ist. Dass dies so ist, erklärt auch die Ausdifferenzierung einer Sondermoral der Pflege. Ein Teil ihrer Probleme bezieht sich auf die Lösung der Frage, wie mit dem Körper des Pflegebedürftigen umgegangen werden soll, wenn er den Pflegemaßnahmen nicht mehr zustimmen kann, d.h. seine Selbstselektion ausgeschaltet ist.
3.6.12 Beobachtung erster und zweiter Ordnung im Pflegesystem Unterscheidet man zwischen Beobachtung erster und zweiter Ordnung (vgl. Luhmann 1990e, 85ff.; Luhmann 1995i, 103), dann lässt sich die Beobachtung erster Ordnung dahingehend präzisieren, dass sie eine Unterscheidung trifft und deren eine Seite bezeichnet, ohne sich die mitgeführte andere Seite der Unterscheidung bewusst zu machen oder zu kommunizieren. Demgegenüber unterscheidet sich die Beobachtung zweiter Ordnung von der Beobachtung erster Ordnung dadurch, dass sie vom »Was« der Beobachtung auf das »Wie« der Beobachtung umstellt und damit beide Seiten der Unterscheidungen sehen kann. Dabei gilt für sie, dass sie sich auf die Beobachtung erster Ordnung bezieht, indem sie beobachtet, wie ein Beobachter erster Ordnung beobachtet und was er dabei sieht und nicht sieht. Und es gilt ferner, dass auch die Beobachtung zweiter Ordnung immer nur eine Seite der Unterscheidung bezeichnen kann, wenn er sie beobachtet und während der Operation der Beobachtung als Beobachter der ausgeschlossene Dritte der Beobachtung ist. Luhmann (1995i, 103) fasst die Differenz von Beobachtung erster und zweiter Beobachtung pointiert wie folgt zusammen: »Der Beobachter erster Ordnung konzentriert sich auf das, was er beobachtet, und erlebt bzw. handelt in einem Horizont relativ geringer Information […] Er lebt in einer ›wahr-scheinlichen‹ Welt. Der Beobachter zweiter Ordnung sieht dagegen die Unwahrscheinlichkeit des Beobachtens erster Ordnung. Jeder Handgriff, der getan, jeder Satz, der gesprochen wird, ist extrem unwahrscheinlich, wenn er als Auswahl aus allen ande-
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ren Möglichkeiten betrachtet wird […] Aber als Beobachtung zweiter Ordnung kann sie die Unwahrscheinlichkeit der Beobachtung erster Ordnung (einschließlich ihrer eigenen) noch thematisieren. Sie kann zumindest größere Auswahlbereiche erfassen, kann dort Kontingenz feststellen, wo der Beobachter erster Ordnung glaubt, einer Notwendigkeit zu folgen oder ganz natürlich zu handeln […] die Welt des Möglichen ist eine Erfindung des Beobachters zweiter Ordnung, die für den Beobachter erster Ordnung notwendig latent bleibt.« Was bedeuten nun diese Vorüberlegungen für die Beobachtung des Pflegesystems? Zunächst einmal kann man unterscheiden, wer das Pflegesystem beobachtet und wie dies geschieht. Ist die Beobachtung die der Wissenschaft, z.B. der Soziologie, oder die der Perspektive des Pflegesystems? Formuliert man die Unterscheidung der Beobachtung des Pflegesystems so, setzt man bereits eine Unterscheidung voraus, nämlich die von Pflege- und Wissenschaftssystem, und die Differenz von Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung. Wenn wir im Folgenden das Pflegesystem aus der Sicht der Soziologie, also als Fremdbeobachter beobachten, dann beobachten wir von außen, wie das Pflegesystem operiert, wenn es beobachtet. Dabei können wir durchaus auch die Selbstbeobachtung des Pflegesystems beobachten, d.h. beobachten, wie es sich selbst beobachtet. Wenn Beobachtungen erster Ordnung dem Pflegesystem zugerechnet werden, muss es sich um Beobachtungen handeln, die mit Unterscheidungen operieren, welche die eine Seite der Unterscheidung bezeichnen und dabei unterstellen, dass sie sich im Pflegesystem befinden. Eine Beobachtung erster Ordnung im Pflegesystem trifft somit eine Unterscheidung und grenzt sich mit ihr von allem anderen ab, was es sonst noch in der Welt gibt. 1. Indem z.B. eine Pflegende einen Patienten wäscht, vollzieht sie diese Handlung im Unterschied zu allen anderen möglichen Handlungen und grenzt ihre Beobachtung dadurch von allen anderem in der Welt ab. Dabei tut sie dies (=Waschen) und nichts anderes (z.B. Essen austeilen oder die Vitalwerte kontrollieren). Das Waschen lässt sich als Pflegeoperation (hier Handeln) als zugehörig zum Pflegesystem beobachten, wenn es sich um einen Patienten handelt, der krank ist und auf Station liegt, d.h. durch den Kontext, der eindeutig auf das Krankenhaus verweist. Um Beobachtung erster Ordnung geht es bei der Pflegeoperation des Waschens solange die Pflegende die andere Seite, sprich das Nichtwaschen, abdunkelt und die Operation des Waschens im Vorher und Nachher ihrer Pflegeoperationen vollzieht. 2. Zur Beobachtung zweiter Ordnung wird die Operation des Waschens dann, wenn das Wie des Waschens und die andere Seite des Waschens mitthematisiert oder wahrgenommen wird, d.h. wenn das Waschen entweder selbstbeobachtet oder im Hinblick auf einen Fremdbeobachter im Pflegesystem vollzogen wird. Es verliert dann die Reduktion von Komplexität im Sinne der Ausblendung anderer Möglichkeiten und wird kontingent. 3. Findet im Pflegesystem eine strukturelle Kopplung von Beobachtung erster und Beobachtung zweiter Ordnung statt und werden die Pflegeoperationen im rekursiven Netzwerk des Vorher und Nachher der Pflegekommunikation vollzogen, dann kön-
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nen sich die Pflegeoperationen nicht auf eine Operation allein beziehen, die bereits in dem Moment, wo sie vollzogen wurde, wieder verschwunden ist. Wäre dies so, könnten sich keine Wiederholungen und mit diesen keine Generalisierungen im Sinne der Kondensierung von Identitäten ergeben, die sich zugleich durch Konfirmierung in verschiedenen Situationen mit neuem Sinn anreichern können. Die Temporalisierung der Pflegeoperationen und ihre Gedächtnisgebundenheit erklärt mithin auch die Bedeutung der Pflegedokumentation, die die Unsichtbarkeit der Pflege in Sichtbarkeit für einen Beobachter transformieren soll. 4. Kommen wir zur strukturellen Kopplung von Beobachtung erster und zweiter Ordnung im Pflegesystem zurück. Ist das Waschen im Pflegesystem eine Pflegeoperation, die sich wiederholt, wird sie immer wieder von einer Beobachtung erster in eine Beobachtung zweiter Ordnung durch den den Waschvorgang beobachtenden Pflegebedürftigen transformiert. 5. Er führt als Beobachter zweiter Ordnung die Kontingenz der Pflegeoperationen in der Weise wieder in das Pflegesystem ein, indem er z.B. mitteilt, dass er nicht gewaschen werden will oder nicht so gewaschen werden möchte, wie es die Krankenschwester tut. Er kann sich aber auch den Pflegeoperation widerstandslos fügen oder sie als unangenehm erleben, dies aber nicht mitteilen. Wenn also der Pflegebedürftige zum Beobachter zweiter Ordnung im Pflegesystem wird, ist er derjenige der die Anschlussfähigkeit der Pflegeoperationen und damit die Beobachtung erster Ordnung in Frage stellen kann. Er kann kommunikativen Widerstand, sei es im Medium der Sprache, sei es mit dem Medium des eigenen Körpers, leisten. Festzuhalten bleibt also, dass die Pflegebedürftigen als Beobachter zweiter Ordnung die Kontingenz hinsichtlich der Pflegeoperationen des Pflegesystems einbringen, indem sie die andere Seite der Unterscheidung der Pflegeoperation, das Nichtwaschen oder andere Standards des Waschens, thematisieren. Dabei befinden sie sich in der Position eines Beobachters, dessen paradoxe Situation die ist, dass sie etwas bewerten, was sie zu können meinen, nämlich sich selbst waschen, es aber, da sie krank sind, zurzeit nicht können. Sie kommunizieren folglich paradox: ich kann etwas, was ich nicht kann; oder ich kann etwas anders als ich es beobachte, ich kann es aber nicht demonstrieren; oder ich erlebe etwas, was ich so nicht will, aber nicht ändern kann. Wechseln wir die Perspektive und schauen uns die Pflegende als Beobachterin zweiter Ordnung näher an. Wenn diese am Körper des Pflegebedürftigen die Pflegeoperation des Waschens vollzieht, wird sie, wenn sie sich nicht mit der Beobachtung erster Ordnung durch Zeitdruck oder Routine begnügt, immer schon in die Position der Beobachterin zweiter Ordnung hineinmanövriert, indem sie nämlich die Körperwaschung im Hinblick auf die Beobachtung des Patienten vollziehen muss. Während sie diesen wäscht, muss sie beim Prozessieren der Waschoperationen darauf achten, ob sie von ihm als angenehm/unangenehm, schmerzhaft/schmerzlos, gründlich/oberflächlich, zureichend/unzureichend erlebt werden. Wie lässt sich diese Beobachtung zweiter Ordnung der Pflegenden nun mit ihrer Selbstbeobachtung und der Pflegekommunikation in Verbindung bringen? Und inwieweit spielt der Pflegecode pflegefähig/pflegeunfähig hierbei als Selbstbeobachtung und
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Voraussetzung der Schließung des Pflegesystems als autopoietischen Systems eine Rolle? Was zunächst die Beantwortung der ersten Frage anbetrifft, so liegt Pflegekommunikation und die Schließung eines autopoietischen Pflegesystems nur dann vor, wenn die Pflegeoperationen in dessen rekursivem Netzwerk vollzogen werden. Das bedeutet, dass die Pflegende sich selbst durch die Fremdbeobachtung der Patientin im Medium der Pflegekommunikation beobachten muss. Indem sie daraufhin ihre Waschoperationen korrigiert, z.B. Dusch-Gel anstelle von Seife, warmes anstelle von kaltem Wasser nimmt, teilt sie mit, dass sie die Informationen der Patientin verstanden hat und kann ihre Waschoperation fortsetzen, wenn diese deren Vollzug akzeptiert. Die Möglichkeiten der Pflegeoperationen werden in diesem Falle also von der Patientin als Beobachterin zweiter Ordnung konditioniert. Geht man davon aus, dass man nur dann beobachten kann, wenn man unterscheidet, die Differenz von Beobachten/Nichtbeobachten also darin besteht, dass Nichtbeobachten einen Zustand der Unterscheidungslosigkeit ausmacht, dann beginnt jede Beobachtung mit einer Unterscheidung, die sie von allem anderen unterscheidet. Man könnte auch sagen, das Differente setzt sich im Unterschied zum Indifferenten. Die Einheit von Differenz und Indifferenz wäre dann die unbeobachtbare Welt, da sich diese nur beobachten lässt, wenn man eine Unterscheidung trifft. Mit der Unterscheidung der Beobachtung erster Ordnung und zweiter Ordnung im Pflegesystem unterstellen wir also, wie bereits am Waschbeispiel demonstriert, dass sich die Beobachtung erster Ordnung im Pflegesystem immer dann vollzieht, wenn in ihm Bestimmtes von Anderem unterschieden wird. So teilt die Pflegende mit, dass ein bestimmter Patient Fieber hat und nicht alle anderen; ruft einen konkreten Kollegen zum Umlagern eines Patienten und keinen anderen, stellt fest, dass eine Patientin Dekubitus und nichts anderes hat. Mit der Beobachtung erster Ordnung supponiert man eine Welt, in der alles in Ordnung ist bzw. eine monokontexturale Welt, die letztlich zwischen Sein und Nichtsein sowie Objekten und Subjekten unterscheidet. Anders sieht dies aus, wenn im Pflegesystem von Beobachtung erster auf Beobachtung zweiter Ordnung umgestellt wird. Man beobachtet dann im Pflegesystem, wie jemand beobachtet, d.h. mit welchen Unterscheidungen er beobachtet. Ein zu pflegender Körper kann dann von einem Beobachter anhand des Wahrnehmungsschemas leicht pflegebedürftig beobachtet werden, während ein anderer ihn als schwerpflegebedürftig beobachtet. Die Anweisung, »beobachte den Beobachter« (vgl. Luhmann 1990e, 85 im Anschluss an Spencer-Brown), läuft dann darauf hinaus, dass der eine nur sehen kann, was er sieht und nicht sehen kann, was er nicht sieht und umgekehrt. Ob und wie die beiden Beobachter zu kommunikativ anschlussfähigen Beobachtungen kommen können, hängt dann nicht zuletzt davon ab, worauf sich ihre Konstruktionen beziehen und inwieweit diese sich durch Kondensation wiederholen und qua Konfirmation auf neue Situationen einstellen können. Oder anders ausgedrückt, inwieweit sie Identitäten durch Wiederholungen kondensieren und generalisieren und neuen Situationen durch Konfirmation gerecht werden können (vgl. Luhmann 1990e, 108ff.). Es geht gewissermaßen um Varietät und Redundanz. Beobachtungen bewähren sich dabei in dem Maße, in dem sie zum einen Identität durchhalten und kontinuieren und andererseits offen genug sind, um neuen Sinn in neuen Situationen anzukristallisieren,
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sprich Identität zu diskontinuieren. Identität ist mithin eine paradoxe Einheit von Kontinuität/Diskontinuität bzw. Varietät und Redundanz. Beobachtungen zweiter Ordnung variieren im Pflegesystem dahingehend, wie abstrakt bzw. generell sie sich durch Kommunikation auf Einheiten des Systems beziehen. Die abstrakteste Variante der Beobachtung zweiter Ordnung ist diejenige, welche sich auf die Einheit des Pflegesystems in Differenz zur Umwelt bezieht. Es handelt sich dabei um eine Selbstbeschreibung des Systems, dessen Selbst das System als Einheit der Differenz von System und Umwelt ist. Dabei setzt die Selbstbeschreibung die Ausdifferenzierung von System und Umwelt voraus und kommuniziert diese im System selbst. M.a.W.: es kommt zu einem Re-entry der Differenz von System und Umwelt ins System. D.h. die eine Seite der Unterscheidung System/Umwelt kehrt in die Form als System zurück und thematisiert, wie sich das Pflegesystem von seiner Umwelt unterscheidet. Dabei verfährt diese Beobachtung zweiter Ordnung selbstreferentiell, indem sie sich mit Hilfe der Pflegekommunikation auf sich durch Mitteilungen und auf die Umwelt fremdreferentiell durch Informationen bezieht. Letztlich geht es um die Entfaltung von Paradoxien bzw. Tautologien, die darin bestehen, dass die Pflege weder dabei stehen bleiben kann, zu kommunizieren: Pflege ist Pflege. Eine Tautologie, die einer Paradoxie gleichkommt, indem sie einen Unterschied behauptet, der keiner ist. Noch reicht es aus, dass sich die Pflege mit der Behauptung ihrer paradoxen Einheit zufriedengeben kann, Pflege sei die Einheit der Differenz von Pflegekompetenz und Pflegeinkompetenz bzw. von Pflegefähigkeit und Pflegeunfähigkeit. Schließlich genügt jedoch auch nicht das Festhalten an einer negativen Identität der Pflege, die diese durch einer Differenz zu einer gegenwärtig noch nicht erreichten Zukunft oder einer nicht mehr anschlussfähigen Vergangenheit konstruiert (vgl. zu Pflegetheorien als Selbstbeschreibungen der Pflege Zimmermann u.a. 2012, 233ff.). Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass eine Beobachtung zweiter Ordnung im Pflegesystem Blockaden der kommunikativen Anschlussfähigkeit dadurch vermeiden können muss, dass sie seine Einheit nicht wie folgt konstruiert: als Kommunikation einer Tautologie, die zur Paradoxie wird, weil sie einen Unterschied behauptet, der keiner ist: Pflege ist Pflege; als Kommunikation einer paradoxen Einheit, die den Unterschied von Pflegekompetenz und Pflegeinkompetenz gleichsetzt und damit sachlich Inkonsistentes als Einheit identifiziert; oder als Kommunikation einer negativen Identität, welche die eigentliche Einheit in der Gegenwart zeitlich in die Zukunft oder Vergangenheit verschiebt. Alle drei Lösungen: man ist, was man ist, d.h. das Selbige als Unterschied; man ist das Selbige und das Unterschiedene und man ist, was man war oder was man sein wird, führen zu Blockaden der Anschlusskommunikation im Pflegesystem. Und zwar deshalb, weil sie als paradoxe Selbstbeobachtung entweder die soziale Dimension ohne Kontingenz ausstatten, die Sachdimension widersprüchlich beschreiben oder die Gegenwart aus einer Vergangenheit, die irreversibel ist, bzw. einer Zukunft, die unsicher ist, bestimmen, und damit die Gegenwart negieren, indem sie behaupten zu sein, was sie waren oder noch nicht sind. Beobachtet man das Pflegesystem daraufhin, wie es sich zum einen durch solche Selbstbeschreibungen blockiert und zum anderen, wie das Pflegesystem kommuniziert, indem es die Paradoxien invisibilisiert, indem sie sie entfaltet, dann kann man bei letzte-
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ren konstruktive Unterscheidungen beobachten, die das Paradox entfalten und bei ersterem Selbstbeobachtungen beobachten, die als Blockaden der Pflegekommunikation zu Irritationen im System führen. Die tautologische Selbstbeobachtung hat es mit dem Problem zu tun, dass sie auf zu viel Selbstreferenz setzt und den selbstreferentiellen Zirkel durch zu wenig Informationen durch die Umwelt unterbricht. Sie kreist dadurch in sich, indem sie sich immer wieder auf sich bezieht. Dies kann zur Dogmatisierung bis hin zu einem kommunikativen Widerstand gegenüber Informationen der Umweltsysteme führen. Vertreter dieser Form der Selbstbeobachtung können schließlich im System selbst isoliert werden, indem sie den Veränderungen der Umwelt im System nicht mehr Tribut zollen und somit Anschlussfähigkeit im System verlieren. Man könnte dazu u.a. Teile der ordensgebundenen Pflege zählen, die die Fremdreferenz vermissen lassen, indem sie ihre Grenzen zur Umwelt schließen und damit die Öffnung aufgeben (vgl. dazu bereits Rohde 1962, 42). Die Vertreter der negativen Identität tendieren zur Kritik im System, indem sie, obwohl sie im System kommunizieren, gleichsam von außen oder von der Zukunft her das System beschreiben, von dem sie zu wissen meinen, wie es in der zukünftigen Gegenwart aussehen wird. Diese progressive Position unterscheidet sich von der konservativen Position nur dadurch, dass sie schon weiß, wie die gegenwärtige Zukunft auszusehen hat. Die latente Gemeinsamkeit beider Positionen besteht darin, dass sie die Kontingenz unterschätzen. Während die Konservativen, die Strukturen und Prozesse des Pflegesystems überbetonen, überschätzen die Progressiven die Fremdreferenz, indem sie von dort aus, die Notwendigkeiten der Strukturen und Prozesse des Pflegesystems herunterspielen und so tun, als wäre das Mögliche notwendig. Anders ausgedrückt, unterscheidet man die Paradoxien der Selbstbeobachtung nach Reifikation der Selbstreferenz und nach Reifikation der Fremdreferenz, dann geht es bei der konservativen Position des Pflegesystems um eine Überschätzung der Notwendigkeiten der Selbstreferenz, während es bei der progressiven Position um eine Unterschätzung der Notwendigkeiten der Selbstreferenz geht. Ignorieren die einen die Fremdreferenz, überbetonen die anderen diese. Komplementär kommt es zu Reformreflexionen, die auf das Bewahren und das Verändern durch verstärkte Schließung bzw. verstärkte Öffnung des Systems hinauslaufen. Es überrascht somit auch nicht, dass der blinde Fleck beider Positionen darin besteht, dass sie für sich jeweils diejenigen Strukturen und Prozesse invisibilisieren müssen, die Informationen auf die Umwelt oder das System beziehen. Bezieht man diese paradoxen Selbstbeschreibungen auf die paradoxe Einheit des Pflegecodes, dann kann dieser sich nur dadurch entfalten und damit seine Ausgangsparadoxie invisibilisieren, indem er Unterscheidungen prozessiert, die zur Anschlussfähigkeit im Pflegesystem führen.
3.6.13 Sondermoral der Pflege Die Moralkommunikation orientiert sich am Code gut/schlecht bzw. gut/böse, je nachdem, ob das Verhalten oder die Einstellung thematisch ist. Sie stellt darauf ab, inwieweit die ganze Person geachtet oder verachtet wird. M.a.W.: es geht um Achtungs- und Missachtungsbedingungen. Moralische Kommunikation ist zudem symmetrisch und selbst-
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implikativ gebaut, indem sie jeden, der in die Kommunikation moralische Fragen einspeist, immer auch damit konfrontiert, ob er die Bedingungen, unter denen er Achtung kommuniziert, auch selbst erfüllt. Das Bezugsproblem der Moral ist folglich die Inklusion der ganzen Person durch Achtung seitens der Gesellschaft (vgl. Luhmann 1989a, 361ff.). Da jedoch nicht unterstellt werden kann, dass jeder die gleichen Achtungsbedingungen akzeptiert, fungiert Moral in modernen komplexen Gesellschaften weniger integrierend als desintegrierend. Sie löst eher Konflikte als Konsens aus, wenn man sich für seine Achtung als ganze Person engagiert (vgl. dazu Luhmann 1990c, 26–27; Luhmann 1997b, Bd.1, 404–405). Dabei kann es um vermeintliche Bagatellen gehen, wie die Frage, ob man im Sommer Miniröcke tragen darf oder nicht, aber auch um Fragen der generellen Behauptung seiner Identität als Angehöriger einer Ethnie, Nation, eines Milieus oder Geschlechts. Ist die Rede von einer Sondermoral der Pflege, muss es im Pflegesystem Probleme geben, die Themen moralischen Verhaltens bzw. moralischer Einstellung so zu lösen erlauben, dass die Pflegekommunikation anschlussfähig ist und zudem ihre Sondermoral von der Alltagsmoral und der Moral von Umweltsystemen unterscheiden kann. Wenn der Pflegecode wie jeder funktionssystemspezifische Code amoralisch ist, also auf Distanz zur Alltagsmoral geht, muss es im Pflegesystem möglich sein, durch Pflegekompetenz festzustellen, dass pflegeinkompetent gehandelt und Fehler gemacht wurden, ohne dass dies zur moralischen Verachtung und zur Exklusion derjenigen führt, die pflegeinkompetent gehandelt haben (vgl. dazu allgemein für die binären Codes der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Luhmann 1997b, Bd.1, 403ff.). Es sei denn sie haben sich grob fahrlässig verhalten oder mit Absicht gegen die Pflegeprogramme und -standards verstoßen. Klar ist also, dass Fehler erlaubt sein müssen, z.B. den Auszubildenden, wenngleich nicht elementare. Die Sondermoral der Pflege bezieht sich auf solche Probleme, bei denen die Symmetrie von Achtungsbedingungen der ganzen Person bei der Pflegekommunikation ins Spiel kommt. Dabei kann es sich um die Anwendung bestimmter Pflegeoperationen wie die Fixierung von Pflegebedürftigen, die mangelnde Wertschätzung der Pflegenden durch die Ärzteschaft oder die zu pflegenden Personen und ihre Angehörigen oder umgekehrt handeln (vgl. Rohde 1962, 303ff., der anhand des Beispiels eines abgelehnten Geldgeschenks, das eine Patientin einer Krankenschwester nach einem längeren Krankenhausaufenthalt zukommen lassen wollte, die allzu »simple Dichotomie von Normgerechtigkeit und Norm-Ungerechtigkeit« [ebd., 305] diskutiert). Die Sondermoral der Pflege versucht somit, Achtungsbedingungen zu institutionalisieren, die Konflikte um Anerkennung so weit wie möglich zu reduzieren erlauben. Dass jedoch die Achtungsbedingungen im Pflegesystem selbst nicht immer konsensfähig sind, exemplifizieren bestimmte konfessionelle Pflegeorganisation die z.B. Abtreibung nicht zulassen. Erhellt dieses Beispiel bereits die Unwahrscheinlichkeit der Achtungsbedingungen der pflegerischen Sondermoral, so wird sie durch die milieuspezifisch divergierenden kulturellen Werten noch zusätzlich erhöht. Man denke nur an die Erwartungen an das Pflegesystem, die Unterschiede der Geschlechter, der Dresscodes, Essenspräferenzen, Gebetsrituale, Hygiene etc. angemessen zu berücksichtigen. Hinzu kommen die Achtungsprobleme hinsichtlich derjenigen pflegebedürftigen Personen,
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die in der psychiatrischen Pflege oder Intensivpflege aufgrund ihres Krankheitszustandes ihre Selbstachtung nicht autonom durchzusetzen in der Lage sind. Die Einführung des Betreuungsrechtes sowie die forcierte Möglichkeit des Einbezugs von Patientenwünschen durch das persönliche Budget in der Behindertenhilfe deuten darauf hin, dass die Sondermoral oft allein nicht trägt, sondern die Autonomie der Pflegebedürftigen durch das Rechtssystem zusätzlich abgesichert werden muss. Im Übrigen hatte die kritische (vgl. Freidson 1975) im Unterschied zur klassischen Professionstheorie (vgl. Parsons 1968; Parsons 1973) immer wieder darauf hingewiesen, dass eine Sondermoral der Professionen, besonders der Ärzteschaft, daran scheitert, dass diese selbst im jeweiligen Funktionssystem, z.B. auch im Pflegesystem, nicht konsensfähig ist und damit als Binnenkontrolle versagt. Beispiele zu Problemen des Dopings im Sportsystem (vgl. Bette/Schimank 1995), zur Korruption im politischen System und Moraldissensen im Religionssystem verweisen darauf, dass eine Sondermoral offensichtlich prekär ist und zur Anschlusskommunikation im jeweiligen Funktionssystem nur bedingt taugt. Die professionelle Selbstdarstellung, die davon ausgeht, dass es gut ist, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden und für die gute Seite zu optieren, scheitert deshalb wiederholt daran, dass eine Fremdbeobachtung zu schnell ihre blinden Flecken sieht. Das gilt besonders dann, wenn zur Aufrechterhaltung der Betriebsbedingungen des Pflegesystems das Böse oder Schlechte unter Latenzschutz steht, sprich inkommunikabel ist. D.h. man weiß im System von moralisch zu verachtenden Einstellungen und Handlungen, fürchtet aber um die Konsens- und Durchsetzungsfähigkeit seiner Moral im Pflegesystem selbst oder seiner systeminternen Umwelt. Es ist deshalb keine Überraschung, wenn die Moralisierung durch Skandalisierung der Massenmedien als funktionales Äquivalent der prekären Sondermoral der Pflege fungiert. Luhmann (1996b, 144) drückt dies allgemein wie folgt aus: »Die Moral bedarf des deutlich Skandalösen, um sich am Fall zu verjüngen; sie bedarf der Massenmedien und speziell des Fernsehens.«
3.6.1.4 Grundpflege als Basisoperation des Pflegesystems: das Beispiel Essen und Trinken Betrachten wir die Grundpflege als elementare Operation des Pflegesystems, geht es bei ihr um die teilweise oder gänzliche Substitution elementarer Formen körperlicher Operationen, deren Selbstvollzug als Selfcare normalerweise von gesunden Personen vorausgesetzt wird, wenn sie an gesellschaftlicher Kommunikation teilnehmen können sollen (vgl. Bauch 2005, 76). 1. Wir wollen im Folgenden exemplarisch die Operationen des Essens und Trinkens einer erwachsenen Person, die diese allein, also ohne Anwesenheit von Dritten vollzieht, als Beispiel für Selfcare thematisieren. Zunächst einmal gilt ganz elementar, dass sie ohne sie verhungert und verdurstet, d.h. stirbt. Das spezifisch Menschliche dieses elementaren Bezugsproblems des Körpers im Unterschied zu den Tieren ist die strukturelle Kopplung des menschlichen Körpers mit seinem psychischen System, das dieses Bezugsproblem als Person bewusst erleben und auch intentional daraufhin handeln kann.
3. Funktionssysteme
Dabei operiert der menschliche Körper selbstreferentiell und fremdreferentiell zugleich. Selbstreferentiell, indem er die Nahrung und Flüssigkeit für seinen Eigenbetrieb als Energie verbraucht. Fremdreferentiell, indem er seine verbrauchte Energie durch erneute Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr von außen wiederherstellt. Die zeitliche Wiederholbarkeit und die gleichen körperlichen Symptome interpretiert und erlebt das psychische System als Hunger und Durst. Dabei können sich die körperlichen Symptome anhand eines trockenen Mundes, nachlassender Aufmerksamkeit, schwindender Energie, leerer, knurrender Magen etc. melden. Das Wahrnehmungsschema hungrig bzw. durstig ist die eine Seite der Unterscheidung, deren andere Seite satt/nicht durstig ist. Die Präferenzwerte der Leitdifferenzen hungrig/satt und durstig/nichtdurstig sind satt und nichtdurstig. Ihre Negativ- und Reflexionswerte hungrig/durstig. Das psychische System ist dementsprechend an seinen Organismus in der Weise strukturell gekoppelt, dass dieser es zu regelmäßig wiederkehrenden Zeiten anhand von Symptomen darüber informiert, dass er der Nahrungs- bzw. Essenszufuhr bedarf. Sichtbar wird dies für das psychische System zusätzlich daran, dass sein Körper die zugeführte Nahrung und Flüssigkeit in regelmäßigen Abständen ausscheidet. M.a.W.: der Körper meldet sich zusätzlich durch Harndrang und Stuhlgang. Dies verweist darauf, dass der Körper nicht nur seinen Input, sondern auch seinen Output dem psychischen System durch körperliche Symptome meldet. Gleichzeitig wird auch bei der Ausscheidung deutlich, dass diese an Körperteile wie Blase, Darm und After gebunden ist. Wobei der Throughput im Organismus, z.B. durch den Magen, die Leber und Nieren, die Nahrung und Flüssigkeit verdaut und in die wahrnehmbare Formen Stuhl und Urin transformiert. Als Ungenießbares und Unverdauliches sind sie gleichsam der Abfall, der als übelriechend der Beobachtung Dritter entzogen werden muss. In einer Zwischenbilanz unserer Beobachtungen können wir festhalten, dass die Operationen des Essens und Trinkens als zeitpunktabhängige notwendige Ereignisse, die sich wiederholen, von einem psychischen System betrachtet werden. Ausgangspunkt für sie ist die Wahrnehmung der Differenz von durstig und hungrig, die entsprechende Symptome des eigenen Körpers bezeichnet, wobei satt/nichtdurstig die Präferenzwerte sind, die qua Essen und Trinken erreicht werden sollen, und hungrig/durstig die Negativ- und Reflexionswerte. Dabei findet eine strukturelle Kopplung des psychischen Systems mit dem eigenen Körper in dem Sinne statt, dass dieser sich u.a. dadurch reproduziert, dass er den Input des Essens und Trinkens durch systeminterne selektive Mechanismen anhand der Differenz verdaulich/unverdaulich unterscheidet und das Unverdauliche zu einem vom Essen und Trinken getrennten späteren Zeitpunkt als in Urin und Stuhl transformierten Output ausscheidet. Wir können die Beobachtungen der Operationen Essen und Trinken auch einem doppelten Kreislauf von Körper und Psyche zuordnen. Der Körper nimmt die Nahrung und Flüssigkeit auf, selegiert sie nach Verdaulichem/Unverdaulichem und scheidet das Unverdauliche in Form von Harn und Stuhl aus. Die Psyche nimmt den eigenen Körper als hungrig/durstig wahr, führt ihm deshalb Nahrungsmittel und Flüssigkeit zu, beobachtet deren Verdauung daraufhin, ob sie Probleme wie z.B. Blähungen, hervorruft oder problemlos erfolgt, und trägt ihrer Ausscheidung durch Harnlassen und Stuhlgang Rechnung. Sofern Körper und Psyche als autopoietische Systeme getrennt operieren,
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jedoch durch strukturelle Kopplungen verbunden sind, implizieren beide Kreisläufe Abhängigkeit und Unabhängigkeit zugleich. Was die Unabhängigkeit des Körpers von der Psyche anbelangt, so resultiert sie vor allem daraus, dass bereits der Input von Nahrung und Flüssigkeit normalerweise an die Form des Körpers, sprich den Mund, gebunden ist. So kann der menschliche Körper bestimmte Formen der Nahrung erst gar nicht aufnehmen, wenn sie nicht eine angemessene Größe, ein limitiertes Volumen der Flüssigkeit oder ein bestimmtes Tempo der Zufuhr aufweisen. Die Form menschlicher Körper reduziert somit schon die mögliche Kombinatorik von Elementen (=Medien), die als Essen und Getränke von diesem konsumiert werden können. Das Gleiche gilt für die interne selektive Verarbeitung anhand der Differenz verdaulich/unverdaulich. Wenn der menschliche Körper bestimmte Formen der Nahrung/ Flüssigkeit erbricht, allergisch reagiert, Symptome von Krankheit zeigt oder gar stirbt, macht er deutlich, dass er systemeigenen Mechanismen der erfolgreichen Reproduktion unterliegt. Schließlich kann er sich auch durch bestimmte Formen der Ausscheidung, die sich am Geruch des Harns oder der Konsistenz und Verfärbung des Stuhlgangs manifestieren, aber auch anhand der Verhinderung der Ausscheidung darüber informieren, dass bestimmte Formen der Nahrung und Flüssigkeit selbstschädigend sind. Nun könnte man einwenden, dass Dargestellte trifft auch auf Trivialmaschinen wie Autos zu, die nur Benzin und keine Getränke zu sich nehmen, bestimmte Teile des Motors verlieren und auch Abgase von sich geben können, die auf Dysfunktionen des Autos verweisen. Das dies nicht der Fall ist, basiert darauf, dass der menschliche Körper eine Nicht-Trivialmaschine ist (vgl. von Foerster/Pörksen 2011, 54ff.). Als solche ist er ein strukturdeterminiertes System und eine historische Maschine und stellt alle seine Elemente, Prozesse und Strukturen selbst her, ersetzt sie und macht Teile ihres Outputs zum Input. So transformiert der menschliche Körper seine Gestalt eigenständig, indem er wächst und reift, ohne dass die Umwelt entscheidend determinieren könnte, welche Form diese annimmt; so hat der menschliche Körper ein systemeigenes Gedächtnis, was sich u.a. daran zeigt, dass er bestimmte Funktionen im Krankheitsfall vergisst und manche danach wieder aktualisiert. Darüber hinaus kann er sich wechselnden Umwelten durch eigenständige Veränderung seiner Temperaturen anpassen und er kann autonom operieren, auch dann, wenn ihn die Psyche zu kontrollieren versucht (vgl. Hirschauer 1999, 243). Gleichwohl ist der Körper auch von der Psyche abhängig, indem z.B. der Mensch bewusst entscheiden kann, ob er seinem Körper Essen und Trinken zuführen will oder nicht, sprich, ob er sich für den Präferenzwert Leben entscheidet oder nicht. Darüber hinaus ist er davon abhängig, welche Formen des Essens und Trinkens er ihm anbietet. Dies gilt nicht nur für den Input, sondern auch für die systeminternen Mechanismen der Verdauung/Nichtverdauung, die die Psyche in gewisser Weise mitkontrollieren kann, wenn er z.B. erbrechen muss. Schließlich kann die Psyche auch den Zeitpunkt der Ausscheidung sowie denjenigen des Essens und Trinkens durch Selbstkontrolle hinausschieben.
3. Funktionssysteme
All dies deutet daraufhin, dass durchaus eine gewisse Abhängigkeit und Unabhängigkeit von Körper und Psyche in Bezug auf den angeführten doppelten Kreislauf stattfindet. Obwohl die Psyche im Medium von Sinn operiert und somit den Körper nicht durch Bewusstsein substituieren kann, gilt, dass der menschliche Körper sowohl durch das Bewusstsein als auch die Kommunikation sozialer Systeme geformt und benutzt werden kann. Wenn wir uns erneut unserem Beispiel der Operationen des Essens und Trinkens zuwenden, die eine Person allein vollzieht, dann vollzieht sie diese normalerweise, wenn sie Hunger oder Durst wahrnimmt und zu einem Zeitpunkt, der es ihr ermöglicht, andere Operationen zu unterbrechen bzw. sich auf diese nicht voll konzentrieren zu müssen. Wir können ferner unterstellen, dass ihr die vorherrschenden Essenszeiten – Frühstück, Mittagessen, Abendessen – vertraut sind. Diese deuten auf mindestens zweierlei hin: Zum einen verweisen sie darauf, dass die Moderne strukturell und semantisch das Essen und Trinken der Personen nicht der individuellen Beliebigkeit ihres Körpers und ihrem Bewusstsein überlässt, d.h. individueller Hunger und Durst und die temporale gesellschaftliche Erwartbarkeit seiner Durchführung durchaus divergieren können. Dabei gilt jedoch auch seit spätestens den letzten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts, dass sowohl strukturell als auch semantisch die Möglichkeiten der Institutionalisierung von Essenszeiten in dem Maße variieren, in dem die Temporalstrukturen der Funktionssysteme und Organisationen das Essen und Trinken deinstitutionalisieren und den Personen diesbezüglich mehr individuelle Freiheiten einräumen. Das rapide Wachstum von Fast-food-Ketten, der Flexibilisierung von Erwerbsarbeits- und Familienzeiten, die zunehmende Singularisierung von Lebensformen scheint darauf hinzudeuten, dass sich auch die Essenszeiten zunehmend flexibilisieren und individualisieren. Zum Zweiten wird deutlich, dass semantisch die Unterscheidung Essen/Trinken das Essen als Einheit der Differenz betont, was im Übrigen auch bei der Differenz von satt und nichtdurstig deutlich wird. Offensichtlich benötigt die Operation des Essens mehr Zeit als das Trinken und ermöglicht darüber hinaus auch sachlich eine größere Differenzierung der möglichen Formen von Lebensmitteln und Speisen, die sich aus der Kombinatorik von Rohstoffen als Medien in Differenz zu Getränken ergeben. Thematisiert man nun den Körper als Medium im Hinblick auf die Operationen des Essens und Trinkens, dann lässt sich zunächst eine Selektion derjenigen Körperteile beobachten, die in sie involviert sind. Primär sind es der Mund, die Hände und die Augen, während der übrige Körper gleichsam als systeminterne Umwelt beobachtet wird. Dabei gilt in zeitlicher Hinsicht insofern eine irreversible Sequenz, als erst die Hände und dann der Mund die Operationen realisieren. In der Regel werden die Operationen von der Person selbst erfüllt, was nicht ausschließt, dass man sich bedienen lassen kann. Die Bedienung endet jedoch bei der Durchführung der elementaren Operationen des Essens und Trinkens. Diese vollzieht die Person ebenso selbst wie sie ihren Toilettengang allein durchführt. M.a.W. die Elementarität von Essen und Trinken ist in einem doppelten Sinne des Begriffs Elemente zu verstehen. Elementar sind die Operationen des Essens und Trinkens insofern, als sie – was immer ihre Kombinationsmöglichkeiten als Formen der Speisen und Getränke sein mögen – von der Person selbst selegiert werden müssen. Und sie sind insofern ele-
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mentar, als ihre Konsumtion von der Person selbst und nicht von anderen durchgeführt werden muss. Damit der Körper die Funktion der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr erfüllen kann, weist er spezifische Organe (=Innenseite) und spezifische Extremitäten (=Außenseite) auf. Zur Innenseite gehören Mundinnenraum, Rachen, Magen, Darm, After und zur Außenseite Hände, Mund und Augen. Was die Außenseite anbelangt, auf die wir uns beschränken, so ist das Essen und Trinken nur möglich, wenn die betroffene Person Körperhandlungen koordinieren, z.B. mit den Händen das Essen zum Mund führen, das Besteck benutzen oder das Glas halten kann. Zum anderen muss die Person kauen und den Mund öffnen können. Hinzu kommt, dass die Augen das Essen und Trinken sehen und von anderen Dingen in der Umwelt unterscheiden können müssen. Schließlich gilt eine unumkehrbare Sequenz der Körperoperationen. Vorausgesetzt das Essen und Trinken steht bereit, muss das Essen erst mit den Händen oder mit Hilfe des Bestecks zum Mund geführt, dann gekaut und schließlich geschluckt werden. Dabei begleiten und kontrollieren die Augen durch Sehen die Operationen. Hinzu kommt, dass die Fokussierung der Operationen des Essens und Trinkens auf die Trias Auge (=Sehen), Hände (=Greifen) und Mund (=Kauen und Schlucken) mit einer gewissen Indifferenz respektive Latenz in Bezug auf die Funktionserfüllung der übrigen Teilsysteme des Körpers einhergeht bzw. einer gewissen Positionierung und Haltung des übrigen Körpers. So sitzt man normalerweise, wenn man die Operationen des Essens und Trinkens durchführt, spricht nicht mit vollem Munde, schläft nicht etc. 2. Die Relevanz unserer Beobachtungen zur Funktion des Essens und Trinkens des menschlichen Körpers für die Pflege lässt sich in mehreren Hinsichten präzisieren: Erstens: Pflegebedürftige Patienten können, je nach Pflegegrad, die elementaren Operationen Essen und Trinken noch weitgehend, teilweise oder gar nicht mehr selbständig realisieren. Zweitens: für das Pflegepersonal bedeutet dies, dass es im Grenzfall fast alle Operationen der Vorbereitung und Durchführung des Essens und Trinkens anstelle des Pflegebedürftigen durchführen muss. Allerdings gilt dies nicht für die Operationen der Nahrungsaufnahme und des Trinkens, solange der Pflegebedürftige nicht bewusstlos oder gelähmt ist und deshalb Infusionen benötigt. Drittens: das Pflegepersonal muss darauf achten, dass der Pflegebedürftige nicht dehydriert, also diesen als Fremdbeobachter darauf aufmerksam machen, dass er genügend trinkt. Viertens: falls der Pflegebedürftige bestimmte Präferenzen bzw. Abneigungen hinsichtlich von Speisen und Getränken hat, muss das Pflegepersonal ihn selbst oder seine Angehörigen befragen, was seine Ess- und Trinkgewohnheiten sind. Eine entsprechende Dokumentation erleichtert eine patientenbezogene Essensausgabe. Fünftens: nach schweren Operationen oder Bewusstlosigkeit des Pflegebedürftigen muss die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr durch Infusionen ersetzt werden. Sieht man die Erwartungen an das Pflegepersonal bezüglich einer exemplarisch ausgewählten elementaren Aktivität des täglichen Lebens wie dem Essen und Trinken auf einen Blick, wird im Vergleich zur Selfcare der nicht pflegebedürftigen Person deutlich,
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welche komplexe Voraussetzungen pflegeorganisatorisch erfüllt sein müssen, damit das Pflegepersonal das Essen und Trinken annähernd so angemessen gestalten kann, wie es eine pflegekompetente Person von sich aus könnte. Dass diese komplexen organisatorischen Voraussetzungen der Pflege nicht immer strukturell gewährleistet sind, hängt u.a. mit der Knappheit der Zeit und der Vordringlichkeit des Befristeten (Luhmann 1971) vor allem in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen zusammen, der Knappheit des Pflegepersonals und seiner Frustration durch Überforderung, Koordinations- und Kommunikationsdefizite der Subsysteme sowie mangelnder Ressourcen, um patientenorientiert zu pflegen.
3.6.15 Schlussbemerkungen Am Ende unserer längeren Darstellung des Pflegesystems als eines sekundären Funktionssystems konnten wir uns nochmals vergegenwärtigen, wie unwahrscheinlich das Gelingen selbst so scheinbar elementarer Bedürfnisse wie Essen und Trinken ist, wenn der autonome Vollzug von Personen aufgrund von Pflegebedürftigkeit nur noch bedingt möglich ist, und wie wichtig es deshalb ist, dass es ein Pflegesystem gibt, das seine Funktion auf die Lösung dieses Problems mittels seiner Pflegefähigkeit zugeschnitten hat. Mit unserer Grundannahme der Pflege als eines sich etablierenden sekundären Funktionssystems (vgl. Hohm 2002) grenzen wir uns von der von Bauch (2005, 77) als Frage formulierten These der »Pflege als semi-ausdifferenziertem professionalisiertem Sozialsystem« ab, da wir weder ein erweitertes Gesundheitssystem (ebd., 82), das sich an der Leitdifferenz gesundheitsförderlich/gesundheitshinderlich orientiert, für plausibel halten, da es den Präferenzwert Prävention (=gesundheitsförderlich) überschätzt, noch nachvollziehen können, wie die Pflege in dessen Kontext ein »bedeutendes Subsystem« sein kann, »das sich vom Subsystem der Medizin durch Professionalisierungsprozesse zunehmend abkoppelt.« Und zwar zum einen deshalb nicht, weil Bauch nicht klarmacht, wie sich die Pflege als Subsystem des Gesundheitssystems ausdifferenzieren und damit vom Subsystem der Medizin bzw. System der Krankenbehandlung unterscheiden kann, wenn sie keine gesellschaftliche Funktion wahrnimmt, keinen eigenständigen Pflegecode aufweist und keine autonome Pflegekommunikation generieren kann (vgl. dazu ebd., 72–77). Und sich zum anderen die Professionalisierungsprozesse der Pflege zumindest in Deutschland weitgehend auf das Pflegemanagement und die Pflegepädagogik beschränken, wenn man die Akademisierung als Maßstab nimmt (vgl. dazu Winter 2005, 288ff.). Auch teilen wir nicht die Vorstellung eines »ganzheitlich orientierten Pflegesystems« (Michaelis 2005, 271 u. 273), wenn damit die »Bereichspflege […] mit einer Vielfalt von Aufgaben und patientenorientierten Arbeitsabläufen, so dass auch persönliche Beziehungen aufgebaut werden können«, gemeint ist. So implizieren zwar die Aufgabenerweiterung und der Aufbau persönlicher Beziehungen der Bereichspflege im Gegensatz zur Funktionspflege ein Jobenlargement in sachlicher Hinsicht und eine Intensivierung der Beziehung der Pflegenden zu den Pflegebedürftigen in sozialer Hinsicht, die ein an anonymen Erwartungen orientiertes Rollenverständnis in Richtung der Person überschreiten. Dennoch stößt das auf diese Weise verstandene ganzheitlich orientierte Pflegesystem insofern an Grenzen, als es nicht die ganze Person mit all ihren
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Rollen, geschweige denn all ihre Wahrnehmungen und Vorstellungen als psychisches System bzw. Bewusstseinssystem in der Pflegekommunikation thematisieren oder im Falle der Rollenverluste durch Substitute kompensieren kann. Der Versuch der Einlösung dieser pflegerischen Imperative durch die Bereichspflege eines ganzheitlichen Pflegesystems würde mit Sicherheit vergleichbare psychische Belastungen auslösen, wie sie Michaelis (2005, 266–67) für den Status quo der Funktionspflege beschreibt. Am nächsten kommt unserer Auffassung der Pflege als eines sekundären Funktionssystems die im Anschluss an Vogd (2011, 76–80) vorgetragene Argumentation von Ketzer (2015, 21ff.). Sie verweist explizit auf den Pflegecode gepflegt/ungepflegt (ebd., 22–23), den wir ebenfalls als relevanten Kandidaten neben dem von pflegefähig/pflegeunfähig als innerer Seite des doppelten Pflegekreislaufs und der Pflegebedürftigkeit/keine Pflegebedürftigkeit als seiner äußeren Seite diskutiert haben. Darüber hinaus referiert sie (ebd., 23–24) auch auf die »gesellschaftliche Funktion des Pflegesystems«. Sie »besteht mithin darin, mittels unter anderem der ambulanten Pflegedienste sicherzustellen, dass der Pflege bedürftige Menschen auch weiterhin als soziale Identitäten in der Kommunikation wahrgenommen werden können. Für den menschlichen Leib bedeutet das, dass er, wenn es möglich ist, keine Folgeschäden der Pflegebedürftigkeit aufweist, wie beispielsweise Dekubiti oder Kontrakturen und dass er beispielsweise ›wie immer‹ frisiert ist, das heißt, als ob der pflegebedürftige Mensch dies selbst getan hätte. In der Form kann dieser dann weiter als Vater, Oma oder Onkel angesprochen werden, obwohl dieser das unter Umständen nicht mehr wahrnehmen kann oder gar nicht mehr weiß, was beispielsweise die Vaterrolle bedeutet.« Nach Vogd (2011) sorgt die Pflege dafür, so Ketzers Zitat (2005, 23), »[…] dass der gepflegte Körper seine Rollenförmigkeit trotz offensichtlicher physiologischer und psychischer Zerfallsprozesse behält. Sie sorgt dafür, dass etablierte soziale Adressen (z.B. Mütter, Väter, Freunde) als solche wiedererkannt und kommunikativ adressiert werden können, ohne dabei gleichzeitig die körperlichen und geistigen Defizite aktualisieren zu müssen.« Trotz der Nähe zu unserer systemtheoretischen Verortung des Pflegesystems unterscheiden wir uns bei seiner Funktionsbestimmung dahingehend von Ketzer (bzw. Vogd), dass wir sie nicht nur auf die Schwerstpflegebedürftigkeit beziehen. So schreibt sie (ebd., 23): »Hier geht es darum, dass die soziale Identität der Person, auch wenn sie beispielsweise im Sterben liegt oder aufgrund von Krankheit und Pflegebedürftigkeit nicht mehr ansprechbar ist, gewahrt bleibt.« Diese Funktionsbestimmung ist insofern zu reduktionistisch, als sie erstens den Teil der Pflegebedürftigen ausblendet, der durch die Ko-Operation des Pflegesystems und der Pflegebedürftigen im Sinne der aktivierenden Pflege in dessen Umweltsysteme durch die wiedererlangte Selfcare reinkludiert wird. Zum Zweiten mit der Fixierung auf die soziale Identität der Pflegebedürftigen ignoriert, dass dieser im Goffmann’schen Sinne auch eine persönliche Identität und Ich-Identität hat (vgl. Goffman 1970, 67ff.
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u. 132ff.). Diese zeichnen sich im Unterschied zum standardisiert gepflegten Körper der sozialen Identität der Person gerade beim gepflegten Körper von Verwandten und Freunden durch die Individualität und Unverwechselbarkeit der durch die Ich-Identität bzw. persönlichen Identität präferierten Körperpflege aus. Dass es den Angehörigen deshalb nicht reicht, wenn sie die ihnen nahestehenden Personen hinsichtlich der Rollenförmigkeit des gepflegten Körpers wiedererkennen, kann man daran ablesen, dass sie oft im Falle des Todes des Pflegebedürftigen zusammen mit den Bestattern auf eine individuell zugeschnittene Körperpflege achten, die sich an der Lieblingskleidung, der von ihm bevorzugten Frisur, sein Lieblingsparfum etc. festmacht. Schließlich stellt sich drittens die Frage, auf welche der vielfältigen funktionssystemspezifischen Rollen außerhalb des Pflegesystems des Pflegebedürftigen sich die Körperpflege und damit die soziale Identität bezieht: Ist es die Berufsrolle, die Elternrolle, Partnerrolle, Freizeitrolle, Touristenrolle etc.? Für inadäquat halten wir schließlich den Vorschlag, den Pflegecode als Leiden/ Nichtleiden (Dietrich 2020, 205) und die gesellschaftliche Funktion des Pflegesystems als »Kommunikation von Leid« (Dietrich 2020, 209) zu bestimmen. Und zwar deshalb, weil beide zu unspezifisch sind, um die Ausdifferenzierung des Pflegesystems sicherzustellen. So fokussiert das Pflegesystem seine Kommunikation nicht nur auf die Thematisierung des Leids als seinen Positivwert, sondern auch und vor allem auf die Operationen des pflegebedürftigen Körpers, die andere Inhalte der Pflegekommunikation als das Leid ins Zentrum rücken, wie z.B. Fragen der Ästhetik bei der Pflege des Outfits, Fragen des Geschmacks beim Essen und Trinken sowie Fragen der Mobilität beim Betten, Sitzen und Gehen. Zudem ist die Kommunikation des Leids keine exklusive Funktion der Pflege. Man denke nur an die Psychotherapie, die Soziale Arbeit, ja selbst die Politik und Wirtschaft, die sehr wohl im Falle von großem Leid – wie Armut, Vergewaltigungen, Naturkatastrophen – mit ihren Leistungen (therapeutische Interventionen, Hilfeprogramme, Subventionen, Infrastruktur, Geld) Leid zu lindern oder Nichtleid herzustellen in der Lage sind. In all den angeführten Fällen handelt es sich um Leiden als Ergebnis des »subjektiven Erleidens von Grenzsituationen« (Dietrich 2020, 205), das nicht primär vom Pflegesystem, sondern von anderen Funktionssystemen kommuniziert wird. Dietrichs Vorschlag leidet dementsprechend an einer zu unspezifischen Bestimmung des Pflegecodes sowie einer zu allgemeinen Fassung des Bezugsproblems bzw. der Funktion des Pflegesystems. Seiner Schlussfolgerung (ebd., 208): »Durch die gesellschaftliche Differenzierung hat sich die Pflege zu einem System entwickelt, welches das Leid zu einem Maße reduziert, dass dieses für die Gesellschaft tolerabel ist. Wenn diese Funktion nicht erfüllt werden kann, müssten Ersatzsysteme entstehen, welche […] nicht zu erwarten sind«, können wir insofern nicht zustimmen, als sowohl strittig ist, was das tolerable Maß für die Reduktion des Leids durch die Pflege ist, als auch systemtheoretisch fragwürdig ist, der nichtadressablen (Welt-)Gesellschaft Toleranzgrade des Leids zu attribuieren. Deshalb muss die Gesellschaft auch nicht auf Ersatzsysteme warten, sondern hat sie bereits in Form der von uns angeführten Funktionssysteme etabliert. Dass der Markt bzw. das
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Wirtschaftssystem das Leid nicht lindern können (Dietrich 2020, 209,) ist dementsprechend eine zu allgemeine Aussage, wenn man berücksichtigt, dass zum Glück bzw. zur Zufriedenheit als ein Zustand des Nicht-Leidens auch die Zahlungsfähigkeit der Personen z.B. durch ihre Inklusion in die Pflegeversicherung gehört. Schließlich sollte eine systemtheoretische Fremdbeschreibung, die den Anschluss sowie Kontakt zur Realität und Selbstbeschreibung des Pflegesystems trotz inkongruenter Perspektive nicht verlieren will, nicht auf eine Semantik seines Codes zurückgreifen, die sich auf der Makroebene als Funktionssystem des Leidens präsentiert. Anhand unserer allgemeinen Ausführungen wurde deutlich, was in den Blick gerät, wenn man zur Beobachtung des sich etablierenden sekundären Funktionssystems der Pflege auf die soziologische Systemtheorie der Bielefelder Schule – vor allem Luhmanns – rekurriert. Anhand der Schlussbemerkungen wurde zusätzlich klar, dass es selbst innerhalb des systemischen Paradigmas unterschiedliche soziologische Beobachtungen des Pflegesystems gibt. Inwieweit diese innerhalb einer sich konstituierenden Soziologie der Pflege oder Pflegesoziologie (vgl. Schroeter/Rosenthal 2005b) anschlussfähig sind, und ob sie das sich etablierende sekundäre Funktionssystem und seine Pflegeorganisationen sowie Pflegemanager, Pflegepädagogen, Pflegefunktionäre und pflegenden Akteure folgenreich irritieren können, hängt nicht zuletzt davon ab, welche wissenschaftliche Disziplinen diese für ihre Reflexionen des Pflegesystems und die Vorstellung einer angemessenen Pflege präferieren (vgl. zum Pflegeverständnis der Pflegewissenschaft Dietrich 2020, 202–203). Abschließend sei noch betont, dass dabei die Selektionen der Pflegewissenschaft hinsichtlich der etablierten wissenschaftlichen Disziplinen eine wichtige Rolle spielen, die wiederum eng mit ihrer Vorstellung von Pflege zusammenhängen.
3.7 Wirtschaft. Die Konsumgesellschaft als Selbstbeschreibung des Wirtschaftssystems 3.7.1
Einleitung: Die Konsumgesellschaft als Form der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung
Die Konsumgesellschaft stellt für die neuere soziologische Systemtheorie Luhmann’scher Provenienz eine von vielen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungsangeboten dar. So optiert Kneer (2001, 424) zwar für die Semantik der Überflussgesellschaft im Anschluss an Galbraith, betont aber zugleich: »Zunächst gilt, daß eine Reihe verwandter Begriffe existieren, die den gleichen oder doch zumindest einen ähnlichen Bedeutungsgehalt aufweisen wie das Label der Überflussgesellschaft. Zu denken ist etwa an die Wegwerf-, Wohlstands- und Konsumgesellschaft. Eine systematische Reflexion des Konzepts der Überflussgesellschaft wird deshalb nicht umhinkommen, diese (und womöglich weitere Begriffe) in die Untersuchung miteinzubeziehen.« (Hervorhebung: Hohm)
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Wirtschaftssystem das Leid nicht lindern können (Dietrich 2020, 209,) ist dementsprechend eine zu allgemeine Aussage, wenn man berücksichtigt, dass zum Glück bzw. zur Zufriedenheit als ein Zustand des Nicht-Leidens auch die Zahlungsfähigkeit der Personen z.B. durch ihre Inklusion in die Pflegeversicherung gehört. Schließlich sollte eine systemtheoretische Fremdbeschreibung, die den Anschluss sowie Kontakt zur Realität und Selbstbeschreibung des Pflegesystems trotz inkongruenter Perspektive nicht verlieren will, nicht auf eine Semantik seines Codes zurückgreifen, die sich auf der Makroebene als Funktionssystem des Leidens präsentiert. Anhand unserer allgemeinen Ausführungen wurde deutlich, was in den Blick gerät, wenn man zur Beobachtung des sich etablierenden sekundären Funktionssystems der Pflege auf die soziologische Systemtheorie der Bielefelder Schule – vor allem Luhmanns – rekurriert. Anhand der Schlussbemerkungen wurde zusätzlich klar, dass es selbst innerhalb des systemischen Paradigmas unterschiedliche soziologische Beobachtungen des Pflegesystems gibt. Inwieweit diese innerhalb einer sich konstituierenden Soziologie der Pflege oder Pflegesoziologie (vgl. Schroeter/Rosenthal 2005b) anschlussfähig sind, und ob sie das sich etablierende sekundäre Funktionssystem und seine Pflegeorganisationen sowie Pflegemanager, Pflegepädagogen, Pflegefunktionäre und pflegenden Akteure folgenreich irritieren können, hängt nicht zuletzt davon ab, welche wissenschaftliche Disziplinen diese für ihre Reflexionen des Pflegesystems und die Vorstellung einer angemessenen Pflege präferieren (vgl. zum Pflegeverständnis der Pflegewissenschaft Dietrich 2020, 202–203). Abschließend sei noch betont, dass dabei die Selektionen der Pflegewissenschaft hinsichtlich der etablierten wissenschaftlichen Disziplinen eine wichtige Rolle spielen, die wiederum eng mit ihrer Vorstellung von Pflege zusammenhängen.
3.7 Wirtschaft. Die Konsumgesellschaft als Selbstbeschreibung des Wirtschaftssystems 3.7.1
Einleitung: Die Konsumgesellschaft als Form der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung
Die Konsumgesellschaft stellt für die neuere soziologische Systemtheorie Luhmann’scher Provenienz eine von vielen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungsangeboten dar. So optiert Kneer (2001, 424) zwar für die Semantik der Überflussgesellschaft im Anschluss an Galbraith, betont aber zugleich: »Zunächst gilt, daß eine Reihe verwandter Begriffe existieren, die den gleichen oder doch zumindest einen ähnlichen Bedeutungsgehalt aufweisen wie das Label der Überflussgesellschaft. Zu denken ist etwa an die Wegwerf-, Wohlstands- und Konsumgesellschaft. Eine systematische Reflexion des Konzepts der Überflussgesellschaft wird deshalb nicht umhinkommen, diese (und womöglich weitere Begriffe) in die Untersuchung miteinzubeziehen.« (Hervorhebung: Hohm)
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Fragt man sich, worin das spezifische Interesse liegen könnte, die Konsumgesellschaft (vgl. dazu auch Kaelble 1997; Wyrwa 1997; Bretschneider 2000) anstelle von anderen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft einer näheren systemtheoretischen Beobachtung zu unterziehen, so lassen sich folgende Aspekte anführen: Im Rahmen der Luhmann’schen soziologischen Systemtheorie spielt der Bezug auf die Semantik und Struktur der Konsumgesellschaft eher eine marginale Rolle. So bezieht er sich, soweit ich sehe, nur selten explizit auf sie (vgl. allerdings Luhmann, 1988, 166). Das Register in seinem abschließenden Hauptwerk »Die Gesellschaft der Gesellschaft« von 1997 enthält z.B. keinerlei diesbezüglichen Eintrag. Kneer (2001) ordnet sie zusammen mit Nassehi und Schroer den »klassischen Gesellschaftsbegriffen der Soziologie« zu (vgl. Kneer u.a. 2001). Sie gerät aus systemtheoretischer Sicht allenfalls dann näher in den Blick, wenn die Semantik des Körpers bzw. seine symbiotische Verbindung mit den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien sozialer Systeme oder die veränderte Form der stratifizierten Differenzierung in der funktional differenzierten Moderne thematisiert werden (vgl. Bette 2005, 154ff.; Luhmann 1981f, 234ff., Luhmann 1985, 146 u. 149). Affine Semantiken wie Dienstleistungsgesellschaft, Erlebnis-, Risiko-, Freizeit- und Spaßgesellschaft (vgl. Häusermann/Siebel 1995; Schulze 1993; Beck 1986; Opaschowski 2008), aber auch Diskussionen zum Ende der Arbeitsgesellschaft weisen hingegen dem Konsum im Kontext der erweiterten Freizeit eine zentrale Rolle für die heutige Beschreibung der Gesellschaft zu (vgl. Andersen 1994, 209). So schreibt Opaschowski (2008, 33): »Um 1990 haben der Struktur- und Wertewandel den Stellenwert der Arbeit spürbar verändert. Genauso wichtig wie Arbeit und Geldverdienen wurden Freizeit und Freunde. Und Arbeit musste für die meisten Menschen – wie Freizeit auch – ganz einfach Spaß machen, weil sie mehr Zeit zum Leben haben wollten. Arbeitszeit war nicht mehr nur verkaufte Lebenszeit […] Die Konturen einer sich neu entwickelnden Freizeit-Arbeitsgesellschaft zeichneten sich ab.« Darüber hinaus werden im Umkreis der Semantiken der Kommunikations-, Multioptionsgesellschaft und postmodernen Gesellschaft (Münch 1991, 145ff.; Gross 1994; Bauman 2000) die besondere Bedeutung von neuen Konsumgewohnheiten mit ihren Risiken und Chancen sowie die Präferenz zugunsten des Konsumenten statt des Produzenten thematisiert. So schreibt Münch (1991, 147): »Wer in diesem ästhetischen Wettbewerb nicht mitkommt, hat auch keine Marktchancen mehr. Der Käufer sucht beim Shoppen keine Lebensnotwendigkeiten, sondern das ästhetische Erlebnis nahezu als Selbstzweck. Der ökonomische Kaufakt wird zum Beiwerk ästhetischen Genießens. Flanieren im Shopping- und Kulturzentrum der Städte ist nicht mehr allein Privileg einer Elite reicher Müßiggänger, sondern ein Massenspiel.« Gross (1994, 387) formuliert: »Alles hat zu wachsen: von den Bibliotheken bis zu den Konsummöglichkeiten.« (Hervorhebung i. O.) Und Bauman (2000, 76–77) betont:
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»[…] postmodern society engages its members primarily in their capacity as consumers rather than producers. That difference is seminal […] Life organized around the producer’s role tends to be normatively regulated […] Life organized around consumption, on the other hand, must do without norms: it is guided by seduction, ever rising desires and volatile wishes–no longer by normative regulation […] The idea of ›luxury‹ makes little sense, as the point is to make today’s luxuries into tomorrow’s necessities, and to reduce the distance between ›today‹ and ›tomorrow‹ to the minimum – to ›take the waiting out of wanting‹. As there is no norm to transform some desires into needs and to delegitimize other desires as ›false needs‹, there is no benchmark against which one could measure the standard of ›conformity‹.« Schließlich wird die diabolische Seite der Konsumgesellschaft – sei es als »Konsumterror« des spätkapitalistischen Systems«, sei es als Wegwerfgesellschaft, sei es als unbarmherziger Wettbewerb – sowohl in der Tradition der Theorien der Abweichung als auch seitens der kulturkritischen konservativen und progressiven Beobachter immer wieder ins Zentrum der Kritik gerückt (Wyrwa 1997; Bretschneider 2000, 49ff.; Kneer 2001, 438ff.; Bauman 2000, 90). Sieht man diese unterschiedlichen soziologischen Beobachtungen zur Konsumgesellschaft innerhalb und außerhalb der soziologischen Systemtheorie auf einen Blick, so scheint es uns mehr als gerechtfertigt zu sein, ihren Beitrag zur Beschreibung der heutigen Gesellschaft aufs Neue systemtheoretisch zu durchleuchten.
3.7.2
Funktional differenzierte Gesellschaft und Konsumgesellschaft
Fragt man sich, weshalb die Semantik der Konsumgesellschaft in der neueren Systemtheorie eher eine marginale Rolle spielt, so hängt das u.E. vor allem mit ihrer Beschreibung der modernen Gesellschaft zusammen. Diese wird aus systemischer Perspektive sozialstrukturell durch die Dominanz der funktionalen Differenzierung bestimmt, welche eine gleichwertige Ausdifferenzierung primärer Funktionssysteme (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien, Recht, Kunst etc.) impliziert. Für einen systemtheoretischen Beobachter heißt dies, dass die moderne Gesellschaft polykontextural strukturiert ist (vgl. Luhmann 1997b, Bd. 1, 36), was mehrere Selbstbeschreibungen ermöglicht und damit die Reduktion auf eine von ihnen als unzulängliche Totalisierung eines Teilsystems ausschließt (siehe dazu Willke 2001, 396; Hohm 2016, 56–57). Ihre Einheit ist die einer differenten Vielfalt von Teilsystemen, welche sich bezogen auf eine je spezifische gesamtgesellschaftliche Funktion ausdifferenzieren. Dies geschieht durch binäre Codes, die eine Form mit zwei Seiten repräsentieren. Sie ermöglichen die Einschließung in die Gesellschaft durch Ausschließung der an ihnen orientierten funktionssystemspezifischen Kommunikation. Ihr jeweiliges rekursives Netzwerk erzeugt autopoietische Funktionssysteme, die sowohl ihre Elemente, Prozesse als auch Strukturen selbst kommunikativ herstellen. Dies bedeutet jedoch auch, dass die Gesellschaft als dieselbige verschieden ist, je nachdem, wie sie im Medium der jeweiligen codespezifischen Kommunikation beobachtet wird.
3. Funktionssysteme
3.7.3
Binäre Codierung des Wirtschaftssystems: Konsum als ausgeschlossenes eingeschlossenes Drittes
Bezieht man die gesellschaftliche Selbstbeschreibung der Konsumgesellschaft auf das Wirtschaftssystem, dann sind damit aus systemtheoretischer Perspektive mehrere Implikationen verbunden. Als Erstes kommt es entscheidend darauf an, wie man den Code des Wirtschaftssystems bestimmt, sprich: welches die zentrale Unterscheidung ist, welche seine Ausdifferenzierung möglich macht. Je nachdem, für welche Leitunterscheidung man sich entscheidet, bekommt man anderes zu sehen und schließt unterschiedliche Drittwerte aus. So kann man für reich/arm, Kapital/Arbeit, Haben/Nichthaben oder zahlungsfähig/zahlungsunfähig bzw. Zahlen/Nichtzahlen optieren (vgl. dazu Luhmann 1988, 151ff. u. 188ff). Präferiert man die Unterscheidung reich/arm, ignoriert man die Arbeit als Drittwert. Entscheidet man sich zugunsten von Kapital/Arbeit, bleibt der Konsum als Drittwert ausgeblendet. Ist man für Haben/Nichthaben, wird das Geldmedium exkludiert, und optiert man zugunsten der Differenz zahlungsfähig/zahlungsunfähig, werden Arbeit und Konsum zunächst ausgeschlossen. Indem die neuere soziologische Systemtheorie für die Leitdifferenz zahlungsfähig/zahlungsunfähig bzw. Zahlen/Nichtzahlen oder Zahlung/Nichtzahlung votiert (Luhmann 1988, 52ff.; 243ff.), zollt sie vor allem der evolutionären Entwicklung des Wirtschaftssystems von der Subsistenz- zur Geldwirtschaft Tribut. Die Zugehörigkeit zum Wirtschaftssystem und damit die funktionssystemspezifische Form der Wirtschaftskommunikation lassen sich dementsprechend daran festmachen, ob gezahlt wird oder nicht. Das Geldmedium ist das Medium, das als Zweitcode alles Eigentum zu monetarisieren erlaubt (Luhmann 1988, 191 u. 196ff.). Anders ausgedrückt: die Geldwirtschaft setzt sich zugleich als universalistische und spezifische gegenüber einer primär am Eigentum orientierten Wirtschaft durch. Als universalistische, indem aus der Perspektive ihres Codes jedwedes Eigentum, ob Land, Haus, Konsummittel etc., in Geldwerte transformiert werden kann. Spezifisch, indem im Gegensatz zu vormodernen Gesellschaften auch Rücksichtnahmen auf andere Codes und ihre Werte in dem Sinne Platz greifen, als z.B. die Liebe des Partners im Gegensatz zur Sexualität der Prostituierten nicht käuflich ist; Abgeordnetenmandate, das Seelenheil und Siege im Sport ebenfalls nicht gekauft werden können (vgl. Luhmann 1988, 111; 239). Geschieht dies dennoch, führt es zumindest in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft zu Skandalen, wie sich anhand von Watergate, Doping und Annullierung bikultureller Ehen, die zwecks Aufenthaltserlaubnis geschlossen wurden, zeigen lässt. Ist die Leitdifferenz zahlungsfähig/zahlungsunfähig als zugleich universalistischer und spezifischer Zweitcode des modernen Wirtschaftssystems eingerichtet, stellen sich die Fragen, was aus den ausgeschlossen Drittwerten arm, reich, Kapital, Arbeit und Konsum wird. Wie lassen sich diese wieder in das Wirtschaftssystem einführen? Möglich wird dies, wenn man zwischen Selbst- und Fremdreferenz der Wirtschaftskommunikation bzw. einem Doppelkreislauf der Wirtschaft (vgl. Luhmann 1988, 131ff.) unterscheidet.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Ausgangspunkt der Selbstreferenz des Wirtschaftskreislaufes ist die im Medium des Zahlens/Nichtzahlens vollzogene Autopoiesis des Wirtschaftssystems und das mit ihm verknüpfte Knappheitsproblem. Seine Paradoxie besteht darin, dass mit jedem Zahlungsvorgang der Zahlende seine Knappheit der Güter auf Kosten der Knappheit anderer reduziert, zugleich jedoch auch damit seine Geldknappheit zugunsten der Zahlungsmöglichkeiten des Zahlungsempfängers erhöht. Die Selbstreferenz des Wirtschaftskreislaufes ergibt sich somit daraus, dass die Zahlungsfähigkeit laufend regeneriert wird, zugleich aber auch auf der anderen Seite ihrer Form bzw. ihres Codes Zahlungsunfähigkeit erzeugt. Das Zahlen erzeugt somit Knappheit bei den einen und Überfluss bei den anderen. Luhmann (1988, 181–182) drückt dies wie folgt aus: »Für den, der zugreift, verringert sich die im Zugriff vorausgesetzte Knappheit. Für alle anderen vergrößert sie sich. Beides geschieht im selben System […] Durch Bifurkationen entsteht ein geschichtetes System, in dem Sequenzen zu (möglicherweise änderbaren) Strukturen gerinnen. Kondensierte Knappheit erscheint dann als Differenz von ›Haben‹ und ›Nichthaben‹ mit der Folge, dass sich diejenigen Operationen unterscheiden, die man im Anschluss an Haben bzw. an Nichthaben ausführen kann […] Das konstituierende Problem erscheint daher nur in einer abgeschwächten Form. Es ist transformiert in Allokations- und Verteilungsprobleme oder auch in Probleme der Legitimation von Ungleichheit.« (Hervorhebung i. O.) Dabei besteht die Besonderheit des Kapitals im Gegensatz zu Steuern und Arbeit darin, die Zahlungsfähigkeit nicht nur zu regenerieren, sondern durch Rentabilität eine höhere Zahlungsfähigkeit durch Gewinn zu erzeugen. Damit sind zugleich Möglichkeiten der Selbstbeobachtung, z.B. in Form von Bilanzen, eingebaut, anhand denen die Unternehmen ablesen können, inwieweit sich Investitionen ausgezahlt haben oder nicht. Dies gilt ebenfalls, wenn auch in anderer Form, nämlich durch Budgets, für die öffentlichen Haushalte des Staates und die Familienhaushalte, welche in Bezug auf ihre Geldausgaben feststellen können, inwieweit ihre Budgets Zahlungsfähigkeit in Zahlungsunfähigkeit transformiert haben. Bilanzen und Budgets indizieren somit die Selbstreferenz des Wirtschaftskreislaufes, indem sie die temporären Zahlungsvorgänge anhand von Zeitunterschieden daraufhin beobachten, ob sie mehr oder weniger Zahlungsfähigkeit am Ende eines Zeitabschnittes aufweisen (vgl. Luhmann 1988, 139–140; 307; 344). Die Fremdreferenz des Wirtschaftskreislaufes kommt dann ins Spiel, wenn die durch die Selbstreferenz der Codewerte ausgeschlossenen Drittwerte wieder ins Wirtschaftssystem eingeführt werden. Dies gilt insbesondere für Arbeit und Konsum. Wenn mit der Durchsetzung der Geldwirtschaft zugleich potenziell jeder Erwachsene, zunächst vor allem die Männer, arbeiten muss (vgl. Häußermann/Siebel 1995, 176ff.), stellt die Arbeit als Erwerbsarbeit denjenigen Fremdbezug des Wirtschaftskreislaufes dar, der für die Unternehmen die Möglichkeit und Notwendigkeit der Rekrutierung qualifizierten Personals durch Stellenbesetzung bedeutet. Für die familialen Haushalte hingegen ermöglicht die Erwerbsarbeit den Kauf von Konsumgütern durch Zahlungsfähigkeit in Form des Lohnes bzw. Haushaltsgeldes. Zugleich impliziert das Personal Kosten für die Wirtschaftsunternehmen.
3. Funktionssysteme
Der Konsum wiederum lässt sich in den der Unternehmen und den der familialen Haushalte unterscheiden. Indiziert er für erstere den Einkauf von Konsumgütern im Hinblick auf ihre Produktion (z.B. Rohstoffe, Teile von Zulieferern), d.h. die Realisierung ihrer Produktionsbedürfnisse, entspricht er bei den familialen Haushalten der Befriedigung von notwendigen und artifiziellen Bedürfnissen. Die Differenz von arm und reich verweist demgegenüber unter Bedingungen der Geldwirtschaft daraufhin, dass es zwei Minderheiten von Bevölkerungsgruppen gibt. Die einen können auf Arbeit freiwillig verzichten, weil sie ihre Konsumbedürfnisse durch Vermögen befriedigen können. Die anderen müssen auf Arbeit verzichten, weil sie niemand einstellt, und sind somit auf staatliche soziale Transferzahlungen zur Befriedigung ihrer notwendigen Konsumbedürfnisse angewiesen. Die Differenz von arm und reich tritt jedoch in der Geldwirtschaft der Modernisierungszentren dann zurück, wenn es der Mehrheit der Bevölkerung gelingt, durch das Medium der Erwerbsarbeit ihre notwendigen und artifiziellen Konsumbedürfnisse zu realisieren. Diese Realisierung gilt auch für die Mehrheit der Rentner und Rentnerinnen in der Nacherwerbsphase, solange sie als Resultat einer kontinuierliche Erwerbskarriere eine hinreichende Rente aufweisen können (vgl. dazu Bäcker u.a. 2010, Bd. 2, Kapitel VIII Alter, 353ff., bes. 467–468). Der zunehmende Erfolg der sich durchsetzenden Konsumgesellschaft in den Nachkriegsjahrzehnten der 1950er und 1960er Jahre in Westeuropa (vgl. Kaelble 1997, 169; Andersen 1997; Andersen 1999; Wildt 1997) erklärt u.a., weshalb erst Ende der 1990er Jahre der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erschien. So schreibt Siegrist (1997, 21–22): »Die westeuropäische Konsumgesellschaft war stärker öffentlich alimentiert und politisch gesteuert als die amerikanische, aber weniger als die osteuropäische bis 1989/90. Die Bedeutung dieses Phänomens ist vielen erst bewusst geworden, als diese Leistungen im Rahmen der öffentlichen Sparpolitik und der Privatisierungspolitik reduziert oder ganz gestrichen wurden.« Wenn also die Semantik der Konsumgesellschaft im Kontext der neueren Systemtheorie zunächst eher eine nachgeordnete Rolle zu spielen scheint oder spielt, so liegt dies nach dem Dargestellten vor allem daran, dass für sie die Codierung Zahlen/Nichtzahlen die zentrale Leitunterscheidung des Wirtschaftssystems darstellt. Der Konsum, speziell derjenige der familialen Haushalte, ist an die Entparadoxierung des Knappheitsproblems gebunden, in dem der Zugriff auf vorhandene Konsumgüter durch die einen, nicht auf Dauer zur Knappheit der anderen wird. Dies geschieht u.a. durch die Differenz von Mengen- und Allokationsentscheidungen, d.h. wenn die Produktivität der Wirtschaft eine genügende Menge an Konsumgütern erzeugt und die Verteilung von Gütern in einer Weise erfolgt, die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung als zufriedenstellend beobachtet wird. Anders ausgedrückt: die Struktur und Semantik der Arbeits- als auch der Konsumgesellschaft sind für die systemtheoretische Beobachtung des Wirtschaftssystems insofern sekundäre Formen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung des Wirtschaftssystems, als sie gleichsam seine Fremdreferenz im Kontext des Wirtschaftskreislaufes darstellen. Sie indizieren somit eher dessen relevante Umwelt, jedoch nicht die eigentliche Innovation, welche die Autopoiesis des Wirtschaftssystems und dessen Ausdifferenzierung ausmacht, nämlich die Zweitcodierung der Wirtschaftskommunikation durch ihre Orientierung an der Differenz Zahlen/Nichtzahlen.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Gleichwohl spielen die Struktur und Semantik der Konsumgesellschaft insofern eine bedeutsame Rolle, als sie und die an sie anschließenden gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen darauf aufmerksam machen wollen, dass das Knappheitsproblem durch die Dynamik des modernen monetarisierten Wirtschaftssystems (vorübergehend) in den Hintergrund trat und getreten ist. In den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft führten die programmspezifischen Mengen- und Allokationsentscheidungen der Wirtschaftsorganisationen offenbar zu Resultaten, welche einer Mehrheit der Bevölkerung die Befriedigung von mehr als nur notwendigen Konsumgütern ermöglichten.
3.7.4
Konsumgesellschaft: die gesellschaftliche Selbstbeschreibung anhand des Geldcodes als ausgeschlossenem eingeschlossenem Dritten
Zunächst einmal fällt auf, dass die gesellschaftliche Selbstbeschreibung der Konsumgesellschaft im Unterschied zu derjenigen der Arbeitsgesellschaft offensichtlich historisch später einsetzt (vgl. Kaelble 1997, 169, der sowohl auf die unterschiedliche zeitliche Durchsetzung der Massenkonsumgesellschaft in den USA in den 1930er und 1940er Jahren als auch in Westeuropa in den 1950er und 1960er Jahren sowie in Osteuropa in den 1970er und 1980er Jahren verweist.), obwohl sowohl Arbeit als auch Konsum eingeschlossene ausgeschlossene Dritte der Leitdifferenz zahlungsfähig/zahlungsunfähig sind. Ihre wachsende Prominenz lässt sich u.a. der spezifischen Beobachtung des Knappheitsproblems, der evolutionären Transformation der Sektoren und Teilmärkte des Wirtschaftssystems und der Auflösung der schichtenspezifischen Ordnung und ihrer veränderten Inklusions/Exklusionsdynamik zuschreiben. Löst die Geldwirtschaft die Subsistenzwirtschaft ab, entkoppeln sich die Individuen zunehmend von den familialen Haushalten und traditionalen Schichten und nimmt ihre Inklusion daraufhin die Form der potenziellen Teilnahme an jedem der Funktionssysteme an, dann stellt sich die Frage, was dies in Bezug auf die Konsumenten- und Kundenrolle des Wirtschaftssystems bedeutet. Dass diese selten explizit begrifflich unterschieden werden, sondern oft synonym benutzt werden, sei vorab angemerkt (vgl. stellvertretend für andere Wildt 1997, 323). Als Erstes gilt es zu klären, ob die Konsumenten- oder die Kundenrolle die universellere ist. So heißt es, der Kunde sei König, nicht aber der Konsument. Unsere diesbezügliche These ist die, dass es sich hierbei um eine Rollendifferenzierung hinsichtlich des Doppelkreislaufs des Wirtschaftssystems handelt. Die Inklusion ins monetarisierte Wirtschaftssystem bezieht sich im Kontext des Geldkreislaufs auf die Rolle des Kunden, die die Zahlungsfähigkeit der Person als Teilnahmevoraussetzung symbolisiert. Demgegenüber verweist die Rolle des Konsumenten auf die Inklusion in den Bedarfskreislauf bzw. Bedürfniskreislauf. Sie referiert auf die Universalität und Vielfalt der Konsumbedürfnisse der Gesamtbevölkerung und der einzelnen Person. Luhmann (1988, 60) drückt dies wie folgt aus: »Auch die Semantik von ›Bedürfnis‹ ist im übrigen relativ auf das ausdifferenzierte Wirtschaftssystem zu verstehen. Sie bezeichnet den Aspekt der Inklusion der Gesamtbevölkerung in die Wirtschaft. In stratifizierten Gesellschaften hatte man Bedürfnisse nur den Armen zugeschrieben und sie damit auf ein Spezialproblem einer unvoll-
3. Funktionssysteme
kommenen Welt beschränkt […] Erst wenn auch die Oberschicht sich legitim um Gelderwerb kümmern kann, erst also, wenn die funktionale Differenzierung sich gegen die stratifikatorische Differenzierung durchsetzt, kann der Bedürfnisbegriff jene Universalität gewinnen, die wir hier u. im Folgenden zugrunde legen.« Beide Rollen, die Kunden- und Konsumentenrolle, sind durch eine Präferenz zugunsten bzw. einen Vorrang der Kundenrolle miteinander verknüpft. Das bedeutet, dass in der Geldwirtschaft, ohne Geld, d.h. Zahlungsfähigkeit des Kunden, kein Konsum möglich ist. Die Bedarfe, Wünsche und Ansprüche der Person als Konsument können folglich nur dann realisiert werden, wenn ihre entsprechende Zahlungsfähigkeit als Kunde vorliegt. Der Geldcode ist deshalb das eingeschlossene ausgeschlossene Dritte der Konsumgesellschaft, da diese Gesellschaftsbeschreibung das Geld als Sekundärcode semantisch ausschließt, es aber faktisch insofern einschließt, als ohne es die Konsumentenrolle der Personen ins Leere lief bzw. eine unerfüllte Wunschvorstellung bliebe. So schreibt Luhmann (1988, 66–67): »Für den Fall der Wirtschaft spezifiziert sich die Einheit der geschlossen-offenen autopoietischen Reproduktion dadurch, dass die Geschlossenheit des Systems […] Zukunftssicherheit in der Form von Zahlungsfähigkeit garantiert. Daran liegt zugleich die Garantie dafür, dass derjenige, der Zahlen kann, seine Bedürfnisse befriedigen kann. Zugleich garantiert die Offenheit des Systems, dass alle Zahlungen an Bedürfnisbefriedigung orientiert sind und dass derjenige, der seine Bedürfnisse in der durch Geld erweiterten Reichweite befriedigen will, zahlen muss, das heißt Zahlungen ermöglichen muss.«
3.7.5
Zur Inklusionsdynamik von Kunden- und Konsumentenrolle
Wenn das Wirtschaftssystem auf die Körperlichkeit der Personen als seiner relevanten Umwelt in Form des »Konsumkörpers« bzw. der Bedürfnisse qua symbiotischer Mechanismen Bezug nimmt, ist damit ein Selbstbefriedigungsverbot verbunden (vgl. Luhmann 1997b, Bd.1, 381). Die Konsumbedürfnisse können nicht unmittelbar befriedigt werden. Sie werden via Konsumgütermarkt und konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen ins Wirtschaftssystem umdirigiert. Sie lassen sich mithin nur über den Umweg der Teilnahme an der Gesellschaft, sprich ihres Teilsystems der Wirtschaft und der Wirtschaftskommunikation seiner Konsumorganisationen bzw. konsumorientierten Dienstleistungen (vgl. dazu Häußermann/Siebel 1995, 164ff.), befriedigen. Formen der Selbstversorgung werden somit zunehmend obsolet, da der Zugriff auf knappe Güter über das Medium Geld erfolgt, das wiederum als Zweitcodierung von Eigentum/Nichteigentum fungiert. Konsumieren kann man somit nur, wenn man vorher die Rolle des Kunden übernommen hat oder wenn man, wie im Restaurant supponiert wird, die konsumierten Speisen und Getränke anschließend bezahlen kann. Ausnahmen stellen kollektive Güter (Luft, Straßen, öffentliche Plätze etc.) dar, zu denen normalerweise niemand der Zugang verwehrt werden kann. Aber auch der Besitz eines Schrebergartens oder sonstigen Gartens, deren Produkte man als Selbstversorger ohne Marktteilnahme, also ohne die vorherige Übernahme der Kundenrolle, konsumieren
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kann. Schließlich auch die »triebhafte primäre Bedürfnisbefriedigung« elementarer Konsumgüter im Exklusionsbereich, unabhängig von »voraussetzungsreicherer Kommunikation« (vgl. Luhmann 1995e, 263; siehe auch Luhmann 1981f, 235). Sie wird zu abweichendem Verhalten in Form eines rechtswidrigen Zugriffs auf die knappen Güter (=Diebstahl), wenn diese trotz eigener Zahlungsunfähigkeit angeeignet werden. Ein Phänomen, was bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Warenhäuser als Kleptomanie besonders der bürgerlichen Frauen thematisiert wurde (vgl. de Grazia 1997, 146; Haupt 1997, 400). Selbstversorgung der Konsumgüter qua Reduktion auf die Konsumentenrolle bei gleichzeitigem Verzicht auf die Übernahme der Kundenrolle ist vergleichbar mit Formen der Selbsthilfe, Selbstmedikation, autodidaktischen Lernens etc., die sich von den jeweiligen funktionssystemspezifischen Komplementärrollen des Hilfsbedürftigen, Patienten und Schülers der primären Leistungsrollen der Sozialarbeiterin, des Arztes und der Lehrerin etc. entkoppeln. Freilich impliziert die Reduktion auf Konsumtion durch Selbstversorgung Besitz oder Eigentum von Land, sei es auf Dauer oder gepachtet. Der unmittelbare Zugriff auf einen Apfel und seine Konsumtion setzt zudem Eigenarbeit, z.B. als Hobbygärtner, voraus, und ermöglicht somit die dauerhafte Entkopplung der Teilnahme als Kunde des Obst- oder Gemüsemarktes. Demgegenüber verweist die Selbstbedienung im Supermarkt nur auf eine temporäre Entkopplung der Konsumentenrolle von der Kundenrolle, da an der Kasse die vorher durch Eigenentscheidung des Konsumenten ausgewählten und in den Einkaufswagen gelegten notwendigen und luxuriösen Konsumgüter vom Kunden als Käufer bezahlt werden müssen. Wenn dem aber so ist, dann gewinnt die generalisierte Rolle des Kunden an Prominenz, da die mit ihr verbundene Zahlungsfähigkeit es ist, um die sich die Verkaufsorganisationen mit ihren Angeboten bemühen müssen, wollen sie ihre eigene durch den Kauf von Konsumgütern reduzierte Zahlungsfähigkeit in Rentabilität transformieren. Und es kann andererseits die Person nur zum Konsumenten als Endverbraucher werden, wenn sie vorher die Rolle des Kunden als Nachfrager bzw. Käufer der Konsumgüter übernommen hat. Im Unterschied zur Erwerbsrolle gilt jedoch, dass die Kundenrolle weniger exklusiv ist. Manifestiert sich bei ersterer die Knappheit anhand der geringen Anzahl von Stellen, um die sich mehr Personen bewerben als rekrutiert werden können (vgl. zum Stellenbegriff Luhmann 2000a, 231ff., besonders 233), äußert sich die Knappheit der Kundenrolle eher hinsichtlich der begrenzten Zahlungsfähigkeit, um deren Ausgaben die Wirtschaftsorganisationen konkurrieren (vgl. Luhmann 1988, 74, der allerdings auf die Knappheit des Konsumenten abstellt, wie ihn die Unternehmen im Spiegel des Marktes sehen). Der Kunde ist hierbei insofern in der vermeintlichen Rolle des Königs bzw. Souveräns, als er autonom entscheiden kann, wo er was, wann bei wem zu welchem Preis einkaufen will oder nicht, sprich wem er seine monetäre Gunst erweist (Dass allerdings die Souveränität des Konsumenten (sic!) – nicht Kunden – bereits zu Beginn der 1950er Jahre angezweifelt wurde, macht Wildt [1997, 323] anhand des folgenden Zitates von Erich Egner, dem Doyen der Haushaltsökonomie, deutlich: »Der orientierungslose Konsument, nicht der Souverän des Marktes ist die Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts.). Demgegenüber rücken die Wirtschaftsorganisationen in die Rolle des Günstlings, die den Kunden wie den König umwerben, damit ihm ihre Waren gefallen. Dabei gibt sich
3. Funktionssysteme
der Produzent qua Werbung »friedlich, man argumentiert nicht, man formuliert sein Produkt« (so Luhmann 1988, 109). Wir können also festhalten, dass die Semantik der Konsumgesellschaft zumindest um die der Kundengesellschaft ergänzt werden müsste, da die Realisierung der Konsumwünsche in der modernen monetarisierten Wirtschaft untrennbar mit der Rolle des Kunden verknüpft ist, ohne dessen Zahlungsfähigkeit sie nicht eingelöst werden können. Es sei denn man optiert für Selbstversorgung oder illegalen Zugriff und begnügt sich nicht damit zu erleben, wie andere die Konsumgüter kaufen, die man selbst gerne kaufen würde, es aber aufgrund der Geldknappheit nicht kann. Wenn die Inklusion ins Wirtschaftssystem im Hinblick auf die Realisierung der Konsumbedürfnisse nur qua gleichzeitiger Übernahme der Rolle des Kunden stattfinden kann, es sei denn es genügt den Personen das kostenlose Flanieren oder der Schaufensterbummel als imaginärer Genuss (vgl. Campbell 1987, Position 2108), dann gewinnt die Semantik der Kundengesellschaft in dem Maße an Realitätsbezug, in dem sich die Adressierung des Kunden im Medium der Wirtschaftskommunikation universalisiert und zugleich respezifiziert. Die Universalisierung des Kunden impliziert, dass mit der Evolution des monetarisierten Wirtschaftssystems immer mehr Konsumgüter, die vorher auf einen kleinen Teil der Bevölkerung beschränkt waren, für einen größeren Teil der Bevölkerung finanziell erschwinglich werden. Damit verschieben sich zugleich die Relationen von notwendigen und unmöglichen Bedürfnissen bzw. necessities und luxuries (vgl. Campbell 1987, Position 1330ff.; Bauman 2000, 76). Die Konsumbedürfnisse werden kontingent. Sie sind folglich ab einem bestimmten Konsumniveau weder notwendig noch unmöglich. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein Nullsummenspiel mit einer Summenkonstanz auf der Basis der Stagnation, sondern um eine zukunftsoffene Differenz durch Produktivität und Wachstum, bei der sich zugleich die Differenz von Exklusion/Inklusion bzw. sozialer Ungleichheit immer wieder erneut, wenn auch auf einem höherem Konsumniveau, sozialstrukturell reproduziert. So spricht Beck (1986, 122) vom sogenannten »Fahrstuhl-Effekt« als Besonderheit der sozialstrukturellen Entwicklung in der Bundesrepublik. (Hervorhebung i. O.). Im Gegensatz dazu konstatiert Schelsky (1965, 340) in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre: »Dieser verhältnismäßig einheitliche Lebensstil der nivellierten Mittelstandsgesellschaft – wie ich diese Sozialstruktur einmal vorläufig nennen möchte – wird nämlich keineswegs mehr durch die alten Klassenzeichen bestimmt, sondern diese neue ›mittelständische‹ Lebensform erfüllt sich und gewinnt ihr soziales Selbstbewusstsein darin, fast einheitlich an den materiellen und geistigen Gütern des modernen Zivilisationskomforts teilzunehmen. Hier liegt die große Rolle, die die …Ausdehnung der Massenproduktion in der Einebnung des Klassengegensatzes gespielt hat. Der universale Konsum der industriellen und publizistischen Massenproduktionen sorgt auf fast allen Lebensgebieten dafür, daß fast jedermann seinen Fähigkeiten angemessen das Gefühl entwickeln kann, nicht ›ganz unten‹ zu sein, sondern an der Fülle und dem Luxus des Daseins schon teilhaben zu können; vor allem aber ist diese Teilhabe zum selbstverständlichen Anspruch geworden.«
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Die Respezifizierung der Kundenrolle impliziert zugleich aber auch, dass sie sich nicht auf alle Laienrollen ausdehnen lässt. So spricht z.B. die Prostituierte von ihren Kunden, der Liebende aber von seiner Geliebten. Auch die Rollen des Patienten, Schülers, Studenten, Kinobesuchers, Wählers, Autofahrers, Lesers etc. lassen sich nur bedingt als Kunde bezeichnen, da sie als »Konsumenten« nicht primär an der Wirtschaftskommunikation, sondern an anderen codespezifischen Kommunikationsformen teilnehmen. An dieser Stelle rastet die Dienstleistungsökonomie ein (vgl. Herder-Dorneich/Kötz 1972; Häußermann/Siebel 1995), welche auf die Spezifika sogenannter immaterieller Güter im Unterschied zu materiellen Gütern aufmerksam macht. Zugleich lässt sich hieran auch die Kritik an der Produktbeschreibung von Dienstleistungen festmachen, wie sie beispielsweise Repräsentanten des Neuen Steuerungsmodells im Kontext der Effizienzsteigerung der Kommunalverwaltung vertreten. Die angeführten Laienrollen (vgl zum Begriff der Laienrolle Hohm 2015, 61; Hohm 2016, 145ff.) sind allenfalls in dem Sinne an die Rolle des Kunden strukturell gekoppelt, als für bestimmte Produkte bzw. Dienstleistungen bezahlt werden muss. Die Form, in der sie »konsumiert« bzw. gebraucht oder verbraucht werden, ist jedoch an Varianten des Erlebens und Handelns gebunden, die sich nicht auf Zahlen und Bezahlen bzw. Kaufen und Verkaufen reduzieren lassen. So muss ich zwar als Kunde für den Besuch eines Filmes bezahlen, als Zuschauer »konsumiere« ich jedoch nicht dessen Inhalte, indem ich sie verbrauche und zerstöre, sondern eher vollende oder einer neuen Form zuführe (vgl. zur Semantik von Konsum und konsumieren Wyrwa 1997; Bretschneider 2000, 22, der »auf den Doppelaspekt von Zerstörung und Vollendung, von Aufbrauchen und Zu-neuer-Form-Führen« als »Wurzel« des Wortes Konsum verweist). Mit anderen Worten: ich rezipiere sie gemäß meiner je spezifischen hermeneutischen, ästhetischen Kompetenzen und cineastischen Kenntnisse. Besprechungen von Filmen tauchen deshalb auch im Feuilleton und nicht im Wirtschaftsteil bzw. Werbeteil der Tageszeitungen auf. Ebenso bedeutet das Entrichten der Krankenversicherungsbeträge nicht, dass der Patient dem Arzt deshalb primär als Kunde begegnet und als solcher von ihm betrachtet wird, sondern als Koproduzent eines therapeutischen Settings mit der Funktion der Krankenbehandlung (vgl. zur Ökonomisierung der Pflege Hohm 2001). Eine Semantik der Konsumgesellschaft, welche die Rolle des Kunden in der Form universalisiert, dass sie die Laienrollen anderer Funktionssysteme ebenfalls als Kundenrollen bezeichnet, generalisiert diese Begriffe in einer unzulänglichen Weise, wenn sie das mit ihr konstitutiv verbundene Erleben und Handeln sachlich als Konsumverhalten bzw. Konsumtion im Sinne des Aufbrauchens und Zerstörens bezeichnet. Sie übersieht, dass ihre Kommerzialisierung nur die eine Seite der strukturellen Kopplung dieser Rollen zum Ausdruck bringt, deren andere Seite zugleich eine Entkopplung von ökonomischen Erwartungen im Sinne der De-Kommerzialisierung ausdrückt. Ob mit der Universalität des Bedürfnisbegriffs sowie seiner evolutionären Differenzierung in Elementarbedürfnisse, Luxusbedürfnisse und Produktionsbedürfnisse, auf die Luhmann (1988, 60ff.) ohne genauere Erläuterung bzw. Quellen referiert, alle Inhalte der angeführten Laienrollen abgedeckt sind, lässt sich bezweifeln, selbst wenn man wie bei den Produktionsbedürfnissen den Unternehmen die Kundenrolle zuweist. So ist die Differenz von Elementar- und Luxusbedürfnissen bzw. von Bedürfnis und Befriedigung einerseits sowie Wunsch und Genuss andererseits sowohl eine evolutionär (vgl. Campbell 1987, Posi-
3. Funktionssysteme
tion 1365; Bauman 2000, 76) als auch schichten-bzw. klassen- oder milieuspezifisch variable Unterscheidung (Geißler 2014, 93ff.). Unsere Argumentation gilt im Übrigen auch für die Generalisierung des Arbeitsbegriffs im Zusammenhang mit der Arbeitsgesellschaft. So verweisen Begriffe wie Beziehungsarbeit, Eigenarbeit, Hausarbeit oder Gefühlsarbeit allenfalls auf eine sekundäre Leistungsrolle im Sinne eines Ehrenamtes oder Hobbys (vgl. zu diesem Begriff Stichweh 1988, 281ff.) und unterscheiden sich von der Berufs-, Erwerbs- bzw. Lohnarbeit als primärer Leistungsrolle dadurch, dass sie weder zwingend an ein Entgelt noch an eine Berufsausbildung gebunden sind. Gleichwohl bedienen sich vor allem das Marketing bzw. die Werbung parasitär bestimmter Skripts von anderen Funktionssystemen, in denen die gekauften Konsumgüter gebraucht oder verwendet werden. D.h.: der knappe Kunde (vgl. Luhmann 1988, 74, der vom knappen Konsumenten spricht) wird damit umworben, dass ihm suggeriert wird, wer er ist, wenn er ein entsprechendes Produkt oder eine entsprechende Marke kauft bzw. wie und in welchen Kontexten er sie verwenden kann. Dabei spielen insbesondere die Wahrnehmungsmedien (Farben, Bilder, Geräusche, Töne, Gerüche), aber auch bestimmte Slogans eine besondere Rolle. Insgesamt betrachtet, geht es um die Suggestion eines Lifestyles (vgl. dazu Schildt 1997), der den Kunden als Adressaten an das Produkt bzw. die Marke und den entsprechenden Anbieter binden soll. Notwendig wird das verstärkte Marketing vor allem deshalb, weil sich immer mehr Kunden nicht mehr auf Dauer mit eine der Konsumorganisationen als Stammkunde identifizieren wollen und müssen – wie z.B. zu Zeiten von Konsumgenossenschaften und Konsumvereinen besonders die Industriearbeiter (vgl. Prinz 1997; Wyrwa 1997, 755 der auf die synonyme Sprachverwendung von Konsum/Konsumgenossenschaft des Dudens von 1923 hinweist) –, um billiger zu konsumieren, sondern genügend Kaufkraft und Mobilität besitzen, um selbst entscheiden zu können, bei wem sie kaufen und wie lange sie im treu sein wollen. Treuepunkte, Paybackkarten etc. indizieren mithin Marketingstrategien, die – netzwerktheoretisch formuliert – weak ties in strong ties zu transformieren versuchen. Die Inklusion der Kunden in das Wirtschaftssystem impliziert des Weiteren die Inanspruchnahme von Zeit für das Shopping. Das bedeutet, dass die Semantik der Konsumgesellschaft mit einer evolutionären Veränderung der Relation von knapper/überflüssiger Zeit einhergeht. Der Slogan »Time is money«, wie er in der Entstehungszeit der modernen Wirtschaft vor allem die Produktionsbereiche der Industrie bestimmte, verändert sich in dem Maße, in dem die Erwerbsarbeitszeit rückläufig ist (vgl. Opaschowski 2008) und die Konsum- bzw. Shopping-Zeit als Teil der Freizeit zunimmt. Die Universalisierung der Kundenrolle setzt also zusätzlich voraus, dass einem wachsenden Teil der Bevölkerung genügend Zeit zu ihrer Übernahme zur Verfügung steht (vgl. Schildt 1997, 329ff.; Kaelble 1997, 185, der die größere Expansion der Nichtarbeitszeit der europäischen Konsumenten als einen Unterschied zum amerikanischen Konsumenten hervorhebt). Die Semantik der Konsumgesellschaft verweist mithin auch auf die veränderten Temporalstrukturen der Funktionssysteme, insbesondere die Erwerbsarbeitszeit ihrer Beschäftigungssysteme. Dass es sich hierbei auch um geschlechtsspezifische Differenzen handelt, ergibt sich vor allem aus der Differenz von Erwerbsarbeit und Hausarbeit (vgl. Haupt 1997 für das 19. Jahrhundert in Deutschland und England).
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So sind es zunächst vor allem die Frauen, die in klassenspezifisch unterschiedlicher Form mehr Zeit und Expertise als die Männer für die Rolle des Kunden investieren konnten, insbesondere, wenn es um die haushaltsbezogenen Konsumbedürfnisse ging (vgl. Haupt 1997, 403; Budde 1997). Man könnte sogar zugespitzt formulieren, dass sich die Inklusion in die konsumorientierten Organisationen des Wirtschaftssystems als Erstes auf die Frauen bezog, wohingegen die Inklusion ins Beschäftigungssystem primär auf Männer abstellte. Dass die Semantik der Konsumgesellschaft lange Zeit einen weniger prominenten Stellenwert als die der Arbeitsgesellschaft in der Öffentlichkeit einnahm, könnte dementsprechend auch mit der geschlechtsspezifischen Inklusion und der gesellschaftlichen Besserbewertung der Männer zusammenhängen. So dominierten und dominieren im Kontext der konsumorientierten Dienstleistungen (vgl. Häußermann/Siebel 1995, 184) sowohl auf der Seite der Verkäuferinnen als auch derjenigen der Kunden die Frauen. Man kann von daher von einem geschlechtsspezifischen Bias zugunsten der Frauen sprechen, der zum einen von der strukturellen Kopplung der Zeit an die Hausarbeit und zum anderen von den mit ihr verbundenen Sicherung des Alltagsbedarfs der Konsumgüter durch die Notwendigkeit ihres Einkaufs und deren Verarbeitung, die familieninterne gemeinsame Konsumtion sowie die familiale Präsentation der Konsumgüter nach außen bei Festen abhing (vgl. Budde 1997, 418ff.). Budde (1997, 440) beendet ihre Darstellung des Vergleichs der bürgerlichen Frauen in England und Deutschland des 19. Jahrhunderts mit folgenden Sätzen: »Alternativen zur Hausfrauen- und Mutterrolle brachen sich nur zögernd Bahn und wurden bis zum Ersten Weltkrieg nur von einer Minderheit des deutschen und englischen Bürgertums aufgegriffen; sicherlich vor allem, weil die gesellschaftlichen Barrieren zur Überwindung der Einbahnstraße ›weibliche Berufung‹ sehr hoch gezogen waren, aber auch, weil viele Bürgerfrauen in der Tat darin ein erblickten. Als Konsumexpertinnen prägten sie entscheidend den Familienstil und wurden damit auch zu Kulturgestalterinnen. Nicht zuletzt dieses innerfamiliale Machtpotential söhnte offensichtlich viele Bürgerfrauen mit ihrer limitierten Perspektive aus und verhalf der bürgerlichen Hausfrau bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zum ideologischen Sieg über die berufstätige Bürgerin.« Eine allmähliche Veränderung im Sinne des stärkeren Einbezugs der Kundenrolle der Männer setzte dementsprechend erst dann ein, als deren Erwerbsarbeitszeit verringert wurde, sich flexiblere Rollendefinitionen durchzusetzen begannen und Konsumgüter größere Relevanz einnahmen, die an technologisches Know-how und männerspezifische Interessen gebunden waren. Man denke nur an den Autohandel, den Baumarkt sowie die elektronischen Medien (vgl. Andersen 1999, 208–209). Hinzu kommt, dass vor allem die Jugendlichen und Kinder, aber auch die Senioren in dem Maße stärker als Kunden in das Wirtschaftssystem inkludiert wurden, in dem sich diese Lebensphasen stärker ausdifferenzierten und für die damit verbundene längere »Freizeit« bzw. arbeitsfreie Zeit zugleich größere monetäre Ressourcen durch Transferzahlungen des Wohlfahrtsstaates, Taschengeld bzw. Jobben zur Verfügung standen (vgl. Kaelble 1997, 175; Stearns 1997; Feil 2003).
3. Funktionssysteme
Insgesamt lässt sich eine Evolution der Inklusion ins Wirtschaftssystem durch die Kundenrolle konstatieren, welche zunächst bei den Frauen einsetzte, sich sukzessive auf die Männer ausweitete und schließlich vor allem die Jugendlichen, Senioren und zuletzt die Kinder erfasste. Damit ging jedoch zugleich auch eine Diversifizierung der Konsumgüter einher, die sich stärker von den Konsumbedürfnissen des Gesamthaushaltes entkoppelte und mehr auf die individuellen Konsumansprüche der Haushaltsmitglieder bezog. Die Begleitsemantik dieser Inklusionserweiterung spiegelt sich neben der Konsumgesellschaft qua Gesellschaftsbeschreibungen wie Freizeit-, Erlebnisgesellschaft und individualisierte Gesellschaft wider. für die Inklusion in die Konsumgesellschaft ist ferner die Erhöhung der räumlichen Mobilität qua Automobilisierung seit den 1960er Jahren (vgl. Schildt 1997, 344ff.; Andersen 1997, 777 u. 780–781; Andersen 1999, 155ff.; Bretschneider 2000, 24 u. 56 Fußnote 56), aber auch das dadurch verstärkte Reisen einer wachsenden Zahl der Bevölkerung von Relevanz. Beschränkte dieses sich zu Beginn der 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland noch auf das eigene Land oder deutschsprachige Nachbarländer (vgl. Schildt 1997, 345–346), erweiterte es sich danach auf entferntere Länder des eigenen Kontinents und anderer Kontinente. Mit der verstärkten räumlichen Mobilität, die auch die mehrheitlich unfreiwilligen Migrationsbewegungen einschloss (vgl. Kaelble 1997, 191), erhöhte sich nicht nur die Palette an Konsummöglichkeiten, sondern zugleich auch die Internationalisierung und Globalisierung der Konsumansprüche. Zum einen bedeutete dies eine stärkere Entkopplung der Kunden und Konsumenten von den Konsumangeboten des Nahraums, da die Erreichbarkeit von Einkaufszentren außerhalb der City und den Stadtteilen zunahm. Zum anderen implizierte es eine Produktdiversifikation, die nicht nur heimische und regionale, sondern zunehmend auch transnationale Produkte zugänglich machte. Man denke nur an Pizza, Kebab, aber auch exotische Früchte, d.h. Marken aus allen Ländern Europas, Asiens und der USA. Zudem führte die Internationalisierung der Produkte zur Thematisierung der Konvergenz/Divergenz mit der amerikanischen Konsumgesellschaft qua »Amerikanisierung« der Länder und Kontinente außerhalb der USA, die sich besonders an CocaCola, Fast-food, Musikrichtungen, der Filmindustrie mit ihren Hollywood-Stars, dem Outfit der Jugendlichen, an der Sprache der Produktwerbung etc. festmachte und bis heute anhand der Semantiken wie Malls, Shopping-Center, Call-Center, Pay-Card etc. kontinuiert. Während Kaelble (1997, 182–187) die Gründe für die Konstanz der Unterschiede der amerikanischen und europäischen Konsumpräferenzen herausarbeitet, verdeutlicht De Grazia (1997, 111–112) die unterschiedliche Begriffsverwendung von »Amerikanisierung« mit ihren je spezifischen Schwächen und exemplifiziert »das amerikanische Paradigma der Massenkonsumgesellschaft« (ebd., 114ff.) anhand von sechs Merkmalen: Massenproduktion, Marketing, wachsende Konsumnachfrage, Entstehung des modernen Verbraucherhaushalts, Massenkonsumkultur, Demokratisierung des Rechts aller als Konsumenten am Markt teilzunehmen. Zugleich wird durch den Verkauf im Internet eine Steigerung der bereits in den 1950er Jahren durch Selbstbedienung eingeleiteten interaktionsfreien Konsumentenund Kundenkommunikation deutlich (vgl. zur Selbstbedienung Wildt 1994, 176ff.; Wildt 1997, 318–319). Indem ein wachsender Teil der Bevölkerung über das Internet einkauft und verkauft, kommt es zur Enträumlichung des Einkaufes und zudem zu einer ver-
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stärkten Individualisierung des Konsums. Setzte dies bereits mit den Versandhäusern ein, so repräsentieren E-Bay, amazon.de und andere Internet-Anbieter die Fortsetzung dieses Teiltrends einer erhöhten Enträumlichung und Globalisierung der Kundenkommunikation (vgl. Bretschneider 2000, 26). Schließlich entkoppeln sich die Konsumwünsche nicht nur von ihren räumlichen Beschränkungen, sondern zugleich auch von ihren zeitlichen. Die Eigenzeit des Konsums löst sich von der kalendarischen und saisonalen Zeit der Regionalgesellschaften, indem immer mehr Produkte das ganze Jahr hindurch konsumierbar werden und die Möglichkeit besteht, bestimmten Wetterbedingungen durch Urlaub in entfernte Länder zu entgehen.
3.7.6
Evolutionäre Transformation von Konsumsektoren und -märkten des Wirtschaftssystems: Binnendifferenzierung und strukturelle Kopplungen
Die strukturelle Referenz für die Semantik der Konsumgesellschaft resultiert vor allem auch daraus, dass sich die konsumorientierten Organisationen und Märkte in einem evolutionären Prozess grundlegend verändert haben. So sind neben dem Tante-Emma-Laden die Selbstbedienung qua Supermarkt (vgl. Wildt 1997, 318), die Warenhäuser, Kaufhäuser und Malls in der City und Peripherie getreten. Es existieren die unterschiedlichsten Fachgeschäfte von der Boutique, über das Delikatessgeschäft bis hin zu Bodyshops, Computer-Geschäften und vieles mehr. Hinzu kommen Flohmärkte, Second-hand-shops, Discount-Läden, vor allem aber auch Internet-Shops. Wendet man die gesamtgesellschaftlichen Differenzierungsformen auf die konsumbzw. kundenorientierten Wirtschaftsorganisationen an, so lassen sich sowohl segmentär, funktional als auch regionale und stratifizierte Differenzierungsformen beobachten. Segmentäre Differenzierung Versteht man darunter, dass Wirtschaftsorganisationen des gleichen Typs mehrfach vorkommen, trifft dies auf die o.g. Formen in tausendfacher Anzahl zu. Die segmentäre Differenzierung hat vor allem die Funktion, den nahräumigen bzw. lokalen Zugang der Kunden zu den jeweiligen Wirtschaftsorganisationen zu sichern (vgl. Hohm 2011, 25ff.). Dabei nimmt das Ausmaß der segmentären Differenzierung in dem Maße zu, in dem es um die Grundversorgung von Konsumgütern geht. So trifft man Supermärkte nahezu überall vor Ort an, sieht man einmal von Kleingemeinden ab (Wildt 1997, 318, berichtet, dass bereits 1966 70 % der Hausfrauen ihre Lebensmittel in Selbstbedienungsgeschäften einkauften). Demgegenüber sind Warenhäuser, Malls, Einkaufszentren etc. mit einem komplexeren und vielfältigeren Konsumangebot in einer geringeren Anzahl vorhanden und eher in größeren Orten, vor allem in der City der Städte oder an ihrem Rande, räumlich platziert. Funktionale Differenzierung Die konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen spezialisieren, diversifizieren und differenzieren sich in mannigfaltiger Form hinsichtlich ihrer Konsumgüter. Dabei entstehen zum einen Konzentrationsprozesse in Richtung großer Einkaufsmärkte und Warenhäuser, aber auch Formen der Spezialisierung in Be-
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zug auf kleinere Geschäfte bzw. Shops. In gewisser Hinsicht stellen die großen Einkaufsmärkte und Warenhäuser als Organisationen die Einheit der Vielfalt unterschiedlichster Konsumgüter dar. Zentrum-Peripherie-Differenz Begreift man diese Differenzierungsform als Manifestation regionaler Unterschiede bzw. räumlicher Standorte von konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen, so dominiert eine Polykontexturalität in der Form, dass sich die großen Warenhäuser und Einkaufszentren vor allem in den Oberzentren größerer Städte oder ihrem Umland antreffen lassen. Demgegenüber handelt es sich bei periphere Zonen eher um ländliche Regionen, aber auch um diejenigen Stadtteile, welche weder eine citynahe noch eine Umlandlage aufweisen. Stratifizierte Differenzierung Diese bezieht sich auf die Respezifizierung der generalisierten Kundenrolle im Hinblick auf einerseits das Ausmaß der Zahlungsfähigkeit der Personen und andererseits ihre Konsumpräferenzen als Konsumenten. Anders ausgedrückt: hierbei geht es darum, inwieweit die konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen ihre Preise und programmspezifische Produktvielfalt auf unterschiedliche Kunden- bzw. Konsumentengruppen zuschneiden. D.h. die Inklusion/Exklusion der Kunden wird entweder durch die Höhe der Preise und/oder das Massenangebot/die Exklusivität der Konsumgüter gesteuert. Hier setzt zum einen die Marketing orientierte Milieuforschung ein, welche die konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen darüber zu informieren und beraten versucht, welche Milieus, welche Konsumgüter präferieren und welche Preise zu bezahlen bereit sind (vgl. Geißler 2014, 243ff.). Es geht mithin darum, die Intransparenz der Kundenumwelt durch sozialwissenschaftliche Beobachtungen transparenter zu machen, d.h., genauer zu wissen, wer für welche Programmstrategien als Kunde und Konsument in Frage kommt und wer nicht. Damit geht es zugleich auch um Strategien der Inklusion/Exklusion von Kunden/Konsumenten und ihre Binnendifferenzierung nach Lebensstilen, Lebenszielen und Lebenslagen (vgl. Schildt 1997). Wird das Wirtschaftssystem von den konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen qua Markt beobachtet, handelt es sich bei diesem nicht um ein System, sondern um die turbulente Umwelt ihrer Konkurrenten (vgl. Luhmann 1988, 73–74). Deren Betrachtung erfolgt zum einen in Form der Preise, zum anderen in Form der Investitionsprogramme in Konsumgüter. Die Besonderheiten der wirtschaftsinternen Beobachtung im Kontext der Konsumgesellschaft lassen sich anhand folgender Merkmalen verdeutlichen: Zunächst einmal findet eine Reduktion der Komplexität der Marktbeobachtung in der Form statt, dass sie sich nicht auf alle Märkte des Wirtschaftssystems, sondern qua Reduktion von Komplexität auf den Konsumgütermarkt bezieht. Dieser ist gleichwohl noch komplex und intransparent genug. Hinzu kommt die Binnendifferenzierung des Konsumgütermarktes, welche – je nachdem, welche Größe die konsumorientierte Wirtschaftsorganisation hat – zu Interdependenzunterbrechungen in der Weise führt, dass z.B. eine Boutiquebesitzerin einen kleineren Ausschnitt ihrer Marktumwelt beobachtet als eine Warenhauskette, deren Zentrale sich in den USA befindet. Interdependenzunterbrechung impliziert,
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dass sowohl für die Beobachtung der Preise als auch die der Konsumgüter nicht alles berücksichtigt werden muss. So macht es z.B. keinen Sinn, wenn sich die größeren Warenhausketten für Preise des Flugzeugbaus oder von Müllverbrennungsanlagen interessieren. Sehr wohl sind ihre Beobachter jedoch daran interessiert zu erfahren, wie sich ihre Preise in Bezug auf bestimmte Konsumartikel, z.B. Nahrungsmittel, Haushaltsgeräte etc., auf das Kaufverhalten ihrer Kunden auswirken. Für die konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen spielt es zudem eine wichtige Rolle, welches ihr regionaler Standort ist und welche Konkurrenten dort vorhanden sind. Dabei ist es wichtig, diesen, sei es durch Produktinnovationen, sei es durch Preisvariationen, zuvorzukommen. Inwieweit sich dies auszahlt oder nicht, hängt dann nicht zuletzt davon ab, ob die potenziellen Kunden darauf durch veränderte Nachfrage reagieren oder nicht. Sichtbar wird dies anhand der Bilanzen und verkauften Produkte. Die konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen müssen den veränderten Konsumansprüchen der Kunden und Verbraucher Tribut zollen. Eine gewisse Zirkularität der Beobachtung ergibt sich dabei dadurch, dass es eine Frage der kausalen Attribution ist, ob die Nachfrage der Kunden und Konsumenten oder das Angebot der Wirtschaftsorganisationen die Konsumwünsche bestimmt. Einfache Kausalitäten, wie sie durch Manipulation der Kundenwünsche oder Slogans wie »der Kunde ist König« auf der Hand zu liegen scheinen, entfallen mithin. Gleichwohl versuchen die konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen durch Werbung und Marketing die Aufmerksamkeit der Kunden auf sich zu lenken. Dies ist um so notwendiger, desto größer die Vielfalt der Anbieter vor Ort ist und desto ausdifferenzierter die Kunden und ihre Kundenwünsche sind. Werbung und Marketing sind mithin Versuche – ähnlich wie die Programme und Personen der Parteien des politischen Systems –, die Konsum- und Kaufentscheidungen potenzieller Kunden zu beeinflussen. Dabei wird die »Steuerung« der Kundenströme um so wichtiger, desto komplexer und differenzierter die Ansprüche werden. Geht es bezüglich der Information der Preise für die konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen darum, zu beobachten, wie sich die Preiserhöhungen und -reduktionen auf ihre Bilanzen auswirken, wobei die Rentabilität hierbei der Maßstab des Erfolges ist, sieht dies für die Konsumprogramme anders aus. Hier kommt es vor allem darauf an, anhand der Werbung die Vorzüge der eigenen Produkte ins Zentrum zu rücken. Dies bedeutet aber, wie bereits erwähnt, dass man sich verstärkt der Verbreitungsmedien – Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Radio, Internet etc. – bedienen muss, um klarzumachen, was es für den potenziellen Kunden bedeutet, wenn er dieses und kein anderes Produkt kauft und konsumiert. Die Beobachter der konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen können dann u.a. in den Massenmedien beobachten, wie sie von Kunden beobachtet werden, was u.a. anhand der Einschaltquoten oder der Nachfrage ihrer Produkte im Internet geschieht. Die strukturelle Kopplung mit den Verbreitungsmedien ist heute unabdingbar für die konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen, was vor allem denjenigen von ihnen einen Wettbewerbsvorteil einbringt, die massenmedial präsent sind – und das sind im Wesentlichen die größeren von ihnen. Die strukturelle Kopplung mit den Verbreitungsmedien ist jedoch nicht die einzige, wenn auch für die Konstruktion der Wirklichkeit der Konsumkontexte und der Konsumgesellschaft eine der bedeutendsten.
3. Funktionssysteme
Hinzukommen – je nach Konsumgut – andere strukturelle Kopplungen. So spielen für die sichtbaren Konsumgüter außerhalb der familialen Haushalte, z.B. das Outfit, sowohl die Marken, aber auch die mit ihm verbundenen Moden eine zentrale Rolle. Für andere Konsumgüter wiederum kommt es darauf an, inwieweit sie den veränderten Gesundheits- und Fitness-Präferenzen entsprechen. Man denke nur an bestimmte Getränke, Fahrräder, aber auch Lebensmittel. Die Beobachter und Entscheider der konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen müssen folglich in ihre Werbung Informationen einfließen lassen, die den verstärkten Ansprüchen an gesunde Lebensmittel, z.B. durch Betonung ihrer chemischen Zusammensetzung oder der Nachhaltigkeit ihrer Herstellung, Tribut zollen. Des Weiteren kann man folgende strukturelle Kopplungen anführen: Mit dem Sportsystem (sportliche Kleidung, Werbung durch Sportstars); mit dem Politiksystem (ökologisch sensibles Recycling, aber auch Informationen zu den Herstellerländern); mit dem Wissenschaftssystem (positive Testergebnisse von Forschungslabors für Zahnpasta, Fleisch, Bio-Produkte oder Verbraucherzeitschriften, z.B. Warentest); mit dem Verkehrssystem (schnelle, bequeme und sichere Mobilität der Autos); mit dem Kunstsystem (gute Klangqualität von CDS, adäquates Design von Möbeln, geschmackvolle und stilvolle Wohnungseinrichtung etc.); mit dem Rechtssystem (Garantie in Bezug auf Produkte, Verbraucherschutz bei Verträgen langlebiger Konsumgüter) etc. Dabei lässt sich festhalten, dass es sich bei diesen strukturellen Kopplungen um die Berücksichtigung von dritten Werten handelt, welche vor allem auf der Ebene der Konsumprogramme eine zentrale Rolle spielen. Sie variieren mit dem Konsumgut und nicht zuletzt mit den jeweiligen Kunden, an die die Werbung adressiert wird. Letztlich kommt es jedoch entscheidend darauf an, wie die Bilanz aussieht, sprich, ob durch die unterschiedlichen Programm- oder Werbestrategien die Zahlungsfähigkeit mit Gewinn regeneriert werden kann, an der sich auch die konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen halten müssen, sollen sie nicht in Konkurs gehen. Dies erklärt es auch, weshalb sich ein Teil von ihnen dadurch am Konsummarkt behaupten kann, dass er bewusst auf Billigprodukte setzt. Die als Aldisierung bezeichnete Tendenz (vgl. Wikipedia 2023) platziert sich im Konsummarkt, indem sie die Differenz teuer/billig zugunsten der Präferenz für billig ins Zentrum rückt. In intendierter Differenz zur Ästhetisierung des Konsum-Erlebens (vgl. Schulze 1993), reflektiert sie auf den Preismechanismus. Aldi, aber auch Lidl sind dementsprechend weniger an der Exklusivität der Konsumgüter interessiert. Ihnen geht es primär um die Steigerung der Inklusion durch Billigpreise. Sie orientieren sich somit eng an der Knappheitsproblematik bzw. dem Sparsamkeitsparadigma, indem sie zum einen deutlich zu machen versuchen, dass man auch dann an der Konsumgesellschaft partizipieren kann, wenn man als Kunde geringe Zahlungsfähigkeit aufweist bzw. als besser Verdiendender von ihr reflektiert Gebrauch macht. Und zum anderen darauf verzichtet, einen Lifestyle zu suggerieren, der im Sinne des Conspicous consumption die feinen Unterschiede (Veblen 1981, 62ff.) signalisiert. Man kann von daher die These wagen, dass die Aldisierung die Funktion der Sparsamkeit der früheren Konsumvereine ohne deren Mitgliederzwang übernommen hat (vgl. Prinz 1997).
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Ähnliche Tendenzen lassen sich im Hinblick auf Second-hand-Shops, Discount-Läden, Flohmärkte und Gebrauchtangebote in den Verbreitungsmedien beobachten, aber auch in Teilen des Versandhaushandels. Die Billigpreisstrategie lässt sich auch als diejenige Strategie begreifen, die die selbstreferentielle Seite der Zahlungen der Kundengesellschaft repräsentiert, im Gegensatz zur Ästhetisierungsstrategie der Konsumgüter, die ihre fremdreferenziellen Seite als Konsumgesellschaft bezeichnet. Sie knüpft nicht nur an die Phasen der Evolution des Wirtschaftssystems an, in der das Knappheitsproblem und Sparsamkeitsparadigma die Semantik der Wirtschaft und der Programme der Verbreitungsmedien stärker bestimmte, sondern zugleich auch an gewisse Konsumgewohnheiten, die im Mehrfachkonsum gleicher Konsumprodukte keinen Makel, sondern eine Notwendigkeit sah (vgl. Andersen 1997, 764). Dies gilt besonders für langlebige Konsumgüter. Man könnte dies auch als Hinweis auf die diabolische Seite der Konsumgesellschaft in Form der Wegwerfgesellschaft betrachten, gegen die sich nicht nur der Protest von Subkulturen der Jugendlichen richtet, sondern der auch parasitär von konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen aufgegriffen wird. Die sogenannten Smart-shoppers oder Schnäppchenjäger machen einen Teil dieser Kunden aus. Zugleich drückt sich in dieser Billigpreis- und Gebrauchtartikelstrategie auch eine veränderte Bewertung der Begriffsduale alt/neu, gebraucht/ungebraucht und individuell/allgemein aus. Während die Reproduktion des Konsumgütermarktes auf dem möglichst schnellen Verbrauch der aktuellen Konsumgüter basiert, um neue Konsumgüter verkaufen zu können, impliziert die Tendenz zum Mehrfachgebrauch von Konsumgütern eine Strategie der Nachhaltigkeit. Insofern ist der bewusste Konsum gebrauchter Konsumgüter in der durchgesetzten gegenwärtigen Konsumgesellschaft, die auf eine vermeintlich unerschöpfliche Regenerierung von Ressourcen setzt, anders zu interpretieren als im Kontext der früheren Knappheitsgesellschaft der erst entstehenden Konsumgesellschaft, in der Sparsamkeit eine Notwendigkeit war, von der man sich erst sukzessive zugunsten anspruchsvollerer Konsumansprüche lösen musste (vgl. Andersen 1997, 782). Dies schloss die allmähliche Bereitschaft sowohl der Sparkassen und Großbanken als auch der Kunden ein, sich zunehmend auf Kreditzahlungen einzulassen (vgl. Andersen 1999, 196ff.). Je nach Milieu, in dem sie sich die Kunden und Konsumenten bewegen, und je nach den Gründen für ihr reduziertes Konsumverhalten, droht ihnen die Verachtung als Modernisierungsverlierer, die mit der Konsumgesellschaft nicht mehr mithalten können, oder die Anerkennung als Avantgarde, die eine ungezügelte Konsumtion zum Bremsen bringt. Zentral ist dabei die Beantwortung der Frage, ob es sich bei den entsprechenden Nachfragern um solche handelt, die Nichtzahlen müssen, weil sie über hinreichende Zahlungsmittel verfügen, oder die Zahlen müssen, obwohl es ihnen schwerfällt. Sind die ersten freiwillige Asketen, verweisen die zweiten auf unfreiwillige Asketen, die durchaus die Verheißungen der Konsumgesellschaft erstreben, diese sich jedoch nur sehr selektiv erfüllen können.
3. Funktionssysteme
3.7.7
Knappheit und Konsumgesellschaft
Ist das Knappheitsparadox das Ausgangsproblem des Wirtschaftssystems und seine Funktion die der Daseinsvorsorge im Sinne der gegenwärtigen Bereitstellung von Gütern bzw. Bedürfnissen zur Sicherung der Zukunft qua Zahlungen (vgl. Luhmann 1988, 65), dann scheint die Semantik der Konsumgesellschaft dieses Knappheitsparadox zu invisibilisieren, indem sie offenbar unterstellt, das Wirtschaftssystem habe das Problem gelöst, dass der Zugriff der einen die Knappheit der anderen erhöhe. Anders ausgedrückt: aus der Sicht der Vertreter der Konsumgesellschaft erzeugt das Wirtschaftssystem offenbar nicht nur genug Konsumgüter (=Mengenproblem), sondern verteilt diese auch in einer Weise (=Allokationsproblem), welche die Knappheit eher in Überfluss transformiert (vgl. Kneer 2001). Entzündete und entzündet sich die Kritik an der monetarisierten Wirtschaft bzw. kapitalistischen Gesellschaft vor allem daran, dass die Zahlungsunfähigkeit in Zeiten der Wirtschaftskrisen Teile der Bevölkerung von der Arbeit ausschließt und ihre Haushalte somit zu Knappheitshaushalten mit geringen Konsumchancen und Armutstendenzen werden lässt, so betont die Semantik der Konsumgesellschaft nicht die trennende, sondern symbolische Seite der monetarisierten Wirtschaft. Es überrascht folglich nicht, dass ihre semantische Hochkonjunktur in den 1950er und 1960er Jahren zu Zeiten des sogenannten Wirtschaftswunders einsetzte und in den 1980er und 1990er Jahren eine semantische Erweiterung durch die Dienstleistungs-, Erlebnis-, Freizeit-, Spaßgesellschaft und individualistische Gesellschaft sowie die Internationalisierung und Globalisierung als Massenkonsumgesellschaft erfuhr (vgl. Kaelble 1997, 172–175). Bevor wir zu einem Resümee kommen, wollen wir uns nochmals kurz folgende Indikatoren für die strukturelle Transformation zur Konsumgesellschaft und ihre weitere Durchsetzung in Erinnerung rufen (vgl. Wildt 1994; Andersen 1997; Kaelble 1997; Schildt 1997; Wildt 1997; Andersen 1999; Kneer 2001, 431ff.): a) Die anfängliche Knappheit der Arbeitsplätze wurde in den 1950er und 1960er Jahren in Vollbeschäftigung transformiert. Die Sockelarbeitslosigkeit war damit so niedrig, dass bereits Mitte der 1950er Jahre die sogenannten »Gastarbeiter« angeworben wurden (vgl. Geißler 2014, 273). b) Die mit der Hochkonjunktur und stetigen Wachstumsraten verbundene Produktivität der Wirtschaft ermöglichte neue Formen der Massenproduktion, welche auf Nachfrage angesichts der durch den 2. Weltkrieg induzierten Zerstörung des Eigentums vieler einheimischer Haushalte und Flüchtlinge aus dem Osten stießen. Diese Nachfrage war auch deshalb möglich, weil die Reallöhne stetig stiegen (vgl. Schildt 1997, 334). c) In einem ersten Schritt wurden die Knappheiten von notwendigen Konsumgütern des Haushaltes (Nahrungsmittel, Kleidung, Wohnung, Heizung etc.) bzw. die starren Bedarfe sukzessive reduziert und allmählich die Ausgaben von Luxusgütern bzw. elastischen Bedarfen wie Genussmittel, Körper- und Grundpflege erhöht (vgl. Wildt 1997, 310ff.). d) Im Zuge von Technologieschüben der Wirtschaft und entsprechenden Werbekampagnen, die sich noch vornehmlich auf das Radio und die Zeitungen/Zeitschriften
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beschränkten, kam es allmählich zur Entlastung der Hausarbeit durch Haushaltsgeräte wie Staubsauger, Kühlschrank, Waschmaschine. So hatten 1962/63 51,8 % der privaten Haushalte der Bundesrepublik einen Kühlschrank (Wildt 1997, 313). Zugleich wurde durch Elektrifizierung die Inanspruchnahme von Kohleöfen allmählich durch Gas- und Stromheizungen ersetzt (vgl. Andersen 1999, 231ff.). e) Was die Wohnungseinrichtung und Wohnfläche betraf, konnte sich in den 1960er Jahren der Großteil der Bevölkerung eine Mietwohnung leisten, wobei sowohl das Wohnmobiliar als auch die Wohnfläche anfangs noch eher bescheiden ausfiel (vgl. Schildt 1997, 331ff. u. 337; Bretschneider 2000, 23). Da in der Hochzeit der Familie die Kinderzahl noch recht groß war, hatte nicht jedes Kind ein eigenes Zimmer bzw. waren die vorhandenen individuellen Kinderzimmer sehr klein, was zum Teil dadurch kompensiert wurde, dass der Nahraum der Wohnung für die Mehrzahl der Kinder zum Ort der Freizeitgestaltung in Form der Straßenkindheit wurde (vgl. Peuckert 2012, 273). f) Die Selektion des Outfits der familialen Haushaltsmitglieder war durch die Trennung von Erwerbs- und Hausarbeit gekennzeichnet und die größer werdende »Freizeit« des »langen Wochenendes« (vgl. Schildt 1997, 331 u. 341). Es dominierten relativ klare geschlechtsspezifische und altersspezifische Kleidercodes, was eine gewisse Resonanz für modische Kleidung besonders der Frauen nicht ausschloss (vgl. Andersen 1999, 25–27, der u.a. auf das erste wieder neu gekaufte Kleid und das erste Paar Nylonstrümpfe verweist). Gleichwohl war es für die Mehrzahl der Bevölkerung noch normal, dass die Kleidungsstücke ausgebessert wurden, zum Teil selbst gestrickt und geschneidert und von den jüngeren Kindern »gebrauchte Sachen« ihrer älteren Geschwister aufgetragen wurden (vgl. Wildt 1994, 257). Dies galt auch für Schuhe, die zum Schuster zwecks Besohlung gebracht wurden. g) In Bezug auf Verbreitungsmedien dominierte zunächst das Radio. Schildt (1997, 338–339) schreibt dazu: »Eine zentrale, vielleicht die wichtigste Rolle bei der Befestigung der Häuslichkeit spielte der Einzug der elektronischen Massenmedien in die Haushalte. Dies betraf zuerst die nahezu ubiquitäre Durchsetzung des Hörfunks[…] Während der fünfziger Jahre war Radiohören in erster Linie eine familiär bestimmte Angelegenheit […] Während der gesamten fünfziger Jahre lag die durchschnittliche Hördauer bei knapp drei Stunden täglich […]« Allmählich kamen Tonbandgeräte hinzu und ab den 1960er Jahren verstärkt der Fernseher, zunächst als SchwarzweißFernseher und dann als Buntfernseher. Das Fernsehen verdrängte in der Folge zunehmend das Radio als dominantes elektronisches Massenmedium der Familie (vgl. Schildt 1997, 340–341). Die Werbung hielt nur langsam Einzug in das Fernsehen und wurde von den öffentlich-rechtlichen Anstalten aufgrund der Gebührenfinanzierung argwöhnisch beobachtet, so dass sogar Sendungen wegen Schleichwerbung abgesetzt wurden. Dass sich das in den Folgejahrzehnten zunehmend änderte, darauf macht Luhmann (1996b, 94) mit folgender Äußerung aufmerksam: »Der Erfolg der Werbung liegt nicht nur im Ökonomischen, nicht nur im Verkaufserfolg. Das System der Massenmedien hat auch hier eine eigene Funktion, und sie dürfte in der Stabilisierung eines Verhältnisses von Redundanz und Varietät in der Alltagskultur liegen. Redundanz wird dadurch erzeugt, dass sich etwas verkaufen lässt–that it sells well, Varietät dadurch, dass man die eigenen Produkte am Markt muss unterscheiden
3. Funktionssysteme
können. […]Man braucht deshalb zusätzlich Unterstützung der Motive, und am besten geschieht dies durch Erzeugung der Illusion, Dasselbe sei gar nicht dasselbe, sondern etwas Neues. Entsprechend liegt ein Hauptproblem der Werbung darin, laufend Neues vorstellen und zugleich Markentreue, also Varietät und Redundanz erzeugen zu müssen. Ein BMW bleibt ein BMW, aber er wird von Modell zu Modell immer besser […]« (Hervorhebung i. O.). Auch das Telefon verbreitete sich Schritt für Schritt (vgl. Kaelble 1997, 184–185; Tabelle 2 197). h) Im Verkehrssystem blieb zunächst der öffentliche Nahverkehr vorherrschend, die Automobilisierung und die diesbezüglichen Ausgaben der privaten Haushalte nahmen jedoch ab Ende der 1950er Jahren sprunghaft zu und überstiegen die für den öffentlichen Nahverkehr (Andersen 1997, 780; Wildt 1997, 316). Das implizierte eine höhere Mobilität während der Wochenenden und beim Urlaub, aber auch ein Wachstum des Pendlerverkehrs. Die Semantik des Volkswagens suggerierte, dass sich jeder ein Auto leisten könne. So schreibt Andersen (1999, 161): »Der Käfer wurde zum Synonym für das Wirtschaftswunder schlechthin. Seine Robustheit, die solide und saubere Verarbeitung, seine Zuverlässigkeit und seine hohe Lebensdauer schätzten alle sozialen Schichten gleichermaßen. Motorjournalisten hielten ihn für ein ›klassenloses Modell‹ (Zit. n. Südbeck, S. 58).« Zugleich verwies sie auf die Bindung an nationale Firmen und eine Massenproduktion, die wenig Individualisierung zuließ. i) Was schließlich die Körperpflege bzw. -hygiene betrifft, so wurde das häusliche Baden präferiert. Duschen war noch nicht weit verbreitet und die Seife spielte noch eine zentrale Rolle. Besonders die Frauen leisteten sich jedoch allmählich Parfüms, aber auch einen Lippenstift und weitere Schminkartikel. Dabei wurden diese Artikel zunächst an die weiblichen Jugendlichen adressiert. So schreibt Andersen (1999, 219): »Die leichtere Parfümierung und die extrem hellen Farben bei Lippenstiften, die die Kosmetikindustrie eigens für junge Mädchen entwickelt hatten, gefielen nicht nur der eigentlichen Zielgruppe, sondern auch viele ›reifere‹ Frauen erwarben die als Teenagerartikel ausgezeichnete Ware.« Die Zahnpflege mit täglichem Bürsten setzte sich anfangs nur teilweise durch. Die Ausgaben für Dusch-Gel, diverse Rasierwasser, der Rasierapparat etc. waren zunächst ebenfalls nur marginal und stiegen erst 1959/60 an (vgl. Andersen 1997, 312). Der Friseurbesuch wurde eher von den Frauen als den Männern präferiert, wobei diese – ähnlich wie die Kinder – sich nicht selten die Haare von der Mutter/Ehefrau schneiden ließen. Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass ein erster Schub der Konsumgesellschaft vor allem auf haushaltsbezogene Konsumgüter bezogen war, der die körpergebundene Hausarbeit sukzessive durch massenproduzierte Haushaltstechnologien substituierte oder erleichterte. Dies bedeutete zum einen eine stärkere körperliche Entlastung der Hausfrauen, zum anderen auch eine stärkere Körperbetonung der Frauen in Form der forcierten Ästhetisierung ihres Körpers. Der familiale Haushalt bzw. die Wohnung als Intim- und Privatsphäre sowie der Beruf bzw. Arbeitsplatz waren somit zwei bedeutsame Orte, in Bezug auf die einschneidende Veränderungen von Knappheitsbedingungen beobachtet werden konnten, sei es durch gestiegene Konsummöglichkeiten, sei es durch erhöhte Löhne. Vertreter der Kritischen Theorie wie Jürgen Habermas sahen darin zu Beginn der 1970er Jahre eine Dominanz des beruflich-familialen Privatis-
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mus (vgl. aber auch Schelsky 1965, 396, der bereits 1954 explizit auf die Rückwendung der Menschen insbesondere auf Familie und Beruf sowie die gleichzeitige Distanz gegenüber den meist bürokratischen Superstrukturen [ebd., 394] verweist.), der in Kombination mit einem weitgehenden Desinteresse an der Politik die als Spätkapitalismus beschriebene Gesellschaft solange stabilisieren könne (vgl. Habermas 1973, 106 u. 108ff.), bis diese durch alternative Sozialisationsprozesse und Lebensstile der nachwachsenden Generation in Legitimations- und Motivationskrisen gerate. Die Hinweise der jüngeren Generation auf die Grenzen des Wachstums und ökologischen Folgeprobleme der Konsumgesellschaft und damit das Knappheitsproblem der konsumierbaren Ressourcen wurden ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwartsgesellschaft des 21. Jahrhunderts selektiv durch die konsumorientierten Wirtschaftsorganisationen in Form umweltfreundlicherer Konsumgüter vor allem mit dem Label »Bio« berücksichtigt, ohne dass sich damit zugleich die Mehrheit der Bevölkerung vom kulturellen Steigerungsimperativ des Konsumerismus »better, bigger, faster, more« der Massenkonsumgesellschaft verabschiedet hätte. So schreibt Wildt (1997, 324): »Die Praxis des Konsums, die die Konsumenten in den fünfziger Jahren zu erproben begannen, schuf in der Folgezeit ein , das die individuelle Freiheit der Wahl als vorrangigen Wert für sich begriff, wohingegen die soziale und ökologische Dimension des Konsums nicht in dessen Horizont einging.«
3.7.8
Resümee
Betrachtet man abschließend die Darstellung der Struktur und Semantik der Konsumgesellschaft als eine mögliche Selbstbeschreibung des Wirtschaftssystems der modernen Gesellschaft auf einen Blick, dann können wir die Frage, wie der durch den Wirtschaftscode Zahlen/Nichtzahlen ausgeschlossene eingeschlossene Dritte Konsum semantisch und strukturell thematisiert wird, systemtheoretisch wie folgt beantworten: 1. Zunächst einmal bezieht sich die Semantik der Konsumgesellschaft offenbar auf eine Veränderung der Inklusionsform der Bevölkerung in Bezug auf die Befriedigung notwendiger und nicht notwendiger Konsumgüter bzw. Bedürfnisse durch das Wirtschaftssystem. 2. Die Inklusion der Bevölkerung in das Wirtschaftssystem als Konsument und Kunde transformiert sich mit der allmählichen Durchsetzung der Konsumgesellschaft in den 1950er und 1960er Jahren und ihrer Expansion zur Massenkonsumgesellschaft in den Folgejahrzehnten strukturell in mehreren Hinsichten: a) Das Knappheitsproblem bzw. Sparsamkeitsparadigma (vgl. Andersen 1997, 764) im Sinne des Zugangs zu und schonenden Umgangs mit notwendigen Konsumbedürfnisse gilt für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung als gelöst. Fast jeder kann die zur notwendigen Reproduktion erforderlichen Konsumgüter als Käufer bzw. Kunde durch die erhöhten Reallöhne der Erwerbstätigen bezahlen (Andersen 1997, 766; Schildt 1997, 334).
3. Funktionssysteme b) Selbst die notwendigen Konsumgüter werden sukzessive diversifiziert, so dass sich die Lebensmittel Brot, Brötchen, Getränke in vielfältiger Weise voneinander unterscheiden und dadurch die Reduktion der Alternativen durch Entscheidungen des Konsumenten erfordern (vgl. Bretschneider 2000, 30–31; Kneer 2001, 436). c) Die Haushaltsbudgets verändern sich bezüglich ihrer Priorisierung zugunsten langlebiger Konsumgüter wie Autos, Wohnungen, elektronische Haushaltsgeräte und Massenmedien, Reisen, Dienstleistungen. Demgegenüber gehen die Ausgaben für Nahrungsmittel und Kleidung zurück (vgl. Schildt 1997, 331ff.; Wildt 1997, 309ff.). d) Die Konsumgüter werden stärker nach Altersgruppen, Haushaltstypen, ethnischen Gruppen, Geschlechtern etc. differenziert (vgl. für Jugendliche der 1950er Jahre Schildt 1997, 343–344; Andersen 1999, 213ff.). e) Die Einkaufszeiten der unterschiedlichen Kundentypen verlängern sich und nehmen in Bezug auf die biographische Gesamtzeit eine größere Rolle ein. f) Die Mobilität der Kunden-und Konsumentengruppen nimmt zu, zunächst durch die verstärkte Automobilisierung (vgl. Schildt 1997, 333 u. 344ff.), danach durch die Verbilligung der Flugkosten für Touristen. g) Damit erweitert sich der Erfahrungshorizont der Konsumenten und Kunden und trägt neben anderen Faktoren wie Städtepartnerschaften, Schaffung von transnationalen Wirtschaftsgebieten und -märkten wie der EU zur Internationalisierung und Globalisierung der Konsumgüter bei (vgl. Kaelble 1997, 191ff.). h) Die Selbstbedienung löst die Fremdbedienung durch die Expansion der Supermärkte ab, was die Förderung von Markenartikeln bzw. Markenidentitäten als Strategie der Reduktion der Komplexität der gestiegenen Anzahl der Konsumgüter nach sich zieht, um die forcierte Entscheidungslast der Kunden zu entschärfen (Wildt 1997, 319). Die damit weitgehend eingeleitete interaktionsfreie Möglichkeit des Einkaufs sowie Verkaufs von Konsumgütern wird durch die Verbreitung der computervermittelten Kommunikation des Internets nochmals gesteigert. Parallel dazu geht die Kundentreue bzw. Stammkundschaft sukzessive zugunsten loser Bindungen an die Verkaufsorganisationen zurück. Andererseits wird das Einkaufen zu einem Event mit längerem Aufenthalt in den Shopping Centern und Malls der urbanen Zentren.
3. Gesellschaftssemantiken wie Erlebnis-, Spaß- und Freizeitgesellschaft lassen sich als funktional äquivalente Beschreibungen der Konsumgesellschaft begreifen und verweisen wie diese darauf, dass sich das Wirtschaftssystem nicht nur qua Geldmedium als kapitalistische Gesellschaft oder mittels Arbeit als Arbeitsgesellschaft, sondern vor allem auch durch den Konsum beschreiben lässt. Dass dieser als Bedarfskreislauf gleichwohl konstitutiv an den Geldkreislauf gebunden ist, trifft ebenso zu wie die damit strukturell notwendige Kopplung der Konsumentenrolle an die Kundenrolle. 4. Dass die Semantik der Konsumgesellschaft sich nicht auf das Wirtschaftssystem reduzieren lässt, wird daran deutlich, dass die Konsumgüter an Formen der Konsumtion bzw. des Verbrauchs gebunden sind, die sich auf Formen des Erlebens und Handelns anderer Funktionssysteme beziehen. So konsumiert man nicht eine Sonate, sondern rezipiert sie durch ein entsprechend geschultes Hören; konsumiert nicht ein Sachbuch, sondern liest es kritisch anhand seines vorhandenen Fachwissens; konsumiert man nicht
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die Vielfalt eines Urlaubslandes, sondern ordnet sie in seine historischen, geografischen und ästhetischen Kenntnisse ein und konsumiert kein Spitzenspiel der Fußballbundesliga, sondern kommentiert es gemäß seiner Expertise. Die jeweils angeführten funktionssystemspezifischen Komplementärrollen sind zwar an den Geldkreislauf des Wirtschaftssystems durch die Kundenrolle gebunden. Ihre Bedürfnisse als Konsument sind jedoch nicht mit den Elementarbedürfnissen identisch, sondern entsprechen eher dem, was Campbell (1987) als Genuss von Wünschen bezeichnet. 5. Dass die Konsumgesellschaft jedoch auch ihre diabolische Seite hat, lässt sich nicht ausblenden. Zum einen wird anhand ihrer exkludierten Personengruppen der Modernisierungsverlierer und Armen deutlich, dass das Knappheitsproblem und das mit ihm eng verknüpfte Problem der sozialen Ungleichheit nicht durch den vermeintlichen Überfluss der Bevölkerungsmehrheit gelöst ist. Zum anderen verweist der kulturelle Steigerungsimperativ der Konsumgesellschaft »bigger, better, faster, more« (vgl. Kneer 2001, 434) auf Formen einer umweltzerstörerischen Lebensführung, die mittels der Semantik der Wegwerfgesellschaft und des Abfalls zunehmend kritisiert wird (vgl. Campbell 1987, Position 866). Diese Kritik an der Konsumgesellschaft stabilisiert sich selektiv qua neuer Formen der Lebensführung, die sich mit Rekurs auf die Semantik der Nachhaltigkeit verstärkt am gegensätzlichen Imperativ der Konsumgesellschaft »smaller, worse, slower, less« orientieren. Daran wird deutlich, dass die vermeintliche Unersättlichkeit des Konsums der modernen oder postmodernen Gesellschaft, wie immer sie auch konsumsoziologisch erklärt werden mag, als neidvolle Konkurrenz des demonstrativen Konsums (Veblen 1981, 62ff., besonders 73), als moderner imaginativer Hedonismus (Campbell 1987, Positionen 2019–2189) oder postmoderne Identitätssuche qua fluider Markenidentität (Gabriel/ Lang 1995, 84–99), keine Notwendigkeit ist. Vielmehr ist sie nur eine, wenn auch zunehmend in Frage gestellte Möglichkeit, seine Bedürfnisse und Wünsche und damit seine Individualität bzw. Identität zu realisieren (vgl. Bretschneider 2000, 52) – und zwar in Form einer Anspruchsindividualität (vgl. Hohm 2016, 221).
4. Organisationen
4.1 Wohlfahrtsverbände als Spitzenorganisationen des gesellschaftlichen Teilsystems Sozialer Hilfe 4.1.1
Einleitung
Wohlfahrtsverbände sind höchst komplexe Organisationen der Sozialen Arbeit. Ihre heutige Form ist das Resultat einer organisationsspezifischen Evolution (vgl. dazu Luhmann 2000a, 351ff.), welche von historisch unterschiedlichen Ausgangspunkten startete. Dominierte im 19. Jahrhundert zur Zeit der Entstehung der Inneren Mission, des DRK und der Caritas (vgl. Boeßenecker 2005, 121ff.; 217ff.; 81ff.) noch eine gesellschaftsinterne Umwelt, in der sich die Modernisierung der deutschen Gesellschaft im Sinne eines Primats der funktionalen Differenzierung nur verzögert durchsetzen konnte (vgl. Schwinn 2014, 152ff.), veränderte sich dies ab Beginn des 20. Jahrhunderts rasch. Nicht zuletzt durch die beiden Weltkriege, zwischen denen die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, die AWO und der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband entstanden (vgl. Boeßenecker 2005, 237ff.; 157ff.; 189ff.) wurde die deutsche Gesellschaft zu evolutionären Transformationen gezwungen, welche sowohl ihre Sozialstruktur als auch ihre Selbstbeschreibung einschneidend veränderten. Durch zum Teil schmerzhafte Lernprozesse, wie sie vor allem durch die gesellschaftliche Katastrophe des nationalsozialistischen Regimes induziert wurden, welches einige Wohlfahrtsverbände zerschlug, andere formal bestehen ließ, aber kontrollierte (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013, 175 zur Zerschlagung der AWO; 123 zum formalen Fortbestand der Inneren Mission, Caritas und dem Roten Kreuz), befreite sich die deutsche Gesellschaft allmählich von ihrer Vergangenheit und fand zunehmend Anschluss an die westeuropäische Gesellschaft (vgl. Luhmann 1995b) und Weltgesellschaft (vgl. Luhmann 1975e; Luhmann 1997b, Bd. 1, 145ff.). Galt dies zunächst für die Gesellschaft der BRD und ihre Wohlfahrtsverbände, setzte sich mit dem Untergang der Organisationsgesellschaft des Sowjetimperiums die funktionale Differenzierung auch beschleunigt in der ehemaligen DDR durch. Die Wiedervereinigung beider Staaten zu einem gemeinsamen Nationalstaat konfrontierte diesen nahezu zeitgleich mit der forcierten Globalisierung der Funktionssysteme, der Einführung des Euro und der Erweiterung der EU sowie ihren Folge-
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problemen (vgl. Olk u.a. 1995, 23ff.). Daraus resultierte ein bis heute anhaltendes strukturelles Gefälle von West- und Ostdeutschland, dem sich auch die Wohlfahrtsverbände ausgesetzt sahen und sehen. Wie unser grober zeitgeschichtlicher Überblick verdeutlichen sollte (vgl. auch Olk u.a. 1995, 19ff.), handelt es sich bei den heutigen Wohlfahrtsverbänden um robuste Organisationen mit unterschiedlich langer Geschichte. Als solche kontinuierten sie auch dann, als nicht nur ihre Gründer – wie Fliedner, Dunant u.a. –, sondern etliche der nachfolgenden Generationen des Personals schon lange gestorben waren. Sie überdauerten den Wechsel von Programmen, Zwecken und Zielen, inklusive etlicher Organisationsveränderungen. Zugleich passten sie sich dem gesellschaftlichen Wandel durch Restabilisierung alter oder neuer Strukturen an. Selbst vorübergehende Krisen und Katastrophen überstanden sie, indem sie sich nach erzwungenen Auflösungen wieder reetablierten. Dass dies nicht selbstverständlich, sondern eher unwahrscheinlich ist, macht zum einen der Blick auf andere Gesellschaften deutlich, in denen Wohlfahrtsverbände in dieser Form nicht existieren (vgl. Schmid 1996, 121ff.). Und zum anderen das schnelle Entstehen und Vergehen vieler Organisationen, die sich, ebenso wie die Wohlfahrtsverbände, auf die Bereitstellung sowie Ermöglichung sozialer Hilfe und kollektiver Selbsthilfe spezialisierten. Man denke nur an die Konsumgenossenschaften und Konsumvereine (vgl. Prinz 1997) oder diverse eingetragene Vereine auf der kommunalen Ebene. Indem wir von der Evolution der Wohlfahrtsverbände sprachen, wollten wir deutlich machen, dass ihr bisheriger Bestand missverstanden würde, würde man ihn ausschließlich als geplantes Ergebnis der Handlungen oder Entscheidungen einzelner Personen begreifen, seien sie auch noch so einflussreich. Stattdessen gehen wir davon aus, dass es sich bei der Evolution der Wohlfahrtsverbände um ein Zeitverhältnis handelt, bei dem sie als Organisationen eine jeweils unbestimmte Zukunft vor sich herschieben, der sie in der jeweiligen Gegenwart durch Entscheidungen Bestimmtheit abzugewinnen versuchen (vgl. Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 2013). Dabei stellt die Fülle an Entscheidungen die evolutionäre Varietät der Wohlfahrtsverbände dar, ihre negative oder positive Selektion im Entscheidungsprozess die Bewahrung oder Veränderung ihrer Struktur und die Restabilisierung der alten oder neuen Struktur ihr System/Umwelt-Verhältnis (vgl. zu diesen evolutionären Mechanismen Luhmann 2000a, 351ff.). Hinzu kommen Zufälle, sprich Ereignisse, deren Auftreten die Wohlfahrtsverbände nicht mittels eigener Entscheidungen erzeugen, durch die sie sich aber folgenreich irritieren lassen können. Impliziert Evolution (vgl. zur gesellschaftlichen Evolution Luhmann 1997b, Bd. 1, 413ff.; zur Evolution von Organisationen Luhmann 2000a, 248ff. u. 347ff.) im Unterschied zur Steuerung oder Planung eine kontingente Zukunft, die also sowohl den Fortbestand als auch das Ende der Wohlfahrtsverbände einschließt, besagt dies zugleich, dass von ihrer gegenwärtigen Vergangenheit nicht auf ihre zukünftige Gegenwart geschlossen werden kann. Da evolutionäre Veränderungen normalerweise lange dauern und ihre Ergebnisse offen sind, überrascht es nicht, dass Wohlfahrtsverbände deren Eintreten nicht abwarten können und wollen. Sie beobachten deshalb ihre Zukunft anhand der Differenz steuerbar/nicht steuerbar und optieren dafür, die Zukunft durch gegenwärtige Steuerung in eine durch sie gewünschte Richtung zu beeinflus-
4. Organisationen
sen. Zugleich lösen sie sich dadurch selektiv von ihrer Vergangenheit, indem sie deren Fortsetzung in die Zukunft durch gegenwärtige Entscheidungen diskontinuieren (vgl. Heinze/Schneiders 2013, 13ff.). Ob sie damit ihren Einfluss in einer zunehmend turbulenten Umwelt sichern, oder ihre Steuerungsversuche selbst zu einem Teil der Evolution werden, ist eine durchaus offene Frage. Wie wir mit dem Gesagten bereits anzudeuten versuchten, grenzen wir uns von bestimmten Darstellungen der Wohlfahrtsverbände ab, deren selektive Fruchtbarkeit wir keineswegs in Frage stellen wollen. So geht es uns nicht um einen Überblick über die Geschichte der Wohlfahrtsverbände, die einschlägigen Lehrbüchern zu entnehmen ist (vgl. Boeßenecker 2005, 81ff.; Gabriel 2007, 81ff.; Boeßenecker/Vilain 2013, 81ff.). Auch steht im Zentrum unserer Darlegungen keine rechtlich-normative Beschreibung der Aufgaben der Wohlfahrtsverbände (vgl. Merchel 2003, 179ff.) oder eine an ihrem formalen Schaubild orientierte Deskription der Organisationsstruktur in Form von Organigrammen (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013, 101–102; 151; 190–192; 221; 259–261; 284–285). Statistiken zur Wohlfahrtspflege insgesamt und ihrer einzelnen Wohlfahrtsverbände werden wir ebenfalls nur sehr selektiv erwähnen (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013, 48ff.). Und schließlich werden wir auf die einzelnen Wohlfahrtsverbände nur vergleichend, aber nicht detailliert eingehen (vgl. Gabriel 2007; Boeßenecker/Vilain 2013, 81ff.). Stattdessen wollen wir die Wohlfahrtsverbände aus einer problemorientierten Perspektive mittels der neueren soziologischen Systemtheorie, speziell ihrer Organisationstheorie, betrachten (vgl. Luhmann 1976; Luhmann 1981c; Luhmann 1997b, Bd. 2; Luhmann 2000a; Hohm 2016, 33ff.). In einem ersten Schritt werden wir dabei einige Aspekte der Differenz von Funktionssystemen und Organisationen als Take-Off für die weitere Argumentation herausarbeiten. Zum zweiten werden wir die Implikationen der gesellschaftstheoretischen Prämissen für die Wohlfahrtsverbände als Organisationen der Sozialen Arbeit thematisieren. Als drittes stellen wir die Kritik an ihrer Selbstbeschreibung in den 1980er Jahren und einige zentrale sozialwissenschaftliche Ansätze der Wohlfahrtsverbände vor. Danach rücken wir ihre Selbstbeschreibung in den 1990er Jahren in den Fokus. Als fünftens formulieren wir einige Kritikpunkte an den vorgestellten Ansätzen der Wohlfahrtsverbände aus systemtheoretischer Perspektive. Und abschließend befassen wir uns mit der Subsidiaritätsformel als gemeinsamer Legitimations- und Werteformel der Wohlfahrtsverbände.
4.1.2
Gesellschaftstheoretische Prämissen
Die Organisation der Sozialen Arbeit findet – wie jede andere Organisation der Arbeit – in der Gesellschaft statt. Da diese heute die Form der Weltgesellschaft annimmt, können wir davon ausgehen, dass Soziale Arbeit mehr oder weniger ausgeprägt in all ihren Regionen in organisierter Form vollzogen wird. Zwecks Reduktion der Komplexität beschränken wir unsere Darstellung jedoch auf die sogenannte Erste Welt, genauer: die BRD. Wenn wir dabei einleitend auf einige gesellschaftstheoretische Prämissen Bezug nehmen, so deshalb, weil die Organisation der Sozialen Arbeit zum einen auf bestimmte gesellschaftsstrukturelle Voraussetzungen angewiesen ist, soll sie überhaupt möglich
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werden können. Und zum anderen sich als eigenständiges Organisationssystem in der Gesellschaft von dieser deswegen unterscheidet und ihre Funktionen erhält (vgl. zur Multifunktionalität bzw. den »multiplen Funktionen« der Wohlfahrtsverbände Heinze/ Schneiders 2013, 7ff. u. 14), weil es bestimmte Probleme bzw. Unsicherheiten des gesellschaftlich erzeugten Hilfebedarfes durch die Kommunikation von Entscheidungen und sozialarbeiterische Hilfekommunikation zu bearbeiten in der Lage ist. Was die gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen der Organisation der Sozialen Arbeit betrifft, sind aus systemtheoretischer Perspektive folgende Aspekte von Relevanz:
4.1.2.1
Von der Stratifikation zum Primat der funktionalen Differenzierung
Im Unterschied zur vormodernen Gesellschaft ist die moderne Gesellschaft nicht mehr primär durch die stratifikatorische, sondern durch die funktionale Differenzierung gekennzeichnet (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 678ff.). Solange jene dominierte, entsprach die Gesamtgesellschaft einer rangförmigen hierarchischen Ordnung mit schichtenspezifischer Differenzierung der Teilsysteme. In sie war die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung durch Haushalte inkludiert. Innerhalb der schichtenspezifischen Haushalte existierte Ranggleichheit mit Ausnahme der Geschlechter und des Dienstpersonals. Demgegenüber gab es zwischen den Schichten Rangungleichheit im Sinne der Über- und Unterordnung mit der Dominanz einer kleinen adeligen Oberschicht. Die gesamtgesellschaftlichen Funktionen wurden durch die schichtenspezifischen Teilsysteme gelöst, ohne dass sich eine klare funktionale Spezifikation durchsetzen konnte. So war z.B. die adelige Erziehung noch den Hausvätern vorbehalten oder wurde durch Privatlehrer durchgeführt, während das Gros der Bevölkerung illiterat war. Die Politik blieb an die adelige Oberschicht und die Kopplung mit Religion gebunden und auch die Wissenschaft konnte noch von Amateuren betrieben werden und musste sich erst von der Philosophie emanzipieren. Wer nicht in den schichtenspezifischen Haushalten unterkam, der konnte vornehmlich als Angehöriger der Oberschicht entweder in den Korporationen der Universitäten, der Klöster oder des Militärs als ganze Person Unterschlupf finden, oder sich in den Korporationen der Gilden und Zünfte zusammenschließen, die für seine wirtschaftliche Sicherheit sorgten. Zur stratifizierten vormodernen Gesellschaft gehörte jedoch auch die andere Seite der Inklusion: die Exklusion. Wer, aus welchem Anlass auch immer, sei es als Rechtsbrecher, Bettler, Mitglied eines verachteten Berufs oder einer verachteten Ethnie, die dominante Gesellschaftsordnung gefährdete, musste mit Verbannung, Ächtung oder Tötung rechnen oder war z.B. als Bettler auf die Gaben der Reichen oder die Spenden und Hilfe von Kirchen sowie Klöstern angewiesen. Noch setzte die Gesellschaft nicht auf die Inklusion der Exkludierten durch ihre Disziplinierung und soziale Kontrolle im Kontext von Anstalten, Heimen und Asylen, wie sie Foucault (1994) für das 18. Jahrhundert und Goffman (1977) für das 20. Jahrhundert beschrieben. Und noch hatten Organisationen, entkoppelt von der Bindung an die schichtenspezifischen Herkunftshaushalte, und gekoppelt an mobile Individuen, die sie qua Mitgliedsrollen für Arbeitsstellen rekrutieren, in dieser hierarchischen Gesellschaftsordnung keinen Platz und keine Funktion. Stattdessen bediente sie sich Korporationen, in welche die Personen als ganze inkludiert waren.
4. Organisationen
All dies änderte sich mit der Umstellung von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung als Primat der modernen Gesellschaft. Mit ihr transformierten sich die schichtenspezifischen Teilsysteme in eine Vielzahl funktionssystemspezifisch ausdifferenzierter Teilsysteme bzw. Funktionssysteme – z.B. Recht, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien, Religion, Intimsysteme. Im Unterschied zu jenen sind sie insofern gleich, als jedes von ihnen eine und nur eine Funktion für die Gesamtgesellschaft bedient. Das Wissenschaftssystem das Problem des Erkenntnisgewinns, das Rechtssystem das Problem der normativer Sicherheit im Falle von Streitigkeiten, das politische System das Problem kollektiv bindender Entscheidungen, das Wirtschaftssystem das Problem der Knappheit von Gütern und Dienstleistungen etc. Und ungleich, indem kein Funktionssystem die Funktion eines anderen miterfüllen kann (vgl. Hohm 2016, 47ff.). Dabei besteht die besondere Form dieser Funktionen bzw. Bezugsprobleme darin, dass sie nicht ein für einmal lösbar sind, sondern jede Lösung mit der Regenerierung nichtgelöster Probleme einhergeht. So erzeugt neues Wissen eine Fülle von Nichtwissen, die normative Lösung von Rechtsstreitigkeiten weitere ungelöste Rechtsprobleme, das Festzurren neuer Gesetze ungeregelte Folgeprobleme, die Lösung bestimmter Knappheitsprobleme weitere Bedarfe etc. Funktionen sind folglich keine Zwecke oder Ziele, die, wenn sie erreicht oder getroffen werden, die Kommunikation der jeweiligen Funktionssysteme beenden. Stattdessen handelt es sich bei ihnen um Bezugsprobleme, deren strukturelle Lösungen in dem Sinne kontingent sind, als ihre jeweilige gegenwärtige Sicherheit andere strukturelle Möglichkeiten in der Zukunft nicht ausschließt. Dies erklärt u.a. auch die semantische Konjunktur von gesellschafts- und organisationsspezifischen Themen, die sich mit Risiken, Unsicherheit und Reformen befassen.
4.1.2.2
Binäre Codierung und die Transformation ihrer Unentschiedenheit durch Organisationen als Entscheidungssysteme
Typisch für die Funktionssysteme ist des Weiteren, dass sie den Sinnüberschuss gesellschaftlich möglicher Kommunikation durch eine Engführung mittels binärer Codes wie Recht/Unrecht, Regierung/Opposition, wahr/unwahr, zahlungsfähig/zahlungsunfähig etc. spezifizieren (vgl. Luhmann 1986, 75ff.; Luhmann 1997b, Bd.1, 359ff.). Durch sie kommt es zur operativen Schließung und gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der Funktionssysteme. Die moderne Gesellschaft reproduziert sich somit kommunikativ als funktional differenziert in Teilsysteme. Diese sind in sie qua jeweiligem rekursivem Netzwerk von Rechts-, Politik-, Wissenschafts- und Wirtschaftskommunikation etc. mittels Ausschließung der jeweils anderen funktionssystemspezifischen Kommunikationen eingeschlossen. Als autopoietische Funktionssysteme erzeugen sie durch ihre binären Codes eine kommunikative Duplikation der Welt, welche potenziell jedes Ereignis in ihrem jeweiligen Kontext als eines von Recht oder Unrecht, wahr oder unwahr, zahlungsfähig oder zahlungsunfähig etc. zu thematisieren erlaubt. Insofern es sich bei dem jeweils erstgenannten Wert um den Positivwert und beim zweitgenannten Wert um den Negativwert handelt, sind binäre Codes Präferenzcodes. Damit ist gemeint, dass die kommunikative Anschlussfähigkeit durch den Positivwert garantiert wird, während der Negativwert als Reflexions- bzw. Kontingenzwert auf Probleme der kommunikativen Anschlussfähig-
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keit verweist. So präferiert das Rechtssystem Entscheidungen, die rechtskonform zustande gekommen sind, zieht das Wissenschaftssystem wahre Aussagen falschen vor, kann man im Wirtschaftssystem durch Zahlungen weitere Zahlungen ermöglichen etc. Gleichwohl wird der jeweilige Negativwert in jeder funktionssystemspezifischen Kommunikation mitgeführt, indem das Unrecht in rechtskonformen Verfahren als solches festgestellt wird, die Unwahrheit durch als wahr akzeptierte Prüfverfahren herausgefunden wird und jede Zahlung zu einer verringerten Zahlungsfähigkeit auf Seiten des Zahlenden führt. Es überrascht von daher auch nicht, dass sich die jeweiligen Funktionssysteme mit dem Positivwert identifizieren und sich als Rechts- und nicht Unrechtssystem, Wissenschaftssystem statt Unwissenschaftssystem und als Geldwirtschaft anstelle von Knappheitswirtschaft beschreiben. Invisibilisiert wird damit nicht nur das Paradox der Einheit des jeweiligen Codes, das darin besteht, dass er eine Form mit zwei Seiten ist, die als Dasselbe verschieden sind. Sondern offen bleibt auch, wie die Beobachtung zugunsten des einen von beiden Codewerten möglich sein soll, wenn ihre invariante und inhaltsleere Form keine Kriterien dafür mitliefert. Da Funktionssysteme keine Entscheidungssysteme sind, sind sie auf die Emergenz von Sozialsystemen angewiesen, welche sich auf der Basis der Kommunikation von Entscheidungen reproduzieren, d.h. auf Organisationen mit programmierten Entscheidungen (vgl. Luhmann 1981c, 337ff.; Luhmann 1997b, Bd.2, 830–831; Luhmann 2000a, 63ff.). Diese schieben sich seit Ende des 19. Jahrhunderts zwischen die moderne Gesellschaft und ihre Funktionssysteme einerseits und die Interaktionssysteme andererseits. Dabei ordnen sich die wichtigsten Organisationssysteme jeweils einem Funktionssystem zu. Die Organisationen gewinnen erstens ihre Strukturen qua Ausdifferenzierung von Stellen (vgl. Luhmann 2000a, 231ff.), die es mit der Entscheidung von drei Entscheidungsprämissen zu tun haben (vgl. Luhmann 2000a, 222ff.): a) Der Entscheidung von horizontalen und vertikalen Kommunikationswegen, die sowohl die Entscheidungsketten der Entscheidungskompetenzen von Vorgesetzten und Mitarbeitenden als auch die Vernetzung der Entscheidungskompetenzen von letzteren festzurren. Handelt es sich bei den vertikalen Kommunikationswegen um Hierarchien mit ungleichen Entscheidungszuständigkeiten von Vorgesetzten und Untergebenen, referieren die horizontalen Kommunikationsweg auf die kollegiale Egalität der Entscheidungskompetenzen. b) Der Entscheidung von Entscheidungsprogrammen, die entweder als Konditionalprogramme vergangenheitsorientiert operieren und die Entscheidungsprämissen an in der organisationsexternen Umwelt eingetretenen Ereignissen qua Wenn/ Dann-Bedingungen festmachen. Oder als Zweckprogramme zukunftsorientiert konzipiert sind, indem sie durch eigene Zwecksetzung und entsprechende Mittel das Entstehen zukünftiger Ereignisse zu vermeiden oder zu verändern versuchen. Dabei ist eine Verknüpfung von beiden Entscheidungsprogrammen nicht ausgeschlossen (vgl. Luhmann 2000a, 256ff.). c) Der Entscheidung hinsichtlich des Personals: sprich der Rekrutierung von für die Organisation unbekannten Personen auf eine ihr bekannte Stelle, oder der Versetzung
4. Organisationen
bzw. Beförderung einer der Organisation bekannten Person auf eine für diese neue Stelle (vgl. Luhmann 2000a, 279ff.). Bei der Organisation der Organisation, einem reflexiven Mechanismus (Luhmann 2000a, 302ff.; Luhmann 1970a), der bei Metaorganisationen, sprich Verbänden mit Mitgliedsorganisationen (Ahrne/Brunsson 2005), nochmals eine Komplexitätssteigerung im Vergleich zu denjenigen Organisationen impliziert, die nur individuelle Mitglieder aufweisen, geht es mithin darum, wie diese drei Stellenkomponenten als Entscheidungsprämissen jeweils von der Organisation und ihren Entscheidern daraufhin beobachtet und bewertet werden, ob sie im Kontext einer zunehmend turbulenten organisationsexternen Umwelt strukturell kontinuieren oder qua Entscheidung korrigiert werden können und sollten. Metaorganisationen können dementsprechend ihre Mitgliedsorganisationen hinsichtlich ihrer Eigenkomplexität vergleichen, die sich u.a. an der Größe und Reichweite der vertikalen und horizontalen Kommunikationswege, der Vielfalt ihrer Entscheidungsprogramme sowie der Anzahl ihres Personals und dessen diversen Verlaufsformen der Karrieren festmachen lässt. Zweitens: Dass die Organisationen nicht nur entscheidbare Entscheidungsprämissen, sondern auch nichtentscheidbare Entscheidungsprämissen aufweisen, wird mit dem Begriff der Organisationskultur bezeichnet (vgl. Luhmann 2000a, 240ff.). Hier geht es um organisationsspezifische Erwartungen, die das Verhalten der Mitglieder eher implizit als explizit bzw. informell als formell bestimmen, sich folglich der Kontrolle durch einen direkten Hinweis auf schriftlich Festgezurrtes wie Satzungen, Verträge oder Programme entziehen. Die damit angesprochenen impliziten organisationsspezifischen Werte werden vor allem dann explizit gemacht, wenn Organisationen sich ihrer verunsicherten Selbstbeschreibung bzw. Corporate Identity durch gemeinsame Diskussionen ihres Leitbilds zu vergewissern versuchen. Drittens: Insofern die Organisationen die sachliche Unentschiedenheit der Codewerte des jeweils für sie dominanten Funktionssystems in Entscheidungsprogramme transformieren, welche die Kriterien für richtiges oder falsches Entscheiden vorgeben, lassen sie sich als deren organisatorische Respezifikation begreifen. Viertens: Eine zusätzliche Respezifikation stellen die Professionen und Berufe dar, welche besonders im Kontext der Interaktionssysteme der Organisationen ihre Leistungen durch situationsflexible Interpretation und Anwendung der Entscheidungsprogramme als Entscheidungsprämisse erbringen.
4.1.2.3 Funktionssystemspezifische Voraussetzungen für Organisationen Sofern moderne Organisationen Mitglieder zwecks Erwerbsarbeit an sich binden (vgl. zur Mitgliedsrolle Luhmann 1976, 39ff.; Luhmann 2000a, 80ff.; Luhmann 1997b, Bd.2, 829ff.) sind sie auf die durchgesetzte Geldwirtschaft und ihre Funktionserfüllung angewiesen, da Geld eines der stärksten Motivationsmittel für Arbeit ist. Dies gilt unabhängig davon, welchem Funktionssystem sich die Organisationen primär zuordnen. Darüber hinaus sind sie vom Rechtssystem abhängig, da die Organisationsmitgliedschaft an Verträge gebunden ist. Arbeit ohne Vertrag wird somit zu einem prekären
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Phänomen in einer funktional differenzierten Gesellschaft, was sich u.a. an Formen der Schwarzarbeit oder des Ehrenamtes ablesen lässt. Des Weiteren sind Organisationen vom Erziehungs- und Ausbildungssystem und ihren Qualifikationen abhängig, wenn sie Personal für entsprechende Aufgaben rekrutieren. Dies schließt es nicht aus, dass sie sich durch organisationsinterne Fort- und Weiterbildung partiell von diesem entkoppeln können. Luhmann (1997b, Bd. 2, 828) resümiert das von uns Dargestellte wie folgt: »Die Funktionssysteme für Wirtschaft, Recht und Erziehung stellen also wichtige Voraussetzungen für die Entstehung und Ausbreitung der Systemform Organisation bereit […]« Und schließlich rekrutieren moderne Organisationen Individuen zwecks Karrieren und nicht Familien. Sie setzen mobile Individuen voraus, die sich ihre monetären Ressourcen über den Arbeitsmarkt und seine Organisationen beschaffen müssen. Dass dies zunächst für die Männer galt, während die Frauen Hausarbeit, entkoppelt von der Entlastung durch das Hauspersonal, erledigen mussten, sei der Vollständigkeit wegen erwähnt. Wenn Organisationen heute noch Personal in Abhängigkeit von Kontaktnetzen zu Familien oder Bindung an andere eigene Rollen der Personen einstellen, handelt es sich um Patronage/Klientel-Verhältnisse bzw. Nepotismus (vgl. Luhmann 2000a, 295–296) und Korruption (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 837), wie man z.B. anhand von Skandalen in der Politik beobachten kann, wenn Politiker Familienangehörige in Organisationen unterbringen, aber auch im Hinblick auf die Wohlfahrtsverbände selbst, wie man aktuell bezüglich der allzu üppigen Gehälter und sonstigen Privilegien der Leitungsfiguren der Kreisverbände der AWO in Frankfurt und Wiesbaden beobachten konnte (vgl. Arnold 2022).
4.1.2.4
Inklusion/Exklusion durch Funktionssysteme und Organisationen
Typisch für die Umstellung der Stratifikation auf funktionale Differenzierung ist vor allem die damit einhergehende Veränderung der Inklusions- und Exklusionsformen. War die Inklusion in stratifizierten Gesellschaften auf die Teilnahme des Individuums an nur einem gesellschaftlichen Teilsystem, nämlich der jeweiligen Schicht, gekoppelt an den Haushalt, beschränkt, dominiert nun die Inklusion von potenziell jedermann in alle Funktionssysteme – und zwar in Form der Laienrolle bzw. Publikumsrolle (vgl. Burzan u.a. 2008, 29ff.; Hohm 2016, 145ff.; Hohm 2023). Die Inklusion nimmt damit die Form der sequenziellen funktionssystemspezifischen Multiinklusion anstelle der früheren schichtenspezifischen Monoinklusion an. Die moderne Person kann oder muss nun – je nach Lebensphase – die Laienrollen des Schülers, Wählers, des massenmedialen Publikums, der rechtsfähigen Person, des Kunden etc. mit den entsprechenden Karrieren übernehmen. Semantisch wird diese funktionssystemspezifische Inklusionsform als gesellschaftliche Gleichheit und Freiheit symbolisiert und kommuniziert, ja im emphatischen Sinn als Grund- oder Menschenrecht. Demgegenüber gilt das Umgekehrte für die Organisationsmitgliedschaft. Durch sie sind nur wenige Personen in dieselbe Organisation inkludiert, während die Mehrheit der Bevölkerung aus ihr exkludiert ist. Organisationssysteme können somit im Unterschied zu den Funktionssystemen über Erwerbskarrieren entscheiden, indem sie entscheiden, wen sie als Mitglied haben möchten und wen nicht (vgl. Hohm 1996; Hohm 2002, 89ff.; Hohm 2016, 216ff.; Luhmann 2000a, 288ff.; Luhmann 1997b, Bd.2, 844). Der Zugang zu
4. Organisationen
den Organisationen der Arbeit wird mithin für den erwerbsfähigen Teil der Gesamtbevölkerung zu einem Problem, da es kein Recht auf Arbeit gibt, wie man an der wachsenden Arbeitslosigkeit ablesen kann.
4.1.2.5
Funktionssysteme haben keine Adresse, Organisationen haben eine
Funktionssysteme haben, ebenso wie die Gesamtgesellschaft und Interaktionssysteme, keine kommunikativ erreichbare Adresse. Sie können deshalb auch nicht über ihre Grenze hinweg kommunizieren. Luhmann (1997b, Bd.2, 842–843) formuliert dies wie folgt: »Um die Funktion von Organisationen im Aufbau einer funktional differenzierten Gesellschaft erkennen zu können, muss man sich daran erinnern, dass Organisationen die einzigen Sozialsysteme sind, die mit Systemen ihrer Umwelt kommunizieren können.« So kann sich weder die Wirtschaft an die Politik noch die Wissenschaft an die Massenmedien kommunikativ wenden, sofern damit das jeweilige Teilsystem gemeint ist. Schaut man genauer hin, handelt es sich bei den entsprechenden Kommunikationen faktisch um die der funktionssystemspezifischen Organisationen, seien es Arbeitgeberverbände bzw. Gewerkschaften, Repräsentanten der Ministerien, Universitäten oder Medienanstalten. Kommunikativ adressierbar als Empfänger oder Absender von Kommunikation sind mithin nur Organisationen. Sie können deshalb auch über ihre Grenzen hinweg Organisationskommunikation betreiben, indem sie sich z.B. als Organisation mit Name und Adresse zu den vielfältigen gesellschaftlichen Ereignissen äußern.
4.1.2.6
Funktionssysteme und die Differenzierungsformen ihrer Organisationen
Jedes der Funktionssysteme weist eine Vielfalt von Organisationen auf. Sie monopolisieren zwar eine gesamtgesellschaftliche Funktion, sind aber deshalb nicht mit nur einer einzigen Organisation identisch (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 841). Selbst das politische System lässt sich nicht nur auf den Zentralstaat reduzieren. In der BRD kommen die staatlichen Organisationen der 16 Bundesländer und die lokalen administrativen Organisationen von Tausenden von Kommunen hinzu. Ferner eine begrenzte Anzahl von Parteiorganisationen, die zugleich in den Parlamenten vertreten sind. Und schließlich eine Vielzahl von Interessenverbänden, welche, je nach Funktionssystem, dem sie angehören, die Herstellung der kollektiv bindenden Entscheidungen durch Regierung und Opposition im Kontext unterschiedlicher Policies zu beeinflussen versuchen. Dass jedoch jedes Funktionssystem auch nichtorganisierte Formen der Kommunikation einschließt, machen im Falle des politischen Systems besonders die Wähler und ihre Entscheidungen sowie diverse Formen von Protestbewegungen deutlich. Bezieht man die gesellschaftlichen Differenzierungsformen auf die Organisationen, so lässt sich Folgendes festhalten: a) Alle Funktionssysteme sind segmentär in eine Vielzahl gleicher Sozialsysteme, sprich Organisationen, binnendifferenziert. Sie kommen je nach Teilsystem, dem sie angehören, tausendfach als Schulen, Gerichte, Banken, Kirchen, Krankenhäuser, kommunale Ämter, Theater etc. vor. Dieses wiederholte Vorkommen erklärt sich hauptsächlich dadurch, dass sie nur so den nahräumigen bzw. lokalen Zugang der
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Bevölkerung zu ihren Produkten und Dienstleistungen sichern können, sofern dieser nicht durch interaktionsfreie Organisationskommunikation via Internet, also durch Online-Kommunikation, substituierbar ist (vgl. Hohm 2011, 29ff.). b) Zentrum-Peripherie-Differenz: Einige Funktionssysteme sind durch eine Unterscheidung von zentralen und peripheren Organisationen gekennzeichnet. Ersteren kommen dabei bestimmte Steuerungs- bzw. Entscheidungskompetenzen in Bezug auf die peripheren Organisationen zu. Man denke z.B. an Zentralbanken im Wirtschaftssystem, an das Verfassungsgericht im Rechtssystem oder an den Zentral- bzw. Bundesstaat im politischen System, aber auch an Metaorganisationen bzw. Dachorganisationen wie den DFB im Sportsystem, den DGB oder die BDA im Wirtschaftssystem und anderen Funktionssystemen. c) Funktionale Differenzierung: Viele Funktionssysteme unterscheiden ihre Organisationen zusätzlich im Hinblick auf die eher generelle oder spezifische Erfüllung von Funktionen und Leistungen. So unterscheidet das Erziehungs- und Bildungssystem zwischen Grund-, Haupt-, Realschulen und Gymnasien bzw. Universitäten und Fachhochschulen; treffen wir im Krankheitssystem auf Krankenhäuser der Grund-, Maximal- oder Spezialversorgung und gibt es im Konsumsektor des Wirtschaftssystems Supermärkte, Warenhäuser und Fachgeschäfte mit unterschiedlicher Spezialisierung. d) Stratifizierte Differenzierung: Schließlich finden wir in nahezu jedem Funktionssystem Organisationen, die im Hinblick auf die Adressstellen der Laienrollen, aber auch primären Leistungsrollen feine oder gröbere soziale Unterschiede in monetären, rechtlichen, religiösen Hinsichten machen. So z.B. Internate und private Hochschulen im Bildungssystem, private Kassen im Krankenversicherungssystem, konfessionell gebundene Kitas und Vereine im Erziehungs- und Sportsystem etc.
4.1.3
Implikationen der gesellschaftstheoretischen Prämissen für die Wohlfahrtsverbände als Organisationen der Sozialen Arbeit
Wir wollen uns im Folgenden einige allgemeine Implikationen thesenartig klarmachen, die wir anhand der skizzierten gesellschaftstheoretischen Prämissen für die Wohlfahrtsverbände als Organisationen der Sozialen Arbeit gewinnen können.
4.1.3.1
Zum Primat der funktionalen Differenzierung: das sekundäre Funktionssystem Sozialer Hilfe
Wenn wir uns fragen, welchem Funktionssystem die Wohlfahrtsverbände hauptsächlich zuzuordnen sind, so rechnen wir sie als Organisationen dem sekundären Funktionssystem Sozialer Hilfe zu (vgl. Hohm 2011, 88ff.). Dessen gesamtgesellschaftliche Funktion sehen wir in der Lösung derjenigen sozialen Probleme, die sich daraus ergeben, dass Teile der Gesamtbevölkerung aus den anderen Funktionssystemen und ihren Organisationen exkludiert werden, ohne dass diese sich für die Lösung der entsprechenden Exklusionsprobleme der Hilfebedürftigen zuständig erachten. Im Kern geht es um Probleme der Reinklusion bzw. Inklusionsvermittlung, der Exklusionsvermeidung und Exklusionsstabilisierung der Hilfebedürftigen durch das sekundäre Funktionssystem Sozialer Hilfe. Sein Fortbestand als autopoietisches Teilsystem basiert dabei vor allem darauf,
4. Organisationen
dass zum einen die Eigendynamik der anderen Funktionssysteme immer wieder Exklusionsprobleme regeneriert und zum anderen – trotz vielfältig erfolgreicher Exklusionsvermeidung bzw. Inklusionsvermittlung – für bestimmte Hilfebedürftige nicht mehr als Exklusionsstabilisierung möglich zu sein scheint.
4.1.3.2 Der Code Hilfefähigkeit/Hilfeunfähigkeit und seine Transformation der Unentschiedenheit in Entscheidungen durch die Wohlfahrtsverbände Fragt man sich, welches der binäre Code des sekundären Funktionssystems Sozialer Hilfe sein könnte, so ist eine Möglichkeit die, ihn als Hilfefähigkeit/Hilfeunfähigkeit zu betrachten (Hohm 2011, 90; vgl. zum Vorschlag Hilfe/Nichthilfe Baecker 1994; zu einem Überblick der Codierungsvarianten May 2010, 124ff.). Mit ihm kommt es zu seiner gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und zu einer Engführung der gesellschaftlichen Kommunikation in Form der Hilfekommunikation. Diese dupliziert die Welt, indem sie potenziell jedes Ereignis in ihrem Kontext daraufhin beobachtet, ob es eines von Hilfefähigkeit oder Hilfeunfähigkeit darstellt. Dabei kommt dem erstgenannten Wert insofern die Funktion des Präferenzwertes zu, als mit ihm die Hilfekommunikation systemintern Anschlussfähigkeit ermöglicht, während der Negativwert Hilfeunfähigkeit auf Probleme der Kontingenz oder Reflexion der Hilfekommunikation verweist. Der Hilfecode ist demzufolge ein Präferenzcode, da sich das System als Hilfesystem und nicht als eines der Nichthilfe oder Hilfeunfähigkeit beschreibt. Das Hilfesystem muss seine paradoxe Form invisibilisieren bzw. entfalten, indem es nicht bei der sachlichen Unentschiedenheit von Hilfefähigkeit gleich Hilfeunfähigkeit stehen bleibt. Damit es dies kann, muss es einerseits beobachten können, dass und weshalb seine Hilfe erfolgreich war. Und es muss andererseits jedoch auch beobachten können, dass und weshalb seine Hilfe scheiterte. Dazu bedarf es Zeit, sprich ein Systemgedächtnis, mit dem es zwischen Vergangenheit und Zukunft in der jeweiligen Gegenwart unterscheiden kann. Es bedarf darüber hinaus sachlicher Kriterien, welche zwischen richtiger und falscher Hilfe zu unterscheiden erlauben. Und es ist schließlich darauf angewiesen, dass die Adressaten der Hilfe die Hilfe akzeptieren, ohne von ihr auf Dauer abhängig zu werden. Da jedoch der Hilfecode des sekundären Funktionssystems Sozialer Hilfe – wie alle Codes der Funktionssysteme – die Entscheidungsprogramme und damit die Kriterien für richtiges oder falsches Zuordnen der Hilfekommunikation zu seinen Codewerten nicht mitliefern kann, bedarf es Organisationen als Entscheidungssysteme, die dies leisten. Die Wohlfahrtsverbände – so unsere These – sind diesbezüglich, speziell in der BRD, die bedeutendsten Organisationen des sekundären Funktionssystems Sozialer Hilfe. Sie stellen mithin seine Respezifikation dar, indem sie durch strukturelle Kopplung mit dem modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaat diejenigen Entscheidungsprogramme festzurren, welche als Entscheidungsprämissen der Hilfekommunikation fungieren. Sofern diese die Form von Zweck- oder Konditionalprogrammen (vgl. Luhmann 2000a, 256ff.) annehmen, grenzen sie den Spielraum ein, innerhalb dessen sich die Hilfekommunikation als richtig oder falsch beobachten lässt, d.h. im Hilfesystem Hilfefähigkeit oder Hilfeunfähigkeit beobachtet und bewertet werden kann. Im Kern handelt es sich hierbei um die diversen Programme, wie sie u.a. in Form der Sozialgesetzbücher VIII, XI und XII vorliegen.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Andererseits reicht jedoch die Respezifikation der Codes mittels der Entscheidungsprogramme nicht aus, da von einer mehr oder weniger losen Kopplung ihrer Entscheidungsprämissen mit den Entscheidungsprozessen der Hilfekommunikation ausgegangen werden muss. Die »Profession« der Sozialen Arbeit stellt mithin eine zusätzliche Respezifikation dar, ohne die die unmittelbare Erbringung der sozialen Dienstleistungen im Kontext der Interaktionssysteme nicht möglich wäre (Mit der Verwendung der Anführungszeichen wollen wir darauf aufmerksam machen, dass der Status der Sozialarbeit durchaus umstritten ist. So lässt sie sich auch als »Semi-Profession« begreifen, wenn man sie an Kriterien der klassischen soziologischen Professionstheorie, wie abgeschlossenes Universitätsstudium, Monopol für die Bearbeitung eines gesellschaftlichen Bezugsproblems, Autonomie durch Binnenkontrolle, misst. Vgl. dazu Parsons 1968; Rüschemeyer 1969; Hohm 1987). Beide Respezifikationen, die Organisation der Wohlfahrtsverbände einerseits, die der der Sozialen Arbeit andererseits, sind deshalb nötig, um die Bezugsprobleme der Reinklusion Exkludierter, der Exklusionsvermeidung oder Exklusionsstabilisierung des sekundären Funktionssystem Sozialer Hilfe zu bearbeiten (vgl. Luhmann 2002, 142ff., der strukturanalog für die Ausdifferenzierung des Erziehungssystem argumentiert, indem er die Schulen und pädagogische Profession als dessen Respezifikationen ansieht.). Die Organisation der Sozialen Arbeit impliziert somit beides zugleich, da ohne die Soziale Arbeit die Entscheidungsprogramme nicht kommunikativ vollzogen werden könnten, und ohne die Wohlfahrtsverbände die Hilfekommunikation der Sozialen Arbeit ihre Adressstelle und organisiertes rekursives Netzwerk verlöre.
4.1.3.3 Funktionssystemspezifische Voraussetzungen der Wohlfahrtsverbände Da die Wohlfahrtsverbände als Organisationen des sekundären Funktionssystems Sozialer Hilfe Mitglieder zwecks Sozialer Arbeit an sich binden, sind sie – auch wenn sie sich, wie wir noch sehen werden, als frei gemeinnützig und non-profitorientiert beschreiben – auf die Geldwirtschaft angewiesen, da sie jene bezahlen müssen. Dies gilt auch dann, wenn sie die monetären Ressourcen durch die Kirche, den Sozialstaat oder andere Einnahmequellen erhalten (vgl. dazu Boeßenecker 2005, 255ff.). Ohne das Medium Geld ist berufliche Sozialarbeit heute nicht möglich, handelt es sich doch bei Wohlfahrtsverbänden nicht mehr um Korporationen, welche monetäre Ressourcen bei ihren Mitgliedern voraussetzen konnten. Unstrittig ist auch, dass die Wohlfahrtsverbände vom Rechtssystem abhängig sind, da sie ihr berufliches Personal nur mittels Verträgen an sich binden können. Spezifische Arbeitsverträge konfessioneller Wohlfahrtsverbände ändern daran nichts (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013, zur Caritas 89ff.; Diakonie 131ff.). Arbeit ohne Vertrag ist zwar in Form des Ehrenamtes im Kontext der Wohlfahrtsverbände möglich und erwünscht, ja konstitutiv für ihre Selbstbeschreibung als Wertegemeinschaft (vgl. Stadtler 2013, [80–81 u. 84], der dies als Vorsitzender des Bundesverbandes der AWO explizit betont), repräsentiert jedoch keine beruflich organisierte Form der Sozialen Arbeit. Zudem drückt sich ihre Kopplung an das Rechtssystem in ihrer Rechtsform als gemeinnützige Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder als Stiftungen im Kontext des Vereinsrechts aus (vgl. Olk u.a. 1995, 19).
4. Organisationen
Dass die Wohlfahrtsverbände auch vom Erziehungs- und Ausbildungssystem und den entsprechenden Qualifikationen abhängig sind, liegt ebenfalls auf der Hand. Ihre spezifische strukturelle Kopplung mit den katholischen und evangelischen Fachhochschulen – besonders der Caritas und Diakonie – stellt hierbei eine Besonderheit der Organisation der Sozialen Arbeit dar (vgl. dazu meinen Beitrag 4.2 zum Fachhochschulmilieu). Zudem lassen sich vielfältige Formen der wohlfahrtsverbandsspezifischen Fortund Weiterbildung beobachten, welche das nicht durch die Ausbildung erworbene Fachwissen ergänzen (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013, 53). Schließlich gilt es darauf hinzuweisen, dass die Wohlfahrtsverbände Individuen und nicht Familien als Mitglieder rekrutieren, sofern es nicht um Korporationen oder Organisationen als Mitglieder geht. Dabei handelt es sich überwiegend um Frauen (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013, 155, die bei der Diakonie 78,5 % Frauen gegenüber 21,5 % Männer als Mitarbeitende anführen und bei der Caritas [ebd., 111] 81,5 %, wobei der Anteil der weiblichen Mitarbeiterinnen in der Kinder- u. Jugendhilfe über 90 % beträgt. Für die anderen Wohlfahrtsverbände fehlen Angaben zur geschlechtsspezifischen Differenzierung der Mitarbeitenden.). Gleichwohl gibt es noch bis heute Familien, deren Mitglieder – ähnlich wie in klassischen Industriebetrieben – über Generationen hinweg beim gleichen Wohlfahrtsverband tätig waren und sind. Ob man dies als Nepotismus oder milieuspezifische Bindung interpretiert, hängt vom konkreten Fall ab. Generell lässt sich jedoch konstatieren, dass die in der Entstehungs- und Durchsetzungsphase der Wohlfahrtsverbände der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu den Anfangsdekaden des 20. Jahrhunderts vorhandene enge Kopplung von Wohlfahrtsverbänden und gesellschaftlichen Milieus ab dem 2. Weltkrieg bis heute stark rückläufig ist (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013, 291, die von der »Erosion klassischer Großmilieus [z.B. kirchliche und Arbeitermilieus]« sprechen. Generell zur Rückläufigkeit der sozialen Milieus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert Schwinn 2014; aber auch Herlyn 2000, der zwischem traditionellen Wohnmilieu [156] und modernen Wahlmilieu [158–160] unterscheidet).
4.1.3.4 Inklusion durch das sekundäre Funktionssystem Sozialer Hilfe und Exklusion durch Wohlfahrtsverbände In das sekundäre Funktionssystem Sozialer Hilfe kann potenziell jeder, der aus anderen Funktionssystemen und ihren Organisationen exkludiert wurde, in der Laienrolle des Hilfebedürftigen respektive Hilfesuchenden inkludiert werden. Demgegenüber gilt für die Wohlfahrtsverbände, dass, selbst, wenn sie wie im Falle der beiden konfessionellen christlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie 559.526 respektive 452.592 hauptberufliche Mitarbeitende aufweisen (vgl. Boeßenecker/ Vilain 2013, 109 Caritas; 155 Diakonie), die Mehrzahl der übrigen erwerbsfähigen Bevölkerung aus ihnen in der Rolle der primären Leistungsrolle exkludiert ist. Es besteht kein Recht auf Mitgliedschaft, da die einzelnen Wohlfahrtsverbände wie jede Organisation entscheiden können, wen sie als Mitglied rekrutieren und wen nicht. Der Zugang zu ihnen und die Realisierung einer Erwerbskarriere wird infolgedessen zu einem Problem der Arbeitsplatzsuche für diejenigen Stellenbewerberinnen, die als Sozialarbeiterinnen mit diesem Teilarbeitsmarkt konfrontiert werden. Das gilt besonders für diejenigen von ihnen, die sich nicht der Organisationskultur der beiden dominanten christlichen Wohlfahrtsverbänden anpassen wollen.
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4.1.3.5 Die Adressabilität der Wohlfahrtsverbände und ihre Differenzierungsformen Das sekundäre Funktionssystem Sozialer Hilfe hat keine Adresse und kann deshalb auch nicht mit anderen Funktionssystemen über seine Grenze hinweg kommunizieren. Es reproduziert sich mittels seines rekursiven Netzwerkes der Hilfekommunikation als autopoietisches Teilsystem ohne für sich als Adresse erreichbar zu sein. Demgegenüber können Wohlfahrtsverbände als Entscheidungssysteme, ausgestattet mit einem Namen, einer Adresse und einer Zentralen, Entscheidungen kommunizieren und empfangen. Sie können darüber hinaus auch im Namen ihres Verbandes über ihre Grenze hinweg kommunizieren und sich zu den unterschiedlichsten Fragen der Sozialpolitik und Sozialarbeit lobbyistisch für ihre organisationsspezifischen Interessen oder die Interessen sozial benachteiligter Personengruppen äußern. Wenn in der sozialwissenschaftlichen und sozialarbeiterischen Literatur des Öfteren vom »Trägersystem« der Sozialen Arbeit die Rede ist (vgl. Merchel 2003, 11), muss deshalb genau unterschieden werden, ob man damit ein gesellschaftliches Teilsystem oder Organisationen wie die Wohlfahrtsverbände meint. Einmal abgesehen davon, dass selten expliziert wird, was mit der eher metaphorischen Semantik »Träger« im Kontext von Wörtern wie »Trägerstrukturen«, »freie Träger«, »öffentliche Träger«, »gewerbliche Träger« genauer bezeichnet wird. Die Semantik »Träger« ist mithin aufgrund ihrer begrifflichen Unschärfe nur bedingt theorietauglich. Bezieht man die gesellschaftlichen Differenzierungsformen auf die Wohlfahrtsverbände, so lässt sich Folgendes festhalten: a) Das sekundäre Funktionssystem Sozialer Hilfe ist segmentär in sechs Wohlfahrtsverbände als Spitzenverbände binnendifferenziert, die sich zusätzlich zur Liga zusammengeschlossen haben. Man kann sie auch als Meta-Organisationen (vgl. Ahrne/ Brunsson 2005) bezeichnen, da sie nicht nur Individuen bzw. natürliche Personen, sondern auch juristische Personen als Korporationen, Einrichtungen, Betriebe sowie Vereine und Verbände als Mitglieder inkludieren (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013, 52ff.). b) Zentrum-Peripherie-Differenz: Die sechs Spitzenverbände der Wohlfahrtsverbände sind monozentrisch und polyzentrisch strukturiert. Jeder von ihnen ist durch eine vertikale regionale Binnendifferenzierung gekennzeichnet. Ihre Bundeszentralen sind nach der Wiedervereinigung 1990, bis auf die Caritas, die ihren Standort in Freiburg i.Br. hat, alle in Berlin angesiedelt. Zusätzlich unterscheiden sie sich in Landesverbände, Kreis- und Ortsverbände, die bei einem Teil von ihnen – dem DRK, der AWO, dem DPWV und der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden – mit den politisch-administrativen Grenzen zusammenfallen (vgl. Schmid/Mansour 2007, 248 Abbildung 1). Den jeweiligen Zentralen auf den unterschiedlichen regionalen Ebenen kommen dabei wichtige Steuerungsfunktionen für den jeweiligen Wohlfahrtsverband zu, die im Falle gemeinsamer Interessen auch alle sechs Wohlfahrtsverbände in Form der Ligen inkludieren. c) Funktionale Differenzierung: Die sachlich unterschiedlichen Hilfsangebote, z.B. Familien-, Jugend-, Altenhilfe-, Obdachlosen-, Sucht-, Migrations-, Behinderten-, soziale Brennpunkthilfe etc. (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013, 52–54) werden vor allem auf
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der lokalen Ebene der Kreis- und Ortsverbände mit der segmentären Differenzierung, sprich dem kommunal tausendfachen Vorkommen gleicher Hilfeangebote in Form von sozialen Dienstleistungen, verknüpft. Ihre organisationsspezifische Eigenkomplexität variiert zum einen in Abhängigkeit von der Größe der Kommunen hinsichtlich der Anzahl von Stellen mit den entsprechenden Hierarchien, Entscheidungsprogrammen und Karrieren der rekrutierten Personen sowie der Binnendifferenzierung in stationäre, teilstationäre und ambulante Hilfsangebote. Dazu gehören auch die unterschiedlichen Hilfeprogramme bzw.-pläne der Sozialen Arbeit im Kontext der Einzelfallhilfe, sozialpädagogischen Familienhilfe, Streetwork bis hin zur Gemeinwesenarbeit. Zum anderen variiert die organisationsspezifische Eigenkomplexität der Wohlfahrtsverbände in Abhängigkeit von der jeweiligen Schwerpunktsetzung ihrer Hilfeangebote. So inkludiert der DPWV die größte Zahl an Gruppen bürgerschaftlichen Engagements und der Selbsthilfe, wobei bei den hauptberuflich Beschäftigten die Behindertenhilfe und Jugendhilfe dominieren (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013, 261–262). Demgegenüber gewinnt das DRK seine Besonderheit, indem es als nationale Hilfsgesellschaft hoheitliche Aufgaben wie den Zivilschutz und Rettungsdienst wahrnimmt (vgl. ebd., 223), während ansonsten die Behinderten- und Altenhilfe die ersten beiden Plätze bei den Hauptberuflichen einnehmen (vgl. ebd., 230). Bei der AWO wiederum arbeitet die mit Abstand größte Zahl der Beschäftigten in der Altenhilfe, gefolgt von der Jugendhilfe (ebd., 194.) Bei der Caritas wiederum arbeiten die meisten Beschäftigten in der Gesundheitshilfe, gefolgt mit großem Abstand von der Jugendhilfe (ebd., 110). In der Diakonie verteilen sich die Arbeitnehmer zu zwei Dritteln mit nahezu gleichen Anteilen auf die Kranken-, Jugend- und Altenhilfe (ebd., 155). Was schließlich die ZWST als kleinsten Wohlfahrtsverband betrifft, richten sich ihre im Vergleich zu den anderen Wohlfahrtsverbänden geringen Hilfeangebote nur an Mitglieder und Mitarbeitende jüdischer Gemeinden und Landesverbände (ebd., 287–288). d) Stratifizierte Differenzierung: Schließlich finden wir, wenn auch mit einer gewissen Rückläufigkeit, bestimmte wertorientierte Bindungen an die unterschiedlichen Wohlfahrtsverbände sowohl seitens der Organisationsmitglieder als auch der Hilfesuchenden. Sie indizieren einen ungleichen Zugang zu den Wohlfahrtsverbänden sowohl seitens der Stellensuchenden als auch der Hilfesuchenden, sofern die Pluralität des Hilfeangebots vor Ort nicht gewährleistet ist.
Was abschließend die Organisationskultur der Wohlfahrtsverbände betrifft, so manifestiert sie sich in Form des Selbstverständnisses als Wertegemeinschaft mit einer je spezifischen Corporate Identity bzw. Weltanschauung (vgl. Olk u.a. 1995, 15). Dass diese ebenso kontingent ist wie ihre durch Entscheidung temporär festgezurrten Entscheidungsprämissen wurde in den letzten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt durch die Leitbilddiskussionen der einzelnen Wohlfahrtsverbände sowie ihre wiederholten gemeinsamen Selbstbeschreibungen (=Redescriptions) deutlich.
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4.1.4
Sozialwissenschaftliche Ansätze der Wohlfahrtsverbände
Wir hatten einleitend bereits erwähnt, dass wir einige sozialwissenschaftliche Ansätze der Wohlfahrtsverbände vorstellen werden. Diese Ankündigung wollen wir an dieser Stelle einlösen. Dazu werden wir jüngere sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen zur Kritik der Selbstbeschreibung der Wohlfahrtsverbände und zu ihrer unterschiedlichen Verortung im Kontext des Dritten Sektors bzw. des Welfare-Mix darstellen (vgl. Olk 1995; Grunwald 2001; Merchel 2003; Boeßenecker 2005; Boeßenecker/Vilain 2013).
4.1.4.1
Zur Kritik der Selbstbeschreibung der Wohlfahrtsverbände als Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in den 1980er Jahren
Ein erster Versuch, genauer zu bestimmen, worum es sich bei den Wohlfahrtsverbänden eigentlich handelt, setzt bei der Kritik ihres Selbstverständnisses an. Angeschlossen wird hierbei vor allem an die Selbstbeschreibung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW), wie sie ihren Satzungen von 1985 bzw. 1988 zu entnehmen ist (vgl. Merchel 2003, 67ff.; Boeßenecker 2005, 35ff.; Boeßenecker/Vilain 2013, 32ff.). Als »Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege« gilt dementsprechend eine Organisation, die folgende Merkmale aufweist (vgl. ebd., 36): a) die Erstreckung der Tätigkeit über das ganze Bundesgebiet; b) die Betätigung auf dem gesamten Gebiet der Wohlfahrtspflege; c) das Teilen der gleichen ideellen Zielsetzung von ihr und der ihr angeschlossenen Organisationen und Einrichtungen; d) eine organische Verbindung zwischen ihr und den angeschlossenen Organisationen, e) die Gewährleistung insgesamt und durch die Bedeutung der in ihr zusammengeschlossenen Organisationen und Einrichtungen für eine stetige, umfassende und fachlich qualifizierte Arbeit sowie für eine korrekte Verwaltung bietet.
Kritisiert werden an dieser Selbstbeschreibung der Wohlfahrtsverbände u.a. die folgenden Aspekte: Die ersten beiden Merkmalen (a-b) gelten nicht für die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden. Was das dritte Merkmal (c) betrifft, kann der DPWV weder von seiner Geschichte her noch durch seine Struktur für seine Mitgliederorganisationen die gleiche ideelle Zielsetzung bereitstellen. Zudem verweisen empirische Untersuchungen auf deren Zurücktreten zugunsten der fachlichen Orientierung, d.h. der Professionalisierung, für alle Wohlfahrtsverbände. Das vierte Merkmal (d), die »organische Verbindung«, kann der DPWV für seine rechtlich, finanziell und fachlich eigenständigen Mitgliederorganisationen nicht gewährleisten. Zweifel werden auch an der Realisierung des letzten Merkmals (e), der Gewährleistung der Qualität der Arbeit und der korrekten Verwaltung, aufgrund diverser Alltagserfahrungen und des selbständigen Status vieler Mitgliedseinrichtungen laut. Für die sozialwissenschaftlichen Kritiker der Selbstbeschreibung der Wohlfahrtsverbände bedeutet dies, dass man deren normative Orientierung der Merkmale bzw. Funktionen durch eine empirische und damit realitätsnähere Fremdbeschreibung ersetzen sollte (vgl. Merchel 2003, 68). Und ihre Selbstbeschreibung als eine interessenorientierte
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Schließungsabsicht gegenüber anderen Organisationen und Trägerformen interpretieren kann, die inzwischen sowohl durch die Novellierungen des BSHG von 1996 als auch des SGB VIII von 1998 obsolet geworden sei, da diese eine Öffnung für jene vorsehen (vgl. Boeßenecker 2005, 36). Gemeinsam ist mithin beiden Kritiken eine Offenlegung der blinden Flecken der Selbstbeschreibung der Spitzenverbände der Wohlfahrtsverbände, die sie deshalb für inkompatibel mit der von ihnen als Fremdbeobachtern identifizierten veränderten Realität der Wohlfahrtsverbände halten.
4.1.4.2
Eine strukturell-operational Definition von Wohlfahrtsverbänden als Nonprofit-Organisationen des Dritten Sektors
Einen anderen Ansatz zur genaueren Bestimmung dessen, was Wohlfahrtsverbände als Organisationen sein könnten, wählen diejenigen sozialwissenschaftlichen Autoren, welche sie als Nonprofit-Organisationen (=NPO) dem Dritten Sektor zurechnen (vgl. Grunwald 2001, 28ff.). Ausgangsannahme ist die, dass man NPO weder dem öffentlich-staatlichen noch dem erwerbswirtschaftlichen Bereich zuordnen kann. Stattdessen sind sie zwischen Markt und Staat platziert und gehören dementsprechend zum sogenannten Dritten Sektor. Wie bereits die Semantik von NPO deutlich macht, handelt es sich bei ihr um eine Negativabgrenzung. Als solche betont sie zunächst die Differenz zu profitorientierten Wirtschaftsorganisationen. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass die NPO keine Gewinne machen dürfen. Dies können sie sehr wohl. Sie dürfen sie nur nicht an Eigentümer oder Aktionäre ausschütten, sondern müssen sie, entsprechend ihrer Satzungen, in die Organisation reinvestieren. Allerdings reicht diese Negativabgrenzung allein nicht aus, um die Spezifika der NPO herauszuarbeiten. Zählten doch sonst dazu auch gemeinwirtschaftliche Einrichtungen in staatlicher Trägerschaft, wie öffentliche Verwaltungen, Schulen und Universitäten sowie öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungskörperschaften in halbstaatlicher Trägerschaft, wie z.B. Kammern. Im Kern geht es somit bei den Nonprofit-Organisationen um solche Organisationen, die im Prinzip nach sowohl nicht-erwerbswirtschaftliche als auch nicht-staatliche Institutionen sind (vgl. Grunwald 2001, 30). Gleichwohl greift auch diese Bestimmung noch zu kurz, um Wohlfahrtsverbände als Nonprofit-Organisationen eindeutig abzugrenzen, gibt es doch eine Vielzahl von ihnen. So lassen sich nach ihrer primären Zwecksetzung wirtschaftliche NPO, z.B. Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, die sich an den wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder orientieren, soziokulturelle NPO, z.B. Sportvereine, Freizeitvereine und Kirchen, die sich auf gemeinsame Tätigkeiten im Kontext kultureller Mitgliederinteressen fokussieren, politische NPO, z.B. Parteien, welche an der Entwicklung und Durchsetzung politischer Werte interessiert sind, und soziale NPO, die auf materielle und immaterielle soziale Unterstützung abstellen, idealtypisch voneinander unterscheiden. Selbst, wenn es naheliegend ist, die Wohlfahrtsverbände diesem letzteren der vier angeführten Idealtypen zuzuordnen, wendet Grunwald (2001, 31) dagegen ein, dass sie als soziale Nonprofit-Organisationen nicht nur soziale Zwecke, sondern auch (sozial-)politische und wirtschaftliche Funktionen wahrnehmen.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Im Anschluss an Publikationen des »Johns Hopkins Comparative Nonprofit Projekt«, welche den Nonprofit-Sektor international verglichen, geht er (2001, 31) dementsprechend davon aus, dass NPO »nur durch das Ensemble eines Merkmalskatalogs sinnvoll beschrieben werden können.« Mit der damit verknüpften strukturell-operationellen Definition von NPO reklamiert er jedoch keinen theoretisch begründeten Anspruch. Stattdessen handele es sich um eine deskriptive Kategorie mit einem eher pragmatischen Wissenschaftsverständnis. Folgende verschiedene Merkmale sind es somit, die in ihrer Gesamtheit und ihrem Zusammenspiel eine Nonprofit-Organisation charakterisieren (vgl. Grunwald 2001, 32): a) Sie verfügt über ein Mindestmaß an formaler Organisation hinsichtlich formalisierter Entscheidungsstrukturen und Zuständigkeiten. Sie konkretisiert sich in spezifischen Rechtsformen, z.B. eingetragener Verein, Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Gesellschaften und Stiftungen. b) Sie darf keine Gewinne an Eigentümer oder Mitglieder ausschütten. Stattdessen werden sie gemäß des gemeinnützigen Satzungszweckes zur Bildung von Rücklagen oder zur Ausweitung der Aktivitäten verwendet. Damit sind Konsequenzen für die Arbeitsweisen, die Besteuerung, z.B. Befreiung von der Körperschaftssteuer, und die typischen Organisationsformen, z.B. gemeinnützige Vereine, Stiftungen und gemeinnützige Gesellschaften mit beschränkter Haftung, verknüpft. c) Sie ist durch ein Mindestmaß an Freiwilligkeit bezüglich ehrenamtlicher Mitarbeit, Mitgliedschaft oder finanzieller Zuwendungen gekennzeichnet. d) Sie ist eine private oder nicht-staatliche Organisation, wird aber vom Staat nicht nur finanziell unterstützt, sondern ist in vielfältiger Form mit öffentlichen Organisationen verbunden oder sogar vermischt. e) Sie besitzt ein Minimum an Selbstverwaltung und Eigenständigkeit in Bezug auf Organisation und Entscheidungen.
Grunwald sieht den Vorteil dieser strukturell-operationalen Definition der NPO, speziell der Wohlfahrtsverbände, vor allem darin, dass sie ihre einseitige Beschreibung als primär nicht-erwerbswirtschaftliche oder primär nicht-staatliche Organisationen durch die Kombination von beiden Bestimmungsmerkmalen vermeidet. Im Gegensatz zur normativen Selbstbeschreibung der deutschen Wohlfahrtsverbände werden sie im Kontext des sogenannten Dritten Sektors als Nonprofit-Organisationen zwischen Staat und Markt verortet. Offen bleibt dabei allerdings, inwieweit die in Anlehnung an das »Johns Hopkins Project« in Anspruch genommene strukturell-operationale Definition der NPO die Spezifika der Wohlfahrtsverbände hinreichend in den Blick bekommt. So treffen die angeführten Merkmale weitgehend auf alle der vier idealtypisch angeführten NPO zu; fehlt eine genauere Bestimmung dessen, was unter »strukturell« und »operational« im Zusammenhang mit der Definition der NPO zu verstehen ist; bleibt ungeklärt, was jeweils mit »einem Mindestmaß« bzw. »einem Minimum« gemeint ist und stellt sich zudem die grundsätzliche Frage, was eigentlich präziser unter dem eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten des Dritten Sektors zu verstehen ist. Wenn es sich hierbei um eine Residualkategorie handelt, die alles einschließt, was aus dem Staat
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und Markt ausgeschlossen ist, subsumiert sie offensichtlich zu viel unter dem Dritten Sektor, wie bereits anhand der vier Idealtypen der NPO deutlich wurde.
4.1.4.3 Wohlfahrtsverbände als multifunktionale und intermediäre Organisationen des Dritten Sektors bzw. WelfareMix und Meso-Korporatismus Thomas Olk (1995) versucht in seinem für die sozialwissenschaftliche Wohlfahrtsverbandsforschung folgenreichen Aufsatz »Zwischen Korporatismus und Pluralismus«, die – siehe seinen Untertitel – »Zukunft der Freien Wohlfahrtspflege im bundesdeutschen Sozialstaat« einzuschätzen. Seine Ausgangsannahme ist die, dass es sich bei Wohlfahrtsverbänden um Organisationen handelt, die durch eine komplexe Struktur und Multifunktionalität gekennzeichnet sind. So sind sie erstens Sozialleistungsvereinigungen, die soziale Dienste und Einrichtungen organisieren. Sie sind zweitens Weltanschauungsverbände mit bestimmten normativen Vorstellungen und Traditionen. Zum dritten sind sie Mitgliedervereine mit Gelegenheiten der Geselligkeit, der Kommunikation und selbstbestimmten Handlungsmöglichkeiten. Und schließlich sind sie sozialanwaltliche Interessenvertretungen für benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Um die Zukunft der von ihm deskriptiv charakterisierten Wohlfahrtsverbände in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu bestimmen, geht er nun so vor, dass er im Anschluss an die »Dritte-Sektor«-Forschung und »Welfare-Mix«-Forschung zum einen und die Korporatismusforschung zum anderen Hypothesen und Fragestellungen zu gewinnen versucht. Diese sollen es ihm ermöglichen, die zukünftige Entwicklung der Wohlfahrtsverbände anhand dreier zentraler Umweltbedingungen, nämlich der Pluralisierung der Trägerlandschaft, der europäischen Integration und der Einführung neuer Steuerungsmodelle in den öffentlichen Sozialverwaltungen zu verorten. Dabei vertritt er die These (ebd., 99), »dass sich die deutschen Wohlfahrtsverbände zwar erheblichen Pluralisierungstendenzen ausgesetzt sehen, aber ihren privilegierten Status im System des sektoralen Korporatismus in der Sozialpolitik keineswegs vollständig verlieren.« Was zunächst die Dritte-Sektor-Forschung bzw. Welfare-Mix-Forschung betrifft, schließt er an die Forschungstradition des Programm-On-Non-Profit-Organizations des Institut for Social und Policy Studies an der YALE University an. Die systematische Absicht dieses Ansatzes sieht er in der Beantwortung von folgenden drei Fragen (vgl. ebd., 100): a) Gibt es einen »dritten Modus« des Handelns mit eigener Motivation und Rationalität im Unterschied zum hoheitlichen Machthandeln und am egoistischen Nutzenkalkül orientierten kommerziellen Handeln? b) Kann ein »dritter« Typus von Organisationen neben öffentlichen Ämtern bzw. Behörden und gewerblichen Unternehmen identifiziert werden? c) Gibt es neben Staat und Markt/Privatwirtschaft einen »dritten« gesellschaftlichen Sektor, der als Netzwerk von gemeinnützigen bzw. Nonprofit-Organisationen existiert?
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Die spezifische Antwort der o.g. Forschungsrichtungen auf diese Fragen besteht nun darin, dass es sich bei freigemeinnützigen Organisationen um intermediäre Organisationen handele. Dies bedeutet als Erstes, dass sie in horizontaler Perspektive zwischen öffentlichen Sozialbürokratien, gewerblichen Unternehmungen und privaten Selbstversorgungsgemeinschaften stehen. Zum zweiten impliziert es, dass sich die Entstehung intermediärer Organisationen bzw. eines intermediären Sektors nicht durch den Bezug auf die Erfüllung eindeutiger, in sich konsistenter Organisationsziele bzw. Funktionen respektive die Erfüllung einer einzigen »Primäraufgabe« bzw. »Primärfunktion« theoretisch erklären lasse (vgl. ebd., 101). Vielmehr sind intermediäre Organisationen dadurch gekennzeichnet, »dass sie eine Mehrzahl unterschiedlicher und zum Teil divergierender Ziele verfolgen sowie unterschiedliche Handlungslogiken in sich vereinigen (ebd., 101).« Für die Entwicklungsdynamik der Wohlfahrtsverbände der Bundesrepublik als intermediärer Organisationen ergibt sich daraus für Olk die Frage, wie sie sich in einer Umwelt behaupten können, die aktuell durch Wettbewerbsbeziehungen auf Märkten, Formen der Steuerung, Planung und Kontrolle durch öffentliche Sozialbürokratien und qua haushaltsbezogener oder zwischenhaushaltlicher Formen der Vergemeinschaftung charakterisiert ist. Konkret bedeutet dies, ob sie in einer zukünftigen Gegenwart als intermediäre Organisationen kontinuieren können, oder ob sie sich an eine der erwähnten Umwelten anpassen, sei es durch »Verbetrieblichung«, »Verstaatlichung« oder »Vergemeinschaftung«, wobei letztere Tendenz die für Olk unwahrscheinlichste darstellt. Erwähnt sei abschließend noch, dass die Dritte-Sektor-Forschung ihren Fokus auf die Dienstleistungsfunktion der Wohlfahrtsverbände legt, die sie, wie erwähnt, aus der horizontalen Perspektive betrachtet. Im Gegensatz dazu geht es bei der Korporatismus-Forschung um die vertikale Perspektive. Im Zentrum der Beobachtung steht mithin der »Zwischenstatus« von intermediären Organisationen hinsichtlich der vertikalen Beziehungen zwischen Bürgern und Staat zum einen und zwischen gesellschaftlichen Organisationen und Vereinigungen und dem Staat zum anderen. Typisch für den für die deutschen Wohlfahrtsverbände relevanten Korporatismus ist nun nach Olk der Meso-Korporatismus. Kennzeichnend für ihn sind erstens Strukturverflechtungen zwischen Staat und Verbänden in einzelnen Sektoren, regionalen Kontexten und Policies, z.B. der Sozialpolitik. Zum Zweiten die Delegation von öffentlichen Regulierungsaufgaben und Verantwortlichkeiten an organisierte Privatinteressen zwecks Entlastung des Staates. Und zum Dritten eine historisch lange Dauer und strukturelle Stabilität, welche vor allem auf wechselseitigen politischen Tauschverhältnissen und Abhängigkeiten basiert, deren Ausstieg durch einen der beteiligten Akteure deren Bestand gefährden kann (vgl. ebd., 104). Für Olk stellt nun die historisch weit zurückreichende Verflechtung zwischen dem Staat und den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege ein Paradigma des MesoKorporatismus dar. Nicht nur genießen sie einen »bedingten Vorrang« vor den öffentlichen Trägern als soziale Dienstleister, ablesbar an den einschlägigen Sozialgesetzen, sondern sie begreifen sich zudem als »Dritter Sozialpartner«. Aus der Sicht der Korporatismusforschung stehen die Wohlfahrtsverbände dabei vor der Aufgabe in vertikaler Perspektive zwischen zwei Ebenen vermitteln zu müssen. Geht es bei den Problemen, die als Mitgliedschaftslogik bezeichnet werden, um die Erweite-
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rung ihrer sozialen Unterstützungsbasis durch Werbung von Mitgliedern, freiwilligen Helfern und Sympathisanten. Handelt es sich bei den Problemen der Einflusslogik um die Realisierung ihrer Organisationsziele durch politische Tauschverhältnisse, d.h. um den Zugang zu bestimmten Ressourcen und Einflusschancen, bei denen sie sich mit anderen formalen Organisationen abstimmen müssen. Typisch aus der Sicht der Korporatismusforschung ist hierbei, dass die Mitgliedschaftslogik und Einflusslogik zwei prinzipiell unvereinbare Handlungsimperative darstellen, die verbandsstrategisch immer nur vorläufig ausbalanciert werden können. Bevor Olk die beiden skizzierten Forschungsrichtungen für die theoretische Einschätzung der Zukunft der bundesdeutschen freien Wohlfahrtspflege fruchtbar macht, rekonstruiert er in einem ersten, gerafften Schritt deren Entwicklung von partikularistischen Wertgemeinschaften zu betriebswirtschaftlich orientierten Dienstleistungsanbietern. Und in einem zweiten, ebenfalls kurz gehaltenen Argumentationsschritt die einleitend erwähnten drei aktuellen Entwicklungstendenzen in ihrer Umwelt. Was seinen ersten Argumentationsstrang betrifft, bezieht sich Olk auf »tiefgreifende Modernisierungsprozesse in der Gesamtgesellschaft…und in der freien Wohlfahrtspflege« (ebd., 107). Im Einzelnen handelt es sich für ihn um folgende Modernisierungsprozesse (vgl. ebd., 107–108): a) Im Zuge der Expansion des Sozialleistungssystems und der rechtlichen Kodifizierung von Leistungs- und Ausstattungsstandards kam es zu einer Ausweitung der Professionalisierung der Dienstleistungserbringung. Diese trat zunehmend an die Stelle des traditionellen weltanschaulichen Selbstverständnisses der Wohlfahrtsverbände. b) Mit der Abnahme der traditionellen Kirchlichkeit reduzierte sich zudem die gesellschaftliche Bedeutung von konfessionellen und weltanschaulichen Unterschieden. Das hauptamtliche Personal der Wohlfahrtsverbände orientiert sich damit einhergehend weniger an den Trägern als an den professionellen Standards ihres jeweiligen Berufs. c) Die engen Verknüpfungen zwischen Wohlfahrtsverbänden und gesellschaftlichen Milieus wurden durch Bürokratisierungs- und Zentralisierungsschübe gelockert. Daraus resultieren wachsende Rekrutierungs- und Bindungsprobleme von Ehrenamtlichen. d) Mit dem erheblichen Wachstum der Einrichtungen, Dienste und Beschäftigtenzahlen bei gleichzeitiger Integration in die öffentlich geregelte und finanzierte Sozialpolitik habe sich darüber hinaus die Umweltabhängigkeit der Wohlfahrtsverbände gesteigert und ihre Flexibilität reduziert. Zudem habe ihr Wachstum zu einem Imageverlust in der öffentlichen Meinung und bei den durch sie beeinflussten politischen Gremien und Verwaltungen geführt.
Die angeführten Modernisierungsprozesse betrachtet Olk als Beleg für eine binnenorganisatorische Modernisierung der freien Wohlfahrtspflege. Diese steht für ihn in enger Interdependenz zu drei aktuellen Umwelttendenzen, welche die durch die skizzierte Entwicklung induzierte Veränderung der Wohlfahrtsverbände forcieren und verstärken dürften. Bevor Olk auf jene näher eingeht, formuliert er mit Rückgriff auf die zwei von
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ihm vorgestellten Forschungsrichtungen Annahmen bzw. Thesen, die er im Anschluss an die Darstellung der aktuellen Umwelttendenzen zu überprüfen beabsichtigt. Aus der Sicht der Dritte-Sektor-Forschung erzeugen diese für die Wohlfahrtsverbände einen Ökonomisierungs- und Verbetrieblichungsdruck. Die Annahme, die es in diesem Zusammenhang zu testen gelte, laufe letztlich darauf hinaus, ob »auf dem sozialen Dienstleistungsmarkt die privilegierte Position freigemeinnütziger Träger durch eine Pluralisierung der Trägerkonkurrenz gelockert werde« (ebd., 109). Aus der Perspektive der Korporatismus-Forschung ergibt sich für Olk zudem die Frage, ob die Wohlfahrtsverbände ihren bis dato weitgehend unumstrittenen privilegierten Zugang zum politischen Willensbildungsprozess zugunsten anderer Trägergruppen einbüßen. Sollten die beiden Thesen bzw. Annahmen, die Olk auch als »doppelte Pluralisierung« (ebd., 109) bezeichnet, zutreffen, würden sowohl die Dienstleistungsmärkte als auch die politischen Tauschmärkte für die Wohlfahrtsverbände turbulenter. Bevor Olk seine Annahmen abschließend zu beantworten versucht, skizziert er kurz die drei aktuellen Umwelttendenzen, von denen bereits wiederholt die Rede war. Im Einzelnen benennt er diese wie folgt: a) Die Pluralisierung der Trägerlandschaft im bundesdeutschen Sozialsektor Mit ihr verweist Olk auf die Anerkennung einer »neuen Trägersäule« durch die Politik auf den unterschiedlichen Ebenen des föderativ strukturierten politisch-administrativen Systems. Im Kern handele es sich dabei um Selbsthilfegruppen, Initiativen und Projekte, die seit den 1970er Jahren entstanden und neben die Wohlfahrtsverbände und öffentlichen Träger getreten seien. Ihre Erwähnung finden sie z.B. im KJHG. b) Auswirkungen des Prozesses der europäischen Integration auf die Wohlfahrtsverbände Mit der Politik der europäischen Integration komme es zu einer Form der europäischen Sozialpolitik, welche unter der Programmformel »economie sociale« die Marktwirtschaft im sozialen Sektor forciere. Für die deutschen Wohlfahrtsverbände als Dienstleistungsanbieter impliziere dies, dass sie sich zukünftig stärker an Kriterien wirtschaftlichen Handelns, wie Wettbewerb, Freizügigkeit und Niederlassungsbzw. Dienstleistungsfreiheit, orientieren müssen. Ihre sozialrechtliche Sonderstellung gerate dadurch unter dem Aspekt von Wettbewerbsverzerrung unter verstärktem Legitimationsdruck. Zudem könne ein die nationalen Grenzen sprengender Wettbewerb von sozialen Dienstleistungsanbietern entstehen, wie er teilweise in Grenzregionen bereits vorliege. c) Neue Steuerungsmodelle in der öffentlichen Verwaltung Unter dem Label »New Public Management« halte verstärkt betriebswirtschaftliches Denken Einzug in die öffentliche Verwaltung, speziell auch die Sozialverwaltung. Ziel der damit verknüpften Reformen sei es u.a. Wettbewerb zu stimulieren und durch ihn »Kosten zu sparen, Dienstleistungen qualitativ zu verbessern sowie die Präferenzen und Wünsche der Nachfrager im Sinne einer Kundenorientierung stärker zu berücksichtigen (ebd., 111).« Damit einher gehe eine Einführung betriebswirtschaftlicher Kriterien der Effektivität und Effizienz, eine »Aufgabenkritik« und eine Delegation öffentlicher Aufgaben auf nicht-staatliche
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Träger. Zu diesen zählen auch privatgewerbliche Anbieter, verbandsunabhängige Vereine und Initiativen. Am deutlichsten finden diese Berücksichtigung, neben den Wohlfahrtsverbänden, im § 11 Abs. 2 Satz 2 und 3 des Pflegeversicherungsgesetzes. Dort heißt es u.a.: »Freigemeinnützige und private Träger haben Vorrang gegenüber öffentlichen Trägern (ebd., 112).« Zentrale Konsequenz dieser sozialrechtlichen Neuregelungen sei eine Dominanz von Wirtschaftlichkeitsüberlegungen und Qualitätsstandards, welche die historisch gewachsenen Sonderrechte, z.B. der Wohlfahrtsverbände, ersetzten. Die Relation von öffentlichen Sozialverwaltungen und freigemeinnützigen bzw. privaten Organisationen nehme die Form von Vertragsbeziehungen an, bei denen die durch sie durchgeführten öffentlichen Aufgaben an klar umrissene Leistungspakete und finanzielle Festbeträge gebunden seien. Nachdem Olk die Herausforderungen an die Wohlfahrtsverbände durch die drei skizzierten aktuellen Umwelttendenzen dargestellt hat, versucht er abschließend herauszuarbeiten, dass seine Annahme einer »doppelten Pluralisierung« nur bedingt auf die Zukunft und die politischen Optionen der Wohlfahrtsverbände zutreffe. Vielmehr vertritt er die These, dass die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege aufgrund ihrer potenziellen Multifunktionalität über hinreichendes strategisches Handlungspotential verfügten, um sich neuen Umwelttendenzen vergleichsweise rasch und flexibel anpassen zu können (ebd., 113). Dass dies so sei, dafür spreche für ihn auch ein Interesse der Politik auf allen Ebenen, bestehende Sonderbeziehungen zu ihnen zumindest partiell zu kontinuieren. Olk versucht seine These anhand der Ausbalancierung von Mitglieds- und Einflusslogik als strategischer Optionen der einzelnen Wohlfahrtsverbände mittels dreier Beispiele zu belegen, um darauf aufbauend ein abschließendes Resümee zur Zukunft der Wohlfahrtsverbände zu ziehen. Was zunächst seine Beispiele angeht, rekurriert er auf die folgenden strategischen Optionen der Wohlfahrtsverbände: d) Die Verbetrieblichung der Freien Wohlfahrtspflege Hier gehe es um die Funktion der Wohlfahrtsverbände als Dienstleistungsanbieter im Kontext der sozialen Dienstleistungsmärkte. Ihre Option beziehe sich dabei auf eine Stabilisierung bzw. Verbesserung ihrer Position bezüglich des Preis- bzw. Qualitätswettbewerbs. Im Einzelnen lassen sich die folgenden Strategien beobachten: 1. Sie führen moderne Managementstrategien ein, reorganisieren ihre Dienste und Einrichtungen nach betriebswirtschaftlichen Kriterien und gründen einzelne Dienstleistungen in privatgewerblichen Formen aus. 2. Voll finanzierte gesetzliche Pflichtleistungen werden auf kommunaler Ebene in eigene Trägervereine oder GmbHs bzw. gemeinnützige GmbHs umgewandelt. 3. Aufgrund öffentlicher Mittelkürzungen konzentrieren und spezialisieren sie sich fachlich auf lukrative Aktivitäten, welche sie mittels Kostenstellen und betriebswirtschaftlicher Analysen ausfindig machen. 4. Zudem adaptieren sie selektiv die Instrumente des »New Public Management«, wie Budgetierung, Controlling und Output-Orientierung.
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Für Olk konfligieren diese Strategien, welche im Sinne der Einflusslogik auf die Effizienzsteigerung der Organisation abstellen, mit den Imperativen der Mitgliedschaftslogik. Dies gilt für ihn deshalb, weil das Selbstverständnis der Wohlfahrtsverbände, in einer pluralistischen Gesellschaft mit divergierenden wertgebundenen Angeboten und Dienstleistungen zu konkurrieren, mittels der genannten Strategien durch eine Marktlogik substituiert werde. Im Vordergrund stehe hierbei nurmehr die Konzentration auf monetäre Ressourcen und die Sicherung von Marktanteilen. Hinzu komme, dass die in dieser Form modernisierten Dienstleistungsunternehmen zur Demotivierung ehrenamtlichen Engagements und zum Imageverlust als gemeinnützige Organisationen beitragen. Zudem werde dadurch der Support durch eine diffuse Öffentlichkeit und eine mit ihm verknüpfte Spendenbereitschaft in Frage gestellt. e) Die Wiederbelebung der sozialanwaltlichen Interessenvertretungsfunktion Olk beobachtet eine graduelle Veränderung in Richtung der Wahrnehmung dieser Funktion durch die Caritas und den Paritätischen Wohlfahrtsverband anhand ihrer Mitarbeit in der nationalen Armutskonferenz in der BRD (=NAK) und Aufträgen zur Armutsforschung sowie ihrer öffentlichkeitswirksamen Präsentation. Die Relevanz dieser Funktion sieht Olk vor allem darin, dass sie den konkurrierenden Anbietern auf den sozialen Dienstleistungsmärkten nicht in gleicher Form zur Verfügung stehe, sei es aufgrund ihrer lokalen bzw. regionalen Beschränkung, wie im Falle der selbstorganisierten Initiativen und Projekte, sei es aufgrund ihrer Gewinnorientierung, wie im Falle der privatgewerblichen Anbieter. f) Wohlfahrtsverbände als Infrastruktur für Bürgerengagement und Selbsthilfe Olks Bewertung dieser wohlfahrtsverbandsstrategischen Option ist ambivalent. Zum einen bezweifelt er aufgrund der vorangeschrittenen Inkorporation der Wohlfahrtsverbände in den Sozialstaat, dass diese direktes freiwilliges Engagement und gesellschaftliche Solidarität in ihren Einrichtungen, Diensten und Vereinsgliederungen stimulieren könnten Zum anderen sieht er ihre Funktion als Dachorganisationen, welche die Infrastruktur für selbsttätiges Bürgerengagement bereitstellen können, weiterhin als gegeben an. Er verweist dabei auf die Selbsthilfegruppen, welche als korporative Mitglieder der Wohlfahrtsverbände deren Möglichkeiten der Anbietung von öffentlichen Mitteln, Fachberatung und Unterstützung nutzen. In seinem abschließenden Resümee kommt Olk aufgrund seiner bisherigen Ausführungen zu folgenden Ergebnissen im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungstendenzen der Wohlfahrtsverbände: 1. Er geht davon aus, dass seine Analyse »weder eine vollständige und restlose Transformation der Wohlfahrtsverbände in quasi-kommerzielle Dienstleistungsunternehmen noch eine Auflösung korporatistischer Strukturen im Sozialsektor« (ebd., 118) rechtfertige. Stattdessen lassen sich in diesem »äußere und innere Pluralisierungstendenzen der Anbieterstrukturen und politische Verflechtungsbeziehungen« (ebd., 118) beobachten.
4. Organisationen 2. Diese seien mit einer sozialrechtlich induzierten Reduktion der privilegierten Position der Wohlfahrtsverbände und einer Aufwertung gewerblicher und anderer Anbieter im Kontext der sozialen Dienstleistungsmärkte verknüpft. 3. Verkürzt wäre es jedoch, daraus auf eine Durchsetzung von »echten« Marktbeziehungen zu schließen. Vielmehr kontinuiere ein politisch regulierter Markt mit der Gewährleistungsverpflichtung und Letztverantwortung der öffentlichen Träger. Diese seien deshalb nur an einer partiellen Öffnung der Kooperation mit neuen Trägergruppen, nicht aber an einer unüberschaubaren Vielzahl von Anbietern interessiert, mit denen sie verhandeln müssen. 4. Die tatsächlich beobachtbare Konsequenz dieser partiellen Öffnung sei dementsprechend – wie Olk exemplarisch an den Zentralisierungstendenzen der Pflegesatzverhandlungen zu sehen meint – kein Übergang vom Korporatismus zum Pluralismus, sondern »eine Tendenz zu einem ›multipolaren Korporatismus‹« (ebd., 119). Charakteristisch für diesen sei eine nur partielle Erweiterung der bisherigen »bipolar strukturierten exklusiven Politiknetzwerke im Sozialsektor« (ebd., 119). 5. Komplementär zu dieser äußeren Pluralisierung lasse sich schließlich eine innere Pluralisierung des föderalistisch strukturierten Systems der Freien Wohlfahrtspflege in »drei unterschiedliche, funktional spezifizierte Säulen« beobachten, die sich »immer stärker gegeneinander verselbständigen und abgrenzen (ebd., 119).« Dabei handele es sich erstens um eine »Säule betriebswirtschaftlich gesteuerter Konzernstrukturen«, welche auf den Bestand auf den Dienstleistungsmärkten zugeschnitten sei. Zum zweiten um eine »Säule lokaler Vereinigungen und assoziativer Strukturen«, die Bedürfnisse der Geselligkeit, Kommunikation und sozialer Integration bediene. Und drittens um eine »Säule, in der sich die Wohlfahrtsverbände als überlokal operierende korporative Akteure präsentieren«, welche auf die Vermittlung der Anliegen und Interessen selektiver benachteiligter Personengruppen ins politische System der BRD abstelle.
Als Fazit seines Resümees kommt Olk folglich zu dem Schluss, dass es die von ihm skizzierte Multifunktionalität und Flexibilität der Wohlfahrtsverbände sei, welche sie als intermediäre Organisationen für den Sozialstaat der BRD so funktional erscheinen lasse. Gerade, weil dies so sei, halte er eine Substitution der traditionellen mesokorporatistischen Verflechtungsbeziehungen im Sozialsektor durch das System einer vollständigen pluralistischen Anbieterkonkurrenz für unwahrscheinlich.
4.1.5
Die Selbstbeschreibung der Wohlfahrtsverbände als Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in den 1990er Jahren
Dass sich das Selbstverständnis der Spitzenverbände der Wohlfahrtsverbände nicht nur auf ihre Satzungen zurückführen lässt, und dass sie es unter selektiver Berücksichtigung der von uns bis dato vorgestellten ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Fremdbeschreibung und Kritik verändern können, macht ein von ihnen im April 1997 unter dem Titel »Selbstverständnis und Aufgaben der freien Wohlfahrtspflege in Deutschland« verabschiedeter Text deutlich (vgl. caritas 99 (1998), 5). Sein Ziel sei es:
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»[…] die Arbeit der Wohlfahrtsverbände durch gemeinsame Positionen auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene zu profilieren und damit einen Beitrag zur öffentlichen Diskussion über die freie Wohlfahrtspflege zu leisten.« (caritas 99, (1998), 5, 234) Neben einer Präambel versucht die BAG der Freien Wohlfahrtspflege, anhand ihrer Pluralität (1.), Funktionen als Gemeinwohl-Agenturen (2.), Anwalt der Betroffenen (3.) und sozialer Dienstleistungsanbieter (4.) ihr erneuertes Selbstverständnis in der zweiten Hälfte der 1990 Jahre zu dokumentieren.
4.1.5.1
Zur Präambel
4.1.5.1.1 Historische Entstehungsbedingungen: In der Präambel thematisiert die BAG der Freien Wohlfahrtspflege als Erstes kurz die historischen Entstehungsbedingungen der Arbeit der freien Wohlfahrtspflege ausgehend von der Industrialisierung im 19. Jahrhundert bis zur Weimarer Reichsverfassung. Betont wird die seitherige Kontinuität des Grundsatzes der Subsidiarität, welche durch den Verweis auf das BSHG und das KJHG belegt wird. Unter Subsidiarität versteht die BAG (ebd., 234) »eine Zurückhaltung staatlicher Eingriffe, soweit und solange die Tätigkeit freier gesellschaftlicher Kräfte in gleicher Weise geeignet erscheint, soziale Probleme zu bewältigen.« 4.5.1.1.2 Bekenntnis zum Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes (Art.20 und 28) Als Zweites hebt die BAG hervor, dass sich die Spitzenverbände zum Sozialstaat der BRD bekennen und für die Weiterentwicklung seiner zentralen Prinzipien der Solidarität, Subsidiarität und Personalität einsetzen. Unter Solidarität verstehen sie in diesem Zusammenhang die Verpflichtung von Leistungsstarken zum Teilen mit Leistungsschwachen. Mit Subsidiarität verbinden sie das Gebot zur Zurückhaltung staatlichen Handelns und die Pflichten des einzelnen. Personalität verweist schließlich auf das individuelle Eingehen auf Notlagen einzelner. Zugleich sehen die Spitzenverbände der Wohlfahrtsverbände in den Artikeln 20 und 28 eine unmittelbare Verknüpfung von Demokratie und Sozialstaat, welche eine verfassungsrechtliche Garantie für soziale Leistungen als bürgerschaftlich gestaltete Lebensstandardsicherung darstelle. Zudem betrachten sie den Sozialstaat als einen unabdingbaren integralen Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Soziale Leistungen seien somit weder eine milde Gabe von Staat und Wirtschaft an Hilfebedürftige noch sei der Sozialstaat eine Ergänzung oder nur ein Korrektiv der freien Marktwirtschaft. 4.5.1.1.3 Wohlfahrtsverständnis als Sozialverantwortlichkeit und Wertgebundenheit der Wohlfahrtsverbände Die Wohlfahrtsverbände akzentuieren ein Wohlfahrtsverständnis, dass, neben der Sozialpflicht des Staates, sozialverantwortliches Handeln für sich selbst und für den Mitmenschen betont. Deshalb motivieren sie zum einen Menschen zum Einsatz für das Gemeinwohl und begreifen sich aus Gründen sozialer Gerechtigkeit als Anwalt für Hilfebedürftige. Darüber hinaus bieten sie qualifizierte soziale Dienstleistungen in eigener Verantwortung an.
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Ihre Wertgebundenheit manifestiere sich sowohl in der Pluralität ihrer Einrichtungen und Dienste als auch ihrer Ansätze und Methoden der Sozialen Arbeit. Zudem kommen Sozialverantwortlichkeit und Wertgebundenheit in transnationaler solidarischer Hilfe für Menschen in Not zum Ausdruck.
4.1.5.2
Die Pluralität der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege
Anhand einer kurzen Skizzierung des jeweiligen Wertbezugs ihrer 6 Spitzenverbände verweist die BAG auf ihr plurales Angebot qualifizierter sozialer Hilfen. Wichtig sei für sie in diesem Zusammenhang, dass sich die Spitzenverbände als Partner des Sozialstaates begreifen. Dabei gehe es ihnen erstens darum, hervorzuheben, dass die von ihnen übernommen sozialen Aufgaben durch ihr Eigenverständnis geprägt seien. Mit diesem sei für sie grundsätzlich ein eigener Auftrag bezüglich der sozialen Aufgaben verknüpft, der sowohl die Aufgabenstellung des Staates zeitlich transzendieren könne als auch im Kontext zur jeweiligen gesellschaftlichen Lage entwickelt werde (vgl. ebd., 236). Zum Zweiten machen sie auf ihre auf dem Subsidiaritätsgedanken basierende zentrale Stellung im Sozialstaat aufmerksam. Mit Bezug auf ihn verstehen sie sich als eine der »gesellschaftlichen Selbsthilfekräfte«, welchen der »Vorrang vor der Aufgabenerfüllung durch den Staat« (ebd., 236) und damit ein nicht ersetzbarer grundgesetzlicher Beitrag zur Sozialstaatlichkeit als Erbringer von Maßnahmen, Diensten und Einrichtungen zukomme. Gleichwohl lassen sie zum Dritten keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Staat die verfassungsmäßige Verpflichtung zur Daseinsvorsorge und -fürsorge nicht an sie delegieren könne. Neben dem nationalen Bezug stellt die BAG zusätzlich auf die Kooperation der Wohlfahrtsverbände mit ihren ausländischen Partnerorganisationen und anderen freigemeinnütziger Organisationen innerhalb der EU ab.
4.1.5.3 Die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege als Gemeinwohl-Agenturen Was das Selbstverständnis der Wohlfahrtsverbände als Gemeinwohl-Agenturen betrifft, akzentuieren sie folgende Funktionen: •
•
•
Sie begreifen sich als »Sammelpunkte« des freiwilligen sozialen Engagements der Bürger, in dessen diversen Formen sie die Realisierung des Subsidiaritätsgedankens sehen. Zudem machen sie deutlich, dass sie für viele frei gegründete Selbsthilfegruppen als Dachorganisation fungieren, ohne deren Autonomie zu beschneiden. Vielmehr ermöglichen sie ihnen, ihren Aufgaben nachzukommen, indem sie ihnen Geschäftsstellen, Versammlungsräume und Weiterbildung für die Leiter der Selbsthilfegruppen und Supervision zur Verfügung stellen. Schließlich stellten sie »Lernfelder für gesellschaftliche Verantwortung und Solidarität« bereit, indem sie Menschen, die zu gesellschaftlichem Engagement motiviert seien, gemäß ihrer Zeitressourcen und persönlichen Fähigkeiten Betätigungs- und Beteiligungsmöglichkeiten anbieten (vgl. ebd., 237). Des Weiteren offerieren sie z.B.
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ein freiwilliges soziales Jahr für junge Menschen. Mit all diesen Angeboten tragen sie zur praktischen Umsetzung einer »generationen- und gesellschaftliche Schichten übergreifenden Solidarität« (ebd., 237) bei. Durch die angeführten Funktionen sehen sich die Wohlfahrtsverbände in der Rolle von Gemeinwohl-Agenturen, »die ihre der Gemeinschaft dienenden Überzeugungen und Werthaltungen gestaltend einbringen« (ebd., 237). Dabei beugen sie sowohl Nöten vor und/oder nehmen die jeweils größte Not zum Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten (ebd., 237).
4.1.5.4
Die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege als Anwalt der Betroffenen
Zu ihrem Selbstverständnis als Anwalt der Betroffenen äußert sich die BAG wie folgt: a) Zunächst macht sie deutlich, dass bestimmte Personengruppen, wie Behinderte, Pflegebedürftige, Arbeitslose etc., nur geringe Möglichkeiten hätten, ihre Lösungsvorschläge zu den sie bedrängenden Nöten und Probleme »in das Handeln der Gemeinschaft einzubringen« (ebd., 237). Sie sähen deshalb »die Gefahr, dass ihre Interessen im pluralistischen Zusammenspiel der Kräfte« gar nicht oder zu wenig vertreten werden (ebd., 237). b) Die Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege ziehen für sich daraus den Schluss, die Interessen dieser Personengruppen, möglichst mit ihnen, in die öffentliche Diskussion einzuspeisen. c) Zudem wollen sie sich an der sozialen und sozialpolitischen Entwicklung beteiligen. Dazu gehöre das Aufmerksammachen auf soziale Probleme, das Insistieren auf politischen Lösungen und die Bereitstellung von Fachwissen. d) Adressaten ihrer Interessenvertretung zum Wohle Benachteiligter seien für sie vornehmlich die Gesetzgeber, Verwaltungen und die Öffentlichkeit. e) Dabei begreifen sie sich als Partner der Politik durch das Eintreten für gerechte sozialpolitische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, welche »mitbürgerliches Engagement und Selbsthilfe ermöglichen und unterstützen und soziale Notlagen überwinden helfen (ebd., 237)«. f) In ihrer Funktion als Anwalt der Betroffenen sehen sie auch einen Beitrag zum »gesellschaftlichen und sozialen Frieden« (ebd., 237).
4.1.5.5
Die Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege als soziale Dienstleistungsanbieter
a) Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses als soziale Dienstleistungsanbieter sei sowohl eine Orientierung am Gemeinnützigkeitsprinzip als auch ein gemeinsames Grundverständnis ihres ökonomischen Handelns. b) Des Weiteren gehen die Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege von zwei ressourcenbezogenen Erfahrungen bzw. Erkenntnissen aus. Einerseits verweisen sie darauf, dass die nötigen Ressourcen für die Hilfeangebote nur durch die Kooperation von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege erbracht werden können. Andererseits stellen sie darauf ab, dass die Erbringung sozialer Dienstleistungen in nichtstaatlichen Organisationen kostengünstiger und klientennäher erfolge.
4. Organisationen c) Was die professionelle soziale Arbeit innerhalb der Wohlfahrtsverbände angehe, sei sie, bei all ihrer Vielfalt der Ansätze und Methoden, durch folgende Merkmale gekennzeichnet. Als Erstes basiere sie auf persönlichen Beziehungen und der Akzeptanz des Hilfesuchenden. Dessen Souveränität und Eigenverantwortlichkeit seien zweitens Ausgangspunkt und Ziel der sozialen Arbeit. Damit respektiere diese zum Dritten die »Ganzheitlichkeit des Menschen und reduziere ihn nicht auf einen bloßen Entgegennehmer eng umrissener Dienstleistungen (ebd., 238)«. d) Im Gegensatz zum »legitimen Prinzip der Gewinnmaximierung der privat-gewerblichen Leistungsanbieter« betonen die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege das »Prinzip des Mehr-Nutzens für den Hilfeempfänger und für die Gesellschaft schlechthin (ebd., 238)«.
Daraus folge zum Ersten die Präferenz für die gemeinnützige Organisation sozialer Arbeit. Diese basiere auf einer planmäßigen, zum Wohl der Allgemeinheit ausgeübten Sorge für Notleidenden und gefährdete Menschen (ebd., 238). Erzielte Gewinne würden folglich zum Wohl bedürftiger Menschen verwendet. Zum Zweiten kombinierten die Dienste und Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände sowohl moderne betriebswirtschaftliche Methoden mit gemeinwohlorientiertem Handeln als auch Hauptamtlichkeit und Ehrenamtlichkeit auf der Basis fachlicher Orientierung (ebd., 238). e) Den Wettbewerb mit den freigemeinnützigen, öffentlichen und privat-gewerblichen Dienstleistungsanbietern bejahten die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege dann, wenn er zum einen der Effizienzsteigerung und der Verbesserung der Instrumente und Methoden der Hilfeleistung diene. Und dann, wenn er zum anderen das Wunsch- und Wahlrecht der Hilfebedürftigen gewährleiste.
Demgegenüber lehnen sie die »Einführung marktwirtschaftlicher Komponenten in den Sozialbereich« nicht nur ab, »wenn diese zu Lasten von Hilfebedürftigen gehen und wenn sie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unerträglichen Belastungen aussetzen (ebd., 238)«. Vielmehr spitzen sie ihre Ablehnung mit dem Statement zu, dass »das marktwirtschaftliche, auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Modell […] für die Bereiche des Sozialen« (ebd., 238) versage. Sie begründen dies anhand von zwei Argumenten. Zum einen erlaube die rechtliche Beziehung, welche die Leistungsnachfrager respektive Leistungsträger und Leistungserbringer miteinander eingehen, nur in sehr eingeschränkter Form marktähnliches Handeln. Zudem sei die Kundensouveränität durch die erhebliche Einschränkung der selbständigen Handlungsfähigkeit der Nachfrager sozialer Leistungen in vielen Fällen nicht vorhanden. f) Was die Abhängigkeit der Dienste und Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände von zum Teil öffentlichen Finanztransfers anbelange, welche ihre Eigenmittel ergänzten, heben sie hervor, dass ihre Verwendung an den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit orientiert sei. Zusätzlich verweisen sie auf ihre interne und externe Kontrolle durch die Sozialleistungsträger und Qualitätssiche-
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rungsmaßnahmen, welche das Vertrauen zwischen Leistungsträgern und -erbringern steigere. g) Abschließend betonen die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege auf der einen Seite ihre eigenen Beiträge zur fachlichen Weiterentwicklung des Systems und der Methoden sozialer Arbeit, z.B. durch Aus-, Fort- und Weiterbildung ihrer MitarbeiterInnen, den Austausch von Praxis und Wissenschaft und eigene Praxisforschung. Und auf der anderen Seite heben sie ihre hohe Zuverlässigkeit hinsichtlich der dauerhaften und solidarischen Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur, ihrer Vernetzung von Einrichtungen und ihres dadurch erfolgten Beitrages zur staatlichen Sozialplanung hervor. Zusammenfassend sehen sie sich »als Spiegel der pluralen Gesellschaft in Deutschland«, der »ein ebenso plurales Dienstleistungsangebot, das als ein integrales Element unserer Gesellschafts- und Werteordnung zu betrachten« sei, gewährleiste (ebd., 239).
4.1.6
Systemtheoretische Kritik der sozialwissenschaftlichen Ansätze der Wohlfahrtsverbände
An die Stelle des Dreisektorenmodells mit dem sogenannten Wohlfahrtssektor als eingeschlossenem ausgeschlossenen Dritten des staatlichen und marktwirtschaftlichen Sektors tritt aus systemtheoretischer Perspektive die funktionale Differenzierung als eine Pluralität von Teilsystemen im Kontext der Moderne. Zum einen kann damit der Primat der Wohlfahrtsverbände als Hilfeorganisationen präziser bestimmt werden, indem sie dem Funktionssystem Soziale Hilfe und dessen Hilfecode sowie der Hilfekommunikation der Sozialen Arbeit als dominanter Form der Erwerbstätigkeit eindeutig zugeordnet werden. Zum anderen können auch andere »Non-profit-Organisationen« den jeweiligen Funktionssystemen mit ihren jeweiligen Codes subsumiert werden, z.B. die Universitäten dem Wissenschaftssystem mit seinem Code wahr/unwahr. Bezüglich Olks Darstellung der Wohlfahrtsverbände als multifunktionaler Organisationen stellt sich die Frage, inwieweit seine These einer Kombination eines »multipolaren Korporatismus« mit einem inneren dreifachen funktional spezifischen Pluralismus die aktuelle Entwicklung der Wohlfahrtsverbände angemessen beschreibt. So lässt sich erstens zumindest in Bezug auf die Rekrutierungskriterien von Leistungsstellen bezweifeln, ob die Funktion eines Weltanschauungsverbandes durch die forcierte Professionalisierung de facto obsolet geworden ist. Zudem stellt sich die Frage, ob die Semantik der »Professionalisierung« adäquat gewählt ist, da man bezweifeln kann, ob es sich bei den Inhabern der Leistungsstellen primär um Professionelle oder doch eher »nur« um Profis handelt. Zum Zweiten wird nicht hinreichend klar, was Olk genauer unter »Mitgliedslogik« versteht. Referiert er nur auf Ehrenamtliche oder Professionelle, oder auf beide? Träfe letzteres zu, würde eine Unterscheidung von primären und sekundären Leistungsrollen Sinn machen, da diese unterschiedlichen Mitgliedslogiken unterliegen, was sich u.a. an den divergenten Kriterien (akademische Ausbildung mit Fachkompetenz, Professions- bzw. Berufsethik, Bezahlung, Hauptkarriere, Aufstiegsmöglichkeiten, umfassendere Zeitbindung etc.) ablesen lässt.
4. Organisationen
Drittens ist offen, ob die Strategie der Verbetrieblichungstendenz mit derjenigen der Mitgliedslogik zwangsläufig konfligieren muss. So ist es durchaus vorstellbar, dass sowohl neue Formen des Ehrenamtes als auch der partiellen Ersetzung von Professionen durch Betriebswirte zumindest teilweise mit ihr harmonieren, sofern sie an einer guten Marktplatzierung bzw. Konkurrenzsituation der Wohlfahrtsverbände interessiert sind. Viertens fällt auf, dass Olk die Auswirkungen anderer Umweltsysteme, wie Massenmedien, Wissenschaft, Erziehung, Recht, Familie, Religion, Medizin, Pflege, Sport etc., auf die Evolution bzw. Steuerung der Wohlfahrtsverbände weitgehend zugunsten der polit-ökonomischen Thematisierung von Staat und Markt vernachlässigt. Dass ist allein schon deshalb fragwürdig, wenn man die Wohlfahrtsverbände als polykontexturale Organisationen mit dem Primat der Hilfe begreift und zusätzlich auf die von uns angeführte Bedeutung von Erziehung und Recht neben der Wirtschaft verweist. Schließlich kann man durchaus Zweifel hegen, ob die Wohlfahrtsverbände besonders deshalb, wie es Olk unterstellt, nach wie vor für die Politik funktional seien, weil sie sich stärker als Vertreter der sozial Schwachen und Dachorganisation für die Selbsthilfeinitiativen engagieren. Funktional kann dies nur dann sein, wenn sie damit zum einen Probleme lösen, welche die wohlfahrtsstaatliche Politik selbst nicht (mehr) lösen kann, z.B. die Exklusionsvermeidung bzw. Reinklusion sozial schwacher Personengruppen. Und wenn zum anderen die jeweiligen Regierungsparteien von dieser Problemlösung konstitutiv hinsichtlich ihres Machterhaltes abhängig sind. Beides ist durchaus kontingent, was sowohl anhand der teilweise nur symbolischen Interessenpolitik der Wohlfahrtsverbände als auch der keineswegs notwendigen Delegitimation der Regierenden im Falle des Scheiterns des wohlfahrtsverbandlichen Engagements beobachtbar ist. Was die Wohlfahrtsverbände und ihre strategische Selbstbeschreibung betrifft lässt sich folgendes konstatieren: Erstens fällt auf, dass sie sich sowohl mit den von Olk beschriebenen zwei Modernisierungsschüben als auch der von ihm dargestellten doppelten Pluralisierung im Kontext des sozialen Sektors auseinandergesetzt haben. Zweitens springt ins Auge, dass ihre Selbstbeschreibung durchaus eine starke Übereinstimmung zur multifunktionalen Bestimmung der Wohlfahrtsverbände durch Olk aufweist. So verweist die Pluralität auf den Weltanschauungsverband, lassen sich die Gemeinwohl-Agenturen mit dem Mitgliederverein gleichsetzen und beziehen sich das Selbstverständnis als Anwalt der Betroffenen und sozialer Dienstleistungsanbieter auf die sozialanwaltliche Interessenvereinigung und Sozialleistungsvereinigung. Drittens im Unterschied zu Olk sehen sie ihre Funktion als Gemeinwohl-Agentur jedoch weitaus optimistischer. So ignorieren sie dessen Skepsis, aufgrund ihres sozialstaatlichen Eingebundenseins Bürgerengagement an sich binden zu können, und heben ihre Funktion als Dachorganisation für Selbsthilfegruppen hervor, ohne deren Autonomie zu bedrohen. Viertens betonen sie gegenüber Olks Darstellung der Marktgängigkeit und Verbetrieblichung der Wohlfahrtsverbände ihre Differenz zu den privatwirtschaftlichen an Gewinnmaximierung interessierten Dienstleistungsanbietern und akzentuieren die Grenzen des Marktprinzips im sozialen Sektor. Stattdessen stellen sie auf das Prinzip des Mehr-Nutzens und das Gemeinnützigkeitsprinzip, die Nutzung der erzielten Gewinne für das Wohl bedürftiger Menschen, die besondere Rechtsbeziehung und
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
die eingeschränkte Kundensouveränität ab. Wenn sie dabei selbstreferenziell auf den Respekt vor der »Ganzheitlichkeit des Menschen« im Gegensatz zum bloßen Empfänger engumrissener Dienstleistungen abstellen, stellt sich die Frage, wie sie diesen ambitionierten Anspruch der Berücksichtigung des organisch-psychischen Systems als Black box des Hilfeadressaten inklusive seiner ganzen Person mit der Vielzahl seiner Rollen im Kontext der Erbringung einer sozialen Dienstleistung durch ihr sozialarbeiterisches Personal realisieren können. Schließlich machen sie gegenüber der Politik ihren nicht ersetzbaren grundgesetzlichen Beitrag zur Sozialstaatlichkeit und die Notwendigkeit der partnerschaftlicher Kooperation mit ihr deutlich. Damit artikulieren sie ein Selbstverständnis, dessen strategische Funktion Olk, wenn auch mit anderer Begründung, ebenfalls teilt. Im Zentrum steht dabei der Subsidiaritätsgedanken, dem wir uns nun abschließend etwas genauer zuwenden wollen.
4.1.7
Subsidiarität als gemeinsame gesellschaftliche Wertebzw. Legitimationsformel
In sozialwissenschaftlichen Darstellungen der Wohlfahrtsverbände und deren Selbstbeschreibung wird, wie wir sahen, immer wieder auf Subsidiarität als diejenige sozialethische, ordnungspolitische oder sozialrechtliche Legitimationsformel hingewiesen, mit der die Wohlfahrtsverbände ihre zentrale Funktion als Organisationen sozialer Hilfe zu begründen versuchen (vgl. Heinze (Hg.) 1986; Merchel 2003, 16ff.; Gabriel 2007, 28–30; Boeßenecker/Vilain 2013, 26ff.). Im Kern geht es dabei um die Frage, ob mit der Durchsetzung des Primats funktionaler Differenzierung allein der Staat und die Kommunen für diejenigen sozialen Folgeprobleme der Modernisierung zuständig sind, welche Hilfebedarfe erzeugen, oder ob es funktional äquivalente Organisationen für deren Lösung gibt. Wenn es diese gibt, stellen sich die Folgefragen, ob und inwieweit diese den Staat und die Kommunen ersetzen bzw., ob und wie sie ihn ergänzen und mit ihm kooperieren sollen und können. Rekonstruiert man auf dem Hintergrund dieser Fragestellungen die Entwicklung der Subsidiarität als Legitimationsformel der Wohlfahrtsverbände, so lassen sich grob vier historische Phasen identifizieren. In einer ersten Phase dominiert eine sozialethische Interpretation der Subsidiarität, welche vor allem an die katholische Soziallehre, besonders die Sozialenzyklika »Quadragesimo anno« anschließt (vgl. Merchel 2003, 17) und vom Caritasverband in Anspruch genommen wurde, um eine rein sozialstaatliche und kommunale Lösung von Hilfebedarfen zu verhindern. Ihre zentralen Prämissen lassen sich wie folgt zusammenfassen: •
•
Die Gesellschaft wird als hierarchisch gestaffelte Sozialordnung beschrieben, die von kleineren über größere Einheiten bis hin zur umfassenden größten Einheit der Gesellschaft reicht. Für die Lösung von Hilfebedarfen impliziert dies, dass den kleineren Einheiten, z.B. den Familien und Nachbarschaften, solange ein Vorrang vor den größeren Einheiten, z.B. dem Staat und der Gesellschaft, zugeschrieben werden soll, solange sie sich selbst helfen können. Erst, wenn diese an Grenzen der Selbsthilfe stoßen, können
4. Organisationen
•
•
•
größere Einheiten für diese einspringen und ihnen Beistand leisten. Für den Caritasverband als katholischem Wohlfahrtsverband bedeutet dies, dass er, da er sich als kleinere Einheit als die Kommunen und der Staat betrachtet, diesen als Hilfeorganisation vorgezogen werden soll Begründet wird der Vorrang der kleineren Einheiten vor allem damit, dass sie über die Hilfebedarfe der Hilfesuchenden besser informiert, da sie vertrauter mit deren Lebenswelt seien. Eine vorschnelle Verlagerung der sozialen Hilfe auf größere Einheiten – wie die Kommunen und den Staat – würde deshalb ihr Hilfepotential destruieren und sie ihrer Autonomie berauben, was – bezogen auf die Personen – diesen zusätzlich die Würde und Selbstachtung nehme. Damit dies nicht geschehe, sei jedoch im Falle notwendig werdender Hilfen für kleinere Einheiten ein caritativer Wohlfahrtsverband bzw.- verein dafür besser geeignet als die Kommunen oder der Sozialstaat. Zeichnet er sich im Vergleich zu diesen doch durch größere Nähe zu den Hilfesuchenden, größere Flexibilität, geringere Hierarchisierung und Verberuflichung sowie Ehrenamtlichkeit aus Der Vorrang caritativer sozialer Hilfe impliziere jedoch keinen völligen Rückzug des Staates oder der Kommunen als Hilfeorganisationen. Er gelte besonders dann, wenn sie ebenso gut Hilfeangebote wie diese bereitstellen könne.
Die Subsidiarität fungierte also in der ersten Phase primär als eine sozialethische Legitimationsformel, welche besonders aus der Perspektive der katholischen Kirche und des sich in ihrem Kontext ausdifferenzierenden caritativen Wohlfahrtsvereins eine rein sozialstaatliche organisatorische Problemlösung von Hilfebedarfen verhindern sollte. Mit der Gründung der BRD wurde sie in ihrer zweiten Phase zu einer sozialrechtlich institutionalisierten Legitimationsformel generalisiert, indem sie sukzessive von allen Wohlfahrtsverbänden akzeptiert wurde. Als solche sicherte sie ihnen gegenüber dem Sozialstaat, inklusive der Kommunen, eine privilegierte Position als soziale Hilfeorganisationen. Und zugleich ermöglichte sie dadurch eine tendenzielle Schließung durch Exklusion anderer Hilfeorganisationen im Hinblick auf die Zufuhr staatlicher Ressourcen. Die institutionelle Absorption von Unsicherheit und gleichzeitige strukturelle Kopplung mit einem für sie höchst relevanten Umweltsystem führte zu einer Eigenevolution der Wohlfahrtsverbände, welche sich zunehmend von den ursprünglich mit der Subsidiaritätsformel verknüpften Vorteilen kleiner flexibler und umweltsensibler Wertegemeinschaften entfernte. Vielmehr entfaltete sich eine Eigendynamik, die seit Beginn der 1960er Jahre mit der allmählichen Etablierung hochkomplexer Hilfeorganisationen verknüpft war. In einer dritten Phase, die Ende der 1970er Jahre einsetzte, kam es zu einer Redescription der Subsidiaritätsformel mittels der Neuen Subsidiarität (vgl. Heinze 1986 [Hg.]). Mit ihr konfrontierte die entstehende Selbsthilfebewegung die Wohlfahrtsverbände und beschrieb sich als diejenige Form der Hilfeorganisationen, welche die von jenen vergessenen Kernbestandteilen der Semantik der Subsidiarität zu revitalisieren beanspruchte. Mit der Formel »Small is beautiful« wurde das Neue in einer Sprache ausgedrückt, welche vor allem für die westliche Jugendkultur stand und mit ihr, so ist man versucht zu interpretieren, zugleich auch die Überholtheit des klassischen Subsidiaritätsprinzips indizieren sollte. »Neu« war aus der Sicht der Selbsthilfebewegung die Ergänzung der kleinen Gemeinschaften der Familie und Nachbarschaft des herkömmlichen Subsidia-
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ritätsprinzips durch problembezogene Formen der Selbstorganisation der Hilfe durch Betroffene, welche sich als antihierarchisch, antiprofessionell, egalitär und sozial engagiert beschrieben. »Neu« war aus der Sicht der kommunalen Politik und Stadtstaaten die Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer Förderung. Paradox war es für manche Beobachter, dass ausgerechnet ein CDU-Senat Anfang der 1980er Jahre in Berlin die erste umfangreiche Förderung von Selbsthilfegruppen bewilligte und damit die durch die alte Subsidiarität zementierte sozialrechtliche und strukturelle Kopplung von Sozialstaat bzw. Kommunen und Wohlfahrtsverbänden aufweichte (vgl. Fink 1986, 164ff.). Für diese wurde die Selbsthilfebewegung somit zu einer ersten Form der Einschließung vorher ausgeschlossener Dritter durch das reformierte Subsidiaritätsprinzip. In einer vierten Phase, die Mitte der 1990er Jahre begann und bis heute zu beobachten ist, erfuhr die Subsidiaritätsformel schließlich eine sozialrechtliche Reformulierung, welche für die Wohlfahrtsverbände ein selektives Zurückschneiden als privilegierter Partner des Sozialstaates und der Kommunen bedeutet. Indem gewinnorientierte Hilfeunternehmen vor allem in der Altenhilfe und Jugendhilfe sozialrechtlich zugelassen werden, wenn sie effiziente und effektive soziale Hilfe zu leisten imstande sind, kommt es zu einer weiteren Öffnung des Systems Sozialer Hilfe. Im Gegensatz zur dritten Phase der Subsidiarität dominiert nun eine Interpretation der Subsidiarität, welche die Wohlfahrtsverbände nicht mit ihrem sozialethischen Ursprungsverständnis konfrontiert, sondern mit der Alternative einer forcierten Ökonomisierung sozialer Hilfe, welche sie sich angesichts der Knappheit öffentlicher Haushalte ausgesetzt sehen. Der Adressat, der Hilfe sucht, wird somit semantisch zum Kunden erklärt, dessen Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit gegenüber den Hilfeorganisationen durch Verfügung über ein persönliches Budget aufgewertet werden soll. Wie unser grober Überblick über die semantische Entwicklung der Subsidiarität als Legitimationsformel der Wohlfahrtsverbände deutlich zu machen versuchte, wandelte sie sich von einer zunächst konfessionell partikularistischen, auf den Caritasverband reduzierten sozialethischen zu einer generalisierten sozialrechtlich institutionalisierten Legitimationsformel aller Wohlfahrtsverbände. Diese sicherte ihnen durch die strukturelle Kopplung mit dem Sozialstaat und den Kommunen eine privilegierte Position im Funktionssystem Sozialer Hilfe. Zudem ermöglichte sie ihnen als soziale Hilfeorganisationen eine Eigendynamik mit zunehmender Eigenkomplexität und Ausschließung anderer Hilfeorganisationen durch Schließung. Prekär wurde diese erstmals durch die Emergenz der Selbsthilfebewegung, welche sich mittels der Redescription der alten in eine Neue Subsidiarität Zugang zum Funktionssystem Sozialer Hilfe verschaffte. Und ein zweites Mal durch die sozialrechtliche Öffnung für gewinnorientierte Unternehmen. Hinzufügen wollen wir jedoch abschließend auch, dass die Subsidiarität als Legitimationsformel bzw. Prinzip nicht nur durch Hilfeorganisationen zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich instrumentalisiert wurde, sondern zugleich unterbestimmt und mehrdeutig war und ist, wenn sie als Entscheidungsprämisse für die richtige oder falsche Form organisationsspezifischer sozialer Hilfe dienen soll. So liefert sie z.B. keine eindeutigen Kriterien für die Abgrenzung von kleinen und großen sozialen Einheiten; lässt offen, wann kleine Einheiten sich nicht mehr helfen können und größere Einheiten
4. Organisationen
ihnen beistehen sollen und basiert in ihrer Ursprungsversion auf gesellschaftstheoretischen Prämissen, die inzwischen obsolet geworden sind.
4.2 Das Fachhochschulmilieu. Eine systemtheoretische Beobachtung1 4.2.1
Vorbemerkungen
Die Fachhochschule und ihr Milieu systemtheoretisch zu thematisieren, ist insofern reizvoll, als es zwar Beschreibungen der »Universität als Milieu« (vgl. Luhmann 1992b) gibt – wenn auch ohne nähere Explikation des Milieubegriffs –, jedoch nicht des »Fachhochschulmilieus«. Wenn ich also dieses im Folgenden betrachte, werde ich wie folgt vorgehen: In einem ersten Schritt stelle ich die Frage, was es heißt, die Fachhochschule zu beobachten. Anschließend wird es darum gehen, ihre spezifische Organisationsform zu thematisieren. Dabei werden ihre kommunikative Reproduktion durch Entscheidungen, ihre proklamierte Einheit von Lehre und Praxis, ihr spezifischer Codebezug, die Inklusion/ Exklusion akademischer und studentischer Karrieren und das Medium der Scheine als Einheit der Lehr- und Lernprozesse im Zentrum stehen. Schließlich werde ich das Milieu der Fachhochschule als nichtentscheidbare Entscheidungsprämisse der Organisationskommunikation präzisieren und einige seiner Merkmale anhand des akademischen Milieus exemplifizieren.
4.2.2
Was heißt es, die Fachhochschule zu beobachten? Systemtheoretische Prämissen
These 1 Fachhochschulen sind keine Objekte, die stillhalten, wenn man sie beobachtet. Noch handelt es sich um Maschinen, die sich auf Knopfdruck an- und ausstellen lassen. Ebenso liegt man schief, sie als lebende Systeme zu betrachten, deren Kreislauf versagt, wenn das Budget zu knapp ausgefallen ist. Schließlich beziehen sie sich auch nicht auf den ganzen Menschen, würde man doch sonst von Menschenplanung oder Menschenentwicklung anstelle von Personalplanung und Personalentwicklung sprechen. These 2 Was man von Fachhochschulen in den Blick bekommt und was nicht, hängt also entscheidend davon ab, wer sie beobachtet. Unter Beobachten wollen wir eine empirische Operation verstehen, die aus der Gleichzeitigkeit des Unterscheidens und Bezeichnens besteht. Dabei gehen wir davon aus, dass das Unterscheiden eine Form mit zwei Seiten ist, von der nur jeweils eine Seite bezeichnet werden kann. Beobachten werde ich im Folgenden die Fachhochschule aus der Perspektive der neueren soziologischen Systemtheorie (vgl. Kneer/Nassehi 1994; Luhmann 1997b; Hohm 2000; Krause 2001). Ihre Basisunterscheidung ist die von System und Umwelt. Ihre Selbstetikettierung als Systemtheorie verweist auf die Präferenz der Beobachtung 1
Eine erweiterte Version von Hans-Jürgen Hohm (2005): Das Milieu der Fachhochschule. Eine systemtheoretische Beobachtung, in: TuP, 4, 56–64.
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ihnen beistehen sollen und basiert in ihrer Ursprungsversion auf gesellschaftstheoretischen Prämissen, die inzwischen obsolet geworden sind.
4.2 Das Fachhochschulmilieu. Eine systemtheoretische Beobachtung1 4.2.1
Vorbemerkungen
Die Fachhochschule und ihr Milieu systemtheoretisch zu thematisieren, ist insofern reizvoll, als es zwar Beschreibungen der »Universität als Milieu« (vgl. Luhmann 1992b) gibt – wenn auch ohne nähere Explikation des Milieubegriffs –, jedoch nicht des »Fachhochschulmilieus«. Wenn ich also dieses im Folgenden betrachte, werde ich wie folgt vorgehen: In einem ersten Schritt stelle ich die Frage, was es heißt, die Fachhochschule zu beobachten. Anschließend wird es darum gehen, ihre spezifische Organisationsform zu thematisieren. Dabei werden ihre kommunikative Reproduktion durch Entscheidungen, ihre proklamierte Einheit von Lehre und Praxis, ihr spezifischer Codebezug, die Inklusion/ Exklusion akademischer und studentischer Karrieren und das Medium der Scheine als Einheit der Lehr- und Lernprozesse im Zentrum stehen. Schließlich werde ich das Milieu der Fachhochschule als nichtentscheidbare Entscheidungsprämisse der Organisationskommunikation präzisieren und einige seiner Merkmale anhand des akademischen Milieus exemplifizieren.
4.2.2
Was heißt es, die Fachhochschule zu beobachten? Systemtheoretische Prämissen
These 1 Fachhochschulen sind keine Objekte, die stillhalten, wenn man sie beobachtet. Noch handelt es sich um Maschinen, die sich auf Knopfdruck an- und ausstellen lassen. Ebenso liegt man schief, sie als lebende Systeme zu betrachten, deren Kreislauf versagt, wenn das Budget zu knapp ausgefallen ist. Schließlich beziehen sie sich auch nicht auf den ganzen Menschen, würde man doch sonst von Menschenplanung oder Menschenentwicklung anstelle von Personalplanung und Personalentwicklung sprechen. These 2 Was man von Fachhochschulen in den Blick bekommt und was nicht, hängt also entscheidend davon ab, wer sie beobachtet. Unter Beobachten wollen wir eine empirische Operation verstehen, die aus der Gleichzeitigkeit des Unterscheidens und Bezeichnens besteht. Dabei gehen wir davon aus, dass das Unterscheiden eine Form mit zwei Seiten ist, von der nur jeweils eine Seite bezeichnet werden kann. Beobachten werde ich im Folgenden die Fachhochschule aus der Perspektive der neueren soziologischen Systemtheorie (vgl. Kneer/Nassehi 1994; Luhmann 1997b; Hohm 2000; Krause 2001). Ihre Basisunterscheidung ist die von System und Umwelt. Ihre Selbstetikettierung als Systemtheorie verweist auf die Präferenz der Beobachtung 1
Eine erweiterte Version von Hans-Jürgen Hohm (2005): Das Milieu der Fachhochschule. Eine systemtheoretische Beobachtung, in: TuP, 4, 56–64.
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zugunsten der Seite des Systems. An diese schließt sie mit der Differenz soziale/nichtsoziale Systeme an. Als Theorie sozialer Systeme platziert sie sich auf der Seite der sozialen Systeme und versichert sich ihres Selbstbezugs durch Zuordnung zur in Fachdisziplinen segmentär differenzierten Wissenschaft – genauer: zur Fachdisziplin Soziologie. These 3 Unsere bisher kommunizierten Beobachtungen unterscheiden sich mithin in einem spezifischen Sinne von denen der Alltagskommunikation. Diese formt ihre selektiven Mitteilungen, Informationen und ihr Verstehen im Medium von Wörtern, Sätzen und Erzählungen, die ihr durch den Kombinationsreichtum der Umgangssprache zur Verfügung stehen. Sie stößt jedoch im Kontext sozialer Systeme an ihre Grenzen, wenn diese spezifischere Erwartungen an die Kommunikation stellen. So reicht es z.B. nicht aus, wenn eine Studentin der Sozialen Arbeit in einer mündlichen Soziologie-Prüfung behauptet, arm sei, wem es nicht gut gehe. Dass es bei dieser Antwort nicht nur ihr, sondern auch dem Prüfer nicht gut gehen wird, können StudentInnen und Dozenten aus Erfahrung bestätigen. Warum dies der Fall ist, liegt vor allem daran, dass die Kommunikation theoretischen Wissens strikteren Anforderungen des Unterscheidens unterworfen ist als die Alltagskommunikation. Es ist deshalb kein Zufall, wenn im erwähnten Beispiel der Dozent die Studentin auffordern wird, stärker zu differenzieren. In allen Teilsystemen der heutigen funktional differenzierten Gesellschaft geschieht dies durch Kommunikation im Medium von Spezialsprachen. In unserem Falle qua soziologischer Systemtheorie. Die von mir durchgeführten Beobachtungen der Fachhochschule gewinnen somit ihre Theorieform mittels eines rekursiven Netzwerkes von Aussagen, welches sich des Mediums von Begriffen bedient. Ihre Selektion resultiert aus dem Überschuss an Möglichkeiten, wie ihn die Eigenkomplexität der soziologischen Systemtheorie mit ihren Teiltheorien zur Verfügung stellt. Indem sie als wissenschaftliche verstanden werden wollen, setzen sie sich dem Test des Codes wahr/unwahr aus. Dass sie gleichsinniges Erleben der Realität der Fachhochschule erzeugen werden, ist eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass die Fachhochschule als dieselbige verschieden in Abhängigkeit vom Beobachter beobachtet wird.
4.2.3
Fachhochschulen als Organisationen
4.2.3.1 Einleitung Bevor ich auf das Milieu der Fachhochschulen genauer eingehe, stelle ich gleichsam als Frame einige systemtheoretische Beobachtungen zur Fachhochschule als Organisation voran.
4.2.3.2 Fachhochschule und die Operation der Entscheidung These 1 Für die soziologische Systemtheorie handelt es sich bei Fachhochschulen um einen bestimmten Typ sozialer Systeme, nämlich Organisationen. Sie sind weder identisch mit der Gesamtgesellschaft, da man in diese nicht als Mitglied ein- oder als Nichtmitglied aus ihr austreten kann. Noch lassen sie sich auf Interaktionssysteme reduzieren, kontinuieren sie doch auch dann, wenn Abwesende mit Abwesenden kommunizie-
4. Organisationen
ren. Als Organisationen schieben sich Fachhochschulen somit zwischen Gesellschaft und Interaktion (vgl. Luhmann 1975c). These 2 Fachhochschulen gewinnen ihre Form als Organisationen durch die Kommunikation von Entscheidungen (vgl. Luhmann 2000a). Mittels ihres rekursiven Netzwerks sind sie in die heutige Gesellschaft durch Ausschließung eingeschlossen. All ihre zentralen Elemente, Ereignisse und Strukturen basieren mithin auf der Selbstherstellung (=Autopoiesis) qua Entscheidungen. Auch Nichtentscheidungen können ihnen dementsprechend als Unterlassen von Entscheidungen zugerechnet werden. Fachhochschulen grenzen sich sowohl von der gesellschaftsinternen Umwelt der Teilsysteme Erziehung, Wirtschaft, Politik, Recht etc. als auch als jeweils einzelne von der organisationsexternen, aber zugleich gesellschaftsinternen Umwelt aller anderen Fachhochschulen ab. Zugleich unterscheiden sie sich von der gesellschaftsexternen Umwelt der Menschen als organisch-psychischer Systeme und der äußeren Natur. These 3 Sieht man einmal von den Reformuniversitäten der 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts ab, handelt es sich bei Fachhochschulen im Vergleich zur Mehrzahl der Universitäten um Organisationen mit relativ kurzer Systemgeschichte. Die meisten von ihnen wurden Anfang der 1970er Jahre gegründet. Ihre bisherige Dauer ist mithin nur wenig länger als die der 45-jährigen Berufskarriere eines Eckrentners. Es überrascht von daher nicht, dass sie ihre spezifische Form nicht nur durch die Beobachtung anderer Fachhochschulen, sondern immer auch in Differenz zu den und der Anlehnung an die weitaus älteren Universitäten entwickelten. Begreift man die gegenwärtigen Formen der Fachhochschulen als Ergebnis vergangener Strukturentscheidungen, so blenden sie deren Kontingenz solange aus, solange sie sie als alternativlos beobachten. Werden Alternativen sichtbar, kann es zum Einschluss des bis dato Ausgeschlossenen qua Reformen kommen. Es sei denn man beobachtet sich als reformunfähig oder wird so von Umweltsystemen betrachtet. Im Grenzfall kann dies zu ihrer Beendigung durch Entscheidung führen. Im Folgenden geht es mir jedoch nicht darum, die Reformfähigkeit der Fachhochschulen zu kommentieren, die sie anlässlich der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge erneut unter Beweis stellen müssen. Stattdessen möchte ich anhand einiger nach wie vor kontinuierenden zentralen Strukturentscheidungen und deren Folgen ihre spezifische Organisationsform (=Entscheidungsprämissen) thesenartig vorstellen. Bei ihnen handelt es sich um a) ihre Inklusionsformen; b) den codespezifischen Primat ihrer Entscheidungsprogramme und c) die Formen ihrer Binnendifferenzierung. Die Universität werde ich dabei als Vergleich im Hintergrund mitführen.
4.2.3.3 Akademische Karrieren und Studienkarrieren als komplementäre Inklusionsformen 4.2.3.3.1 Einleitung Fachhochschulen sind durch eine doppelte Form der Inklusion gekennzeichnet (vgl. zur Inklusion/Exklusion Luhmann 1995e; Hohm 2000). Zum einen reproduzieren sie
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studentische, zum anderen akademische Karrieren. Voraussetzung für beide ist die Inklusion von Personen(-gruppen) durch Organisationsmitgliedschaft. Im Falle der Fachhochschulen nimmt sie die Form von Planstellen und Studienplätzen an. Diese unterscheiden sich von den Massenuniversitäten mit ihren vielfältigen Fakultäten durch ihre vergleichsweise geringe Zahl. Wie handhaben nun die Fachhochschulen die strukturelle Kopplung von knappen Planstellen/Studienplätzen und Personen operativ? 4.2.3.3.1 Studentische Karrieren Betrachten wir zunächst die studentischen Karrieren. Ihre erfolgreiche Formalstruktur beobachten die Fachhochschulen auf der Seite der Inklusion als eine irreversible und vorhersehbare Sequenz von Rekrutierungs-, Prüfungs- und Entlassungsentscheidungen. Sie gewinnt ihre Anschlussfähigkeit und eigendynamische Stabilität, indem a) b) c) d)
auf die Bewerbungszusagen der potenziellen Studenten ihre Inklusion durch Immatrikulation erfolgt; sich daran die Grundstudiumszeit mit Vordiplomprüfung und attestiertem Abschluss und die Hauptstudiumszeit mit Diplomprüfung anschließen, deren Bestehen in das von den Fachhochschulen ausgestellte Diplom mit darauffolgender Exklusion durch Exmatrikulation einmündet.
Ihre spezifische Form im Unterschied zu den klassischen Professionsfakultäten der Universität erhält die Studienkarriere durch die in das Studium eingebetteten zweisemestrigen berufsspezifischen Praktika, ohne deren Bestehen jenes nicht fortgesetzt werden kann. Werden die Studienkarrieren von den Fachhochschulen als sich fortlaufend wiederholende achtsemestrige Episoden wechselnder Studienjahrgänge beobachtet, stellen sie für diese einmalige Episoden dar. Die Kontingenz der Formalstruktur der Studienkarriere wird für die Fachhochschulen anhand des Crossings auf die Außenseite der Inklusion, sprich der Exklusion, beobachtbar. Sie registrieren sie mit Hilfe der Semantik der abgelehnten Studienplatzbewerber, Studienabbrecher und durchgefallenen Prüflinge. Als Negativseite der Studienkarrieren verweist ihre Formalstruktur mithin auf die Erzeugung unterschiedlicher Dropouts. Zugleich fungiert diese dunkle respektive erfolglose Seite der Studienkarriere als eine Möglichkeit der Selbstbeobachtung des Erfolgs bzw. Misserfolgs der Leistungserbringung durch die Fachhochschulen. Die damit verknüpfte Bewertung der Eigenleistungen ist für sie aus mindestens zwei Gründen von großer Relevanz. Zum einen können sie bei einer geringeren Quote von Dropouts im Vergleich mit den Universitäten (und anderen Fachhochschulen) die besseren Aussichten auf ein erfolgreiches Fachhochschulstudium hervorheben (vgl. Linnenschmidt 1997). Zum anderen stehen sie als Fachhochschulen, deren Absolventen beruflich oft selbst mit Randgruppen konfrontiert werden, unter einem verschärften Selbstbeobachtungsdruck im Hinblick auf selbsterzeugte Dropouts. Die oft von Insidern und Fremdbeobachtern wahrgenommene laschere Handhabung des Selektionscodes scheint mir eine darauf bezogene Lösung zu sein. Sie ändert jedoch nichts an der prekären Lage derjeni-
4. Organisationen
gen Dropouts, welche die Fachhochschulen ohne jegliche Bestätigung eines added values verlassen (müssen). Dass die Studienkarriere freilich immer auch ein Resultat der Eigenentscheidungen der StudentInnen ist, kann nur derjenige Beobachter ignorieren, der Selektionsfreiheiten auf ihrer Seite ausschließt. Dies gilt bezüglich aller Stationen der Formalstruktur der Studienkarriere. So sei hier nur angeführt, dass der Student weitgehend selbst entscheiden kann, wieviel, in welcher Studienstation er für bestimmte Seminare und Vorlesungen beitragen möchte. Wenn wir oben darauf hinwiesen, dass nicht der ganze Mensch in Organisationen inkludiert ist, so trifft dies auch auf die studentischen Personen zu. Dies wäre selbst dann der Fall, wenn Fachhochschulen – wie manche amerikanische und englische Eliteuniversitäten – »totalen Organisationen« (vgl. Goffman 1977) ähnelten. Ihre Fremdund Selbstadressierung als StudentInnen indiziert somit zunächst, dass all diejenigen Inklusionsbezüge, die sie als Personen in den übrigen Funktionssystemen mitbedienen müssen, für die Fachhochschulen zu ihrer gesellschaftsinternen Umwelt gehören. Wenn sie dennoch einige von ihnen systemintern berücksichtigen, so hat dass vor allem etwas mit ihrer unterstellten Relevanz für ein erfolgreiches Studium zu tun. Welche dies sind, möchte ich beispielhaft anhand der für die weitere Studienkarriere wichtigen Rekrutierungsentscheidungen deutlich machen. Fachhochschulen votieren hier in Bezug auf die Kriterien in mehreren Hinsichten anders als die Universitäten: Sie rekrutieren als Bewerber ganz überwiegend Frauen, in der Mehrzahl Jugendliche und junge Erwachsene, eher BewerberInnen mit Fachhochschulabitur und funktional äquivalenten Schulabschlüssen, vorwiegend mit Vorpraktikum in sozialen Organisationen, einen beträchtlichen Teil von Berufswechslern, Bewerber mit spezifischen Erwerbskarrieren und lokal, regional und bundeslandspezifischer Herkunft. Im Falle konfessioneller Träger Bewerber mit vorwiegend christlich-kirchlicher Bindung (vgl. Linnenschmidt 1997). Ob und wie sich diese Rekrutierungskriterien auf das Milieu der Fachhochschule auswirken, werden wir noch sehen. Deutlich wird jedoch bereits, dass der Anfang der Studienkarrieren einerseits nicht mehr – wie zu Beginn der Schulkarriere – durch das Alter künstlich homogenisiert wird (vgl. Luhmann 1990a). Andererseits sich auch nicht ausschließlich auf den Selektionscode der Oberstufe des Schulsystems bezieht, sondern eine heterogenere Form durch die o.g. zusätzlichen Kriterien annimmt. Dass dies Auswirkungen auf die Codeorientierung und die Entscheidungsprogramme der Fachhochschule hat, werden wir ebenfalls noch sehen. 4.2.3.3.2 Akademische Karrieren Die Form der Organisationsmitgliedschaft der Fachhochschulen ist zusätzlich durch die der Inhaber von Planstellen gekennzeichnet. Den für die Fachhochschule typischen Kern stellt ihr Lehrpersonal dar. Ihre Inklusionsform nimmt die der Erwerbskarriere an. Sie ist im Unterschied zur Studienkarriere normalerweise nicht an eine temporäre, sondern dauerhafte Organisationsmitgliedschaft gebunden. Zudem ist ihr Personal weitaus geringer.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Ihre erfolgreiche Formalstruktur wird grob dadurch beobachtbar, dass sie auf der Seite der Inklusion eine irreversible und vorhersehbare Sequenz von Rekrutierungs-, Beförderungs- und Entlassungsentscheidungen impliziert. Sie startet mit einer Stellenbewerbung, die in ein Berufungsverfahren einmündet, an das sich die Inklusion durch Ernennung zum Fachhochschullehrer anschließt, auf die normalerweise eine 30- bis 35-jährige akademische und verbeamtete Karriere in der Lehre folgt, die in dieser Funktion auf beinahe ebenso viele Studentenjahrgänge bezogen ist, und e) mit der Exklusion durch Versetzung in den Ruhestand endet. a) b) c) d)
Ihre spezifische Form erhält die akademische Karriere der Fachhochschulen einerseits durch ihre Abhängigkeit von den universell im Hochschulsystem anerkannten akademischen Graden der Absolventen des Universitätssystems. Andererseits durch ein Lehrdeputat von in der Regel 18 Stunden, welches in Verbindung mit dem fehlenden Promotionsrecht im Gegensatz zu den klassischen Professionsfakultäten eine stellenspezifische Einheit von Lehre und Forschung eher ausschließt. Die vergleichsweise geringe Mobilität der Fachhochschullehrer erstaunt von daher nicht. Basiert ihre Reputation doch weniger auf der an die Wissenschaft gekoppelten universalistischen Maxime des »publish or perish« als auf der lokal zentrierten und interaktionsnahen Lehre. In noch stärkerem Maße gilt dies für die Fachschulräte. Ihre fachhochschulspezifische Stellung entspricht der von Akademikern »zweiter Klasse«, obwohl sie ihre Abschlüsse dem Fachhochschulsystem und einer Erwerbskarriere verdanken, auf deren Berufe sich ihre Lehre bezieht. So werden sie nur in Ausnahmefällen zum Professor ernannt und vom Zugang zu bestimmten Ämtern und Aufgaben der Hochschulselbstverwaltung ausgeschlossen. Die Kontingenz der Formalstruktur der akademischen Karriere wird ebenso wie die der Studienkarriere am Crossing zur anderen Seite der Inklusion – der Exklusion – beobachtbar. Ihre Semantik manifestiert sich speziell anhand der im Berufungsverfahren abgelehnten Bewerber, was auf die zentrale Bedeutung der Rekrutierung verweist. Äußerst selten anhand der Entlassung durch die Fachhochschule. Weitere dunkle Seiten der akademischen Karrieren werden zum einen an der im Vergleich zur Universität vermutlich höheren Zahl von vorzeitigen Ruheständlern ablesbar. Und zum anderen an der mangelnden Resonanz der Lehrveranstaltungen bei den Studenten und der geringen Zahl von Diplomanden. Recht selten ist der Wechsel zur Universität als akademisches Pendant der zur Universität abwandernden Studenten. Vor allem die bereits erwähnte nachrangige Forschung der Fachhochschulen erschwert eine Berufung an die Universitäten. Eine Folge der verbeamteten akademischen Karrieren ist somit die beschränkte Elastizität und Lernfähigkeit der Fachhochschulen durch die formal erschwerte Austauschbarkeit ihres Personals. Dies könnte ein Grund – neben der Kostenersparnis – für die im Vergleich zur Universität größere Zahl der Lehrbeauftragten sein. Ihnen kommt partiell eine Kompensationsfunktion für die Blockierung von Lernprozessen durch die mangelnde Substituierbarkeit des verbeamteten Lehrpersonals zu.
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Das akademische Personal ist ebenso wie das studentische nicht ganzheitlich in die Fachhochschulen inkludiert. Seine im Vergleich zum studentischen Personal dauerhaftere Inklusion nimmt die im Medium der Planstelle erworbene Form der verbeamteten Professur an. Deren für die Fachhochschulen wesentliche Funktion rückt mithin andere externe Inklusionsbezüge ins Zentrum als im Falle der Studenten. Besonders deutlich wird dies anhand der herausragenden Bedeutung der Rekrutierungsentscheidungen der Fachhochschulen im Kontext der Berufungsverfahren. Beobachtbar wird sie vor allem qua fachhochschulinterner Öffentlichkeit der Probevorlesungen vorausgewählter Bewerber. Wer zu diesen gehört, hat bereits bestimmte Selektionsfilter des Berufungsverfahrens erfolgreich durchlaufen, die sich in wichtigen Hinsichten von denen des Universitätssystems unterscheiden. So scheint der Habilitation nach wie vor eine nachgeordnete, ja sogar nachteilige Funktion beigemessen zu werden. Indiziert sie doch eine eher praxisferne und theorieorientierte längere akademische Karriere im Universitätssystem. Präferiert wird hingegen eine Kombination von Promotion, fachspezifischen Publikationen und berufsspezifischer Erfahrung in denjenigen sozialen Organisationen, auf welche die Lehre primär abgestellt ist und die den Trägern der Fachhochschulen nahestehen. Handelt es sich bei diesen um kirchliche, wird im Unterschied zu den Universitäten zusätzlich eine Zugehörigkeit zur entsprechenden Konfession erwartet. Darüber hinaus wird auf eine stärkere Berücksichtigung von Frauen Wert gelegt. Alle übrigen Rekrutierungskriterien sind insofern kontingent, als sie von der spezifischen Zusammensetzung der Berufungskommission, ihrer Mikropolitik mit ihren unterschiedlichen Gruppenloyalitäten und divergierenden Präferenzen abhängen, die sich nur dem Insider des jeweiligen Fachhochschulmilieus erschließen.
4.2.3.3 Codeorientierung und Entscheidungsprogramme 4.2.3.3.1 Fachhochschulen als polykontexturale und tertiäre Organisationen des Bildungssystems These 1 Fachhochschulen lassen sich als polykontexturale Organisationen beschreiben. Als solche orientieren sie sich simultan an mehreren Codes der Funktionssysteme ihrer gesellschaftsinternen Umwelt. Durch ihr Budget am Wirtschaftscode zahlungsfähig/zahlungsunfähig; durch ihre kollegiale Selbstverwaltung am politischen Code Mehrheits-/Minderheitsentscheidungen und am Rechtscode Recht/Unrecht; durch ihre Öffentlichkeitsarbeit am Code der Massenmedien Information/Nichtinformation; durch ihre konfessionelle Trägerschaft am Religionscode gläubig/ungläubig; durch ihre Lehre am pädagogischen Code vermittelbar/nicht-vermittelbar und Selektionscode besser/schlechtere Zensuren und schließlich durch ihre Forschung am Wissenschaftscode wahr/unwahr (vgl. zu den entsprechenden Codes Luhmann 1988, 187ff. ; Luhmann 1987, 127; Luhmann 1993, 165ff.; Luhmann 1996, 32ff.; Luhmann 2000c, 53ff.; Luhmann 2002, 73ff.; Luhmann 1990e, 194ff.). Mit ihrer Polykontexturalität beziehen sich die Fachhochschulen systemintern auf unterschiedliche Umwelt-Relationen. Für ihre Kommunikation impliziert dies, dass sie – je nach codespezifischer Perspektive – das gleiche Thema, z.B. die Einführung von Studiengebühren, aus einem verschiedenen Kontext beobachten. So mag man sie
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unter Budgetaspekten begrüßen, weil sie die Zahlungsfähigkeit der Fachhochschulen erhöhen. Demgegenüber kann sie zur Zerreißprobe der Selbstverwaltungsgremien führen, wenn Dissens über ihre Einführung besteht. Aus rechtlicher Sicht können die Studiengebühren Fragen der normativen Regelung von Härtefällen nach sich ziehen. Die Verbreitungsmedien der Fachhochschulen können darüber informieren und sie unterschiedlich kommentieren. Die kirchlichen Träger mögen Probleme der Gerechtigkeit thematisieren. In der Lehre mag man auf Gefahren der Exklusion von Studenten bestimmter Herkunftsmilieus verweisen. Und schließlich in der Forschung Projekte zur Evaluation der Folgen der Einführung von Studiengebühren initiieren. These 2 Trotz ihrer Polykontexturalität ordnen sich die Fachhochschulen jedoch mit ihrer Selbstbeschreibung primär dem Bildungssystem zu. Sie begreifen sich also, trotz der erwähnten diversen Codebezüge, nicht vorwiegend als Wirtschafts-, Verwaltungs-, Religionsorganisationen oder politische Organisationen, sondern als Bildungsorganisationen. Dabei unterscheiden sie sich einerseits von den Schulorganisationen des Erziehungssystems, indem sie ihre Adressaten nicht mehr mit der Semantik der Schüler bezeichnen, deren qua Erziehung (und Bildung?) zu formendes Medium Kinder und Jugendliche darstellen (vgl. Luhmann 1995g). Stattdessen referieren sie auf ihre Adressaten als StudentInnen, deren junge Erwachsene und Erwachsene es als Zumutung betrachteten, wollte sie die Fachhochschule erziehen. Andererseits unterscheiden sich die Fachhochschulen von den klassischen Professionsfakultäten der Universitäten dadurch, dass sie die Bildung als Angebot (vgl. Lenzen/ Luhmann 1997 Vorwort) der Lehre nicht primär mit der Forschung des Wissenschaftssystems strukturell koppeln. Stattdessen präferieren sie eine Form der Lehre, die ihre Bildungsangebote bevorzugt auf die Praxis bestimmter Berufe bzw. selektive Funktionsgruppen der sozialen Hilfe, Pflege, Gesundheit und Religion zuschneidet, deren Professionsstatus nach wie vor umstritten ist (vgl. Hohm 2001; Hohm 2002; Hohm 2003). 4.2.3.3.2 Fachhochschulen als Bildungsorganisationen: pädagogischer Code, Selektionscode und die Einheit von Lehre und Praxis These 1 Ihre spezifische Form im Kontext des Bildungssystems gewinnen die Fachhochschulen somit zum einen durch die Kopplung des pädagogischen Codes der Lehre mit dem Selektionscode der Zensuren und zum anderen mittels der unterstellten Einheit von Lehre und Praxis. Was zunächst den pädagogischen Code des Bildungssystems betrifft, so lässt sich seine Form als die der Leitdifferenz von vermittelbar/nicht-vermittelbar bezeichnen und der Lehre zuordnen (vgl. Kade 1997). Da jedoch der Code nicht zugleich die Entscheidungskriterien mitliefert, sondern formal und inhaltsleer ist, müssen die Fachhochschulen ihre Lehrfunktion durch selbsterzeugte Entscheidungsprogramme wahrnehmen. Dazu bedienen sie sich pädagogischer Theorien und Technologien in Form der Hochschuldidaktik. Am deutlichsten lassen sich diese anhand der sequenziellen Differenzierung der Studiengänge in ein Grund- und Hauptstudium ablesen. Deren Differenz basiert auf Kriterien der Vermittelbarkeit, welche sowohl die Selektion der Mitteilungen
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als auch die der Informationen (=Themen) der Lehre an den unterstellten Verstehensdifferenzen der studentischen Adressstellen festmachen. So geht man z.B. bei erstsemestrigen Studenten von anderen Kriterien der Vermittelbarkeit aus als bei höheren Semestern. Wie diese auch im Einzelnen ausfallen mögen, können sie jedoch die andere Seite der Nicht-Vermittelbarkeit nie ganz ausschließen. Die Lehre beinhaltet von daher immer auch die Beobachtung des selektiven Scheiterns ihrer pädagogischen Vermittlungsbemühungen. Dies haben wir bereits im Zusammenhang mit den oben erwähnten Dropouts gesehen. Der Kontingenzwert nicht-vermittelbar verweist somit zugleich auf Anlässe der Selbstthematisierung der Kriterien der Vermittelbarkeit, welche den pädagogischen Theorien und didaktischen Technologien zugrunde liegen. These 2 Eng verbunden mit dem Code der Lehre ist zudem die kommunikative Orientierung am Selektionscode bessere/schlechtere Zensuren, Prüfungen und Abschlüsse (vgl. Luhmann 1987a). Ja man geht wohl nicht fehl anzunehmen, dass er den pädagogischen Code sogar insofern dominiert, als ohne ihn der Erfolg oder Misserfolg der Vermittelbarkeit weder von den Lehrenden noch den lernenden Studenten beobachtbar wäre. Seine Relevanz für die Lehr- und Lernprozesse erhält er mithin dadurch, dass er zum einen die Lehrenden durch die Leistungen der Studenten darüber informiert, wie diese die Vermittlung seiner disziplinbezogenen Themen verstanden haben. Und zum anderen die Studenten darüber in Kenntnis setzt, wie sie sowohl im Vergleich mit anderen Studenten als auch im Vergleich mit ihren bisherigen eigenen Leistungen abgeschnitten haben. Es erstaunt von daher nicht, wie wir noch sehen werden, dass die Scheine das Medium sind, auf dass sich – mehr noch als auf die Bildung – die Aufmerksamkeit und kommunikative Thematisierung sowohl der Lehrenden als auch vor allem der Studenten richtet. These 3 Indem sich die Fachhochschulen seit kurzem als »University of applied Sciences« beschreiben, versuchen sie hervorzuheben, dass sie mit den Universitäten im Unterschied zu den Schulen den Bezug zur Wissenschaft und seinem Code wahr/unwahr teilen. Dabei fällt jedoch auf, dass sie im Gegensatz zu den Universitäten eine eigenständige Forschung in Form einer disziplinorientierten Theorie- und Methodenentwicklung als Entscheidungsprämisse der Stellen des Lehrpersonals weitestgehend ausschließen oder erschweren. So verhindert nicht nur das bereits erwähnte umfangreiche Lehrdeputat die Möglichkeit eigenständigen Forschens. Sondern es kommt hinzu, dass Assistenten, studentische Tutoren und Doktorandenkolloquien fehlen, Forschungssemester selten gewährt werden und zudem seit kurzem in Fortbildungssemester umbenannt wurden. Es überrascht folglich nicht, dass Publikationen primär die Form von Lehrbüchern annehmen, Drittmittel für Forschungsvorhaben nur einen geringen Umfang ausmachen und vorhandene Forschungsinstitute eher lose als fest an die Lehre der Fachhochschule gekoppelt sind. These 4 An die Stelle der universitären Einheit von Lehre und Forschung tritt stattdessen die proklamierte Einheit von Lehre und Praxis. Diese erhält ihre Form speziell dadurch, dass die wissenschaftlichen Disziplinen in der Lehre curricular auf die »Berufe« Soziale Arbeit, Pflege, Religionspädagogik, Heilpädagogik zugeschnitten werden. Die Semantik
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der Praxis verweist somit auf eine Selektion des wissenschaftlichen Wissens, das sich mit seinen disziplinspezifischen Theorien und Methoden vornehmlich an der gesellschaftsinternen Umwelt der o.g. Berufe mit ihren entsprechenden Organisationen orientieren soll. Eine Konsequenz dieser imaginären Einheit von Lehre und Praxis – imaginär, weil sie die System/Umwelt-Differenz der Fachhochschule und oben genannten Berufe nicht aufheben kann – ist die, dass die Kopplung von Lehre und wissenschaftlichem Wissen primär anhand der Praxisrelevanz des letzteren beobachtet wird. Ihr Paradox besteht u.a. darin, dass diejenigen in der Lehre, die auf die Anschlussfähigkeit in der Scientific community durch theorieinduzierte Problemstellungen insistieren, sowohl von aus der Praxis kommenden Kollegen als auch praxisorientierten Studenten mehr oder weniger offen der Praxisferne bezichtigt werden. Während diejenigen, die praxisnah in der Lehre verfahren, sich von den eher theorieorientierten Kollegen und den aus der Praxis kommenden Studenten des Vorwurfs mangelnder systematischer Reflexion oder der Vermittlung hinlänglich bekannten Wissens ausgesetzt sehen.
4.2.3.4 Binnendifferenzierung der Fachhochschulen und Scheine als das die Einheit der Lehre konstituierende Medium These 1 Betrachtet man den Alltag der Fachhochschulen, so wird er durch die segmentäre Binnendifferenzierung in Fachbereiche dominiert. Zentral ist für sie die Lehrfunktion, welche sich an die Studenten als lernende Adressaten richtet und im Kontext der Vorlesungen und Seminare als sequenziell organisierte Interaktionssysteme kommunikativ reproduziert. These 2 Fragt man nach einem Medium, das deren Einheit konstituiert bzw. als Vermittlung ihrer operativen Aktivitäten und Formalstruktur fungiert, so sehen wir sie in den Scheinen (vgl. Stichweh 1994). Ihnen kommt für die Lehre eine ähnliche Funktion zu wie den Geldscheinen für die Transaktionen der Wirtschaft und den Krankenscheinen für die des Gesundheitssystems. Scheine übernehmen in folgenden Hinsichten formbildende Funktion: a) Damit überhaupt eine Scheinvergabe möglich ist, müssen die Lehrthemen auf Seiten des Lehrpersonals so selegiert und in Subthemen untergliedert werden, dass Scheine von den Studenten erbracht werden können. b) Für diese impliziert die Notwendigkeit der Erlangung von Scheinen, dass sie ihre sachliche Teilnahmemotivation an Lehrveranstaltungen spezifizieren müssen, indem von ihnen erwartet wird, ihr Interesse auf eines der Subthemen zuzuschneiden. c) Scheine verbinden somit als symbolisches Medium die Lehre und das Lernen der Interaktionssysteme Seminar oder Vorlesung. Zugleich garantieren sie ein Mindestmaß an Mitarbeit der Studenten und damit einen Minimalerfolg der Lehrveranstaltungen für die Lehrenden. d) Über diese einzelnen Interaktionssysteme hinaus erzeugen die Scheine als Medium komplexere Formen. Auf der Seite der Lehre handelt es sich um die Curricula und auf der Seite der Studenten um die bereits beschriebenen Studienkarrieren.
4. Organisationen e) Scheine überschreiten zudem die Grenzen der Lehrveranstaltungen. Sie werden an das Prüfungsamt zur Aufbewahrung, Registrierung und Aushändigung an die Studenten weitergeleitet. Darüber hinaus entscheidet ihre Anerkennung bzw. Nichtanerkennung darüber, auf welche anderen Hochschulen die Studenten überwechseln können oder nicht. Schließlich dienen sie in ihrer aggregierten Form als Diplom zur Außendarstellung der Fachhochschulen bei der Abschlussfeier am Ende der jeweiligen Studienzeit und Anschlussvoraussetzung am Arbeitsmarkt für die Stellenbewerbung der Fachhochschulabsolventen.
Die Frage der Scheine kehrt somit die Relevanz der alteuropäischen philosophischen Differenz von Wesen und Schein um, indem sie die Scheinfrage zur Wesensfrage werden lässt, wie jeder Lehrende weiß, der eine Lehrveranstaltung ohne Scheine anbietet und jeder Student, der beim Prüfungsamt vergeblich auf den ersehnten Schein wartet. Der Nichterhalt bzw. das Nichtanbieten von Scheinen verweisen mithin auf ihre diabolische bzw. trennende Seite der Lehr- und Lernprozesse, die sie mit der Nichtvergabe und dem Fehlen von Geld- und Krankenscheinen im Wirtschafts- und Gesundheitssystem teilen. Dass diese drei Medien jedoch auch miteinander gekoppelt sein können, lässt sich u.a. an ihren Vorteilen für diejenigen Studenten ablesen, die ihre Studienzeit verlängern, um von den reduzierten Krankenkassenbeiträgen und niedrigen Studiengebühren bzw. sonstigen monetären Privilegien des Studentenstatus zu profitieren.
4.2.4
Das Milieu der Fachhochschule
4.2.4.1
Gesellschaftliche Milieus
These 1 Wenn wir vom Milieu der Fachhochschule sprechen, unterscheiden wir es von denjenigen Milieus, die von der sozialen Ungleichheitsforschung (vgl. Schulze 1993; Hradil 2001; Geißler 2002) und der Konsumforschung (vgl. Sinus-Institut 1996, Sinus Sociovision 2001; Sinus Sociovision 2002) beobachtet werden. Im Zentrum dieser Forschungsansätze steht ein Milieubegriff, der sich auf eine Kombination von sozialen Lagen und Werten bezieht. Seine Systemreferenz ist die der Gesamtgesellschaft. Ihre Sozialstruktur wird mit dem Begriff der sozialen Lagen bezeichnet, welcher an das hierarchische Dreierschema der Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht anknüpft. Operationalisiert wird es mittels der Dimensionen Geld, Bildung, Beruf, Alter, Familienstatus etc., deren je spezifische Kombination vornehmlich auf Formen sozialer Ungleichheit im Inklusionsbereich der modernen Gesellschaft abstellt. Wichtiger ist jedoch der gesellschaftliche Wertbezug des Milieubegriffs. Er unterstellt eine Kombination von präferierten Lebenszielen und konkreten Lebensstilen, anhand deren sich Personengruppen voneinander kommunikativ abgrenzen. Dabei unterscheiden sich ihre Lebensziele durch die Orientierung an traditionellen, modernen und postmodernen Werten. Ihre Pluralität symbolisiert zum einen die Simultaneität generationsspezifisch unterschiedlicher Werte, die zugleich einen Wertewandel deutlich machen. Und zum anderen verweist sie auf einen je spezifischen Eigensinn der gemeinsam unterstellten Werte, welche ihre explizite kommunikative Thematisierung innerhalb der jeweiligen Personengruppen weitgehend ausschließt.
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Indem die o.g. milieuspezifischen Forschungsansätze die sozialen Lagen und Werte miteinander relationieren, münden ihre Beobachtungen in die empirische Feststellung pluraler gesellschaftlicher Milieus ein. Sie erheben damit zugleich den Anspruch, sich sowohl vom klassischen Zweierschema der Marxschen Klassenanalyse als auch vom traditionellen Dreierschema der Schichtenanalyse sozialer Ungleichheit zu unterscheiden. Konkret wahrnehmbar werden diese auf abstrakte Großgruppen bezogenen pluralen Milieus besonders anhand ihrer massenmedial präsentierten Lebensstile in der Werbung einerseits und ihrer nahräumigen kommunikativen Verdichtung in den diversen Szenen der lokalen Funktionsbereiche andererseits.
4.2.4.2 Fachhochschulmilieus These 1 Fachhochschulmilieus unterscheiden sich von den obigen gesamtgesellschaftlichen Milieus zunächst generell durch Interdependenzunterbrechungen, welche eine Differenz von organisationsexternen gesamtgesellschaftlichen und organisationsinternen Milieus erzeugen. Diese lassen sich grob in ein akademisches Milieu, Lehrbeauftragtenmilieu, administratives und studentisches Milieu unterscheiden. Da ich am besten mit den ersten beiden vertraut bin, werde ich im Folgenden meine Beobachtungen ausschließlich auf diese reduzieren. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass ich dabei auch selektiv auf die Beobachtung des studentischen Milieus durch das akademische Milieu und Milieu der Lehrbeauftragten Bezug nehmen werde.
4.2.4.3 Das akademische Milieu These 1 Versucht man sich dem akademischen Milieu der Fachhochschule anzunähern, so gilt es als Erstes festzuhalten, dass die organisationsinterne Position seines hauptamtlichen Personals durch die dauerhafte Übernahme von Stellen im Kontext der segmentär differenzierten Fachbereiche bestimmt ist. Ihre fachbereichsübergreifende kommunikative Gemeinsamkeit konstituiert sich vor allem durch eine Kollegialität, die – neben den Professoren und Fachschulräten – auch die Lehrbeauftragten miteinschließt. Aus ihr sind zum einen die Studenten und zum anderen die rektorale oder präsidiale Spitze ausgeschlossen, sofern deren organisationsinternen Managementund organisationsexternen Repräsentationsfunktionen tangiert sind. These 2 Für den Organisationsalltag der Fachhochschule ist jedoch davon auszugehen, dass die segmentäre Differenzierung der Fachbereiche zu organisationsinternen System/Umwelt-Verhältnissen führt. Mit ihnen ist eine je spezifische Fokussierung des Lehrpersonals und der Kollegialität auf den eigenen Fachbereich verbunden. Eine zentrale Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist die der Differenz von Vertrautheit mit dem eigenen Fachbereich und mehr oder weniger großer Unvertrautheit mit den übrigen Fachbereichen. Erstere resultiert besonders aus der jahrelangen kollegialen Kooperation durch die Teilnahme am rekursiven Netzwerk der Fachbereichssitzungen, gemeinsamen Prüfungen, Lehrveranstaltungen, Exkursionen, Praktika, Publikationen und informellen Treffs. Vertrautheit erzeugt kommunikative Sicherheit. Sie manifestiert sich anhand
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unausgesprochener wechselseitiger Erwartungen der Kollegialität und gemeinsam unterstellter Annahmen gegenüber der eingeschlossenen ausgeschlossenen Umwelt der Studenten und anderen Fachbereichen. Wir wollen diese kollegiale kommunikative Vertrautheit als akademische Organisationskultur bzw. akademisches Milieu bezeichnen. Im Anschluss an Luhmann setzen wir sie mit nichtentscheidbaren Entscheidungsprämissen gleich (vgl. Luhmann 2000). Damit ist gemeint, dass sie im Unterschied zu entscheidbaren Entscheidungsprämissen Entscheidungsalternativen als Resultat der gemeinsamen kollegialen Systemgeschichte weitgehend ausschließen. These 3 Fragt man sich, was die typischen Strukturmerkmale des auf diese Weise abgegrenzten akademischen Milieus sind, so möchte ich ohne Anspruch auf empirische Generalisierung und Vollständigkeit folgende anführen: a) Hinsichtlich der Kollegen handelt es sich um wechselseitige Typisierungen, die sich auf die Person als Medium mit ihren Selbstdarstellungsmöglichkeiten beziehen und ihr eine erwartbare Form als Adressstelle der kollegialen Kommunikation verleihen (vgl. zur Person als Form Luhmann 1995d). Je nachdem, wie sich das Kollegium zusammensetzt und wie nah oder distanziert die kollegiale Kommunikation abläuft, kondensieren unterschiedliche Typisierungen der Personen. Sofern sie sich auf die das akademische Milieu konstituierenden Funktionen der Lehre, Praxis und Forschung beziehen, variieren sie vom berufsbezogenen Praktiker, über den pädagogisch ambitionierten Lehrenden, forschungsorientierten Theoretiker bis hin zum interkulturell Engagierten und mikropolitisch interessierten Entscheider. Hinzu kommt die damit verknüpfte je spezifisch unterstellte Resonanz bei den Studenten, wie sie u.a. anhand ihres über Studentengenerationen hinaus vermittelten Rufes, ihrer persönlichen Präsentation in den Lehrveranstaltungen und Beratungsgesprächen, dem Image als harter oder weicher Prüfer und der Anzahl der jeweiligen Diplomanden festgemacht wird. Die erwähnten Typisierungen der Personen lassen sich somit als Gemengelage von wechselseitiger Beobachtung der Selbstdarstellung im Kontext der obigen Interaktionssysteme des Fachbereichs einerseits und Schimpf- bzw. Lobklatsch von Kollegen und Studenten über die jeweils aus diesen Kommunikationsformen ausgeschlossenen Dozenten und Kollegen andererseits identifizieren. b) Bezüglich der organisationsexternen Umwelt des Fachbereichs impliziert die Typisierung, dass die Personen systemintern – je nachdem – als Repräsentanten unterschiedlicher Funktionen des Fachbereichskollegiums wahrgenommen werden. Fungieren die berufsbezogenen Praktiker vornehmlich als soziale Netzwerker mit Kontakt zu unterschiedlichen Berufsorganisationen, wenden sich die forschungsorientierten Kollegen mittels Publikationen an das anonyme Publikum der Kollegen und knüpfen sowie stabilisieren die interkulturell Engagierten Netzwerke mit Fachbereichen anderer Fachhochschulen. Dabei können die Kollegen diese Funktionen entweder als Steigerung der Reputation des Fachbereichs, als persönliche Profilierung oder indifferent beobachten.
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c) Im Hinblick auf die grenzüberschreitenden Beobachtungen anderer Fachbereiche besteht die Gefahr, dass sich aufgrund der Unvertrautheit mit ihren kommunikativen Abläufen, Fachdisziplinen der Kollegen und studentischen Adressaten Mythen verselbständigen. Diese können sowohl die Abgrenzung und Schließung des eigenen Fachbereichs forcieren als auch bei notwendigen Kooperationen und Reformen zu kommunikativen Widerständen und Missverständnissen führen, welche innovative Entscheidungen blockieren. d) Begreift man das fachbereichsspezifische akademische Milieu als kollegiales Team, so lässt sich davon ausgehen, dass seine Funktionserfüllung hinsichtlich der Lehre, Praxis und Forschung in dem Maße gesteigert werden kann, in dem es ihm gelingt, die unterstellten Typisierungen der Personen als Chance der Einheit einer Vielfalt zu nutzen. Fungieren jene jedoch eher als Take-off für kollegiale Cliquenbildung, individuelle Selbstdarstellung, Betonung und Beobachtung feiner oder gravierender Statusunterschiede und fachbereichsinterne Machtkämpfe, stabilisiert sich das Team als vertrautes Konfliktsystem und gefährdet die o.g. Funktionserfüllung. These 4 Was schließlich die für den Organisationsalltag der Lehre dominante Beobachtung der Umwelt studentischer Adressaten betrifft, so scheinen sich u.a. folgende Vertrautheiten bzw. Routinen einzuspielen, welche gleichsam als nichtentscheidbare Entscheidungsprämissen bzw. implizite Werte des akademischen Milieus fungieren: a) Es dominiert eine unausgesprochene Präferenz für eine weiche Handhabung des Selektionscodes der Noten selbst dann, wenn gleichzeitig notorisch über das mit jedem Studiengang schlechter werdende Niveau der Studenten geklagt wird. In Grenzfällen manifestiert sich dies an manchen Fachbereichen als Paradoxie des Ausschlusses des Nichtbestehens einer Studienleistung. Getestet wird somit weniger die Leistung des Studenten als die Fähigkeit des Dozenten im Umgang mit Paradoxien. Indem die Verantwortung für Selektion mehr oder weniger sichtbar abgelehnt wird, nimmt man Mehreres in Kauf. Als Erstes trägt man zur Inflationierung guter und sehr guter Noten bei, was ihren Informationswert im Hinblick auf die Selbsteinschätzung der Eigenleistung der Studenten reduziert. Darüber hinaus erzeugt man einen kollegialen Anpassungsdruck oder Abwanderungen der Studenten von denjenigen Kollegen, die schärfer selegieren. Und schließlich schmälert die Inflationierung guter und sehr guter Noten ihren Anschluss- und Informationswert am Arbeitsmarkt als Rekrutierungskriterium für die einstellenden Organisationen. b) Ferner scheint ein stillschweigender Konsens für systeminterne Rücksichtnahmen gegenüber externen Rollenverpflichtungen der Studenten kommunikativ wirksam zu sein, der selbst dann nicht zu Entscheidungsalternativen führt, wenn das Präsenzstudium bei einem Teil der Studenten faktisch zu einem Fernstudium mutiert. Mit dieser laxen Handhabung der Anwesenheit der Studenten zollt man systemintern den Eigenzeiten der Umweltsysteme Familie, Beschäftigungssystem und Freizeit der Studenten in einem Maße Tribut, welches zur partiellen Aufgabe der Autonomie der fachbereichsspezifischen Eigenzeiten und operativen Durchführung der Lehrveranstaltungen führt.
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Es erstaunt dann nicht, wenn bestimmte Wochenzeiten – wie die Freitagnachmittage – für Lehrveranstaltungen weitestgehend ausgespart werden und die Bibliotheken und Mensen am späten Nachmittag geschlossen sind. Und es überrascht auch nicht, dass ein beträchtlicher Teil der Studenten Klausuren, Hausarbeiten und Referate schreiben bzw. halten kann, ohne die Lehrveranstaltungen mehr als zwei oder dreimal im Semester besucht zu haben. Indem der obige Konsens sich legitimatorisch entweder formal auf die einschlägigen Paragrafen der Hochschulgesetze bezieht, welche die Anwesenheitspflicht der Studenten nicht vorsehen, auf die Autonomie der Studenten abstellt, die ja Erwachsene seien, oder Bildung als ein Angebot betrachtet, das von den Adressaten angenommen oder abgelehnt werden könne, erzeugt er zudem folgenreiche Paradoxien. So generiert die unterstellte Autonomie der Studenten einen partiellen Autonomieverlust der Lehrveranstaltungen und des Lehrpersonals, kommt es zur Gleichbehandlung ungleicher Inklusionsquoten der teilnehmenden Studenten, zum Verzicht oder zur Erschwernis bestimmter Lehrmethoden, z.B. dem Lesen von Texten, aufgrund diskontinuierlicher Teilnahme und zur Demotivierung motivierter Lehrender und Studenten. c) Des Weiteren scheint sich ein impliziter kollegialer Konsens eingespielt zu haben, der die forcierte Informalisierung des kommunikativen Kontaktes zu den Studenten in vielfältiger Hinsicht präferiert. Es dominiert eine selektive Duz-Kultur bezüglich bestimmter studentischer Adressaten; es wird das Aushandeln von Noten in dem Sinne konzediert, dass Hausarbeiten oder Referate mit aus studentischer Sicht unbefriedigenden Zensuren wiederholt werden können bis eine zufriedenstellende Note erreicht wurde; es werden Fristverlängerungen für Abgabetermine von Hausarbeiten und Referaten angesichts von Entschuldigungen toleriert, die dem Common Sense Hohn sprechen; schließlich scheint es Out of step zu sein, Studenten zu fragen, weshalb sie nicht mehr zur Lehrveranstaltung kommen, wie es ebenso o.k. zu sein scheint, dass diese keinen Grund für eine entsprechende Mitteilung sehen. Auch hier wiederum lassen sich bestimmte Paradoxien bzw. Konsensfiktionen beobachten, welche offensichtlich invisibilisiert oder toleriert werden, um den kollegialen Konsens nicht zu gefährden. So suggeriert die wechselseitige informelle Adressierung des »Du« eine Gleichheit, die – je nachdem – an die des Geschlechts von Studenten und Dozenten, eine antizipierte Organisationskultur der Teams sozialer Organisationen oder eine unterstellte gemeinsame politische oder theoretische Position anschließt. Sie blendet dabei jedoch sowohl die organisationsinterne Asymmetrie von Dozent und Studenten als auch die aus der Duz-Kultur ausgeschlossenen anderen Studenten aus. Darüber hinaus führen die o.g. anderen Beispiele zu Autonomie- und Gesichtsverlusten der Dozenten bei den Studenten, aber auch zu Problemen ihrer professionellen Selbstachtung durch Verzicht auf die Kommunikation von Stoppregeln gegenüber den studentischen Ansprüchen. d) Was schließlich die operative Durchführung von Lehrveranstaltungen betrifft, so erzeugt die bereits erwähnte Dominanz der imaginären Einheit von Lehre und Praxis in Kopplung mit dem Medium der Scheine und den Selektionskriterien der rekrutierten Studenten Beschränkungen der Selektionsfreiheiten der Dozenten durch die Studen-
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ten, welche sich als Kontrolle der Kontrollierten beobachten lassen. Dass diese auch zu den Vertrautheiten des akademischen Milieus gehört, möchte ich abschließend anhand zweier Aspekte verdeutlichen. So scheint es eine pädagogische Maxime zu sein, die »Studenten dort abzuholen, wo sie stehen«. Nähme man sie als Dozent buchstäblich, wäre die Lehrveranstaltung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wer weiß schon genau, was in der Blackbox der Studenten vor sich geht. Zum einen äußert sich immer nur eine Minderheit von ihnen. Und zum anderen handelt es sich um eine durchaus heterogene Adressatengruppe, wie wir im Hinblick auf die Rekrutierungskriterien sehen konnten. Wenn die o.g. Maxime suggeriert, dass sich der pädagogische Code vermittelbar/nicht-vermittelbar auf bekannte Adressaten bezieht, geht es somit um die Transformation eines unlösbaren in ein lösbares Problem. Dieses nimmt die Form der Typisierung der Studenten durch die Dozenten an. Sie können deshalb die Studenten nur so sehen, wie sie sie mittels ihrer Typisierungen sehen. Damit limitieren sie die Selektionsfreiheiten ihrer Themen, indem sie diese – je nach Typisierung der Studenten – mit einer Skalierung von leicht bis schwer vermittelbar koppeln. Was den Studenten in den Lehrveranstaltungen thematisch zugemutet werden kann und was nicht, ist folglich zunächst das Ergebnis der eigenen Attribution. Meine These ist nun die, dass die operative Handhabung der o.g. pädagogischen Maxime in der Lehre zur Bevorzugung des leicht Vermittelbaren bzw. leicht Verstehbaren tendiert. Bei der Unterscheidung leicht/schwer obsiegt somit die Präferenz für »light«, was an den Siegeszug der entsprechenden Semantik in der Werbung erinnert. Kausal fällt es einem Beobachter schwer, festzustellen, wem diese Präferenz zuzurechnen ist. Meine Vermutung ist die, dass es sich um eine Zirkularität der Typisierung der Studenten durch die Dozenten und der studentischen Ansprüche handelt, wie sie sich aus dem rekursiven Netzwerk der Lehrveranstaltungen und ihrer jeweiligen Systemgeschichten ergibt. Die bereits zitierten Klagen der Dozenten über das sinkende Niveau der Studenten lassen sich von daher als das paradoxe Ergebnis einer Self-fulfilling-prophecy begreifen. Indem sich nämlich die Dozenten im Laufe ihrer pädagogischen Karriere durch ihre Typisierungen an die Erwartungen derjenigen Studenten anpassen, die sich am massivsten über bestimmte Zumutungen der Lehre beschweren, erzeugen sie gerade das, worüber sie sich beklagen, nämlich das Sinken der studentischen Ansprüche. Dass es sich bei meinen Ausführungen um eine Zuspitzung handelt, will ich nicht verhehlen. So ist mir sehr wohl bewusst, dass es sowohl Dozenten als auch Studenten gibt, die hinsichtlich des Vermittelbaren und Verstehbaren anders optieren. Sollte die oben beschriebene Tendenz allerdings zunehmen, wird es ihnen schwerfallen, sich dem jeweiligen kollegialen oder studentischen Anpassungsdruck zu entziehen. Wie weit die Kontrolle der Kontrollierten gehen kann, lässt sich auch daran ablesen, dass die proklamierte Einheit von Lehre und Praxis zunehmend Formen annimmt, die in Richtung ihrer Entdifferenzierung zugunsten letzterer tendieren. Lehrveranstaltungen, die nicht unmittelbar auf einen Praxisbezug im Sinne handhabbarer Interventionstechnologien zur Veränderung von Personen und/oder ihrer sozialen Lage abstellen, werden von ihnen als zu theorielastig, praxisfern oder akademisch abgelehnt. Studentischen Einwürfen wie: »Kann man dies nicht auch verständlicher ausdrücken?«, »Was
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soll ich damit anfangen?«, »Muss man denn so viel Fremdwörter benutzen?«, begegnet man als Dozent nicht nur im Grund-, sondern auch im Hauptstudium. Sofern zum akademischen Milieu der Fachhochschule und zur Akademisierung ihrer Ausbildungsberufe konstitutiv die Abgrenzung durch operative und strukturelle Ausdifferenzierung gegenüber den Organisationen ihrer zukünftigen Praxis mittels Zuordnung zum Bildungssystem gehört, muten die zitierten Einwürfe befremdlich an. So lässt sich u.a. fragen, wie, wenn nicht durch theoriegeleitetes Beobachten – und das heißt durch Differenzieren in Form von disziplinbezogenen Begriffen – kann man die zukünftige Berufspraxis reflektieren. Dies gilt im Besonderen auch im Hinblick auf die Risiken interventionsbezogener Berufe. Ferner: Wie, wenn nicht durch die zumindest minimale Kenntnis unterschiedlicher fachspezifischer Konstruktionen der Wirklichkeit, kann man die heutige polykontexturale Gesellschaft und innerhalb multiprofessioneller Teams die rollenspezifische Perspektive anderer Berufe verstehen. Sollten die beschriebenen Funktionen der disziplinbezogenen wissenschaftlichen Reflexion und divergierenden Konstruktionen praxisbezogener Probleme nach wie vor zentrale Strukturmerkmale des akademischen Milieus sein, stellen sie diejenigen Anforderungen dar, deren Unterlaufen durch die Kontrolle der Kontrollierten, sprich Studenten, am stärksten seitens der Dozenten widersprochen werden müsste.
4.2.4.4 Das Milieu der Lehrbeauftragten These 1 Die Lehrbeauftragten lassen sich als die eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten der Fachhochschule begreifen. Ihr Status und Milieu sind wohl fachhochschulextern am wenigsten bekannt, obwohl viele Fachhochschulen ohne sie ihren Regelbetrieb einstellen müssten. Ihre Verortung als eingeschlossene ausgeschlossene Dritte lässt sich dadurch begründen, dass sie einerseits während der Semesterzeiten in die Fachhochschule inkludiert und andererseits in der vorlesungsfreien Zeit aus ihr exkludiert sind, z.B. nicht weiter bezahlt werden wie ihre hauptamtlichen Kollegen. Welche Konsequenzen dies für ihren Status und die fachhochschulinterne Milieubildung der dazugehörigen Personengruppe hat, soll Thema unserer abschließenden Ausführungen sein. These 2 Was ihre ökonomisch-rechtliche Situation betrifft, gibt es wohl in wenigen anderen Arbeitsorganisationen so hochqualifizierte akademische Personen (Habilitierte, Promovierte, Hochschulabschluss), mit einem vergleichbaren prekären Status und Grad der Fremdausbeutung durch die Organisation bei gleichzeitiger Selbstausbeutung. a) Eingeschlossen sind die Lehrbeauftragten in hochbefristete Verträge mit vor allem akribisch festgelegten Pflichten und wenig Rechten. So wird vertraglich mindestens Folgendes geregelt: • •
Die Anzahl der Semesterstunden: maximal 8 Unterrichtsstunden zu 45 Minuten. Das Honorar – nicht Entgelt – von 25–40€ in Abhängigkeit vom akademischen Grad des Lehrbeauftragten, wobei dieses oftmals die Vor- und Nachbereitungszeit sowie
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•
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die Korrekturen von Hausarbeiten und Klausuren miteinschließt. Hinzu kommt, dass das Honorar teilweise mehr als 10 Jahre nicht erhöht wurde. Die Laufzeit: Variiert pro Semester von maximal 15 Wochen in Baden-Württemberg bis minimal 10–12 Wochen in Hessen. Dabei können der Zeitumfang und damit auch das Einkommen des Lehrbeauftragten durch Feiertage, besondere Veranstaltungen der Fachhochschule wie Praxismessen, akademische Tage etc. ohne monetäre Kompensation reduziert werden. Zusätzliche Vergütungen: Bei Betreuung von Diplomarbeiten gibt es eine Bandbreite von unvergütet einerseits und zwischen 50 bis 150€ Honorar andererseits. Turnus der Auszahlung: Nicht monatlich, sondern am nächstfolgenden Monat des Semesterendes. Das bedeutet, dass der Lehrbeauftragte der Fachhochschule einen Kredit von teilweise einem halben Jahr einräumt. Er muss schon massiv insistieren, will er die für jeden Arbeitnehmer selbstverständliche monatliche Überweisung seines Gehalts, sprich Honorars, erreichen. Honorarvergütung nur bei nachweislich gehaltenem Unterricht und einer Mindestzahl von 5 Studierenden. Das impliziert, dass bei zu geringer studentischer Teilnahme sowie im Krankheitsfall kein Honorar bezahlt wird.
b) Man sieht anhand der angeführten Punkte, dass die Lehrbeauftragten einem prekären akademischen Milieu mit prekärem Status angehören. Ökonomisch-rechtlich sind sie nämlich nur partiell inkludiert, ansonsten aber in mehrfacher Hinsicht exkludiert: d.h. aus sicheren Erwerbsarbeitszeiten, verlässlichen monatlichen Honorarüberweisungen, langfristigen Arbeitsverträgen, kontinuierlichen Honoraranpassungen, Absicherung im Krankheitsfall etc. These 3 Dass diese prekären Arbeitsbedingungen bundesweit von den betroffenen ca. 90.000 Lehrbeauftragten im Jahr 2021 weitgehend ohne größere Proteste toleriert wurden und immer noch werden, hängt u.a. mit ihrer sehr heterogenen Zusammensetzung, divergierenden Motivation und unterschiedlichen Verweildauer zusammen. Versucht ein wachsender Teil der Lehrbeauftragten, einen Nebenjob in einen Hauptjob durch Kumulation von Lehraufträgen an unterschiedlichen Hochschulen verschiedener Bundesländer zu transformieren, sieht ein anderer Teil in einem Lehrauftrag das Sprungbrett zu einem Hauptjob durch Anbahnung von Kontakten mit hauptamtlichen Kollegen. Und ein weiterer Teil der Lehrbeauftragten verspricht sich von seiner Tätigkeit die Steigerung des Prestiges in seiner Arbeitsorganisation des Systems Sozialer Hilfe. Manche verbringen somit Jahrzehnte im Status des prekär beschäftigten Lehrbeauftragten; andere schaffen es, zum hauptamtlichen Professor ernannt zu werden, während wiederum andere nach einmaliger Übernahme eines Lehrauftrags ihre Tätigkeit als Lehrbeauftragter irreversibel beenden. These 4 Die heterogene Zusammensetzung des Lehrbeauftragtenmilieus bei gleichzeitiger unterschiedlicher Verweildauer und Zielsetzung ist deshalb eine wichtige Erklärung dafür, warum dieses Milieu trotz hochqualifizierter Mitglieder bis dato zu wenig in der Lage war, gemeinsam für die Verbesserung ihrer prekären Lage trotz selektiver Initiativen aktiv zu werden.
4. Organisationen
Hinzu kommt, dass hochqualifizierte Lehrbeauftragte nicht nur als ergänzendes Personal aus der Praxis rekrutiert werden, um praxisnahe Bereiche des Curriculums abzudecken, sondern vor allem auch für theoretische Disziplinen (Soziologie, Politik, Psychologie, Philosophie, Pädagogik) der Studiengänge von Interesse sind. Dabei halten sie, neben Seminaren, auch Vorlesungen mit bis zu 150 Studierenden. Damit entlasten sie hauptamtliche Professoren, die Forschungssemester beantragt haben, auf Deputationskürzungen bei der Übernahme von administrativen Tätigkeiten (Dekanat, Studiengangsleitung, Austausch mit anderen Hochschulen etc.) angewiesen sind oder länger durch Krankheit in der Lehre ausfallen. Vor allem aber ersparen sie den Fachbereichen sowie Hochschulen erhebliche Kosten. Der Lehrbeauftragtenstatus sowie das mit ihm verknüpfte Milieu scheinen sich für die Betroffenen und ihre fachhochschulinterne Umwelt offenbar solange zu reproduzieren, solange trotz Prekarisierung ihre teils latenten Funktionen durch keine äquivalenten Problemlösungen ersetzt werden können und/oder sollen.
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5. Interaktionen. Zweierbeziehungen in der fortgeschrittenen Moderne Interaktionssysteme zwischen Singularisierung und eingeschlossenem ausgeschlossenem Dritten
5.1 Einleitung In der heutigen Sozialwissenschaft und fortgeschrittenen modernen Gesellschaft scheinen Zweierbeziehungen als labil und prekär zu gelten. Zum einen diagnostiziert man eine individualistische Gesellschaft und prognostiziert die Single-Gesellschaft (Beck 1986, 199–200; Beck-Gernsheim 1986; Beck/Beck-Gernsheim 1994; Hradil 1995). Zum anderen spricht man von der Selbsthilfegesellschaft (Vilmar 1988) mit mannigfaltigen Formen von Kleingruppen und sozialen Netzwerken. Zweierbeziehungen scheinen zerrieben zu werden zwischen den erhöhten Ansprüchen der Individuen auf Selbstverwirklichung und den Solidaritätsimperativen von Kleingruppen (vgl. Neidhardt 1983). Wenn wir im Folgenden Zweierbeziehungen systemtheoretisch thematisieren, geht es uns darum, die Funktionen und die Dynamik von zweistelligen Konstellationen auf der Ebene von Interaktionssystemen und die entsprechende Begleitsemantik zu verdeutlichen. Dabei wollen wir zusätzlich klarmachen, dass die bedeutsamsten noch wirksamen Zweierbeziehungen ohne Bezug zu den zentralen Funktionssystemen und ihren formalen Organisationen nicht hinreichend begriffen werden können. Dass schließt es nicht aus, dass die Ebenen von Interaktionen und Gesamtgesellschaft unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Moderne zunehmend eine Eigendynamik entwickeln (Luhmann 1984, 551ff.), die den Interaktionssystemen als Zweierbeziehungen durch die heutige Gesellschaft größere Freiräume zugestehen als früher. Ausdrücklich betonen möchten wir, dass es sich bei der folgenden Darstellung um erste Überlegungen handelt, die noch weiterer Vertiefung bedürfen. Zunächst werden wir »Allgemeine Voraussetzungen von Zweierbeziehungen« behandeln, danach »Typen von Zweierbeziehungen«, wobei wir zwischen »Intimbeziehungen als Paarbeziehungen«; »Zweierbeziehungen jenseits von Paarbeziehungen«; »Asymmetrisch strukturierten Zweierbeziehungen« und schließlich »Ausgeschlossenen
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Dritten im Kontext von unterschiedlichen Zweierbeziehungen« unterscheiden werden. Abrunden werden wir unsere Überlegungen durch ein Fazit.
5.2 Allgemeine Voraussetzungen von Zweierbeziehungen 1. Wir setzen im Folgenden voraus, dass sich Zweierbeziehungen hauptsächlich als Kommunikationssysteme unter Anwesenden (Kieserling 1999) konstituieren. Sie differenzieren sich gegenüber ihrer Umwelt dadurch aus, dass sie zwischen unmittelbarer Anwesenheit als systeminterner Voraussetzung der Kommunikation und Abwesenheit unterscheiden (vgl. Luhmann 1975a, 22–23; Luhmann 1975c, 10; Luhmann 1984, 560; Luhmann 1997b, Bd.2, 813ff.; Hohm 2016, 21ff.). Sie ziehen mithin als Interaktionssysteme ihre Grenze durch unmittelbare raumzeitliche Anwesenheit in Differenz zur Abwesenheit aller übrigen als Adressstellen von Kommunikation in Frage kommenden Personen oder Organisationen und allem sonstigen Abwesenden. Präferenz hat dabei die Anwesenheit. Das bedeutet, dass adressabel nur diejenigen Personen sind, die an der Interaktion dadurch teilnehmen können, dass sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. für eine gewisse Dauer an einem bestimmten Ort zusammen mit einer weiteren Person befinden. 2. Dass es auch Zweierbeziehung als interaktionsfreie Formen der Kommunikation qua computervermittelter Kommunikation gibt, ist damit nicht ausgeschlossen. Man denke nur an den Film »Email for You« mit Tom Hanks und Meg Ryan als Protagonisten. Gleichwohl ist die Pointe des Films die, dass sich die beiden trotz zunehmend verdichteter Online-Kommunikation mittels Email am Ende zu einer Face-to-Face-Begegnung unter Bedingungen der raum-zeitlichen Anwesenheit im New Yorker Central Park verabreden und treffen. Klar ist auch, dass angesichts der vielfältigen Rollen, die Personen in der heutigen Gesellschaft übernehmen müssen, um eine angemessene Lebensführung realisieren zu können (vgl. Schimank 2002, 15ff.; Burzan u.a. 2008, 15ff.), Zweierbeziehungen als Interaktionssysteme raum-zeitlich limitiert sind und nicht als solche in jeden funktionssystemspezfischen Kontext mitgenommen werden können. So kann man zwar als Liebes- oder Freundespaar gemeinsam ein Theater besuchen, ein Fußballspiel anschauen, Shoppen gehen, am Gottesdienst partizipieren, die Ortsverwaltung aufsuchen, an einer Parteiveranstaltung teilnehmen, in den Urlaub fahren, an der Vorlesung partizipieren, die Eltern besuchen etc.– ja man kann sogar zu zweit unternehmerisch tätig sein. Aber in der Regel stellt die Arbeitsorganisation mit ihren Stellen, die Grenze der Fortsetzung der Zweierbeziehung unter raum-zeitlicher Anwesenheit dar. Das gilt selbst dann, wenn eine Stelle nicht nur mit einer Person besetzt wird, sondern mit zwei Personen wie im Falle von Teilzeitstellen. Zudem ist davon auszugehen, dass selbst Liebes-oder Freundespaare die angeführten Laienrollen des Öfteren auch allein übernehmen, sei es, weil die andere Person gerade etwas anderes zu tun hat, sei es, weil eine von beiden Personen kein Interesse an der Übernahme einer der Rollen hat, sei es, weil man sich die Übernahme der Rollen aus Effizenzgründen teilt.
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Dritten im Kontext von unterschiedlichen Zweierbeziehungen« unterscheiden werden. Abrunden werden wir unsere Überlegungen durch ein Fazit.
5.2 Allgemeine Voraussetzungen von Zweierbeziehungen 1. Wir setzen im Folgenden voraus, dass sich Zweierbeziehungen hauptsächlich als Kommunikationssysteme unter Anwesenden (Kieserling 1999) konstituieren. Sie differenzieren sich gegenüber ihrer Umwelt dadurch aus, dass sie zwischen unmittelbarer Anwesenheit als systeminterner Voraussetzung der Kommunikation und Abwesenheit unterscheiden (vgl. Luhmann 1975a, 22–23; Luhmann 1975c, 10; Luhmann 1984, 560; Luhmann 1997b, Bd.2, 813ff.; Hohm 2016, 21ff.). Sie ziehen mithin als Interaktionssysteme ihre Grenze durch unmittelbare raumzeitliche Anwesenheit in Differenz zur Abwesenheit aller übrigen als Adressstellen von Kommunikation in Frage kommenden Personen oder Organisationen und allem sonstigen Abwesenden. Präferenz hat dabei die Anwesenheit. Das bedeutet, dass adressabel nur diejenigen Personen sind, die an der Interaktion dadurch teilnehmen können, dass sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. für eine gewisse Dauer an einem bestimmten Ort zusammen mit einer weiteren Person befinden. 2. Dass es auch Zweierbeziehung als interaktionsfreie Formen der Kommunikation qua computervermittelter Kommunikation gibt, ist damit nicht ausgeschlossen. Man denke nur an den Film »Email for You« mit Tom Hanks und Meg Ryan als Protagonisten. Gleichwohl ist die Pointe des Films die, dass sich die beiden trotz zunehmend verdichteter Online-Kommunikation mittels Email am Ende zu einer Face-to-Face-Begegnung unter Bedingungen der raum-zeitlichen Anwesenheit im New Yorker Central Park verabreden und treffen. Klar ist auch, dass angesichts der vielfältigen Rollen, die Personen in der heutigen Gesellschaft übernehmen müssen, um eine angemessene Lebensführung realisieren zu können (vgl. Schimank 2002, 15ff.; Burzan u.a. 2008, 15ff.), Zweierbeziehungen als Interaktionssysteme raum-zeitlich limitiert sind und nicht als solche in jeden funktionssystemspezfischen Kontext mitgenommen werden können. So kann man zwar als Liebes- oder Freundespaar gemeinsam ein Theater besuchen, ein Fußballspiel anschauen, Shoppen gehen, am Gottesdienst partizipieren, die Ortsverwaltung aufsuchen, an einer Parteiveranstaltung teilnehmen, in den Urlaub fahren, an der Vorlesung partizipieren, die Eltern besuchen etc.– ja man kann sogar zu zweit unternehmerisch tätig sein. Aber in der Regel stellt die Arbeitsorganisation mit ihren Stellen, die Grenze der Fortsetzung der Zweierbeziehung unter raum-zeitlicher Anwesenheit dar. Das gilt selbst dann, wenn eine Stelle nicht nur mit einer Person besetzt wird, sondern mit zwei Personen wie im Falle von Teilzeitstellen. Zudem ist davon auszugehen, dass selbst Liebes-oder Freundespaare die angeführten Laienrollen des Öfteren auch allein übernehmen, sei es, weil die andere Person gerade etwas anderes zu tun hat, sei es, weil eine von beiden Personen kein Interesse an der Übernahme einer der Rollen hat, sei es, weil man sich die Übernahme der Rollen aus Effizenzgründen teilt.
5. Interaktionen. Zweierbeziehungen in der fortgeschrittenen Moderne
3. Zweierbeziehungen als Kommunikationssysteme unter Anwesenden konstituieren und reproduzieren sich als soziales System qua kleinstmöglicher Zahl, nämlich zwei Personen. Sie sind insofern das Paradigma der doppelten Kontingenz (Luhmann 1984, 148ff.) im Sinne der reziproken Berücksichtigung der Erwartungserwartungen (=reflexiver Mechanismus) und der jeweiligen individuellen Selektionsfreiheit diesen zu entsprechen oder davon abzuweichen (vgl. Hohm 2016, 179ff.). 4. Die Labilität und Instabilität von Zweierbeziehungen ergibt sich nicht nur durch ihre Befristetheit als zeitlimitierte Systeme aufgrund der Rücksichtnahme gegenüber den anderen Rollen der in sie inkludierten Personen (vgl. Luhmann 1984, 565; Luhmann 1997b, Bd.2, 815), sondern vor allem auch wegen ihre quantitative Bestimmtheit durch zwei Personen. So wird durch die Abwesenheit von nur einem der Beteiligten die unmittelbare Kommunikation und damit das Interaktionssystem beendet. Strukturell muss mithin entweder durch die zwei Beteiligten selbst, also durch Selbstorganisation, oder durch strukturelle Vorkehrungen der Organisationen, in die die Interaktionssysteme als Zweierbeziehungen integriert sind, für ihre Fortsetzung gesorgt werden. Zum einen kann das trotz Abwesenheit einer der Beteiligten durch die interaktionsfreie Kommunikation via Handy oder Computer mittels Telefon, Email, WhatsApp etc. geschehen. Die Zweierbeziehung kontinuiert dann nicht mehr als Interaktionssystem, sondern als interaktionsfreies Kommunikationssystem von zwei räumlich Abwesenden. Ist jedoch die raumzeitliche Anwesenheit als Interaktionssystem für die Funktion der Zweierbeziehung unabdingbar, muss für die baldige Fortsetzung der Zweierbeziehung unter Bedingungen der Anwesenheit strukturell durch die Programmerwartungen von denjenigen funktionssystemspezfischen Organisationen gesorgt werden, in die die Zweierbeziehungen interaktiv eingebettet sind. 5. Während also eine prekäre Stabilitätsbedingung von Zweierbeziehungen darin besteht, dass die Reduktion des Personals in Richtung der dauerhaften Singularisierung vermieden werden muss, soll ihre Funktionserfüllung kontinuieren, indiziert die unkontrollierte Erweiterung des Interaktionssystems durch anwesende Dritte, wie wir noch genauer sehen werden, eine weitere Gefährdung der Autonomie der Zweierbeziehung. Diese muss sich somit, soll sie trotz Unterbrechungen wegen der individuellen Übernahme anderer Rollen der beteiligten Personen von dauerhaftem Bestand sein, sowohl gegenüber einer Auflösung des interaktiven Sozialsystems als Zweierbeziehung bzw. Dyade als auch der ungesteuerten Transformation in eine Triade oder größere Formen von Kleingruppen schützen. 6. Beide unterschiedliche Tendenzen der Auflösung der Zweierbeziehung werden durch Negativ- und Positivsemantiken zeitgenössisch begleitet. Geht es um die Reduktion der Zweierbeziehung auf die einzelne Person, wird deren nichtsozialer Status unterschiedlich beobachtet und bewertet. Einerseits werden mit ihm semantisch negativ konnotierte Vorstellungen und Werte wie Isolation, Einsamkeit, Alleinsein und Singularisierung assoziiert (Hradil 1995, 9; Meyer in Geißler 2014, 435ff.). Andererseits aber auch positiv bewertete Semantiken wie Selbstverwirklichung des Single, Individualisierung, Indivi-
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dualität und die Suche nach dem Ich. (Leupold 1983, 299 u. 317; Beck-Gernsheim 1986; Schulze 1993, 312ff.). Auch die Erweiterung durch Dritte wird semantisch gefeiert oder abgelehnt. So wird zum einen die Befreiung von der »Tyrannei der Intimität« bzw. asozialen Liebe (Sennett 1986, 19ff.) oder der pathologischen Regression der Zweierbeziehungen (Slater 1963) durch die Rückbindung an die Öffentlichkeit bzw. Öffnung gegenüber der Gesellschaft begrüßt (vgl. die Ausführungen von Leupold 1983, 315ff. zur Semantik und Struktur der »Offenen Ehe«). Und zum anderen die Oberflächlichkeit der Beziehungen sowie der Zwang und die außengeleitete Abhängigkeit der Personen von unpersönlichen Großgruppen wie der Masse oder von unpersönlichen korporativen Akteuren beklagt (vgl. Riesman 1972 (1950), 137ff.; Coleman 1982, 37). 7. Wenn Zweierbeziehungen nicht nur zufällige und flüchtige Begegnungen als einfache Sozialsysteme bleiben (vgl. Hirschauer 1999; Hohm 2016, 23ff.), sondern eine gewisse dauerhafte Stabilität als organisierte Interaktionssysteme gewinnen sollen, müssen sie offensichtlich sowohl gegenüber der Singularisierung als auch der vorschnellen Transformation in Triaden oder größere Formen von Kleingruppen strukturell immunisiert werden. 8. Bezieht man die Zweierbeziehungen auf die zentralen Funktionssysteme der heutigen Gesellschaft, dann lässt sich grob zwischen solchen unterscheiden, die dem Funktionssystem der Intimbeziehungen sowie den durch Organisationen erzeugten Interaktionen der Funktionssysteme und den selbstorganisierten bzw. flüchtigen Interaktionen jenseits der Organisationen in den Funktionssystemen zuzuordnen sind.
5.3 Typen von Zweierbeziehungen 5.3.1
Intimbeziehungen als Paarbeziehungen: das Paradigma Liebespaar als Zweierbeziehung
Wenn man von Intimbeziehungen spricht, wird die Zweierbeziehung oft mit der Paarbeziehung gleichgesetzt. So redet man vom Liebes-, Ehe-, Freundschafts-, Geschwister-und Zwillingspaar. Das Suffix »Paar« verweist offensichtlich auf eine besondere Verdichtung der Zweierbeziehung in Form der Intimkommunikation wie es im Englischen durch die Semantik von »Close relationship« zum Ausdruck kommt. Wir wollen uns im Folgenden auf die Beobachtung von Intimbeziehungen in Form des Liebespaares als Paradigma der Zweierbeziehung beschränken. (vgl. Luhmann 1982a; Leupold 1983; Tyrell 1987; Luhmann 2008). Vorab lässt sich konstatieren, dass sich das Liebespaar vom Ehepaar durch seine Nichtinstitutionalisierung, d.h. der Negation der Zustimmung durch das Rechts- und/oder Religionssystem, unterscheidet. Es grenzt sich vom Freundschaftspaar durch seine Limitierung auf zwei Personen ab, wohingegen man durchaus mehrere gute Freunde haben kann (vgl. Tyrell 1987, 574ff.). Und im Unterschied zum Geschwisterpaar entsteht es durch die wechselseitige Selektionsfreiheit
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dualität und die Suche nach dem Ich. (Leupold 1983, 299 u. 317; Beck-Gernsheim 1986; Schulze 1993, 312ff.). Auch die Erweiterung durch Dritte wird semantisch gefeiert oder abgelehnt. So wird zum einen die Befreiung von der »Tyrannei der Intimität« bzw. asozialen Liebe (Sennett 1986, 19ff.) oder der pathologischen Regression der Zweierbeziehungen (Slater 1963) durch die Rückbindung an die Öffentlichkeit bzw. Öffnung gegenüber der Gesellschaft begrüßt (vgl. die Ausführungen von Leupold 1983, 315ff. zur Semantik und Struktur der »Offenen Ehe«). Und zum anderen die Oberflächlichkeit der Beziehungen sowie der Zwang und die außengeleitete Abhängigkeit der Personen von unpersönlichen Großgruppen wie der Masse oder von unpersönlichen korporativen Akteuren beklagt (vgl. Riesman 1972 (1950), 137ff.; Coleman 1982, 37). 7. Wenn Zweierbeziehungen nicht nur zufällige und flüchtige Begegnungen als einfache Sozialsysteme bleiben (vgl. Hirschauer 1999; Hohm 2016, 23ff.), sondern eine gewisse dauerhafte Stabilität als organisierte Interaktionssysteme gewinnen sollen, müssen sie offensichtlich sowohl gegenüber der Singularisierung als auch der vorschnellen Transformation in Triaden oder größere Formen von Kleingruppen strukturell immunisiert werden. 8. Bezieht man die Zweierbeziehungen auf die zentralen Funktionssysteme der heutigen Gesellschaft, dann lässt sich grob zwischen solchen unterscheiden, die dem Funktionssystem der Intimbeziehungen sowie den durch Organisationen erzeugten Interaktionen der Funktionssysteme und den selbstorganisierten bzw. flüchtigen Interaktionen jenseits der Organisationen in den Funktionssystemen zuzuordnen sind.
5.3 Typen von Zweierbeziehungen 5.3.1
Intimbeziehungen als Paarbeziehungen: das Paradigma Liebespaar als Zweierbeziehung
Wenn man von Intimbeziehungen spricht, wird die Zweierbeziehung oft mit der Paarbeziehung gleichgesetzt. So redet man vom Liebes-, Ehe-, Freundschafts-, Geschwister-und Zwillingspaar. Das Suffix »Paar« verweist offensichtlich auf eine besondere Verdichtung der Zweierbeziehung in Form der Intimkommunikation wie es im Englischen durch die Semantik von »Close relationship« zum Ausdruck kommt. Wir wollen uns im Folgenden auf die Beobachtung von Intimbeziehungen in Form des Liebespaares als Paradigma der Zweierbeziehung beschränken. (vgl. Luhmann 1982a; Leupold 1983; Tyrell 1987; Luhmann 2008). Vorab lässt sich konstatieren, dass sich das Liebespaar vom Ehepaar durch seine Nichtinstitutionalisierung, d.h. der Negation der Zustimmung durch das Rechts- und/oder Religionssystem, unterscheidet. Es grenzt sich vom Freundschaftspaar durch seine Limitierung auf zwei Personen ab, wohingegen man durchaus mehrere gute Freunde haben kann (vgl. Tyrell 1987, 574ff.). Und im Unterschied zum Geschwisterpaar entsteht es durch die wechselseitige Selektionsfreiheit
5. Interaktionen. Zweierbeziehungen in der fortgeschrittenen Moderne
der beiden Personen, während die Geschwister zu einem Paar durch die Fremdselektion der Eltern werden – was auch für das Zwillingspaar gilt. Weitere Unterschiede des Liebespaares zu den anderen intimeren Paarformen werden evident, wenn wir uns genauer der Beschreibung einiger zentraler Merkmale des Liebespaares zuwenden, wie sie sich vor allem der Semantik der romantischen Liebe verdanken (vgl. Luhmann 1982a, 163ff.; Tyrell 1987; Luhmann 2008, 33ff.). Zunächst fällt auf, dass die Leitdifferenz dieses Interaktionssystems Liebe/Nichtliebe ist. Dabei ist der Präferenzwert Liebe und der Negativwert Nichtliebe. Die Intimkommunikation wird also binär codiert, wobei die Anschlusskommunikation qua Liebe signalisiert wird, während Zeichen von Nichtliebe die Kommunikation erschweren bzw. beenden (vgl. Tyrell 1987, 572). Wichtig in Bezug auf die Sozialdimension der Intimkommunikation ist die wechselseitig gesteigerte Bedeutung von Ego für das jeweilige Alter Ego in Form einer Höchstrelevanz. Es wird mit Höchstgefühlen besetzt, die auch durch entsprechendes Handeln, das sich am Erleben des Alter Ego orientiert, unterstrichen werden (vgl. Tyrell 1987, 570ff. Luhmann 1982a, 167). Die Person wird jeweils in ihrer biographischen Einzigartigkeit gegenüber allen anderen Personen präferiert. Geschieht dies mittels doppelter Kontingenz, also durch die sozialstrukturell erzeugte Möglichkeit der freien Wahl bzw. der doppelten Selbstselektion der Personen, wird deutlich, dass zur Entstehung und zur Stabilisierung des Interaktionssystems Liebespaar das freie Ja der zwei Beteiligten konstitutiv dazugehört (vgl. Tyrell 1987, 581–82). Die Inklusionsvoraussetzung ist darüber hinaus an eine kommunikative Verdichtung in der Form gebunden, dass die Intimkommunikation für alle Facetten des Erlebens und Handelns der an ihr beteiligten Personen offen ist. Da sich Interaktionssysteme über die Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit von ihrer Umwelt abgrenzen, besteht eine hohe Präferenz des Liebespaares für Anwesenheit (Tyrell 1987, 586). Ist doch nur durch sie die Unmittelbarkeit der wechselseitigen Wahrnehmung und der Körperbetonung (vgl. Rittner 1983) gegeben, wie sie für Liebespaare typisch ist. Phasen des intensiven Gesprächs können deshalb abwechseln mit Phasen der innigen Körperberührung, wie man sie bei engumschlungen flanierenden oder sich liebevoll küssenden Liebespaaren beobachten kann. Diese scheinen im Zustand des Verliebtseins die gegenwärtige Anwesenheit stillstellen und sowohl die übrigen Dritten als auch sich selbst als psychische Systeme vergessen und im Sozialsystem Paar aufgehen lassen zu wollen. Die Nichterwiderung der Liebe oder der individuelle Rückzug einerseits sowie die Öffnung für Dritte andererseits seitens des/der Geliebten sind zwar sowohl während der Phase der Anbahnung einer Liebesbeziehung als auch ihrer Etablierung als Möglichkeit vorhanden (vgl. Tyrell 1987, 580–581). Dennoch scheinen sie im Zustand des reziproken Verliebtseins weder in der unfreiwilligen noch freiwilligen Variante Thema der Intimkommunikation und wohl auch nicht der Bewusstseine der beteiligten psychischen Systeme zu sein. Manche Soziologen (vgl. den Hinweis von Tyrell [1987, 587] auf Philip E. Slater 1963) sehen in der exklusiven Fixierung des Liebespaares auf ihre Zweierbeziehung eine Symbiose oder Regression, die eine Gefahr für anonyme Dritte bzw. den generalisierten Anderen (Mead) darstellen, da sie damit die Spielregeln und Normen der Gesellschaft oder Organisationen durch Rückzug auf sich und ihre Sonderwelt unterlaufen.
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Geht man von familiensoziologischen Überlegungen zur Entwicklung von Intimbeziehungen aus, so bedeutet der Übergang von einer Zweierbeziehung zur Dreier- oder Viererbeziehung etc. eine Systemtransformation in dem Sinne, dass zum einen die Zweierbeziehung als Paarbeziehung kontinuiert. Gleichzeitig aber deren Ergänzung durch eine dritte Person, z.B. der Geburt eines Kindes, in eine Dreierbeziehung einmündet, welche die Exklusivität des Liebespaares dadurch relativiert, dass es gleichzeitig strukturell zum Elternpaar des Familiensystems mit der zunehmenden Zentrierung auf das Kind mutiert (vgl. Nave-Herz 2002; Meyer in Geißler 2014, 443ff.). Zudem ist klar, dass dieses zu einem zukünftigen Zeitpunkt nicht mehr raumzeitlich dem System zugehört, sondern sich aus dem System entfernen wird. Die Zweierbeziehung des Liebespaares ist somit der strukturelle Kern der Intimbeziehung, die im idealtypischen Fall nur qua Tod beendet wird und somit das Single zurücklässt, was dann in der Altersphase zur Singularisierung (vgl. Meyer in Geißler 2014, 436) führt. Erwähnt sei noch, dass bei zu exklusiven und dauerhaften Interaktionssystemen, z.B. längeren Ehen, das Risiko von Formen der Kommunikation emergieren kann, die die Eigenkomplexität des Erlebens und Handelns der beteiligten psychischen Systeme zu stark blockieren bzw. reduzieren. Zu strikte Typisierungen im Kontext lang andauernder Zweierbeziehungen können dementsprechend die an ihnen beteiligten Bewusstseinssysteme an einer freien Kommunikation ihrer Ansprüche und Selbstdarstellung als Personen hindern. Aufgrund der nichtkommunizierten Bewusstseinsüberschüsse kann es somit entweder zur Dauermonotonie, pathologischen Abhängigkeiten oder zur Gewaltkommunikation und Trennung kommen, wenn sich die Bewusstseinsüberschüsse in einer Konfliktkommunikation entladen, die nicht mehr durch die beteiligten Personen entschärft werden kann. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, diesen negativen Entwicklungen durch eine doppelte Offenheit im Sinne der Öffnung von Systemgrenzen einerseits und offener Kommunikation der Paarbeziehungen anderseits zu begegnen. Das Risiko dieser mit der Semantik der »Offenen Ehe« verknüpften Entkopplung von der Exklusivität der Semantik der romantischen Ehe besteht dabei in der Öffnung und/oder Substitution der Zweierbeziehung für oder durch Dritte (vgl. Leupold 1983, 315ff.). Wenn wir im Kontext von Paarbeziehungen von der strukturellen Blockierung von Tendenzen in Richtung Singularisierung einerseits bzw. Tertiarisierung andererseits sprachen, müssen wir dieses Statement noch weiter präzisieren. Die Liebessemantik tabuisiert Tendenzen der Singularisierung, wenn diese in Form des Narzissmus die Liebe gleichsam selbstreferentiell an die eigene Person zurückbindet und zur Selbstbefriedigung führt (vgl. Tyrell 1987, 575; vgl. Luhmann 2008, 45). Sexualität als symbiotischer Mechanismus, der den Körper in die Kommunikation einbindet, ist im Rahmen von Paarbeziehungen selbstverständlich (vgl. Luhmann 1982a, 32). Sie muss jedoch unter Latenzschutz bleiben, wenn sie den Partner/die Partnerin ausschließt. Individualisierung als Singularisierung ist bei Paarbeziehungen allein schon deshalb gegeben, weil die beteiligten psychischen Systeme sich – trotz der Close relationship – qua Bewusstsein und nicht qua Kommunikation reproduzieren (vgl. Luhmann 1995a). Sie können deshalb an das Bewusstsein, ja auch an den Körper des anderen, nur qua verbaler oder körperbetonter Kommunikation anschließen. Das Spezifische der Exklusionsindividualität in Bezug auf das Funktionssystem Intimbeziehungen, verstanden als Paarbeziehung, besteht dementsprechend darin, dass diese aufgrund der Höchstrele-
5. Interaktionen. Zweierbeziehungen in der fortgeschrittenen Moderne
vanz der an ihr als soziales System beteiligten zwei Personen sowohl deren interne und externe Rollen mitthematisiert. An die Individualisierung können sich Negativsemantiken der Einsamkeit, des Alleinseins, der Isolation, des Nichtverstandenwerdens, des Unglücks ebenso ankristallisieren (vgl. Tyrell 1987, 577 u. 579–581) wie Positivsemantiken der Zweisamkeit, welche der Individualität der beiden Personen durch wechselseitige Akzeptanz der Einzigartigkeit, des Höchstgefühls, der exklusiven Relevanz des Du und des Verstandenwerdens Tribut zollen (Tyrell 1987, 577). Beide Semantiken werden qua Intimkommunikation vermittelt und Hinterlassen im Erleben der psychischen Systeme ihre entsprechenden Effekte (vgl. Beck 1986, 187–188). Die manifeste Form der Singularisierung, die lange Zeit sozialstrukturell blockiert, in den letzten Jahrzehnten aber zunehmend als Möglichkeit bewusstwurde (vgl. Hradil 1995; Peuckert 2012, 77ff.), ist die der freiwilligen oder unfreiwilligen Realisierung der dauerhaften sozialräumlichen Trennung. Die Inklusion ins System der Paarbeziehung als Person wird damit aufgekündigt. Während die Singularisierung also die reziproke exklusive Relevanz des Alter Ego durch die Selbstgenügsamkeit des eigenen Egos substituiert und damit die Paarbeziehung als Sozialsystem auflöst, besteht eine zweite Form der strukturellen Blockierung der Paarbeziehung darin, dass sie nicht in eine Triade transformiert werden kann und soll, wenn dieser einer der beiden Personen der Paarbeziehung nicht zustimmt. Ein unerwünschtes Kind ist dann ebenso eine Gefahr für die Stabilität der Paarbeziehung wie ein zusätzlicher ungewollter dritter Partner (vgl. Tyrell 1987, 583ff.). Das ausgeschlossene Dritte gilt hier ebenso wie das ausgeschlossene Single-Dasein als konstitutiv für den Fortbestand der Zweierbeziehung. Wir können also im Hinblick auf Paarbeziehungen als einer Form der gleichberechtigen Zweierbeziehung davon sprechen, dass die Intimkommunikation strukturelle Beschränkungen sowohl in Richtung der Reduktion qua Singularisierung vorsieht. Somit die Realisierung einer Tautologie durch das Individuum verhindert, deren Paradoxie darin besteht, dass eine Differenz kommuniziert wird, die keine ist: »Ich bin ich«. Aber auch in Richtung einer Tertiarisierung, sofern damit die gleichberechtigten Exklusivitätsansprüche von einer weiteren Person zusätzlich zu den zwei Personen des Liebespaares verbunden sind. Die Singularisierung als Selbstgenügsamkeit des Individuums in Form der Monade und die Tertiarisierung in Form der Triade sind dann für das Sozialsystem Paarbeziehungen akzeptabel, wenn sie qua Intimkommunikation Resultat einer konsentierten Entscheidung sind. M.a.W. dauerhafte Systemtransformationen müssen durch die Systemmitglieder qua autonomer Konsensbildungsprozesse entschieden werden. Konstituiert die Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit das System-UmweltVerhältnis von Liebespaaren als Interaktionssystemen, dann spielt folglich für deren weitere Kommunikation und der durch ihre Reproduktion gegebenen Möglichkeit des Aufbaus von Systemstrukturen deren »quantitative Bestimmtheit« eine zentrale Rolle (vgl. Tyrell 1987). Es sind zwei Personen und nicht eine weniger oder eine mehr, die als wechselseitig zurechenbare Adressen ihre Sonderwelt generieren.
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5.3.2
Zweier- und Paarbeziehungen jenseits von Intimbeziehungen
Auf Zweier- und Paarbeziehungen trifft man auch jenseits von Intimsystemen. Man denke nur an das Eiskunstlaufpaar, den Zweier beim Rudern, Bobfahren und Rennrodeln, das Synchronspringen, das Mixed oder Doppel beim Tennis, Tischtennis und Beachvolleyball im Sport, das Tanzpaar oder Satirepaar im Kunstsystem, die Partnerschaften in Geschäftsbeziehungen der Wirtschaft oder bei Anwaltskanzleien des Rechtssystems, aber auch die Gruppenarbeit zu zweit als Schüler oder Studierende im Bildungssystem, die Präsentation der Fernsehnachrichten als Moderator und Nachrichtensprecherin in den Massenmedien oder die gemeinsame Schicht von Polizisten im Streifenwagen im Kontext der Sicherung der rechtsstaatlichen Ordnung. Bei all den angeführten Beispielen von Paarbeziehungen spielt die quantitative Reduktion auf zwei beteiligte Personen eine zentrale Rolle. Sie setzen zwar nicht das Engagement der ganzen Person unter Einschluss der Sexualität wie im Falle des Liebespaares voraus. Aber ohne die Anwesenheit der anderen Person ist die jeweilige programmspezifische Rollendurchführung qua primärer oder sekundärer Leistungsrolle entweder gar nicht oder zumindest nur sehr stark eingeschränkt realisierbar. Die Abwesenheit der einen von beiden Personen, sei es durch Verspätung, Krankheit oder andere Rollenverpflichtungen, z.B. als Eltern gegenüber den Kindern, führt dann dazu, dass die unmittelbare Interaktion erst gar nicht zustande kommen kann, da sie konstitutiv auf die Performance von zwei Personen, also eine Zweierbeziehung, angewiesen ist. Damit es nicht zu oft geschieht, dass das Interaktionssystem nicht zustande kommt und sich die jeweils anwesende Person durch die abwesende Person »im Stich gelassen« fühlt, müssen deshalb Vorkehrungen getroffen werden. Zum einen kann dies in Form von Verbreitungsmedien geschehen, die es ermöglichen und erfordern, via Handy, WhatsApp, Email etc. vorab und rechtzeitig die eigene Absenz mitzuteilen und sich dafür zu entschuldigen. Zum anderen besteht die Möglichkeit, die absente Person ad hoc durch eine dritte Person zu ersetzen. Ob sie realisierbar ist, hängt u.a. von der Wichtigkeit und Komplexität der rollenspezifischen Aufgabe für die Organisation ab, der Notwendigkeit sich für die gemeinsame Performance vorher abstimmen sowie einarbeiten zu müssen, von den Regeln der jeweiligen Organisation bzw. des Settings, in der die Interaktion stattfindet, d.h. ob sie eine Austauschbarkeit des Personals ohne weiteres erlauben, und ob dies von den bisherigen Personen der Zweierbeziehung erwünscht ist bzw. beeinflusst werden kann. Ob die Austauschbarkeit des Personals zu einer dauerhaften Lösung und damit zur Ersetzung der bestehenden Zweierbeziehung bzw. des Paares durch eine dritte Person wird, oder sich die bisherigen Personen der Zweierbeziehung für eine Single-Lösung statt Kontinuität der Zweierbeziehung entscheiden, ist wiederum davon abhängig, wie leicht oder schwer die rollenspezifischen Aufgaben alleine erfüllt werden können oder konstitutiv zwei Personen voraussetzen. So kann man die Mehrzahl der Sportarten außer den Mannschaftsspielsportarten als Individualsport betreiben. Demgegenüber ist es schwieriger, sich für Solotanz zu entscheiden und unrealistisch, das verpflichtende Gruppenreferat zu zweit als einzelner zu halten oder den Streifenwagen allein zu fahren.
5. Interaktionen. Zweierbeziehungen in der fortgeschrittenen Moderne
Erwähnt sei ferner, dass die angeführten Zweierbeziehungen im Gegensatz zur Zweierbeziehung des Liebespaares, das sich vor Dritten zurückzieht und diese weitgehend durch die Ausdifferenzierung einer Sonderwelt ausschließt, konstitutiv auf die Selbstdarstellung vor anwesendem Publikum angewiesen sind (vgl. Goffman 1983/1959). Die Dritten lassen sich dementsprechend zum einen in die komplementäre Rolle der Zuschauer und zum anderen in manchen Funktionssystemen wie im Sport in mindestens eine weitere Zweierbeziehung, die zu der bereits vorhandenen Zweierbeziehung hinzukommt, unterscheiden. Die beiden Zweierbeziehungen bzw. Paare setzen im Falle des Sports jeweils die gleiche Anzahl von Personen voraus und konkurrieren direkt gegeneinander um den Sieg als Präferenzwert des Sportcodes. Dabei wird der Wettbewerb als Interaktionssystem vorzeitig beendet, wenn sich eine Person der jeweiligen Zweierbeziehungen verletzt. Demgegenüber finden z.B. die Gruppenreferate zu zweit eher sequenziell und nicht zeitgleich im Unterrichts-oder Seminarraum statt. Das Publikum rekrutiert sich aus den Mitschülern und Mitstudierenden im Gegensatz zum Sportpublikum, das heterogener zusammengesetzt und nicht notwendigerweise mit den Personen der Zweierbeziehung bekannt ist. Das gleiche gilt für das Satireduo, das vor einem weitgehend unbekannten Publikum ohne kompetitiven Anspruch auftritt. Was die Transformation der angeführten Paarbeziehungen bzw. Zweierbeziehungen qua Erweiterung durch Dritte in Form einer Triade betrifft, ist sie weitgehend ausgeschlossen. Sie induziert nämlich entweder ungleiche Konkurrenzsituationen oder überkomplexe Wettbewerbsbedingungen wie im Falle des Sports und des Bildungssystems oder nur schwer realisierbare Durchführungsbedingungen aufgrund der zu hohen Personalkosten wie im Falle der Polizei, der Massenmedien und des Rechtssystems. Schließlich gilt es noch darauf hinzuweisen, dass die angeführten Paarbeziehungen ebenso wie Liebesbeziehungen symmetrisch strukturiert sind, d.h. die beiden Personen der Zweierbeziehungen gleichberechtigt sind. Das gilt sowohl für ihre individuellen Rechte als auch ihre individuellen Pflichten.
5.3.3
Asymmetrisch strukturierte Zweierbeziehungen
Zweierbeziehungen sind nicht notwendigerweise Paarbeziehungen, sofern man darunter eine Form der Egalität in Form der Gleichberechtigung, Symmetrie oder Partnerschaft der beteiligten Personen in ihren funktionssystemspezifischen Rollen als Adressstellen der Kommunikation versteht. Sie können auch als asymmetrische Beziehungen qua Rollenkomplementarität von primärer Leistungsrolle und Laienrolle als Arzt-Patient, Anwalt-Mandant, Beichtvater-Gläubige, Vorgesetzter-Untergebener, Lehrer-Schüler-Gespräch, Verkäuferin-Kunde etc. oder sekundäre Leistungsrolle und Laienrolle als Mutter/Vater-Kind auftreten (vgl. Hohm 2016, 145ff.; Stichweh 1988, 262. Im Gegensatz zu Burzan u.a. 2008, 32 halte ich die Gleichsetzung der Elternrolle mit der primären Leistungsrolle (=Berufsrolle) aus mehreren Gründen für falsch: der fehlenden zertifizierten Kompetenz, dem fehlenden monetären Entgelt, der fehlenden Zeitlimitierung). Besonders wichtig ist dabei, ob der jeweilige Adressat der Kommunikation im Kontext der Zweierbeziehung einen privilegierten Zugang aus der Perspektive von beiden hat, oder ob es nur für einen von beiden ein Privileg ist, mit dem anderen zu kommu-
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nizieren. Für Intimbeziehungen (Paare, Mutter-Kind, Vater-Kind, Freundschaften) gilt wohl ersteres. Jeder der beiden ist an der Anwesenheit des anderen interessiert und hat im Vergleich zu Dritten auch einen privilegierten Zugang. Demgegenüber zeichnen sich asymmetrische Zweierbeziehungen dadurch aus, dass einer von beiden bestimmen kann, wann und wie lange der andere seine Anwesenheit »genießen« kann, da sein Gegenüber durch je spezifische Bedarfe an ihn gebunden ist. Er muss gleichsam um Audienz oder Termine bitten. Insofern Zweierbeziehungen verdichtete Beziehungen in der Form darstellen, dass sie, solange sie als unmittelbare Beziehungen andauern, sehr oft eine wechselseitige körperliche Präsenz aufweisen, der sich beide Beteiligte nur schwer entziehen können, erfährt die Face-to-face-Beziehung hier ihre Exklusivität, da ein Abschweifen der Blicke sofort als Unaufmerksamkeit registriert werden kann. Die Konzentration auf das Gegenüber wird in einer Form gesteigert, wie sie andere Interaktionssysteme mit mehreren Teilnehmern nicht oder nur selten aufbauen können. Allerdings kann es sich bei asymmetrischen Zweierbeziehungen der rollenspezifisch Privilegierte eher leisten, die Konzentration auf sein Gegenüber vorübergehend dadurch zu unterbrechen, dass er einen Telefonanruf in dessen Gegenwart beantwortet, ein kurzes Gespräch mit einem die Zweierbeziehung störenden Kollegen führt oder Anweisung an seine Sekretärin erteilt. Zweierbeziehungen werden, wie wir sahen, wenn sie sich zu sehr ausdifferenzieren und verdichten, wie z.B. Liebespaare, von manchen Soziologen (vgl. Slater 1963) als sozial regressiv bezeichnet. Sie stellen dann eine Gefahr für anonyme Dritte bzw. den generalisierten Anderen dar, da sie die Spielregeln und Normen der Gesellschaft oder Organisationen durch Rückzug auf sich und ihre Sonderwelt unterlaufen. Dass dieses Unterlaufen auch in anderen Kontexten als dem der Liebespaare stattfinden kann, wird von Goffman (1981) bezüglich bestimmter Zweierkonstellationen in totalen Institutionen als besonderer Organisationssysteme behauptet. So schreibt er (ebd., 64): »Auch wenn solche Freundschaftspaare mitunter beinahe eine offizielle Anerkennung finden […], kann ein weitgehendes Engagement mit einer Art institutionellem InzestTabu belegt werden, welches das Paar davon abhalten soll, sich seine eigene Welt innerhalb der Anstalt zu schaffen.« Offensichtlich können, wie die angeführten Beispiel indizieren, bestimmte Typen von Zweierbeziehungen dazu tendieren, neue Erwartungen und Definitionen, ja ein neues Weltbild auszuhandeln, das mit dem der Umwelt konfligiert und die jeweiligen Kontrollen durch Dritte unterläuft. Asymmetrische Zweierbeziehungen werden an diesen Verselbständigungstendenzen schon allein dadurch gehindert, dass sie in der Regel durch die Eigenzeiten der jeweiligen Organisationen, in denen sie eingebettet sind, zeitlimitierter sind. Zudem ist besonders der mächtigere bzw. kompetentere von beiden, sprich der Inhaber der primären Leistungsrolle, weniger als der Leistungsnehmer in der Laienrolle auf eine Fortführung der Zweierbeziehung angewiesen. Das ist speziell dann der Fall, wenn letzterem keine Alternative oder nur durch größere Eigeninitiative eine Alternative zum Angebot des Leistungsanbieters zur Verfügung steht.
5. Interaktionen. Zweierbeziehungen in der fortgeschrittenen Moderne
5.3.4
Ausgeschlossene Dritte im Kontext unterschiedlicher Typen von Zweierbeziehungen
Zweierbeziehungen sind, wie bereits mehrfach erwähnt, als Interaktionssysteme soziale Systeme, die sich gegenüber der Umwelt qua Leitdifferenz Anwesenheit/Abwesenheit von zwei Personen ausdifferenzieren. Wenn in diesem Zusammenhang vom ausgeschlossenen Dritten die Rede ist, kommt es entscheidend darauf an, welche Beschränkungen der Anwesenheit von Dritten das Interaktionssystem bzw. die zwei an ihm beteiligten Personen strukturell aufbauen. Die extremste Variante der Exklusion von Dritten durch die Zweierbeziehung besteht darin, dass alle Dritten, unabhängig vom Grad der Bekanntheit/Unbekanntheit, temporär abwesend sind und in die Kommunikation nicht qua unmittelbarer raumzeitlicher Präsenz eingreifen können. Die Zugehörigkeit zur Zweierbeziehung beschränkt sich in den Fällen auf die beiden unmittelbar Anwesenden. Sucht man nach Beispielen für diesen Typus, dann fallen einem verschiedene Varianten von Zweierbeziehungen ein. Die zufällige Begegnung zweier Fußgänger abends nach Arbeitsende in einem Büroviertel der City einer Großstadt, in einem Park oder Waldstück. Das Liebespaar, das sich räumlich in seine Wohnung zurückzieht. Zwei Freundinnen oder Freunde, die sich zusammen an einem abgelegenen Ort aufhalten. Die Auto- oder Fahrstuhlfahrt zu zweit. Organisatorisch terminierte Formen von Zweierbeziehungen zwischen Inhabern von Leistungs-und/oder Laienrollen zwecks professioneller Beratung, Behandlung oder Therapie. Schaut man genauer hin, dann fällt auf, dass sich die erwähnten Zweierbeziehungen dahingehend unterscheiden lassen, ob die raumzeitliche Exklusion von Dritten von den an der Zweierbeziehung Beteiligten freiwillig oder unfreiwillig erzeugt wird, und ob sie zufällig oder organisiert zustande kommt. Je nachdem kann es dann sowohl zu unterschiedlichen Chancen, aber auch Risiken und Gefahren der Zweierbeziehung kommen und der Einbezug von Dritten erwünscht oder unerwünscht bzw. erwartet oder unerwartet sein. Der ausgeschlossene Dritte kann dementsprechend semantisch, je nach Relevanz und Freiwilligkeit/Unfreiwilligkeit der Zweierbeziehung für ihre Personen, als Störenfried, Schlichter oder Retter, Helfer, ja sogar Erlöser begriffen werden. •
•
Als Störenfried wird der hinzukommende Dritte immer dann von der jeweiligen Zweierbeziehung betrachtet, wenn die an ihr beteiligten beiden Personen die Anwesenheit eines Dritten als unerwünschte Unterbrechung ihrer laufenden Interaktion ansehen. Das kann bei Intimbeziehungen die Wahrnehmung von nur dem Paar vorbehaltenen körperbezogenen Handlungen sein, die den Dritten zum gewollten oder ungewollten Voyeur werden lassen. Und bei asymmetrischen Zweierbeziehungen wie Beratungs-, Behandlungs- und Therapiesettings die unbeabsichtigte Indiskretion eines hinzukommenden unerwünschten Dritten. Sofern die Fortführung der Zweierbeziehung durch die systemexterne Umwelt bedroht oder gefährdet wird, wird dem potenziellen Dritten eher die Funktion des Helfers, Retters oder gar Erlösers attribuiert. So werden zwei Kinder, die miteinander allein auf dem Spielplatz spielen und sich durch einen sie ansprechenden unbekannten Erwachsenen bedroht fühlen, sich schnellstmöglich von dem Spielplatz zu ent-
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•
fernen versuchen und nach Hilfe rufen. Das Gleiche gilt für Situationen, in denen zwei erwachsene Fußgängerinnen oder Spaziergängerinnen durch einen hinzukommenden Spaziergänger belästigt werden. Ähnliches geschieht in Situationen, in denen der Fahrstuhl länger stecken bleibt und die anwesenden zwei Passagiere, Dritte zwecks Abhilfe zu informieren versuchen, oder in denen der Fahrer und seine Beifahrerin bei einer Panne auf der Autobahn den ADAC zwecks Pannenhilfe per Telefon adressieren. Schließlich kann der Dritte auch die Rolle des freiwilligen oder unfreiwilligen Schlichters oder Mediators zugewiesen bekommen, wenn die Zweierbeziehung selbst riskant zu werden droht und zu einem Konfliktsystem mutiert (vgl. Messmer 2003; Hohm 2016, 68ff.). So kann ein zufällig vorbeilaufender Passant, den öffentlichen Streit zwischen zwei Personen einer Zweierbeziehung durch überlegene Physis oder zwingende Argumente zu schlichten versuchen. Ein sich schon länger im Konflikt befindliches Ehepaar kann die Hilfe eines Paartherapeuten in Anspruch nehmen. Oder der Vorgesetzte kann bei zwei sich streitenden Kollegen intervenieren.
Fragt man nach den strukturellen Mechanismen, die es ermöglichen, dass sich Zweierbeziehungen bilden können, die zu einer befristeten raumzeitlichen Exklusion von Dritten führen, so lassen sich die folgenden anführen: Je nach funktionssystemspezifischer Zugehörigkeit der Zweierbeziehungen generieren die Gebäude der entsprechenden Organisationen die infrastrukturelle Differenz von Innen/Außen, unterschiedlich zugängliche Etagen und Geschosse im Inneren sowie inklusive/exklusive Binnenräume durch offene/geschlossene Türen. Dritte werden folglich durch spezifische Raumkonstellationen der Büroräume, durch Zweibettzimmer in Hotels und Krankenhäusern, durch die Separierung der Vorstandsetagen etc. exkludiert. Dabei symbolisieren geschlossene Türen, manchmal zusätzlich unterstrichen durch ein Schild »Bitte nicht stören!«, die Bedeutsamkeit des räumlichen Rückzuges der Zweierbeziehung, z.B. einer Sprechstunde, der Herstellung der Darstellung eines Politikers vor einer Pressekonferenz, der Prüfung an einer Hochschule oder eines Einstellungsgesprächs. Im Kontext von Intimbeziehungen konstituiert sich das räumliche Arrangement zur Abgrenzung unerwünschter Dritter als geschützte Form eines Hauses oder einer Wohnung. Der Schutz wird durch die verschlossenen Türen indiziert und nachts zusätzlich durch heruntergelassene Rollläden. Innerhalb des Hauses oder der Wohnung fungiert die räumliche Binnendifferenzierung, etwa in Form des elterlichen Schlafzimmers, als Schutzzone des Elternpaares vor überraschender Präsenz der Kinder. Eine weitere Möglichkeit des räumlichen Rückzuges zu zweit besteht in Form des Aufenthaltes im Kontext abgelegener Freizonen – Wälder, unwegsames Gelände, schwer zugängliche Wanderwege –, wenn man so will durch Rückzug in die unzugänglicheren Teile der Natur. Dritte werden hier nicht durch bauliche Arrangements, sondern durch quasi-natürliche Arrangements exkludiert. Sieht man die räumlichen Arrangements auf einen Blick, so wird deutlich, dass Zweierbeziehungen ihre Grenzen gegenüber Dritten im Sinne einer räumlichen Exklusion in
5. Interaktionen. Zweierbeziehungen in der fortgeschrittenen Moderne
Abhängigkeit von den jeweiligen Funktionssystemen und ihren Raumzonen ziehen können und müssen. Dabei lassen sich die räumlichen Arrangements u.a. danach unterscheiden, wie nah oder fern die exkludierten Dritten sind, wie leicht oder schwer die Zugänglichkeit von Dritten zu den Raumzonen ist, in deren Kontext die Zweierbeziehungen stattfinden, und zu welchen Zeiten diese stattfinden. Klar ist ferner, dass die räumliche Exklusion von Dritten unterschiedlich respezifiziert wird. So verweisen die ausgeschlossenen Dritten nicht nur auf eine diffuse Zahl von anonymen Dritten, sondern sind, je nach funktionssystemspezifischer Zugehörigkeit der Zweierbeziehung, entweder rollenspezifisch typisierbar und/oder persönlich entlang der Differenz von bekannt/unbekannt identifizierbar. Man denke nur an Kollegen und oder das soziale Netzwerke der Personen der Zweierbeziehung außerhalb von Arbeitsorganisationen. Die Differenz von räumlicher Anwesenheit/Abwesenheit erfährt also ein Re-entry der ausgeschlossenen (abwesenden) Dritten in die Zweierbeziehung in der Form, dass die räumlich anwesenden Zwei diese Dritten in quantitativer und qualitativer Hinsicht kommunikativ unterschiedlich berücksichtigen müssen. Die diffuse und nahezu universelle räumliche Exklusion von Dritten (des generalized other von Mead) geht zugleich mit einer räumlichen Exklusion von je spezifischen Dritten einher, wie sie auf der Basis der Zugehörigkeit zu dem jeweiligen Funktionssystem erwartbar sind. In diesem Zusammenhang lässt sich das ausgeschlossene Dritte sowohl auf einen konkreten einzelnen Dritten beziehen als auch auf eine begrenzte Zahl ausgeschlossener Dritter im Sinne einer quantitativ eingrenzbaren und zugleich bekannten Menge bzw. Gruppe wie auch auf numerisch unbekannte Dritte. Die Differenzierung des qua räumlicher Arrangements ausgeschlossenen Dritten kann dementsprechend wie folgt präzisiert werden: •
• •
Ein einzelner konkreter Dritte, der entlang der Differenz bekannt/unbekannt als Person und entlang der Differenz Leistungs-/Laienrolle zugleich als besonderer Rollenträger identifiziert werden kann; eine begrenzte Zahl von konkreten Dritten, für die Ähnliches wie unter a) gilt; eine unbegrenzte Zahl von Dritten, die primär als Rollenträger typisiert werden.
Je nachdem um welchen Typ des ausgeschlossenen Dritten es sich handelt, variieren die Strategien der an der Zweierbeziehung beteiligten Personen, deren Exklusion aufrechtzuerhalten. So scheint es für sie normalerweise leichter zu sein, einen konkreten Dritten auszuschließen als eine unbegrenzte Zahl von ihnen, weil der Kontrollbedarf in diesem Fall weitaus komplexer ist. Allerdings indizieren Phänomene wie Stalking, dass es auch bei einer konkreten Person zu Grenzen des Ausschlusses kommen kann. Um einen weiterer Typus von Zweierbeziehungen handelt es sich bei denjenigen Fällen, bei denen ein konkreter Dritter als Anwesender hinzukommt, ohne dass deshalb schon von einer Triade in der Form gesprochen werden könnte, dass die System-Umwelt-Differenz und damit die Grenzziehung der Zweierbeziehung durch den anwesenden konkreten Dritten unterlaufen würde.
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Grob lässt sich hier zwischen solchen konkreten Dritten unterscheiden, die entweder unfreiwillig oder freiwillig als Anwesende zum System der anwesenden Zweierbeziehung hinzutreten. Man denke hier z.B. an eine Bedienung im Restaurant, an einen Zuhörer bzw. Zuschauer in einem Zugabteil, an einen Mitwartenden im Wartezimmer eines Arztes, an einen ab einer bestimmten Gebäudeetage zusteigenden und mitfahrenden Fahrstuhlpassagier etc. Der konkrete Dritte beeinflusst zwar durch seine pure räumliche Anwesenheit die Kommunikation der Zweierbeziehung, z.B. in Bezug auf die Selektion der Themen. Er wird aber dadurch nicht Mitglied einer durch die Zweierbeziehung freiwillig initiierten Triade, sondern bleibt Nichtmitglied der Zweierbeziehung, für die er die Funktion des anwesenden Abwesenden als unfreiwilligen Zuhörers oder Zuschauers zudiktiert bekommt, z.B. durch zwei Kollegen, die sich nach der Arbeit zum Essen verabredet haben, ein küssendes Liebespaar, ein auf den Arzt wartendes Ehepaar, zwei sich im Fahrstuhl unterhaltende Kunden eines Warenhauses etc. (vgl. Hirschauer 1999). Es gehört gleichsam zur Interaktionsmoral (vgl. Goffman 1971 [1955], 14ff.), sich als Bedienung im Restaurant, als Mitfahrer im Zug oder Fahrstuhl, Patient im Wartezimmer etc. wie eine nichtadressierbare Unperson zu verhalten (vgl. Goffman 1983 [1959], 138ff.; Luhmann 1995d, 148–149), solange die Personen der Zweierbeziehung keine explizite Kommunikationsofferte machen. Anders ist die Konstellation beim freiwilligem Hinzuziehen von Dritten durch ein Paar. Hier können sich temporäre Triaden als Interaktionssysteme ausdifferenzieren, die bewusst von den Mitgliedern der Zweierbeziehung erwünscht sind. Man denke nur an die erste Einladung an einen Nachbarn zur Begrüßung nach einem Umzug, die Geburtstagsfeier der Eltern mit ihrem an einem anderen Ort studierenden Kind, die Bitte von zwei Kollegen an einen an ihrem Tisch vorbeilaufenden Kollegen, sich zu ihnen in der Mensa zu setzen, das Mitnehmen eines Hitchhikers, der an einer Raststätte steht, durch ein Urlaubspaar etc. Bevor wir ein Fazit ziehen, wollen wir noch kurz einige Anmerkungen zur Zeitdimension in Bezug auf die Entkopplung der Zweierbeziehungen von Dritten hinzufügen. Bei ihrer Einbettung in Organisationen ist deren Eigenzeit neben der Raumdimension von zusätzlicher Relevanz. Ihre Zeitpläne entscheiden darüber, ob und wieviel Dritte sich im Gebäude befinden oder nicht. So kann es bestimmte Zeiten geben, zum Wochenende, abends oder nachts, zu denen außer den anwesenden Zweien keine dritten Personen im Hause sind. Man denke etwa an Überstunden im Büro, an ein Einbrecher-Duo, eine Beichte in einer ansonsten leeren Kirche, an zwei Putzfrauen, die abends die Räume säubern, an zwei Wachmänner, die Streife in einem Gebäude gehen, an ein Paar, das allein in der Kirche sitzt etc. In all diesen Fällen müssen gewisse Arrangements bezüglich der Anwesenheit unerwünschter Dritter nicht getroffen werden, da die ungewöhnlichen Zeiten, z.B. Ende der Arbeitszeit oder Ende der Öffnungszeiten, die Anwesenheit von Dritten höchst unwahrscheinlich machen. Demgegenüber ist während der Arbeitszeiten davon auszugehen, dass Dritte die jeweilige Zweierbeziehung bzw. ihre Interaktion eher durch ihre Anwesenheit unterbrechen können. So kann ein Kollege an die Bürotür oder Tür eines Seminarraums klopfen, um den beiden Kollegen, die dort gerade zusammenarbeiten oder als Team unterrichten, etwas Wichtiges mitzuteilen, oder sich bei ihnen nach Informationen zu erkundigen,
5. Interaktionen. Zweierbeziehungen in der fortgeschrittenen Moderne
die keinen Aufschub dulden. Auch kann es vorkommen, dass ein Dritter aus Versehen eine laufende Interaktion einer Zweierbeziehung stört, indem er die Tür eines Raumes öffnet, von dem er dachte, dass sich dort keine Personen befinden, weil Mittagspause sei, oder weil er sich als neuer Kollege oder Klient noch nicht hinreichend mit den Organisationszeiten und ihrer Kopplung mit den jeweiligen Räumen vertraut gemacht hat. Schließlich kann es Termine mit dem Vorgesetzten geben, bei denen die Kooperation zu zweit, gemeinsam evaluiert wird. All die erwähnten Beispiele lassen sich als der Versuch begreifen, Zweierbeziehungen auch dann als konstantes Interaktionssystem durchzuhalten, wenn Dritte, sei es freiwillig oder unfreiwillig, als räumlich Anwesende hinzutreten. Diese Dritte können dann, je nachdem als Laien die komplementären Rollen von unfreiwilligen Zuhörern oder Zuschauern einnehmen, als Kollegen oder Vorgesetzte die Fortdauer der Zweierbeziehung temporär unterbrechen, aber auch in abstraktester Form als anonymes Publikum auftreten.
5.4 Fazit Inwieweit es den Zweierbeziehungen gelingt, Dritte auszuschließen oder selektiv hinzuziehen, hängt nicht zuletzt auch von der Form bzw. dem Typ ab, den sie repräsentieren. Dazu wollen wir abschließend nochmals an folgende Typendifferenzierung erinnern: 1. Zweierbeziehungen können als symmetrisch konstituierte Intimbeziehungen die Form von Paarbeziehungen annehmen, sich aber auch jenseits von diesen im Kontext von anderen Funktionssystemen als symmetrisch strukturierte Paare ausdifferenzieren, z.B. als Paar im Sport, Tanzpaar, Künstlerpaar, therapeutisches, pädagogisches Paar etc. 2. Zweierbeziehungen können jedoch auch als asymmetrisch ausdifferenzierte Interaktionssysteme in Form der Komplementarität von an jeweils nur eine Person gebundene primäre Leistungs- und Laienrolle auftreten, z.B. als Arzt-Patient, AnwaltMandant, Beichtvater-Glaubender, Therapeut-Klient im Kontext professioneller Beziehungen oder personengebundener Dienstleistungen. 3. Zweierbeziehungen können sich als organisierte Interaktionssysteme über eine längere Dauer trotz Unterbrechungen reproduzieren. Sie können aber auch zufällig und einmalig zustande kommen, wie überall dort, wo es sich um Wartezeiten bzw. Zwischenzeiten – Fahrstuhlfahrt, Zugfahrt, Wartezimmer aller Art – handelt. 4. Zweierbeziehungen können auf wechselseitiger freiwilliger Zugehörigkeit durch Selbstselektion der Personen basieren, z.B. Liebespaare, Freundespaare, Tanzpaare, Sportlerpaare. Zweierbeziehungen können aber auch durch unfreiwillige Zugehörigkeit der Beteiligten entweder als Resultat von Organisationsentscheidungen oder als Ergebnis der Notwendigkeit der Fremdhilfe durch Professionelle entstehen. So zum einen im Falle der Zuweisung eines Krankenhauspatienten in ein Zweibettzimmer bei Personal- und Raumknappheit, qua Platzierung neben einer fremder Person im Zug, Flugzeug, Reisebus, Stadion, Restaurant etc., im Falle einer vorübergehenden Zusammenarbeit mit einem unbekanntem Kollegen wegen des
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5. Interaktionen. Zweierbeziehungen in der fortgeschrittenen Moderne
die keinen Aufschub dulden. Auch kann es vorkommen, dass ein Dritter aus Versehen eine laufende Interaktion einer Zweierbeziehung stört, indem er die Tür eines Raumes öffnet, von dem er dachte, dass sich dort keine Personen befinden, weil Mittagspause sei, oder weil er sich als neuer Kollege oder Klient noch nicht hinreichend mit den Organisationszeiten und ihrer Kopplung mit den jeweiligen Räumen vertraut gemacht hat. Schließlich kann es Termine mit dem Vorgesetzten geben, bei denen die Kooperation zu zweit, gemeinsam evaluiert wird. All die erwähnten Beispiele lassen sich als der Versuch begreifen, Zweierbeziehungen auch dann als konstantes Interaktionssystem durchzuhalten, wenn Dritte, sei es freiwillig oder unfreiwillig, als räumlich Anwesende hinzutreten. Diese Dritte können dann, je nachdem als Laien die komplementären Rollen von unfreiwilligen Zuhörern oder Zuschauern einnehmen, als Kollegen oder Vorgesetzte die Fortdauer der Zweierbeziehung temporär unterbrechen, aber auch in abstraktester Form als anonymes Publikum auftreten.
5.4 Fazit Inwieweit es den Zweierbeziehungen gelingt, Dritte auszuschließen oder selektiv hinzuziehen, hängt nicht zuletzt auch von der Form bzw. dem Typ ab, den sie repräsentieren. Dazu wollen wir abschließend nochmals an folgende Typendifferenzierung erinnern: 1. Zweierbeziehungen können als symmetrisch konstituierte Intimbeziehungen die Form von Paarbeziehungen annehmen, sich aber auch jenseits von diesen im Kontext von anderen Funktionssystemen als symmetrisch strukturierte Paare ausdifferenzieren, z.B. als Paar im Sport, Tanzpaar, Künstlerpaar, therapeutisches, pädagogisches Paar etc. 2. Zweierbeziehungen können jedoch auch als asymmetrisch ausdifferenzierte Interaktionssysteme in Form der Komplementarität von an jeweils nur eine Person gebundene primäre Leistungs- und Laienrolle auftreten, z.B. als Arzt-Patient, AnwaltMandant, Beichtvater-Glaubender, Therapeut-Klient im Kontext professioneller Beziehungen oder personengebundener Dienstleistungen. 3. Zweierbeziehungen können sich als organisierte Interaktionssysteme über eine längere Dauer trotz Unterbrechungen reproduzieren. Sie können aber auch zufällig und einmalig zustande kommen, wie überall dort, wo es sich um Wartezeiten bzw. Zwischenzeiten – Fahrstuhlfahrt, Zugfahrt, Wartezimmer aller Art – handelt. 4. Zweierbeziehungen können auf wechselseitiger freiwilliger Zugehörigkeit durch Selbstselektion der Personen basieren, z.B. Liebespaare, Freundespaare, Tanzpaare, Sportlerpaare. Zweierbeziehungen können aber auch durch unfreiwillige Zugehörigkeit der Beteiligten entweder als Resultat von Organisationsentscheidungen oder als Ergebnis der Notwendigkeit der Fremdhilfe durch Professionelle entstehen. So zum einen im Falle der Zuweisung eines Krankenhauspatienten in ein Zweibettzimmer bei Personal- und Raumknappheit, qua Platzierung neben einer fremder Person im Zug, Flugzeug, Reisebus, Stadion, Restaurant etc., im Falle einer vorübergehenden Zusammenarbeit mit einem unbekanntem Kollegen wegen des
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
krankheitsbedingten Ausfalls eines Arbeitskollegen etc. Und zum anderen durch das notwendige Aufsuchen eines Arztes, Anwaltes, Therapeuten etc. im Falle der Grenzen der individuellen Selbsthilfe. 5. Zweierbeziehungen können zu Konfliktsystemen mutieren und sich durch Negativintegration reproduzieren, bis eine der beteiligten Personen das System verlässt oder verlassen muss. Man denke z.B. an die Trennung eines Liebespaares oder die Scheidung eines Ehepaares. Die Konfliktsysteme können jedoch auch der Take-off für das Hinzuziehen von professionellen Dritten als Therapeuten, Mediatoren oder juristischen Akteuren des Dispute Resolution sein, durch die sich den Zweierbeziehung neue Möglichkeiten der konstruktiven Restabilisierung erschließen. 6. Deutlich wird mithin, dass Zweierbeziehungen ihre Stabilität als Interaktionssysteme dann erreichen, wenn sie es vermeiden können, dass die beteiligten Personen weder für die Singularisierung noch die Tertiarisierung als attraktiveren Alternativen zum Zusammenleben zu zweit, der Arbeit als Team, dem Sport als Paar, aber auch der Diskretion und dem Vertrauen von asymmetrisch strukturierten professionellen personengebundenen Dienstleistungen optieren.
6. Kommunen
6.1 Die Kommune als lokales Gesamtsystem: eine systemtheoretisch vergleichende Verortung 6.1.1
Einleitung
Kommunen werden in der Systemtheorie eher peripher thematisiert (vgl. Stichweh 1998; Nassehi 2002; Hohm 2003; Hohm 2011). Wir wollen im Folgenden zunächst kurz zwei verschiedene Möglichkeiten des Vergleichs von Kommunen thematisieren. Danach im Hauptteil die Kommune als Sozialsystem der modernen Gesellschaft anhand eines interkommunalen Vergleichs betrachten, indem wir der Frage nachgehen, was für ein Sozialsystem die Kommune aus systemtheoretischer Perspektive repräsentiert. Ferner die Funktion der Kommune erörtern, des Weiteren die kommunikative Reproduktion der Kommune und ihre Leitdifferenz sowie Differenzierungsformen behandeln. Daran anschließend Aspekte des intrakommunalen Vergleichs vorstellen, bevor wir unsere Ausführungen mit einem Fazit beenden.
6.1.2
Vergleich von Kommunen
Kommunen können zunächst auf der abstraktesten Ebene in Bezug auf ihre Gesamtheit, also in ihrer empirischen Mannigfaltigkeit als lokale Sozialsysteme der Weltgesellschaft (vgl. Hohm 2016, 64ff.; Luhmann 1997b, Bd.2; Stichweh 2000), miteinander verglichen werden. Der intersystemische bzw. interkommunale Vergleich bezieht sich dabei auf die Einschließung der weltweit hunderttausendfach vorkommenden Kommunen in das umfassendste Sozialsystem: die Weltgesellschaft. Wir können sie auch als Relation der Mikroebene Kommunen als Kollektivsingular zur Makroebene Weltgesellschaft, die als einziges Sozialsystem singulär vorkommt, bezeichnen. Die zentralen Fragestellungen lauten dann: Wie ist die Relation von Globalisierung und Kommunalisierung? Inwieweit unterscheiden sich die Kommunen im Kontext der unterschiedlichen Regionen der Weltgesellschaft, z.B. der sogenannten Ersten, Zweiten und Dritten Welt? Welche Rolle spielt dabei die Urbanisierung im Kontext der Metropolen oder Ballungszentren im Vergleich zur Peripherie der kleineren Kommunen? Wie
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lässt sich die empirische Mannigfaltigkeit von Kommunen differenzierungstheoretisch und typologisch verorten? Inwieweit manifestieren sich gesamtgesellschaftliche Konflikte auf der Mikroebene der Kommunen, und welche Konsequenzen haben sie für die Inklusion/Exklusion ihrer Bevölkerung? Auf einer mittleren Ebene des Vergleichs kann man entweder die jeweiligen Kontinente bzw. ihre supranationalen Zusammenschlüsse wie die EU oder Nationalgesellschaften wie Deutschland zum Bezugspunkt des Vergleichs machen. Zusätzlich zur Globalisierung lassen sich dann die Relationen der Europäisierung oder nationalstaatlichen Zentralisierung/Föderalisierung zur Kommunalisierung thematisieren. Auch hier kann man die bereits im Kontext der Weltgesellschaft erwähnten Fragen als Grundlage des Vergleichs heranziehen. Schließlich lassen sich Kommunen jedoch auch als je einzeln vorkommende Sozialsysteme in ihrer kommunikativen Reproduktion und Binnendifferenzierung im Unterschied zu ihrer jeweiligen Umwelt beobachten. Die Perspektive ist hier die des intrakommunalen Vergleichs hinsichtlich der Vergangenheit und Zukunft einzelner Kommunen im Kontext jeweiliger Gegenwarten der Moderne oder Vormoderne, wenn man z.B. exemplarisch an Städte wie Rom, Athen, Köln, Jerusalem oder Istanbul denkt. Wir werden uns im Folgenden hauptsächlich auf die ersten beiden Perspektiven des Vergleichs (a und b) konzentrieren, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit bezüglich der Beantwortung der von uns aufgeworfenen Fragen zu erheben.
6.1.3
Die Kommune als Sozialsystem der modernen Gesellschaft
6.1.3.1
Was für ein Sozialsystem ist die Kommune?
Eine erste wichtige, systemtheoretisch inspirierte Frage lässt sich wie folgt formulieren: Ist die Kommune ein Sozialsystem, das gleichsam als Mikrosystem bzw. in Form eines kleinförmigen Sozialsystems das funktionale Äquivalent für das Makrosystem nationale Gesamtgesellschaft darstellt, die wiederum im Hinblick auf die Weltgesellschaft einen Mesobereich repräsentiert? Anders gefragt: vernachlässigt die Systemtheorie, wenn sie zwischen Interaktion, formaler Organisation und Gesellschaft als Sozialsystemen unterscheidet (Luhmann 1975a), nicht Systemtypen wie Gruppen (Tyrell 1983), Schichten, Klassen (Luhmann 1985) einerseits und primär räumlich abgegrenzte Sozialsysteme, wie Kommunen, Länder, Nationen, Kontinente, andererseits? Noch anders gefragt: Sind diese Einheiten vielleicht ähnlich nachrangig oder überholt wie die o.g. Einheiten für die Systemtheorie (vgl. Luhmann 1985, 150ff.), wenn ihre Tauglichkeit für die soziologische Analyse der Gegenwartsgesellschaft auf dem Prüfstand steht, oder können sie von der funktionalstrukturellen Systemtheorie bzw. der Theorie autopoetischer Sozialsysteme produktiv integriert werden? (vgl. zum Folgenden ausführlicher Hohm 2011, 13ff.). Geht man von der üblichen systemtheoretischen Verortung der Luhmannschen Systemtheorie aus, lässt sich die Kommune nicht als einfaches Interaktionssystem begreifen, fehlt ihr doch die Präferenz für Anwesenheit als entscheidendes Grenzkriterium. So kann man sich die Kommunen weder als dauerhaft organisierte Großinteraktion aller anwesenden Bewohner vorstellen noch als zufällig zustande gekommene Interaktion all ihrer Einwohner. Ist es im letzteren Fall extrem unwahrscheinlich, dass sich tau-
6. Kommunen
sende von Einwohnern, ja selbst hunderte ohne organisierte Anwesenheit begegnen. So ist es selbst bei dieser, wie im ersten Fall, höchstunwahrscheinlich anzunehmen, dass die Einwohner es sich leisten können, ihre für die moderne Gesellschaft typische multiple Rollenvielfalt auf eine einzige dauerhafte Rolle zu reduzieren. So müssen die Repräsentanten der Kommunen durchaus mit Repräsentanten anderer Kommunen in ihrer gesellschaftsinternen Umwelt kommunizieren, um bestimmte Probleme interkommunal zu lösen. Weisen Kommunen Partnerschaften in allen Kontinenten auf, was mit entsprechenden vorübergehenden Absenzen der jeweiligen kommunalen Akteure verbunden ist. Und sind ihre Einwohner in vielerlei Hinsicht täglich als Arbeitnehmer, Studierende, Schüler, Kunden, Sportler etc. mobil und als Pendler absent, weil sie ihren Rollenverpflichtungen in jeweils anderen Orts- oder Stadtteilen der gleichen Kommune oder anderen Kommunen nachgehen müssen. Kommunen sind auch nicht identisch mit einer einzigen formalen Organisation als Entscheidungssystem und deren rollenspezifischer Grenzziehung durch Mitgliedschaft/ Nichtmitgliedschaft. Zwar trifft das kommunale politisch-administrative System permanent Entscheidungen, es wäre aber eine zu starke Simplifizierung der Eigenkomplexität von Kommunen, würde man sie mit dem politisch-administrativen System gleichsetzen. Zum einen beschränken sie sich nicht auf den lokalen Funktionsbereich der Politik. Zum anderen werden auch im Kontext anderer lokaler Funktionsbereiche Entscheidungen getroffen: in der Schule, den Unternehmen, den Verkehrsbetrieben, den Sportvereinen, Museen und Theatern etc. Schließlich finden auch in allen lokalen Funktionsbereichen flüchtige und organisierte Interaktionen statt. So trifft man durch Zufall seinen Nachbarn im Stadion, beim Shoppen oder in der Kirche, oder besucht die gleiche Gruppe in der Kita vor Ort, geht zum gleichen Unterricht in die Schule vor Ort und arbeitet in der gleichen ortsansässigen Bank, Schule oder Bäckerei. Kommunen sind aber auch nicht identisch mit den global sich verbreiteten gesellschaftlichen Funktionssystemen der Weltwirtschaft, des Weltverkehrs, der weltweiten Wissenschaft, den weltweiten Medien, Weltreligionen, dem Weltsport etc. Eine Gleichsetzung der lokalen Funktionsbereiche der Kommunen mit den jeweiligen globalen Funktionssystemen entspräche einer Entdifferenzierung der kommunalen und globalen Ebene. Obwohl die lokalen Funktionsbereiche mit den globalen Funktionssystemen strukturell gekoppelt sind, ist die Weltwirtschaft nicht identisch mit der lokalen Wirtschaft, die Weltmeisterschaft nicht mit der Stadtmeisterschaft und der Fernverkehr nicht mit dem Nahverkehr. Das gilt selbst für das in manchen Territorien der Nationalstaaten beobachtbare interkommunale Zusammenwachsen in Form von Metropolregionen bzw. Agglomerationszentren. Die Kommune scheint sich also auf den ersten Blick der systemtheoretischen bzw. differenzierungstheoretischen Architektonik von Sozialsystemen nicht zu fügen. Will man sie gleichwohl als Sozialsystem verorten, dann käme sie am ehesten für einen noch nicht erwähnten Systemtyp: der Gesamtgesellschaft auf der Mikroebene in Frage. Die Kommune ist dabei jedoch nicht mit der jeweiligen Nationalgesellschaft, einer der kontinentalen transnationalen Gesellschaften oder der Weltgesellschaft identisch. Sie unterscheidet sich von ihr allein schon dadurch, dass sie in hunderttausendfacher
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Form als Stadtgesellschaft bzw. Gemeindegesellschaft vorkommt, lokal begrenzt und als solche durch Ausschluss in sie eingeschlossen ist. Eine Bestimmung der Kommune als lokales Gesamtsystem könnte dann zunächst an die alte Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft (Tönnies 2005/1887) anknüpfen. Die Kommune repräsentierte im Sinne einer affektiv besetzten sozialen Einheit, wie sie am ehesten durch den Heimatbegriff zum Ausdruck kommt, die Gemeinschaft im Gegensatz zur Gesellschaft. Allerdings gilt diese Gleichsetzung der Kommunen nur für kleinere Gemeinden, in denen noch das Gesetz des Wiedersehens und der sozialen persönlichen Kontrolle umfassend wirksam ist. Für Großstädte hingegen mit ihrer Unpersönlichkeit, Anonymität und Fluidität bzw. ihrer Mischung aus Blasiertheit und Reserviertheit sowie Bewegungsfreiheit des großstädtischen Individuums (vgl. Simmel 2006/1903, 19ff.; 23ff.; 42ff.) ist das Gemeinschaftsgefühl eher rückläufig. Der Begriff der Stadtgesellschaft drückt dies am angemessensten aus. Das heißt jedoch nicht, dass sich bestimmte Teile der urbanen Bevölkerung nicht ebenso mit ihrer Stadt identifizieren können wie die Bewohner von Dorfgemeinschaften. Man denke nur an die kollektive Euphorie der Großstädter bei supralokalen individuellen oder kollektiven Erfolgen von Mitbürgern und Mitbürgerinnen im Sport, in der Kunst, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik etc. Aber auch die selbstselektive affektive Bindung an die jeweilige Stadt durch die in den einzelnen Phasen des Lebenslaufs aufgebauten soziale Netzwerke vor Ort und die mit ihnen verknüpfte Fülle von Ereignissen im Kontext der jeweiligen lokalen Funktionsbereiche.
6.1.3.2 Die Funktion der Kommune Man kommt der genaueren systemischen Bestimmung der Kommune als einem besonderen Sozialsystem ein Stück näher, wenn man die Frage zu beantworten versucht, weshalb es nicht reicht, dass es nur eine einzige Kommune in Analogie zur umfassenden und singulären Weltgesellschaft gibt. Die Antwort auf diese Frage lautet: Kommunen sind die einzigen Sozialsysteme, die die Gesamtbevölkerung als Kollektivsingular, sprich weltweit in hunderttausendfacher Form, voll nahräumig zu inkludieren beanspruchen. (Eine einzige Megakommune würde gerade die Funktion des nahräumigen Zugangs nicht erfüllen können, wären doch die Entfernungen viel zu weit. Zudem würde sie die Frage aufwerfen, worin sie sich von der Weltgesellschaft unterscheidet). In der Sozialdimension bedeutet dies, dass diejenigen Personen, Rollenträger oder Organisationen als Adressaten von Kommunikationen präferiert werden, die lokal zurechenbar sind, während die nichtlokalen Adressaten zunächst einmal der Umwelt zugerechnet werden. In der Sachdimension impliziert das, dass lokalen Themen der Vorrang gegenüber nichtlokalen Themen eingeräumt wird. In der Zeitdimension wird der Lokaltermin gegenüber dem nichtlokalen Termin präferiert. Und schließlich stellt die Raumdimension eine gewisse Führungsdimension in dem Sinne dar, dass die Sozial-, Sachund Zeitdimension nur dann kompatibel mit der lokalen Kommunikation sind, wenn sie sich auf den lokalen Raum der Kommune beziehen. Das Sozialsystem Kommune erfüllt also eine gesamtgesellschaftliche Funktion, da die funktionale Differenzierung der Gesamtgesellschaft immer auch an sozialräumli-
6. Kommunen
che Voraussetzungen ihrer funktionssystemspezifischen Realisierung durch lokale Zugangschancen der Individuen gebunden ist.
6.1.3.3 Zur kommunikativen Reproduktion der Kommune, Leitdifferenz lokal/nichtlokal und sozialräumlichen Inklusion der Einwohner Das Sozialsystem Kommune reproduziert sich dementsprechend durch lokale Kommunikation, die sich an der Leitdifferenz lokal/nichtlokal mit dem Präferenzwert lokal orientiert. Mit ihm geht ein Vorrang für den Nahraum im Gegensatz zum Fernraum einher. Die systeminterne Anschlusskommunikation wird aus der Sicht der kommunalen Selbstbeobachtung und -beschreibung erleichtert, wenn es um örtliche Kommunikation geht, und erschwert, wenn es um nichtörtliche Kommunikation geht. Das scheinbare Paradox des Wachstums von Städten mit ihrer Anonymität sowie dem »Disembedding« (vgl. Giddens 2009/1990, 21ff.) und des Rückgangs von Gemeinden mit ihrem Gemeinschaftsgefühl, der Vertrautheit und des »Embedding« lässt sich dann auflösen, wenn man zunächst einmal die Präferenz für Nähe der Raumdimension und nicht der Sozialdimension zuordnet. Damit ist gemeint, dass speziell die Metropolen und Großstädte das Allokationsproblem der Verteilung der Verteilung der Gesamtbevölkerung auf Kommunen durch einen nahräumigen Zugang zur supralokalen Vielfalt der Funktionssysteme am ehesten durch Multiinklusion zu lösen in der Lage sind. Die Präferenz für eine Kommunikation, die im Nahraum stattfindet, fällt jedoch nicht automatisch mit Provinzialität der Themen und/oder Adressaten zusammen. Wenn z.B. die Rede von den olympischen Spielen der kurzen Wege ist, dann wird hier beispielhaft deutlich, dass der lokale Nahraum mit Internationalität der Adressaten und Themen ebenso vereinbar ist wie die lokal konzentrierten Hallen im Kontext des Nahraums einer Buchmesse mit der Teilnahme von Verlagen, Schriftstellern und Besuchern aus aller Welt und ein Kunstmuseum oder ein Theater vor Ort mit einem internationalen Publikum. Die Leitdifferenz lokal/nichtlokal der Kommunen als Sozialsysteme ist um so bedeutsamer für die Gesamtgesellschaft, desto wahrscheinlicher sie in der Lage ist, den nahräumigen Zugang zu den Funktionssystemen für die Individuen, aber auch Organisationen zu garantieren. Den Siegeszug der Metropolen und Großstädte sowie des mit ihm konstitutiv verknüpften Prozesses der Urbanisierung kann man sich systemtheoretisch somit dadurch klarmachen, dass diese das Paradigma der Kopplung von lokaler Immobilität (Wohnen) und relativ problemloser (intra-)lokaler Mobilität qua nahräumlicher Erreichbarkeit der für eine angemessene Lebensführung notwendigen Angebotsvielfalt der Funktionssysteme und ihrer Subsysteme sowie Organisationen repräsentieren. Die im aktuellen Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verfassungsmäßig festgezurrte Idee der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse (Art.72 GG) basiert ja nicht ohne Grund auf dem Anspruch, dass die Entscheider der Gesamtgesellschaft, vor allem der Politik, die Funktionssysteme durch Raumplanung sozialräumlich so steuern sollten, dass deren lokale Einheiten annähernd gleich segmentiert sind. Die Einlösung des Prinzips der segmentären Differenzierung der Gesamtgesellschaft lässt sich folglich am ehesten daran ablesen, inwieweit die Kommunen in der Lage sind, die Leistungen der
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funktionsspezifischen Teilsysteme der Gesamtgesellschaft vor Ort zu garantieren. Oder, ob es zur Zwangsmobilität der Individuen infolge der reduzierten Anzahl lokaler Funktionsbereiche (keine weiterführende Schule, kein Supermarkt, kein Theater, keine Disco, kein Sportverein einer höheren Liga, kein Autobahnanschluss, kein Flughafen, keine Universität, keine Arztpraxis etc.) kommt. Das Paradox der Kommunen ist dementsprechend darin zu sehen, dass jede von ihnen, besonders die relevanten Entscheider der jeweiligen lokalen Funktionsbereiche, aus Eigeninteresse an einer Zunahme bestimmter Bevölkerungssegmente wie Facharbeiter, Unternehmer, Studierende etc. durch Zuzug (=Mobilität) interessiert sein muss, zugleich aber auch die Immobilität (=Ortsansässigkeit) bestimmter ihrer alteingesessenen Einwohner unterstützen muss. Dass dieser Mix aus Vergangenheit und Zukunft nicht immer konfliktfrei verläuft, wenn die Zahl der zugezogenen Personen in zu kurzer Zeit zu groß und für die Einheimischen zu fremd ist, lässt sich u.a. an den Konflikten zwischen diesen und den unterschiedlichen Gruppen von Migranten ablesen (vgl. aber auch die Fallstudie zur Ausgrenzung inländisch Zugezogener als Außenseiter durch die ortsansässigen Etablierten von Elias/Scotson 1990). Indem das Sozialsystem Kommune die Gesamtbevölkerung in Form der Rolle des Einwohners inkludiert, wird der Nichteinwohner zum Fremden, Gast, Pendler, Touristen, Außenseiter usw. Die Leitdifferenz lokal/nichtlokal wird also auf der Rollenebene zur Differenz von Einwohner/Nichteinwohner. Die Kommunen als Sozialsysteme reklamieren dementsprechend mit der Konstruktion der Einwohnerrolle den Anspruch, die gesamtgesellschaftliche Funktion der nahräumigen Inklusion jeweils qua exklusiver lokaler Verortung bzw. Zugehörigkeit eines unterschiedlich großen Teils der Gesamtbevölkerung als Population von Individuen zu erfüllen. Potenziell jedes Individuum ist damit Einwohner einer konkreten Kommune und zugleich Nichteinwohner aller anderen Kommunen. Der Slogan »Wir alle sind Ausländer« erfährt damit sein funktionales Äquivalent auf der lokalen Ebene durch den Slogan »Wir alle sind Nichteinwohner«. Gleichwohl gilt für beide Slogans der unausgesprochene Zusatz, wenn wir unsere Kommune oder Nation als Einwohner oder Inländer temporär oder im Extremfall auf Dauer qua freiwilliger oder (Zwangs-)Mobilität verlassen. Der Präferenzwert lokal indiziert damit gleichsam verschärfte Ansprüche der Kommune an die sozialräumliche Inklusion der Einwohner. Am deutlichsten wird dies qua Registrierung durch das Einwohnermeldeamt, die der jeweiligen konkreten Person eine lokale Identität verleiht, die sie qua Personalausweis überall mit hinnimmt und auf Nachfrage vorzeigen kann (vgl. Goffman 1970, 61ff.). Zugleich ist die Rolle des registrierten Einwohners aber auch in der Kommune mit bestimmten Einschränkungen der lebenslaufspezifischen Selektionsfreiheiten im Kontext der lokalen Funktionsbereiche verknüpft. So darf er im Grundschulalter nicht ohne Weiteres in jede beliebige Schule gehen, sondern muss die Schule vor Ort bzw. des Stadtteils besuchen; Gleiches gilt für die Kinderkrippe und den Kindergarten; wird er im Krankheitsfalle zunächst zum Krankenhaus vor Ort transportiert; muss dem Ortsverein beitreten, wenn er Mitglied einer Partei werden will; darf nur im entsprechenden Ortsteil wählen, wenn er nicht die Briefwahl vorzieht; wird vom Pfarrer vor Ort getauft, zur Kommunion begleitet und getraut; muss bei administrativen Angelegenheiten den Ortsbeirat kontaktieren; kann sich nicht überall problemlos beerdigen lassen etc.
6. Kommunen
Die Kommune als Sozialsystem erfüllt die gesamtgesellschaftliche Funktion der nahräumigen Inklusion des Individuums in Funktionssysteme mithin durchaus mit einer gewissen Restriktion der Selektionsfreiheiten seiner Einwohner. Diese Funktion können supralokale Einheiten – wie das Bundesland, die Nation, transnationale Zusammenschlüsse oder globale Organisationen der Weltgesellschaft – den Kommunen nicht abnehmen, wenngleich sie sie mit unterschiedlichen Programmen zu steuern und beeinflussen versuchen. Die sozialräumliche Inklusion qua Rolle als Einwohner und Gemeindebürger unterscheidet sich also von den anderen raumbezogenen Rollen des Bürgers als Hesse (oder Bürger eines anderen Bundeslandes), Deutscher, Europäer oder Kosmopolit durch die Zugehörigkeit zu einem territorial kleineren Sozialsystem. Anmerken möchten wir noch, dass die Werte der Leitdifferenz lokal/nichtlokal auf ihrer jeweiligen Seite des Duals noch einmal binnendifferenziert werden können und dabei auf zwei Extremformen referieren. Auf der Seite der Nichtlokalität ist es die Globalität, die als Erde das umfassende supralokale Territorium der Weltgesellschaft bezeichnet, das nur noch andere Planeten des Kosmos, aber keine zweite Erde in seiner systemexternen Umwelt aufweist. Demgegenüber manifestiert sich die Seite der Lokalität in ihrer Extremform als Kleinstgemeinde, die sich nicht weiter als ein kommunales Sozialsystem in eine kleinere Einheit mit dem Label Kommune dekomponieren lässt.
6.1.3.4 Differenzierungsformen der Kommunen Betrachtet man die Kommune als Gesamtsystem und ihre Binnendifferenzierung in Subsysteme, dann wird deutlich, dass die Kommunen die gesamtgesellschaftlichen Differenzierungsformen auf lokaler Ebene reproduzieren, indem sie sie im Kleinformat respezifizieren. Die Semantik der lokalen Wirtschaft, Politik, Medien, Administration, Erziehung, Bildung, Medizin, Pflege, Kunst, Sozialen Hilfe, des lokalen Sports, Nahverkehrs etc. verweist darauf, dass die Kommune – je nach Größe – in unterschiedlichem Umfang an der funktionalen Differenzierung der Gesamtgesellschaft teilnimmt und sich von dieser nur um den Preis der Auflösung als Sozialsystem gänzlich entkoppeln kann. Dass bedeutet jedoch nicht, dass man lokal nach anderen Mechanismen als supralokal wirtschaftet, anders Recht beim Amtsgericht als beim Bundesgericht spricht, anders lokal informiert als national und anders vor Ort Fußball spielt als national. Vielmehr orientiert sich die jeweilige lokale Kommunikation als Wirtschafts-, Rechts-, Medienoder Sportkommunikation ebenso an den universell und spezifisch geltenden Codes der Funktionssysteme, schneidet ihre Programme aber auf die lokalen Themen und Einwohner als Adressstellen zu. Dabei wird die Funktion des nahräumigen Zugangs zu der Vielfalt an supralokalen Funktionssystemen am ehesten durch die Großstädte realisiert, die politisch-administrativ als kreisfreie Städte zugleich mit den Oberzentren identisch sind. Ihre lokalen Funktionsbereiche weisen eine Organisationsvielfalt auf, die von Unis, Hochschulen, Krankenhäuser, Banken, über Supermärkte, Kirchen, Schulen, Verkehrssysteme (Flugzeug/Bahn/U-Bahn), bis hin zu Warenhäusern, Stadien, Theatern, Museen reicht, die ihren Einwohnern, aber auch den temporär an ihnen teilnehmenden Nichteinwohnern eine spätmoderne Lebensführung mit einer entsprechenden Rollenvielfalt und Multioptionalität ermöglichen.
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Das schließt weder gewisse Primate der lokalen Funktionsbereiche aus, die ins Zentrum der Selbstbeschreibung der jeweiligen Großstädte gerückt werden, sei es als Ökostadt, Tor zur Welt, Bankenstadt, Kulturhauptstadt, Stadt der Wissenschaften etc. (vgl. Hohm 2011, 36ff.). Noch schließt es die Absenz bestimmter für eine Großstadt normalerweise typischen Organisationen aus. Als Beispiel seien nur zwei Großstädte (Wiesbaden, Ludwigshafen) genannt, die keine Universität, keinen Flughafen und kein Team in der 1. Fußballbundesliga der Männer aufweisen. Im Vergleich zu anderen Städten ähnlicher Größe bedeutet dies für deren Einwohner, dass die damit indizierten interkommunalen Disparitäten entsprechende Folgeproblemen wie Mobilitätszwang von Studierenden, Sportfans und Reisenden induzieren. Dass ein Teil der Großstädte die gesamtgesellschaftliche Funktion des nahräumigen Zugangs zu den supralokalen Funktionssystemen nur eingeschränkt realisieren kann, verweist auf die immer noch vorhandenen Grenzen der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse selbst von denjenigen Kommunen, die als Stadtgesellschaft das Paradigma der ausgeprägtesten Form der kommunalen Eigenkomplexität repräsentieren. Damit gerät eine weitere gesamtgesellschaftliche Differenzierungsform auf der lokalen Ebene der Kommunen in den Blick: die stratifikatorische Differenzierung. Sie referiert auf die Binnendifferenzierung der Kommunen entlang sozialer Ungleichheiten im Sinne besserer/schlechterer sozialer Lebenslagen ihrer Einwohner mit entsprechenden Mentalitäten und Lebenschancen. Wie diese sich auf der lokalen Ebene der Kommune manifestieren, hat Schulze (1993, 277ff.) exemplarisch anhand der Stadt Nürnberg empirisch untersucht. Er unterschied dabei fünf soziale Milieus: das Niveau-, Harmonie- und Integrationsmilieu als ältere Milieus einerseits und die zwei jüngeren Milieus, das Selbstverwirklichungs- und Unterhaltungsmilieu andererseits. Dass das Milieumodell von Schulze nur eine Möglichkeit ist, die soziale Ungleichheit und damit die stratifikatorische Differenzierung von Großstädten soziologisch zu analysieren, ist klar. So kann man, wie das Sinus-Institut, statt von fünf von zehn sozialen Milieus, definiert als Kombination von sozialer Lage und Grundwerten, bei der Analyse kommunaler sozialer Ungleichheit ausgehen (vgl. Geißler 2014, 114ff.) Aber auch die lokalen Exklusionsbereiche der Großstädte mit ihren randständigen Milieus komplementär zu den lokalen Inklusionsbereichen stärker in den Fokus der Beobachtung rücken (Hohm 2011,50ff.). Der Tendenz nach kann man die Großstädte auf der Ebene von lokalen Großgruppen folglich danach unterscheiden, wie sich die Statusgruppen der unterschiedlichen Dienstleistungsberufe, der Arbeiterschaft, der Beamten, der Selbständigen, der Freiberufler, der Nichterwerbstätigen, der Randgruppen etc. in ihnen verteilen. Je nachdem, wie die Verteilung der Verteilung der Bewohner auf die lokalen Großgruppen ausfällt, wobei dabei das Geschlecht, das Alter, die Bildung, die ethnische Zugehörigkeit und die Haushaltsgröße wichtige Variablen bzw. Determinanten darstellen, wird der jeweiligen Großstadt ein bestimmtes Image attribuiert oder schreibt sie es sich selbst zu. Das kann das Image einer Industrie- und Arbeiterstadt sein, das Image einer Banken-, Büro- und Angestelltenstadt, einer Kulturstadt der Künstler und Boheme, einer Behörden- und Beamtenstadt, einer Stadt der Wissenschaften und Intellektuellen sowie Studierenden, einer Stadt der Multikulturalität und Weltoffenheit, aber auch einer Stadt der organisier-
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ten Kriminalität und Armenviertel oder einer Stadt der Gated communities der Reichen etc. Die Zentrum-Peripherie-Differenz wird ebenfalls von den Kommunen realisiert. Zum einen wird sie durch das Dreierschema der Ober-Mittel- und Unterzentren markiert. Zum anderen durch den Unterschied von Stadt und Land. Die Zentren werden qua Bundeshauptstadt und Landeshauptstädten mit ihrer besonderen politisch-administrativer Steuerungs-und Repräsentationsfunktion gegenüber anderen Zentren speziell hervorgehoben. Zudem verweisen die sogenannten Agglomerationszentren oder Ballungszentren auf eine Dichte bzw. räumliche Nähe bestimmter Großstädte mit einem forcierten lokalen bzw. regionalen Zugang zu den Funktionssystemen. Man denke nur an die Großstädte Frankfurt, Offenbach, Darmstadt, Wiesbaden und Mainz im Rhein-Main-Gebiet. Auch kann die Peripherie, die eher durch die ländlichen Kommunen vertreten wird, durchaus die Zentrum-Peripherie nochmals mittels der Unterscheidung von Zentralorten und Randorten reproduzieren. Schließlich lassen sich die Kommunen auch bezüglich der segmentären Differenzierung beobachten und vergleichen. Sie besagt, dass gleiche Einheiten mehrfach vorkommen. Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene der Weltgesellschaft sind die Nationalstaaten bzw. nationalen Wohlfahrtsstaaten mit ihren formalen Merkmalen Souveränität, Territorium und Volk sowie unterschiedlichen Kompensationsmöglichkeiten der sozialen Ungleichheit durch Sozialpolitik das Paradigma der segmentären Differenzierung (vgl. Stichweh 2000, 66ff.). Die segmentäre Differenzierung der Kommunen basiert hingegen in der einfachsten Form auf den empirischen Merkmalen Größe der Bevölkerung, Fläche und der politisch-administrativ festgelegten Kreiszugehörigkeit oder Kreisfreiheit. Ausgehend davon kann man die Kommunen als gleiche Einheiten grob in Metropolen und kreisfreie Großstädte, kreisangehörige Mittel- und Kleinstädte einerseits sowie Großgemeinden, Kleingemeinden und Kleinstgemeinden andererseits unterscheiden. Die Kommunen als Konfliktsysteme (vgl. Hohm 2011, 33ff.; Konfliktsysteme generell Messner 2003; Hohm 2016, 65ff.) Zum einen gibt es Konfliktthemen, die nur in Großstädten auftreten können, wenn auch nicht in jeder Großstadt. Man denke an Studentenunruhen, Fluglotsenstreiks, Streiks von unterschiedlichen Gruppen der Industriearbeiter und Angestellten, randalierende Hooligans, Hausbesetzungen, Straßenblockaden, Protesten bei der Implementierung von Großprojekten wie den Bau und Ausbau von Flughäfen, Stadien, Kliniken, Universitäten, Theater und Kinos, der Standortfrage von Mülldeponien, Landes- und Bundesbehörden sowie Quartieren für Asylanten und Migranten etc. Zum anderen sind bestimmte Konfliktthemen typisch für die nichtstädtischen Kommunen, wenn auch hier nicht überall, sondern abhängig vom Standort. So die Abwanderung der jungen Generation in die Städte und die Überalterung der Bewohner; die Angebotsreduktion von Gütern und Dienstleistungen durch Schrumpfung der lokalen Funktionsbereiche, gekoppelt mit daraus resultierender Zwangsmobilität als Pendler in die benachbarten Zentralorte und/oder Großstädte; der mangelnde Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr und die Digitalisierung; die Installation von Windrädern; die
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stärkere soziale Kontrolle durch die Dorfgemeinschaft und Nachbarschaft sowie die geringeren individuellen Selektionsfreiheiten.
6.1.3.5 Intrakommunaler Vergleich Ändert man die Blickrichtung des Vergleiches, dann kann man potenziell für jede der Kommunen den Versuch machen, die o.g. Differenzierungsformen und Konfliktthemen auf sich selbst anzuwenden. M.a.W.: das Bezugsproblem ist dann nicht der interlokale bzw. interkommunale Vergleich, sondern die Frage, wie sich die einzelnen Kommunen funktional, räumlich, stratifiziert und segmentiert im Laufe ihrer Systemgeschichte differenziert haben, mit welchen Konfliktthemen sie dabei konfrontiert wurden und wie sie ihre Selbstbeschreibungen bzw. ihr Image verändert haben. So unterscheiden sich Kommunen sozialräumlich in unterschiedliche Stadtteile/ Ortsteile bzw. Zonen, z.B. Ober- und Unterdorf, Zentrum/City und Peripherie. Darüber hinaus wechselt im Laufe der gesellschaftlichen Evolution die Relevanz ihrer lokalen Funktionsbereiche mit den entsprechenden formalen Organisationen und Interaktionssystemen, z.B. von Industrie- zu Dienstleistungsbetrieben. Ferner variiert die sozialräumliche Verteilung von Wohn-, Beschäftigungs-, Freizeitgebieten und sonstigen Gebieten, d.h. die Infrastruktur der lokalen Funktionsbereiche, als Resultat der kommunalen Entwicklung des Raumes und seiner Steuerung. Des Weiteren verändert sich ihre Sozialstruktur, d.h. die Zusammensetzung der sozialen Milieus mit entsprechenden Groß-oder Kleingruppen in Abhängigkeit von gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozessen und kommunalen Ansiedlungsstrategien. Und schließlich lässt sich generell fragen, ob und wie sich über einen längeren Zeitraum hinweg die verschiedenen Differenzierungsformen einer Kommune entwickelt und durch Selbstanpassung verändert haben. Vor allem, welche Funktion die Konflikte dabei spielten. Ob sie die Eigenevolution der Kommunen in Richtung der erwünschten Stabilisierung der lokalen Funktionsbereiche durch eine zu starre Fixierung auf die jeweiligen Gegner oder gar Feinde blockiert haben, oder das für Konflikte konstitutive »Nein« in ein für die Konfliktparteien und Dritte konstruktives »Ja« transformiert haben. Die Individualität der Kommunen ergibt sich dementsprechend durch die Selektion und Kombination der lokal realisierten Differenzierungsformen, sei es als Universitätsstädte, Dienstleistungsstädte, Industriestädte, Landeshauptstädte, Städte mit langer historischer Tradition, Messestädte etc., sei es als nichtstädtische Gemeinden mit dem Primat der Landwirtschaft oder des Weinbaus, der Nähe zur Natur, des rekreativen Gegenentwurfs zur Hektik der Großstädte, der kreativen Transformation der traditionellen (Dorf-)Gemeinschaft mit kollektiver Zwangsidentität in eine offene Gemeinschaft mit einer kollektiven Identität, die sowohl den Alteingesessenen als auch Zugezogenen Spielraum für individuelle Selektionsfreiheiten konzediert.
6. Kommunen
6.1.4
Fazit
Sieht man unsere Ausführungen zu den Kommunen abschließend auf einen Blick, so hoffen wir klargemacht zu haben, dass es sich lohnt, sie systemtheoretisch genauer zu betrachten. Folgende Ergebnisse können wir festhalten: a) Die Kommunen gewinnen Ihre Besonderheit als Sozialsysteme durch die Bereitstellung der Funktion des umfassenden nahräumigen Zugangs der Individuen zu den gesellschaftlichen Teilsystemen. b) Unser Vergleich hinsichtlich der Systemtypen machte deutlich, dass die Kommune am ehesten der Gesamtgesellschaft auf der Mikroebene entspricht, wenngleich als Kollektivsingular. Dabei orientiert sich die Kommunikation der Kommunen am Präferenzwert lokal und nicht nichtlokal. c) Unser interkommunaler Vergleich verdeutlichte, dass die Großstädte das Paradigma der Kommunen darstellen. Dies deshalb, weil ihre lokalen Funktionsbereiche am umfassendsten an die funktionale Differenzierung als dominanter Differenzierungsform der Moderne anschließen. Mit der Hinzunahme der drei anderen Differenzierungsformen (stratifikatorisch, Zentrum-Peripherie, segmentär) sowie der Konfliktthemen werden sowohl die Eigenkomplexität der Großstädte als auch ihre Unterschiede in sozialstruktureller und infrastruktureller Hinsicht, aber auch hinsichtlich des Auf- und Abbaus von Konfliktsystemen evident. d) Die nichtstädtischen Kommunen hingegen stellen ihren Einwohnern nur eine begrenzte Anzahl lokaler Funktionsbereiche zur Verfügung, weisen andere Konfliktthemen auf und gehören als kreisangehörige Gemeinden zur Peripherie, während die kreisfreien Städte als Oberzentren fungieren. e) Dass die Kommunen auch in Bezug auf ihre Geschichte bzw. Eigenevolution verglichen werden können und sich für diesen intrakommunalen Vergleich ebenfalls die Merkmale des interkommunalen Vergleichs eignen, haben wir schließlich am Ende unserer Ausführungen angedeutet.
6.2 Großstädte, soziale Brennpunkte als urbane Exklusionsbereiche und dezentrale Kontextsteuerung 6.2.1
Einleitung
Einleitend möchte ich hinsichtlich des Generalthemas Ihrer Veranstaltung »Sozialer Brennpunkt Deutschland – Integration, Wertewandel und Sicherheitsempfinden in einer sich verändernden Gesellschaft« zu jedem der im Titel angesprochenen Begriffe eine kurze These vorausschicken, deren Implikationen sich Ihnen – so hoffe ich – am Ende meines Referats besser erschließen werden: 1. Deutschland ist kein »sozialer Brennpunkt« im noch darzustellenden Sinne des sozialwissenschaftlichen Begriffs.
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6. Kommunen
6.1.4
Fazit
Sieht man unsere Ausführungen zu den Kommunen abschließend auf einen Blick, so hoffen wir klargemacht zu haben, dass es sich lohnt, sie systemtheoretisch genauer zu betrachten. Folgende Ergebnisse können wir festhalten: a) Die Kommunen gewinnen Ihre Besonderheit als Sozialsysteme durch die Bereitstellung der Funktion des umfassenden nahräumigen Zugangs der Individuen zu den gesellschaftlichen Teilsystemen. b) Unser Vergleich hinsichtlich der Systemtypen machte deutlich, dass die Kommune am ehesten der Gesamtgesellschaft auf der Mikroebene entspricht, wenngleich als Kollektivsingular. Dabei orientiert sich die Kommunikation der Kommunen am Präferenzwert lokal und nicht nichtlokal. c) Unser interkommunaler Vergleich verdeutlichte, dass die Großstädte das Paradigma der Kommunen darstellen. Dies deshalb, weil ihre lokalen Funktionsbereiche am umfassendsten an die funktionale Differenzierung als dominanter Differenzierungsform der Moderne anschließen. Mit der Hinzunahme der drei anderen Differenzierungsformen (stratifikatorisch, Zentrum-Peripherie, segmentär) sowie der Konfliktthemen werden sowohl die Eigenkomplexität der Großstädte als auch ihre Unterschiede in sozialstruktureller und infrastruktureller Hinsicht, aber auch hinsichtlich des Auf- und Abbaus von Konfliktsystemen evident. d) Die nichtstädtischen Kommunen hingegen stellen ihren Einwohnern nur eine begrenzte Anzahl lokaler Funktionsbereiche zur Verfügung, weisen andere Konfliktthemen auf und gehören als kreisangehörige Gemeinden zur Peripherie, während die kreisfreien Städte als Oberzentren fungieren. e) Dass die Kommunen auch in Bezug auf ihre Geschichte bzw. Eigenevolution verglichen werden können und sich für diesen intrakommunalen Vergleich ebenfalls die Merkmale des interkommunalen Vergleichs eignen, haben wir schließlich am Ende unserer Ausführungen angedeutet.
6.2 Großstädte, soziale Brennpunkte als urbane Exklusionsbereiche und dezentrale Kontextsteuerung 6.2.1
Einleitung
Einleitend möchte ich hinsichtlich des Generalthemas Ihrer Veranstaltung »Sozialer Brennpunkt Deutschland – Integration, Wertewandel und Sicherheitsempfinden in einer sich verändernden Gesellschaft« zu jedem der im Titel angesprochenen Begriffe eine kurze These vorausschicken, deren Implikationen sich Ihnen – so hoffe ich – am Ende meines Referats besser erschließen werden: 1. Deutschland ist kein »sozialer Brennpunkt« im noch darzustellenden Sinne des sozialwissenschaftlichen Begriffs.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf 2. Das Begriffspaar »Integration/Desintegration« präzisiere ich noch und ersetze es partiell durch das komplexere von »Inklusion/Exklusion«. 3. »Werte« stellen die abstrakteste Form der Erwartungs- und Orientierungssicherheit des Verhaltens von Personen dar. Sofern sie im Plural und nicht als Singular vorkommen, markieren sie auch im Falle ihres Wandels Identität durch Differenz von Personen und Personengruppen. 4. Die Semantik des »Sicherheitsempfindens« bezieht sich auf emotional gefärbte Wahrnehmungen der Menschen. Ob und in welchem Ausmaß diese in ein Unsicherheitsempfinden umschlagen und ein individuelles bzw. kollektives Handeln auslösen oder nicht, hängt stark von der Platzierung der Individuen in der Gesellschaft ab. M.a.W. davon, welche Sicherheiten sie ihnen garantiert oder durch ihre Veränderung wegzieht. 5. Der »Gesellschaftsbegriff« ist wohl bewusst vage gehalten – mit Ausnahme des Merkmals seiner Veränderung, die selektiv durch den Bezug auf Deutschland und den Wertewandel spezifiziert wird. Eine Festlegung auf eine der vielfältig kursierenden Gesellschaftsbeschreibungen wie Risiko-, Erlebnis-, Informations-, Wissens-, Multioptionsgesellschaft etc. unterbleibt. Angesichts der Offenheit und Überraschung, welche die Zukunft der »nächsten Gesellschaft« (Baecker 2007) bringen wird, macht diese Vorsicht durchaus Sinn. Gleichwohl lässt sich die Differenz von Stabilität und Wandel der Gesellschaft nur dann beobachten, wenn man sich diesbezüglich positioniert.
Ich optiere für die soziologische Systemtheorie Luhmanns, deren Prämissen die folgenden Beobachtungen selektiv steuern werden.
6.2.2
Die Großstädte im Kontext der Globalisierung und Urbanisierung: Beobachtungen zur positiven Kopplung von lokalen Funktionsbereichen und Bewohnern durch Inklusion
These 1 Die Weltgesellschaft als umfassendes kommunikatives Sozialsystem gibt es nur einmal (vgl. Luhmann 1975e; Luhmann 1995b; Luhmann 1997b, Bd.1, 145ff.; Stichweh 2000; Hohm 2006, 56ff.). Ihre gesellschaftsexterne Umwelt besteht aus der Weltbevölkerung mit ca. 7,8 Milliarden Menschen und der äußeren Natur. These 2 Die Stadtgesellschaft bezeichnet hingegen die Städte der Weltgesellschaft als Kollektivsingular. Als solche sind sie in diese eingeschlossen und kommen in ihr hunderttausendfach vor. Seit 2007 wohnt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Zu den weltweit 304 Mega- oder Millionenstädten gehören drei deutsche: Berlin, Hamburg und München. Zusätzlich zu diesen drei Metropolen differenziert sich die deutsche Stadtgesellschaft qua weiterer 78 Großstädte mit über 100 000 Einwohnern aus. In diesen wohnen mit 25,3 Millionen Einwohnern über 30 % der Gesamtbevölkerung.
6. Kommunen
Davon entfallen mit 28 ca. 1/3 auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen, während es in den sechs neuen Bundesländern zusammen nur 11, sprich ca. 14 %, der Großstädte, gibt. These 3 Globalisierung und Urbanisierung lassen sich als simultane Prozesse der gesellschaftlichen Evolution betrachten. Globalisierung entspricht der gesteigerten Enträumlichung durch weltweite Kommunikation der gesellschaftlichen Funktionssysteme Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien, Medizin, Politik, Verkehr, Militär, Erziehung, Kunst usw. Urbanisierung der weltweiten Zunahme der räumlichen Zentrierung der lokalen Kommunikation durch Mega- und Großstädte. Die damit einhergehende Zentrum-Peripherie-Differenz manifestiert sich in Deutschland mittels 11 Agglomerationsräumen oder Metropolregionen, die den administrativen durch einen geographisch-territorialen Stadtbegriff erweitern. These 4 Großstädte – so unsere Zentralthese – sind das lokale Paradigma der spätmodernen Gesellschaft, weil sie den nahräumigen Zugang der Bevölkerung zur Vielzahl der globalisierten Funktionssysteme und ihrer Organisationen am ehesten zu realisieren ermöglichen (vgl. Hohm 2003, 21). Im Unterschied zu Mittelstädten, Kleinstädten und kleineren Gemeinden stellen sie damit ihren Einwohnern eine größere Vielfalt an Leistungserbringungen und Bedarfsbefriedigungen zur Verfügung. These 5 Großstädte gewinnen ihre Individualität als lokale Sozialsysteme durch die je spezifische kommunikative Integration ihrer lokal differenzierten Funktionsbereiche Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Erziehung, Medizin, Verkehr, Kunst, Sport etc. (vgl. Hohm 2003, 22ff.). Spätestens seit den 1980er Jahren lässt sich die großstädtische Individualität als das immer wieder herzustellende Resultat der Kombination aus Evolution der Weltgesellschaft und lokalen Steuerungsversuchen beobachten. Die zentrale Leitdifferenz (=Metacode), an der sich die urbanen Entscheidungsorganisationen dabei orientieren, ist die von lokal/supralokal mit der Präferenz für lokal (vgl. Hohm 2003, 13). Jede programmspezifische Entscheidung und jedes Ereignis wird nicht nur anhand der funktionssystemspezifischen Codes betrachtet, d.h., ob es zur Machterhaltung oder ihrem Verlust in der Politik beiträgt; Profite oder Verluste in der Wirtschaft erbringt; das Lehren und Lernen im Bildungssystem steigert oder erschwert; zum Sieg oder zur Niederlage im Sport führt; berichtenswert oder nicht in den Massenmedien ist; der Verkehrsmobilität nutzt oder Immobilität erzeugt. Sondern für die Entscheider stellt sich immer auch die Frage, was sie/es für den lokalen Funktionsbereich und seine Organisationen bedeuten. Zentral für die Individualität der Großstädte ist jedoch dabei auch zugleich die Frage, ob und wie aus negativen Externalisierungskosten positive Wohlfahrtseffekte für die Stadtentwicklung werden können. M.a.W.: ob die Entscheider in der Lage und willens sind, die Orientierung an ihren jeweiligen Eigeninteressen und Präferenzwerten zugunsten derjenigen der anderen zu relativieren.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
These 6 Nach dem bisher Gesagten ist es kein Zufall, dass die Metropolen und Großstädte das Paradigma der Forschung zu »sozialen Brennpunkten« abgeben. Es sind vor allem sie, die auf lokaler Ebene mit den Folgeproblemen der Globalisierung und den sich daraus ergebenden Konflikten am ehesten und stärksten konfrontiert werden (vgl. Hohm 2003, 30ff.). Dazu gehören u.a. die Transformation von Mono- zur Multikulturalität, von Industrialisierung zur Tertiarisierung, vom Familienmonopol zur Polarisierung pluraler Familienformen und Singularisierung, von alten zu neuen Massenmedien, von technisch überholten zu neuen Lern- und Lehrformen, von motorisierter Mobilität zu wachsender Immobilität, von angemessener Wohnungsversorgung zu Wohnraumknappheit. These 7 Ob und wie diese Folgeprobleme und Konflikte (auch) lokal reguliert und gelöst werden können, manifestiert sich in Form der mehr oder weniger stark ausgeprägten Differenzierung der Großstädte in einen Inklusions- und Exklusionsbereich. Im Gegensatz zur bereits erwähnten kommunikativen Integration der lokalen Funktionsbereiche geht es bei dieser Differenzierung um die Teilnahme an bzw. den Zugang zu oder den Ausschluss aus bzw. den Nichtzugang von Personen oder Personengruppen zu den Sozialsystemen der Großstädte. These 8 Der großstädtische Inklusionsbereich lässt sich als derjenige lokale Sozialraum bezeichnen, der es der Mehrzahl der Bewohner ermöglicht, in den jeweiligen Lebensphasen (Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter) ihrer Lebenskarrieren erfolgreich die entsprechenden primären Leistungs-, Laien- und sekundären Leistungsrollen der Funktionsbereiche und ihrer Organisationen zu übernehmen. Seine Binnendifferenzierung lässt sich infrastrukturell an den fein abgestuften Wohnquartieren mit den diversen nahräumlichen organisationsspezifischen Angeboten festmachen; sozialstrukturell an den durch die Erfolgsmedien Geld, Wissen, Zertifikate, Macht, Liebe, Glaube etc. generierten und an sie gekoppelten wertbezogenen Unterschieden der gesellschaftlichen Leitmilieus, eines Teils der traditionellen Milieus, Mainstream-Milieus und hedonistischen Milieus. Semantisch handelt es sich dabei der Tendenz nach um die Globalisierungs– bzw. Modernisierungsgewinner, deren Lebenskarrieren sich als gradualisierte Positivkarrieren beschreiben lassen. Inklusionstheoretisch bedeutet dies, dass im großstädtischen Inklusionsbereich Exklusionsformen von Personen und Personengruppen durchaus vorgesehen sind. Sie werden zum einen gemäß der programmspezifischen (Leistungs-)Kriterien der Arbeits- und Bildungsorganisationen legitimiert. Und zum anderen weder an die generelle Exklusion aus diesen noch an die Exklusion der diversen Laienrollen aus den lokalen Funktionsbereichen gekoppelt. Entscheidend ist also, dass die exkludierten Personen und Personengruppen dennoch im Inklusionsbereich bleiben und damit die mehr oder weniger feinen Unterschiede bzw. sozialen Ungleichheiten in diesen symbolisieren: So sind z.B. Beamte des mittleren aus dem höheren Dienst exkludiert, aber dennoch beide Beamtentypen in die lokale öffentliche Verwaltung inkludiert; Realschüler aus dem Gymnasium exkludiert, aber gleichwohl beide Schülertypen in das lokale Schulsystem
6. Kommunen
inkludiert. Und geht die Exklusion aus dem Villenviertel der etablierten Stadtteile durchaus mit der Inklusion in den lokalen Wohnungsmarkt einher, wenn Personen der bürgerlichen Mitte oder Traditionsverwurzelten in einem Reihenhaus oder Mietshaus wohnen.
6.2.3
Die Großstädte im Kontext der Globalisierung und Urbanisierung: Beobachtungen zur negativen Kopplung von lokalen Funktionsbereichen und Bewohnern durch Exklusion
These 1 Beim großstädtischen Exklusionsbereich handelt es sich hingegen um denjenigen lokalen Sozialraum, in den eine (wachsende) Minderheit der Bewohner inkludiert ist, der es in den jeweiligen Lebensphasen (Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter) ihrer Lebenskarrieren nicht gelungen ist oder verunmöglicht wurde, bestimmte Leistungs-, Laien- und sekundäre Leistungsrollen der Funktionsbereiche und Organisationen des lokalen Inklusionsbereiches erfolgreich zu übernehmen. Sie lassen sich als die Modernisierungsverlierer bezeichnen. These 2 »Soziale Brennpunkte« (vgl. Hohm 2003 37ff.), gehören zum großstädtischen Exklusionsbereich. Wir wollen sie sowohl von dessen anderen Sozialräumen als auch der Definition des Städtetages von 1979 und deren Nachfolgesemantiken abgrenzen. These 2.1 Soziale Brennpunkte sind keine Ghettos, keine totale Organisationen, aber auch nicht bestimmte illegale Milieus oder Straßenmilieus, die sich ebenfalls dem großstädtischen Exklusionsbereich zuordnen lassen. a) Um Ghettos handelt es sich nicht, wenn man diese mit einer ganzen Stadt oder bestimmten Stadtteilen bzw. Quartieren gleichsetzt, an deren Verlassen die dort inkludierten Exkludierten um den Preis ihres Lebens gehindert werden. Dies galt z.B. für die Juden des »Warschauer Ghettos«, die von der nationalsozialistischen Diktatur zu »Unpersonen« (vgl. zu diesem Begriff Goffman 1983 [1959], 138ff.; Luhmann 1995d, 149) deklariert wurden und ca. 100.000 von ihnen bis zu ihrer Zwangsdeportation ab dem Juli 1942 aufgrund der extremen räumlichen Enge, der ungenügenden Lebensmittel und der Ermordung durch die deutschen Besatzer starben. b) Soziale Brennpunkte sind auch keine totale Organisationen bzw. Institutionen (vgl. Goffman 1977, [1961] 15ff.), da die inkludierten Exkludierten in diesen Sonderorganisationen bestimmter Funktionssysteme den Status der »Insassen« als schwer oder schwerst bewertete Abweichende durch Professionen zugeschrieben bekommen. Ihre durch Kasernierung drastisch eingeschränkte räumliche Mobilität bezieht sich nurmehr auf das kleinräumige Territorium der Vollzugsanstalt, Psychiatrie, des Erziehungs-, Altenpflegeheims etc. c) Um das Rotlichtmilieu handelt es sich bei sozialen Brennpunkten ebenfalls nicht, da die inkludierten exkludierten Illegalen dieser Quartiere der organisierten Kriminalität – Zuhälter, Prostituierte, Dealer, zwielichtige Vermieter etc. – nicht notwendigerweise dort wohnen müssen, wo sie ihren illegalen Geschäften nachgehen. d) Schließlich scheiden auch bestimmte Straßenmilieus – wie die von »Straßenkindern«, Drogensüchtigen oder Wohnungslosen – aus, weil deren Standorte, die sich
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
meist in den Malls der City, im oder in der Nähe des Bahnhofs oder anderen öffentlich zugänglichen Räumen befinden, normalerweise nicht mit ihrer Unterkunft oder Wohnung identisch sind. These 2.2 1979 definierte der Deutsche Städtetag »soziale Brennpunkte« wie folgt: »Wohngebiete, in denen Faktoren, die die Lebensbedingungen ihrer Bewohner und insbesondere die Entwicklungschancen bzw. Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen negativ bestimmen, gehäuft auftreten.« In den folgenden Dekaden wurden von Sozialwissenschaftlern Nachfolgesemantiken wie »Problemquartier«, »Quartiere der sozialen Exklusion«, »benachteiligte Quartiere« und schließlich von der Bundesregierung »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf« vorgeschlagen (vgl. Hohm 2003, 39). Zentrale Gründe für diese Vorschläge waren die Zunahme der Gruppe der Exkludierten in den Großstädten ab den 1980er Jahren, die damit erzeugte Veränderung von punktuellen zu strukturellen Problemen und die Notwendigkeit, kurzfristige durch langfristige Interventionen als Problemlösung zu ersetzen. Deutlich wird zudem, dass an die Stelle der Semantik der Wohngebiete der des Quartiers bzw. Stadtteils als Bezeichnung für den Sozialraum tritt; der Begriff der Exklusion explizit mit dem Sozialraum als Quartier verknüpft und von Benachteiligung bzw. besonderem Entwicklungsbedarf gesprochen wird, die auf spezifische Probleme verweisen. These 3 Im Unterschied zu den sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Nachfolgesemantiken wollen wir die Semantik sozialer Brennpunkte fortführen, sie jedoch anders als der Städtetag, nämlich wie folgt definieren (siehe auch Hohm 2003, 39): »Sozialräume, die infrastrukturell als kleinräumige Quartiere des großstädtischen Exklusionsbereiches den untersten Segmenten des Wohnungsmarktes bzw. dem Unterkunftsmarkt angehören; die durch sozialstrukturelle Lebenslagen heterogener randständiger Milieus mit diversen Negativ- bzw. Exklusionskarrieren der jeweiligen Personengruppen gekennzeichnet sind; deren Inklusion in die ihnen noch zugänglichen Sozialsysteme der lokalen Funktionsbereiche einer hohen Einschränkung ihrer Selektionsfreiheiten mit beträchtlichem Konfliktpotential entspricht; die damit paradoxerweise zugleich höher und negativer als die Personengruppen des Inklusionsbereiches integriert sind.« These 3.1 Hinsichtlich der Infrastruktur der sozialen Brennpunkte lassen sich folgende spezifische Merkmale konstatieren (vgl. Hohm 2003, 40ff.): 1. Sie verteilen sich auf sanierungsbedürftige Altstadtquartiere, Hochhausviertel städtischer Randzonen und ehemalige Arbeiterviertel. 2. Sie sind oftmals weniger Orte der Zuflucht als der Flucht.
6. Kommunen 3. Die Binnenräume sind durch hohe Verdichtung und die Fassaden sowie Außenräume vielmals durch starke Vernachlässigung gekennzeichnet. 4. Die räumliche Mobilität der Bewohner beschränkt sich im Alltag stark auf den Nahraum des Quartiers. 5. Die sozialräumliche Adressstelle wird von der Umwelt und den Bewohnern selbst häufig als Stigma wahrgenommen. Sie erschwert deshalb nicht selten durch eine Kombination von Fremd- und Selbstexklusion die Übernahme bestimmter Rollen wie der des Gastgebers, kreditwürdigen Kunden, des Freundes und der Freundin, des Arbeitnehmers etc. und stabilisiert damit die eingeschränkten Selektionsfreiheiten in räumlicher Hinsicht. 6. Die Wohnkarriere symbolisiert die vorletzte Station vor der Wohnungslosigkeit. Als solche kann sie entweder das Resultat intergenerationeller sozialer Vererbung sein oder erstmals in einer Generation durchlaufen werden. Zudem lässt sich häufig ein lebensphasenspezifisches Pendeln zwischen totalen Organisationen, bestimmten Straßenmilieus und illegalen Milieus sowie sozialem Brennpunkt beobachten.
These 3.2 Bezüglich der Sozialstruktur der sozialen Brennpunkte möchte ich folgende Aspekte hervorheben (vgl. Hohm 2003, 43ff.): 1. Es dominieren das hedonistische Milieu, das der Konsum-Materialisten, Teile des DDR-Nostalgischen Milieus, Teile des traditionsverwurzelten Milieus und eine Vielzahl ethnischer Milieus. 2. Ihre soziale Lage ist durch eine Knappheit der Medien Geld, Wissen, Liebe, Macht und Gesundheit gekennzeichnet, d.h. mangelnde bzw. geringe Zahlungsfähigkeit und Kreditwürdigkeit, niedrige oder keine Bildungsabschlüsse, Verlust des Partners und geringe elterliche Zuwendung, keine oder geringe Entscheidungskompetenz im Rahmen prekärer Beschäftigungsverhältnisse, körperliche und psychische Krankheiten, häufig Suchtabhängigkeit. 3. Die sie beschreibende Semantik der »Randständigkeit« oder »Armut« verweist auf soziale Lagen der extremen sozialen Ungleichheit bzw. Lebenslagenarmut. Die damit verknüpfte Unterversorgung bzw. Deprivation in mehreren Funktionsbereichen legt eine Ersetzung des Armuts- durch den Exklusionsbegriff nahe. 4. Ihre Personengruppen lassen sich als »Underclass«, »Outerclass« oder »Prekariat« bezeichnen. 5. Biografisch bzw. lebenslaufspezifisch durchlaufen sie lebensphasenspezifische Negativkarrieren mit Mehrfachexklusion, d.h. Ausschluss aus dem Schul-, Familien-, Partnerschafts- Ausbildungs-, Beschäftigungssystem und politischen System etc. 6. Bei den Werten, welche die Selektivität bzw. Präferenzen des Lebensstils und Verhaltens als gleichsam unbewussten Habitus steuern, dominieren eher der Gegenwartsund Vergangenheitshorizont als die Zukunftsorientierung. 7. Als stark materialistisch orientierte Unterschicht, die mit der Konsumgesellschaft trotz knapper Mittel mithalten will, oder als spaßorientierte hedonistische Unterschicht, welche die Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft ablehnt, riskiert man, qua Dominanz des Gegenwartsbezugs über seine Verhältnisse zu leben.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf 8. Im Gegensatz zu diesen orientieren sich die DDR-Nostalgischen und Traditionsverwurzelten hauptsächlich an der Vergangenheit einer durch die Tertiarisierung und Deindustrialisierung zunehmend obsolet werdenden klassischen Industrie- und Arbeitsgesellschaft. Mit dem Abstieg in soziale Brennpunkte können sie sich eher arrangieren, da sie ein einfaches, bescheidenes und sparsames Leben als zurückhaltende Konsumenten gewohnt sind. Aus ihnen rekrutieren sich auch die verschämten Armen, die den Gang zur lokalen Sozialadministration scheuen. Dabei handelt es sich vornehmlich um ältere alleinstehenden Frauen ohne kontinuierliche Erwerbskarriere. 9. Die traditionsverwurzelte Vergangenheitsorientierung überwiegt auch bei dem Teil der ethnischen Minderheiten, die dadurch Fremde bleiben, dass sie sich in »Parallelgesellschaften« oder ethnische Kolonien zurückziehen bzw. dazu durch Chancenungleichheit im lokalen Schul-, Ausbildungs-, Beschäftigungssystem und Wohnungsmarkt veranlasst werden. Die Werte, die ihrem Verhalten Sicherheit und kollektive Identität verleihen – die Ablehnung des Erlernens der deutschen Sprache, die rigorose Bindung an traditionelle Geschlechterstereotypen, das überzogene Commitment hinsichtlich religiöser und kultureller Rituale, das selektive Sympathisieren mit politisch verfassungswidrigen Organisationen – konfligieren zugleich zunehmend mit denjenigen des Inklusionsbereichs der heutigen Stadtgesellschaft. Teilgruppen der türkischen Community als größter ethnischer Minderheit in Deutschland werden diesbezüglich immer wieder als Paradigma angeführt.
These 3.3 Typisch für die Inklusionsformen der für die Bewohner sozialer Brennpunkte noch zugänglichen lokalen Sozialsysteme der Familie, Schule, Wirtschaft, Massenmedien und des Rechts sind ihre jeweils stark eingeschränkten Selektionsfreiheiten. Verstärkt werden diese durch die Inklusion in die lokale Administration des Sozialstaats und die lokalen Organisationen des Systems Sozialer Hilfe. Festhalten wollen wir diesbezüglich Folgendes (vgl. Hohm 2003, 61ff.): 1. Inklusion ins Familiensystem: Es dominieren diskontinuierliche Familien- und Partnerschaftskarrieren in Form von Ein-Eltern-Familien, Stieffamilien und Patchwork-Familien, die häufig auch als Problemfamilien bezeichnet werden. Die Sozialisation und Erziehung der Kinder und Jugendlichen erfolgt oftmals mittels vorzeitiger Parentifizierung, verstärkter Teilnahme an den Haushaltsarbeiten und qua Erziehungsstil, der zwischen autoritärem Befehlen und emotionaler Überbehütung bzw. Vernachlässigung schwankt. Verbale und physische Gewalt gehören durchaus zur familialen Kommunikation. Die Familialisierung des Mannes im Sinne der Bindung an die Familie ist prekär. Entweder ist er aufgrund seines Rollenverlustes als Breadwinner familienintern in seiner Autorität geschwächt, was er nicht selten durch Abtauchen in den Alkohol oder Reduktion auf männliche Peergroups kompensiert. Oder er verlässt die Familie, ohne sich für sie als Partner, Ernährer oder Vater weiterhin verantwortlich zu fühlen. Die Familienformen sind deshalb mehrheitlich mütterdominiert und im Falle der Präsenz der Männer durch relativ rigorose Zuschreibungen der Geschlechtsrollen gekennzeichnet.
6. Kommunen
2. Inklusion ins Schulsystem: In der Mehrzahl der Fälle beschränkt sich der Besuch der Kinder auf Schulkarrieren der Haupt- und Sonderschule. Unregelmäßiger Schulbesuch kommt häufig vor, elterliche Hilfe der Hausaufgaben fällt ebenso oft weg wie die Möglichkeit des Rückzugs in ein eigenes Kinder- oder Jugendzimmer. Die Jugendszenen des Quartiers übernehmen somit des Öfteren die riskante Sozialisation der Jugendlichen. 3. Inklusion ins Wirtschaftssystem: Im Falle der Beschäftigung überwiegen diskontinuierliche Erwerbskarrieren mit prekären Arbeitsverhältnissen. Der dadurch konstituierte Status des »Working poor« macht die Betroffenen zusätzlich von staatlichen Transferzahlungen abhängig. Diese sind vor allem an die Rolle des Hartz-IV-Empfängers gebunden. Ihre dadurch generierte Geldknappheit und Armutskarriere verführt nicht selten zu Versuchen der Erhöhung der Zahlungsfähigkeit im Kontext der informellen Ökonomie bzw. Schwarzarbeit. Die damit verknüpfte Entkopplung vom Recht verschärft die Zusatzrisiken durch Abhängigkeiten von Mitwissern und der Gefahr des Entdecktwerdens durch staatliche Kontrollinstanzen. Die komplementäre Kundenrolle kann zum einen wegen mangelnder Kreditwürdigkeit bei den Banken und Versandhäusern oftmals nicht übernommen werden. Zum anderen limitiert die reduzierte Angebotspalette der Konsumgüter im Quartier bei gleichzeitiger eingeschränkter Zahlungsfähigkeit die Optionen der eigenen Bedarfe und zwingt zum Zurückstellen von Bedürfnissen. Dass diese erzwungene Askese der Kunden- und Konsumentenkarriere bestimmten sozialen Milieus nicht leichtfällt, sahen wir bereits. 4. Inklusion ins Rechtssystem: Im Kontext von Gerichtsverfahren dominiert die passive Rolle des Verklagten oder Beklagten, sei es als Schuldner, sei es als Straftäter, im Vergleich zur aktiven Rolle des Klägers und Gläubigers. Verständlich wird diese Negativpräferenz zugunsten einer kriminellen Karriere in Kombination mit den anderen Rollen. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass man bei der Schwarzarbeit ertappt wird, sich durch Konsumieren überschuldet, in kriminelle Jugendszenen abrutscht oder wegen unterlassenem Unterhalt oder Gewalt gegen die Frau oder Kinder vor Gericht muss. 5. Inklusion ins System der Massenmedien: Die programmspezifische Nutzung des Internets, Handys Fernsehens, Radios, der Printmedien etc. und damit die Medienkarriere ist nicht zuletzt aufgrund der Kombination mit den übrigen Rollen hochselektiv. Sowohl die Publikumsrollen als Leser, Hörer, Seher als auch die interaktiveren als Autor, Sprecher, Designer, Grafiker, Fotograf etc. orientieren sich an Programmen und Nutzungsmöglichkeiten, die eher an Sex, Crime, Entertainment und Sport, also einer unterhaltungsorientierten Konstruktion der Realität der Massenmedien interessiert sind.
6.2.4
Zwischenreflexion zu den Begriffspaaren Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion
These 1 Wenn wir unter »Integration« die wechselseitige Beschränkung von Selektionsfreiheiten verstehen (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 601ff.), können wir den Integrationsbe-
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
griff zum einen auf das Verhältnis der Sozialsysteme zueinander und zum anderen auf die Relation Sozialsysteme und Personen beziehen. Im Hinblick auf unsere bisherigen Ausführungen kommen wir mit diesem Integrationsbegriff zu einem paradoxen Ergebnis: Desintegration wird positiv und Integration negativ bewertet – die positiven und negativen Vorzeichen des traditionellen wertorientierten bzw. normativen Integrationsbegriffs werden damit ins Gegenteil verkehrt. M.a.W.: Während die großstädtischen Bewohner im Inklusionsbereich desintegriert sind, da die wechselseitigen Abhängigkeiten der Organisationen der lokalen Funktionsbereiche und der von ihnen übernommenen Rollen der Tendenz nach aufgrund der funktionssystemspezifischen Angebotsvielfalt relativ gering sind, sind sie im Exklusionsbereich aufgrund der stark eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten zu jenen hoch sowie oftmals selbst- und fremddestruktiv. These 2 Zudem sahen wir im Kontext unserer bisherigen Darstellung, dass das Begriffspaar Inklusion/Exklusion in mehrfacher Hinsicht eine komplexere Beschreibung des Verhältnisses von Sozialsystemen und Personen als das von Integration/Desintegration ermöglicht. Bezogen auf den Exklusionsbegriff, auf den wir uns beschränken, gilt dies für folgende Aspekte (vgl. Hohm 2003, 58–59; Stichweh 2004): 1. Die Differenz von Selbst- und Fremdexklusion, welche uns zwischen einem freiwilligen und unfreiwilligen Ausschluss aus Sozialsystemen zu unterscheiden erlaubt. 2. Die Differenz von Armut und Exklusion, da die Benachteiligung bzw. soziale Ungleichheit nicht nur mit Geld, sprich Zahlungsunfähigkeit in Form von Einkommensarmut, gleichzusetzen ist. Sondern mit Hilfe des Exklusionsbegriffs auch Ohnmacht, Unwissen, nicht (mehr) geliebt werden, somatisch und/oder psychisches Kranksein, Suchtabhängigkeit, Kriminalität etc. und die damit einhergehende Kumulation von strukturellen Benachteiligungen als Formen verschärfter sozialer Ungleichheit in den Blick kommt. 3. Die Gradualisierung von Exklusionszeiten, welche zwischen temporärem, dauerhafterem, lebenslangem und intergenerationellen Ausschluss von Personengruppen z.B. bezüglich Exkludierter sozialer Brennpunkte und totaler Institutionen zu differenzieren ermöglicht. 4. Die Unterscheidung der sozialen Systemreferenz von Exklusion, z.B. der Funktionssysteme Ehe, Familie, Beschäftigung oder Bildung bzw. bestimmter Organisationen wie professionelle Organisationen, Gymnasien, Hochschulen, Luxusläden usw. 5. Das mehrmalige Crossing im Kontext der Sozialräume des lokalen Exklusionsbereichs, z.B. vom sozialen Brennpunkt in die Vollzugsanstalt und von dort ins Rotlichtmilieu, oder vom sozialen Brennpunkt in die Drogenszene, von da in die Entzugsklinik, zurück in den sozialen Brennpunkt und von dort ins Erziehungsheim.
6. Kommunen
6.2.5
Selbstbeschreibungen der Großstädte und das Programm »soziale Stadt« als Versuch der dezentralen Kontextsteuerung
These 1 Im Gegensatz zur Weltgesellschaft, die keine sozialräumliche Adresse hat, haben Großstädte eine. Neben der mobilen Adressabilität qua E-Mail und Handynummer spielt die immobile Adressabilität als Kombination von Haus-, Straßen- und Stadt- (teil) nummer bzw. -zahl für die Kommunikation ihrer Bewohner nach wie vor eine bedeutende Rolle. Was sie und die Nichtbewohner mit der sozial-räumlichen Adresse der jeweiligen Großstadt als Selbst- und Fremdbeobachter verbinden, hängt nicht zuletzt von den kommunizierten Selbstbeschreibungen der Großstädte ab, wie man sie heute problemlos im Internet finden kann. Typisch für sie sind folgende Merkmale (vgl. Hohm 2003, 33ff.): 1. Als Selbstbeschreibungsformeln sind sie Selbstsimplifizierungen sowohl der Eigenkomplexität ihrer lokalen Funktionsbereiche als auch der Differenz von Inklusionsund Exklusionsbereich. 2. Der Selektionszwang der Selbstbeschreibung und die Bevorzugung eines positiven Images führt zur Präferenz der positiv bewerteten Faktoren und zur weitgehenden Ausblendung der dunklen Seiten der eigenen Stadt. 3. Die positiven Faktoren referieren auf Vorzüge des Raumes (»Tor zur Welt«; »Stadt am Meer«), bestimmter Funktionsbereiche (Unistadt, Ökostadt, Stadt der Weltkultur, Messestadt etc.), der Zeit (historische Stadt, Stadt der Zukunft) oder der Sozialstruktur (Multikulturelle Stadt, Arbeiter-, Beamtenstadt, Stadt der Yuppies) als Indikatoren der unverwechselbaren Identität, heute oft als Alleinstellungsmerkmal bezeichnet. 4. Im Wettbewerb der Städte untereinander fungieren sie sowohl als ein zentraler Pullfaktor für die potenzielle Ansiedlung neuer Einwohner, Organisationen und Akquirierung von Ressourcen als auch Bindungsfaktor der bereits ansässigen Bewohner und Organisationen.
These 2 Mit dem Ende des 1990er Jahre von der Bundesregierung initiierten und bis heute auf städtischer Ebene implementierten Programms »Soziale Stadt« ist eine interessante politisch-administrative Fremd- und Selbstbeschreibung in die deutsche Stadtgesellschaft eingeführt worden (vgl. Hohm 2003, 151ff.). Indem es den ausgeblendeten Gegenbegriff »unsozial« zum Ausgangspunkt der politischen Intervention macht, konzediert es zumindest implizit, dass die bis dato erfolgten urbanen Steuerungsversuche negative Folgeprobleme für wachsende Teile der Bewohner nicht verhindern konnten. Expliziter ist demgegenüber die Lissaboner Regelung, die seit 2000 den »Kampf gegen Armut und Exklusion« (»Fight against Poverty and Exclusion«) auf die Agenda der EU gesetzt hat. These 3 Mit dem Programm Soziale Stadt ist ein steuerungstheoretischer Paradigmenwechsel der integrierten Stadt(teil)entwicklung verknüpft. Die mit dem Entwicklungsbedarf verbundenen Probleme werden als zu komplex für eine Problemlösung betrach-
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
tet, welche die Tradition der zugleich zentralen und hierarchischen Steuerung durch die Akteure des politisch-administrativen Systems unverändert fortsetzt. Die sie ersetzende neue Förderphilosophie bezeichnen wir im Anschluss an Willke (1997, 72ff.) als dezentrale Kontextsteuerung. Ihre wesentlichen Strukturmerkmale und Erfolge bzw. Misserfolge bei der Implementierung wollen wir abschließend kurz vorstellen. These 3.1 Das Programm Soziale Stadt setzt als Versuch der dezentralen Kontextsteuerung folgende zentralen Strukturmerkmale voraus: 1. Orientierung am aktivierenden Staat anstelle des fürsorgenden Staates und an der Bürger- bzw. Zivilgesellschaft, die den Bürger als aktiven Partizipanten bzw. Mitentscheider und nicht als Klienten bzw. Entscheidungsbetroffenen ins Zentrum der Stadtgesellschaft rückt. 2. Die Beteiligung potenziell aller repräsentativen Akteure der lokalen Funktionsbereiche an der integrierten Stadt(teil)entwicklung, um ihr je spezifisches Wissen und ihre monetären Ressourcen dafür zu nutzen. 3. Eine Integration der Stadtteilentwicklung, die durch Positivkoordination der Akteure im Kontext von Verhandlungssystemen und Verfahren gekennzeichnet ist. Neben der Orientierung der Teilnehmer an Wohlfahrtseffekten sind dafür strategische Fähigkeiten, Reflexionskompetenz, Mediation/Supervision und Selbstbindung erforderlich. 4. Quartiersmanager als Mediatoren und die Erhöhung der Reinklusionschancen der Bewohner in den sozialen Brennpunkten als Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf.
These 3.2 Implementierungserfolge, wie sie anhand von »Best practices« der dezentralen Kontextsteuerung sichtbar werden, weisen die folgenden Dimensionen auf: 1. Reinklusion der exkludierten Arbeitslosen sozialer Brennpunkte in den ersten und zweiten Arbeitsmarkt. 2. Reinklusion der temporär exkludierten Kinder und Jugendlichen ins Schulsystem. 3. Verstärkte Partizipation der Bewohner an sozialen Netzwerken des Wohnumfeldes. 4. Forciertes Engagement in selbstorganisierten Vereinen und Vereinigungen unterschiedlicher lokaler Funktionsbereiche. 5. Sanierungen der Wohnungen bzw. Erneuerungen des Wohnumfeldes.
Misserfolge bei der Implementierung der dezentralen Kontextsteuerung lassen sich demgegenüber an folgenden Merkmalen der »Worst cases bzw. practices« ablesen: 1. Fortsetzung der Orientierung an der Negativkoordination durch mangelnde Lernbereitschaft, Betonung der Eigeninteressen und Eigenlogik der repräsentativen Akteure der lokalen Funktionsbereiche und der in Stadtteilprojekten engagierten Bürger. Beispiele hierfür sind:
6. Kommunen a)
b) c) d) e)
6.2.6
Verzögerung der Grundsatzentscheidungen zugunsten des Programms Soziale Stadt oder Zweckentfremdung der zugewiesenen monetären Mittel durch die politisch-administrativen Akteure. Mangelnde Kooperationsbereitschaft der örtlichen Wirtschaft bei der Schaffung von Arbeitsplätzen des ersten und zweiten Arbeitsmarktes. Widerstände der lokalen Wohnungsunternehmen bei der adäquaten Lösung von Wohnungs- und Wohnumfeldproblemen. Probleme der Akzeptanz der Mediatorenfunktion der Quartiermanager durch die bereits vorhandenen Kooperationsformen engagierter Bürger; Vor allem aber die Schwierigkeiten der Quartiermanager, die »Kultur der Abhängigkeit« in eine »Kultur der Selbstbestimmung« zu transformieren, und zwar durch die Bereitschaft der nichtorganisierten Bürger, sich selbst für ihre Interessen im sozialen Brennpunkt zu engagieren.
Fazit
These 1 Wenn also heute globale Entwicklungen und Ereignisse die Stadtgesellschaft mehr denn je beeinflussen und die forcierte Urbanisierung mit einer sozialräumlichen Spaltung in lokale Inklusions- und Exklusionsbereiche einhergeht, ist es dringend erforderlich, der Expansion des »Unsozialen« entgegenzuwirken. Dass dazu intelligentere Steuerungslösungen der Stadt(teil) entwicklung als bis dato nötig sind, scheint, ohne den Erfolg des Programms Soziale Stadt und anderer hier nicht thematisierter Programme zu schmälern, einsichtig. Angesichts der Komplexität der Probleme erfordert dies eine Vielzahl von Maßnahmen, die von Exklusionsvermeidung über Exklusionsstabilisierung bis hin zu Reinklusion reichen und zusätzlich zur positiven horizontalen Koordination der lokalen Akteure die der vertikalen Koordination mit den supralokalen Akteuren voraussetzen. These 2 Trotz der Dringlichkeit dieser Maßnahmen haben wir in den sozialen Brennpunkten Deutschlands noch keine Verhältnisse wie in den Banlieus der französischen Städte, den »Ghettos« der amerikanischen Städte oder gar den Favelas Brasiliens, Villas de Miseria Argentiniens oder Cerros Venezuelas. Dies gilt auch dann, wenn die Differenz von Stadtteilen ohne und mit besonderem Entwicklungsbedarf prima facie semantisch an die globale Spaltung in die hochentwickelten Länder der Ersten Welt und die Entwicklungsländer der Dritten Welt erinnert. So konnte man jüngst in der SZ (20.10.2009, Nr.241, S. 2) über die Situation lateinamerikanischer Städte das Folgende lesen: »[…] als die Zeitschrift Foreign Policy kürzlich wieder die mordreichsten Städte der Welt kürte, stand die Region (= Lateinamerika) an der Spitze. Platz eins belegt Ciudad Juarez in Mexikos Norden. Die Stadt ist das Zentrum des Drogenkriegs, der seit dem Amtsantritt des mexikanischen Präsidenten Felipe Calderon im Dezember 2006 mehr als 14 000 Tote gefordert hat. Auf Rang zwei erscheint Venezuelas Hauptstadt Caracas, wo im vergangenen Jahr 1900 Morde registriert wurden […] Nach absoluten Zahlen sind Städte wie diese und auch Rio de Janeiro nicht sicherer als Bagdad oder Kabul.«
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These 3 Dass diese Schattenseiten der Globalisierung gleichwohl eine Negativversion einer nächsten Stadtgesellschaft sein könnten, ist durchaus möglich. Gesellschaftsbeschreibungen wie Zwei-Drittel-Gesellschaft, Sekundärgesellschaft, gespaltene Gesellschaft oder Parallelgesellschaft warnen somit zu Recht vor den selbstdestruktiven Folgen für die deutsche Gesellschaft und wachsende Teile ihrer Bevölkerung, sollte das Lernen durch Gegensteuerung unterbleiben.
7. Konfliktsysteme Interventionsdilemmata supranationaler Organisationen bei Konflikten nationaler Gesellschaften: der Fall Kosovo
7.1 Einleitung Ich möchte mein Kurzreferat in 3 allgemeine Thesen unterteilen, die ich im Folgenden ausführlicher darstellen werde: Erstens: Heute lässt sich eine Simultaneität von Weltgesellschaft und nationalen Gesellschaften beobachten, zwischen die sich im Zuge der Globalisierung und Regionalisierung zunehmend supranationale Organisationen schieben, welche auf die Grenzen der Problemlösungen durch nationale Gesellschaften und Nationalstaaten verweisen. Zweitens: Gleichwohl kontinuieren diese als komplexe Sozialsysteme mit unterschiedlichen Graden an Unabhängigkeit, so dass nur besonders gravierende systeminterne Konflikte Interventionen ohne deren Zustimmung durch supranationale Organisationen rechtfertigen. Drittens: Da deren Interventionskriterien jedoch nicht eindeutig fixiert sind, führt eine Intervention sehr oft zu einer Sequenz von Dilemmata, welche jedoch nicht zwingend eine Option für die Dilemmata der Nichtintervention nach sich zieht.
7.2 Globalisierung, Regionalisierung und systeminterne Konflikte nationaler Gesellschaften Ein erstes Strukturmerkmal der heutigen Weltgesellschaft besteht in ihrer Binnendifferenzierung in nationale Gesellschaften, die sich an der Leitdifferenz national/nicht national orientieren. Nationale Gesellschaften sind hochkomplexe soziale Systeme. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ihre Identität als Nation durch Abgrenzung nach außen und innen von all denjenigen Sozialsystemen und Personenkategorien gewinnen, die nicht national sind. Ihre Differenz besteht darin, dass sie diese Grenzziehung in je spezifischer Weise vornehmen. Ablesen lässt sich dies bereits daran, dass sie in ihrer
7. Konfliktsysteme Interventionsdilemmata supranationaler Organisationen bei Konflikten nationaler Gesellschaften: der Fall Kosovo
7.1 Einleitung Ich möchte mein Kurzreferat in 3 allgemeine Thesen unterteilen, die ich im Folgenden ausführlicher darstellen werde: Erstens: Heute lässt sich eine Simultaneität von Weltgesellschaft und nationalen Gesellschaften beobachten, zwischen die sich im Zuge der Globalisierung und Regionalisierung zunehmend supranationale Organisationen schieben, welche auf die Grenzen der Problemlösungen durch nationale Gesellschaften und Nationalstaaten verweisen. Zweitens: Gleichwohl kontinuieren diese als komplexe Sozialsysteme mit unterschiedlichen Graden an Unabhängigkeit, so dass nur besonders gravierende systeminterne Konflikte Interventionen ohne deren Zustimmung durch supranationale Organisationen rechtfertigen. Drittens: Da deren Interventionskriterien jedoch nicht eindeutig fixiert sind, führt eine Intervention sehr oft zu einer Sequenz von Dilemmata, welche jedoch nicht zwingend eine Option für die Dilemmata der Nichtintervention nach sich zieht.
7.2 Globalisierung, Regionalisierung und systeminterne Konflikte nationaler Gesellschaften Ein erstes Strukturmerkmal der heutigen Weltgesellschaft besteht in ihrer Binnendifferenzierung in nationale Gesellschaften, die sich an der Leitdifferenz national/nicht national orientieren. Nationale Gesellschaften sind hochkomplexe soziale Systeme. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ihre Identität als Nation durch Abgrenzung nach außen und innen von all denjenigen Sozialsystemen und Personenkategorien gewinnen, die nicht national sind. Ihre Differenz besteht darin, dass sie diese Grenzziehung in je spezifischer Weise vornehmen. Ablesen lässt sich dies bereits daran, dass sie in ihrer
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eigenen Umwelt nicht noch einmal als dieselbe vorkommen. Dies gilt selbst dann, wenn sie geteilt werden, wie früher Deutschland oder heute Korea. Bei genauerer Beobachtung manifestiert sich die spezifische Identität nationaler Gesellschaften •
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zeitlich durch eine eigene Systemgeschichte, die teilweise weit in vormoderne Epochen zurückverweist und besonders auf der gemeinsamen kulturellen und sprachlichen Tradition basiert; räumlich qua eigenem Territorium, das seine politisch-administrative Sicherheit und völkerrechtlich zugestandene Souveränität und Integrität durch die Form des Nationalstaates erhält; sachlich durch gesellschaftliche Teilsysteme – wie Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Recht, Familien etc. –, die in Verbindung mit der eigenen Kultur, Sprache, Geschichte und dem Standort sich selbst und ihren Organisationen (Betrieben, Schulen, Krankenhäusern, Universitäten) ihre Besonderheit verleihen; sozio-demographisch: durch eine klassen-, schicht- und milieuspezifische Differenzierung der Gesamtbevölkerung, die im Falle ihrer multiethnischen Zusammensetzung oftmals mittels sozialstruktureller Privilegien der ethnischen Mehrheit und auf Kosten der ethnischen Minoritäten nationalistisch entschärft wird.
Ein weiteres Strukturmerkmal der heutigen Weltgesellschaft lässt sich als Simultaneität von Globalisierung und Regionalisierung beschreiben, welche auf die Eigendynamik der Funktionssysteme verweist, welche die Fesseln der nationalen Gesellschaften und Nationalstaaten zunehmend sprengt. •
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Kommt die Globalisierung in Form der Weltwirtschaft, universalen Wissenschaft, weltumspannenden Massenmedien, des Völkerrechts, globalen Verkehrssystems, der weltweiten Gesundheitsprogramme, Weltmeisterschaften im Sport, Weltreligionen und universellen Menschenrechte mit entsprechenden weltweit agierenden Organisationen (UNO, FIFA, WTO, Weltwährungsfonds, Weltbank, WHO, multinationale Konzerne, Amnesty International etc.) zum Ausdruck. So manifestiert sich demgegenüber die Regionalisierung anhand von Zonen kommunikativer Verdichtung supranationaler Funktionssysteme mit darauf bezogenen supranationalen Organisationen (EU, GUS, NATO, G7 etc.).
Zur Vervollständigung der Beschreibung der heutigen Weltgesellschaft gehört zusätzlich die Beobachtung, dass die Globalisierung der Funktionssysteme mit einem regional und national unterschiedlichem Modernisierungstempo erfolgt. •
Daraus resultiert eine Binnendifferenzierung der einen Welt in die drei Welten der Wohlstandsgesellschaften, Schwellenländer und Entwicklungsländer, die eine Differenz von Modernisierungsverlierern und Modernisierungsgewinnern indizieren. Diese wird deutlich anhand krasser sozialer Ungleichheiten des regionalen und nationalen Zugangs der Weltbevölkerung zu den Arbeits- und Konsumgütermärkten
7. Konfliktsysteme
des Wirtschaftssystems, Kommunikationstechnologien und sonstigen High-TechProdukten, zum Bildungssystem, zur angemessenen Gesundheitsversorgung, demokratischen Teilnahme am politischen System, zur Möglichkeit der Geburtenkontrolle, zum weltweiten Tourismus etc. Die Differenz von Modernisierungsgewinnern und -verlierern erzeugt wiederholt systeminterne Konflikte nationaler Gesellschaften und regionale Konflikte zwischen Nationalgesellschaften. • •
Die höchste Stufe der Konflikteskalation stellen im ersten Fall Bürgerkriege oder Aufstände gegen Militärdiktaturen und politische Diktaturen dar, im zweiten Fall regionale Kriege zwischen zwei oder mehreren Nationalstaaten.
Beschränkt man seinen Blick auf die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg bis zum Untergang der sowjetischen Gesellschaft, dann fällt auf, dass vor allem die beiden Weltmächte USA und Sowjetunion diejenigen Nationalstaaten waren, die sich jeweils vorbehielten, ob, wo und wann sie im Falle von Bürgerkriegen, Aufständen oder regionalen Kriegen intervenierten oder nicht. •
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• •
Erinnert sei nur an die Aufstände in Ostdeutschland, Ungarn und der Tschechoslowakei, den Krieg in Afghanistan im Falle der Sowjetunion oder an Chile oder Vietnam im Falle der USA. Möglich wurde dies durch die wechselseitige Verfügung über Atomwaffen und den wechselseitigen Verzicht auf ihre Anwendung, sofern die beiden Supermächte die jeweilige Einflusssphäre respektierten. Hinzu kam die Blockzugehörigkeit der westeuropäischen Nationalstaaten zur Nato und der osteuropäischen Nationalstaaten zum Warschauer Pakt. Ein Resultat für die Weltgesellschaft war die Verhinderung von Weltkriegen sowie für die Regionen Westeuropas und der USA eine Pazifizierung systeminterner und internationaler Konflikte, wozu vor allem die Strategie der »massiven und flexiblen Vergeltung« der Nato beitrug.
Aus der Perspektive der Weltgesellschaft bedeutet die Simultaneität von Nationalgesellschaften und Globalisierung/Regionalisierung, dass sich mit den supranationalen Organisationen zunehmend Institutionen etabliert haben, welche sowohl globale als auch regionale Probleme, die aus der evolutionären Eigendynamik der Funktionssysteme resultieren, durch Intervention zu steuern versuchen. Aus der Perspektive der jeweiligen Nationalgesellschaften bedeutet dies, dass sie sich nicht nur gegenüber ihrer Umwelt durch ihre spezifische nationale Identität abgrenzen können, sondern sich zugleich durch die Mitgliedschaft in den supranationalen Organisationen an deren Bemühungen um Bündelung von Ressourcen und Steuerung der Funktionssysteme beteiligen müssen, wollen sie nicht den Anschluss an die Globalisierung und Regionalisierung verlieren. Aus der nationalen Mitgliedschaft supranationaler Organisationen resultieren jedoch wiederum komplexe Verfahrens- und Entscheidungsprobleme. Ihr Kern besteht
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in der paradoxen Einheit einer Differenz von supranational/national, an der sich die Kommunikation der Akteure orientiert. Paradox ist diese Einheit insofern, als sie einerseits mit ihrem Präferenzwert supranational die Überbrückung der Orientierung am Eigeninteresse nationaler Staaten und Gesellschaften zugunsten der Gemeinschaftsinteressen symbolisiert. Andererseits aber zugleich dem Negativwert »national« insofern Tribut zollt, als sie bestimmten Nationen, sei es formal durch Veto, sei es faktisch durch ihre überlegenen Ressourcen, eine Vorrangstellung einräumt, und somit zur Blockierung supranationaler Interessen zugunsten nationaler Eigeninteressen führt. Supranationale Organisationen tendieren dann eher in Richtung internationaler Organisationen, wenn ihre Entscheidungsverfahren die Autonomie und Souveränität nationaler Gesellschaften und Staaten präferieren. Während sie demgegenüber eher die Form postnationaler Organisationen annehmen, wenn sich der Vorrang supranationaler Interessen auch eindeutig in ihren Entscheidungsverfahren durchgesetzt hat. Fragt man schließlich nach dem ausgeschlossenen Dritten der Leitdifferenz supranational/national, so kommt man auf den Begriff regional im Sinne subnationaler Einheiten, z.B. Bundesländer oder Teilrepubliken. •
•
Man kann sie auch als die eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten zwischen Zentralstaat und Kommunen begreifen. Eingeschlossen, in dem sie zum Zentralstaat gehören, und ausgeschlossen, in dem sie von bestimmten Entscheidungen, die das gesamte Territorium betreffen, ausgeschlossen werden. Kommt es durch nationalistische Tendenzen oder andere Gründe zu einer zu starken Dominanz des Zentralstaates bis hin zur Gleichschaltung mit diesem und werden dabei die regionalen Gegebenheiten und die Ansprüche ihrer Bevölkerung massiv ignoriert, können Sezessionsbestrebungen entstehen, z.B. im Baskenland, in Korsika oder in Nordirland.
7.3 Interventionsdilemmata supranationaler Organisationen und der Fall Kosovo 7.3.1
Was ist das intervenierte System?
Im Fall Kosovo handelt es sich beim intervenierten System weder um eine Familie noch um eine Organisation, sondern um ein hochkomplexes soziales System: die jugoslawische (Rest-)Gesellschaft. Diese lässt sich in aller Kürze dadurch kennzeichnen, dass sie •
•
regional in drei Teilgebiete (Serbien, Kosovo und Montenegro) binnendifferenziert ist, deren territoriale Einheit von außen durch die völkerrechtlich zugestandene Souveränität und Integrität als Nationalstaat anerkannt und nach innen durch den serbischen Zentralstaat mit Hilfe der Polizei, paramilitärischer und militärischer Einheiten zusammengehalten wurde; zeitlich eine jüngere Systemgeschichte aufweist, die nach dem dritten Weg Titos (=sozialistisches Selbstverwaltungsmodell) durch ethnisch motivierte Bürgerkriege
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in der paradoxen Einheit einer Differenz von supranational/national, an der sich die Kommunikation der Akteure orientiert. Paradox ist diese Einheit insofern, als sie einerseits mit ihrem Präferenzwert supranational die Überbrückung der Orientierung am Eigeninteresse nationaler Staaten und Gesellschaften zugunsten der Gemeinschaftsinteressen symbolisiert. Andererseits aber zugleich dem Negativwert »national« insofern Tribut zollt, als sie bestimmten Nationen, sei es formal durch Veto, sei es faktisch durch ihre überlegenen Ressourcen, eine Vorrangstellung einräumt, und somit zur Blockierung supranationaler Interessen zugunsten nationaler Eigeninteressen führt. Supranationale Organisationen tendieren dann eher in Richtung internationaler Organisationen, wenn ihre Entscheidungsverfahren die Autonomie und Souveränität nationaler Gesellschaften und Staaten präferieren. Während sie demgegenüber eher die Form postnationaler Organisationen annehmen, wenn sich der Vorrang supranationaler Interessen auch eindeutig in ihren Entscheidungsverfahren durchgesetzt hat. Fragt man schließlich nach dem ausgeschlossenen Dritten der Leitdifferenz supranational/national, so kommt man auf den Begriff regional im Sinne subnationaler Einheiten, z.B. Bundesländer oder Teilrepubliken. •
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Man kann sie auch als die eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten zwischen Zentralstaat und Kommunen begreifen. Eingeschlossen, in dem sie zum Zentralstaat gehören, und ausgeschlossen, in dem sie von bestimmten Entscheidungen, die das gesamte Territorium betreffen, ausgeschlossen werden. Kommt es durch nationalistische Tendenzen oder andere Gründe zu einer zu starken Dominanz des Zentralstaates bis hin zur Gleichschaltung mit diesem und werden dabei die regionalen Gegebenheiten und die Ansprüche ihrer Bevölkerung massiv ignoriert, können Sezessionsbestrebungen entstehen, z.B. im Baskenland, in Korsika oder in Nordirland.
7.3 Interventionsdilemmata supranationaler Organisationen und der Fall Kosovo 7.3.1
Was ist das intervenierte System?
Im Fall Kosovo handelt es sich beim intervenierten System weder um eine Familie noch um eine Organisation, sondern um ein hochkomplexes soziales System: die jugoslawische (Rest-)Gesellschaft. Diese lässt sich in aller Kürze dadurch kennzeichnen, dass sie •
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regional in drei Teilgebiete (Serbien, Kosovo und Montenegro) binnendifferenziert ist, deren territoriale Einheit von außen durch die völkerrechtlich zugestandene Souveränität und Integrität als Nationalstaat anerkannt und nach innen durch den serbischen Zentralstaat mit Hilfe der Polizei, paramilitärischer und militärischer Einheiten zusammengehalten wurde; zeitlich eine jüngere Systemgeschichte aufweist, die nach dem dritten Weg Titos (=sozialistisches Selbstverwaltungsmodell) durch ethnisch motivierte Bürgerkriege
7. Konfliktsysteme
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und darauffolgende Interventionen einerseits zur Sezession und Neugründung von Nationalstaaten durch ehemalige jugoslawische Teilrepubliken (Kroatien, Mazedonien, Slowenien) und andererseits zur Etablierung Restjugoslawiens führte; sachlich sich in gesellschaftliche Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Verkehr, Recht, Familien und Religion mit entsprechenden Organisationen (Betrieben, Schulen, Krankenhäusern, Universitäten) binnendifferenzierte. Dabei dominierte nach innen zunehmend der serbische Einfluss und überwog nach außen die Kommunikation zu den Anrainerländern; sozio-demographisch eine klassen-, schichten- und milieuspezifische Differenzierung der Gesamtbevölkerung von ca. 12 Millionen multiethnisch zusammengesetzten Bürgern aufweist, wobei der sozial ungleiche Zugang zu den erwähnten Funktionssystemen mit ihren Organisationen und Ressourcen einerseits entlang ethnischer Differenzen zum Nachteil der Nichtserben verschärft wurde und sich andererseits die Funktionseliten zunehmend aus Milosevic wohl gesonnenen Personen, inklusive seiner Familienmitglieder, rekrutierten.
7.3.2
Welches ist der systeminterne Konflikt, der die Frage der Intervention/Nichtintervention entstehen ließ?
Der zentrale Konflikt, der die Frage der Intervention/Nichtintervention aufwarf, resultierte im Kern aus einer politischen Strategie Milosevics, die als •
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•
Policy das politische Ziel Großserbien verfolgte, also ein ethnisch weitestgehend homogenes Restjugoslawien, wobei die kosovarische Bevölkerung moralisch zu Unpersonen (vgl. Goffman 1983 [1959], 138ff.; Luhmann 1995d, 148–149) deklariert und die UCK als ihre militärische Vertretung als Terroristen bezeichnet wurden; Politics das staatliche Gewaltmonopol dazu benutzt, um den Kosovo zu besetzen, die Kosovaren aus ihrem Gebiet zu vertreiben, ihnen ihr Eigentum und ihre Pässe zu nehmen und sie zu töten: kurz ihre soziale Identität als Ethnie und Staatsbürger und ihre persönliche Identität als Menschen zu destruieren; Polity sich indirekt an internationalen Verhandlungssystemen (z.B. Rambouillet) beteiligte, ohne Entgegenkommen zu zeigen.
7.3.3
Gab es systeminterne Konfliktlösungsmöglichkeiten, die für eine Nichtintervention sprachen?
Dazu lässt sich feststellen, dass •
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sich die Oppositionsbewegung nach den Demonstrationen von 1997 zerstritt, Vuk Draskovic von Milosevic als Vizepräsident in die Regierung eingebunden und Djindic als Bürgermeister von Belgrad abgesetzt wurde; die politischen Führer der Kosovaren, Ibrahim Rugova als gewählter Präsident und Thaci als Führer der UCK, unterschiedliche politische Ziele, nämlich Autonomie bzw. Unabhängigkeit, verfolgten; die UCK militärisch der serbischen Armee weitaus unterlegen war;
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
•
Milosevic zu keinerlei Kompromiss bereit war, stattdessen die Unterdrückung der politischen Opposition forcierte.
7.3.4
Dilemmata der Nichtintervention
Eine Option für Nichtintervention hätte mit folgenden Dilemmata rechnen müssen: •
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Die Vertreibung, Ermordung, Vergewaltigung und andere Formen der Gewalt an den Kosovaren hätten vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattgefunden, so dass zumindest die Massenmedien der demokratischen Länder der Weltgesellschaft zunehmend und drängender durch entsprechende Berichterstattungen die politischen Führungen nach den Gründen für ihre Nichtintervention gefragt hätten. Die supranationalen Organisationen, speziell die UNO, wäre ein weiteres Mal wegen ihrer Entscheidungsunfähigkeit aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips bzw. ihres zu späten Mandates diskreditiert worden. Wachsende Teile der Wählerschaft der demokratischen Länder hätten angesichts der zunehmenden Flüchtlingsströme und der täglichen Information der Medien den Druck auf eine Intervention erhöht. Die jeweiligen konservativen Oppositionsparteien hätten die sozialdemokratisch/grünen nationalen Regierungen mit den Konsequenzen ihrer pazifistischen Politik der Nichtintervention für die Nachbarländer Jugoslawiens und der zukünftigen ethnischen Vertreibungen konfrontiert. Schließlich hätten sich die Nato, die WEU und EU fragen lassen müssen, wie es mit ihrer Konfliktlösungsfähigkeit in Menschenrechtsfragen bestellt ist.
7.3.5
Dilemmata der Intervention
Die Entscheidung der Nato als supranationale Organisation für eine Intervention und gegen eine Nichtintervention lässt sich als eine Sequenz von Dilemmata beobachten, die sie – wie gezeigt – auch nur schwer durch eine Nichtintervention vermieden hätte können. Ein erstes Dilemma lässt sich als Option zugunsten des politischen Zieles der Verhinderung der ethnischen Säuberung unter Inkaufnahme verfahrensmäßigen Unrechtes identifizieren. •
Die Nato entschied sich nämlich für eine Selbstmandatierung zugunsten des aus ihrer Sicht moralisch Guten, d.h. der Verteidigung der Achtung der Menschenrechte des kosovarischen Volkes, bei gleichzeitiger Umgehung des Einstimmigkeitsprinzips des Sicherheitsrates der UNO und des Fehlens eines entsprechenden Mandates von ihm.
Indem sie sich für eine Policy der universellen Moral und gegen eine Policy der nationalistisch ethnozentristischen Moral Großserbiens entschied, geriet sie in ein zweites Dilemma, das der Anwendung von Gewalt im Namen der Moral.
7. Konfliktsysteme
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Wenn Moral Persuasion als Appell an das gute Gewissen oder Verhalten des Gegenübers, sprich Milosevics, oder gar der moralische Diskurs mit diesem nicht mehr funktionierte, weil dieser seine paradoxe Selbstachtung durch die sadistische Missachtung des Gegenübers erhielt und erhält, musste die Policy der universellen Moral durch Gewaltanwendung durchgesetzt werden. Diese stand dementsprechend als Indikator für das Versagen des Machtmediums von Anfang an unter besonderen Legitimationsdruck. Einerseits galt sie, wollte sie nicht die Moral diskreditieren und aus Gutem Böses werden lassen, nur dem Bösen, sprich Milosevic und seinem Militär- und Machtapparat. Andererseits richtete sie sich explizit nicht gegen das serbische Volk. Die legitimatorischen Formeln des »militärischen Humanismus« (Beck 1999) und der »chirurgischen Kriegsführung« als minimalinvasive Gewaltanwendung gegen Menschen, die vor allem durch den Einsatz neuester Militärtechnologien und -strategien in die Tat umgesetzt werden sollten, machten dies zusätzlich deutlich. Das Dilemma von Gewalt und Moral hat und hatte darüber hinaus auch eine selbstbezügliche Facette, indem es nicht nur die Personenschäden des Gegners, sondern auch die der NATO Soldaten durch die Option für den Luftangriff anstelle eines Bodenangriffs minimieren sollte. Damit verringerte sich jedoch zugleich auch die Gefahr für die serbischen Truppen vor Ort und die Chance der Kosovaren auf physische Integrität. Für die moralische Bindung der Gewalt spricht des Weiteren, dass die Intervention der Nato einem Volk gilt, das als Muslime nicht die gemeinsame Religion und Kultur mit deren Mitgliedsstaaten teilt. Vordergründige Interessenpolitik im Sinne eines Kampfes der Kulturen (vgl. Huntington 1997) scheidet folglich als Motiv aus.
Hinzu kommt, dass die politisch-moralische Zielsetzung auf dem Konsensprinzip basierte, mithin eine transnationale Wertebindung indizierte. Problematisch wurde jedoch die Bindung der militärischen Interventionsmedien an die antizipatorische universelle Moral der Menschenrechte sowohl durch die Zeit als auch die kollateralen Schäden. •
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Was zunächst das Interventionsdilemma der Zeit betrifft, stand die Intervention der Nato von Beginn an vor dem Dilemma einer zu frühen bzw. zu späten Intervention – nicht zuletzt als Resultat der Ereignisse in Bosnien. Im Zusammenspiel mit der Entscheidung gegen einen Einsatz von Bodentruppen läuft und lief der Nato gleichsam mit jedem vertriebenen Kosovaren die Zeit davon, so dass das eigentliche Ziel – der Verbleib der Kosovaren in Kosovo – durch die militärische Intervention zunehmend verloren ging. Gesteigert wurde diese mit der Zeit zunehmende Erfolglosigkeit der militärischen Intervention zusätzlich durch das Dilemma der militärischen Nebenfolgen. Die wachsende Anzahl getöteter serbischer Zivilisten verdeutlichte den NATO Strategen zunehmend die Risiken der vermeintlich treffsicheren High-Tech-Waffen, indem aus Kollateralschäden sichtbare Personenschäden unschuldiger Zivilisten wurden. Zudem konnte Milosevic mit der massenmedialen Präsentation der Tötung serbischer Zivilisten propagieren, dass die Intervention nicht nur seinem Machtapparat,
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
sondern auch dem serbischen Volk galt. Stand dieses nicht schon mehrheitlich hinter diesem, so solidarisierte es sich durch die Tötung von Landsleuten und der wachsenden Sachschäden zunehmend mit ihm. Ein weiteres Dilemma der Nato-Intervention ergibt sich daraus, dass trotz supranationaler Zielsetzung die nationalen Eigeninteressen der 19 Mitgliedsstaaten, wie bei jeder Logik kollektiven Handelns, die noch international und noch nicht postnational ist, im Laufe der Interventionszeit zunehmen. •
•
•
So muss erstens jeder neuer Interventionsschritt im eigenen Parlament und/oder der Partei abgesegnet werden. Dies impliziert, dass vor allem in den Nato-Ländern, in denen der Druck der Öffentlichkeit und Oppositionsparteien in Richtung Nichtintervention wächst, die politische Führung vor bedeutsamen Wahlen steht oder öffentliche Imageverluste aufweist (USA, Griechenland, Deutschland, Italien), die Initiative auf der diplomatische Ebene als Substitut der militärischen Intervention zunimmt. Hinzu kommt zweitens, dass das »Trittbrettfahrer«- oder »Drückebergerphänomen« hinsichtlich der Flüchtlingsfrage den hohen moralischen Anspruch der Intervention zunehmend diskreditiert. Drittens wird das Dilemma des formalen Einstimmigkeitsprinzips bei gleichzeitiger faktischer militärischer Vormachtstellung der USA zu einem wachsenden Problem zwischen Loyalität und Eigenständigkeit für die anderen Mitgliedsstaaten. So kommt es nicht von ungefähr, dass die Deutschen immer wieder auf den FischerPlan verweisen und die Franzosen und Italiener durch eigene diplomatische Initiativen ihre nationale Unabhängigkeit zu signalisieren versuchen.
Schließlich wächst die Einsicht, dass ohne den Einbezug von Russland und China einerseits und der UNO andererseits das Ausgangsdilemma von verfahrensmäßigem Unrecht und moralischer Gesinnungspolitik nicht lösbar ist. •
•
Beide Vetomächte machen zum einen deutlich, dass für sie im Zweifelsfall nationale Eigeninteressen (z.B. Tibet im Falle Chinas und die Verhinderung der Erweiterung der Einflusssphäre der Nato im Falle Russlands) wichtiger sind als eine Gesinnungspolitik, welche die Menschenrechte durch militärische Intervention durchzusetzen versucht. Zum anderen kann man ihnen dies gerade dann nicht mitteilen, wenn man auf ihre Bereitschaft zur Zustimmung für eine nichtmilitärische Lösung des Kosovokonflikts angewiesen ist (siehe Schröders Besuch in China).
7.4 Fragen zur Nichtintervention/Intervention in komplexe soziale Systeme 1. Macht Intervention/Nichtintervention einen Unterschied aus? 2. Kann und darf man ohne Mandat intervenieren?
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sondern auch dem serbischen Volk galt. Stand dieses nicht schon mehrheitlich hinter diesem, so solidarisierte es sich durch die Tötung von Landsleuten und der wachsenden Sachschäden zunehmend mit ihm. Ein weiteres Dilemma der Nato-Intervention ergibt sich daraus, dass trotz supranationaler Zielsetzung die nationalen Eigeninteressen der 19 Mitgliedsstaaten, wie bei jeder Logik kollektiven Handelns, die noch international und noch nicht postnational ist, im Laufe der Interventionszeit zunehmen. •
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So muss erstens jeder neuer Interventionsschritt im eigenen Parlament und/oder der Partei abgesegnet werden. Dies impliziert, dass vor allem in den Nato-Ländern, in denen der Druck der Öffentlichkeit und Oppositionsparteien in Richtung Nichtintervention wächst, die politische Führung vor bedeutsamen Wahlen steht oder öffentliche Imageverluste aufweist (USA, Griechenland, Deutschland, Italien), die Initiative auf der diplomatische Ebene als Substitut der militärischen Intervention zunimmt. Hinzu kommt zweitens, dass das »Trittbrettfahrer«- oder »Drückebergerphänomen« hinsichtlich der Flüchtlingsfrage den hohen moralischen Anspruch der Intervention zunehmend diskreditiert. Drittens wird das Dilemma des formalen Einstimmigkeitsprinzips bei gleichzeitiger faktischer militärischer Vormachtstellung der USA zu einem wachsenden Problem zwischen Loyalität und Eigenständigkeit für die anderen Mitgliedsstaaten. So kommt es nicht von ungefähr, dass die Deutschen immer wieder auf den FischerPlan verweisen und die Franzosen und Italiener durch eigene diplomatische Initiativen ihre nationale Unabhängigkeit zu signalisieren versuchen.
Schließlich wächst die Einsicht, dass ohne den Einbezug von Russland und China einerseits und der UNO andererseits das Ausgangsdilemma von verfahrensmäßigem Unrecht und moralischer Gesinnungspolitik nicht lösbar ist. •
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Beide Vetomächte machen zum einen deutlich, dass für sie im Zweifelsfall nationale Eigeninteressen (z.B. Tibet im Falle Chinas und die Verhinderung der Erweiterung der Einflusssphäre der Nato im Falle Russlands) wichtiger sind als eine Gesinnungspolitik, welche die Menschenrechte durch militärische Intervention durchzusetzen versucht. Zum anderen kann man ihnen dies gerade dann nicht mitteilen, wenn man auf ihre Bereitschaft zur Zustimmung für eine nichtmilitärische Lösung des Kosovokonflikts angewiesen ist (siehe Schröders Besuch in China).
7.4 Fragen zur Nichtintervention/Intervention in komplexe soziale Systeme 1. Macht Intervention/Nichtintervention einen Unterschied aus? 2. Kann und darf man ohne Mandat intervenieren?
7. Konfliktsysteme 3. Ist das Ziel der Intervention der Erhalt des intervenierten Systems mit seinen Subsystemen oder kann es auch ein legitimes Ziel sein, den Nichterhalt oder die Sezession von Subsystemen hinzunehmen? 4. Lässt sich der Abbruch der Intervention bei sichtbarer Erfolglosigkeit legitimieren? 5. Was sind die Erfolgskriterien bei der Intervention in komplexe soziale Systeme?
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8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
8.1 Systemtheorie und Lebenslauf: Zur Dynamik der Inklusion/Exklusion von Personen in der spätmodernen Gesellschaft 8.1.1
Warum Systemtheorie des modernen Lebenslaufs?
Der moderne Lebenslauf wurde bis dato im Kontext der Systemtheorie Luhmannscher Provenienz bzw. der »Bielefelder Schule« nur selektiv oder hochabstrakt thematisiert. So fungiert der Lebenslauf als Medium des Erziehungs- bzw. Bildungssystems (Luhmann 1997a); wird er durch den Begriff der »Lebenskarriere« bzw. Karriere im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft substituiert (Luhmann 1989b, 235; Luhmann 2000a, 101ff. u. 297ff.; Hohm 2002, 89ff.; Hohm 2020, 129ff.); spielt er bei deren Kopplung mit erwachsenen Personen eine mehr oder weniger explizite Rolle (Schimank 2002, 235ff.) und findet, je nach Präferenz hinsichtlich der Lebensphasen Kindheit, Jugend und Alter (Bette 1989, 63ff.; Saake 2006), selektiv Berücksichtigung. Was fehlt, ist eine Verknüpfung von Systemtheorie und Lebenslauf, welche diesen zum einen in Gänze thematisiert, d.h. in seiner Spannbreite von Geburt bis zum Tod bzw. seinen Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter (vgl. einige Formulierungen dazu Hohm 2016, 188ff.). Und zum anderen dabei konsequenter die Teiltheorien ausschöpft und fortschreibt, die speziell Niklas Luhmann vorgelegt hat. Erste Ansätze dazu wollen wir mit der folgenden Darstellung einzulösen versuchen. Dazu werden wir im ersten Schritt den modernen Lebenslauf im Kontext der allgemeinen Systemtheorie erörtern. Danach thematisieren wir ihn in Relation zur Differenzierungs-, Kommunikations- und Evolutionstheorie und schließlich beenden wir unsere Ausführungen mit einem kurzen Fazit.
8.1.2
Allgemeine Systemtheorie und der moderne Lebenslauf
Aus der Perspektive der allgemeinen Systemtheorie gilt es zwischen sozialen Systemen einerseits und organisch-psychischen Systemen andererseits zu unterscheiden. Reproduzieren sich jene durch Kommunikation, so diese durch Zellen und Bewusstsein (vgl. Luhmann 1995a; Luhmann 1997b, Bd. 1, 195ff.; Hohm 2016, 100ff.).
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Als Kommunikationssysteme und Bewusstseinssysteme sind soziale Systeme und psychische Systeme wechselseitig füreinander Umwelt. Als solche können beide Systemtypen nicht jenseits ihrer Grenzen operieren. Kommunikationssysteme z.B. nicht wahrnehmen und Bewusstseinssysteme nicht kommunizieren. Für die Sozialsysteme der Moderne bedeutet dies, dass der Mensch als organisch-psychisches System aus ihnen prinzipiell exkludiert bleibt, d.h. zu ihrer systemexternen Umwelt gehört. Gemeinsam ist den Sozialsystemen und psychischen Systemen jedoch, dass sie sinnkonstituierte Systeme sind, d.h. Sinn als Reproduktionsmedium in Anspruch nehmen (vgl. Luhmann 1984, 92ff.; Luhmann 1997b, Bd.1, 44ff.). Jene, indem sie sich der Sprache und Schrift als Kommunikationsmedien bedienen. Diese, indem sie mittels Gedanken und Wahrnehmungen bewusst operieren. Dadurch dass sich Sozialsysteme und psychische Systeme als sinnkonstituierte Systeme reproduzieren, können sie sich gegenseitig ihre Eigenkomplexität zur Verfügung stellen und sich irritieren. Implikationen der allgemeinen Systemtheorie für den modernen Lebenslauf Für die systemtheoretische Beobachtung des modernen Lebenslaufs impliziert das Gesagte Mehreres: a) Da die allgemeine Systemtheorie den Menschen als organisches System begreift, kann die Thematisierung des Lebenslaufs allein schon deshalb nicht von dieser Systemreferenz abstrahieren, weil nur der einzelne Mensch als organisches System im Gegensatz zu Sozialsystemen ein lebendes System darstellt. In diesem strikt biologischen Verständnis des Lebens beginnt der moderne Lebenslauf mit der Geburt und endet mit dem Tod des einzelnen Menschen als lebendem System. b) Erst recht muss jedoch der einzelne Mensch als psychisches System bei der Thematisierung des Lebenslaufs berücksichtigt werden. Als sinnkonstituiertes System nimmt er nämlich im Unterschied zum Tier als lebendem System mit zunehmendem Lebensalter seinen Körper bewusst wahr und macht sich über ihn Gedanken. Das schließt sowohl die vergangenheitsorientierte Reflexion über seine Herkunft bzw. Abstammung als auch die zukunftsorientierte über seine Endlichkeit bzw. seinen Tod mit ein. c) Für die soziologisch systemtheoretische Perspektive bleiben allerdings beide, der Organismus bzw. Körper und die Psyche des Menschen, bezogen auf die Sozialsysteme systemexterne Umwelt. Gleichwohl ist der moderne Lebenslauf ohne seine Formung durch die Sozialsysteme nur schwer vorstellbar. So kann der einzelne Mensch, wie wir spätestens seit Kaspar Hauser wissen, ohne Teilnahme an Kommunikationssystemen zwar physisch überleben, jedoch nur mit einer äußerst unterkomplexen Psyche und einer sehr stark reduzierten sozialen Kompetenz.
Sozialisation im Sinne der Teilnahme, d.h. der selektiven Inklusion des Menschen in soziale Systeme, ist deshalb eine notwendige Voraussetzung für den Take off und die Reproduktion des modernen Lebenslaufs. Dabei gilt es jedoch zum einen zu notieren, dass Sozialisation insofern immer Selbstsozialisation ist, als der einzelne Mensch das selegiert und erinnert, was für ihn als Bewusstseinssystem anschlussfähig ist. Und zum anderen darauf hinzuweisen, dass Sozialisation immer passiert, wenn Menschen an Kom-
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
munikationssystemen teilnehmen, unabhängig davon, wie ihr Erfolg oder Misserfolg bewertet wird. Ihr zentraler Unterschied zur Erziehung ist dementsprechend, dass sie ohne explizite Absicht geschieht (vgl. Luhmann 2002, 54). Die Frage stellt sich folglich, wie die Inklusion des einzelnen Menschen in Sozialsysteme möglich wird, wenn er doch gleichzeitig als organisch-psychisches System aus diesen exkludiert ist. Zu ihrer ansatzweisen Beantwortung müssen wir zu einer anderen Teiltheorie der neueren Systemtheorie übergehen: der Differenzierungstheorie.
8.1.3
Differenzierungstheorie und der moderne Lebenslauf
Die Differenzierungstheorie können wir zum einen auf die Gesellschaft als umfassendes Sozialsystem und ihre Evolution seit den archaischen Gesellschaften beziehen. Zum anderen auf die sich innerhalb der Gesellschaft im Laufe ihrer Evolution vollziehende Unterscheidung und Abgrenzung von verschiedenen Typen sozialer Systeme. In der Moderne ist das hauptsächlich die Differenzierung von Gesellschaft, Organisation und Interaktion (vgl. Luhmann 1975c; Luhmann 1997b, Bd.1, 16ff.; Bd.2, 813ff. u. 826ff.). Für die Gegenwart bedeutet dies, dass es nur noch eine Gesellschaft gibt, die sich im Medium weltweit oder global erreichbarer Kommunikation reproduziert und als Weltgesellschaft bezeichnen lässt (vgl. Luhmann 1997b, Bd.1, 145ff.; Stichweh 2000). Sie ist vor allem durch den Primat der funktionalen Differenzierung gekennzeichnet (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 743ff.). Dieser besagt, dass sich die Weltgesellschaft in eine Vielzahl von Teil- bzw. Funktionssystemen, wie die Wirtschaft, Massenmedien, Politik, Wissenschaft, Erziehung, Medizin, das Recht etc., ausdifferenziert. Obwohl sich der Primat der funktionalen Differenzierung in der modernen Weltgesellschaft durchgesetzt hat, kontinuieren weiterhin andere Differenzierungsformen. Sie dominierten im Rahmen der vormodernen Gesellschaften, nehmen nun aber eine eher nachrangige bzw. veränderte Form durch jenen Primat an. Das gilt zunächst für die segmentäre Differenzierung. Darunter verstehen wir eine Differenzierungsform, die auf dem wiederholten Vorkommen gleicher Typen sozialer Systeme basiert. Zum einen trifft dies auf die Intimsysteme und zum anderen auf die Nationalstaaten zu, welche im ersten Fall in millionenfacher Form und im zweiten Fall in 196facher Form vorkommen. Trotz ihrer segmentären Differenzierung wird jedoch im Zuge der Globalisierung deutlich, dass Intimsysteme als binationale oder bikulturelle zunehmend die territorialen Grenzen hinsichtlich der Partnerwahl sprengen. Und die Nationalstaaten verstärkt durch transnationale Organisationen, wie die UNO oder die EU und andere regionale politische Zusammenschlüsse, bei nur noch transnational zu entscheidenden politischen Problemen trotz des Subsidiaritätsprinzips Einbußen im Hinblick auf ihre territoriale Souveränität erleiden. Ferner verliert mit der Globalisierung der Funktionssysteme auch die für vormoderne Großreiche, wie beispielsweise das römische oder byzantinische Reich, charakteristische Differenzierungsform von Zentrum-Peripherie an gesellschaftlichem Einfluss. Sie bezog sich auf die Ungleichheit von einem regionalen Zentrum im Verhältnis zu ihren peripheren Regionen. Die semantische Unterscheidung der einen Weltgesellschaft in die der Ersten, Zweiten und Dritten Welt macht dies hinreichend deutlich. Sie identifiziert die Erste Welt mit den Modernisierungszentren, die Dritte Welt mit der Peripherie der
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Weltgesellschaft und die Zweite Welt mit denjenigen Regionen, die sich als sogenannte Schwellenländer zwischen beide schieben. Im Unterschied zu den vormodernen Großreichen handelt es sich somit bei der Ersten Welt nicht mehr nur um eine monozentrische, sondern um eine polyzentrische Gesellschaft mit mehreren Modernisierungszentren (vgl. Luhmann 1995b, 10). Hinzu kommt, dass der Primat der funktionalen Differenzierung die Dominanz einer Supermacht, z.B. der USA, verhindert. So ist sie in der Weltpolitik auf die Kooperation mit den G7 Staaten angewiesen, in der Weltwirtschaft auf die globalen Finanz-, Güter- und Dienstleistungsmärkte, in den Massenmedien auf die Beobachtung durch die Weltöffentlichkeit, im globalen Verkehrssystem auf die Öffnung gegenüber Transportmedien aus aller Welt, im Wissenschaftssystem auf den globalen Erkenntnisgewinn etc. Schließlich dominierte die stratifikatorische Differenzierung in vormodernen Gesellschaften, welche die regionale Unterscheidung der Zentrum-Peripherie-Differenz durch eine hierarchische Ordnung ergänzte, die sich in schichtenspezifische Teilsysteme differenzierte (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 678ff.). Als solche erzeugte sie eine besondere Form sozialstruktureller Ungleichheit, indem sie nahezu jedes Individuum der Gesamtbevölkerung mittels ihrer segmentär differenzierten Familienhaushalte in eines der vertikal differenzierten schichtenspezifischen Teilsysteme inkludierte. Als Teil der Gesellschaft repräsentierte eine kleine adelige Oberschicht die Gesellschaft der Gesellschaft, von der die anderen Schichten in unterschiedlicher Form durch Rechte und Pflichten abhängig waren. Dominierte im Verhältnis der Schichten zueinander herkunftsbedingte soziale Ungleichheit, existierte innerhalb der Schichten soziale Gleichheit. Diese wurde nur durch den geschlechtsspezifischen Vorrang des Hausherrn und die Nachrangigkeit des Dienstpersonals im Kontext der Familienhaushalte durchbrochen. Wer in dieser hierarchischen Ordnung keinen Platz fand, wurde aus ihr exkludiert. Wenn er nicht in Klöstern oder Universitäten unterkam, was besonders für die Angehörigen der oberen Schicht galt, fristete er sein prekäres Dasein als Bettler, Outlaw oder Angehöriger eines verachteten Berufs. Die Organisationen, speziell die Arbeitsorganisationen, verweisen auf einen zweiten Typ von Sozialsystemen, der sich seit Ende des 19. Jahrhunderts zwischen die umfassende Gesellschaft und die Interaktionssysteme schob (vgl. Luhmann 1976; Luhmann 2000a; Hohm 2016, 33ff.). Im Unterschied zur Weltgesellschaft und zu Funktionssystemen grenzen sich moderne Organisationen nicht durch die Differenz von Kommunikation/Nichtkommunikation oder durch funktionssystemspezifische Codes, sondern durch die Kommunikation von Entscheidungen gegenüber ihrer gesellschaftsinternen Umwelt ab. Sie sind Entscheidungssysteme (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 830; Luhmann 2000a, 63ff.; Hohm 2016, 34). All ihre zentralen Ereignisse, Prozesse und Strukturen basieren auf Entscheidungen und ihrer kommunikativen Verknüpfung. Dies gilt für ihre Gründung und Beendigung; die Mitgliedschaft/Nichtmitgliedschaft durch Einstellung und Entlassung; die organisationsinterne Mobilität der Mitglieder durch Versetzung und Beförderung; ihre Programme, seien es Zweck- oder Konditionalprogramme; ihr Organisieren durch die Zuordnung von Hierarchien und horizontaler Kooperation; ihre Planung und ihre Reformen; für Fusionen und Ausgliederungen und nicht zuletzt für ihre Ressourcenbeschaffung.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
Am klarsten manifestiert sich diese kommunikative Reproduktion durch Entscheidungen anhand des Begriffs der Stelle, der eine Koordination von Personen, Programmen mit Aufgaben und die Zuteilung auf eine Hierarchie und einen Fachbereich oder eine Abteilung darstellt. Stellen lassen sich mithin als dreifache Form von Entscheidungsprämissen begreifen, welche als Struktur einer Organisation die Spielräume der konkreten Entscheidungsprozesse limitieren, ohne sie im Detail festzuzurren (vgl. Luhmann 2000a, 231). Des Weiteren kommen Organisationen im Unterschied zu den Funktionssystemen normalerweise nicht nur als ein einzelnes global expandierendes gesellschaftliches Teilsystem vor, sondern in Form einer Vielfalt. Sie sind segmentär differenziert als Krankenhäuser, Fachhochschulen, Banken, Unternehmen, Behörden, Kirchen, Schulen, Gerichte etc. Zugleich sind sie in aller Regel primär einem der Funktionssysteme zuzurechnen und orientieren sich in ihrer Organisationskommunikation primär an dessen jeweiligem Code. Krankenhäuser am Medizincode krank/gesund, Gerichte am Rechtscode Recht/Unrecht, Fachhochschulen am pädagogischen Code vermittelbar/nicht vermittelbar, Banken und Unternehmen am Wirtschaftscode zahlungsfähig/zahlungsunfähig etc. Ihre Besonderheit, Unverwechselbarkeit und Individualität gewinnen sie durch die jeweils konkrete Selektion ihrer Entscheidungsprämissen, sprich die Rekrutierung bestimmter Person(en) anstelle anderer Personen, die Entscheidung für spezifische Investitions-, Theorie-, Behandlungsprogramme, didaktische Programme im Gegensatz zu anderen möglichen Programmen und die besondere Einteilung in die jeweiligen besonderen Fachbereiche und Hierarchien im Unterschied zu heterarchischeren Möglichkeiten des Organisierens. Schließlich weisen sie eine spezifische Organisationskultur mit unentscheidbaren Entscheidungsprämissen auf (vgl. Luhmann 2000a, 240ff.). Dazu gehören u.a. die impliziten Werte, die in der Organisationskommunikation vorausgesetzt werden, ohne als Resultat der Entscheidung erinnert zu werden. Interaktionssysteme als dritter Typ sozialer Systeme (vgl. Hohm 2016, 23ff.) grenzen sich in der Weltgesellschaft qua Differenz von Anwesenheit/Abwesenheit mit der Präferenz für Anwesenheit ab. Sie sind zeitlimitierte Systeme, d.h. durch einen klaren Anfang und Ende gekennzeichnet. Als Episoden der Gesellschaft können sie sich in Form von flüchtigen und organisierten Interaktionssystemen kommunikativ reproduzieren. Finden erstere normalerweise in den Zwischen- und Wartezeiten der funktionssystemspezifischen Organisationen als Fahrtstuhlfahrt, Warten des Studierenden auf die Sprechstunde des Professors, des Patienten auf die Behandlung der Ärztin, Warten am Infoschalter der Bahn, an der Supermarktkasse, einer Verkehrsampel, der Begegnung im Zug etc. qua einmaliger Situationssysteme statt, sind die organisierten Interaktionssysteme das Resultat der Entscheidungsprogramme der jeweiligen Organisationen, in die sie eingebettet sind. Diese legen fest, wann, wo, wer mit wem zu welchem Thema unter Bedingungen der Anwesenheit zusammenkommt. Das impliziert allerdings nicht, dass die so in Gang gesetzten Interaktionssysteme durch die Entscheidungsprogramme voll determiniert sind. Im Gegensatz zu den flüchtigen Interaktionssystemen können sie durch eine organisationsspezifisch unterschiedliche Anzahl von Treffen eine eigene Systemgeschichte mit einer daraus resultierenden Individualität bzw. Unverwechselbarkeit kommunikativ aufbauen, mit der sich die Anwesenden von den Abwesenden zusätzlich
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
abgrenzen. Man denke an ein Hochschulseminar, den Schulunterricht, das gemeinsame Training von Sportlern, die Teamsitzungen eines Unternehmens, die wiederholten Theateraufführungen eines Schauspielensembles etc.
8.1.3.1
Differenzierungstheoretische Implikationen für den modernen Lebenslauf
8.1.3.1.1 Inklusion der Person durch Rollen Für den einzelnen modernen Menschen heißt all dies, dass es für ihn im Gegensatz zur hierachischen Gesellschaftsordnung der Vormoderne nicht mehr ausreicht, in ein einzelnes Teilsystem, sei es den Familienhaushalt und/oder den Stand bzw. die Schicht, inkludiert zu sein. Statt der Inklusion in ein Funktionssystem wird für ihn im Kontext seines Lebenslaufs die Teilnahme an vielen Funktionssystemen notwendig. Für die Mehrheit der Bevölkerung bezieht sich diese Inklusionsform auf die Übernahme von Laien- bzw. Publikumsrollen als Kunde, massenmediales Publikum, Wähler, Student, Schüler, Verkehrsteilnehmer, Patient, Rechtsbürger, Museumsbesucher etc. (vgl. Burzan u.a. 2008, 29ff.; Hohm 2015, Hohm 2016, 145ff.). Sie wird vor allem durch die Semantik von Gleichheit legitimiert. Dabei handelt es sich bei diesen Laien- bzw. Publikumsrollen gleichzeitig um Komplementärrollen von primären Leistungsrollen. Als Berufsrollen – Verkäufer, Journalist, Politiker, Professor, Lehrer, Arzt, Anwalt etc. – setzen diese eine Stellenbewerbung und Einstellungsentscheidungen der Arbeitsorganisationen der jeweiligen Funktionssysteme voraus. Hinsichtlich der jeweiligen Arbeitsorganisation impliziert dies, dass mit Ausnahme ihrer Stelleninhaber die Mehrzahl der erwachsenen Bevölkerung aus ihr exkludiert ist. Die Inklusion des einzelnen Menschen in die Funktionssysteme, Organisationen und Interaktionssysteme erfolgt jedoch nicht als organisch-psychisches System, sondern jeweils selektiv und sequenziell in Form von Karrieren (vgl. dazu Luhmann 1989b, 232ff.; Hohm 2002, 89ff.; Hohm 2016, 216ff.; Hohm 2020, 129ff.), sei es mittels Laienrollen, sei es durch primäre Leistungsrollen. Deren Medium sind normative oder kognitive Erwartungen, die ihre lebenslaufspezifische Form qua unterschiedlicher Grade der Verpflichtung als Muss-, Soll- oder Kannerwartungen im Kontext verschiedener Lebensphasen erhalten. (vgl. Luhmann 1972, 40ff.; Luhmann 1993, 133ff.). Die Multiinklusion der Person im Kontext des Lebenslaufs stellt mithin in der funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne das Korrelat zur Pluralität der Funktionssysteme dar. Dabei greifen die Sozialsysteme vorwiegend auf die Semantik der Person anstelle der Semantik des Menschen zurück, wenn sie die Adressstelle für die Rollenerwartungen kommunikativ identifizieren. Sie referieren dabei allerdings nicht auf die ganze Person oder Vollperson, sondern nur auf einen Ausschnitt von ihr. Einzig in Intimsystemen wird diese Form der Adressierung mittels des Mediums der romantische Liebe als höchstpersönliche Kommunikation zu realisieren versucht (vgl. Tyrell 1987). So rekrutieren die funktionssystemspezifischen Arbeitsorganisationen der Modernisierungszentren
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
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hauptsächlich erwachsene Personen für ihre Stellen. Die anderen Personen- und Altersgruppen der Bevölkerung können aufgrund des Verbots der Kinderarbeit, der längeren Inklusionszeiten der Jugendlichen in den Schulen und Hochschulen des Bildungssystems sowie der Verrentung der Senioren und Seniorinnen entweder noch nicht oder nicht mehr in sie inkludiert werden. Die funktionssystemspezifischen Arbeitsorganisationen generieren damit Erwerbskarrieren ihrer Mitglieder, die oftmals zur Hauptkarriere der erwachsenen Personen werden und ihren Lebenslauf zentral bestimmen. Ob diese in eine Positivkarriere bis hin zur Glanzkarriere einmündet, zur Nullkarriere mutiert oder in eine Negativkarriere als dunkle Seite der Karriere umschlägt, ist das Resultat der Kombination von Selbstselektion und Fremdselektion sowie Zufall und Life-events (vgl. Corsi 1993; Hohm 2002, 109ff.; Hohm 2020, 129ff.). Auch wenn die Person dabei nicht als ganze Person, sondern nur teilweise als Mitglied inkludiert wird, sind die Fremderwartungen durch die Arbeitsorganisation und die eigenen Ansprüche hinsichtlich der persönlichen Kompetenzen und Ressourcen sowie der persönlichen Identifikation mit der Stelle und die Rücksichtnahme auf die organisationsexternen Rollen der Person sehr unterschiedlich. Man denke nur an die Tätigkeiten eines Industriearbeiters in einer befristeten Stelle, an eine standardisierte Dienstleistung wie die eines Kontrolleurs im öffentlichen Nahverkehr oder die personengebundenen Dienstleistungen eines Anwaltes, Arztes oder Therapeuten.
Wenn wir mit Luhmann den Lebenslauf der Person zurechnen (vgl. Luhmann 2000a, 105), dann können wir im Anschluss an sein Gesamtwerk mindestens vier unterschiedliche Personentheorien unterscheiden (vgl. Hohm 2015): die erwartungs-, moral-, kommunikations- und formtheoretische Variante der Person. Im Kontext der Erwartungstheorie (vgl. Luhmann 1972, 85ff.; Hohm 2016, 176ff.) ist die Person die konkreteste Identifikations- bzw. Adressstelle von Sozialsystemen im Unterschied zu Rollen, Programmen und Werten, die abstraktere Erwartungen implizieren. Um die Erwartungen einer konkreten Person erfüllen zu können, z.B. sie angemessen zu beschenken, muss man sie gut kennen, sprich eine Systemgeschichte mit ihr im Kontext des Lebenslaufs aufgebaut haben. Das trifft vor allem auf diejenigen Personen des eigenen Netzwerkes zu, mit denen man verwandt ist, zusammenlebt, befreundet ist oder funktionssystem- und organisationsspezifisch wiederholte Kontakte gemäß des Gesetzes des Wiedersehens wie im Falle von Kollegen aufweist. Im Kontext der Kommunikationstheorie (vgl. Luhmann 2000a, 89ff.) knüpft die Person an die dreistellige Selektion von Mitteilung, Information, Verstehen der Kommunikation als Grundoperation sozialer Systeme an. Die Person kann dementsprechend lebenslaufspezifisch – je nach Kommunikationsmedium – zum Sprecher oder Hörer bzw. Autor oder Leser, aber auch zum Thema der Kommunikation werden. Wir werden darauf später noch genauer zurückkommen. Im Kontext der Moraltheorie (vgl. Luhmann 1989a, 365) steht die Person als ganze auf dem Spiel. Wenn sie sich im Rahmen ihres Lebenslaufes moralisch engagiert und entsprechend kommuniziert, signalisiert sie, dass sie mit den kommunizierten Themen ihre persönliche Achtung verbindet. Divergierende Ansichten des Gegenübers können somit
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
streitauslösend wirken. Es ist dann wahrscheinlicher, dass die Moralkommunikation die Betroffenen im Kontext ihres Lebenslaufs entzweit als verbindet. Im Kontext der Form-bzw. Medientheorie (vgl. Luhmann 1995d) wird die Person nicht als eigenständiges System betrachtet, was Luhmann noch in der Frühphase seiner Theoriearbeit unterstellte (vgl. Luhmann [1978, 30]: »Die Systemtheorie kann ihre analytischen Möglichkeiten nur ausschöpfen, wenn sie soziale Systeme und personale Systeme als unterschiedliche Systemreferenzen unterscheidet […]«; vgl. auch Schimank 2002, 15). Stattdessen verweist der Begriff der Person auf eine strukturelle Kopplung von psychischem System und Sozialsystemen (vgl. Luhmann 1995b, 153). Als solcher indiziert er unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten des Lebenslaufs, einmal bezüglich des psychischen Systems und seiner Bewusstseinsoperationen, einmal bezüglich der Sozialsysteme und ihrer Kommunikationen. Dem psychischen System der Person als Umwelt von Sozialsystemen entspricht dementsprechend eine andere Beobachtung und Zurechnung ihres Lebenslaufs als die der Fremdbeobachtung durch die Sozialsysteme. Wird der Lebenslauf auf das psychische System zugerechnet, ist er mit denjenigen Ereignissen gleichzusetzen, die das Bewusstseinssystem als intendierte in der jeweiligen Gegenwart memoriert und antizipiert. Latentes im Sinne von bewusstseinsförmig Unzugänglichem, Verdrängtem oder Vergessenem wird ausgeklammert. Zudem wird sich das psychische System Ereignisse von Sozialsystemen nicht zurechnen lassen, die es nicht mehr erinnern kann. Man sieht anhand der vorangegangenen Überlegungen, dass die Zurechnung des Lebenslaufs auf das psychische System eine durchaus plausible ist, jedoch in soziologischer Perspektive die Fremdbeobachtung durch Sozialsysteme oder auch andere Personen ausblendet. Die Selbstbeobachtung oder Selbstbeschreibung der Person in Form der Autobiografie ist dementsprechend von der Fremdbeobachtung und Fremdbeschreibung (= »Heterobiografie«) durch andere zu unterscheiden. Das psychische System muss sich folglich als Person, die immer auch sozial konstruiert und adressiert wird, Ereignisse seines Lebenslaufs zurechnen lassen, die es selbst bewusst oder unbewusst nicht erwähnenswert findet, vergessen oder verdrängt hat oder als peinlich empfindet. Die Person wird deshalb im Zuge ihres Lebenslaufs auch damit rechnen müssen, mit der Unperson als ihrer anderen Seite konfrontiert zu werden (vgl. Goffman 1983, 138ff.; Luhmann 1995d, 148–149; Luhmann 1995e, 252). Das gilt nicht nur für prominente Personen, die die Verantwortung für bestimmte vergangene biografische Entscheidungen zu leugnen versuchen, wenn investigative Journalisten sie publizieren, sondern auch für Nobodys, wenngleich mit geringerer öffentlicher Resonanz. Wird der Lebenslauf der Person zugerechnet, wächst mit deren altersspezifischen Transformation vom Kind über den Jugendlichen zum Erwachsenen und Senior die Zuschreibung des Handelns und Erlebens auf das psychische System der Person durch die sozialen Systeme und damit auch die Verantwortung für den eigenen persönlichen Lebenslauf. Als Bezugseinheit des Lebenslaufs kann die Person als Form also nicht nur für das psychische System, sondern auch die Sozialsysteme fungieren. Für das psychische System ist sie die bewusste Form, welche aus der locker gekoppelten Kombinationsmöglichkeit von Vorstellungen der eigenen Person, sprich deren Eigenkomplexität, die strikte bzw. feste Kopplung selegiert. Die Person ist als Form dementsprechend die instabile und unterkomplexe, aber zugleich sichtbare Kopplung aus ei-
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
ner Fülle ihrer Möglichkeiten. Ihre Dynamik ergibt sich dann daraus, dass sie die Form mit der Zeit im Sinne der Paradoxie einer dynamischen Stabilität variieren können muss. Umgekehrt stellt die Person für die Sozialsysteme diejenige Erwartungseinheit dar, die im Medium der Kommunikation, sprich der Mitteilungen, Informationen oder des Verstehens der Person, zu einer Form kondensiert. Wenn sich die Sozialsysteme durch Kommunikation reproduzieren und sich dabei des Mediums der Sprache oder der Schrift bedienen, wird für sie die Person als Reduktion aus einer Fülle von möglichen Informationen über sie zum Thema. Dabei kann man die Kombinationsmöglichkeiten von Vor- und Nachnamen bzw. von Zahlen, Buchstaben und Sonderzeichen als lose Kopplung bezeichnen, aus der die strikte Kopplung von bestimmten Namen, z.B. Niklas Luhmann, oder Passwörtern, z.B. 18$Aqbcd, erwächst. Die kommunikative Dynamik und Tiefenschärfe der Form Person durch die Beobachtung der Funktionssysteme, Organisationen oder Interaktionssysteme variiert mithin in dem Maße, wie sich »Daten«, sprich gespeichertes Wissen, über die Person in sachlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht gewinnen lassen (Nassehi 2019, 293ff.). Die Person ist folglich eine doppelte Form mit unterschiedlichen bewusstseins- oder kommunikationsförmigen Anschlussmöglichkeiten für psychische Systeme oder Sozialsysteme. Einerseits können diese auf die Person als Thema, Sprecher und Hörer, Leser und Autor referieren. Andererseits kann das psychische System diese Referenz beeinflussen bzw. zu beeinflussen versuchen, indem es durch Selbstselektion zu steuern versucht, wie und ob es als Person zum Thema wird bzw. wie es die Rollen der Sprecherin, des Hörer, Lesers und der Autors einnimmt. Bei genauerem Zusehen wird jedoch deutlich, dass es bereits zu Beginn des Lebens vielerlei kommunizierte Informationen zur Person gibt, welche das psychische System noch nicht autonom steuern kann. Man denke nur an das Geburtsdatum, den Geburtsort, die Dokumente der Kinderklinik, der Kommune, die Fotos der Eltern etc. Wenn das psychische System bewusst selegieren kann und will, was es von sich preiszugeben bereit ist und was nicht, wird es rückblickend mit Fremdbeobachtungen und -beschreibungen seines vergangenen Lebenslaufs konfrontiert, die seiner Person zugerechnet werden, obwohl es diesen nicht zugestimmt hat. Die Relation Person/psychisches System wird mithin bereits durch Sozialsysteme und andere psychische Systeme und Personen in Gang gesetzt, bevor das psychische System durch Selbstselektion mitbestimmen kann, wie es als Person in Sozialsystemen zum Thema und adressiert wird bzw. sich selbst adressiert. Die Relation psychisches System/Person/Sozialsysteme läuft somit zunächst in der Form an, dass qua fremdselegierter Namensgebung seitens der Eltern und durch das dokumentierte Körperbild die Person des Kleinkindes von verschiedenen Sozialsystemen als einzigartige und unverwechselbare kommunikativ adressiert wird, ohne dass es selbst diese Adressierung bewusstseinsförmig schon nachvollziehen könnte. Die Sozialsysteme zollen dieser Asymmetrie von Person und Blackbox des psychischen Systems insofern Tribut, als sie dessen Autopoiesis als formbares Medium konstruieren und die Form Person als instabil und labil ansehen, der sie noch keine Selbststeuerung unterstellen. Die Semantik der Person wird dementsprechend durch die Semantik des Kindes respezifiziert (vgl. Luhmann 1995g) und die Form Person als eine be-
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schrieben, die sich noch in Entwicklung befindet, noch »unreif«, noch nicht für ihr Handeln und Erleben selbst verantwortlich ist. Die Differenz psychisches System/Person kehrt sich also erst allmählich im Lebenslauf in dem Sinne um, dass das psychische System aufgrund größerer Eigenkomplexität des Bewusstseins und umfassender Inklusion in die Sozialsysteme Bewusstseinsüberschüsse bezüglich seiner eigenen Person aufweist. Die Form Person als Thema, Sprecher, Hörer, Autor oder Leser der Kommunikationssysteme ist mithin eine Reduktion der Möglichkeiten, verglichen mit dem, was die Person von sich weiß und preisgeben kann und will – und zwar bedingt durch die dominante rollenspezifische Reduktion der jeweiligen Sozialsysteme. Jedoch kursieren besonders bei hoch vernetzten Personen, z.B. Prominenten, unzählige Informationen über die Person, die wir als einen Kommunikationsüberschuss der sozialen Systeme, gemessen an den bewussten Gedanken und Wahrnehmungen der Person, bezeichnen wollen. Es gibt also nicht nur einen Bewusstseinsüberschuss seitens des psychischen Systems der Person im Hinblick auf das, was es über sich als Person zu kommunizieren bereit ist, sondern auch einen Kommunikationsüberschuss der Sozialsysteme im Hinblick auf das, was das psychische System von sich aus als Person preisgeben will. Und zwar nicht nur in der frühen Kindheitsphase, sondern in allen Lebensphasen, wobei das am deutlichsten bei Prominenten zu beobachten ist, aber im Zuge des Internets und der sozialen Medien gewissermaßen demokratisiert wird. Kommunikationsüberschüsse bezüglich der Person und ihres Lebenslaufs lassen sich dann in sachlicher Hinsicht an den Informationen bzw. Themen über die Person festmachen, die diese zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Lebenslauf, sei es freiwillig, sei es verbindlich abgegeben hat, und inzwischen vergessen hat. In sozialer Hinsicht bezüglich von Personen oder Sozialsystemen, welche die Person vergessen oder verdrängt hat. In räumlicher Hinsicht bezüglich bestimmter Aufenthaltsorte, an die sich die Person nicht mehr erinnern kann. Und schließlich in zeitlicher Hinsicht in Bezug auf Zeiten des Lebenslaufs, die für die Person peinlich sind oder verdrängt wurden. Lebenslaufspezifische Kommunikations- und Bewusstseinsüberschüsse können für die Person unterschiedliche Relevanz bekommen. So kann mittels Google und anderer Suchmaschinen der Kommunikationsüberschuss nicht nur von prominenten Personen, sondern auch von unbekannteren Personen dazu führen, dass anhand unterschiedlicher Einträge, die von ihnen zu unterschiedlichen Zeiten veranlasst wurden, ein Teil ihres Lebenslaufs rekonstruiert wird. Der Datenschutz ist für die Personen heute deshalb nicht nur eine institutionelle, sondern zunehmend auch eine persönliche Frage im Sinne von entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen im Internet, wie z.B. Antivirenprogrammen, verschlüsselter Passwörter etc. Im Kontext der allgemeinen Systemtheorie hatten wir bereits gesehen, dass der Mensch wie das Tier ein lebendes System ist. Im Unterschied zu diesem kommt jedoch hinzu, dass er sich als psychisches System beides, Geburt und Tod, in einem spezifischen Sinn bewusst machen kann, nämlich retrospektiv die Geburt und prospektiv den Tod. Das Besondere, was sich daraus für den Anfang und das Ende des menschlichen Lebenslaufs ergibt, ist nicht nur deren Kontingenz als existenzielle Karriereereignisse (vgl. Luhmann 1989b, 233), sondern auch die asymmetrische Differenz von Selbst-
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
und Fremdbeobachtung bzw.- beschreibung. In striktem Sinne sind nämlich dem einzelnen Menschen als psychischem System sowohl seine Geburt als auch sein Tod bewusstseinsförmig unmittelbar unzugänglich. Sie sind als biografische Ereignisse für den betroffenen Menschen nicht memorierbar, sei es, weil das Bewusstsein noch nicht hinreichend entwickelt ist, wie im Falle der Geburt; sei es, weil es nicht mehr existiert bzw. seinen Geist aufgegeben hat (animam efflare), wie im Falle des Todes. Beide sind vielmehr das Resultat von Fremdbeobachtungen und -beschreibungen durch Dritte. Die Startinklusion und finale Exklusion des menschlichen Lebenslaufs sind mithin an soziale Systeme und deren Dokumentationen gebunden, z.B. durch Ausstellung einer Geburtsurkunde und Sterbeurkunde. Interessant ist dabei, dass in beiden Fällen bewusste Mitteilungen von der betroffenen Person entweder gar nicht vorliegen, siehe Geburt, oder vorher eingeholt werden müssen, siehe Bewusstlosigkeit bzw. Sterbehilfe. 8.1.3.1.2 Exklusion der Person aus Rollen Freilich weist die Inklusion auch eine andere Seite, die der Exklusion auf (vgl. Stichweh 2004; Luhmann 1995e; Hohm 2012; Hohm 2016, 155ff.). Aus systemtheoretischer Perspektive lässt sich die Weltgesellschaft, wie wir sahen, heute im Unterschied zu den vormodernen Gesellschaften weder als globale hierarchische Ordnung mit weltweiten schichtenspezifischen Teilsystemen und einer Spitze noch als ein Zentrum mit einer Peripherie beschreiben. Deshalb ist es auch nicht mehr die Gesamtgesellschaft, die als hierarchische Ordnung die Inklusion und Exklusion von Personen und Personengruppen und damit ihren Lebenslauf regelt, sondern sind es die einzelnen Funktionssysteme, die dieses Problem in einer nicht koordinierten und lose gekoppelten heterarchischen Form lösen müssen. Dabei durchdringt die Eigendynamik der Funktionssysteme nicht alle Regionen der Weltgesellschaft in gleichem Tempo. Vielmehr existiert eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in dem Sinne, dass die Regionalgesellschaften der Weltgesellschaft, speziell ihre Nationalstaaten, der Eigendynamik der Funktionssysteme mit unterschiedlichen, historisch bedingten Möglichkeiten und Restriktionen begegnen (vgl. Stichweh 2000, 85ff.; Stichweh 2010, 162ff.). Man denke in diesem Kontext nur an die verschieden erfolgte Entkolonialisierung in der Dritten Welt, die Folgeprobleme des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums, die Beendigung des Kalten Krieges oder die religiös motivierten fundamentalistischen Bewegungen in islamischen Regionen der Weltgesellschaft. All diese Ereignisse haben dazu geführt, dass es in der Dritten Welt, aber auch in Teilen der sogenannten Zweiten Welt nach wie vor dramatische Formen der sozialen Ungleichheit gibt, die sich massiv von denen der Modernisierungszentren unterscheiden. Am deutlichsten sichtbar wird dies anhand der Differenz von Inklusion und Exklusion der jeweiligen Segmente der Weltbevölkerung hinsichtlich der Funktionssysteme. •
Während die Mehrheit der Gesamtbevölkerung in den Modernisierungszentren in jene qua Lebenslauf inkludiert und eine (wachsende) Minderheit aus ihnen exkludiert ist, ist in den peripheren Regionen der Weltgesellschaft eine Minderheit in sie
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inkludiert und die Mehrheit der Bevölkerung aus den jeweiligen Funktionssystemen lebenslaufspezifisch exkludiert. Als Modernisierungsverlierer sind sie vom politischen System als Wähler ausgeschlossen, fehlt ihnen der Zugang zum Medizinsystem im Falle von Krankheit, wird ihnen vom Rechtssystem ein rechtsstaatliches Verfahren verwehrt, verhindert ihr Analphabetentum die Teilnahme am Bildungssystem, führt ihre Zahlungsunfähigkeit durch Erwerbslosigkeit und die Zerstörung lokaler landwirtschaftlicher Produktionsmöglichkeiten zu absoluter Armut und Verhungern, können sie nicht an den elektronischen Medien, wie Internet, teilnehmen etc. Mit anderen Worten: die Mehrheit der Gesamtbevölkerung dieser Regionen der Weltgesellschaft wird durch Mehrfachexklusion aus den jeweiligen Funktionssystemen im Kontext ihres Lebenslaufs ausgeschlossen – was in eklatantem Kontrast zur Inklusion der jeweiligen privilegierten Minderheit der dortigen Bevölkerung steht.
Ihr Exklusionsbereich manifestiert sich mithin in Formen, die sich von denen der Modernisierungszentren in mehrfacher Hinsicht gravierend unterscheiden (siehe für diese Thomas 2010; Hohm 2011, 42ff.): •
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Im quantitativem Ausmaß der Exkludierten, sprich der Anzahl derjenigen Personengruppen, die aus den jeweiligen Funktionssystemen exkludiert werden. Es handelt sich um eine Anzahl, die ca. eine Milliarde Personen betrifft. Nach dem Grad der lebenslaufspezifischen Risiken hinsichtlich der Gefährdungen des Körpers und der Psyche der Exkludierten sowie ihrer kommunikativen Achtung als Personen. Sie mutieren zu Unpersonen, denen trotz formaler Berechtigung der Zugang zu den Funktionssystemen mit den entsprechenden Folgeproblemen verwehrt wird (siehe Luhmann 1995e, 252). Man denke nur an die verbreitete Kindersterblichkeit, die Diffusion von Aids, die organisierte Kriminalität oder die Bedrohung und Verfolgung von politisch Oppositionellen. Bezüglich der Wohnquartiere und der Wohnkarriere, welche als prekäre Unterkünfte die Form von Slums mit minimalsten Infrastrukturleistungen bezüglich elementarer Versorgungsmöglichkeiten annehmen. Hinsichtlich der wohlfahrtsstaatlichen und sonstigen Formen der Hilfe, die zum Teil durch korrupte politische Regime und partikulare »Netzwerke der Gunsterweise und Vorteilsverschiebungen« an ihrer legalen Durchführung gehindert werden (vgl. Luhmann 1995e, 251). Im Hinblick auf die selbstorganisierten Formen des Überlebens, bei denen eine hohe Negativintegration durch körperbetonte Selbstbehauptungsstrategien der Gewaltkriminalität, Prostitution, des Bettelns etc. den Lebenslauf dominiert (vgl. Luhmann 1995e, 263).
Indem die Organisationen der Funktionssysteme die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung durch ihre Entscheidungen zu Mitgliedern machen, generieren sie, wie bereits ausgeführt, Erwerbskarrieren. Die Kehrseite oder dunkle Seite der organisationsspezifischen Konstitution von mitgliedsbedingten Karrieren ist dementsprechend die Exklusion aus den Arbeitsorganisationen in Form der Erwerbslosigkeit, da es weder ein Recht
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
auf Erwerbsarbeit noch ein Recht auf eine Erwerbskarriere in modernen Gesellschaften gibt.
8.1.4
Kommunikationstheorie und der moderne Lebenslauf
8.1.4.1 Kommunikationstheoretische Implikationen für den Lebenslauf Wie wir bereits erwähnt haben, bestehen soziale Systeme nicht aus Menschen, sondern reproduzieren sich als autopoietische Systeme mittels Kommunikation. Soziale Systeme sind mithin Kommunikationssysteme. Da wir bis dato unser Verständnis von Kommunikation noch nicht präzisierten, holen wir dies nun nach. Damit schließen wir an eine weitere Teiltheorie der Systemtheorie, nämlich die Kommunikationstheorie, an. Dabei werden wir kurz auf drei Kommunikationsprobleme Bezug nehmen, drei Möglichkeiten ihrer Lösung und abschließend einige Implikationen für den modernen Lebenslauf andeuten (vgl. Luhmann 1997b, Bd.1, 190ff., Hohm 2016, 100ff.). Ein erstes Kommunikationsproblem ergibt sich aus der Frage, wie Verstehen möglich sein soll, wenn Ego und Alter Ego zunächst nur auf ihr Erleben und ihren Körper als mögliches Medium der Kommunikation verwiesen sind. Die evolutionäre Antwort lautet oral gebundene Sprache. Mit ihr wird die Kommunikation als Basisoperation sozialer Systeme, d.h. ihre Dreistelligkeit von Mitteilung, Information und Verstehen, an ein akustisches Medium gebunden. Dabei fungieren Laute als Medium für die Formulierung von Wörtern, diese als Medium für geformte Sätze, welche wiederum das Medium für Erzählungen als Form darstellen. Mit Hilfe der oral gebundenen Sprache ergeben sich für die Sozialsysteme als Kommunikationssysteme u.a. folgende Konsequenzen: •
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Die Differenzierung von Sprecher- und Hörerrolle, so dass immer nur einer reden kann, während die anderen zuhören müssen. Rollenwechsel ermöglichen die Übernahme der jeweils anderen Rolle durch die Personen. Mit der Sprache entsteht ein Eigensinn, der sich von der nichtsprachlichen Wirklichkeit dadurch unterscheidet, dass er sich einer eigenen Syntax, Semantik und Pragmatik bedient und zudem eine Ja/Nein-Codierung aufweist. Die Sprache steigert das Verstehen, da sie als Medium auch zur Klärung von Missverständnissen, sprich metakommunikativ, benutzt werden kann. Die Sprache ist an Interaktionssysteme als Kommunikationssysteme gekoppelt, solange die begrenzte Reichweite der Lautstärke der Stimme die räumliche Anwesenheit nicht durch technologische Innovationen überwinden kann. Die Sprache stößt an Grenzen, wenn die Akzeptanz einer verstandenen Information nicht mehr allein durch Rhetorik bzw. durch Erreichbarkeit und Verstehen erzielt werden kann.
Ein zweites Kommunikationsproblem resultiert daraus, dass Sozialsysteme als Kommunikationssysteme eine gewisse Komplexität nicht überschritten hätten und überschreiten könnten, wenn sie nicht die Kommunikation von raum-zeitlich Anwesenden durch die von Abwesenden mit Abwesenden ergänzt und zunehmend ersetzt hätten. M. a. W.: wenn Sozialsysteme entstehen und kommunikativ kontinuieren können sollen, bei de-
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
nen Ego und Alter Ego, d.h. die Adressstellen der Kommunikation, nicht unmittelbar räumlich anwesend sind. Zunächst war es Schrift, dann folgte der Buchdruck und schließlich waren es die elektronischen Medien und ihre Integration, welche das Problem der Erreichbarkeit sukzessive lösten. Für die Sozialsysteme als Kommunikationssysteme hatte die Evolution der Verbreitungsmedien u.a. folgende Auswirkungen: •
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Die Ausdifferenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft als unterschiedlicher Sozialsysteme wurde durch die Verbreitungsmedien forciert, weil besonders die beiden letzten auf Kommunikation von Abwesenden mit Abwesenden basieren. Eine schrittweise Enträumlichung der Kommunikation im Sinne der Entkopplung der unmittelbaren Anwesenheit von Ego und Alter Ego am selben Ort bis hin zu einer Kommunikation im virtuellen Raum des Cyberspace. Eine zunehmende Ergänzung und teilweise Ersetzung von dem auf die Mobilität von Personen und den Transport von Gütern zugeschnittenen Verkehrssystem (vgl. Hohm 1997) durch die Verbreitungsmedien, welche die Adressaten und Information in Echtzeit erreichen. Damit wird die Differenz von Ereignis und Information immer geringer. Sachlich kommt es mit der Vervielfältigung von Programmen der Printmedien, visuellen, akustischen und sozialen Medien zu einer immer stärkeren Differenzierung und Spezialisierung von Themen, mit denen man potenzielle Publika und Adressaten erreichen kann. Durch die neuen Medien wie Facebook, WhatsApp, Twitter, YouTube etc. wird zusätzlich auch die Möglichkeit des wechselseitigen Feedback unter Bedingungen der reziproken räumlichen Abwesenheit forciert. Sozial nimmt die Inklusionsquote desjenigen Teils der (Welt-)Bevölkerung stetig zu, der mittels Verbreitungsmedien erreichbar ist. Die Semantik »Masse« der Massenmedien bringt dies am prägnantesten zum Ausdruck. Weltereignisse wie die Terroranschläge vom 11. September 2001, die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006, die Corona Pandemie werden von Milliarden von Personen nahezu gleichzeitig verfolgt.
Ein drittes Kommunikationsproblem ergibt sich dann, wenn Alter Ego trotz Verstehens des Gesagten und Erreichens qua Verbreitungsmedien die Kommunikationsofferten von Ego nicht akzeptiert. Sprache und Verbreitungsmedien allein reichen in bestimmten unwahrscheinlichen Situationen, die eine Zumutung für Alter Ego darstellen, offensichtlich nicht aus, um ihn zu einer Annahme der Kommunikation zu motivieren. So lässt sich Alter Ego z.B. nicht deshalb zur Abgabe von seiner Habe bewegen, weil Ego ihn durch Rhetorik oder ein Anschreiben darum bittet; wird er nicht deshalb etwas tun, was er vermeiden will, weil Ego es von ihm so will; wird er nicht ohne Weiteres akzeptieren, dass die Welt durch Gott und nicht einen Big bang entstanden sein soll, wenn Ego ihn mit dieser Erklärung konfrontiert; und Ego nicht nur deshalb lieben, weil dieser es sich so sehr wünscht.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
Damit kommunikativer Erfolg auch in unwahrscheinlichen Situationen wahrscheinlich wird, bedarf es u.a. der Erfolgsmedien Geld, Macht, Wissen und Liebe. Typisch für diese sind u.a. folgende Merkmale: •
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Als »symbolisch« gelten sie deshalb, weil sie auf etwas Verbindendes verweisen, selbst dann wenn das eigentlich Verbindende absent ist. So indizieren die EC-Karte die Zahlungsfähigkeit des Kunden, die Uniform des Polizisten die Macht des Staates, der Ring die Liebe des Paares. Als »generalisiert« werden die Erfolgsmedien deshalb bezeichnet werden, weil ihre verbindende Funktion situationsgreifend gilt, sprich nicht nur auf einige wenige Situationen beschränkt bleibt. So kann ich z.B. überall dort mit dem Euro bezahlen, wo er als Währung anerkannt wird; ist die wechselseitige Liebe nicht nur auf die Wohnung begrenzt, sondern kontinuiert auch außerhalb; gilt die Wahrheit einer Aussage, wie z.B. die des Fallgesetzes, nicht nur für bestimmte Körper und beschränkt sich die Macht des Bundesstaates nicht nur auf ein Bundesland. Erfolg erzeugen die Erfolgsmedien deshalb, weil sie gerade dann, wenn die Sprache oder Verbreitungsmedien an ihre Grenzen stoßen, Alter Ego als den Adressaten der Kommunikation dennoch durch Egos Selektion zur Annahme der Kommunikationsofferte motivieren können. So verpufft z.B. die Rhetorik des Verkäufers, wenn der Preis für den Käufer zu hoch ist, motiviert diesen jedoch zum Kauf, wenn er mit seiner Zahlungsfähigkeit vereinbar ist. Und lässt sich der Verkäufer zur Abgabe seiner Habe auch dann nicht motivieren, wenn der Käufer noch so brillant argumentiert, aber über kein Geld verfügt. Die Erfolgsmedien treiben die Ausdifferenzierung bestimmter Funktionssysteme voran und bestimmen deren Form der Kommunikation. Geld die Wirtschaftskommunikation des Wirtschaftssystems, Macht die politische Kommunikation des politischen Systems, Wahrheit die Wissenschaftskommunikation des Wissenschaftssystems und Liebe die Intimkommunikation der Intimsysteme. Die Erfolgsmedien verbinden das Erleben und Handeln von Ego sowie Alter Ego in je spezifischer Form. So die Macht ihr jeweiliges Handeln, die Liebe das Handeln von Ego mit dem Erleben von Alter Ego, die Wahrheit ihr gleichsinniges Erleben und das Geld das Handeln von Alter Ego mit dem Erleben von Ego.
8.1.4.1.1 Inklusion der Person durch Kommunikation Für den modernen Lebenslauf ist die Kommunikationstheorie in folgenden Hinsichten inklusionstheoretisch von Relevanz: Referieren die sozialen Systeme als Kommunikationssysteme auf den Menschen als Adressstelle in Form der Person, macht es einen Unterschied hinsichtlich des Lebenslaufs, ob die Person noch nicht sprechen kann, sprechen, aber noch nicht schreiben und lesen kann oder sprechen und schreiben sowie lesen kann. •
So erfolgt die Übernahme der Rollen als Sprecher und Hörer im Lebenslauf früher als die des Autors und Lesers. Die langwierige gesellschaftliche Evolution von Sprache und Schrift wird, zugespitzt formuliert, im Lebenslauf der einzelnen Person im
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
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Zeitraffer qua Kompetenzerwerb kopiert, sprich innerhalb von maximal 10 Jahren ab dem Kleinkindalter bis zur Vollendung des Grundschulalters. Mit den entsprechenden kommunikativen Kompetenzen erweitern sich bereits in der Kindheitsphase die Inklusionsmöglichkeiten in die jeweiligen Funktionssysteme, Organisationen und Interaktionssysteme durch die Übernahme der jeweiligen Rollen seitens des Kindes. Es kann nämlich die an sie adressierten Erwartungen zunehmend im Medium der Sprache sowie Schrift als Hörer und Leser verstehen, zugleich aber auch als Sprecher und Autor auf dem Hintergrund ihrer eigenen Ansprüche bzw. Lust/Unlust bejahen oder negieren. Wie wichtig vor allem die Literacy der Kinder ist, machen nicht zuletzt die kontinuierlichen Vergleiche der Nationen durch PISA deutlich und die Irritationen seitens derjenigen Nationen, die dabei schlechter abgeschnitten haben (vgl. Reiss u.a. 2018). Gleichwohl ist die Inklusion des Kindes in die diversen Rollen der Funktionssysteme und ihren entsprechenden Organisationen nicht nur an ihre Sprach- und Lesekompetenz geknüpft, sondern auch an seine sonstige Entwicklung, z.B. die kognitive und moralische Kompetenz (Kohlberg 1974; Piaget 1973). Es überrascht von daher nicht, dass das Kind als Medium und Adressat der Erziehung (vgl. Luhmann 1995g) trotz zunehmender Sprach- und Lesekompetenz noch nicht als vollverantwortliche Person betrachtet wird. Als Risikoperson bedarf es deshalb bei seiner sukzessiven Ausweitung der rollenspezifischen Inklusion entweder noch der direkten Begleitung durch die Eltern und/oder anderer Erwachsener als Kontrollinstanzen.
Mit der besonders durch die elektronischen Verbreitungsmedien leichter werdenden Kommunikation von Abwesenden mit Abwesenden wird der heutige Lebenslauf immer stärker durch diese bestimmt. Die Differenz von On- und Offline verschiebt sich zugunsten der Onlinekommunikation und zum Nachteil der klassischen Face-toFace-Kommunikation. Diese Verschiebung forciert zugleich eine Globalisierung der Adressstellen und des sozialen Netzwerkes. •
Dass die Präferenz für Onlinekommunikation durchaus auch ihre Ambivalenz hat, konnte man ab Beginn der weltweiten Pandemie des Jahres 2020 sehen, als das Homeoffice zunehmend für alle Personengruppen verpflichtend wurde, um Infektionen durch Face-to-Face-Kommunikation zu vermeiden. Wussten Teile der Schüler, Studierende und Beschäftigte die relativ voraussetzungslose computervermittelte Kommunikation von zuhause zu schätzen, vermissten andere Teile von ihnen den unmittelbaren interaktiven Kontakt miteinander.
Die veränderten Speicherungsmöglichkeiten, wie sie vor allem durch den Computer und seine multimediale Integration vorliegen, erzeugen seit drei Dekaden eine in der Evolution der Gesellschaft bis dato nicht möglich gewesene Dokumentation, kommunikative Dichte und kommunikative Erreichbarkeit der einzelnen Phasen des Lebenslaufs. •
Was früher besonders den Funktionseliten vorbehalten war, nämlich die dokumentierte Erinnerung ihres Lebenslaufs, wird heute in dem Sinne demokratisiert, dass
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
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aus dem Lebenslauf des einstigen Nobody der Lebenslauf eines Somebody wird, der dessen Ereignisse auch gerne mit seinem Netzwerk und darüber hinaus teilt. So ist es wohl nicht übertrieben, wenn man konstatiert, dass heute allein von der Kleinkindphase einer Person mehr Bilder, Videos und Texte existieren als noch vor einem halben Jahrhundert vom ganzen Leben einer Person.
Was schließlich die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien betrifft, so sind sie deshalb für den modernen Lebenslauf von besonderer Bedeutung, weil Macht, Geld, Wissen und Liebe wichtige Inklusionsvoraussetzungen und -folgen für seine Haupt- und Nebenkarrieren darstellen. •
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Im Anschluss an Bourdieus Kapitalsorten (Bourdieu 1985, 10–11) lässt sich festhalten, dass Macht, Geld, Wissen und Liebe sowohl die Startchancen des Lebenslaufs durch die Verteilung dieser Erfolgsmedien auf die unterschiedlichen sozialen Herkunftslagen der Bevölkerung bestimmen als auch deren zukünftige sozialen Lagen. Wenngleich davon auszugehen ist, dass die Determiniertheit des Lebenslaufs durch die Vergangenheit bei aller Kontinuität sozial ungleicher Lagen nicht mehr, wie in der Frühmoderne des 17. und 18. Jahrhunderts, umfassend auf seine Zukunft durchschlägt.
8.1.4.1.2 Exklusion der Person aus der Kommunikation Wer sich nicht an Kommunikationssystemen beteiligen kann, weil er weder eine oral gebundene Sprache noch eine Schrift beherrscht bzw. eine Fremdsprache, droht gleichsam aus ihnen und ihren Rollen exkommuniziert zu werden. Er scheidet dann sowohl als Sprecher und Hörer als auch Autor und Leser der Kommunikation aus. •
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Lebenslaufspezifisch gilt dies zunächst entwicklungsbedingt für das Kleinkind in den ersten beiden Lebensjahren, aber auch für bestimmte Kategorien behinderter Personen aller Altersgruppen, die auditiv und sprachlich schwer oder schwerst beeinträchtigt sind. Dass dies im Lebenslauf temporär oder dauerhaft zur Transformation der Person in eine Unperson führen kann, über die man, aber mit der man nicht spricht, traf lange Zeit sowohl auf Kinder als auch behinderte Menschen zu. Gleichwohl lässt sich spätestens seit Ende des 20. Jahrhunderts beobachten, dass durch deren De-und Rekonstruktion, internationale politische Abkommen wie die UN-Kinderrechtskonvention und UN-Behindertenrechts-konvention sowie nicht zuletzt durch Betroffeneninitiativen wie die Krüppelbewegung sukzessive die De- und Entstigmatisierung die vormalige Fremd- und Selbststigmatisierung zu ersetzen beginnt (vgl. Goffman 1970). Exklusionsrisiken bestehen auch für den Teil der wachsenden Zahl von Migranten, die zwar ihre Herkunftssprache und deren schriftliche Duplikation beherrschen, denen es jedoch nicht leichtfällt, die Sprache und Schrift des Aufnahmelandes zu lernen. Sie drohen auf Dauer in die Exklusionsquartiere der Großstädte inkludiert zu werden (vgl. Hohm 2011, 42ff.).
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Wenn es zutrifft, wie wir konstatierten, dass im heutigen Lebenslauf die Onlinekommunikation immer stärker an die Stelle der Offlinekommunikationen in vielen Funktionssystemen und deren Organisationen tritt, dann impliziert dies zunehmende Exklusionsrisiken von all denjenigen Personengruppen, die sich mit der Digitalisierung schwertun. •
Man denke nur an einen Teil der älteren Bevölkerung, Teile der sozial benachteiligten Personengruppen, aber auch bestimmte Altersgruppen wie Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, für die paradoxerweise trotz Präferenz für Onlinekommunikation die Face-to-Face-Kommunikation für die Entwicklung ihrer persönlichen Identität und Entkopplung vom Elternhaus nach wie vor konstitutiv zu sein scheint. Exemplarisch ließ sich dies anhand der politisch verordneten Schrumpfung der Kommunikationssysteme unter Anwesenden zur Zeit der Hochphase der Corona-Pandemie von 2020 bis 2022 beobachten.
Die digital forcierte Präsentation und Erinnerung an Life-events und Trivialereignisse des eigenen Lebenslaufs führt nicht nur zu dessen intransparenten Hyperkomplexität, sondern zugleich auch zu einer dadurch induzierten Gefährdung der Privatsphäre, aber auch anderer zentraler Rollen wie der Berufsrolle, wenn die betroffenen Personen die Kontrolle über die Steuerung ihrer lebenslaufspezifischen Daten verlieren. •
Die einstmals unter vertrauensvollen Bedingungen von vermeintlich wechselseitigen strong ties im Kontext sozialer Netzwerke preisgegebenen Informationen können dann strategisch gegen die Person benutzt werden.
Dass die diabolische Seiten der Kommunikationsmedien Macht, Geld, Wissen und Liebe – Ohnmacht, Zahlungsunfähigkeit, Unwissen, Scheidung – die Exklusionsrisiken der Person im Kontext des Lebenslaufs erhöhen können, ist unstrittig. •
So sind Exklusions- oder Negativkarrieren, die temporär oder auf Dauer im Lebenslauf zur Inklusion der Exkludierten in Problemquartiere, bestimmte Szenen oder totale Institutionen führen, immer auch mit einer oder mehreren Formen der angeführten Negativwerte verknüpft (vgl. Thomas 2010; Hohm 2011).
8.1.5
Evolutionstheorie und der moderne Lebenslauf
Ging es bei der Differenzierungstheorie um die Sachdimension der modernen Gesellschaft im Sinne der Spezialisierung ihrer Teilsysteme als Funktionssysteme, bei der Kommunikationstheorie um die Sozialdimension der modernen Gesellschaft im Sinne der Kopplung der Adressstellen Ego/Alter Ego der Sozialsysteme durch Kommunikationsmedien, so steht bei der Evolutionstheorie die Zeitdimension der Gesellschaft als Vorher/Nachher bzw. der Verknüpfung der drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Zentrum (vgl. Luhmann 1997b, Bd.1, 413ff.). Dabei gilt es zwischen der Evolution der modernen Gesellschaft als umfassendem Sozialsystem zum einen und der Evolution seiner Teilsysteme zum anderen zu unterscheiden (vgl. Luhmann 1997b, Bd.1, 557ff.).
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
Was die Evolution der Gesellschaft als umfassendem Sozialsystem angeht, beschränken wir uns auf die moderne Gesellschaft. Im Hinblick auf sie können wir grob eine frühmoderne, hochmoderne und spätmoderne Phase der Gesellschaft unterscheiden. Wenn wir systemtheoretisch noch nicht von einer postmodernen Gesellschaft sprechen, gehen wir davon aus, dass die funktionale Differenzierung nach wie vor dominiert, sich aber seit dem 16. Jahrhundert bis heute durch Evolution der Teilsysteme weiterentwickelt hat. Präzisieren lässt sich diese gesellschaftliche Evolution der Moderne am besten durch ihre teil- bzw. funktionssystemspezifische Evolution, wie sie seit dem 16. Jahrhundert durch die sukzessive Ausdifferenzierung der primären Funktionssysteme in Gang gesetzt und seit dem 19. und 20. Jahrhundert bis heute durch die der sekundären Funktionssysteme ergänzt wurde. •
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Zum einen handelt es sich um die primären Funktionssysteme der Wirtschaft, des Rechts, der Politik, der Wissenschaft, Erziehung, des Verkehrs, der Medizin, der Massenmedien etc. (vgl. exemplarisch Luhmann 2002, 111ff.). Zum anderen um die sekundären Funktionssysteme des Hochleistungssports, der Sozialen Hilfe, der Pflege, des Tourismus etc. Sie haben sich im Laufe der Jahrhunderte durch Eigenevolution transformiert und transformieren sich immer noch (vgl. für die Pflege Hohm 2002, 15ff.; siehe für den Spitzensport Hohm 2020, 55ff. u. 83ff.).
Fokussieren wir uns auf den Übergang der hochmodernen zur spätmodernen Gesellschaft, dann können wir eine Zunahme der Eigenkomplexität der Funktionssysteme und damit der spätmodernen Gesamtgesellschaft seit den 1970er Jahren bis heute feststellen. Die gestiegene Eigenkomplexität der spätmodernen Gesellschaft lässt sich grob anhand folgender Merkmale festmachen: Wachstum der gesellschaftlichen Funktionssysteme durch die massivere Durchsetzung der sekundären Funktionssysteme Pflege, Soziale Hilfe, Spitzensport und Tourismus. Zunahme der funktionssystemspezifischen Binnendifferenzierung sowohl der primären als auch der sekundären Funktionssysteme. Beispiele dafür sind: •
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Bildungssystem: die Ausdifferenzierung der Elementarstufe in Form der Expansion von Kitas, die Verschiebung und forcierte Binnendifferenzierung zugunsten des Gymnasiums auf Kosten der Haupt- und Realschule, die Binnendifferenzierung des tertiären Sektors qua Universitäten, (Fach-)Hochschulen und Bildungsakademien, die zunehmende Etablierung des zweiten Bildungswegs sowie die unterschiedlichen Formen der Weiterbildung bis ins hohe Lebensalter (vgl. van Ackeren u.a. 2015, 47ff.). Wirtschaftssystem: die stärkere Tertiarisierung durch Expansion des Dienstleistungssektors mit entsprechenden Dienstleistungsberufen (vgl. Häußermann/Siebel 1995) sowie das Wachstum des Onlinehandels bei gleichzeitiger Deindustrialisierung klassischer Industriesektoren wie Kohle und Stahl und Neoindustrialisierung durch die Herstellung neuer Produkte wie beispielsweise den Bau von Windrädern. Verkehrssystem: die zunehmende Infragestellung des dominanten automobilen Individualverkehrs vor allem in den Städten durch den stärkeren Ausbau des öffent-
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
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lichen Nahverkehrs bei gleichzeitiger selektiver Erweiterung von Fahrradwegen sowie die Expansion des Flugverkehrs besonders im Kontext des Tourismus (vgl. Hohm 1997). Massenmedien: die Steigerung der Programmvielfalt durch das verstärkte Angebot privater Anbieter beim Fernsehen sowie die Durchsetzung des Internets als WWW (World Wide Web) mit den gestiegenen Möglichkeiten der Onlinekommunikation durch die Sozialen Medien. Spitzensport: die globale Verbreitung bestimmter Populärsportarten wie Fußball und Basketball bei gleichzeitiger Zunahme der Binnendifferenzierung durch neue Sportarten wie Beach Volleyball, Rafting, Darts, Snowboard etc. (vgl. Hohm 2020). Intimsysteme: die Pluralisierung der Partnerschaften und Familienformen in Form von Nichtehelichen Lebensgemeinschaften, gleichgeschlechtlichen Beziehungen, bikulturellen Beziehungen, Patchwork-, Regenbogen- und Einelternfamilien bei gleichzeitiger temporärer Singularisierung (vgl. Peuckert 2012).
Die Steigerung der Typenvielfalt und Anzahl von Organisationen: Startups, Abendgymnasien, Reformschulen, Kitas, Onlineanbieter wie Google, Amazon sowie Sozialen Medien wie Facebook, WhatsApp, Twitter, YouTube etc. Die De- und Rekonstruktion der Geschlechterrollen sowie die Lockerung der Geschlechtersegregation und Zugangserleichterung für Frauen in den jeweiligen Funktionssystemen. Man denke nur an die gestiegene Zahl von Gymnastinnen, Studentinnen, Soldatinnen, Messdienerinnen und Spitzensportlerinnen in Sportarten wie Fußball, Boxen, Skispringen etc., die früher nur den Männern vorbehalten waren.
8.1.5.1 8.1.5.1.1
Evolutionstheoretische Implikationen für den Lebenslauf
Lebensphasenspezifische Inklusions-, Exklusionszeiten der Person und die Paradoxie von Kontinuität/Diskontinuität Wenn wir im Folgenden von Lebensphasen und Lebenslauf sprechen, beschränken wir uns auf den deinstitutionalisierten Lebenslauf der spätmodernen Gesellschaft (vgl. Hohm 2016, 192ff.) als Nachfolgeform des institutionalisierten Lebenslaufs der hochmodernen Gesellschaft (vgl. Kohli 1985). Lebensphasen und der Lebenslauf sind insofern eng miteinander verknüpft, als der Lebenslauf normalerweise die Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter einschließt (vgl. Bühler-Niederberger 2013; Hurrelmann/Quenzel 2013; Backes/Clemens 2013). Dabei formt die spätmoderne funktional differenzierte Gesellschaft im Zusammenspiel mit ihren Organisationen die Lebensphasen sozialstrukturell als irreversible Sequenz des Lebenslaufs, ohne dass jede Person eines Jahrganges alle Lebensphasen in ihrem Lebenslauf empirisch durchlaufen muss, z.B. wenn sie vorzeitig stirbt. Die Kontingenz ist also auf den einzelnen Lebenslauf bezogen, wobei in den Modernisierungszentren aus dem statistisch ständig steigenden Lebensalter von Mann und Frau auch zunehmend normative Erwartungen hinsichtlich des Lebenslaufs abgeleitet werden.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
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So wird z.B. der vor der Altersphase eintretende Tod und erst recht der frühe Tod eines Kindes oder Jugendlichen semantisch als überraschend und unerwartet gedeutet. Zugleich werden weit über die durchschnittliche Lebenserwartung hinausreichende Lebensläufe von 100-Jährigen durch die lokalen Massenmedien in Kooperation mit der lokalen Politik als Sonderleistung gewürdigt, besonders wenn die Person noch vergleichsweise rüstig ist, unabhängig davon, ob der/die Betroffene einen außerordentlichen Lebenslauf aufweist. Das erreichte Lebensalter scheint in diesen Fällen schon per se eine Leistung zu sein und in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft die Hoffnungen vom »ewigen Leben« zu nähren.
Spätmoderne Lebensphasen sind als Fremdselektionen des Lebenslaufs einerseits das Resultat der Evolution der Gesellschaft und ihrer teilsystemspezifischen bzw. organisationsspezifischen Evolutionen. Andererseits jedoch auch das Ergebnis der Organisationen als Entscheidungssysteme der Funktionssysteme, besonders ihrer Dach- bzw. Metaorganisationen (Ahrne/Brunsson 2005). Sie versuchen, durch ihre programmspezifische Steuerung den Lebensphasen eine bestimmte von ihnen erwünschte Richtung und Abgrenzung zu geben. Dabei beziehen sich die Entscheidungen vor allem auf die Kopplung des kalendarischen Lebensalters mit den jeweiligen Lebensphasen in Form des Eintritts, der Inklusionszeit und des Austritts, wobei die altersspezifischen Begrenzungen einer Dynamik unterliegen. Je nach Entscheidung können die Inklusionszeiten zur Schrumpfung oder Erweiterung bestimmter Lebensphasen führen. •
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Wenn z.B. eine höhere Anzahl von Studierenden anvisiert wird, kann dies die Expansion der Jugendphase eines wachsenden Teils der Jugendlichen durch längere Bildungskarrieren und Inklusionszeiten im Bildungssystem nach sich ziehen. Umgekehrt kann bei späterem Renteneintritt die Altersphase verkürzt und die Erwerbstätigkeit in der Erwachsenenphase verlängert werden.
Da die Personen in den einzelnen Lebensphasen ihres Lebenslaufs in die Funktionssysteme und deren Organisationen multiinkludiert sind, kann es zudem zum Widerspruch von kalendarischem und sozialem Alter kommen. •
So darf z.B. ein 17-Jähriger als Jugendlicher noch nicht wählen, aber schon in der ersten Bundesliga als Profi bei den Erwachsenen spielen.
Die Funktionssysteme und besonders ihre Organisationen adressieren ihre in sie inkludierten Personengruppen oder einzelne Personen hinsichtlich ihres Lebensalters generell als Kinder, Jugendliche, Erwachsene oder Alte. Ihre funktionssystem- und organisationsspezifische Respezifikation erhalten diese Altersrollen für jede der vier Lebensphasen. Für die Lebensphase Kindheit, an der wir das exemplarisch demonstrieren wollen, bedeutet das
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
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die rollenspezifische Binnendifferenzierung der Kindheit in das Familienkind, Kitaund Kindergartenkind, Schulkind, Medienkind, Konsumkind, Straßenkind, Schlüsselkind, Pflegekind, Kommunionkind etc. Der Inklusionsbegriff bezieht sich in diesem Kontext auf die entwicklungsbedingten Zeitabschnitte bzw. Inklusionszeiten der Lebensphase Kindheit. Konstruiert wird er durch die programm-und rollenspezifischen Erwartungen der Funktionssysteme und ihre Organisationen sowie ihres Personals. So wird es zunehmend zur gesellschaftlichen Normalerwartung des spätmodernen Lebenslaufs, dass ein Kleinkind im Erziehungssystem innerhalb der ersten zwei Jahre in die Kinderkrippe inkludiert ist und vom dritten bis sechsten Lebensalter im Kindergarten zubringt. Exklusion mutiert in diesem Fall von einem Begriff, der oft auf die sozialstrukturell disprivilegierte Lage und Diskriminierung von Personen mit unerwünschtem Ausschluss verweist, zu einem Begriff, der auf den Normalfall eines lebensphasenspezifischen Übergangs abstellt (vgl. Stichweh 2004; Hohm 2012). Zugleich indizieren die Begriffe Inklusion/Exklusion sowohl Tendenzen der regredienten als auch progredienten Entwicklung, wenn Kinder wie im ersten Fall weit über das übliche Alter hinaus in die Kinderkrippe inkludiert sind, oder, wie im zweiten Fall, diese vorzeitig durch den Übergang zum Kindergarten verlassen. Gleiches gilt für die Inklusionszeiten in den Kindergarten, die ebenfalls bei einem Teil der Kinder länger und bei einem anderen Teil kürzer ausfallen. Das Begriffsdual Inklusion/Exklusion verweist hier auf die Umkehr der üblichen Positivbewertung der Inklusion und Negativbewertung der Exklusion.
Die Lebensphasen des Lebenslaufs können zusätzlich auf unterschiedliche Geburtsjahrgänge als Kohorten oder Generationen von Personengruppen bezogen werden. Generationsspezifische Semantiken wie die Generation Golf, die 68er oder die Kriegsgeneration etc. suggerieren eine kommunikativ zugeschriebene kollektiv geteilte Erfahrung als Resultat gemeinsam durchlaufener Lebensläufe und Lebensphasen. Dabei können die Funktionssysteme und Organisationen erstens eine intergenerationelle bzw. diachronische Perspektive auf die Lebensphasen einnehmen, indem mehrere Geburtsjahrgänge bzw. Generationen miteinander über einen längeren Zeitraum verglichen werden. •
Sie können sich dann z.B. fragen, inwieweit sich die Kindheit der Nachkriegsgeneration von der Kindheit der heutigen Generation unterscheidet, und inwieweit sie diese Differenzen bei der Bereitstellung ihrer Leistungen berücksichtigen müssen (vgl. Bühler-Niederberger 2011, 13ff.).
Funktionssysteme und ihre Organisationen können aber auch zweitens die intragenerationelle Perspektive auf die Lebensphasen einnehmen. •
Thematisch ist dann zum Beispiel die rollenspezifische Binnendifferenzierung der Lebensphase Jugend oder des Alters der gleichen Generation im Hinblick auf Bildung und Qualifizierung, Familie und Partnerschaft, Freunde, Freizeit und Konsum, Öf-
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
fentlichkeit und Politik etc. (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012; Backes/Clemens 2013, 169ff. u. 201ff.). Demgegenüber bezieht sich drittens eine synchrone Perspektive der Funktionssysteme und ihrer Organisationen auf die Lebensphasen von unterschiedlichen Generationen zu einem bestimmten gegenwärtigen Zeitpunkt und vergleicht sie z.B. hinsichtlich ihrer Besser-/Schlechterstellung. •
•
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So kann z.B. das politische System kollektiv bindende Entscheidungen für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Alte innerhalb der gleichen Legislaturperiode treffen und sich selbst und/oder von Umweltsystemen die Frage beantworten (lassen), wie es dabei mit der Generationsgerechtigkeit steht. Das Bildungssystem kann zeitgleich Krippenkinder, Schüler, junge Studierende und 50 plus Studierende sozialisieren, unterrichten und »erziehen« und sich mit dem Problem befassen, ob die Ressourcen angemessen auf diese Altersgruppen verteilt sind. Und die Massenmedien können sich zur gleichen Zeit an Kinder, Jugendliche, Erwachsene oder Senioren mit ihren Programmangeboten wenden und sich mit dem Thema auseinandersetzen, zu welchen Zeiten und mit welchen Inhalten sie diese Zielgruppen am besten erreichen können.
Können und müssen die Funktionssysteme sowie ein Teil ihrer Organisationen die Personengruppen und Personen unterschiedlichen Alters simultan thematisieren und mit Leistungen bedienen, sind die Personengruppen oder Personen an ihr jeweiliges Lebensalter gebunden. •
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So können sie sich z.B. nicht als Kind und Senior zugleich begreifen. Die gleiche Gegenwart ist dementsprechend für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren bezogen auf die Vergangenheit und die Zukunft verschieden. Stehen für Kinder die Zukünfte als Jugendliche, Erwachsene und Alte noch bevor, gilt dies für letztere nicht. Für sie sind mit Ausnahme der Altersphase alle anderen Lebensphasen bereits Vergangenheit. Dadurch verknappt sich die Zukunft für die Senioren, während sie für die anderen Altersgruppen in noch unterschiedlich großen Zeithorizonten vorhanden ist.
Die Lebenserwartung ist – wie bereits erwähnt – aufgrund der Erfolge einzelner Funktionssysteme der Medizin, Politik, Bildung, Wissenschaft in den Modernisierungszentren so hoch wie nie zuvor in der Evolution der Gesellschaft und Geschichte der Menschheit (vgl. Backes/Clemens 2013, 111ff.). Damit verlängert sich der Lebenslauf der Person und sein Zeithorizont wird in der jeweiligen Gegenwart sowohl in der Rück- als auch Vorschau erweitert. Zugleich werden die Karriereplanung und ihre nachträgliche Evaluation intensiviert.
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Obwohl sich die Personen zunehmend bemühen, der Kontingenz der Zukunft durch Karriereplanung gegenwärtige Sicherheit abzugewinnen, werden sie jedoch immer wieder von ungeplanten Ereignissen überrascht und irritiert. •
Dabei variiert die Differenz geplant/ungeplant in Abhängigkeit von den Lebensphasen. So ist für den Großteil der Kindheitsphase die Person eher Planungsbetroffener der Eltern oder von anderen Erwachsenen, während danach die Planung sukzessive auf die Person selbst übergeht, um dann wieder für einen Teil der Senioren in der Lebensphase Alter stärker von den Kindern oder anderen Personen der Sozialsysteme übernommen zu werden (vgl. Backes/Clemens 2013, 287ff.).
Mit der Beschleunigung der Gesellschaft (vgl. Rosa 2012 [2009]) gewinnt die Differenz schnell/langsam für den heutigen Lebenslauf zunehmend an Einfluss. So gehört z.B. der Komparativ »faster« zum Imperativ der Konsumgesellschaft »bigger, faster, better, more« (Kneer 2001). Die Beschleunigung bzw. die Erhöhung des Tempos scheinen deshalb ebenso typisch für den heutigen Lebenslauf zu sein wie dessen zeitliche Erweiterung. Gleichzeitig wird jedoch auch die Zeit knapp (Luhmann 1971).Geht man davon aus, dass der Person potenziell 24 Stunden pro Tag seines Lebenslaufs zur Verfügung stehen, sie aber auf eine bestimmte Zeit des Schlafens angewiesen ist, um ihr organisch-psychisches System zu regenerieren, reduziert sich die Wachzeit auf tendenziell 16–18 Stunden, welche im Kindesalter sogar noch geringer (12–14 Stunden) ausfällt. Wenn gleichzeitig der Umfang an funktionssystemspezifischen Rollen zunimmt, den die Person potenziell einnehmen muss, soll oder kann, lässt sich eine zeitliche Summenkonstanz und einer Art Nullsummenspiel der Zeit in der Form annehmen, dass die Person neu hinzugekommene Rollen nicht durch die Ausweitung der Zeit integrieren kann. Damit wird die Zeit – wie eingangs erwähnt – knapp, da die Zeit, die die Person für neue Rollen investiert, von ihren alten Rollen abgezwackt werden muss. Hypothetisch gibt es mehrere Strategien für die Person, mit einer durch die Evolution der funktional differenzierten spätmodernen Gesellschaft generierten Steigerung des Rollenrepertoires und der dadurch forcierten Zeitknappheit umzugehen: Als Erstes kommt dafür die Strategie der »Reduktion bisheriger Rollen« in Frage. Die Person reduziert das zeitliche Engagement ihrer bisherigen Rollen, um in derselben Zeitspanne die neuen Rollen mitbedienen zu können. Diese Strategie ist allerdings mit dem Risiko des Qualitätsverlustes hinsichtlich der Erfüllung der bisherigen Rollen verknüpft. Ein sehr oft zitiertes Beispiel für die Reduktionsstrategie basiert auf dem Zeitmanagement der zunehmenden Anzahl erwerbstätiger Frauen. Diese zwingt sie, die Inklusionszeit in der Familie zugunsten der Erwerbszeit zu reduzieren. Die damit verknüpften Folgeprobleme machen die Debatten um die »Qualitätszeit«, die Abwägung von Mutter- und Berufsrolle und die Partnerschafts- und Berufskonflikte deutlich. So schreibt Hochschild (1997, 50): »Quality time holds out the hope that scheduling intense periods of togetherness can compensate for an overall loss of time in such a way that a relationship will suffer no loss of quality…Instead of nine hours a day with a child, we declare ourselves capable of getting the ›same result‹ with one more intensely focused total quality hour.«
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
Ein ebenfalls oft zitiertes Beispiel stellt für die Kindheitsphase die wachsende Zeit, die Kinder vor dem Fernseher oder dem Computer verbringen, dar (vgl. Peuckert 2012, 280ff.). Sie zollen damit einer bisherigen Rolle, nämlich der des auf der Straße spielenden Kindes, weniger oder gar keinen Tribut mehr (vgl. Peuckert 2012, 277–278; 299). Die Reduktionsstrategie zu Lasten bisheriger und zugunsten neuer Rollen ist als Lösung nicht nur der Zeitknappheit geschuldet, sondern auch der Präferenz für das Neue gegenüber dem Alten, das als vorteilhafter für die eigene Person und/oder die jeweiligen Funktionssysteme und ihre Organisationen betrachtet wird. Eine zweite Strategie ist die des »Rollenverzichts«. Diese Strategie bezieht sich entweder auf eine der bisherigen Rollen oder eine der neu hinzugekommenen Rollen. Wird die Strategie des Rollenverzichts auf eine der neu hinzugekommenen Rollen des spätmodernen Lebenslaufs angewandt, kann man mit ihr sein bisheriges Zeitmanagement konservieren und sich gegenüber dem Zeitdruck durch neue Rollen immunisieren. Möglich ist dies allerdings nur dann, wenn die neuen Rollen nicht rechtlich verpflichtend sind, z.B. die des Ebike-Fahrers oder Internet-Users, oder die Person bereit ist, wenn ihre Rollenübernahme als zunehmend moralisch verpflichtend betrachtet wird, bestimmte Nachteile des Prestiges in Kauf zu nehmen. So verzichtet ein Teil der Frauen auf die Berufsrolle und konserviert damit sein bisheriges Zeitmanagement als Mutter und Hausfrau, selbst auf die Gefahr hin, dass sie moralisch als »Luxusweib« oder als »unemanzipiert« diskreditiert werden. Umgekehrt kann die Strategie des Rollenverzichts hinsichtlich einer bisherigen Rolle, z.B. die der Mutter und/oder Hausfrau, und die exklusive zeitliche Investition in die neue Berufsrolle, zwar gesellschaftlich anerkannter sein; die Frauen, die für sie optieren, jedoch ebenfalls als »Rabenmutter« oder »Karrierefrau« moralisch in Misskredit bringen. Eine dritte Strategie stellt die der funktional äquivalenten »Rollensubstitution« dar. Sie entspricht einer Art zeitlicher Summenkonstanz. Sie ist zeitlich neutral, wenn der Zeitumfang der bisherigen Rolle dem einer neuen Rolle des gleichen Funktionssystems entspricht. So informiert sich der frühere Zeitungsleser nun durch das Internet, spielt ein anderer in der gleichen Zeit Basketball, in der er früher Fußball spielte und verbringt eine Frau mit ihrem neuen Partner gleich viel Zeit wie mit dem »Ex« (kludierten). Die Strategie der Rollensubstitution scheint also auf den ersten Blick zeitneutral zu sein, indem sie eine frühere Rolle durch eine andere Rolle mit dem gleichen Zeitumfang ersetzt. Dies geht allerdings nur in den Funktionssystemen, deren Eigendynamik im Sinne der Produktion neuer Rollen die Substitution alter durch neue zulässt. Wenn jedoch neue alte Rollen nicht ersetzen können, da die Person auf die entsprechenden Leistungen und Vorteile der alten Rolle nicht verzichten kann, wie z.B. ein Landbewohner nicht auf die Rolle des Autofahrers zugunsten des Bus- oder Bahnfahrers, kommt die o.g. Strategie der zeitlichen Reduktion zum Tragen. Unterstellt man, dass bei konstanter und nicht erweiterbarer Tageszeit und gleichzeitiger funktionssystemspezifischer Steigerung des Rollenrepertoires die neuen Rollen nicht ohne Weiteres von der Person additiv integriert werden können, bieten sich die angeführten Strategien der rollenspezifischen Zeitreduktion, des rollenspezifischen Ver-
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zichts und der rollenspezifischen Substitution bei gleicher Zeit an. Diese Strategien des personen- und lebenslaufspezifischen Zeitmanagements sind jedoch nicht nur abhängig von der Selbstselektion der Person, sondern auch von der Fremdselektion in Form der Eigenzeiten der jeweiligen Funktionssysteme und ihrer Organisationen sowie ihrer reziproken temporalen Abstimmung. Eigenzeiten der Funktionssysteme sind u.a. Saisons im Spitzensport und der Kunst, Legislaturperioden der Politik, Semester im Bildungssystem, Rush-hours im Verkehrssystem, Ferien und Urlaube im Tourismus, der Kirchenkalender im Religionssystem etc. Sie implizieren unterschiedliche Rhythmen und daraus resultierende Abstimmungserfordernisse und Entscheidungszwänge seitens der Personen mit ihren primären Leistungs-, Laien- und sekundären Leistungsrollen. Das trifft u.a. dann zu, wenn sich die Termine der funktionssystemspezifischen Organisationen überschneiden, ihre täglichen Öffnungszeiten oder Pausen, aber auch ihre Ferien- und Urlaubszeiten miteinander inkompatibel sind. Sind die Eigenzeiten zu wenig miteinander koordiniert, fallen Aus-, Zwischen- und Wartezeiten an, welche den Stress und die Zeitknappheit der Personen noch zusätzlich forcieren. Die Personen müssen dann auf die o.g. Rollenstrategien zurückgreifen, die wiederum zu Stress und Folgeproblemen führen können. Wie wichtig heute die Zeitdimension für den Lebenslauf geworden ist, sieht man auch daran, dass im politischen System zunehmend die Zeitpolitik als Lebenslaufpolitik thematisiert wird, sei es im Zusammenhang mit der Familienpolitik, der Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Pflege- oder Sozialpolitik (vgl. Naegele 2010). Deutlich wird daran, dass die Kopplung bzw. Integration von Gesellschaft und Person mittels Lebenskarriere heute zunehmend zeitlich kontingent wird. Ehemals als normal erachtete rollenspezifische Inklusionszeiten werden bezüglich ihrer Dauer, ihres Beginns und Endes, ihrer Koordination und nicht zuletzt auch ihrer Kontinuität und Diskontinuität reorganisiert. Dabei büßen bisherige Zeitarrangements ihre Legitimation ein und werden durch neue ersetzt. Zugleich koexistieren jedoch auch frühere mit heutigen. Man denke nur an die Pflege-, Arbeits-, Bildungs-, Familien- und Freizeiten. Auffallend ist erstens eine programmspezifische Strategie der Verkürzung der Inklusionszeiten bestimmter Rollen in unterschiedlichen Lebensphasen. • • •
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Erwähnt sei für die Kindheit die Verkürzung der Inklusionszeit in das Familiensystem durch den früheren Besuch der Kita; für die Jugend die Reduktion der Inklusionszeit ins Religionssystem durch die Prioritätenverschiebung zugunsten der Freizeitaktivitäten mit der Peergroup; für die Erwachsenen die Verkürzung der Inklusionszeiten in ein und dieselbe Arbeitsorganisation oder in ein und dasselbe Paarsystem durch Trennung, Kündigung oder Scheidung und für die Senioren die Verkürzung der Inklusionszeiten in Pflegeheime durch Verlängerung und Priorisierung der ambulanten Pflege.
Daraus ergeben sich mehrere Konsequenzen für den spätmodernen Lebenslauf.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
• • • •
Eine lockerere Integration der Personen in die Sozialsysteme mit entsprechender Abnahme der Bindung. Des Weiteren eine stärkere Gegenwartsorientierung mit geringeren Möglichkeiten der Langzeitplanung des Lebenslaufs. Ferner eine Rückläufigkeit der Einzigartigkeit und Selbstbestimmung bezüglich der Selbstorganisation des Lebenslaufs. Schließlich eine zeitliche Intensivierung von rollenspezifischen Erwartungen in Form des Mehr in kürzerer Zeit.
Begleitsemantiken wie kürzere Verweildauer, Befristung von Arbeitsverträgen, G8, Lebensabschnittsgefährte, Zeitarbeit und Leiharbeit unterstreichen die angeführten Strategien der Verkürzung der Inklusionszeiten. Zugleich springt die gegenläufige Strategie der Verlängerung der Inklusionszeiten bestimmter Rollen in unterschiedlichen Lebensphasen ins Auge. • • • • •
Das gilt für die längere Dauer des Aufenthaltes in Kitas und Kindergärten als Ganztagesorganisationen; die längeren Bildungs-und Studienkarrieren der Mädchen und Frauen; die ausgedehntere Nutzung der Medien durch die Jugendlichen; die Erweiterung der Erwerbsarbeitszeit bis zum formalen Renteneintritt und darüber hinaus sowie schließlich den umfangreicheren Aufenthalt der Senioren in Funktionssystemen außerhalb der Pflege wie den Tourismus, Spitzensport und das Bildungssystem.
Die Simultaneität bzw. Paradoxie der Verkürzung und Verlängerung der Inklusionszeiten spezifischer Rollen des Lebenslaufs kann bis zu einem gewissen Maße •
•
zum einen dadurch entparadoxiert bzw. invisibilisiert werden, dass sie sich auf zeitlich verschiedene Rollen der gleichen Person bzw. Personengruppen bezieht, z.B. die Verkürzung der Schulzeit durch G8 bei gleichzeitiger Verlängerung der Erwerbszeit bis zum 67. Lebensalter. Und zum anderen dadurch, dass sie verschiedene Alterskohorten betrifft, die im unterschiedlichen Maße von den Folgen der Zeitpolitik tangiert sind. Das gilt z.B. für die 2012 beschlossene Entscheidung der Bundesregierung, das Rentenalter stufenweise von 65 auf 67 Lebensjahre zu erhöhen.
Mit der aktuell beobachtbaren Reorganisation des Lebenslaufs geht auch eine Veränderung von Anfang und Ende der Inklusionszeiten einher. •
Einerseits verjüngen sie sich bezüglich des Lebensalters. Das gilt u.a. für die Wählerrolle, die generellen Rechtsansprüche, die Führerscheinprüfung, die Übernahme der Geschlechtsrolle, die Medienrolle.
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•
Andererseits werden sie aber auch partiell in die späteren Lebensphasen des Erwachsenenseins oder Alters verschoben, z.B. die Aufnahme der Studierendenrolle, Ehepartnerrolle, Erwerbsrolle, Rentnerrolle etc.
Zentral für den spätmodernen Lebenslauf ist die Differenz von Kontinuität/Diskontinuität. Abstrakt betrachtet, lassen sich folgende Varianten des Duals Kontinuität/Diskontinuität unterscheiden: Erstens: Kontinuität der Übernahme einer Laienrolle, primären oder sekundären Leistungsrolle ab dem durch die funktionssystemspezifischen Organisationen programmspezifisch festgelegten Zeitpunkt des Beginns bis zu seinem Ende – im Grenzfall dem Tod. Beispiel: Kontinuierliche Übernahme der Wählerrolle durch eine Person ab dem 18. Lebensalter bis zum letzten Wahltermin vor ihrem Tod. Kontinuierliche Übernahme der Erwerbsrolle von Beginn der Verbeamtung bis zur Pensionierung. Kontinuierliche Übernahme eines kirchlichen Ehrenamtes bis zum Tod, sei es zunächst als Messdiener, dann als Chorsänger und schließlich als Mitglied des Kirchenvorstandes. Zweitens: Diskontinuität der Übernahme einer Laienrolle, primären oder sekundären Leistungsrolle von einem bestimmten Zeitpunkt an mit Abbruch vor dem durch die funktionssystemspezifischen Organisationen programmspezifisch festgelegten Ende bis zum Tode. Beispiel: Übernahme der Wählerrolle ab dem 18. Lebensalter bis zum 30. Lebensalter. In den weiteren Lebensjahren bis zum Lebensende Verzicht auf die Wahlbeteiligung. Nach Einstieg in die Erwerbstätigkeit und einer Erwerbskarriere von einigen Jahrzehnten ab dem fünfzigsten Lebensalter Langzeitarbeitslosigkeit bis zum Renteneintritt. Messdiener im Jugendalter von 12 bis 18, danach keine Wiederaufnahme eines kirchlichen Ehrenamtes. Drittens: Oszillieren zwischen Kontinuität und Diskontinuität der Übernahme bestimmter Laienrollen, primärer und sekundärer Leistungsrollen von einem von den funktionssystemspezifischen Organisationen festgelegten bestimmten Zeitpunkt an bis zum programmspezifisch festgezurrten Ende, das mit dem Lebensende zusammenfallen kann. Beispiel: Eine Person nimmt ab dem 18. Lebensjahr kontinuierlich bis zum 32. Lebensjahr die Wählerrolle wahr, unterbricht deren Ausübung für mehrere Legislaturperioden und übernimmt sie wieder ab dem 50. Lebensjahr bis sie stirbt. Die gleiche Person beginnt ihre Erwerbskarriere nach dem Studium ab dem 25. Lebensjahr, verliert mit dem 40. Lebensjahr ihre Stelle wegen Unternehmensinsolvenz, tritt nach einer kurzen Zeit der Arbeitslosigkeit eine Stelle bei einem neuen Betrieb an, bei dem sie bis zur Verrentung arbeitet. Sie ist nach der Kommunion zwei Jahre Messdiener bis zum Beginn der Jugendphase, lässt sich im Alter von 25 in den Kirchenvorstand wählen, aus dem sie im 50. Lebensalter ausscheidet, um mit 55 Jahren das Amt des Küsters bis zum 75. Lebensalter zu übernehmen. Sieht man diese drei Varianten der lebenslaufspezifischen Realisierung auf einen Blick, dann scheint die dritte Variante die für den heutigen spätmodernen Lebenslauf typische zu sein. Wenn Dauerhaftigkeit=Kontinuität und Diskontinuität=Nichtdauerhaftigkeit bedeutet, dann impliziert dies, dass Kontinuität Diskontinuität in der Form einschließt,
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
dass es eine die Differenz übergreifende Zeitdauer gibt, auf die Kontinuität referiert, welche in bestimmten Intervallen unterbrochen werden kann, um dann wieder aufgenommen zu werden, aber auch in bestimmten Fällen für immer beendet zu werden. •
In einer ersten Lesart bezieht sich Diskontinuität semantisch auf Pausen, Unterbrechungen, Auszeiten hinsichtlich der Rollenübernahme, die von der Person erwünscht sind.
Dabei ist in der jeweiligen Gegenwart klar, dass die gleiche Rolle zukünftig wieder aufgenommen wird. Pausen, Unterbrechungen sowie Auszeiten, gehören zur jeder Rolle dazu, da die Person die Vielfalt ihrer Rollen zum einen nicht simultan, sondern nur sequenziell ausüben kann. Und zum anderen damit sie sich nicht durch das Zeitmanagement der multiplen Rollen überfordert oder Dysstress erleidet. •
In einer zweiten Lesart referiert Diskontinuität auf von der Person unerwünschte, d.h. unfreiwillige Formen der zeitlichen Unterbrechung. Die Semantik von »Unzeiten« bringt dies pointiert zum Ausdruck.
Es handelt sich dabei um negativ bewertete Zeiten. Sie verweisen auf lebenslaufspezifische Ereignisse bzw. Zeitpunkte, die aus der Sicht der Person als ungünstig, unpassend und unangemessen beurteilt werden sowie die Übernahme oder Fortsetzung von Rollen in eine unerwünschte Richtung lenken. Man denke nur an überraschende Zinserhöhungen für Hypotheken während der Elternzeit, den Streik der Fluglotsen beim Urlaubsantritt, eine längere Krankheit während der Abitursprüfung, die Verletzung eines Spitzensportlers vor einem wichtigen Champions League-Spiel etc. Umgekehrt kann die Diskontinuität auch von den Funktionssystemen und ihren Organisationen sowie Interaktionssystemen als unerwünschte Absenz der Person bewertet werden. Die Semantik der »Fehlzeiten« drückt dies am treffendsten aus. Sie werden der Person als Verstoß gegen die rollenspezifischen Präsenzerwartung mit entsprechenden Negativsanktionen zugeschrieben. So als Verlängerung der vorgeschriebenen Schulzeit beim Überschreiten bestimmter vorher festgelegter Absenzzeiten oder geringerer Rentenansprüche bei nicht hinreichend absolvierten Arbeitszeiten. •
Als dritte Lesart indiziert Diskontinuität das irreversible Ende bestimmter einstmals den modernen institutionalisierten Lebenslauf prägender Rollen.
Man denke nur an das männliche Ernährermodell und die Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter, den Zwang, heiraten zu müssen und die Übernahme des Namens des Ehemannes durch die Ehefrau, bestimmte Berufsrollen wie den Bergarbeiter und Stahlarbeiter der klassischen Industrie, aber auch an den Volksschüler und Lehrling sowie den Wehrdienstpflichtigen. •
Als vierte Lesart bezieht sich der Begriff der Diskontinuität auf eine paradoxe Einheit mit dem der Kontinuität hinsichtlich der Übernahme der Altersrolle.
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Diskontinuität heißt dann, dass die Person im Kontext der Phasen ihres Lebenslaufs ihre Selbstbeobachtung als Kind sukzessive durch die des Jugendlichen, diese wiederum durch die des Erwachsenen und diese durch die des Seniors substituieren muss. Substituieren bedeutet, dass die Person in der jeweiligen Gegenwart der Jugendphase seine Vergangenheit nicht einfach als Kind fortschreiben kann, sondern sich in Differenz zu dieser wahrzunehmen gezwungen ist; dass die Person sich wiederum in der Erwachsenenphase nicht weiterhin als Jugendlicher beschreiben kann, sondern auch diese Vergangenheit hinter sich lassen muss und schließlich in der Altersphase auch von seiner Selbstbeschreibung als Erwachsener Abschied nehmen muss. Sie ist also jeweils nicht mehr, die, die sie war, und noch nicht die, die sie sein wird. Kontinuieren impliziert im Unterschied zum Substituieren oder Diskontinuieren, dass es sich die Person gleichwohl nicht leisten kann, von ihrer Vergangenheit und Zukunft völlig zu abstrahieren oder sie zu vergessen. M.a.W.: von ihr wird erwartet, dass sie sich als eine die eigene Vergangenheit sowie Zukunft überdauernde und integrierende Person begreift. Ihr Gedächtnis als Jugendliche muss also zumindest memorieren können, dass sie als dieselbe Person verschieden war, nämlich Kind, und voraussehen können, dass sie als dieselbe Person verschieden sein wird, nämlich Erwachsener. Die Paradoxie von Kontinuität/Diskontinuität besteht also darin, dass die Person weder darauf bestehen kann, als Jugendlicher, Erwachsener oder Senior weiterhin ein Kind zu sein und als solches behandelt zu werden; noch umgekehrt als Erwachsener oder Senior leugnen kann, Jugendlicher oder Kind gewesen zu sein. Das Individuum ist also durchaus als unteilbare Einheit verschieden bzw. ein Dividuum bezüglich der Sequenz Kind, Jugendlicher, Erwachsener und Senior. Entparadoxieren lässt sich diese Einheit des Verschiedenen durch die zeitliche Differenz von Vorher/Nachher. Die Person ist also nicht mehr die, die sie einmal war, zugleich aber auch ist sie die, die sie einmal war. Ihre gegenwärtige Selektionsfreiheit ist einerseits durch ihre eigene Vergangenheit beschränkt. Andererseits determiniert sie aber nicht ihre Zukunft. Wäre dies so, wäre Entwicklung nicht möglich und die Differenz von Vergangenheit und Zukunft machte keinen Sinn, da sie identisch wäre. Es handelte sich um eine Tautologie im Sinne einer Differenz, die keine ist. Zugleich bedeutet das Gesagte, dass die lebenslaufspezifische Sequenz Kind, Jugendlicher, Erwachsener, Alter ebenso wie die Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter nicht umkehrbar ist. Der heutige Lebenslauf ist nicht nur an Erinnerung und Vorausschau, also an die Lebensgeschichte und Lebensplanung gebunden, sondern auch und vor allem an die Selbstorganisation der Person (vgl. Becks [1986, 217] Aussage: »In der individualisierten Gesellschaft muss der einzelne entsprechend bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen.«). Diese wiederum stößt oft an Grenzen der Komplexität in sachlicher, zeitlicher, sozialer und räumlicher Hinsicht der funktionssystem- und organisationsspezifischen Rollenzusammenhänge, wenn die Person auf sich allein gestellt ist
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
Es überrascht deshalb nicht, dass die Person in den jeweiligen Lebensphasen des Lebenslaufs auf soziale Netzwerke unterschiedlicher Größe mit unterschiedlichen Funktionen, unterschiedlich wichtigen Personen, zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten angewiesen ist. •
So ist die Selbstorganisation im Kleinkindalter auf ein Minimum reduziert und heute an ein komplexes Netzwerk von Betreuungspersonen gebunden, das von Erzieherinnen, über die Eltern, Großeltern, Baby-Sitter bis zu Tagesmütter reichen kann. In der Jugendphase nehmen die Peers eine wichtige Rolle – zusätzlich zu der der Eltern, Verwandten und relevanten anderen Erwachsenen – ein (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2013, 172ff.). Zwar können sie der heranwachsenden Person die Selbstorganisation ihres Lebenslaufs nicht abnehmen, sie können sie jedoch in vielerlei Hinsichten unterstützen: durch Präsenz, Ratschläge, Formen der Hilfe, Geld, Trost, Wissen etc. Dies gilt auch für die Erwachsenen- und Seniorenphase, wobei die Person jeweils im Hinblick auf unterschiedliche Rollen auf die sozialen Netzwerke angewiesen ist. So können es die Kollegen und der/die Partnerin oder die Nachbarn, Freunde oder bestimmte Professionelle im Alter sein, die bei Themen der Erwerbs-, Wohn-, Partnerschafts-, Patientenkarriere etc. als Ratgeber zur Seite stehen (vgl. Backes/Clemens 2013, 242ff.).
So sehr die Selbstorganisation des Lebenslaufs mit zunehmendem Alter normativ erwartet wird und besonders in bestimmten Rollen – Schüler, Student, Beruf, Rechtssubjekt, Verkehrsteilnehmer, Wähler etc. – die Verantwortung für die Belohnungen und negativen Sanktionen allein der Person zugeschrieben wird, so sehr trifft es sowohl aus der Perspektive der Person als auch der von Fremdbeobachtern zu, dass diese individuelle Attribution oftmals zu kurz greift. •
Explizite Hinweise der Person auf das soziale Netzwerk, z.B. auf das Team oder das Team hinter dem Team, die Unterstützung durch ausgewählte Personen, auf die Hilfe von Wählern, das Verständnis der Eltern, wissenschaftliche Förderer, subventionierende Organisationen etc., lassen sich dementsprechend in nahezu allen Funktionssystemen und Organisationen beobachten. Steht man in der Wissenschaft »auf den Schultern von Riesen« (Merton), bedankt sich als Autor bei Forschungsinstituten und/oder Kollegen und der Partnerin oder den Eltern, ohne deren Hilfe, Geduld und Verständnis die eigene Leistung nie möglich gewesen wäre, lässt sich Ähnliches bei öffentlichen Dankesreden anlässlich von Preisverleihungen im Kontext der Kunst, des Sportes oder Journalismus beobachten.
Einer forcierten Individualisierung des spätmodernen Lebenslaufes (vgl. Kohli 1985, 22ff.; Beck 1986, 205ff.) kann und muss man dementsprechend das Reembedding bzw. die Reinklusion in soziale Netzwerke ergänzend zur Seite stellen. Dass deren Zugang für die Personen sozial ungleich verteilt ist, gehört allerdings ebenfalls zur unterschiedlichen Verlaufsform des heutigen Lebenslaufs.
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Medientheoretisch lassen sich soziale Netzwerke als Kombinationsmöglichkeit einer variierenden Anzahl von Personen fassen, die man aus unterschiedlichen Rollenkontexten der Funktionssysteme und Organisationen kennt. •
Ihre Stabilität und Form resultiert daraus, dass die miteinander vernetzten Personen sich teilweise bereits seit der Kindheit kennen. Ihre Labilität, dass sie zu spezifischen Anlässen temporär eine bestimmte Form als Team, Party, Beratungsgespräch, politisches Engagement annehmen können, um sich dann wieder aufzulösen. Ihre lose Kopplung existiert u.a. in Form von Adressbüchern der E-Mails des Computers, Telefonnummern der Handys oder Time-Tables. Zur festen Kopplung werden sie zu den o.g. Anlässen. Dabei können Elemente, sprich Personen, aus den Adressbüchern etc. getilgt werden und neue Personen hinzukommen.
Das soziale Netzwerk der Adressstellen lässt sich gerade unter den heutigen kommunikationstechnologischen Bedingungen der Selbstorganisation des Lebenslaufs so gut wie noch nie verwalten. Zugleich erfordert es jedoch auch mehr als je zuvor ein Komplexitätsmanagement, das die einzelne Person oftmals zu überfordern droht. Soziale Netzwerke ähneln dem Begriff des sozialen Kapitals (vgl. Bourdieu 1985, 10ff.) und werden mit der Dynamik des Lebenslaufs hinsichtlich der Personen und Organisationen zum Teil ersetzt, ergänzt und neu aufgebaut. •
Am radikalsten passiert dies oft in Krisenzeiten des Lebenslaufs oder bei wichtigen lebenslaufspezifischen Passagen, z.B. von einer zur anderen Lebensphase. Man denke in diesem Zusammenhang an Life-Events wie Scheidung, Schul-, Wohnungs-, Berufswechsel, längere Krankheiten, Verrentung etc.
Bezieht man die teilsystemspezifischen Evolutionen in Form der Szientifizierung, Pädagogisierung, Kommerzialisierung, Verrechtlichung, Medikalisierung, Versportlichung, Festivalisierung, Politisierung, Mediatisierung etc. auf den Lebenslauf, lassen sich diese Kommunikationsprozesse jeweils als funktionssystemspezifische Respezifikation der Vergesellschaftung bzw. des allgemeinen Sozialisationsprozesses begreifen. Sie divergieren in Abhängigkeit von der Lebensphase und dem sozialen Milieu. Ein Kindergartenkind, ein Hauptschüler und ein Student unterscheiden sich z.B. hinsichtlich des Grades der Pädagogisierung und Szientifizierung. Die Selbstsozialisation und die entsprechenden Lernprozesse der Personen variieren dementsprechend gemäß ihres Alters und der Milieuzugehörigkeit. So ist es wahrscheinlicher, dass die Eltern eines Kindergartenkinds des konservativ etablierten und liberal intellektuellen Milieus an der pädagogischen Zielsetzung der Erziehungsorganisation interessiert sind als die des traditionellen oder prekären Milieus (vgl. zu den Sinus-Milieus Geißler 2014, 114ff.). Wenn heute von einer Pluralität von Gesellschaftsbeschreibungen die Rede ist, kann man diese jeweils mit den entsprechenden Kommunikationsprozessen der Funktionssysteme gleichsetzen und beobachten, welche Konsequenzen diese für die Beschreibung der Lebensläufe haben.
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So akzentuieren Konzepte der Wissensgesellschaft die Prozesse der Pädagogisierung und Szientifizierung respektive der Wissensarbeit für den Lebenslauf der Personen (vgl. Willke 2001, 381). Demgegenüber betonen Konzepte der Überfluss-, Konsum-, Erlebnis- oder Multioptionsgesellschaft die Prozesse der Kommerzialisierung, Ästhetisierung und Ökonomisierung für den Lebenslauf (vgl. Kneer 2001; Bretschneider 2000; Schulze 1993; Gross 1994). Und Konzepte der Mediengesellschaft (Marcinkowski 1993) heben Prozesse der Mediatisierung für den Lebenslauf der Personen hervor.
Wir können folglich die teilsystemspezifische Evolution mit den o.g. Prozessen in Verbindung bringen und diese wiederum mit der Respezifikation der Lebensläufe in Abhängigkeit von der inklusions- und exklusionsspezifischen Kombination von Selbst- und Fremdselektion der betroffenen Personen. Wenn Multiinklusion für die spätmoderne Person typisch ist (vgl. Burzan u.a. 2008, 48), dann ist es von hohem Interesse, der Frage nachzugehen, ob die Inklusionsdynamik zur Gleichverteilung der Bevölkerung in jedes der Funktionssysteme tendiert, ob es zu bestimmten funktionssystemspezifischen Präferenzen (vgl. Burzan u.a. 2008, 165) oder gar zu Formen der Selbst- und Fremdexklusion kommt, die manche Funktionssysteme zumindest für einen Teil der Bevölkerung obsolet werden lassen (vgl. Hohm 2016, 143ff.). Lebensläufe differenzieren und individualisieren sich dann auch in dem Sinne, dass bestimmte Teilgruppen von Personen die Rollen von bestimmten Funktionssysteme und Organisationen für sich als uninteressant betrachten und sich ihnen durch Selbstexklusion entziehen, während demgegenüber für die Rollen anderer Funktionssysteme und Organisationen nach wie vor sehr hohe Inklusionsquoten zu registrieren sind. Die Verlaufsmuster der heutigen Lebensläufe variieren dementsprechend von einem Extrem besonders umfassender Inklusion in Funktionssysteme und deren Organisationen zum anderen Extrem stark reduzierter Inklusionsformen. Dazwischen gibt es Exklusionsformen mit ersatzlosem, freiwilligen Verzicht der Teilnahme an bestimmten Funktionssystemen und Inklusion in bestimmte partikulare Exklusionsbereiche. Die beschleunigte und mobile kommunikative Erreichbarkeit, wie sie heute durch die neuen Kommunikationstechnologien Internet, E-Mail und Handy möglich ist, revolutioniert die Lebensläufe insofern, als sie die Relation von Kommunikation mit Abwesenden und Anwesenden einschneidend verändert. Das kommunikative soziale Netzwerk des Lebenslaufs scheint sich damit schon in frühen Lebensphasen zunehmend von Anwesenheit auf Abwesenheit umzustellen und die abwesende Person als Form des Lebenslaufs scheint sowohl als Thema wie als Sprecher und Hörer, aber besonders als Autor und Leser einen größeren Einfluss zu bekommen. Mit dem Kommunikationsmedium E-Mail hat eine Ausweitung der schriftlichen Kommunikation in fast allen Lebensphasen und Funktionsbereiche stattgefunden. Ebenso ermöglicht das Handy eine prinzipielle kommunikative Erreichbarkeit in jeder Situation und an jedem Ort, was neue Formen der Selektion der Kommunikation auf der Basis gesteigerter Kommunikationsmöglichkeiten erfordert. Die diesbezügliche Informalisierung der Kommunikation scheint erst allmählich einen Gegenhalt durch eine minimale Kommunikationsethik in Form einer Netiquette zu erhalten.
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Im Anschluss an Baecker (2007, 10–11) lohnt es sich dementsprechend der Frage weiter nachzugehen, was wir hier nicht können, inwieweit gerade die neuen Medien, vergleichbar dem Buchdruck zu Beginn der Moderne, eine nächste Computergesellschaft (ebd., 12) einläuten und demzufolge auch die kommunikativen Konditionierungen des Lebenslaufs prinzipiell verändern. Die diversen Karrieren einer Person haben als Lebensgeschichte je spezifische Vergangenheiten und als Lebensplanung je spezifische Zukünfte. Ob, in welcher Form und wie diese in den jeweiligen Funktionssystemen und Organisationen memoriert und mitgeteilt werden (müssen), hängt nicht zuletzt vom Gedächtnis der Sozialsysteme und der psychischen Systeme der Personen ab. Wenn mit dem Gedächtnis die Differenz von Erinnern und Vergessen mit der Präferenz für Vergessen gemeint ist (vgl. Luhmann 1995h, 45), stellt sich die Frage, was die Person legitimerweise von ihrem Lebenslauf und der Lebenskarriere vergessen kann und darf, ohne sich damit in Sozialsystemen und gegenüber anderen Personen zu diskreditieren. Und was sie selbst memorieren muss, soll sie nicht durch diese daran erinnert werden. •
Angesichts der Präferenz des Gedächtnisses für Vergessen ist davon auszugehen, dass sowohl Sozialsysteme als auch Personen Vorkehrungen treffen, um das Vergessen zu reduzieren. Nicht erst in der Altersphase lassen sich entsprechende Strategien beobachten, die sich als »Gedächtnisstützen«, wenn man so will als Protokolle des Lebens, begreifen lassen. Heute können diesbezüglich durch die neuen Medien ganz andere Möglichkeiten realisiert werden als noch zu Zeiten vor deren Durchsetzung. So kann man als Person durch Dateien und Ordner, die man qua USB-Sticks, Festplatten, Clouds etc. speichert, sein Gedächtnis in vielfältiger Form entlasten. Zugleich können die Organisationen der einzelnen Funktionssysteme durch Adressen persönliche Daten in unterschiedlichster Form archivieren und speichern, so dass sie im Falle des Vergessens die Person daran erinnern können.
Das »Erinnertwerden« und »Sich selbst Erinnern« sind unterschiedliche Formen des Umgangs mit dem Lebenslauf und der Lebenskarriere. •
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Das »Erinnertwerden« des eigenen Lebenslaufs oder der Lebenskarriere durch Dritte kann Formen des Feierns (Geburtstage, Jubiläen, Statuspassagen, besondere karrierespezifische Leistungen), des Ermahnens (im Falle von Terminüberschreitungen bei Geldtransfers wie Miete, Lohn, Büchergeld etc.), des Drohens (siehe Beugehaft), des Erpressens, Verratens, Beschreibens etc. annehmen. Das »eigene Erinnern« kann jenseits des eigenen Gedächtnisses zusätzlich zu den bereits genannten Speichermedien auf Terminkalendern, Personaldokumenten, Aufzeichnungen in Tagebüchern, Fotos, Filmen, Kassetten, Videos, Power Point Präsentationen etc. als Gedächtnisstützen basieren.
Wichtig ist dabei, wie weit zurück und wie weit voraus die Person im Kontext der unterschiedlichen Kommunikationssysteme ihren Lebenslauf erinnern oder planen können muss. Zum einen hängt das vom Lebensalter ab. Zum anderen von der Funktion, welche die jeweiligen Zeithorizonte für die Sozialsysteme und Personen haben. So ist klar, dass
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eine Organisation bei einer Stellenbeschreibung, die Berufserfahrung von der potenziell rekrutierten Person erwartet, von dieser die Mitteilung weiter zurück liegender Berufsereignisse verlangt, als bei einer, die auf den Nachwuchs setzt, wo es eher um weitere Zukunftshorizonte in Form von Lebensplanung geht. Ebenso verständlich ist es, dass der Übergang zu einer weiterführenden Schule Zeugnisse des letzten Jahres und nicht des 1. Schuljahres erfordert, während die Aufnahme eines Studiums den Nachweis des Abiturs benötigt. Es ist eine interessante Frage, ob die Funktionssysteme und ihre Organisationen ihre personellen Adressaten heute in gleichem Maße wie noch vor drei Jahrzehnten unpersönlich behandeln können (vgl. Coleman 1983), indem sie sie auf ihre Rolle reduzieren, oder ob sie sich, nicht zuletzt induziert durch die neuen Medien, mit zusätzlichen Informationen über die Personen ausstatten müssen, um angemessen auf deren Ansprüche und Erwartungen reagieren zu können. Und ob sich nicht, vermittelt über die neuen Verbreitungsmedien der Social Media, eine zunehmende Selbstdarstellung der Personen einschleicht, welche die klassische Differenz, welche noch Parsons (1951, 456) betonte, nämlich die von unterschiedlichen Beweislasten hinsichtlich personenbezogener Informationen im Kontext der Familie und ihren Umweltsystemen, zunehmend einebnet. M.a.W.: dass es zu einer verstärkten Personalisierung und Informalisierung der Kommunikation anstelle einer unpersönlicher Kommunikation in den Funktionssystemen und ihren Organisationen kommt. Konträr dazu lässt sich eine Depersonalisierung bezüglich der Inklusionsbedingungen in der Form beobachten, dass anstelle der Person und ihrem Namen zunehmend Passwörter, Matrikelnummern, Steuernummern etc. treten, die die Rolle des »Users« erst ermöglichen. Offensichtlich muss die heutige Person lernen, je nach Anlass, eine unterschiedliche Selbstthematisierung ihres Lebenslaufs in schriftlicher oder verbaler Form mit sich führen und zugleich mitteilen zu können. Man denke nur an den tabellarischen Lebenslauf bei Stellenbewerbungen, Bewerbungen um Studienplätze, Forschungsanträge, Vorstellungsrunden anlässlich von Freizeitevents, an die Selbstdarstellung in der eigenen Homepage oder eine Heiratsannonce. Dabei kommt es zum Re-entry des Lebenslaufs in den Lebenslauf in der Form, dass das psychische System wissen können sollte, wie es seine Eigenkomplexität, basierend auf der Vielfalt der Partialinklusionen als Person im jeweiligen Funktionssystem oder der Organisation, selegiert, ohne zu viel oder zu wenig von sich preiszugeben. Trifft es – trotz unseres Hinweises auf die Inklusion der Person in soziale Netzwerke – zu, dass der Integrationsgrad von Gesellschaft und Person qua heutigem Lebenslauf tendenziell abgenommen und die Individualisierung der Person zugenommen hat, impliziert das für die Funktionssysteme und ihre Organisationen, dass sie die Differenz von Rolle und Person unterschiedlich handhaben, d.h. die individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Person verschieden nutzen und sich mit ihr bekannt machen müssen, damit die jeweiligen Rollen adäquat erfüllt werden können (vgl. Luhmann 2000a, 279ff.). So sind z.B. für die Parteien des politischen Systems im Hinblick auf die Wählerrolle Informationen zur konkreten Person trotz des Wahlgeheimnisses von hoher Relevanz. Dazu gehört auch das frühere Wahlverhalten. Ermöglicht es doch besser einzuschätzen, ob und wie die Person zugunsten eines Votums der eigenen Partei beeinflussbar ist. Noch
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stärker ist das Bedürfnis nach der Beschaffung persönlicher Daten bei den Giganten Apple, Google, Amazon, Facebook der boomenden IT-Branchen, mit denen sie wiederum ihre Angebote personenadäquater verkaufen können. Im Kontext von jedem Lebenslauf gibt es Krisen. Bezieht man sie auf das komplexe Rollenarrangement der Person, dann stellt sich die Frage, ob sich Krisen im Hinblick auf die Trias primäre Leistungsrolle, Laienrollen sekundäre Leistungsrollen unterscheiden lassen und inwieweit Krisen in einer Rolle auf die anderen Rollen ausstrahlen, oder ob sich mit Interdependenzunterbrechungen rechnen lässt. Bedeutet z.B. eine Krise in der Berufsrolle automatisch auch eine Krise in der Partner- und Kundenrolle, oder kann und muss die Person Strategien entwickeln, um die Krise einer Rolle nicht auf die anderer Rollen zu übertragen? Gehört dazu auch die Strategie der Rollentrennung und lässt sie sich in allen Sozialsystemen praktizieren, oder fällt sie leichter in den Sozialsystemen, die ohnehin schon eine Rollentrennung vorsehen, wie z.B. formale Organisationen im Gegensatz zu Intimsystemen? Was lässt sich überhaupt unter lebenslaufspezifischen Krisen verstehen? Betrachtet man z.B. die Life-Events, dann sind dies oft außeralltägliche, krisenhafte Ereignisse des Lebenslaufs – Ehescheidungen, Kündigungen von Arbeitsstellen, Wohnortwechsel, Schulwechsel, Wechsel des Outfits, Auslandsaufenthalte, Migration in ein anderes Land etc. –, welche die Person in der Regel memoriert, da sie sie in einer Form irritierten, die zu ihrer De- und Rekonstruktion qua Strukturveränderung geführt haben. Begleitet wird diese von bedeutsamen Exklusionsentscheidungen, die wiederum neue Formen der Inklusion auslösen. Die Semantik des »Wechsels« scheint somit auf eine Lösung der Krise zu verweisen, welche eine bisherige Inklusion durch eine neue ersetzt, wobei dieser Wechsel im Sinne der horizontalen oder vertikalen Mobilität unterschiedliche Formen der Krisenbewältigung annehmen kann. Entweder bleibt die betroffene Person im jeweiligen Inklusionsbereich des Funktionssystems und nimmt die gleiche Rolle ein, aber in anderen Organisationen oder in einem anderen Interaktionssystem. Oder sie steigt bis hin zu dem Punkt ab, ab dem es zur Exklusion aus wichtigen Rollen kommt. Man denke z.B. an einen Mann, der den Wohnort wechseln muss, weil er sowohl seinen Arbeitsplatz verloren hat als auch von seiner Ehefrau verlassen wurde. Diese lebenslaufspezifische Krise geht mit einem dreifachen Abstieg bzw. einer dreifachen Exklusion im Sinne eines mehrfachen Rollenverlustes einher: Verlust der Wohnung, Verlust des Arbeitsplatzes und Verlust der Ehefrau. Wenn man einen Teil der Life-Events mit krisenhaften Schlüsselereignissen des Lebenslaufs gleichsetzt, stellt sich die Frage, ob ihr Eintreten kontingent ist, oder ob sie funktionssystem- und organisationsspezifisch erwartbar sind. M.a.W.: generieren die Funktionssysteme und Organisationen Life-Events, deren Folgeprobleme von den Personen im Kontext der Lebensphasen ihres Lebenslaufs gelöst werden müssen, also vergleichbar sind mit dem in der Sozialisationstheorie verwendeten Begriff der »Entwicklungsaufgaben« (Hurrelmann/Quenzel 2013, 222ff.) oder den der entwicklungspsychologischen Identitätskrisen von Erikson (1971)? Gehören krisenhafte Live-Events konstitutiv zum Lebenslauf, lässt sich der Umgang mit ihnen hinsichtlich eines normativen oder kognitiven Erwartungsstils unterscheiden. Dominieren normative Erwartungen bezüglich wichtiger Lebenslaufereignisse,
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halten die Personen an ihnen auch dann fest, wenn sie zu Enttäuschungen führen, wie z.B. dem Wunsch einer romantischen Liebe, eines Kindes, der Ausübung eines bestimmten Berufs, der Gründung einer Familie, dem Bau eines eigenen Hauses, der Bindung an einen bestimmten Ort etc. Demgegenüber lässt sich für den heutigen Lebenslauf eine tendenzielle Mutation der erwartenden Personen zum kognitiven Erwartungsstil im Sinne »lebenslangen Lernens« beobachten. Selbstanpassung und Korrektur der eigenen Erwartungen verändern dementsprechend den Umgang mit Lebenskrisen, indem die Rollenerwartungen weniger normativ und schon gar nicht primär affektiv besetzt werden. Die dadurch angezeigte größere Flexibilität der Personen ermöglicht es ihnen, sich leichter von Personen, Sozialsystemen und Orten und den mit ihnen verknüpften Wunschvorstellungen zu trennen und an neue zu gewöhnen. Die Lebenskrisen werden somit in ihrer Tragweite entschärft und produktiv in den eigenen Lebenslauf integriert. Verknüpft man die beiden Erwartungsstile mit den Forschungen zu sozialen Milieus, kommt man zum Ergebnis, dass die Personen der jüngeren oder spätmodernen sozialen Milieus eher auf kognitive und die der traditionelleren eher auf normative Erwartungen und entsprechende Identitäten bzw. Persönlichkeitsprofile setzen (vgl. Geißler 2014, 114ff.). »Muddling through« als Durchwursteln im Sinne des Verzichts auf langfristige Lebensentwürfe und des Primats des Opportunismus (Schimank 2002, 244) lässt sich ebenfalls als eine mögliche Strategie der Identitätsstiftung und Problemlösung für Krisen konstruieren. Sie ist insofern funktional, als sich die heutige Person in vielen Rollen eine zu lange Zeitbindung nicht mehr leisten kann, da die Funktionssysteme und Organisationen diese nicht mehr garantieren können. Anders ausgedrückt: die forcierte Kündbarkeit bzw. niedrigere Integration in Sozialsysteme macht eine Sinnbestimmung durch zu starke innerliche Bindung riskant und hochgradig enttäuschungsanfällig. Ein flexibler Opportunismus kann dann in der paradoxen Form identitätsstiftend sein, dass nichts konstanter ist als der Wandel. Verbindet man Riesmans (1972, [1958] 120ff.) bereits anfangs der 1950er Jahre entwickelte Typologie traditions-, innen- und außenorientierter Personen mit den Lebenszielen und Lebensstilen der aktuellen Sinus-Milieuforschung (vgl. Geißler 2014, 116), lassen sich für den ersten Typ die Spielarten des traditionellen Milieus anführen, für den zweiten Typ das liberal-intellektuelle sowie das expeditive Milieu und schließlich für den dritten Typ das prekäre und hedonistische Milieu. Deutlich wird daran, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen des spätmodernen deinstitutionalisierten und individuellen Lebenslaufs.
8.1.6
Fazit
Betrachtet man unsere systemtheoretisch inspirierten Ausführungen zum Lebenslauf abschließend auf einen Blick, so wird unseres Erachtens deutlich, dass sich eine Verknüpfung mit der allgemeinen Systemtheorie, der Differenzierungs-, Kommunikations- und Evolutionstheorie lohnt. Sie liefert wichtige Einsichten für die Kopplung/ Entkopplung des psychischen Systems mit den sozialen Systemen in Form der Inklusion/Exklusion der Person. Das gilt sowohl hinsichtlich der einzelnen Lebensphasen als
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auch der jeweiligen primären Leistungsrollen, sekundären Leistungs- und Laienrollen. Dass wir dabei manche Themen nur anschneiden konnten, andere ausblenden mussten, ist es uns bewusst. Es versteht sich deshalb von selbst, dass unsere Ausführungen durch Anschlussforschungen vertieft, ergänzt und zum Teil korrigiert werden müssen.
8.2 Lebenslauf und frühkindliches Alter: die Dominanz der Verhäuslichung und elterlichen Selektion der lokalen Inklusion der Kinder 8.2.1
Einleitung
Im Folgenden werden wir eine der Lebensphasen des Lebenslaufs genauer aus systemtheoretischer Perspektive betrachten: die moderne Kindheit (vgl. Bühler-Niederberger 2011), präziser ihre erste Phase, nämlich die Kleinkindphase. Unter Kindheit verstehen wir eine durch die moderne funktional differenzierte Gesellschaft strukturierte dynamische Lebenslage, die sich von den Lebenslagen der Lebensphasen Jugend, Erwachsenseins und Alter unterscheidet (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2013; Backes/Clemens 2013). Wenn wir von Kindern im Unterschied zur Kindheit sprechen, beziehen wir uns auf einen Teil der jeweiligen Gesamtbevölkerung bzw. der Menschen als organisch-psychischer Systeme und Personen der modernen Gesellschaft. Diese unterscheiden sich von Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren durch Inklusionsformen, die ihnen als Adressaten der Kommunikation sozialer Systeme den Status vollverantwortlicher Personen entwicklungsbedingt noch nicht zugestehen. Das schließt jedoch nicht aus, dass die Kinder zunehmend durch Selbstsozialisation ihre Lebenslage und ihren Lebenslauf in Form einer individuellen Lebenskarriere bzw. Biografie aktiv mit beeinflussen. Die Lebenslage Kindheit strukturiert zeitlich diejenigen Ereignisse, die Kinder von der Geburt bis zum 12. Lebensjahr im Rahmen ihres Lebenslaufes durchlaufen. Sie lässt sich grob in drei Phasen binnendifferenzieren, welche zugleich in unterschiedlicher Form den Aufbau der Lebenskarriere und Biografie formen. Die erste Phase der Kindheit reicht von der Geburt bis zum 3. Lebensjahr. •
•
Sie ist in der Mehrzahl der Fälle noch durch die Dominanz der funktionssystemspezifischen Inklusion des Kindes in die Familie und die Omnipräsenz erwachsener Bezugspersonen, besonders der Mutter, gekennzeichnet. Es dominiert der Aufenthalt im Binnen- und Nahraum der Familie. Man kann von der Verhäuslichung bzw. Familialisierung der Kindheit sprechen.
Die zweite Phase der Kindheit dauert vom 3. bis 6. Lebensjahr. •
•
Sie wird von der Rückläufigkeit der Inklusion des Kindes in den Binnenraum der Wohnung und seiner selektiven Entkoppelung von der Omnipräsenz der Mutter bestimmt. Komplementär nimmt die Präsenz von zunächst fremden Erwachsenen durch die funktionssystemspezifische Inklusion des Kindes in die Binnen- und Außenräume formaler Dienstleistungsorganisationen, speziell des Erziehungs- und Freizeitsys-
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auch der jeweiligen primären Leistungsrollen, sekundären Leistungs- und Laienrollen. Dass wir dabei manche Themen nur anschneiden konnten, andere ausblenden mussten, ist es uns bewusst. Es versteht sich deshalb von selbst, dass unsere Ausführungen durch Anschlussforschungen vertieft, ergänzt und zum Teil korrigiert werden müssen.
8.2 Lebenslauf und frühkindliches Alter: die Dominanz der Verhäuslichung und elterlichen Selektion der lokalen Inklusion der Kinder 8.2.1
Einleitung
Im Folgenden werden wir eine der Lebensphasen des Lebenslaufs genauer aus systemtheoretischer Perspektive betrachten: die moderne Kindheit (vgl. Bühler-Niederberger 2011), präziser ihre erste Phase, nämlich die Kleinkindphase. Unter Kindheit verstehen wir eine durch die moderne funktional differenzierte Gesellschaft strukturierte dynamische Lebenslage, die sich von den Lebenslagen der Lebensphasen Jugend, Erwachsenseins und Alter unterscheidet (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2013; Backes/Clemens 2013). Wenn wir von Kindern im Unterschied zur Kindheit sprechen, beziehen wir uns auf einen Teil der jeweiligen Gesamtbevölkerung bzw. der Menschen als organisch-psychischer Systeme und Personen der modernen Gesellschaft. Diese unterscheiden sich von Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren durch Inklusionsformen, die ihnen als Adressaten der Kommunikation sozialer Systeme den Status vollverantwortlicher Personen entwicklungsbedingt noch nicht zugestehen. Das schließt jedoch nicht aus, dass die Kinder zunehmend durch Selbstsozialisation ihre Lebenslage und ihren Lebenslauf in Form einer individuellen Lebenskarriere bzw. Biografie aktiv mit beeinflussen. Die Lebenslage Kindheit strukturiert zeitlich diejenigen Ereignisse, die Kinder von der Geburt bis zum 12. Lebensjahr im Rahmen ihres Lebenslaufes durchlaufen. Sie lässt sich grob in drei Phasen binnendifferenzieren, welche zugleich in unterschiedlicher Form den Aufbau der Lebenskarriere und Biografie formen. Die erste Phase der Kindheit reicht von der Geburt bis zum 3. Lebensjahr. •
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Sie ist in der Mehrzahl der Fälle noch durch die Dominanz der funktionssystemspezifischen Inklusion des Kindes in die Familie und die Omnipräsenz erwachsener Bezugspersonen, besonders der Mutter, gekennzeichnet. Es dominiert der Aufenthalt im Binnen- und Nahraum der Familie. Man kann von der Verhäuslichung bzw. Familialisierung der Kindheit sprechen.
Die zweite Phase der Kindheit dauert vom 3. bis 6. Lebensjahr. •
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Sie wird von der Rückläufigkeit der Inklusion des Kindes in den Binnenraum der Wohnung und seiner selektiven Entkoppelung von der Omnipräsenz der Mutter bestimmt. Komplementär nimmt die Präsenz von zunächst fremden Erwachsenen durch die funktionssystemspezifische Inklusion des Kindes in die Binnen- und Außenräume formaler Dienstleistungsorganisationen, speziell des Erziehungs- und Freizeitsys-
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
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tems, zu. Dabei erhält speziell der Kindergarten eine besondere Funktion – nicht zuletzt durch das seit 1996 verabschiedete Recht auf einen Kindergartenplatz. Darüber hinaus lassen sich temporär exklusive Formen der informellen PeergroupKommunikation beobachten.
Die dritte Phase der Kindheit dauert vom 6. bis zum 12. Lebensjahr. •
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Die zeitliche Inklusion des Kindes im Binnenraum der Familie nimmt nochmals ab. Zudem ist die Familienzeit des Kindes durch seinen zunehmenden Rückzug ins Kinderzimmer geprägt. Komplementär dazu kommt es zur Inklusion des Kindes in die Grundschule. Diese beeinflusst die Lebenslage des Kindes während der Woche entscheidend durch die Schul- bzw. Anwesenheitspflicht. Zugleich wächst die funktionssystemspezifische Inklusion in die übrigen lokalen Organisationen. Sie geht mit einer Steigerung der raumzeitlichen, thematischen und sozialen Komplexität für das Kind und erhöhten Erwartungen durch das erwachsene Personal, aber auch Möglichkeiten von Eigenentscheidungen einher. Diese manifestieren sich auch anhand variabler Inklusionsformen in informellen Peergroups.
Typisch ist also für die einzelnen Phasen der Kindheit, dass die Lebenslage und die Lebenskarriere als Selektionen des Lebenslaufes zunächst stark und dann rückläufig durch das Familiensystem (vgl. Luhmann 1990d; Nave-Herz 2002; Peuckert 2012; Meyer 2014) und dessen strukturelle Kopplung mit den übrigen Funktionssystemen bestimmt sind. Je nach deren Restriktionen und Opportunitäten sowie dem elterlichen Lebensstil variieren die Formen der Inklusion/Exklusion und mit ihnen die kindlichen Lebenslagen zum einen und die Möglichkeiten der Kinder, durch Selbstsozialisation im Medium der Ereignisse des Lebenslaufes die eigene Lebenskarriere mitzuformen, zum anderen (vgl. Luhmann 1995a, 87ff.). •
•
•
Die Kinder individualisieren sich in dem Maße durch ihre Lebenskarriere, in dem sie auf unterschiedliche kommunikative Resonanz ihrer Ansprüche, Fähigkeiten und Fertigkeiten in der sozialen Umwelt im Vorher/Nachher der altersspezifisch zugeschriebenen Rollen stoßen. Durch Vergleich können sie u.a. erfahren, ob sie organisch, psychisch oder als Person bezogen auf die altersspezifischen Erwartungen hinterherhinken, ihnen vorauseilen oder mit ihnen konform gehen. Für die je spezifische Lebenskarriere der Kinder spielen zusätzlich Schlüsselereignisse bzw. Life Events und Überraschungen bzw. Zufälle eine bedeutsame Rolle.
Erwähnt werden sollte noch, dass wir bei der Einteilung der Kindheitsphasen auf spezifische Bezeichnungen der Kinder als Adressstellen der Kommunikation verzichteten. Stattdessen beschränkten wir uns auf die Angabe des kalendarischen bzw. chronologischen Alters. Es fällt nämlich auf, dass zwar in den frühesten Phasen des kindlichen Lebenslaufes vom Kleinkind gesprochen wird (vgl. Hünersdorf 2014, 154), danach aber nicht vom »Großkind«, sondern vom Kindergartenkind und Schulkind.
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Stellt also die eine der Bezeichnungen auf eine Differenz von klein/groß ab, die besonders auf die entwicklungsbedingten Unterschiede des Körpers referiert, beziehen sich die anderen Zuschreibungen des Kindes auf Unterschiede der Zugehörigkeit zu Organisationen des Erziehungssystems. Obwohl diesen ein wichtiger Stellenwert für die Kinder im Rahmen der späteren Kindheitsphasen zukommt, decken sie jedoch bei weitem nicht alle karriererelevanten Ereignisse ab, welche die soziale Lebenslage der Kinder und ihre Lebenskarriere im Medium des Lebenslaufes formen. Bezeichnungen wie Straßenkind, Schlüsselkind, Stiefkind, Familienkind, Heimkind, Kommunionkind, Ferienkind, Hortkind, Zwillingskind, uneheliches Kind, Unterschichten-, Mittelschichtenkind, Dorfkind, Stadtkind etc. machen dies hinreichend deutlich. Die Semantik, die sich heute als gesellschaftliche Selbstbeschreibung auf die Kindheit und Kinder bezieht und in den Massenmedien sowie der Fachöffentlichkeit kommuniziert wird, umfasst eine plurale Beobachtung und Bewertung. Ihre Spannbreite reicht vom »Verschwinden der Kindheit« (Postman 2003, 81ff.) über »Kinder als Außenseiter« (Zeiher 1996) bis hin zur »Sakralisierung« der Kinder (Zelizer 1985, 22ff.). Die erstgenannte Position betont die zunehmende Einebnung der Differenz von Kindheit und Erwachsensein durch die elektronischen Medien. Deren Präferenz für visuelle Wahrnehmungsmedien und Präsentation von Entertainment führe zur Angleichung von Kindern und Erwachsenen, indem sie deren medienbiographische Kompetenzunterschiede, wie sie durch die Lesekultur des Buchdruckes erzeugt wurden, zunehmend verwische. Demgegenüber differenziert die zweite Position zwischen solchen Funktionssystemen, welche als gesellschaftliche Schutzzonen für Kinder fungieren, und solchen, die ihnen gegenüber durch eine »strukturelle Rücksichtslosigkeit« gekennzeichnet sind. Handelt es sich bei jenen primär um die Intimsysteme und das professionelle Erziehungssystem, werden diese besonders durch das politische System, das Wirtschaftssystem und die Werbung als Teil der Massenmedien repräsentiert. Sie machen die Kinder zu Außenseitern, indem sie ihre spezifischen Ansprüche und Erwartungen weitestgehend ignorieren oder manipulieren. Die dritte Position wiederum akzentuiert die gewachsene gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Resonanz, die Kinder im 20. Jahrhundert im Vergleich zu früheren Jahrhunderten erhalten haben. Dies läuft auf eine gesteigerte Positivbewertung der Kindheit und Kinder hinaus, welche sich in den verschiedensten gesellschaftlichen KinderschutzMaßnahmen niederschlägt. Ihr politisches Korrelat findet diese Semantik in divergierenden Positionen zur Kinderpolitik, die von der Kinderschutzpolitik über die sozial-ökologische Kinderpolitik bis hin zur emanzipatorischen Kinderpolitik reichen (BMfFSFuJ 1998, 19ff.). Steht bei der Kinderschutzpolitik das Kind als durch die Erwachsenen zu schützende, unfertige Person im Zentrum, betont hingegen die emanzipatorische Kinderpolitik die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder. Diese sollen durch entsprechende Rechte in ihrer Entfaltung umfassend unterstützt und von der Bevormundung durch Erwachsene befreit werden. Zwischen diesen beiden Spielarten der Kinderpolitik versucht die sozial-ökologische Kinderpolitik zu vermitteln. Sie votiert für eine Ausbalancierung zwischen funktions-
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systemspezifischen Hilfs- und Schutzmaßnahmen für Kinder und der Ermöglichung kindspezifischer Entfaltung. Ihre politische Programmformel läuft auf eine »Kultur des Aufwachsens« hinaus, welche für das Kindeswohl und die Kinderverträglichkeit gesellschaftlicher Lebenslagen anstelle ihrer strukturellen Rücksichtslosigkeit hinsichtlich kindlicher Belange plädiert. Schließlich sind die Kommunen an der Konstitution der Lebenslage Kindheit und der Lebenskarriere der Kinder in spezifischer Weise beteiligt (vgl. zur Kommune als Sozialsystem Hohm 2011, 13ff.). Sie stellen den nahräumigen Zugang zu den global ausdifferenzierten Funktionssystemen qua ihrer Temporal-, Sozial-, Themen- und Infrastruktur auf unterschiedliche Weise her. In zeitlicher Hinsicht geschieht dies vor allem durch Altersgrenzen, die den Zugang, die Dauer und Beendigung bezüglich der lokalen Sozialsysteme konditionieren. •
•
Diese sortieren die Inklusion der Kinder nach Geburtsjahrgängen, welche für sie als Alterskohorten die Unterscheidung von gegenwärtigen, vergangenen oder zukünftigen Mitgliedern annehmen. Dabei unterscheiden sich die lokalen Sozialsysteme danach, ob sie die Kinder während der Kindheit kontinuierlich, nur für bestimmte Phasen oder gar nicht inkludieren. Man denke z.B. an die unterschiedlichen Inklusionsbedingungen der Herkunftsfamilie, des Kindergartens und der Grundschule im Vergleich zu den Arbeitsorganisationen des lokalen Beschäftigungssystems.
In sozialer Hinsicht impliziert die Inklusion der Kinder durch die lokalen Systeme zunächst, dass sie sich mittels der Kommunikationsmedien unterscheiden, mit denen sie sich an die Kinder wenden. •
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Dies kann eher durch körperbetonte Kommunikation, bevorzugt mittels mündlicher Kommunikation, aber auch qua Verbreitungsmedien wie Schrift, Fernsehen, Rundfunk etc. oder durch die Erfolgsmedien Liebe, Geld, Macht, Wahrheit, Glaube etc. geschehen. Darüber hinaus können die Inklusionsformen der lokalen Sozialsysteme zwischen exklusiver Präsenz der Erwachsenen oder Kinder einerseits und einem unterschiedlichen Mix von anwesenden Erwachsenen und Kindern anderseits variieren.
In sachlicher Hinsicht adressieren die Inklusionsformen der lokalen Sozialsysteme mittels ihrer Leitdifferenzen und entsprechenden Programme unterschiedliche rollenspezifische Erwartungen an die Kinder. Sie unterscheiden sich u.a. dahingehend, inwieweit sie die individuellen Ansprüche der Kinder thematisch berücksichtigen und dadurch mit den kindzentrierten Erwartungen der Eltern konfligieren oder nicht. h4) Was schließlich die räumliche Inklusion der Kinder durch die lokalen Systeme anbelangt, so variiert sie in Abhängigkeit von deren infrastrukturellen Spielräumen. So gibt es Binnen- und Außenräume, die entweder nur mittels elterlicher Begleitung oder der von anderen qua Eltern legitimierter Bezugspersonen oder allein durch die Kinder aufgesucht und gestaltet werden können.
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Wir wollen uns im Folgenden vor allem – wie eingangs angekündigt – auf die Kleinkindphase des Lebenslaufs konzentrieren. Zunächst werden wir die Höchstrelevanz des Familiensystems für das Kleinkind erörtern. Dabei werden wir besonders die oft vernachlässigte Vorbereitungsphase auf das Familiensystem einerseits und ihre Gründungsphase mit den jeweiligen Implikationen für die Kindheit andererseits thematisieren. Danach betrachten wir die für das Kleinkind relevanten sozialen Netzwerke in seinem Nahraum. Ferner behandeln wir die (noch immer) relative Nachrangigkeit der Kitas als lokaler Organisationen für die Erziehung der Kinder in der Kleinkindphase. Bevor wir unsere Darstellung mit einem Fazit beenden, beschreiben wir die Inklusion/Exklusion des Kleinkindes exemplarisch anhand einiger lokaler Funktionsbereiche, nämlich Wirtschaft, Verkehr, Massenmedien, Administration und Politik.
8.2.2
Familie als zentrales Sozialsystem: Zur Dominanz der höchstpersönlichen Intim- und Risikokommunikation mit nahezu omnipräsenten eltern- bzw. mutterbestimmten kindbezogenen Dienstleistungen
Die Kindheit spielt sich für die überwiegende Mehrheit der Kinder von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr vorwiegend im Sozialsystem Familie ab. Seine quantitative Besonderheit als Funktionssystem besteht darin, dass es im Unterschied zu den anderen Funktionssystemen millionenfach vorkommt. Seit der Mitte der 1960er Jahre des 20. Jahrhunderts lässt sich eine wachsende Formenvielfalt des Sozialsystems Familie beobachten (vgl. Peuckert 2012, 28). Die Funktion der Inklusion der Vollperson durch das Sozialsystem Familie wird somit nicht mehr nur durch die Form der modernen Kleinfamilie erfüllt (vgl. Luhmann 1990d, 208), wenngleich diese nach wie vor quantitativ als Zweikinderfamilie bzw. Einkinderfamilie dominiert. (vgl. Peuckert 2012, 28). Stattdessen emergiert eine Pluralität familialer Form, die von Einelternfamilien, über Stieffamilien, Adoptionsfamilien, Pflegefamilien, nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern, Wohngemeinschaften mit Kindern bis hin zu binationalen und ausländische Familien reicht (vgl. Peuckert 2012, 20). Beobachtet man diese Entwicklung anhand der systemischen Differenzierungsformen, dann lässt sich bezogen auf die segmentäre Differenzierung •
•
zunächst generell eine quantitative Abnahme des Sozialsystems Familie in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft konstatieren. Das heißt – bezogen auf die Gesamtpopulation – schrumpft der Anteil derjenigen, die in das Sozialsystem Familie inkludiert sind. Gab es 1996 in Deutschland noch ca. 13,2 Mio Familien, so waren es im Jahr 2021 nur noch 11,6 Mio., also 13 % weniger (vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis) 2022). Darüber hinaus kommt es zu personellen Schrumpfungstendenzen des vorhandenen Sozialsystems Familie, was sich sowohl an der Rückläufigkeit der Kinderzahl der modernen institutionalisierten Familie als auch der Einelternfamilie und der nichtehelischen Lebensgemeinschaften mit Kindern ablesen lässt. Diese Rückläufigkeit
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wird nur teilweise durch ausländische Familien und komplexe Stieffamilien kompensiert. Schließlich impliziert die gestiegene Formenvielfalt des Sozialsystems Familie, dass sich ihre Segmente bezogen auf die Funktionserfüllung der Inklusion der Vollperson stärker voneinander unterscheiden. Das einzelne Sozialsystem Familie hat es nicht mehr nur mit der gleichen Familienform in seiner gesellschaftsinternen Umwelt zu tun, sondern mit einer Formenvielfalt. Die segmentäre Differenzierung des Familiensystems verweist damit auf die Kontingenz und Instabilität der Formen des Familiensystems sowohl für die Selbst- als auch die Fremdbeobachtung von Familien. Die Modernisierungszentren der funktional differenzierten Weltgesellschaft erzeugen mithin durch die Eigendynamik ihrer Funktionssysteme Folgeprobleme, die selbst vor dem Sozialsystem Familie nicht Halt machen. Auch dieses wird unter Varietäts- und Selektivitätsdruck mit neuen Möglichkeiten der Restabilisierung durch eine segmentär gestiegene Formenvielfalt gesetzt.
Hinsichtlich der Differenzierungsform Zentrum/Peripherie springt die raschere Durchsetzung der Formenvielfalt des Sozialsystems Familie in den urbanen Zentren im Vergleich zur Peripherie der Kleinstädte und Dörfer ins Auge. •
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Gleichwohl ist auch hier nicht auszuschließen, dass durch globale Kommunikation via Telekommunikation, Wertewandel, Zuzug städtischer Milieus und bildungs- und berufsbedingte Mobilität der nachwachsenden Generation die Pluralität der Familien zunimmt. Bezieht man die Zentrum/Peripherie-Differenz auf die Rangordnung der unterschiedlichen Formen des Familiensystems, so hat zumindest in urbanen Zentren das moderne Familiensystem seine exklusive Vorrangstellung bzw. sein Monopol als Sozialsystem im Sinne einer lebenslangen Bindung der Familienmitglieder eingebüßt.
8.2.2.1
Die Vorbereitungsphase auf das Familiensystems und die pränatale Phase der Kindheit
Die Vorbereitungsphase des Familiensystems, die zugleich in wesentlichen Hinsichten die pränatale Phase der Kindheit beeinflusst, lässt sich durch folgende Strukturmerkmale kennzeichnen: Zeitlich endet sie mit der Geburt des ersten Kindes. Ab diesem Zeitpunkt nimmt das Ehepaar das Kind als körperlich sichtbares und von ihm eindeutig unterscheidbares Individuum wahr. Im Gegensatz zu seinem vorherigen Ultraschallbild erscheint es ihm nun als Individuum mit einem präsenten Körper. Damit identifiziert es das Kind als Adressstelle der Kommunikation mit Eigennamen und organisch-psychischen Ansprüchen sowie individuellen Bedürfnissen. Der Take-off für die Vorbereitungsphase des Familiensystems setzt spätestens mit der ärztlichen Bestätigung der Schwangerschaft ein. Der Beginn der Kindheit als pränatale Phase wird jedoch nicht durch Entscheidungen des Kindes intentional beeinflusst. Vielmehr ist er das kontingente und höchst unwahrscheinliche Resultat der Entschei-
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dung zweier heterosexueller Erwachsener. Diese sind in der Mehrzahl der Fälle nach wie vor Ehepartner. Doppelt kontingent ist dieser Anfang insofern, als er weder notwendig noch unmöglich ist, sondern der Tendenz nach den Konsens beider Ehepartner voraussetzt, den symbiotischen Mechanismus der Sexualität (vgl. Luhmann 1981b) mit der Möglichkeit der Zeugung eines Kindes zu verknüpfen. Die semantische Differenz von Wunschkind und unerwünschtem Kind wird dabei in dem Maße in die Selbstbeobachtung des Ehesystems eingebaut, in dem es strukturell möglich wird, den Zeitpunkt der Entscheidung für ein Kind mitzubestimmen. Voraussetzungen dafür sind die Errungenschaft der pharmazeutischen Industrie in Form der Pille, ihre Zugänglichkeit und korrekte Handhabbarkeit durch die Ehefrau und der Konsens des Ehepaares, sie als Verhütungsmittel zu benutzen bzw. bei Kinderwunsch abzusetzen. Darüber hinaus spielen zunehmend Karriereerwägungen beider Ehepartner und damit zusammenhängende sozio-ökonomische Rahmenbedingungen eine bedeutsame Rolle, wenn es um die Zeugung eines Kindes geht. Sie wird nicht dem Zufall überlassen, sondern zunehmend geplant (vgl. Peuckert 2012, 221ff.). Haben sich die Ehepartner für ein Kind entschieden, ist der Zeitpunkt der Schwangerschaft der Beginn der Transformation des Ehesystems zum Familiensystem. Dabei reicht jedoch die Wahrnehmung der Schwangerschaft durch die Ehefrau anhand eigener Körperveränderungen, z.B. Ausbleiben der Monatsblutung, nicht aus, sondern es ist zusätzlich, wie oben erwähnt, die Feststellung der Schwangerschaft durch das medizinische Personal nötig. Dieses dokumentiert sie offiziell und ermöglicht somit der schwangeren Frau die Befreiung von bestimmten Erwartungen ihrer übrigen Rollen, z.B. der Berufsrolle, aber auch die Realisierung rechtlich abgesicherter Ansprüche auf bestimmte sozialstaatliche Leistungen, z.B. Mutterschaftsurlaub. Wird die Schwangerschaft durch den Hausarzt oder eine Frauenärztin bestätigt, beginnt das Ehepaar, sich auf die Transformation zum Familiensystem einzustellen. Systemintern wird diese Transformationsphase u.a. anhand der folgenden Aspekte deutlich: Das Intimsystem Ehe orientiert sich kommunikativ nicht mehr nur an den Ansprüchen und Erwartungen der Ehepartner, sondern im Sinne des familialen Leitbildes einer »verantworteten Elternschaft« in wachsendem Maße an den vermuteten Bedürfnissen des im Mutterleib heranwachsenden Kindes (Hünersdorf 2014 bezieht dieses Leitbild primär auf die strukturelle Kopplung mit dem System Sozialer Hilfe, das gleichsam als Stütze für diejenigen Eltern dient, die mit den damit verknüpften normativen Erwartungen überfordert sind). Schneider u.a. (2014, 23) formulieren dessen Kindzentriertheit wie folgt: »Der Normenkomplex der »verantworteten Elternschaft« beinhaltet nicht nur die Vorstellungen hinsichtlich des richtigen Weges in die Familiengründung, sondern auch zum »richtigen Verhalten« der Eltern gegenüber ihrem Kind.« Die körperliche Symbiose von Mutter und Kind führt zu einer geschlechtsspezifischen Asymmetrie des körperlichen und psychischen Zuganges zum Kind.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf 1. Die Ehefrau erlebt ihren Übergang zur Mutter unmittelbar aufgrund der eigenen inneren und äußeren Körperveränderungen, z.B. durch vorübergehende Appetitlosigkeit bis hin zum Erbrechen, allmähliche Zunahme des Körpergewichts, Ausbleiben der Menstruation, Veränderungen der äußeren Erscheinung des Körpers. 2. Demgegenüber erlebt der Ehemann seinen Übergang zum Vater nicht durch unmittelbare innere und äußere eigene Körperveränderungen, sondern eher indirekt als Beobachter derjenigen seiner Ehefrau, an deren Zustandekommen er durch gemeinsame Zeugung des Kindes beteiligt war.
Das Intimsystem Ehe verändert sich durch wachsende Rücksichtnahme auf das werdende Kind. Sowohl die vom Ehepaar gemeinsam geteilten Präferenzen des Lebensstils als auch die individuellen Ansprüche der Ehepartner werden kontingent und im Hinblick auf mögliche Risiken für das Kind thematisiert. Rückt der Geburtszeitpunkt näher, werden vielfältige Vorbereitungen und Entscheidungen hinsichtlich der Geburt des Kindes und der personellen Erweiterung des Intimsystems durch das Neugeborene nötig: 1. Es geht um die Einigung über den Namen des Kindes in Kopplung mit der Vermutung über sein Geschlecht. 2. Ferner werden Überlegungen zur zukünftigen Wohnsituation angestellt, die zu weitreichenden Reorganisationen der Wohnung bis hin zum Umzug wegen zu enger Wohnverhältnisse führen können. 3. Darüber hinaus kommt es zur Redefinition der bisherigen Rollen der Ehepartner. • Dabei nimmt vor allem die Einigung im Hinblick auf die Vater- und Mutterrolle und ihre Kopplung mit der primären Leistungsrolle für den Zeitraum der Gründungsphase der Familie eine zentrale Bedeutung ein. • In der Mehrzahl der Fälle entspricht diese Einigung einer neuen Form der geschlechtsspezifischen Rollendifferenzierung. Es dominiert die Komplementarität von berufstätigem Ehemann sowie tagsüber häuslich absentem Vater einerseits und häuslich präsenter Ehefrau und Mutter sowie vom Beschäftigungssystem als Inhaberin einer Leistungsrolle ausgeschlossener Hausfrau andererseits. Schneider u.a. (2014, 24) schreiben dazu: »Das Beste für die eigenen Kinder zu wollen, ist kein deutsches Spezifikum. Doch in Deutschland – zumindest in Westdeutschland – hat die Norm der verantworteten Elternschaft stärkere Konsequenzen als in vielen anderen Ländern in Europa. Das liegt zum einen daran, das Kinder als vergleichsweise schutzbedürftig wahrgenommen werden. Sie müssen beaufsichtigt werden, damit sie sich nicht verletzen und ihnen auch sonst kein Unheil zustößt. Zum anderen liegt es daran, dass Fremdbetreuung eher als Vernachlässigung und somit als Bedrohung des Kindeswohls statt (wie etwa in Skandinavien oder Frankreich) als zusätzliche Entwicklungschance gesehen wird. Die Beaufsichtigung durch die leibliche Mutter wird für die kindliche Entwicklung als Optimum angesehen, da ihr gesellschaftlich die größere Fürsorgebereitschaft und-fähigkeit zugeschrieben wird– quasi als naturgegebene Realität und als geschlechterbezogenes Talent. Daher bedeutet verantwortungsvolle Elternschaft (bzw.
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Mutterschaft) tendenziell eine Erwerbsunterbrechung oder eine deutliche Erwerbseinschränkung für mindestens drei Jahre.« •
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Dieses strukturelle Rearrangement der Rollen des Ehepaares verliert jedoch zunehmend seine traditionelle Selbstverständlichkeit. Es konfligiert nämlich mit der Semantik der Partnerschaft, welche Chancengleichheit bezüglich der Geschlechterrollen vorsieht (vgl. Leupold 1983, 298ff.; Schneider 2014 u.a., 24). Dadurch wird besonders den Ehefrauen die Beschränkung ihrer Entscheidungsalternativen bewusst. Dies ist zum einen durch das normalerweise höhere Berufseinkommen des Ehemannes induziert. Zum anderen sowohl durch das zu niedrige Elterngeld als auch das geringe lokale Angebot von Kinderkrippen und sonstigen familienunterstützenden sozialen Netzwerken (vgl. Peuckert 2012, 241ff.). Partnerschaftsorientierte alternative Möglichkeiten des familialen Rollenarrangements, welche die Ehefrau nicht zur vorübergehenden Aufgabe der Berufsrolle zwingen, haben sich zwar noch nicht mehrheitlich durchgesetzt, werden aber durch die gesellschaftliche Akzeptanz der egalitären Rollendifferenzierung zunehmend wahrscheinlicher. So lassen sich vermehrt Indikatoren für eine partnerschaftlich orientierte Redefinition der Elternrolle beobachten. Nicht mehr nur die zukünftige Mutter, sondern das Ehepaar bereitet sich gemeinsam durch Informationen und Aneignung von Kompetenzen und Fertigkeiten auf seine neue Rollen als werdende Mutter und Vater vor. Es nimmt zusammen an Vorbereitungskursen wie »Eltern erwarten ihr erstes Kind« teil, kauft Bücher zur Kindererziehung, holt sich Rat bei Freunden und Verwandten, die bereits Eltern sind, informiert sich über unterschiedliche Geburtsmethoden und ihre Risiken, besucht diverse Krankenhäuser vor Ort oder in der Region und trifft gemeinsam die Entscheidung, in welchem Krankenhaus das Kind geboren werden soll, wobei die Gegenwart des Ehemannes bei der Geburt inzwischen weitestgehend selbstverständlich geworden ist.
Fazit: Der Anfang der Kindheit beginnt nicht erst mit der Geburt, sondern setzt spätestens mit dem Bekanntwerden der Schwangerschaft ein. Die pränatale Phase führt mithin bereits als Vorbereitungsphase zum Familiensystem zur Steigerung der Eigenkomplexität des Intimsystems Ehe, indem dieses sich auf das im Mutterleib heranwachsende Kind gemäß des Leitbildes verantworteter Elternschaft strukturell einzustellen beginnt. Im Gegensatz zur mit der Geburt einsetzenden Gründungsphase der Familie ist dieses jedoch in der Vorbereitungsphase noch nicht eindeutiger Adressat der Intimkommunikation mit einem individuell wahrnehmbaren Körper. Zur Umstellung auf die umfassenden systeminternen und systemexternen Konsequenzen des Ehesystems auf das Familiensystem mit den entsprechenden Folgen für das Rollenarrangement des Ehepaares kommt es deshalb erst mit der Gründungsphase der Familie. Zugleich wurde implizit deutlich, dass schon in der Vorbereitungsphase des Ehepaares auf das Familiensystem das Intimsystem Ehe in vielfältiger Weise auf das jeweilige lokale Gesamtsystem mit seinen je spezifischen nahräumigen Zugangsmöglichkeiten zu den Organisationen der Funktionssysteme angewiesen ist. Dass diesbezüglich noch
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Nachholbedarf besteht, wurde ebenso registriert wie die Tatsache, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter semantisch und sozialstrukturell zunimmt.
8.2.2.2 Die Gründungsphase der Familie und ihre Implikationen für die familiale Kindheit Mit der Geburt des ersten Kindes konstituiert sich zugleich die moderne Kernfamilie als Kleinfamilie. Deren funktionssystemspezifische Besonderheit besteht u.a. darin, dass durch die Geburt des Kindes zur Generationsgleichheit des erwachsenen Ehepaares die generationsspezifische Altersdifferenz alt/jung in Form der Eltern/Kind-Differenz hinzukommt. Diese konstituiert sich auf der einen Seite der Form Familie als biologische Elternschaft durch die bisexuelle Zeugung des Neugeborenen qua erwachsenem Paar und zugleich als soziale Elternschaft durch die kommunikative Übernahme der Verantwortung für das Neugeborene im Rahmen des Familiensystems. Das Neugeborene als andere Seite der Form Familie ist mithin sowohl biologisch durch das Filiationsprinzip (=Abstammungsprinzip) als auch sozial (bzw. rechtlich) durch die inklusive kommunikative Adressstelle an seine Eltern als Tochter oder Sohn gebunden. Dies wird u.a. durch die Geburtsurkunde und das Stammbuch als auch den Familiennamen dokumentiert. Als außerhalb des Mutterleibes körperlich wahrnehmbarer Mensch wird es als Person mit Eigennamen adressiert und hinsichtlich seiner individuellen organisch-psychischen Bedürfnisse und Ansprüche als höchstrelevantes Mitglied der Familienkommunikation ernst genommen. Das Ehesystem, das als Dyade die zweistellige Partnerkommunikation bestimmte, wird durch die Geburt des Kindes zum Familiensystem mit der dreistelligen Familienkommunikation in Form der Triade Vater-Mutter-Kind. Das Funktionssystem Familie konstituiert und reproduziert sich somit auf der Basis einer Intimkommunikation, die drei Individuen als Vollpersonen und Adressstellen inkludiert. Deren Indifferenzzone ist wegen der höchstpersönlichen reziproken Relevanz ihres Erlebens und Handelns sehr gering. Familiale Kommunikation indiziert dementsprechend eine Zumutung, deren Unwahrscheinlichkeit qua Medium der Liebe in Wahrscheinlichkeit transformiert und durch den Code geliebt/ungeliebt formal codiert wird. Dabei handelt es sich um einen Präferenzcode, dessen Positivwert geliebt den Anschluss der Familienkommunikation garantiert, während der Negativwert ungeliebt deren Kontingenz reflektiert. Wir kommen darauf gleich noch ausführlicher zurück. Die Familienkommunikation operiert solange problemlos, solange das Handeln der Familienmitglieder als Ausdruck des Geliebtwerdens erlebt wird. Dies geschieht hauptsächlich dadurch, dass sich die Familienmitglieder daraufhin beobachten, wie auf ihr Erleben in der Familienkommunikation durch Handeln Bezug genommen wird. Nimmt der Ehemann bei seiner Berufsarbeit Rücksicht auf die Familienzeit. Denkt die Ehefrau daran, dass er Schweinefleisch nicht gerne ist, wenn sie das Essen zubereitet. Bringt der Ehemann das Kind ins Bett, wenn er wahrnimmt, dass seine Frau eine zeitliche Entlastung benötigt etc. Es ist diese Sequenz von mehr oder weniger starken Liebesbeweisen, welche die Operationen der Familienkommunikation anschlussfähig macht. Sie sind die Programme des familialen Liebescodes. Ihre Fragilität wird dann deutlich, wenn der individuelle Bezug des Handelns auf das Erleben der anderen Familienmitglieder ambig wird, an ih-
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ren Vorlieben vorbeigeht oder unterbleibt. Das Verbindende (Symbolon) der Liebe kann dann in Frage gestellt werden und ins Trennende (Diabolon) umschlagen. Dabei kommt es entscheidend darauf an, ob und wie es dem Ehepaar als Elternpaar gelingt, die enttäuschten Erwartungen so zu kommunizieren, dass aus temporären Konfliktepisoden keine Beziehungskonflikte resultieren, die zu Machtkonflikten mutieren (vgl. Messmer 2003; Hohm 2016, 68ff.), an deren Ende Hass statt Liebe bzw. die kommunikative Beendigung des Familiensystems statt seine Fortsetzung steht (vgl. Peuckert 2012, 244ff. zur Steigerung der Konflikthäufigkeit bei jungen Eltern). Beim genaueren Hinsehen, reproduziert sich das Familiensystem kommunikativ als paradoxe Einheit der Differenz von Gesamtsystem Eltern-Kind und dreier Subsysteme Ehepaar, Vater-Kind, Mutter-Kind. Bezogen auf die Familie als Gesamtsystem wird, so unsere These, der paarbezogene Code Liebe/Nichtliebe des Ehesystems (vgl. zur Codierung des romantischen Liebespaars Luhmann 1982a; Tyrell 1987) zum Sekundärcode kindzentrierter Elternliebe und elternzentrierter Kindesliebe. Luhmann (2002, 117) schreibt dazu: »Mit der Geburt eines Kindes ist zunächst eine umfassende Verantwortung der Eltern (oder etwaiger Ersatzpersonen) gegeben […] Das schließt die notwendigen Versorgungsleistungen, aber auch liebende Zuwendung ein.« Ähnlich formulieren mit Rekurs auf das Leitbild der »verantworteten Elternschaft« Schneider u.a. (2014, 23): »Das Leitbild einer guten Eltern-Kind-Beziehung sieht – genau wie das der Partnerschaft – Offenheit und Aufrichtigkeit und (wenn auch in einem anderen Sinne) Liebe vor.« Hünersdorf 2014 (147ff.) hingegen fokussiert sich aus systemtheoretischer Sicht auf die zunehmende Bedeutung der sozialen Elternschaft im Kontext neuer Formen des Zusammenlebens, deren Stabilitätsgarantie als verantwortete Elternschaft offenbar nicht mehr auf der Liebe wie bei den leiblichen Eltern basiert. Das Kind wird somit bezogen auf den Code Liebe/Nichtliebe zum eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten. Eingeschlossen wird es in das Intimsystem Familie durch den Liebescode der kindzentrierten Elternliebe. Ausgeschlossen wird es aus dem Ehesystem durch die an Sexualität gebundene paarbezogene Liebe. Das Inzesttabu indiziert die Grenzziehung des Ehesystems zum Familiensystem durch Sexualität. Sie darf nur im Ehesystem als Liebesbeweis fungieren. Zugleich verweist das Inzesttabu mit Beginn des Familiensystems und der Kindheit auf die zukünftige Selbstauflösung des Familiensystems, indem das Kind als zukünftiger Jugendlicher und Erwachsener seine Sexualpartner außerhalb des Familiensystems rekrutieren muss. Das schließt körperbetonte Kommunikation als Beweis für Liebe, aber auch als Indiz vorübergehenden Liebesentzuges bei ihrer Unterlassung im Familiensystem nicht aus. So können sich die Eltern in Gegenwart des Kindes streicheln, küssen, umarmen. Und die Elternliebe kommt in vielfältigen Liebkosungen bis hin zum Stillen des Kin-
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des durch die Mutter zum Ausdruck. Begleitet werden diese körpergebundenen Bekundungen der wechselseitigen Zuneigung von liebevollen sprachlichen Adressierungen der Personen, die teilweise nur systemintern verwendet werden. Possessivpronomen wie »Mein Schatz«, Diminutivformen oder Kosenamen wie »Mein Schätzchen« oder »Tosserle« statt Tosca machen die Exklusivität und Besonderheit des emotionalen Bezuges in der Familie deutlich. Das Spezifische familialer Kommunikation manifestiert sich mithin anhand der emotionalen Höchstrelevanz, welche den Familienpersonen wechselseitig zukommt. Das Kind wird im Medium elterlicher Liebe zur einzigartigen Person. Es ist ihr »eigenes« Kind im Unterschied zu allen anderen Kindern. Deutlich wird dies u.a. an den mit der Geburt einsetzenden Zuschreibungen und Vergleichen mit dem eigenen Äußeren und Verhaltenseigenschaften der Eltern (vgl. Fuchs 1999, 104). Umgekehrt gilt, dass das Kind zunehmend die Eltern als ihre im Unterschied zu den Eltern anderer Kinder wahrnimmt und seine emotionale Bindung an sie im Medium der elternzentrierten Liebe kommunikativ mitteilt. Typisch für die Intimkommunikation der Familie als Gesamtsystem ist jedoch auch, dass das Kleinkind von den Eltern als eine Person wahrgenommen und kommunikativ behandelt wird, die sich von ihnen durch seinen noch kurzen Lebenslauf unterscheidet. Dies hat zur Folge, dass es als eine Person beobachtet wird, deren Erleben und Handeln noch nicht als Resultat ihrer Selbstbeobachtung zugerechnet wird, die sich an der Beobachtung durch andere kontrolliert. M.a.W.: die Eltern beobachten ihr Kind als eine Person, welche die Selektion ihres Erlebens und Handelns noch nicht eigenverantwortlich steuern kann. Eine bedeutende Implikation dieser für die Intimkommunikation des Familiensystems typischen Asymmetrie der Personenwahrnehmung des Kleinkindes durch die Eltern besteht darin, dass sie sich die umfassende Verantwortung für die dynamische Stabilität des Familiensystems nach innen und außen zuschreiben. Obwohl also das familiale Gesamtsystem mindestens drei Adressstellen der Kommunikation im Sinne von Vater, Mutter und Kind als Personen aufweist, werden für seine kommunikative Stabilität bzw. seine Destabilisierung ausschließlich die Eltern und nicht das Kind verantwortlich gemacht. Es kommt gleichsam zur paradoxen Repräsentation des Ganzen durch ein Teilsystem (=Eltern). Ihre Entscheidungen sind es somit, von denen das Kleinkind zunächst konstitutiv als organisch-psychisches System und unfertige Person abhängt. Und ihre Entscheidungen sind es auch, welche die familiale Kommunikation für es zu einem Risiko im Sinne einer Chance oder Gefährdung seiner Entwicklung werden lassen können. Wie ernst diese elterliche Verantwortlichkeit für ihr Kind gesellschaftlich genommen wird, wird u.a. anhand ihrer verfassungsrechtlichen Absicherung durch Art.6 GG sowie des Bundeskinderschutzgesetzes deutlich (vgl. Hünersdorf 2014, 151). Ob die familiale Kommunikation der mit dem Kleinkind notwendig gewordenen elterlichen Verantwortung Tribut zollt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie das Familiensystem die mit der »Entwicklungstatsache Kind« (vgl. Bernfeld 1973, 51) generierten Probleme prozessual und strukturell lösen kann. Begreift man die moderne Kern- und Kleinfamilie als ein Funktionssystem, das im Gegensatz zu fast allen anderen Funktionssystemen (vgl. jedoch Luhmanns [2002, 102ff.] Hinweis auf den interaktiven Unterricht als Kern des Erziehungssystems) primär als or-
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ganisiertes Interaktionssystem kommunikativ kontinuiert, dann erfolgt seine Grenzziehung zur Umwelt – wie bei allen anderen Interaktionssystemen – durch die Differenz Anwesenheit/Abwesenheit mit dem Präferenzwert Anwesenheit. Soll und kann diese nicht dem Zufall überlassen werden, muss sie erwartbar sein und organisiert werden. In räumlicher Hinsicht bedeutet dies das Vorhandensein eines konstanten Sozialraumes in Form der Wohnung, innerhalb der sich die familiale Kommunikation reproduziert und die zugleich als lokale Adressstelle des Sozialsystems Familie fungiert. Mit ihr entsteht ein geschützter Binnen- und Nahraum, der die Exklusivität der Privatsphäre indiziert und die Differenz von Innen und Außen der Familie auch räumlich sichtbar macht. Die besondere Schutzzone der Familie als Privatsphäre lässt sich auch daran ablesen, dass die Wohnung durch Art. 13 GG als Grundrecht abgesichert ist. Die Wohnungs- bzw. Haustür wird somit gleichsam zu einem sichtbaren Zeichen der räumlichen Grenzziehung der Familie zur Umwelt, wobei die elterliche Verantwortung für das Kleinkind u.a. in ihrer Schlüsselgewalt zum Ausdruck kommt. Dies erklärt auch die eher anrüchige traditionelle Semantik des Schlüsselkindes, welche auf eine altersspezifisch zu frühe elterliche Zuschreibung der Verantwortung des Kindes durch dessen eigenständigen Zugang zur Wohnung anhand eines eigenen Schlüssels verweist. Typisch für die Differenz von Anwesenheit/Abwesenheit in der Gründungsphase der Familie ist die Unmöglichkeit der kontinuierlichen häuslichen Anwesenheit aller Familienmitglieder bei gleichzeitiger entwicklungsbedingter Abhängigkeit des Kleinkindes von der kontinuierlichen Anwesenheit mindestens eines Elternteils. Der Entscheidung der Eltern hinsichtlich ihrer häuslichen Präsenz und Umweltkontakte ist deshalb sowohl für das Kind als auch für sie selbst von hoher Bedeutung. Trotz der in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Optionen dominiert, wie wir bereits sahen, in der Gründungsphase der Familie nach wie vor ein Entscheidungsmuster, das die Komplementarität von raumzeitlich primärer Verhäuslichung bzw. Familiarisierung der Mutter und raumzeitlich sekundärer Verhäuslichung bzw. Familiarisierung des Vaters vorsieht. Die rollenspezifische Konsequenz dieses geschlechtsspezifischen Entscheidungsmusters lässt sich auch als strukturell enge Kopplung von Mutter- und Hausfrauenrolle der Ehefrau bei gleichzeitiger Entkopplung von ihrer Berufsrolle und loser Kopplung von Vater- und Hausmannrolle des Ehemannes bei gleichzeitiger Kontinuität der Berufsrolle bezeichnen. Für die kommunikative Reproduktion des Familiensystems hat dies zur Folge, dass die raumzeitliche Anwesenheit aller Familienmitglieder in der Wohnung werktags zur Ausnahme wird. Stattdessen dominiert das Subsystem Mutter-Kind mit der strukturellen Kopplung der Mutter- und Hausfrauenrolle, während der Ehemann als Erwerbstätiger und Vater vorwiegend absent ist. Die Struktur der familialen Binnenkommunikation ist somit durch die Orientierung an einer geschlechtsspezifischen Rollendifferenzierung gekennzeichnet, welche die Beziehungs-, Gefühls- und Hausarbeit raumzeitlich primär der Frau als Ehefrau, Mutter und Hausfrau zuweist. Sie ist es, die im Wesentlichen werktags, solange der Ehemann und Vater absent ist, die raumzeitliche Sequenz der durch die Funktionen und Operationen der Beziehungs-, Gefühls- und Hausarbeit bestimmten Ereignisse der Intimkommunikation des Subsystems Mutter-Kind selegiert.
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Dieses reproduziert sich primär im Binnenraum der familialen Wohnung. Dabei konditioniert das Kind die Selektionen der Operationen der Mutter insofern, als sich deren Beobachtung an dessen Schlaf-Wachrhythmus orientiert. Dieser gibt die Termine und temporalen Ereignisse der Intimkommunikation mit den an sie strukturell gekoppelt kindzentrierten Operationen der Mutter vor. Die Redundanz und Varietät von Schlaf- und Wachphasen des Kindes bestimmt die Sequenz der Ereignisse des MutterKind-Subsystems im Binnenraum der Wohnung tagsüber und nachts sowie die Chancen und Restriktionen der Umweltkontakte hinsichtlich der Binnen- und Außenräume der übrigen lokalen Sozialsysteme. Damit nimmt sowohl die räumliche und temporale Komplexität der familieninternen als auch familienexternen Kommunikation zu. Familienintern, weil die raumzeitliche kommunikative Reproduktion des Paares mit ihrer strukturellen Kopplung an die Schlaf-Wachrhythmen der Mutter und des Vaters sich zusätzlich auf das Kind als Adressat der Intimkommunikation mit einem eigenen Schlaf-Wachrhythmus umstellen muss. Familienextern, weil besonders die Mutter, aber auch der Vater und zu bestimmten Zeiten beide Eltern bei der raumzeitlichen Teilnahme an lokalen Systemen die raumzeitliche Beobachtung des Kindes mit beobachten muss bzw. müssen. Die Grundpflege, Ernährung, Erziehung, Betreuung, das Spielen etc. nehmen dabei vorwiegend die Form mütterlicher Dienstleistungen als Beziehungs- bzw. Gefühlsarbeit zunächst im Binnenraum der Wohnung an. Ihre Exklusivität und Besonderheit besteht im Kontext des Subsystems Mutter-Kind darin, dass sie im Medium der kindzentrierten Liebe der Mutter erbracht werden. Sie orientieren sich nur an der individuellen Person des eigenen Kindes. Als Kleinkind ist dieses konstitutiv auf die mütterlichen Dienstleistungen angewiesen, da es seine organisch-psychischen Bedürfnisse als Person entwicklungsbedingt noch nicht durch eigenes Erleben und Handeln selbstverantwortlich steuern kann. Das Mutter-Kind-Subsystem ist dementsprechend durch eine generationsspezifische Asymmetrie der Personen geprägt, die kommunikativ eine besondere Form menschlicher Interpenetration bewirkt (vgl. Luhmann 1981b). Neben der bereits erwähnten durch liebevolle Zuwendung geprägten Sprache spielt dabei vor allem die körperbetonte Form der Kommunikation eine zentrale Rolle. Dies ist deshalb der Fall, weil das Kleinkind erst im zweiten Lebensalter allmählich die Sprachfähigkeit erwirbt. Bis dahin adressiert es seine Informationen und Mitteilungen primär durch das Medium des eigenen Körpers an die Mutter. Intimität drückt sich folglich auch durch die besondere körperliche Nähe der Mutter zum Kind aus. Mittels taktiler Kommunikation, Face-to-Face-Kommunikation und Geruchskommunikation versucht sich die Mutter den Eigensinn der durch das Kind primär durch leibgebundene Expressionen wie Lächeln, Brabbeln, Weinen, Greifen und später Krabbeln mitgeteilten Bedürfnisse und Ansprüche als organisch-psychisches System zu erschließen. Je nachdem wie die Mutter an diese durch verbale Zustimmung/ Ablehnung, körperliche Zuwendung oder körperlichen Rückzug anschließt, lernt das Kind allmählich, was hinsichtlich seines eigenen Erlebens und Handelns erlaubt/verboten, konstant/variabel, notwendig/nicht notwendig, möglich/unmöglich ist. Inwieweit die damit verbundene Entwicklung des eigenen Kindes als erfolgreich/erfolglos, gelungen/misslungen etc. gilt, hängt dann vor allem vom mütterlichen/väterli-
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chen bzw. elterlichen Erziehungsprogramm ab, anhand dessen die Entwicklung des Kindes beobachtet und bewertet wird. Das elterliche Erziehungsprogramm weist folgende Besonderheiten auf: Es ist nur auf das eigene Kind bezogen, was u.a. erklärt, dass sich die Mutter bzw. Eltern hinsichtlich der Erziehung temporär anwesender anderer Kinder eine gewisse Zurückhaltung auferlegt bzw. auferlegen. Es unterscheidet sich trotz Berücksichtigung systemexternen Expertenwissens von einem Erziehungscurriculum durch ein geringeres Maß an systematisch reflektierten und sequenziell aufeinander aufbauenden kognitiven und normativen Wissensbeständen. Dies schließt temporäre Diskussionen der Eltern untereinander über Erziehungsfragen ebensowenig aus wie den jeweiligen gegenwärtigen Vergleich mit und Anschluss an die bisherige Entwicklung des Kindes im Kontext des Mutter-Kind-Subsystems und familialen Gesamtsystems. Das Erziehungsprogramm wird aufgrund der geschlechtsspezifischen Rollendifferenzierung der Eltern primär im Subsystem Mutter-Kind angewandt. •
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Das kann aufgrund der längeren Absenz des Vaters zu Informationsdefiziten hinsichtlich der Entwicklungsschritte des Kindes und ihrer Bewertung führen. Sollen dadurch induzierte widersprüchliche Erziehungserwartungen an das Kind und die tendenzielle kommunikative Exklusion und wechselseitige Entfremdung von Vater und Kind vermieden werden, muss der Vater durch die Mutter über die wichtigsten Tagesereignisse informiert werden. Darüber hinaus trägt er zur Erziehung des Kindes auch dadurch bei, dass ihn dieses während seiner häuslichen Anwesenheit als Vater erlebt, der sich von der Mutter bei aller Konsistenz des Erziehungsprogrammes durch die geschlechtsspezifische Selektion seines Handelns und Erlebens unterscheidet.
Es operiert im Medium kindzentrierter Liebe. •
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Mit deren besonderer kommunikativen Verdichtung, die sich durch die raumzeitlich starke Präsenz, körperliche Nähe und eine sehr niedrige Indifferenzzone im MutterKind-Subsystem manifestiert, wird ein größerer Ausschnitt sowohl von erwünschten als auch unerwünschten persönlichen Eigenarten des Erlebens und Handelns des Kindes wahrgenommen. Das spezifische Risiko des mütterlichen und elterlichen Erziehungsprogrammes hängt dann davon ab, welche impliziten oder expliziten kindzentrierten Erwartungen mit ihm verknüpft sind, und ob und wie die Mutter ihre Wahrnehmungen auf deren Hintergrund familienintern kommuniziert. Das Medium kindzentrierter Liebe kann damit sowohl zur Gefahr als auch zur Chance für das Kind werden. Zur Gefahr, wenn die Mutter Wahrnehmungen unerwünschten Erlebens und Verhaltens ignoriert, um an affektiv positiv besetzten persönlichen Erwartungen an das Kind kontrafaktisch festhalten zu können und damit Lernprozesse des eigenen Kindes blockiert. Zur Gefahr kann es aber auch werden, wenn die Mutter aus dem gleichen Grund vorschnell Wahrnehmungen unerwünschten Erlebens und Handelns sanktioniert und somit dem Kind Lern-
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möglichkeiten durch selbst erlebte Enttäuschungen verbaut. Zugleich sind jedoch auch Chancen mit dem Medium kindzentrierter Liebe in dem Sinne verknüpft, dass die Mutter wahrgenommene unerwünschte Eigenarten des Kindes als seine Idiosynkrasien toleriert und besondere Talente von ihm mit Verve fördert. Das durch kindzentrierte Liebe mediatisierte Erziehungsprogramm kann durch die kommunikative Verdichtung der Intimität sowohl Chancen der Selbstsozialisation des Kindes eröffnen wie sie in der Umwelt nicht möglich sind, als auch spezifische Gefährdungen implizieren, die so nur im Subsystem Mutter-Kind vorkommen. Es ist dementsprechend für die Selbstsozialisation des Kindes, speziell seine geschlechtsspezifische, von Bedeutung, dass es im Subsystem Vater-Kind unterschiedliche kommunikative Erfahrungen macht, wobei auch hier wiederum spezifische Risiken und Chancen auftreten können, wie sie u.a. aus der bereits erwähnten größeren häuslichen Absenz des Vaters resultieren.
Schließlich spielt es für das mütterliche/väterliche bzw. elterliche Erziehungsprogramm eine besondere Rolle, inwieweit das Medium kindzentrierter Liebe mit den anderen Erfolgsmedien Macht, Wissen und Geld kombiniert wird (vgl. den Hinweis von Schneider u.a. 2014, 23 auf das Verhandlungsprinzip anstelle des Befehlsprinzips). •
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Der selektive kommunikative Einsatz dieser Medien durch die Mutter oder den Vater ist vor allem dann notwendig, solange die körperbetonte Kommunikation dominiert und das Kleinkind seine Ansprüche und Bedürfnisse noch nicht im Medium der Sprache mitteilen kann, sondern dazu auf leibgebundene Expressionen angewiesen ist. Der kommunikative Erfolg der mütterlichen, aber auch väterlichen und elterlichen Erziehung im Sinne eines akzeptablen Erlebens und Handelns seitens des Kindes kann somit nicht an seiner verbalen Zustimmung, sondern nur an seinem zustimmenden Körperverhalten und Körpererleben abgelesen werden. Er muss und kann sich deshalb nicht nur auf verbale und nonverbale körperbetonte Kommunikationsformen der kindzentrierten Liebe stützen, sondern muss zusätzlich auf die körpernahen symbiotischen Mechanismen der anderen Erfolgsmedien zurückgreifen. Die Beeinflussung des Kindes erfolgt also auch durch selektiven Zwang, selektive Fremdsteuerung seiner Wahrnehmung und Bedürfnisse, die es mittels direkter Manipulation seines Körpers in die durch die Erziehung erwünschten Bahnen lenken sollen. Die Chancen und Gefährdungen elterlicher Erziehung und die mit ihnen verbundenen Möglichkeiten familialer Selbstsozialisation des Kindes variieren dabei in dem Maße, in dem die Anwendung selektiven Zwanges, selektiver Steuerung seiner Wahrnehmung und Bedürfnisse an kindzentrierte Liebe gekoppelt oder von ihr entkoppelt sind. Die Extremfälle elterlicher Erziehung manifestieren sich dann in Form einer Intimkommunikation, die entweder durch gar keine oder ein sehr geringes Maß oder durch zu viel oder ein Übermaß kindzentrierter Liebe gekennzeichnet ist. Im ersten Fall wird familiale Intimität zum Risiko für das Kind aufgrund der elterlichen Ignoranz seines Eigensinnes, der zum Störfaktor elterlicher Ansprüche wird (vgl. Hohm 2011, 102ff.). Es dominieren Gewaltkommunikation durch willkürliche
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körperliche Bestrafung des Kindes, drastische Reduktion seiner Neugier mittels massiver Einschränkung seiner sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten und extreme Vernachlässigung seiner Konsumbedürfnisse, inklusive der Körperhygiene und der Berücksichtigung seines Schlaf-Wachrhythmus. Im zweiten Fall wird familiale Intimität zum Risiko für das Kind aufgrund der elterlichen Ignoranz eigener Ansprüche, die hinter dem Eigensinn des Kindes zurückzutreten haben. Es dominieren intensive verbale Zuwendung, große Toleranz für kindliche Neugier und hohe Rücksichtnahme auf die kindlichen Konsumbedürfnisse, inklusive der Körperhygiene und seines Schlaf-Wachrhythmus. Zwang oder gar Gewalt sind ein Tabu. Im ersten Fall ist die organisch-psychische Integrität des Kind dadurch bedroht, dass es tendenziell zur unerwünschten Unperson wird, welche die Kontinuität der Ansprüche des Ehepaars durch deren Übernahme der Elternschaft gefährdet. Demgegenüber besteht im zweiten Fall das Risiko für das Kind darin, dass seine Möglichkeiten der Selbststeuerung und seine Entwicklung als eigenverantwortliche Person durch überbetriebene Permissivität und/oder zu große Fürsorge der Eltern, besonders der Mutter, überschätzt werden. Im Unterschied zu den skizzierten Extremfällen ist davon auszugehen, dass sich die Normalfälle der elterlichen Erziehungsprogramme an einer Kombination von kindzentrierter Liebe mit den symbiotischen Mechanismen Zwang, Wahrnehmung und Bedürfnissen orientieren, welche die erwähnten Tendenzen der Inflationierung bzw. Deflationierung der Erfolgsmedien in unterschiedlicher Weise vermeiden (vgl. dazu Luhmann 1997, Bd.1, 383). Die Intimkommunikation wird von kindzentrierter Liebe dominiert, ohne die paarzentrierte Liebe und die elterlichen Ansprüche zu ignorieren. Zwang, die Reduktion sinnlicher Wahrnehmungen des Kindes und die Selektion kindlicher Konsumbedürfnisse, inklusive seiner Körperpflege und der Berücksichtigung des Schlaf-Wachrhtymus, orientieren sich primär an der Vermeidung kindlicher Formen der Selbst- und Fremdgefährdung. Der selektive Rückgriff auf die symbiotischen Mechanismen variiert dabei in Abhängigkeit von den elterlichen Erwartungen an die Entwicklung ihres Kindes zum einen und der sozio-ökonomischen Lebenslage sowie dem Lebensstil der jeweiligen Familie zum anderen. Das Kleinkind sozialisiert sich somit selbst, indem es das im Medium der Liebe kommunizierte – besonders das durch die Mutter im Rahmen von Gefühls-und Beziehungsarbeit selegierte – elterliche Erziehungsprogramm zur Entwicklung und Formung der eigenen Person nutzt. Sein Erfolg/Misserfolg variiert dann, je nachdem wie, in welchem Ausmaß und bei welchen Ereignissen die Mutter an die zunächst körperbetonten und später verbalisierten Ansprüche des Kindes zusätzlich durch Anwendung/Verzicht von Zwang und Gewalt, Reduktion/Erweiterung sinnlicher Wahrnehmung, Befriedigung/Nichtbefriedigung von Bedürfnissen kommunikativ anschließt.
Das elterliche Erziehungsprogramm wird vor allem im Kontext kindzentrierter mütterlicher Dienstleistungen mitkommuniziert, deren Tätigkeitsinhalte das Kind zunächst entwicklungsbedingt noch nicht selbst durchführen kann, zu deren raum-zeitlichen Vollzug und partieller Selbstübernahme es jedoch sukzessive durch Selbstsozialisation erzogen werden soll. Diese bezieht sich besonders auf die Formung des eigenen Körpers
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als Medium der Fortbewegung, des Essens, Trinkens, Sitzens, Ausscheidens, Schlafens etc. durch Disziplinierung, Zivilisierung und Kontrolle. Dabei wächst die Eigenständigkeit des Kleinkindes in dem Maße, in dem es die körperbezogene Fremdsteuerung und -kontrolle durch die Eltern, besonders der Mutter, in selektive Eigensteuerung und -kontrolle des Körpers transformieren kann. Diese manifestiert sich einerseits in einer wachsenden Unabhängigkeit von bestimmten unmittelbar körperbezogenen mütterlichen Dienstleistungen der Grundpflege wie Windeln, Stillen, Unterstützen beim Trinken, Essen und der Fortbewegung durch Tragen, auf dem Schoß sitzen und Halten. So kann das Kleinkind am Ende der Kleinkindphase – in der Regel im 3. Lebensjahr – seine Ausscheidung kontrollieren, auf einem eigenen Kinderstuhl sitzend weitestgehend selbständig essen und trinken und sich die Wohnung durch Eigenmobilität laufend erobern. •
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Und sie äußert sich andererseits in der allmählichen Handhabung bestimmter Kulturtechniken, z.B. von Essbesteck und Gläsern, die jedoch auf die operativen Möglichkeiten des Kindes in Form von Kindertellern, Kinderbesteck und Kindergläsern zugeschnitten sind. Gleichzeitig ermöglicht die zunehmende Sprachfähigkeit des Kleinkindes im Zusammenspiel mit seiner wachsenden Selbststeuerung des Körpererlebens und Körperhandelns eine Durchführung mütterlicher Dienstleistungen, welche das mit ihr verbundene Entziehungsprogramm sukzessive von körperbetonter Kommunikation auf oral gebundene Kommunikation umzustellen erlaubt. Damit kommt es zum einen zu einer neuen Ausbalancierung von Körpernähe und -distanz der Mutter und des Kindes in Richtung einer größeren Körperdistanz. Zum anderen steigert sich die Komplexität der Intimkommunikation, in dem das Kind seine Bedürfnisse, Ansprüche und Fantasien nicht mehr nur im Medium des eigenen Körpers, sondern vor allem auch im Medium der Sprache kommuniziert. Die damit einhergehende Verdoppelung der Realität in eine wirkliche und sprachliche Realität erzeugt dementsprechend einen sprachlichen Eigensinn, der es dem Kind zunehmend ermöglicht, durch Mitteilungen seine Mutter darüber verbal zu informieren, wie es ihre Dienstleistungen und das mit ihnen verknüpfte Erziehungsprogramm erlebt. Sofern es sich dabei auch verstärkt der in die Sprache eingebauten Möglichkeiten der Negation (vgl. Luhmann, 1997b, Bd.1, 221ff.) und des Nachfragens des ihm von der Mutter zugemuteten Handelns und Erlebens bedient, wächst einerseits das in die Intimkommunikation eingebaute Konfliktpotential (vgl. Luhmann 1984, 488ff.) und andererseits die Notwendigkeit kindzentrierter Erklärungen, Deutungen und Ermahnungen seitens der Mutter. Die angesprochene Selbststeuerung des Körpererlebens und Körperhandelns des Kindes durch Selbstsozialisation erfolgt nicht mehr allein durch die operative Beeinflussung des kindlichen Körpers, sondern wird in wachsendem Maße durch das Medium der oralen Sprache geformt. Dabei gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass das Kind die komplexen Sinnmöglichkeiten des Mediums oraler Sprache noch nicht voll ausschöpfen kann. So ist für es die angemessene Differenz von personaler Selbst- und Fremdattribution sprachlich noch inkommunikabel. Sich selbst thematisiert es in einer Form, als würde es über einen Dritten reden, d.h. durch seinen Vornamen, z.B. »Tosca« anstelle von »Ich«.
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Und ihr kommunikatives Gegenüber adressiert es ohne Berücksichtigung des Grades von Nähe und Distanz entweder mit dem Vornamen oder mit »Du«. Zudem benutzt es eine konkretistische und gegenwartsbezogene Sprache, die sich auf die aktuelle Nahwelt oder Unmittelbarkeit seiner organisch-psychischen Bedürfnisse bezieht. Schließlich beherrscht es noch nicht die Differenz von direkter und indirekter Kommunikation mit ihren Möglichkeiten der Ironie, der Distanzierung und Anspielung. Da das Kind die Differenz wirkliche/sprachliche Realität kommunikativ noch nicht hinreichend nutzen kann, erleichtert das Medium Sprache nicht nur die im MutterKind-Subsystem ablaufende Intimkommunikation, sondern erschwert das an der Differenz von Mitteilung und Information orientierte Verstehen des Kindes und die Akzeptanz des kommunizierten Sinnes seitens der Mutter. So kann das Kind mehr sagen als es meint, weil ihm die Konnotationen seines sprachlich aktuell kommunizierten Sinnes nicht bewusst sind; kann es seine Wahrnehmungen der äußeren und inneren organisch-psychischen Realität ohne Aufschub und Rücksichtnahme auf die Erwartungen und Wahrnehmungen der Mutter kommunizieren, über sich und die reale Umwelt Eigenschaften, Bewertungen und Fähigkeiten mitteilen, die offen lassen, ob sie fiktiv oder real sind etc. Der Mutter wird somit die Rolle der Beobachterin zweiter Ordnung zugemutet (vgl. dazu Luhmann 1995i, 103ff.), die ihr Verstehen des Kindes dadurch zu steigern versucht, indem sie beobachtet, wie ihr Kind beobachtet. Je nachdem, welcher Unterscheidungen sie sich dabei bedient und an welche Seite der Unterscheidungen sie anschließt, wird die Anschlussoperation der Kommunikation unterschiedlich ausfallen. So kann sie den vom Kind nicht gemeinten Sinn durch eine Erklärung oder ein Lachen beantworten, dem Kind den Aufschub seiner angemeldeten Ansprüche signalisieren oder es durch Ermahnungen zu disziplinieren versuchen, sich auf die Fantasien seines Kindes einlassen oder diese als irreal korrigieren. Hinzu kommt, dass das Kind auch seine Mutter konditioniert, andere würden sagen erzieht, indem es sie zur Selektion von Worten und Sprachformen zwingt, die das Kind verstehen kann. Dies heißt nicht, dass die Mutter die Sprache des Kindes kopieren muss. Sie muss jedoch mit ihrem Kind anders als mit ihrem Ehemann sprechen, indem sie bewusst auf Sprachformen – z.B. abstrakte kognitive und normative Argumentationsformen –, verzichtet, die sie ansonsten durchaus verwenden könnte. Die kommunikative Anstrengung der Mutter besteht gewissermaßen darin, dass sie mit Understatement kommunizieren muss, soll sie verstanden werden. M.a.W.: die unwahrscheinliche Zumutung an die Mutter besteht darin, bewusst under Level zu kommunizieren, man könnte auch sagen, bewusst zu regredieren. Die damit erreichte Resymmetrisierung der Kommunikationsbedingungen darf sich jedoch nur auf die Form der Mitteilung und nicht auf die Information beziehen, soll sie nicht mit einem Verzicht auf Erziehung einhergehen. Denn diese bedeutet Veränderung der Person des Kindes und das heißt immer auch die Notwendigkeit des Lernens durch Informationen, die das Kind als Voraussetzung für neues Erleben und Handeln verstehen können muss (vgl. Luhmann 2002, 54ff.).
Sind die kindzentrierten mütterlichen Dienstleistungen direkt an das elterliche Erziehungsprogramm im Rahmen der Intimkommunikation gekoppelt, gilt dies nicht für die-
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
jenigen Tätigkeiten, die – wie Waschen, Bügeln, Kochen, Bettenmachen, Staubsaugen, Putzen, Geschirrspülen, Hin-, Auf-, Ab- und Einräumen, Design etc. – der Hausarbeit zugerechnet werden. Diese bezieht sich auf diejenigen Operationen, die der Reproduktion, Instandhaltung und Ästhetisierung der Wohnung und seines Inventars, des Haushaltes als sozio-technischem System und der Pflege des Outfits sowie der Vor- und Zubereitung des Essens der Familienmitglieder dienen. •
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Diese Operationen können im Unterschied zu den kindzentrierten mütterlichen Dienstleistungen von einer einzelnen Person allein ohne Anwesenheit Dritter durchgeführt werden. Sie setzen nämlich keine Personen als unmittelbare Adressaten der Durchführung voraus, sondern beziehen sich auf Gegenstände oder Rohstoffe, mit denen oder an denen sie vollzogen werden. Hausarbeit ähnelt am ehesten Habermas’ Typus instrumentellen Handelns (1981, 384–85) als einer Sequenz von Operationen, die normalerweise allein durchgeführt wird. Es überrascht mithin nicht, dass sich sehr oft der- oder diejenige, welche sie routinemäßig vollzieht, vor allem durch akustische Verbreitungsmedien wie Radio indirekten sozialen Anschluss durch Kommunikation verschafft, um die Routine und Einsamkeit des Vollzugs ein Stück zu kompensieren. Ein Phänomen, das man auch bei Handwerkern und Büroangestellten beobachten kann. Gleichwohl lässt sich selbst für die Hausarbeit ein indirekter Adressat der Kommunikation in der Weise unterstellen, dass ihre Resultate auf die spätere Wahrnehmung und ihre Kommunikation durch die übrigen Familienmitglieder oder, bei Besuch, die Gäste zugeschnitten sind. Da in der Gründungsphase der Familie normalerweise die Mutter als Hausfrau die Hausarbeit vollzieht, hat sie zudem in ihrem Kind einen besonderen Beobachter. Dieses hält sich nämlich im Wachzustand normalerweise in den Räumen der Wohnung auf, in denen die Mutter gerade die Hausarbeit durchführt, wenn es nicht im Kinderzimmer schläft. Im Unterschied zur Beziehungs- und Gefühlsarbeit bezieht sich die Hausarbeit nicht auf die unmittelbaren Bedürfnisse und Ansprüche des organisch-psychischen Systems des Kindes. Da zudem ein operativer Eigenvollzug von ihm altersbedingt noch nicht erwartet wird, ist die Intimkommunikation des Mutter-Kind-Subsystems während der Hausarbeit primär dadurch gekennzeichnet, dass sie die räumliche Positionierung ihres Kindes und sein Verhalten anhand der Differenz Risiko/Gefahr beobachtet (vgl. Luhmann 1991, 30–31). Im Kern geht es darum, zu vermeiden, dass das Kind während des Vollzuges der Hausarbeit, sich oder die Mutter durch unkontrollierte Positionierungen seines Körpers, erratische Bewegungen der Körperextremitäten oder unerwartete Veränderungen seiner Raumstelle schädigt.
Generalisiert man die anhand der Hausarbeit gewonnenen Einsichten, dann lässt sich die mütterliche Beobachtung des kindlichen Raumerlebens und seiner Raumaneignung – aber ebenfalls die des Vaters – im Binnenraum der Wohnung auch als Form der Risikokommunikation beschreiben. Diese resultiert daraus, wie die Mutter ihr Kind beobachtet, und welche kommunikative Konsequenzen sie daraus für ihr Erziehungsprogramm ableitet.
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So beobachtet sie, dass ihr Kind erstens die wahrnehmbaren Objekte der Wohnung kognitiv noch nicht anhand bestimmter Wahrnehmungsschemata wie schön/hässlich, sauber/schmutzig, heiß/kalt, essbar/ungenießbar, belebt/unbelebt, sichtbar/unsichtbar etc. unterscheiden kann; dass es zweitens die Objekte noch nicht manuell angemessen verwenden und sich noch nicht an der Binnendifferenzierung der Wohnung eigenes Kinderzimmer/übrige Zimmer orientieren kann, und dass es seinen Körper, seine Bewegungen und Veränderungen im Binnenraum der Wohnung noch nicht selbständig koordinieren kann. Der Binnenraum der Wohnung mit seinen Objekten, ihr Erleben durch das Kind und der operative Umgang mit ihnen sowie der selbstreferentielle Körperbezug des Kindes werden somit von der beobachtenden Mutter zum Auslöser von Risikokommunikation, da sie im Unterschied zum Kind anhand der Differenz von Risiko/Gefahr beobachtet. Dieses kann sich selbst, aber auch andere durch die Selektion seines Raumerlebens und Raumhandelns schädigen, indem es die Unterscheidungen der erwähnten Wahrnehmungsschemata noch nicht kognitiv beherrscht und sich deshalb gefährlich verhält bzw. verhalten kann. Die Präsenz des Kleinkindes zwingt deshalb die Eltern, besonders die Mutter, aus Sorge und Verantwortung für ihr geliebtes Kind zur Risikovermeidung durch Prävention in Form kindzentrierter Sicherheitsvorkehrungen und Maßnahmen der räumlichen Reorganisationen der Wohnung. Alle potenziellen Gefahrenherde werden entschärft: die Steckdosen mit Kindersicherungen versehen, das Bett durch ein Gitter abgesichert, Medikamente, Putzmittel und sonstige chemische Substanzen aus der Reichweite des Kleinkindes entfernt, Balkone abgesichert, ein spezieller Kinderstuhl zum Essen bereitgestellt, Spielsachen mit einer bestimmten Größe angeschafft etc. Zusätzlich ist eine nahezu omnipräsente Anwesenheit eines Elternteils, in aller Regel der Mutter, erforderlich, die gleichsam als soziale Kontrollinstanz die riskanten Versuche beginnender körpergebundener Eigenmobilität und Raumwahrnehmung des Kleinkindes überwacht. Es überrascht dementsprechend nicht, dass der elterliche, besonders der mütterliche Wahrnehmungsstil, vor allem durch bewusste Aufmerksamkeit und Wachsamkeit hinsichtlich des jeweiligen Aufenthaltes und der Bewegungen des Kleinkindes geprägt ist. Hinzu kommt eine spezifische Warnkommunikation als Teil des Erziehungsprogrammes, die das Kind durch Sprachformen wie »pass auf«, »das ist gefährlich«, »das tut weh«, »das kann man nicht essen« etc. auf die Gefahren seines Raumerlebens und seiner Raumeignung hinweisen sollen. Für das Erleben und Handeln des Kleinkindes impliziert dies, dass es sich seine ersten wiederholten und einprägsamen Raumerfahrungen vor allem in der Privatsphäre der Wohnung aneignet. In dieser verweist das Kinderzimmer auf eine Sekundärdifferenzierung der Verhäuslichung in Form einer nochmaligen Unterscheidung von Drinnen und Draußen. Mit ihm wird eine potenzielle räumliche Grenze zum übrigen Binnenraum der Wohnung gezogen und damit zugleich die Möglichkeit des individuellen Rückzuges gegenüber der elterlichen Präsenz. Die durch das Kinderzimmer indizierte räumliche Grenze ist deshalb als potenziell zu bezeichnen, weil das Kleinkind dieses noch nicht als eigenständigen, von den anderen Räumen der Wohnung abgegrenzten Individualraum erlebt und gestaltet, sondern sich im Wachzustand
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normalerweise dort aufhält, wo gerade die Eltern sind, d.h. tagsüber vor allem die Mutter ist. Reduziert man die Risikokommunikation des Familiensystems nicht nur auf die Selbstund Fremdgefährdungen, die generell vom Kleinkind als unfertiger Person ausgehen, sondern bezieht sie zusätzlich auf die Eltern, dann lässt sich generell vom Familiensystem als riskantem Sozialsystem sprechen. •
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Riskant ist es in seiner Gründungsphase zum einen deshalb, weil es im Gegensatz zum Verzicht auf Kinder auf die einzigartige Chance des Ehepaares verweist, durch die Entscheidung für ein eigenes Kind an der Koevolution von Gesellschaft und Mensch qua Übernahme elterlicher Verantwortung teilzunehmen. Zum anderen ist das Familiensystem in seiner Gründungsphase jedoch auch deshalb riskant, weil es dem Ehepaar gleichzeitig als Eltern Entscheidungen im Hinblick auf ihr Kind zumutet, von denen sie nicht wissen können, ob sie seiner Entwicklung zuträglich oder abträglich sind und die zudem immer wieder mit den eigenen Ansprüchen an die familieninterne und -externe Rollendifferenzierung besonders als Ehefrau/Ehemann und Hausfrau sowie Mutter einerseits und Erwerbstätiger und Vater anderseits abgestimmt werden müssen.
Diese geschlechtsspezifische Rollendifferenzierung des Ehepaares verweist auf ein weiteres Risiko der Familie in ihrer Gründungsphase, das mit seiner strukturellen Kopplung mit dem Wirtschaftssystem in Form des Haushaltes verknüpft ist. •
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Zum einen ist nämlich das der Familie in Form des Haushaltseinkommens zur Verfügung stehende Geldmedium im Vergleich zum Intimsystem Ehe normalerweise geringer, da das monatliche Gehalt oder der monatliche Lohn der Ehefrau entfällt. Der Ehemann wird zum Alleinverdiener und die Transferzahlungen des Wohlfahrtsstaates können in den meisten Fällen den Verlust des Haushaltseinkommens durch Elterngeld und Kindergeld nicht kompensieren. Zum anderen steigen bei gleichzeitiger Erweiterung des Personals durch das Kind die Kosten durch dessen zusätzlichen Bedarf. Sollen Probleme der Überschuldung der Familie durch Zahlungsunfähigkeit mit entsprechenden Folgen für die Lebenslage und die Lebenskarriere des Kindes vermieden werden, müssen sich die Ehepartner auf die veränderte Haushaltslage einstellen. Der Transformation des Ehebudgets in das Familienbudget müssen sie ebenso Tribut zollen wie dem um die Bedürfnisse und Ansprüche des Kindes erweiterten Programmbedarf an Konsumgütern und Dienstleistungen. Es kommt somit zu Entscheidungen der Ehepartner, die eine Revision des bisherigen Budgets vorsehen. Sie mündet normalerweise in eine Budgetaufteilung in konstante Kosten und gelegentliche Investitionskosten einerseits und mehr oder weniger variable Kosten andererseits. Erstere sind auf den dauerhaften und dynamischen Bestand der Familie als sozial-räumliches und sozio-technisches System, letztere auf die individuellen Bedürfnisse und Ansprüche der Familienmitglieder zugeschnitten. Zu jenen zählen die Aufrechterhaltung der Wohnung, die Erweiterung des Wohn-
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komforts, die Anschaffung neuer Haushaltsgeräte, neuer Verbreitungsmedien und die Ermöglichung der Mobilität (z.B. Miete, Autoversicherungen, Anschaffung und Abzahlung langlebiger Konsumgüter wie Möbel, Auto, Haushaltsgeräte, Computer etc.) und die wiederkehrenden kurzlebigen Konsumgüter des täglichen Lebensbedarfs aller Familienmitglieder (Lebensmittel, Hygieneartikel, Zusatzmittel für Haushaltsgeräte). Die individuellen Bedarfe und Ansprüche der Familienmitglieder hingegen reichen vom Outfit über besondere Vorlieben des Essen und Trinkens bis hin zu Hobbys. Da sich das Sozialsystem Familie nicht nur im Medium der Liebe als Intimkommunikation rekursiv reproduziert, sondern auch den Bestand der Wohnung, des Haushaltes und die Bedürfnisse und Ansprüche seiner Personen als organisch-psychische Systeme mittels des Geldmediums regenerieren muss, tragen die Ehepartner ab der Gründungsphase der Familie zusätzlich die Verantwortung für die sozio-ökonomische Lebenslage ihres Kindes. Dessen Lebenslauf und die Selektivität seiner Lebenskarriere ist mithin auch davon abhängig, wie die Eltern das verknappte Familienbudget mit ihren eigenen Bedarfen und denen des Kindes abstimmen. Trägt der Ehemann durch außerfamiliale Erwerbsarbeit vor allem die Verantwortung für das Haushaltseinkommen, ist es besonders die Ehefrau, die während der Woche und tagsüber die Verantwortung für denjenigen Teil des Haushaltsbudgets übernimmt, der auf die wiederkehrenden kurzlebigen Konsumgüter des täglichen Lebensbedarfs aller Familienmitglieder bezogen ist. Dies erfordert für beide Ehepartner Umweltkontakte. Sie unterscheiden sich jedoch darin, dass für die Ehefrau als Mutter und Hausfrau das Kind – wie wir noch sehen werden – zum ständigen Begleiter wird, wenn sie es nicht durch andere Erwachsene betreuen lassen kann. Mit der angesprochenen Verknappung des Haushaltsbudgets können auch Konflikte zwischen den individuellen Bedarfen und Ansprüchen der Familienmitglieder entstehen. Inwieweit diese latent bleiben oder manifest werden, hängt nicht zuletzt davon ab, in welchem Maße die Ehepartner als Eltern zugunsten ihres Kindes bereit sind, Abstriche von ihren eigenen bisherigen Ansprüchen zu machen und wie die Medien Liebe und Geld aufeinander abgestimmt werden können.
Fasst man die bisherigen Überlegungen zur Kindheit des Kleinkindes zusammen, so dominiert das Sozialsystem Familie im Normalfall seinen Lebenslauf raumzeitlich in der Gründungsphase. 1. Das trifft schon allein deshalb zu, weil das Kleinkind mehr Zeit im Schlafzustand (12–14 Stunden) als im Wachzustand verbringt und ein ungestörtes und geschütztes Schlafen für es am ehesten in der elterlichen Wohnung möglich ist. Diese stellt den zentralen Sozialraum für den Lebenslauf des Kleinkindes dar und verweist somit auf die Verhäuslichung als eines seiner bedeutsamsten Strukturelemente. Die familiale Einbettung formt das Erleben und Handeln des Kleinkindes selektiv im Sinne einer familienbezogenen Lebenskarriere. Diese baut sich vor allem im Kontext des familialen Subsystems Mutter-Kind auf, in dem die Mutter als nahezu omnipräsente und wichtigste Bezugsperson des Kindes fungiert.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf 2. Inwieweit die familienbezogene Lebenskarriere des Kindes als erfolgreiche/erfolglose, gelungene/mißlungene Entwicklung etc. gilt, hängt jedoch nicht nur von der mütterlichen Umsetzung des elterlichen Erziehungsprogramms ab, sondern auch von dessen kontinuierlicher elterlicher Abstimmung und dem entsprechenden Subsystem Vater-Kind. 3. Riskant ist die familienbezogene Lebenskarriere des Kindes nicht nur deshalb, weil es sich bei ihm um einen Menschen handelt, der als organisch-psychisches System und Person entwicklungsbedingt zur selbstreflexiven und selbstverantwortlichen Steuerung seines Erlebens und Handelns noch nicht in der Lage ist. Riskant wird sie auch deshalb, weil sich das Intimsystem Ehe mit dem Kind zur Familie erweitert, dass die Ehepartner zu weitreichenden Redefinitionen ihrer systeminternen und systemexternen Rollen zwingt. 4. Inwieweit die dadurch in Gang gesetzte Dynamik und Steigerung der Eigenkomplexität der Intimkommunikation das Familiensystem in seiner Gründungsphase stabilisiert oder destabilisiert, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. So kommt es darauf an, ob es dem Ehepaar als Eltern gelingt, die paarbezogene Liebe durch die kindzentrierte Liebe zu ergänzen; ob diese an ein Erziehungsprogramm gekoppelt ist, das den individuellen Bedürfnissen und Ansprüchen des Kindes hinreichend Tribut zollt, ohne seine entwicklungsbedingten Grenzen zu ignorieren; ob das verknappte Haushaltsbudget in ein Konsumprogramm transformiert werden kann, das zugleich den Bestand der Wohnung und des Haushaltes der Familie zu sichern erlaubt, ohne die individuellen Bedürfnisse und Ansprüche der Familienmitglieder zu stark zurückzuschneiden, und ob es dem Ehepaar gelingt, das mit der Übernahme der Elternschaft veränderte Rollenarrangement familienintern und -extern raumzeitlich so zu koordinieren, dass die kindzentrierte Liebe nicht mit der paarbezogenen Liebe dauerhaft konfligiert. 5. Trotz der großen Relevanz, die dem Familiensystem für die frühe Kindheit als Lebenslage und die sich im Medium des Lebenslaufes konstituierte Lebenskarriere des Kleinkindes zukommt, wäre es jedoch zu kurz gegriffen, würde man die Lebenslage Kindheit und den Lebenslauf des Kindes ausschließlich auf die Ereignisse reduzieren, welche durch die raumzeitliche Inklusion in das Sozialsystem Familie reproduziert werden. Wäre dies so, wäre die Familie mit einer totalen Institution (vgl. Goffman 1977, 13ff.) gleichzusetzen, was sie allein schon deshalb nicht ist, weil sie im Normalfall auf freiwilliger Inklusion basiert.
Will man ein komplexeres Bild der Lebenslage Kindheit und der sich im Medium des Lebenslaufes formenden Lebenskarriere des Kindes in den Blick bekommen, muss man deshalb zusätzlich diejenigen sozialen Netzwerke und Funktionssysteme berücksichtigen, welche die Lebenslage Kindheit und den Lebenslauf des Kindes jenseits des Sozialsystems Familie als verhäuslichtem Sozialraum im Nahraum der Kommune beeinflussen.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
8.2.3
Soziale Netzwerke: Kleinkinder als betreute Personen und rollenspezifische Adressaten informeller und teilformalisierter Kommunikation vertrauter außerfamilialer Bezugspersonen des Nahraums
Eine besondere Funktion für die Lebenslage und den Lebenslauf der Kleinkinder nehmen die lokalen sozialen Netzwerke ein, wie sie zunächst in Form des Verwandtschaftssystems, von Freunden und guten Bekannten der Eltern einerseits und der Nachbarn andererseits vorliegen. Als soziale Systeme handelt es sich bei diesen um Kleingruppen, die zwischen höchstpersönlicher Kommunikation der Herkunftsfamilie und unpersönlicher Kommunikation der lokalen Funktionssysteme anzusiedeln sind. Sie zeichnen sich durch eine persönliche Vertrautheit und Bekanntheit, eine gemeinsame Systemgeschichte, eine relativ unspezifische Themenwahl und eine personengebundene Exklusivität der Zugehörigkeit aus (vgl. Tyrell 1983, 82ff.). Für die Kleinkinder sind die lokalen sozialen Netzwerke insofern von Relevanz, weil sie Formen des persönlichen Erlebens und Handelns mit Erwachsenen und Jugendlichen des Nahraums ermöglichen, die nicht ausschließlich durch die Eltern bestimmt sind. Je nach Größe des sozialen Netzwerkes der Eltern, der lokalen Nähe seiner Mitglieder und dem Familientyp, können die Personen des sozialen Netzwerkes zu bestimmten Zeiten und für bestimmte Funktionen als Substitut für die Eltern, speziell die Mutter, einspringen. Die Kleinkinder werden auf diese Weise erstmalig mit der temporären Absenz beider Eltern und der Notwendigkeit des Vertrauens in andere erwachsene und jugendliche Personen konfrontiert. Dabei kann es sich um relativ seltene Anlässe – wie einmaliges monatliches oder vierteljährliches Babysitten oder den wöchentlichen Besuch der Großeltern oder sonstiger Verwandter – handeln. Es kann aber auch bereits zu selbstorganisierten Absprachen der Eltern – wie im Falle von Tagesmüttern und Eltern-Kind-Initiativen – kommen, die eine regelmäßige zeitliche Substitution der Eltern durch Mitglieder des lokalen sozialen Netzwerkes vorsehen. Gerade die letztgenannten Formen der Betreuung der Kleinkinder verweisen auf Familientypen, deren Mitglieder eher wohlhabenderen und/oder gebildeter Milieus entstammen, da die regelmäßige Betreuung durch Tagesmütter und Eltern-Kind-Initiativen an eine nicht unbeträchtliche Zahlungsfähigkeit der Eltern gebunden ist. Zudem werden sie der Tendenz nach von Paaren präferiert wird, bei denen die Frauen beruflich ambitionierter sind. Schließlich machen sie deutlich, dass die durch sie betroffenen Kleinkinder zusätzlich zu ihrer eigenen Familie Erfahrungen mit dem Lebensstil und der Intimkommunikation anderer Familie machen, in deren Wohnung und Wohnumfeld sie sich regelmäßig als Tageskinder aufhalten.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
8.2.4
Zur relativen Nachrangigkeit lokaler formaler Organisationen des Erziehungssystems: Kleinkinder als betreute Personen und rollenspezifische Adressaten professioneller Erziehungskommunikation
Spielten und spielen Kinderkrippen und sonstige Tageseinrichtungen in der ehemaligen DDR und den neuen Bundesländern eine besondere Rolle, so gilt und galt dies für die alten Bundesländer lange Zeit nur in einem sehr geringem bis geringen Maße. Dominierte von den 1950er bis Ende der 1970er Jahre das familienpolitische Leitbild der bürgerlichen Familie, d.h. des männlichen Ernährers und der Mutter und Hausfrau, wurde dieses in den 1980er und 1990er Jahren durch das des Dreiphasen-Modells der sukzessiven Vereinbarkeit von Familie und Beruf ergänzt. Spätestens ab der ersten Dekade des neuen Jahrtausends setzte sich das familienpolitische Leitbild der simultanen Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärker durch (vgl. Althammer/Lampert 2014, 350–352). Zentrale Legitimationsformel dieses Leitbilds der deutschen Familienpolitik war die Nachhaltigkeit (vgl. Gruescu/Rürup 2005). Im Zentrum stand das Ziel der gleichzeitigen Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit und Geburtenrate angesichts der stetigen Schrumpfung der Bevölkerung sowie der Armutsgefährdung allerziehender Frauen einerseits und der Kinderlosigkeit der Karrierefrauen andererseits. Konträr waren allerdings sowohl die familienpolitischen und sozialwissenschaftlichen Ansichten hinsichtlich der Mittel zur Erreichung des Nachrangigkeitsziels. Optierte die Rot-GrüneKoalition für den Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen und Dienstleistungsangebote für Eltern entsprechend des schwedischen Modells, setzte die CDU/CSU ähnlich wie Finnland auf die Einführung des Elterngeldes für mindestens zwei Jahre. Im Kontext des sozialwissenschaftlichen Begleitdiskurses wurde der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen vor allem ökonomisch mit der unzureichenden Ausschöpfung des Erwerbspotentials sowie dem Risiko der Kinderarmut von speziellen Familienformen begründet (vgl. Gruescu/Rürup 2005). Demgegenüber sahen andere Sozialwissenschaftler wie Ilona Ostner (2008) und Arlie Russell Hochschild (2003, 213ff.) im Paradigmenwechsel der Familienpolitik vor allem eine Tendenz des Defamilismus und der Ökonomisierung der Lebenswelt der Familie. Indem man aus ihrer Sicht den Familien, besonders den Eltern, Versagen in der Erziehung vorwarf, plädierte man für eine stärkere Institutionalisierung der Kindheit durch Ausbau von Kitas und gleichzeitiger simultaner Müttererwerbsarbeit. Dabei übersah man den gestiegenen Zeitverzicht des familialen Zusammenlebens mit Kindern, die verstärkte rechtliche Individualisierung der Familie, deren lebensweltliche Individualität und Ressourcen und präferierte, so Hochschild (2003, 214): »the cold modern model represented by impersonal institutional care in year-round ten hour daycare…« (Hervorhebung i. O.) Wie immer man sich auch in dieser Kontroverse soziologisch und/oder politisch positioniert, klar ist, dass es einen Bedarf an Betreuungseinrichtungen gibt. Klar ist aber auch, dass gerade aufgrund der forcierten Formenvielfalt der Familien und der gestiegenen Egalität der Geschlechter und Anspruchsindividualität der Personen eine Wahlfreiheit der Eltern und Kinder statt einer einzigen standardisierten Problemlösung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigen- und Eltern- sowie Kinderrolle gewährleistet sein sollte (vgl. Böllert 2010).
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Als formale Organisationen des lokalen Erziehungssystems sind Kinderkrippen und Tageseinrichtungen vor allem für diejenigen Familientypen und ihre Kleinkinder von Bedeutung, deren Mütter bereits in diesem frühen Lebensalter ihrer Kindes der Erwerbsarbeit nachgehen wollen oder müssen, die nicht auf intakte informelle soziale Netzwerke zurückgreifen können und sich selbstorganisierte sowie teure elterliche Privatinitiativen nicht leisten können. Dies gilt besonders für Familientypen wie alleinerziehende Mütter, ökonomisch schlecht gestellte deutsche und ausländische Familien, aber auch für einen Teil der Commuter-Familien. Dabei wächst der Bedarf für die entsprechenden formalen Organisationen des Erziehungssystems speziell in den Großstädten, in denen die entsprechenden Milieus mit den dazugehörigen Familientypen in größerer Anzahl als in ländlichen und kleinstädtischen Kommunen vorkommen. Laut dem 9. Bildungsbericht (2022, 6) ist die Beteiligungsquote an frühkindlichen Bildungseinrichtungen der unter 3-Jährigen von 2011 bis 2021 von 24 % auf 34 % gestiegen. Differenziert man die Eltern entlang ihres Bildungsabschlusses variiert die Inklusionsquote ihrer Kinder von 38 % bei den höchsten über 29 % bei den mittleren bis hin zu 18 % bei den niedrigsten Bildungsabschlüssen. Inwieweit sich die damit verbundene früh einsetzende Formalisierung und Professionalisierung der Betreuung und Erziehung auf die Sozialisation und das Erleben und Handeln der Kleinkinder im positiven oder negativen Sinne auswirkt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie sie a) sich mit den jeweiligen Typen der Familiensysteme ergänzen; b) Probleme der Überlastung und Überforderung, denen die Kleinkinder ohne diese Angebote ausgesetzt wären, kompensieren können und c) durch ihre Eigendynamik nicht zusätzliche Probleme für die Kleinkinder generieren, z.B. zu lange und frühe Absenz von der Familie, zu geringe Kindzentriertheit aufgrund zu knapp bemessener Personalschlüssel, Anpassungsprobleme im Rahmen der jeweiligen Spielgruppen etc.
So heißt es aus Anlass des im August 2013 verabschiedeten Kinderförderungsgesetzes, das einen bundesweiten Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für alle unter Dreijährigen vorsieht, in einem am 08.06.2013 im Journal der Rhein-Zeitung publizierten Beitrag von Michael Defrancesco »Die Kita als Gouvernante« : »Wohlhabende Eltern benutzen die Kita als Gouvernante, verwirklichen sich selbst und parken ihre Kleinkinder in der Kita, während sie in den Urlaub fliegen–das sind Berichte von Erziehern und Sozialpädagogen, die so gar nicht ins Bild der modernen Form der Kinderbetreuung passen wollen. […]‹Nein, vor allen Dingen akademisch hoch stehende Eltern haben da ganz klare Vorstellungen: Die Kita ist das Kindermädchen, das ihnen die gesamte Erziehungsarbeit abnehmen soll.‹« Demgegenüber titelt Sabine Grüneberg von der Süddeutschen Zeitung (Nr.88, S. 18) vom 16.04.2013 »Das Wunder von Uppsala. Kinderbetreuung ist kinderleicht. Wer das nicht glaubt, sollte mal nach Schweden kommen und ganz genau zuhören«, und schreibt dazu in ihrem Artikel u.a. Folgendes:
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
»Sogar den Koch hat er mitgebracht. Mit ihm gemeinsam reicht Per Uppmann, Geschäftsführer von neun Kindergärten, den deutschen Gästen Häppchen mit Kichererbsen-Lachscreme und erklärt: ›Einer unserer Konkurrenzvorteile ist gutes Essen. Unser Koch ist nicht nur für die Kinder da. Eltern können bei uns Frühstück bekommen oder Abendessen bestellen, das sie dann zu Hause aufwärmen.‹ 35 deutsche Augenpaare staunen. Über einen 24-Stunden-Kindergarten, der auch Betreuung am Abend und am Wochenende anbietet. In dem im Garderobenraum eine Flachbildschirm hängt, auf dem die Höhepunkte des Tages als Diashow laufen: Kinder, die basteln; Kinder, die spielen; Kinder, die schlafen. Man kann sich das auch als App aufs Handy laden. Dazu gibt es ein Elterncafé, monatliche Informationsabende, regelmäßige Entwicklungsgespräche und Förderstunden für Kinder, die das brauchen.«
8.2.5
Lokale Organisationen und funktionssystemspezifische Formen der Inklusion/Exklusion von Kleinkindern
Da sich das Sozialsystem Familie räumlich nicht nur im Kontext der Wohnung kommunikativ reproduziert und es zusammen mit den organisch-psychischen Bedürfnissen und Ansprüchen seiner Personen auf vielfältige systemexterne Leistungen angewiesen ist, sind Umweltkontakte notwendig. Bei diesen handelt es sich vor allem um die lokalen Organisationen der Funktionssysteme. Deren Kommunikation ist im Gegensatz zur höchstpersönlichen Intimkommunikation der Familie eher durch unpersönliche und rollenspezifische Organisationskommunikation gekennzeichnet. Eine intensivere Kenntnis der Personen durch wiederholte Teilnahme an den lokalen Organisationen ist damit ebensowenig ausgeschlossen wie deren Resonanz für individuelle Ansprüche. Die lokalen Organisationen der Funktionssysteme beeinflussen die soziale Lebenslage Kindheit in dem Maße, in dem sie die Inklusion von Kleinkindern explizit, peripher oder gar nicht vorsehen. Bei Inklusion wird die unmittelbare raumzeitliche Präsenz und Kontrolle der Eltern, besonders der Mutter, als Normalfall unterstellt. Sofern die Großstadt das Paradigma des nahräumigen Zugangs zu den Funktionssystemen der modernen Gesellschaft verkörpert (vgl. Hohm 2011), dupliziert sie diese gewissermaßen lokal durch ihre Sektoren und Organisationen der Wirtschaft, der Freizeit, des Sportes, der Gesundheit, Erziehung, Wissenschaft, Sozialen Hilfe, Kunst, Religion, Massenmedien, des Verkehrs, der öffentlichen Verwaltung und Politik.
8.2.5.1
Exklusion des Kleinkindes als Einzelperson
Generell gilt, dass keine der lokalen Organisationen außer Kitas die Anwesenheit des Kleinkindes allein ohne unmittelbare Präsenz der Eltern – normalerweise der Mutter – oder ohne Begleitung anderer durch die Eltern legitimierter Erwachsener vorsieht. Sie nehmen es sowohl als gefährliche Umwelt als auch als durch die Risiken der Organisationskommunikation gefährdete Person wahr, die deren Erwartungen aufgrund ihres entwicklungsbedingten Mangels an selbstverantwortlicher Steuerung noch nicht erfüllen kann. Es ist deshalb auch keine Überraschung, dass die erste Frage, die an das Kleinkind adressiert wird, wenn es in Organisationen allein angetroffen wird, die nach der Mut-
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
ter oder den Eltern ist. Man denke nur an die an die Eltern adressierten Durchsagen in Kaufhäusern oder Stadien, wenn Kinder ihre Eltern »verloren« haben. Ferner gilt, dass Kleinkinder von derjenigen Kommunikation der lokalen Organisationen ausgeschlossen werden, die an Inhaber von Leistungsrollen adressiert sind. Sie werden nicht mit berufsspezifischen Leistungsanforderungen konfrontiert und kommen dementsprechend weder als Mitarbeiter noch als Kollegen in Frage. Dies trifft und traf wohl für alle Gesellschaften zu, da Kleinkinder bis zum 3. Lebensjahr selbst diejenigen Tätigkeiten nicht zuverlässig und koordiniert ausüben können und konnten, die heute noch in der Landwirtschaft und der Industrie der 3.Welt als Prototypen von Kinderarbeit gelten, z.B. Bergbau, Näharbeiten etc. Darüber hinaus wird die Mehrzahl der Kleinkinder im Normalfall von all denjenigen lokalen Organisationen des Erziehungssystems ausgeschlossen, die konstante und kontinuierliche tägliche Absenz vom Elternhaus voraussetzen. Ausnahmen stellen die bereits erwähnten Kinderkrippen dar. Schließlich schließen die Temporalstrukturen nahezu aller lokalen Organisationen im Normalfall die Präsenz von Kleinkindern im Wachzustand ab 20 Uhr abends aus. Dies gilt in besonderem Maße, wenn sie allein auftreten. Und selbst dann, wenn sie von Eltern begleitet werden, müssen diese zumindest mit informellen Kontrollen bzw. Sanktionen durch das Organisationspersonal rechnen. Ausnahmen stellen u.a. die lokalen Organisationen des Gesundheitssystems im Krankheitsfalle oder bestimmte Festanlässe im Sommer dar. Die abendliche und nächtliche Exklusion des Kleinkindes durch die lokalen Organisationen verweist auf spezifische Kinderschutzmaßnahmen. Im Vordergrund steht dabei die gesundheitliche Rücksichtnahme auf das Schlafbedürfnis des Kleinkindes. Hinzu kommt das Vermeiden bestimmter Gefahren, die besonders nachts durch den Kontakt mit einzelnen Personen und aufgrund spezifischer Themen lokaler Fun-Organisationen für die Psyche und den Körper des Kleinkindes entstehen können. Schließlich spielt auch eine Rolle, dass die längeren Schlafzeiten des Kleinkindes am ehesten abends und nachts eine raumzeitliche Segregation der Erwachsenen von den Kleinkindern und eine erwachsenzentrierte Kommunikation ermöglichen. Das abendliche Ausgehen der Eltern stellt besonders für die Mütter eine temporäre Entlastung von der nahezu omnipräsenten Gegenwart des Kleinkindes dar, sofern dessen Betreuung durch Babysitter gesichert ist. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Lebenslage Kindheit im Alter bis 3 Jahren dadurch bestimmt ist, dass Kleinkinder normalerweise von den lokalen Organisationen des Funktionssystems nachts, in der Berufsrolle, als konstante Adressaten des Erziehungssystem und als einzelne und selbstverantwortliche Personen, unabhängig von der Präsenz der Eltern oder deren Zustimmung, kommunikativ exkludiert werden.
8.2.5.2 Lokale Wirtschaftsorganisationen mit marginaler Inklusion des Kleinkindes als begleitender Kunde und Konsument Wie bereits erwähnt, ist die Familie nicht nur ein durch das Medium Liebe selbstreferentiell geschlossenes soziales System, sondern auch ein auf Fremdreferenz durch Umwelt-
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kontakt angewiesenes Sozialsystem, da es als Intimsystem nicht alle Funktionen und Leistungen selbst erbringen kann, die für seine kommunikative und die organisch-psychische Reproduktion seiner Personen notwendig sind. Aufgrund des dominanten Musters der geschlechtsspezifischen Rollendifferenzierung des Ehepaares bedeutet dies, dass die für das Kleinkind relevanten Umweltkontakte während der Woche tagsüber primär durch die Entscheidungen der Mutter erfolgen, da der Vater zu dieser Zeit das Medium Geld in Form des monatlichen Lohnes oder Gehaltes durch Erwerbsarbeit im Kontext der lokalen oder supralokalen Beschäftigungsorganisationen verdienen muss. Im Alltag dominiert mithin die temporäre Inklusion von Mutter und Kind bezüglich der lokalen Organisationen der Funktionssysteme. Ihre Selektion und die werktägliche raumzeitliche Inklusionssequenz wird vor allem durch den Zeitplan der Mutter als Hausfrau und Ehefrau, aber auch als Person mit eigenen Ansprüchen bestimmt. Der Zeitplan erfordert eine Koordination der familieninternen mit den familienexternen Zeiten. Die Dauer des außerhäuslichen Aufenthaltes und sein zeitlicher Spielraum wird dabei zum einen durch die strukturell notwendige häusliche Anwesenheit (Hausarbeitszeit, Essenszeiten, Schlaf-Wachrhythmus des Kindes mit entsprechenden Betreuungszeiten, Rückkehr des Ehemannes) und zum anderen durch die räumliche Erreichbarkeit sowie die Temporalstrukturen (Öffnungszeiten, Wartezeiten, Aufenthaltszeiten) der lokalen Organisationen beeinflusst. Nimmt an diesen die Mutter zusammen mit ihrem Kind teil, ist dieses immer dann marginal inkludiert, wenn die organisationsspezifischen Programmangebote primär auf die Bedarfe der Erwachsenen zugeschnitten sind und diese selbst dann zum Hauptadressaten der Kommunikation werden, wenn Segmente des Programmangebotes auf die Kinder abstellen. Nach Häufigkeit und Dauer des Aufenthaltes dominieren die lokalen konsumorientierten Dienstleistungsorganisationen des Wirtschaftssystems und bestimmte lokale Organisationen des Freizeitsystems. Demgegenüber werden lokale Organisationen anderer Funktionssysteme entweder nur zu besonderen Anlässen werktags, z.B. diejenigen des Gesundheitssystems und der Verwaltung, aufgesucht oder zum Wochenende, z.B. diejenigen des Religionssystems, Sportsystems oder kulturellen Systems, was auch auf bestimmte konsumorientierte Dienstleistungsorganisationen des Wirtschaftssystems zutrifft. Zum Wochenende kommen zur Mutter-Kind-Inklusion Inklusionsformen der Gesamtfamilie oder von Vater-Kind hinzu. Betrachtet man die lokalen konsumorientierten Dienstleistungsorganisationen des Wirtschaftssystems etwas genauer, dann lassen sie sich grob in haushaltsbezogene und outfitorientierte Dienstleistungsorganisationen unterscheiden. Die haushaltsbezogenen Dienstleistungsorganisationen weisen eine funktionale Differenzierung in Form von Großmärkten, Warenhäusern, Supermärkten, diversen Einzelhandelsgeschäften bis hin zu Tante-Emma-Läden auf. Abstrahiert man von Großmärkten und Warenhäusern, die eher in der City oder am Rande der Großstädte angesiedelt sind und die am stärksten diversifizierte Produktpalette aufweisen, so dominieren Supermärkte, diverse Einzelhandelsgeschäfte und Tante-Emma-Läden die werktägliche Inklusionssequenz von Mutter-Kind im Nahraum des Stadtteils. Der werktägliche Terminplan von Mutter-Kind wird folglich durch den Einkauf kurzlebiger Konsumgüter wie Lebensmittel, Hygieneartikel etc. einerseits und preis-
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werten langlebigeren Haushaltsartikeln wie Geschirrspülmittel, Glühbirnen, Kaffeefilter etc. andererseits bestimmt. Sie dienen zum einen der alltäglichen Reproduktion des Organismus und der Aufrechterhaltung der elementaren Körperhygiene und Körperpflege der Haushaltsmitglieder und zum anderen der alltäglichen Reproduktion des Haushaltes als sozio-technischem System und der kontinuierlichen Wiederherstellung der Alltagsästhetik der Wohnung. Sofern die Ehefrau als Mutter und Hausfrau sowohl die Verantwortung für die familieninterne operative Anschlussfähigkeit der eingekauften Konsumgüter in Form der Haus- und Beziehungsarbeit als auch des dafür zur Verfügung stehenden Haushaltsbudgets übernimmt, ist ihr Kind an ihre außerhäusliche Selektion der lokalen haushaltsorientierten Dienstleistungsorganisationen und den mit ihr verknüpften Terminplan gebunden. Die Selektion der Mutter wird zum einen durch die Relation von familienspezifischem Konsumprogramm bzw. familienspezifischem Lebensstil in Form der Eß-, Trink-, Haushalts- und Wohnkultur und vorhandenem Haushaltsbudget beeinflusst. Zum anderen wird sie durch die segmentäre und funktionale Differenzierung haushaltsorientierter Dienstleistungsorganisationen im Nahraum des Stadtteils und ihren Programm- und Preisangeboten bestimmt, die zugleich auch unterschiedliche Lebensstile der potenziellen und aktuellen Kunden und somit ihre stratifizierte Differenzierung indizieren. Die Organisationskommunikation der lokalen haushaltsorientierten Dienstleistungsorganisationen lässt sich primär als selbstreferentielle und rekursive Wirtschaftskommunikation beobachten, die ihre Entscheider durch Gewinn und Verlust über ihren monetären Erfolg/Misserfolg informiert. Der Unterschied der einen Unterschied ausmacht ist dabei die steigende/sinkende Relation von Preis und Kosten und die mit ihr verknüpften Einnahmen bzw. Einnahmenverluste. Die Fremdreferenz der Wirtschaftskommunikation wird demgegenüber durch das Programm der Konsumgüter indiziert, die auf den unterstellten Bedarf potenzieller Kunden abhebt. Die Wirtschaftskommunikation der haushaltsorientierten Dienstleistungsorganisationen unterscheidet sich dementsprechend dadurch, inwieweit sie sich primär an Niedrig-, Normal- oder Höchstpreisen orientiert und den konsumorientierten Lebensstilen der Kunden durch unterschiedliche Qualität und Differenzierung bzw. Diversifizierung der Konsumgüter und eine strukturelle Kopplung mit Formen der Organisationskommunikation Tribut zollt, die primär auf Selbst- oder Fremdbedienung, Erlebnis- oder Handlungsorientierung, Großzügigkeit/Enge der Einkaufsräume und Schnelligkeit/Langsamkeit des Einkaufs basiert. Geht man vom Supermarkt als Paradigma der modernen haushaltsorientierten Dienstleistungsorganisation aus, so dominiert weitestgehend die Selbstbedienung, und reduziert sich der kommunikative Kontakt zum Personal auf die Information und Mitteilung bestimmter Konsumwünsche von Nahrungsmitteln – besonders Wurst, Fleisch, Käse, Brot und Brötchen – sowie das Bezahlen der ausgewählten Artikel an der Kasse. Ansonsten ist die erfolgreiche Teilnahme der Mutter als Kundin an der Wirtschaftskommunikation des Supermarktes zum einen daran gebunden, dass sie sich mittels Preisen und Preisunterschieden über die Kostenveränderung der Konsumartikel und zum anderen als Konsumentin durch Lesen und Anfassen über ihre Qualität und Halt-
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barkeit informiert. Ob sie die teureren oder billigeren Angebote präferiert, hängt sowohl von ihrem Haushaltsbudget als auch vom familienspezifischen Lebensstil ab. Diese beeinflussen ebenso, inwieweit sie sich von bestimmten Werbestrategien und Marken durch Produktplacement, akustische Werbespots und Warenästhetik manipulieren lässt. Hinzu kommt die raumzeitliche Orientierung an der Binnendifferenzierung der Distribution der Produkt-, Verkaufs- und Kassenzonen des Supermarktes, die ein zeitsparendes Einkaufen ermöglichen. Schließlich gilt es die Differenz von Einkaufswagen und eigenen Transportmitteln zu beachten, soll das Risiko des Diebstahlverdachtes vermieden werden. Dass wir von marginaler Inklusion des Kleinkindes sprechen, wird im Zusammenhang mit dem alltäglichen Einkauf der Mutter beim Supermarkt insofern deutlich, als es als selbstverantwortlicher Kunde und unmittelbarer Adressat der Wirtschaftskommunikation von der Organisation nicht vorgesehen ist. So ist es weder für das Konsumprogramm und das Haushaltsbudget der Familie verantwortlich, kann es nicht die an Preise und Schrift gebundenen Informationen der Konsumartikel lesen, verfügt es noch nicht über Zahlungsfähigkeit durch eigenes Geld, kann sich noch nicht hinreichend raumzeitlich orientieren und noch nicht zwischen legalem und illegalem Einkauf unterscheiden. Dies schließt jedoch nicht aus, dass bestimmte Konsumgüter wie Windeln, Babynahrung, Fruchtsäfte, Süßigkeiten, kleinere Spielsachen etc. auf es als Konsument zugeschnitten sind. Eigene Konsumansprüche wird es zunächst durch körperbetonte Wahrnehmung und Kommunikation wie Schreien, Blabbern, Greifen und später durch sprachliche Artikulation geltend machen. Das Kleinkind nimmt dementsprechend bereits durch sequenzielle Multiinklusion tagtäglich an der Organisationskommunikation unterschiedlicher lokaler Organisationen teil. Dabei macht es, je nach Dauer des Aufenthaltes, Relevanz der Thematik und Rollenerwartungen, seine Ansprüche durch körperbetonte Kommunikation wie Schreien, Blabbern, unruhige Motorik geltend. Ob und in welchem Ausmaß es damit zum Störfaktor der Erwachsenenkommunikation wird, hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit das Personal der lokalen Organisationen und die Mutter in ihren jeweiligen Laienrollen Aufmerksamkeit für das Kleinkind abzwacken wollen und können, als wie dringlich die an Lust/Unlust orientierten Bedürfnisse des Kleinkindes von der Mutter wahrgenommen werden und wie hoch/niedrig die Toleranzschwelle der übrigen erwachsenen Inhaber von Laienrollen für kindliches Verhalten ist. Zusätzlich zu diesen lokalen Organisationen, deren programmspezifische Präferenzen primär auf die Erwachsenen zugeschnitten sind, gibt es solche, die durch ihre funktionsspezifischen Programme explizit auf die Zielgruppe der Kleinkinder und deren jeweiligen Ansprüche und Notwendigkeiten abstellen. Dazu gehören u.a. Babyläden, Spielzeuggeschäfte, bestimmte Konsumartikel der Supermärkte, wie Kinderschokolade, Windeln, Babyshampoo, die Taufe, Kindergottesdienste, Hochsitze für Kinder in Cafes und Restaurants, Kinderärzte und -kliniken, Plantschbecken, Kinderspielplätze und Kinderfeste. Als konsum-, (sozial-)pädagogisch, gesundheits- und funorientierten Programme lokaler Dienstleistungsorganisationen mit einer je spezifischen Infra-, Themen-, Zeitund Sozialstruktur (vgl. Häusermann/Siebel 1995) wenden sie sich bereits an Kleinkinder als Adressaten von Dienstleistungen. Die damit verbundene Inklusion durch rudimen-
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tär zugeschriebene Laienrollen der Kleinkinder lässt sich dadurch charakterisieren, dass erstens eine mit ihnen verknüpfte Zahlungsfähigkeit nicht von den Kleinkindern, sondern durch die Eltern oder Transferzahlungen erfüllt wird; zweitens die Eltern weitestgehend entsprechend ihrer milieu- und lebensstilspezifischen Präferenzen entscheiden, ob sie die Programmangebote der lokalen Dienstleistungsorganisationen für ihre Kleinkinder als notwendig, möglich oder unmöglich erachten; drittens die Eltern, die Ansprüche ihrer Kleinkinder im Kontext der lokalen Organisationen weitestgehend stellvertretend für diese artikulieren und/oder deren kommunizierte Ansprüche selegieren; viertens die raumzeitliche Anwesenheit eines Elternteils darauf verweist, dass eine selbstkontrollierte und -verantwortete Inklusion des Kleinkindes hinsichtlich der Anforderungen und Erwartungen der Laienrollen noch nicht möglich ist. Gleichwohl deuten besonders die (sozial) pädagogisch und funorientierten Programmangebote der lokalen Dienstleistungsorganisationen – wie Kinderspielplätze, Kinderfeste und Plantschbecken – darauf hin, dass die lokale Infrastruktur Außen- und Binnenräume zur Verfügung stellt, in deren Kontext sich die Kleinkinder zusammen mit Gleichaltrigen für eine bestimmte Zeit außerhalb der Privatsphäre der Familie der Spielkommunikation oder dem Gemeinschaftserleben als Publikum kindorientierter Präsentationen widmen können.
8.2.5.3 Lokales Verkehrssystem und lokale Verbreitungsmedien: Inklusion/Exklusion des Kleinkindes als raumzeitlich mobiles Individuum Wenn wir bereits mehrfach erwähnten, dass das Kleinkind durchgehend von einem Elternteil, besonders der Mutter, begleitet wird, dann setzten wir implizit voraus, dass sich die lokalen Organisationen der Funktionssysteme nicht an einem Ort befinden, sondern von der Privatsphäre der Wohnung raumzeitlich getrennt sind. a) Dies bedeutet aber, dass die außerhäuslichen Binnen- und Außenräume der lokalen Organisationen nur durch die Teilnahme am lokalen Verkehrssystem erreicht werden können. Es liegt auf der Hand, dass dazu, ebenso wie bei den anderen Laienrollen, allgemeine Fertigkeiten gehören, die, je nach Alter des Kleinkindes, bezüglich körpergebundener Eigenmobilität (Fußgänger), technisch unterstützter (Kinderfahrrad) und motorisierter Mobilität anspruchsvoller werden. Gerade die letztere erzeugt einen Unterschied von fremd- und selbstbestimmter Mobilität, wie er am deutlichsten in Form des öffentlichen Nahverkehrs und des motorisierten Individualverkehrs zum Ausdruck kommt (vgl. Hohm 1997) Auch hier wieder können die Kleinkinder nur mit Hilfe der Präsenz und Unterstützung eines Elternteils am Verkehrssystem teilnehmen. Dies gilt in einem elementaren Sinne für die auf körpergebundene Eigenmobilität angewiesene Rolle des Fußgängers. Da diese erst nach einem Jahr durch das Kleinkind übernommen werden kann, wird es bis dahin von einem Elternteil auf dem Arm oder seinen Schultern sitzend getragen bzw. im Kinderwagen oder Buggy liegend geschoben. Kann es sich per pedes und sich darüber hinaus schon mit Hilfe von technischen Geräten fortbewegen, z.B. einem Stützrädchen, bedarf es aufgrund der Komplexität der Verkehrswege gleichwohl noch der Kontrolle eines Elternteils. Dies gilt erst recht für die Rollen des Fahrgastes im öffentlichen Nah-
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verkehr und motorisierten Individualverkehr, welche die Kleinkinder nur in Begleitung eines Elternteils und mit Hilfe besonderer Schutzvorkehrungen (z.B. Kindersitz) übernehmen können. b) Zusätzlich zum Verkehrssystem sind die lokalen Organisationen der Funktionssysteme durch die lokalen Verbreitungsmedien Zeitung, Rundfunk, Fernsehen und zunehmend durch Telekommunikation vernetzt. Diese wenden sich jedoch eher indirekt an die Kleinkinder, da diese noch nicht lesen und schreiben können, indem sie deren Eltern über kinderspezifische Angebote der konsum-, (sozial-)pädagogisch-, gesundheits- und funorientierten lokalen Organisationen informieren und ihnen zusätzlich Ratschläge erteilen. Man denke in diesem Zusammenhang nur an Werbeangebote, die sich auf Konsumgüter von Kleinkindern beziehen, Informationen zu Elterninitiativen oder Öffnungszeiten von Kinderärzten und Angebote an Eltern, die ihr erstes Kind erwarten, oder an Hinweise zu Kinderfesten im Stadtteil, zum Besuch eines Zirkus oder sonstiger kindbezogener Events. Diese lokalen Informationen, die primär in der Lokalpresse erscheinen, werden zudem von Ratschlägen zu den unterschiedlichsten Themen, angefangen von der Babynahrung über den adäquaten Kindersitz bis hin zur Gesundheitsprävention und Erziehungsfragen, flankiert. Da die Kleinkinder als direktes Lesepublikum noch ausscheiden und die elektronischen Verbreitungsmedien Rundfunk und Fernsehen sich nur höchst selektiv direkt an die Kleinkinder durch programmspezifische Angebote wenden, fungieren diese entweder als Begleitmedium, das die Kleinkinder akustisch und visuell in Anwesenheit der Eltern wahrnehmen, oder in Form von CDs und Kassetten als Medium von Kindermusik oder Märchenerzählungen. Dabei ist der lokale Bezug jedoch höchst indirekt. Wird das Buch als weiteres Verbreitungsmedium von den Eltern benutzt, dient es ihnen als Medium zum Vorlesen von Märchen oder als Bilderbuch. Dieses kann dann, je nach thematischen Bezug, die Kinder visuell in die Komplexität des lokalen Nahraums durch Abbildungen der Fauna und Flora oder lokaler Funktionsräume wie Straßen, Markt, Bahnhof, Krankenhaus etc. auf fantasievolle Weise einführen. Darüber hinaus kommt dem Buch als Malbuch zusätzlich die Funktion zu, dass die Kleinkinder ihre operative Fähigkeiten durch Kritzeln und Ausmalen spielerisch einüben können.
8.2.5.4 Lokales politisch-administratives System: Inklusion/Exklusion des Kleinkindes als Bürger Das Kleinkind wird mit seiner Geburt administrativ als Einwohner seiner Geburtsgemeinde registriert. Das lokale politisch-administrative System bezieht sich zudem explizit in Form der familien- und kinderpolitischen Programme auf die Kleinkinder als Zielgruppe. Dies kann es mit den ihm zur Verfügung stehenden Einflussmedien Geld, Recht und Expertise, welche die Infra-, Themen-, Zeit- und Sozialstruktur der lokalen Organisationen der Funktionssysteme durch Stadtentwicklungsplanung, Übernahme öffentlicher Trägerschaft und Public-Private Partnerships, durch Bereitstellung von Dienstleistungen und Fördermitteln in einer Weise zu gestalten versuchen, welche auf die Ansprüche der Kleinkinder zugeschnitten ist.
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Die Form der Einwohnerrolle, die mit dem Geburtsort zusammenfällt und jeden von uns dokumentarisch bis zum Lebensende begleitet, ist eine vertrautere, wenn sie mit der Rolle des Gemeindebürgers identisch ist. Die Inklusion des Individuums ins politischadministrative System ist hier mit dem dezentralen Sozialraum Kommune in dem Sinne eng gekoppelt, als der Wohnort, ja die Wohnung des Stadt-oder Ortsteils, zur Adresse im Sinne seiner sozialräumliche Identität wird. Der supralokale Unterschied zur lokalen Rolle des Gemeindebürgers wird qua abstrakterer Rollen des Einwohners als Zugehöriger eines Bezirks, Bundeslandes, der Nation oder einer transnationalen Organisation wie z.B. der EU symbolisiert. Für das Kleinkind bedeutet dies zunächst, dass die elterliche Entscheidung in Bezug auf den Wohnsitz zugleich mit der administrativen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinde sowie einem bestimmten ihrer Orts- oder Stadtteile verknüpft ist. Damit konstituiert sich eine administrative Form der Differenz von Gemeindebürger/Fremder als anderer Gemeindebürger bezogen auf die systemexterne Umwelt des politisch-administrativen Gesamtsystems und eine orts- bzw. stadtteilbezogene Differenz im Binnenverhältnis der jeweiligen Kommune als Gesamtsystem. Daran schließen sich bestimmte Rechte und Pflichten, aber auch faktische Inklusions-und Exklusionsvoraussetzungen des Kleinkindes als Gemeindebürger an, die das Kleinkind einer bestimmten Gemeinde, z.T. auch eines Orts- bzw. Stadtteils, gegenüber Kleinkindern von anderen Gemeinden bzw. anderen Kleinkindern der gleichen Gemeinde positiv oder negativ privilegieren. So lassen sich z.B. regionale Disparitäten zwischen Kleingemeinden und Großstädten in Bezug auf den Zugang zu bestimmten Infrastrukturleistungen ebenso feststellen wie innerhalb der Stadt- und Ortsteile von Großstädten und Großgemeinden. Dass sich diese auch auf die unterschiedlichen Lebenschancen im Rahmen des Lebenslaufes von Kleinkindern auswirken, braucht wohl an dieser Stelle nicht ausdrücklich betont zu werden (vgl. dazu Hohm 2011).
8.2.5.5 Lokales Gesamtsystem: Inklusion/Exklusion des Kleinkindes als Einwohner Wenn den Kommunen die Funktion zukommt, den nahräumigen Zugang der Gesamtbevölkerung zu den makrostrukturell ausdifferenzierten Funktionssystemen durch eine lokale Infra-, Themen-, Zeit- und Sozialstruktur zu garantieren, wobei die lokalen Organisationen und informellen sozialen Netzwerke eine besondere Rolle spielen, konstituieren sie zugleich die umfassende und generalisierte Rolle des Einwohners. Diese verweist zunächst allgemein auf denjenigen Ausschnitt der Identität des modernen Menschen als Person, die ihm eine sozialräumliche Adressstelle zuweist, deren Kern in einer Kombination von genereller Zugehörigkeit zu einer Kommune und deren Respezifikation in Form eines Wohnung besteht, die einem bestimmten Stadtteil und einer Straßennummer zugeordnet wird. Der Differenzbegriff bezieht sich dabei auf den Nichteinwohner. Dieser weist normalerweise auch eine sozialräumliche Adressstelle auf, jedoch nicht am gleichen Ort wie der Einwohner. Er kann als Fremder im Gegensatz zum Einheimischen bezeichnet werden, der, je nach lokaler funktionsspezifischer Perspektive der Einwohner, als Besucher,
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
Gast, Tourist, Durchreisender, Nachbar, Pendler, Zugereister, Asylant, Flüchtling etc. typisiert wird. Zum ausgeschlossenen eingeschlossenen Dritten wird der Wohnungslose, der nicht nur Nichteinwohner ist, sondern zugleich auch keine sozialräumliche Adressstelle aufweist. Er wird dadurch als privater Adressat kommunikativ lokal exkludiert, gleichzeitig aber in die öffentlichen Sozialräume temporär lokal inkludiert. Bezogen auf das Kleinkind bedeutet die umfassende Rolle des Einwohners zunächst, dass es seinen Wohnsitz und damit seine lokale Zugehörigkeit durch eine sozialräumliche Adressstelle nicht wählen kann, sondern als Resultat der Entscheidung der Eltern mit seiner Geburt zugeschrieben bekommt. Die Privatheit des Wohnens stellt dabei denjenigen immobilen familialen Sozialraum dar, von dem aus sich das Kleinkind die Kommune als lokales Gesamtsystem erschließt. Die Selektivität seiner Einwohnerrolle wird dabei zum einen durch das Ausmaß bestimmt, in dem der jeweilige Typus der Kommune den nahräumlichen Zugang zu den makrostrukturell ausdifferenzierten Funktionssystemen eröffnet und zum anderen durch die Präferenzen und Notwendigkeiten des Familiensystems, speziell der Mutter. Die Selektivität der Einwohnerrolle erschließt sich in einem ersten raumzeitlichen Schritt für das Kleinkind durch die täglichen Routinen, die es besonders zusammen mit der Mutter zu den erwähnten lokalen Dienstleistungsorganisationen zurücklegt. Auf diese Weise lernt es allmählich die Differenz des Binnenraumes der Privatheit der eigenen Wohnung zu den Binnen- und Außenräumen der lokalen Organisationen des Wohnquartiers bzw. Orts- und Stadtteils kennen. Wie umfassend die von ihm gemachten Raumerfahrungen als Einwohner sind, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die dezentralen Orts- und Stadtteile und die Kommune als ganze die familialen Präferenzen und Notwendigkeiten, inklusive der des Kleinkindes, abzudecken in der Lage sind, oder ob eine tägliche Mobilität in andere Orts- oder Stadtteile oder andere Kommunen notwendig ist. Es lernt dabei Fahrbahnen, Randzonen, Fußgängerwege, Gebäude und Freiflächen wie Parks, Felder und Wiesen seines Ortes bzw. seines Stadtteils und seiner Stadt im Wechsel der unterschiedlichen Jahreszeiten kennen. Dabei hinterlassen diese unterschiedlichen Raumzonen Erinnerungsspuren in Form von Gerüchen, Geräuschen, Bildern und Atmosphären, die sich in Abhängigkeit von der Dauer des Kindes am gleichen Ort als Heimatgefühl bzw. affektiv aufgeladene lokale Identität im Sinne der Vertrautheit und Bindung an eine räumlich strukturierte Nahwelt entwickeln können. Hinzu kommt die selektive Bekanntschaft mit bestimmten Mitgliedern sozialer Netzwerke sowie Inhabern von Leistungsrollen der lokalen Funktionssystemen, Verkäuferinnen, dem Arzt, dem Pfarrer etc. Mit zunehmender Sprachfähigkeit eignet sich das Kleinkind in Abhängigkeit vom Milieu zudem den Dialekt, zumindest aber die Intonation des Ortes und/oder der Region an. All dies zusammengenommen erzeugt eine allmähliche Übernahme der Einwohnerrolle im Sinne einer affektiv besetzten lokalen Identität, die sich in Differenz zu den Nichteinwohnern als Fremden anfangs durchaus entlang eines räumlich begrenzten Nahraumes und seiner kommunikativen und symbolischen Grenzen entwickeln kann.
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Fazit
Anhand der Kleinkindphase wollten wir beispielhaft verdeutlichen, wie komplex sich die Relation von Inklusion/Exklusion in der funktional differenzierten Moderne im Kontext des Lebenslaufs bereits auf der Mikroebene des lokalen Nahraums für ein Kleinkind darstellt. Neben der Inklusion der sich entwickelnden Vollperson in die Familie als zunächst bedeutsamstem Funktionssystem thematisierten wir zusätzlich die unterschiedlichen Inklusions- und Exklusionsformen des Kleinkindes in die Organisationen der lokalen Funktionsbereiche. Dass das Kleinkind als sich noch entwickelnde Person dabei in unterschiedlicher Form als relevante Adressstelle berücksichtigt wird, haben wir herauszuarbeiten versucht. So wird es im Familiensystem, wenn dieses nicht zu einem dauerhaften Konfliktsystem mutiert, tendenziell bereits wie eine Vollperson behandelt, wenn auch noch nicht als gleichberechtigt aufgrund der Erziehungsfunktion mit der Absicht der Personenveränderung. Demgegenüber wird es aus bestimmten Organisationen der lokalen Funktionsbereiche exkludiert, da es noch nicht über die entsprechenden persönlichen Fähigkeiten zur Rollenübernahme verfügt –exemplarisch gilt dies für die primäre Leistungsrolle. Schließlich übernimmt es zwar bereits einige der Laienrollen hinsichtlich der Organisationen der lokalen Funktionsbereiche, wird dabei aber mit Ausnahme der pädagogischen Angebote, wie Kinderkrippen oder Tagesmütter, von einem Elternteil, hauptsächlich der Mutter, begleitet. Dies deshalb, weil das Kleinkind weder über die Fähigkeiten noch über die Ressourcen verfügt, um die mit den Laienrollen verknüpften Erwartungen als autonome Person voll erfüllen zu können. Es wird dann teilweise auch zur Unperson, die aus der funktionsspezifischen Kommunikation ausgeschlossen wird, indem in seiner Gegenwart über es und nicht mit ihm gesprochen wird –wenn z.B. die Verkäuferin die Mutter statt die sie begleitende Tochter fragt, ob diese ein Stück Wurst bekommen darf.
8.3 Zur Exklusion in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft 8.3.1
Einleitung
In einem ersten Schritt werden wir in stark geraffter Form einige zentrale Strukturmerkmale der Exklusion in den Peripherieregionen der Weltgesellschaft darstellen. In einem zweiten Schritt werden wir Exklusion mit der Skizze einer systemischen Theorie der Abweichung verknüpfen. Schließlich werden wir, zusätzlich zum bereits thematisierten lokalen Exklusionsbereich der sozialen Brennpunkte, totale Institutionen und Mobbing am Arbeitsplatz als weitere Manifestationsformen der Exklusion erörtern.
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Fazit
Anhand der Kleinkindphase wollten wir beispielhaft verdeutlichen, wie komplex sich die Relation von Inklusion/Exklusion in der funktional differenzierten Moderne im Kontext des Lebenslaufs bereits auf der Mikroebene des lokalen Nahraums für ein Kleinkind darstellt. Neben der Inklusion der sich entwickelnden Vollperson in die Familie als zunächst bedeutsamstem Funktionssystem thematisierten wir zusätzlich die unterschiedlichen Inklusions- und Exklusionsformen des Kleinkindes in die Organisationen der lokalen Funktionsbereiche. Dass das Kleinkind als sich noch entwickelnde Person dabei in unterschiedlicher Form als relevante Adressstelle berücksichtigt wird, haben wir herauszuarbeiten versucht. So wird es im Familiensystem, wenn dieses nicht zu einem dauerhaften Konfliktsystem mutiert, tendenziell bereits wie eine Vollperson behandelt, wenn auch noch nicht als gleichberechtigt aufgrund der Erziehungsfunktion mit der Absicht der Personenveränderung. Demgegenüber wird es aus bestimmten Organisationen der lokalen Funktionsbereiche exkludiert, da es noch nicht über die entsprechenden persönlichen Fähigkeiten zur Rollenübernahme verfügt –exemplarisch gilt dies für die primäre Leistungsrolle. Schließlich übernimmt es zwar bereits einige der Laienrollen hinsichtlich der Organisationen der lokalen Funktionsbereiche, wird dabei aber mit Ausnahme der pädagogischen Angebote, wie Kinderkrippen oder Tagesmütter, von einem Elternteil, hauptsächlich der Mutter, begleitet. Dies deshalb, weil das Kleinkind weder über die Fähigkeiten noch über die Ressourcen verfügt, um die mit den Laienrollen verknüpften Erwartungen als autonome Person voll erfüllen zu können. Es wird dann teilweise auch zur Unperson, die aus der funktionsspezifischen Kommunikation ausgeschlossen wird, indem in seiner Gegenwart über es und nicht mit ihm gesprochen wird –wenn z.B. die Verkäuferin die Mutter statt die sie begleitende Tochter fragt, ob diese ein Stück Wurst bekommen darf.
8.3 Zur Exklusion in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft 8.3.1
Einleitung
In einem ersten Schritt werden wir in stark geraffter Form einige zentrale Strukturmerkmale der Exklusion in den Peripherieregionen der Weltgesellschaft darstellen. In einem zweiten Schritt werden wir Exklusion mit der Skizze einer systemischen Theorie der Abweichung verknüpfen. Schließlich werden wir, zusätzlich zum bereits thematisierten lokalen Exklusionsbereich der sozialen Brennpunkte, totale Institutionen und Mobbing am Arbeitsplatz als weitere Manifestationsformen der Exklusion erörtern.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
8.3.2
Exklusion In den Peripherieregionen der Weltgesellschaft
Bevor wir die Exklusion in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft betrachten, wollen wir in vergleichender Perspektive im Hinblick auf den globalen Kontext einige wenige Anmerkungen voranstellen. Dass sich heute die Weltgesellschaft als umfassendes Sozialsystem durchgesetzt hat (vgl. Luhmann 1975e; Luhmann 1995b; Luhmann 1997b, Bd.1, 145ff.; Stichweh 2000), bedeutet nicht, dass die Eigendynamik der Funktionssysteme alle Regionen der Weltgesellschaft in gleichem Tempo durchdrungen hat. Vielmehr müssen wir eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in dem Sinne unterstellen, dass die Regionalgesellschaften der Weltgesellschaft, speziell ihre Nationalstaaten, der Eigendynamik der Funktionssysteme mit unterschiedlichen, historisch bedingten Möglichkeiten und Restriktionen begegnen können. Man denke in diesem Kontext nur an die verschieden erfolgte Entkolonialisierung in der Dritten Welt, die Folgeprobleme des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums, die Beendigung des Kalten Krieges oder die religiös motivierten fundamentalistischen Bewegungen in vorwiegend islamischen Regionen der Weltgesellschaft. All dies hat dazu geführt, dass es in der sogenannten Dritten Welt, aber auch in Teilen der sogenannten Zweiten Welt nach wie vor dramatische Formen der sozialen Ungleichheit gibt, die sich massiv von denen der Modernisierungszentren unterscheiden und auf ihr mehr oder weniger starkes Scheitern der Modernisierung verweisen. Am deutlichsten sichtbar wird dies anhand der Differenz von Inklusion und Exklusion hinsichtlich der Funktionssysteme (vgl. Luhmann 1995e; Hohm 2016, 155ff.; Hohm 2023). Während die Mehrheit der Gesamtbevölkerung in den Modernisierungszentren in jene inkludiert und eine (wachsende) Minderheit aus ihnen exkludiert ist, gilt für die peripheren Regionen der Weltgesellschaft das Gegenteil. Hier ist eine Minderheit in sie inkludiert und die Mehrheit der Bevölkerung aus den jeweiligen Funktionssystemen exkludiert. Als Modernisierungsverlierer sind sie vom politischen System als Wähler ausgeschlossen, fehlt ihnen der Zugang zum Medizinsystem im Falle von Krankheit, wird ihnen vom Rechtssystem ein rechtsstaatliches Verfahren verwehrt, verhindert ihr Analphabetentum die Teilnahme am Bildungssystem, führt ihre Zahlungsunfähigkeit durch Erwerbslosigkeit und die Zerstörung lokaler landwirtschaftlicher Produktionsmöglichkeiten zu absoluter Armut und zum Verhungern, können sie nicht an den elektronischen Medien wie Internet teilnehmen etc. Mit anderen Worten: die Mehrheit der Gesamtbevölkerung dieser Regionen der Weltgesellschaft wird durch Mehrfachexklusion aus den jeweiligen Funktionssystemen ausgeschlossen – was in eklatantem Kontrast zur Inklusion der jeweiligen privilegierten Minderheit der dortigen Bevölkerung steht (vgl. Luhmann 1995e, 261). Ihr Exklusionsbereich manifestiert sich in Formen, die sich von den noch zu besprechenden der Modernisierungszentren gravierend unterscheiden. Erstens unterscheidet er sich im quantitativem Ausmaß der Exkludierten, sprich der Anzahl derjenigen Personengruppen, die aus den jeweiligen Funktionssystemen exkludiert werden. Es handelt sich um eine Anzahl, die beinahe eine Milliarden Personen betrifft (vgl. OPHI/UNDP 2021, 4ff.). Zweitens unterscheidet er sich nach dem Grad der Risiken hinsichtlich des Körpers und der Psyche der Exkludierten und ihrer kommunikativen Achtung als Personen. Man
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denke nur an die verbreitete Kindersterblichkeit, die Diffusion von Aids oder die Bedrohung und Verfolgung von politisch Oppositionellen (vgl. Luhmann 1995e, 263). Drittens unterscheidet er sich bezüglich der Wohnquartiere, welche als prekäre Unterkünfte die Form von Slums mit minimalsten Infrastrukturleistungen bezüglich elementarer Versorgungsmöglichkeiten annehmen. Viertens unterscheidet er sich hinsichtlich der wohlfahrtsstaatlichen und sonstigen Formen der Hilfe, die zum Teil durch korrupte politische Regime an ihrer Durchführung gehindert werden. Und schließlich unterscheidet er sich im Hinblick auf die selbstorganisierten Formen des Überlebens, bei denen eine hohe Negativintegration durch körperbetonte Selbstbehauptungsstrategien der Gewaltkriminalität, Prostitution, des Bettelns etc. dominiert (vgl. Luhmann 1995e, 259).
8.3.3
Exklusion in Modernisierungszentren und Skizze einer systemischen Theorie der Abweichung
8.3.3.1. Grenzen der normativen Theorien der Abweichung Die neuere Systemtheorie hat bis dato keine umfassende Theorie sozialer Abweichung vorgelegt (vgl. Hinweise dazu Luhmann 1972, 121ff.; Luhmann 1997b, Bd.1, 27ff.). Dies hängt erstens damit zusammen, dass sie im Unterschied zu normativen Theorien der Gesellschaft Normen und Werte nicht mehr als die zentralen Grundbegriffe einer hinreichend komplexen Gesellschaftstheorie betrachtet (vgl. Luhmann 1984, 312ff. u. 444). Zum Zweiten sieht sie nicht, wie die heutige funktional differenzierte Weltgesellschaft allein durch Normen integriert werden könnte. Einerseits spricht dagegen, dass die Weltgesellschaft im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften weder eine Spitze noch ein Zentrum kennt, welche diese Normen, legitimiert durch Moral, Religion und Naturrecht, dekretieren und für alle Funktionssysteme durchsetzen könnten. Andererseits generiert die Ausdifferenzierung einer Mehrzahl von Funktionssystemen binäre Codes, welche ihre je spezifische Kommunikation an einem Positivwert und Negativwert orientieren, die den Bezug an Normen weitgehend substituiert. Integriert bzw. verbunden werden die Funktionssysteme nicht mehr durch gemeinsame Normen, sondern durch strukturelle Kopplungen (vgl. Luhmann 1997b, Bd.2, 779ff.). welche die Selektionsfreiheiten der Funktionssysteme wechselseitig beschränken. So z.B. das politische und Rechtssystem durch die Verfassung, das Wirtschaftssystem und Rechtssystem durch Eigentum und Vertrag, das Wirtschaftssystem und Krankheitssystem durch Krankschreibung, das Erziehungs- und Ausbildungssystem sowie Wirtschaftssystem durch Zertifikate etc. Drittens kommt hinzu, dass es die Funktionssysteme mit dem Risiko einer unbestimmten Zukunft zu tun haben, deren unerwartbare Überraschungen und Unsicherheiten sich immer weniger durch Normen in Bestimmtheit überführen lassen. Sind diese doch an generalisierte Erwartungen gebunden, die bereits wissen, wie gehandelt werden soll und auf Enttäuschungen lernunwillig reagieren (vgl. Luhmann 1984, 436ff.). Viertens tendiert eine Reduktion auf Normen dazu, die Gesellschaft mit dem Recht oder Rechtssystem gleichzusetzen, was eine Überschätzung dieses Teilsystems und sei-
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ner Funktion und Leistungen impliziert. Eine Überschätzung, die auch auf diejenigen klassischen Theorien der Abweichung zutrifft, welche das Verhalten von Personen und Personengruppen anhand der Differenz von (Normen-)Konformität und Abweichung beobachten und bewerten. Für die Differenz von Inklusion und Exklusion bedeutet dies, dass erstere mit Wertekonformität und letztere mit Werteabweichung in unterschiedlichen Verhaltensvarianten gleichgesetzt wird. Dazu passt exemplarisch Mertons (1996, 139 [1938]) Formulierung im Kontext seiner Anomietheorie: »To the extent that a society is stable, adaptation type I – conformity to both cultural goals and institutional means – is the most common and widespread. Where this not so, the stability and continuity of the society could not be maintained. The mesh of expectancies constituting every social order is sustained by the modal behavior of its members representing conformity to the established, though secularly changing, cultural patterns. It is, in fact, only because behavior is typically oriented toward the basic values of the society that we can speak of a human aggregate as comprising a society. Unless there is a deposit of values shared by interacting individuals, there exist social relations, if the disorderly interactions may be so called, but no society.« Merton (ebd., 139) stellt dementsprechend der Konformität innovation, ritualism, retreatism und rebellion als »modes of individual adaption« gegenüber, die unterschiedlichen Formen abweichenden Verhaltens entsprechen, je nachdem, ob sie die cultural goals oder institutionalized means bejahen oder negieren.
8.3.3.2 Systemtheorie der Abweichung Ersetzt man eine normative durch eine systemisch autopoetisch verfahrende Gesellschaftstheorie, ist es möglich, eine umfassende soziologische Theorie der Abweichung zu formulieren (vgl. erste Ansätze dazu Hohm 2016, 172ff.). In einem ersten Schritt bedeutet dies, dass man die funktionssystemspezifischen Codes und ihre jeweiligen Negativwerte zum Ausgangspunkt der Beobachtung macht. Im Kern geht es dabei um die negative Selektion von kommuniziertem Handeln und Erleben, die Personen und Personengruppen als Adressstellen der Funktionssysteme zugerechnet wird. Die Negativwerte der Codes Unrecht, Zahlungsunfähigkeit, organische und psychische Krankheit, Behinderung, Suchtabhängigkeit, Pflegebedürftigkeit, Lernunfähigkeit, Opposition, ungeliebt, unwahr, Niederlage, Andersgläubigkeit, ausländisch, hässlich etc. sind in diesem Kontext insofern von Relevanz, als ihre entscheidungsabhängige Zuschreibung auf Personen und Personengruppen das Risiko ihrer Exklusion ab einem gewissen Schwellenwert erhöht. 8.3.3.2.1 Exkurs zum Moralcode Bevor wir darauf im nächsten Abschnitt genauer eingehen werden, wollen wir kurz einen Exkurs zum Moralcode einschieben, den wir bis dato ausgeklammert haben (vgl. Luhmann 1989a; Luhmann 1990c; Luhmann 1997b, Bd.1, 396ff.). Dieser ist insofern von Relevanz, als ihn zum einen einige klassische Theorien der Abweichung mehr oder weniger explizit voraussetzten. Man denke nur an Erving Goffmans Buch Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität (1970/1961), in dem
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die kommunikative Gefährdung und Aufrechterhaltung der Achtung von diskreditierten und diskreditierbaren Personen eine zentrale Rolle spielt. Oder an Howard Beckers Buch Außenseiter (1963), in dem moralischen Unternehmern eine wichtige Funktion für die Erzeugung abweichenden Verhaltens zukommt. Und zum anderen ist der Moralcode auch deshalb von Bedeutung, weil er bestimmte Differenzen zu den funktionssystemspezifischen Codes aufweist. Ausgangspunkt unserer Darstellung ist die systemtheoretische Prämisse, dass die Moralkommunikation im Unterschied zu Theorien der Ethik, die sich auf der Seite des Guten ansiedeln und die integrative Funktion ihrer moralischen Imperative betonen, oft polemogen, sprich streitauslösend, wirkt (vgl. Luhmann 1989a, 370; Luhmann 1990c, 26). Deutlich wird dies daran, dass Moralkommunikation die ganze Person bei Themen engagiert, bei denen die Differenz von gutem oder schlechtem Verhalten bzw. guter oder böser Gesinnung auf dem Spiel steht. Im Zentrum steht das Problem der Achtung/ Missachtung oder Verachtung der ganzen Person oder ganzer Personengruppen und nicht nur der Respekt für einzelne ihrer Leistungen (vgl. Luhmann 1989a, 365; Luhmann 1997b, Bd.1, 397). Hinzu kommt, dass, da es kein Funktionssystem der Moral gibt, welches sich exklusiv am Moralcode gut/schlecht orientiert, mit Moralkommunikation jederzeit im Alltag begonnen werden kann (vgl. Luhmann 1997b, Bd.1, 401). Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass bei ihr kein Selbstausschluss möglich ist. Derjenige, der ein Verhalten als gut bewertet, muss die von ihm mitgeteilten Achtungsbedingungen des Verhaltens auch für sich selbst gelten lassen (vgl. Luhmann 1989a, 366). So kann ich nicht einen Kunden auf die Ausbeutungsverhältnisse, unter denen Bananen in Südamerika hergestellt werden, aufmerksam machen und diese dann in seiner Gegenwart kaufen. Und ich kann nicht meine Kinder ermahnen, Menschen, unabhängig von ihrer Rasse, als gleichwertig zu achten, und ihnen gleichzeitig Witze über Ausländer erzählen. Des Weiteren kann ich in einer Gesellschaft mit pluralen Moralvorstellungen nicht wissen, wenn ich mit der Moralkommunikation beginne, ob mein Gegenüber die gleiche Moralauffassung teilt. Moralkommunikation tendiert damit oftmals dazu, falls die Beteiligten nicht reflektiert und tolerant genug sind, in eine Konfliktkommunikation überzugehen, in der die Achtung der ganzen Person wechselseitig auf dem Spiel steht. Ja sie kann im Falle größerer Personengruppen, die dem Gesetz des Wiedersehens in Wohnquartieren, der Kooperation in Organisationen der Arbeit oder der Politik unterworfen sind, die Form von dauerhaften Konfliktsystemen annehmen, die sich zunehmend auf alle Lebensbereiche und Rollen der Beteiligten ausdehnen. Im Grenzfall etabliert sich dann ein Freund/Feindschema, bei dem man sich selbst jeweils auf der Seite des Guten und die anderen auf der Seite des Bösen wähnt (vgl. Messmer 2003; Hohm 2016, 68ff.). Moralkommunikation inkludiert in diesen Fällen nicht mehr die Personen und Personengruppen, sondern führt zur wechselseitigen Verachtung, welche die entsprechenden Personen entweder kommunikativ oder durch Gewalt exkludiert. Dies ist u.a. das Thema von Norbert Elias und Norbert Scotsons Buch Etablierte und Außenseiter (1990), das die Dynamik von Einheimischen und Zugereisten innerhalb einer englischen Stadt untersucht.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
Als Fazit unseres Exkurses können wir also festhalten, dass Exklusion von Personen und Personengruppen auch durch Moralkommunikation zustande kommen kann, indem sie diesen die Achtung entzieht und zu verachteten Unpersonen werden lässt (vgl. dazu Luhmann 1995d, 149). Dass das Moralschema Achtung/Missachtung oder Verachtung besonders dann einrastet, wenn bestimmte Irritationen des Verhaltens, Erlebens oder der äußeren Erscheinung von Personen oder Personengruppen wahrgenommen werden, wollen wir an dieser Stelle ebenfalls festhalten. Wichtig ist schließlich, dass die funktionssystemspezifischen Codes – über das bereits Gesagte hinaus – dadurch gekennzeichnet sind, dass sie zum Moralcode auf Distanz gehen (vgl. Luhmann 1997b, Bd.1, 371). Damit ist gemeint, dass mit der oben erwähnten Zuschreibung des Handelns, Erlebens oder der Erscheinung von Personen oder Personengruppen zum Negativwert des Codes im Normalfall nicht auch ihre moralische Etikettierung als Unperson(en) einhergeht. 8.3.3.2.2 Respezifikation der Codes durch Gradualisierung ihres Negativwertes mittels Entscheidungsprogrammen und ihre Exklusionsfolgen Da die funktionssystemspezifischen Codes formal, invariant und inhaltsleer bzw. unentschieden sind, muss die dadurch induzierte Ungewissheit der funktionssystemspezifischen Kommunikation in Sicherheit oder Gewissheit transformiert werden. Dazu bedarf es Entscheidungsprogramme (vgl. Luhmann 2000a, 256ff.). Deren Funktion ist es, das Handeln, Erleben oder die Erscheinung von Personen oder Personengruppen nach bestimmten Kriterien den Codewerten zuzuordnen, die eine Beobachtung und Bewertung der Entscheidungen anhand von richtig oder falsch ermöglichen. Das geschieht durch die Organisationen als Entscheidungssysteme der Funktionssysteme. Die folgenreiche Exklusion von Personen und Personengruppen aus Funktionssystemen und/oder ihren Organisationen ist dementsprechend das Resultat programmspezifischer Entscheidungen. Organisationen erzeugen somit, neben den Positivkarrieren durch Inklusion, immer auch Negativkarrieren durch die andere Seite ihrer Form: die Exklusion. In der klassischen Theorie der Abweichung wurden diese Organisationen als Kontroll- und Sanktionsinstanzen bezeichnet (vgl. Becker 1981, 53ff.). Innerhalb ihres Personals dominieren die Professionen, die unterschiedlich eng mit anderen Berufsgruppen kooperieren. Man denke nur an die Politiker und Beamten im politisch-administrativen System (vgl. Hohm 1987), Ärzte und Pflegepersonal im System der Krankenbehandlung und-pflege (vgl. Hohm 2002) oder die Richter und Rechtspfleger im Rechtssystem. Die Komplexität der durch Professionen dominierten Organisationen unterscheidet sich in Abhängigkeit von der Anzahl der Stellen, dem Ausmaß der Subsystembildung und der damit einhergehenden Hierarchiebildung. Betrachtet man die Relation von Entscheidungsprogrammen und Exklusion genauer, so fällt zunächst auf, dass das Exklusionsrisiko im Sinne eines falschen Handelns oder Erlebens, das Personen oder Personengruppen durch die Entscheidungsprogramme zugeschrieben wird, graduell variiert. So unterscheidet die Mehrzahl der Entscheidungsprogramme hinsichtlich der Zuschreibung auf den Negativwert ihres Codes entlang der Differenz von leicht, schwer und schwerst. Programmspezifisch als leicht bewertete Feh-
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ler oder Defizite, sei es des Verhaltens, des Könnens, Erlebens oder Körperzustandes, implizieren somit im Normalfall ein geringeres Exklusionsrisiko als schwere und schwerste. Bagatellabweichungen/Normalabweichungen mit geringen Exklusionsrisiken Was zunächst Bagatellabweichungen betrifft, werden diese qua Grippe im Falle der somatischen Krankheiten oder eine Stresssituation im Falle einer psychischen Krankheit indiziert. Darüber hinaus zählen dazu eine schlechte Note in der Schule oder Hochschule, eine Verkehrswidrigkeit, vorübergehende Pflegebedürftigkeit, die temporäre Überziehung des Kreditrahmens des Girokontos, die verspätete Überweisung der Miete, eine Niederlage im Sportsystem, ein Verstoß gegen die liturgischen Rituale des Religionssystems, ein Fehlgriff bezüglich der Berufskleidung, ein derangiertes Äußeres nach einer durchzechten Nacht, ein Druckfehler bei einem journalistischen oder wissenschaftlichen Artikel etc. Deutlich wird in all diesen Fällen, dass die Entscheidungsprogramme die kommunikative Irritation durch die Adressaten als eine leichte im Unterschied zu einer schweren oder schwersten Abweichung beobachten und bewerten. Die Entscheider vermeiden deshalb auch eine Exklusion der betroffenen Personen aus den entsprechenden Funktionssystemen bzw. Organisationen oder beschränken sie nur auf eine kurze Zeit, wie im Falle der Grippe oder der Pflegebedürftigkeit. Negative Sanktionen, wenn es sie überhaupt gibt, fallen verhältnismäßig gering aus. Sie beinhalten geringfügige Geldstrafen, Korrekturen, Mahnungen oder Ermahnungen. Wenn wir die leichten Formen der Abweichung als Bagatellabweichung oder Normalabweichung bezeichneten, dann deshalb, weil sie im Kontext des Lebenslaufs tendenziell jede Person einmal begeht, ohne dass dies normalerweise mit weitreichenden negativen Konsequenzen für sie verbunden ist. Wichtig ist zudem, ob und wie das Systemgedächtnis der Organisationen diese Bagatell- oder Normalabweichungen als Informationen erinnert oder vergisst. Dies hängt von mehreren Faktoren ab: a) Ob es überhaupt organisationsspezifische Stellen, unabhängig vom psychischen System der Entscheider, gibt, welche die entsprechenden Vorfälle speichern oder nicht. Die Speicherung kann z.B. aus Gründen der Kostenabrechnung, der Beobachtung und Bewertung der zukünftigen Karriere der betroffenen Personen oder der monetären Kosten der Anzahl der Fälle für die Organisation von Bedeutung sein. b) Ob die Speicherung der Fälle rechtlich, z.B. aus Datenschutzgründen, zugelassen ist oder nicht. c) Inwieweit Organisationen Abweichungen zum Anlass für eigenes Lernen oder Nichtlernen nutzen.
Je nachdem, wie Organisationen mit leichten programmspezifischen Fehlern der Personen umgehen (können und dürfen), sind damit auch unterschiedliche Folgen für eine mögliche Exklusionskarriere verknüpft. So bleibt z.B. ein wiederholtes Halten im Parkverbot normalerweise ohne weitreichende Konsequenzen für die Entscheidungsbetroffenen, da es vom Systemgedächtnis der Organisationen nicht individuell zugerechnet und erinnert wird. Demgegenüber werden wiederholte schlechte Noten oder ein wieder-
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holtes Ausbleiben der Mietüberweisung vom Systemgedächtnis des Lehrers oder Prüfungsamtes bzw. dem Vermieter eher erinnert und können deshalb auch gravierendere Konsequenzen nach sich ziehen. Deutlich wird somit, dass unter bestimmten Voraussetzungen selbst leichte Abweichungen vom Entscheidungsprogramm, wenn sie sich wiederholen und den gleichen Personen durch das Systemgedächtnis der Organisationen zugerechnet werden können, deren Exklusionsrisiko erhöhen. Sachlich leichte Formen der Abweichung werden somit durch die Zeitdimension, nämlich ihre beobachtete und erinnerte Wiederholung, zu schweren Abweichungen. Als solche stellen sie ein funktionales Äquivalent für einzelne schwere und schwerste Abweichungen bzw. Fehler dar und können ebenso wie diese den Take-off für eine Negativ- bzw. Exklusionskarriere abgeben. Es erstaunt deshalb auch nicht, dass heute besonders Organisationen mit hochriskanten Aufgaben die Differenz von leichten und schweren Fehlern insofern einebnen, als sie wissen, dass das Ignorieren von leichten Fehlern zu schwersten Fehlern führen kann (vgl. Weick/Sutcliffe 2015). Schwere und schwerste Formen der Abweichung mit hohen Exklusionsrisiken Anders als die bisherigen Fälle der Normalabweichung sind diejenigen Zuschreibungen von Entscheidungsprogrammen zu sehen, die das Fehlverhalten bzw. fehlende Können, irritierende Erleben oder erratische Körperzustände von Personen und Personengruppen als schwere oder schwerste Formen der Abweichung beobachten und bewerten und daraufhin dem jeweiligen codespezifischen Negativwert zurechnen. Angeführt seien hier Schwer- und Schwerstkriminelle, Schwer- und Schwerstkranke, Schwer- und Schwerstpflegebedürftige, Schwer- oder Schwersterziehbare, Lernunfähige, Langzeitarbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Wohnungslose, Suchtabhängige, Überschuldete, Häretiker, Schwer- und Schwerstbehinderte, politische Extremisten etc. Bei ihnen handelt es sich um diejenigen Personenkategorien, die in den klassischen Theorien der Abweichung, sozialer Probleme und sozialer Ungleichheit den zentralen Fokus der sozialwissenschaftlichen Beobachtung darstellten. Von ihnen wurden und werden sie, je nachdem, als Außenseiter (vgl. Becker 1981; Merton 1996a; Elias/Scotson 1990), stigmatisierte Minderheiten (Goffman 1970), Problemgruppen, Randgruppen oder Randschichten (Fürstenberg 1965; Blahusch 1979) bezeichnet. Im Unterschied zu den vorhergenannten leichten Formen von Abweichung werden ihnen durch die organisations- und funktionssystemspezifischen Entscheidungsprogramme sowie Entscheider gesteigerte Formen der Abweichung bzw. von Fehlern zugerechnet, die zu mehr oder weniger dauerhaften Formen der Exklusion aus relevanten Organisationen und Funktionssystemen führen. Es erstaunt dementsprechend nicht, dass vor allem der Labeling-approach in der verbindlichen und folgenreichen Etikettierung durch die Kontrollinstanzen eine entscheidende Sequenz für die Dynamik und Stabilisierung von abweichenden Karrieren bzw. Exklusionskarrieren sieht (vgl. Becker 1981; Lamnek 2008, 223ff.). Indem nämlich die organisationsspezifischen Entscheider die angeführten Personenkategorien den Extrema des Negativwerts des jeweiligen funktionssystemspezifischen Codes programmspezifisch zuordnen, platzieren sie sie damit zugleich auf der anderen Seite der Form Person (vgl. Luhmann 1995d, 148–149). Wie sich an den erwähnten Semantiken der Personen ablesen lässt, werden sie dadurch in einem spezifischem
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Sinne zu Unpersonen. Die Funktion der Absorption von Unsicherheit, welche durch die Entscheidungsprogramme und ihre Entscheider für die Organisationen und Funktionssysteme erfüllt wird, wendet sich mithin gegen die entscheidungsbetroffenen Personen. Ihre Selbstdarstellung und ihr Handeln bzw. Erleben mit den entsprechenden Kognitionen und Motiven werden als nicht mehr kommunikativ anschlussfähig und vorzeigbar beobachtet und bewertet. Als Unpersonen verkörpern sie ein gesteigerte Risiko und damit eine Unsicherheit als Adressstellen der Kommunikation, deren Selbst- und Fremdgefährdungen sich die zentralen Organisationen und Funktionssysteme der Gesellschaft durch Exklusionsentscheidungen entledigen. Im Gegensatz zu den vormodernen Gesellschaften werden die solchermaßen zu Unpersonen gewordenen Individuen jedoch besonders in den Modernisierungszentren nicht mehr durch Tötung oder Verbannung endgültig aus der Gesellschaft exkludiert, sieht man einmal von der Todesstrafe in den USA ab. Stattdessen werden sie in unterschiedliche Exklusionsbereiche mit je spezifischen Formen der Kontrolle und selektiven strukturellen Kopplungen mit den primären Funktionssystemen und ihren Organisationen inkludiert. Bevor wir auf die diversen Exklusionsbereiche näher eingehen werden, sei noch erwähnt, dass sich damit auch die Formen der negativen Sanktion oder, allgemeiner gefasst, der negativen Selektion im Unterschied zu den leichteren Formen der Abweichung verändern. Sie variieren von der Entlassung aus einer Arbeitsstelle über die Ausweisung durch die Ausländerbehörden bis hin zum Abdriften in lokale Szenen bzw. Problemquartiere und der Einweisung in Asyle, Heime und Anstalten. Was schließlich das Systemgedächtnis der Organisationen der Funktionssysteme betrifft, so ist davon auszugehen, dass sie – eher als in den Fällen leichter Abweichung – durch extra dafür eingerichtete Subsysteme Statistiken über die o.g. Personen führen, sprich stärker für Erinnern als Vergessen optieren. Dass schließt es allerdings nicht aus, dass die entsprechenden Akten oder computergespeicherten Daten nach einiger Zeit gelöscht werden (müssen), oder dem Vergessen anheimfallen, wenn das Personal gewechselt hat oder das organisationsspezifische Interesse an ihrer Aktualisierung fehlt. Wie bereits erwähnt, geht es dabei nicht zuletzt auch um die rechtliche Zulassung der Aufbewahrung personenbezogener Daten. Diese variiert u.a. in Abhängigkeit von den aktuellen Datenschutzgesetzen und den Risiken, welche die o.g. Personengruppen aus der Sicht bestimmter Organisationen der Funktionssysteme, speziell des Staates, darstellen. Zudem ist anzunehmen, dass auch in Bezug auf die o.g. Personengruppen in bestimmten Fällen mit Wiederholung des entsprechenden riskanten Verhaltens oder Erlebens zu rechnen ist. Man denke nur an Wiederholungstäter im Falle schwerer und schwerster krimineller Taten, an die Drehtürpsychiatrie, Rückfälle des Drogenkonsums oder wiederholte Erwerbslosigkeit. Im Unterschied zu den leichteren Formen der Abweichung dürfte dies das Exklusionsrisiko, dem die betroffenen Personengruppen durch die Organisationsentscheider ausgesetzt sind, insofern erhöhen, als es deren Vertrauen in ihre Lernbereitschaft und -fähigkeit aufgrund ihrer jeweiligen Exklusionskarrieren reduziert.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
8.3.4
Exklusionsbereiche in den Modernisierungszentren
8.3.4.1 Totale Institutionen 8.3.4.1.1 Einleitung Wenn wir im Folgenden totale Institutionen als Exklusionsbereich in den Modernisierungszentren thematisieren (vgl. auch soziale Brennpunkte als weiteren, bereits von uns dargestellten Exklusionsbereich), gehen wir anhand eines Dreierschrittes vor. Ausgehend von Goffmans (1977/1961, 13ff.) klassischem Beitrag zu totalen Institutionen werden wir in einem ersten Schritt diese als Sonder- bzw. Randorganisationen der Funktionssysteme systemtheoretisch bestimmen. Im Anschluss daran werden wir in einem zweiten Schritt der generellen Frage nachgehen, welche spezifischen Probleme sich aus der Dynamik von Exklusionskarrieren in totalen Institutionen ergeben. Und schließlich werden wir in einem Fazit einige offenen Fragen aus systemtheoretischer Sicht behandeln, wie sie vor allem aus Goffmans Darstellung der totalen Institutionen resultieren. 8.3.4.1.2 Totale Institutionen als Sonder- bzw. Randorganisationen der Funktionssysteme Asyle, Heime und Anstalten, in der Wohlfahrtspflege auch stationäre Einrichtungen genannt (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013), lassen sich als einen von mehreren Exklusionsbereichen in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft bezeichnen. In Anlehnung an Goffman (1977, 17ff.) wollen wir sie totale Institutionen nennen. Wie das Attribut »total« bereits indiziert, gewinnen diese Organisationen ihre besondere Form durch die Totalinklusion von denjenigen Personen, die nicht zu ihrem angestellten Personal gehören (vgl. Goffman 1997, 18). Eine zentrale Voraussetzung dafür sind die bereits dargestellten programmierten Entscheidungen hauptsächlich von Professionellen als Ergebnis der Legitimation durch Verfahren (vgl. Luhmann 1975a). Durch diese werden die Personen zu Unpersonen bzw. riskanten Personen in dem Sinne, dass ihnen eine positive Selbstselektion als kommunikative Adressstelle der Funktionssysteme und Organisation, sprich eine verantwortliche Entscheidungsfreiheit, bindend abgesprochen wird. Die Exklusion aus ihnen und damit die Beschränkung ihrer Selektionsfreiheit, wann, wo und mit welchen Kommunikationsmedien sie sich als Personen inkludieren, ist mithin die andere Seite der Totalinklusion. Diese indiziert eine Form der Negativintegration der Personen durch die totalen Institutionen, welche ihre Selektionsfreiheiten drastisch einschränken. Räumlich wird ihre Bewegungsfreiheit im Normalfall auf das Territorium innerhalb der totalen Organisation reduziert; zeitlich ihr Tages- und Nachtrhythmus durch deren Eigenzeiten vorgegeben; sachlich entscheidet die totale Institution über ihre Themen und Aufgaben und sozial sind sie der Kontrolle und Beobachtung des Personals ausgesetzt. Darüber hinaus werden Umweltkontakte zu anderen Funktionssystemen und Organisationen kontrolliert und selegiert, wobei Interaktionen unter Anwesenden mit Personen der Umwelt nur innerhalb spezifischer Räume der totalen Institution stattfinden dürfen. Versucht man für die so total inkludierten Personen eine adäquate Semantik zu finden, so kann man ihren generalisierten Status in Anlehnung an Goffman (1977, 18ff. u.
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24ff.) als den von Insassen bezeichnen. Mit ihm wird besonders die räumliche Entkopplung von den Umweltsystemen durch Einschließung oder Wegschließung in totale Institutionen symbolisiert. Für moderne Gesellschaften, welche die Mobilität ihrer Personen als einen ihrer Präferenzwerte hochschätzen, man denke nur an das Verkehrssystem (vgl. Hohm 1997; Hohm 2016, 60ff.) oder den Tourismus, stellt die erzwungene Immobilität eine der stärksten negativen Sanktionen dar. Es überrascht von daher auch nicht, dass totalitäre Gesellschaftssysteme die Reisefreiheit ihrer Bevölkerung limitieren, weil sie kein Vertrauen in ihre freiwillige Rückkehr haben. Im Übrigen eine Parallele zu den totalen Institutionen, welche ihren Insassen offensichtlich auch misstrauen, würden sie doch sonst auf Sicherheitsvorkehrungen bezüglich ihres Umweltkontaktes verzichten. Zudem ist es ein Indiz für ihre bereits angesprochene Zuschreibung als Risikopersonen. Neben der Semantik des Insassen wird oftmals auch vom Masterstatus (vgl. Hughes 1945) in Bezug auf die total inkludierten Personen gesprochen. Gemeint ist damit, dass ihre Rollenkomplexität auf ihren je spezifischen Insassenstatus reduziert wird. Festzuhalten bleibt schließlich, dass die semantische Bezeichnung als Insasse oder Masterstatus das Resultat einer Exklusionskarriere ist. Zu deren Dynamik gehört im Normalfall nicht nur die Fremdselektion bzw. Fremdentscheidung durch Organisationen, sondern auch die Selbstselektion und Selbstentscheidung der betroffenen Personen. Wird diese als nicht mehr vorhanden unterstellt, werden andere Personen als Entscheider eingesetzt. Bevor wir auf die Dynamik von Exklusionskarrieren in totalen Institutionen genauer eingehen werden, wollen wir an dieser Stelle kurz voranschicken, bezüglich welcher Gesichtspunkte wir uns in unserer Darstellung von Goffman unterscheiden. Erstens: Im Unterschied zu Goffman klammern wir diejenigen totalen Institutionen aus unserer Betrachtung aus, die, wie Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager, im Kontext totalitärer Gesellschaftssysteme vorkommen (vgl. Goffmans 1977 dritten Typ von totalen Institutionen, 16). Ihre Spezifika sehen wir vor allem darin, dass ihre Entscheidungsprogramme den bewussten Tod der Insassen mit einkalkulieren. Ihre Totalinklusion darüber hinaus auf Verfahren basiert, deren Legitimation mit Menschen- bzw. Grundrechten der Entscheidungsbetroffenen massiv konfligiert. Und schließlich ihre organisationsspezifischen Abläufe externe Kontrollen im Hinblick auf die organisch-psychische Integrität der Insassen durch neutrale Dritte weitgehend ausschließen. Zweitens: Im Unterschied zu Goffman blenden wir auch diejenigen totalen Institutionen aus, denen er, wie Militärkasernen, Internaten und Schiffen, entweder die Funktion eines organisatorischen Settings zuschreibt, welches bestimmte Arbeitsaufgaben unter besonderen Bedingungen besser zu lösen in der Lage ist, oder die Möglichkeit einer Weltflucht bzw. eines Zufluchtsortes attribuiert, wie im Falle der Klöster (vgl. Goffmans 1977 vierten und fünften Typ totaler Institutionen, 16). In gewisser Weise kann man die genannten totalen Institutionen auch als Eliteorganisationen bezeichnen, zu denen man heute ebenfalls Raumschiffe der NASA, bestimmte, von der Umwelt für längere Zeit isolierte Forschungslabors, private Colleges oder Sportinternate hinzunehmen kann. Typisch für sie ist u.a. die freiwillige Selbstexklusion durch Totalinklusion der Insassen, spezifische Aufnahmeverfahren, eine Organisationskultur, welche funktionssystemspe-
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zifische Spitzenleistungen prämiert und deshalb mit einem positiven Image in ihrer systemexterne Umwelt korrespondiert. Drittens: Im Unterschied zu Goffman gehen wir davon aus, dass es sich bei den uns im Folgenden interessierenden totalen Institutionen um Sonderorganisationen im Sinne von Randorganisationen der Funktionssysteme handelt. Zwar berücksichtigt Goffman auch einige von ihnen, benutzt jedoch Semantiken wie »Irrenhaus« oder »Armenasyle,« die heute obsolet geworden sind. Sie inkludieren, ebenso wie die vorher erwähnten Eliteorganisationen, nur eine Minderheit der Gesamtbevölkerung. Im Gegensatz zu jenen wird diese inkludierte Minderheit allerdings von der Mehrheit der Bevölkerung eher verachtet oder ausgeblendet, da sie sich in Organisationen aufhält, die als extrem stigmatisierend bewertet werden. Viertens: Im Unterschied zu Goffman respezifizieren wir die Insassenrolle oder den Masterstatus, indem wir sie auf den jeweiligen dominanten Code der totalen Institution beziehen. Ihre Funktion als Sonder- bzw. Randorganisationen der jeweiligen Funktionssysteme wollen wir anhand folgender Beispiele verdeutlichen: Die Gefängnisse bzw. Vollzugsanstalten des Rechtssystems und der Insasse als Strafgefangener Als Sonderorganisationen des Rechtssystems können sie deshalb gelten, weil sie sich – wie die Gerichte – primär am Rechtscode Recht/Unrecht kommunikativ orientieren. Anders als die Gerichte reproduzieren sie sich jedoch nicht über Gerichtsverfahren, an deren Ende letztlich die Entscheidung über Fortsetzung der Inklusion oder Exklusion anhand von Rechtsprogrammen in Form des Strafrechts steht. Ihre Rechtsprogramme basieren stattdessen auf dem Vollzugsgesetz, das die kommunikative Reproduktion der Totalinklusion der als Strafgefangene bezeichneten Insassen im Vollzug regelt. Dabei lässt sich eine strukturelle Kopplung zwischen Gerichten und Vollzugsanstalten in der Form beobachten, dass die Entscheidungen über Hafterleichterung, der Möglichkeit des offenen Vollzugs oder vorzeitiger Entlassung durch die Gerichte an die Inklusion in die Vollzugsanstalt und die Beurteilung ihres Personals gebunden sind (vgl. Ziemann 1998). Die psychiatrische Fachkliniken und Suchtkliniken des Medizinsystems bzw. Behinderteneinrichtungen des Rehabilitationssystems und der Insasse als psychisch Kranker, Suchtkranker und Behinderter Als Sonderorganisationen des Medizinsystems und Rehabilitationssystems wollen wir sie deshalb bezeichnen, weil sie sich – wie die ambulanten Praxen, allgemeinen Krankenhäuser und Tagesstätten der Behinderten – primär am Medizincode organisch bzw. psychisch krank/gesund (vgl. Luhmann 1990b) oder am Rehabilitationscode behindert/nichtbehindert kommunikativ orientieren. Im Gegensatz zu jenen reproduzieren sie sich jedoch nicht durch temporär begrenzte Formen des Krankschreibens oder der Feststellung von leichten Graden der Behinderung in Kooperation mit den Versicherungsanstalten. Vielmehr orientieren sie sich kommunikativ an total inkludierten Insassen, die schwere und schwerste Krankheiten, Süchte und Behinderungen aufweisen. Ihre Entscheidungsprogramme divergieren dementsprechend auch hinsichtlich der Anamnese, Diagnose und der geringeren oder hoffnungslosen Aussichten auf erfolgreiche Therapie- und Rehabilitationsmöglichkeiten.
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Auch hier lässt sich eine strukturelle Kopplung in der Form beobachten, dass die Totalinklusion in die Sonderorganisationen an Über- bzw. Einweisungen durch das medizinisch-psychiatrische Personal der vorgelagerten Organisationen und der Versicherungsanstalten gebunden ist. Ob eine Reinklusion bzw. Exklusion der Insassen möglich ist, hängt dann vor allem von den Entscheidungen des Personals der Sonderorganisationen ab. Die Erziehungsheime des Erziehungssystems und der Insasse als Schwererziehbarer Um Sonderorganisationen des Erziehungssystems handelt es sich deshalb, weil sie sich – wie die Haupt-, Realschulen und Gymnasien – primär am pädagogischen Code vermittelbar/nicht vermittelbar bzw. seinem Selektionscode besser/schlechter orientieren (vgl. Luhmann 2002, 67ff.). Ihre Besonderheit gewinnen die Erziehungsheime dadurch, dass ihre pädagogischen Programme im Unterschied zu denen des allgemeinen Schulsystems auf Schüler als Insassen zugeschnitten sind, die an dessen Kriterien scheiterten. Auch hier lässt sich eine strukturelle Kopplung des allgemeinen Schulsystems und der Erziehungsheime durch programmspezifische Exklusionsentscheidungen von Pädagogen und Schulpsychologen mit der Folge der Totalinklusion von schwer erziehbaren Schülern beobachten. Dabei spielt die Bewertung des elterlichen Verhaltens insofern eine wichtige Rolle, als es sich bei der mit der Totalinklusion verknüpften Fremdplatzierung um einen massiven Eingriff in ihre Erziehungsrechte handelt. Zugleich unterscheidet sich die Totalinklusion der Schwererziehbaren durch ihre lebensphasenspezifische Begrenzung auf das Jugendalter von den bis dato angeführten Sonderorganisationen. Relativieren lässt sich diese Aussage allerdings dann, wenn wir den Jugendvollzug und die Jugendpsychiatrie mit einbeziehen. Die Altenpflegeheime des Pflegesystems und der Insasse als Schwer- und Schwerstpflegebedürftiger Altenpflegeheime orientieren sich – wie die ambulante, teilstationäre und stationäre Krankenpflege – am Pflegecode pflegefähig/pflegeunfähig bzw. pflegebedürftig/der Pflege nichtbedürftig (vgl. Hohm 2002, 141ff.) Im Unterschied zu diesen Organisationen des Pflegesystems erhalten sie ihren Sonderstatus als Altenpflegeheim (vgl. Koch-Straube 1997) jedoch dadurch, dass die zu pflegenden Personen aus jenen durch Pflegeprogramme exkludiert wurden, weil sie gemäß ihrer Kriterien als schwer bzw. schwerstpflegebedürftig eingestuft wurden. Ihre Totalinklusion basiert mithin auf der strukturellen Kopplung mit den allgemeinen Organisationen des Pflegesystems, aus denen sie durch Entscheidungsprogramme des Pflegepersonals bzw. medizinischen Dienstes exkludiert und in die Altenpflegeheime überwiesen wurden. Wir wollen mit diesen Beispielen unseren selektiven Überblick über einige Sonderbzw. Randorganisationen der Funktionssysteme beenden. Dabei wollen wir jedoch nicht unerwähnt lassen, dass wir zu ihnen u.a. auch Asylantenheime für politisch nicht anerkannte Ausländer, bestimmte Vollzugsanstalten für Terroristen, Wohnheime für Wohnungslose zählen.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
8.3.4.1.3 Zur Dynamik von Exklusionskarrieren in totalen Institutionen Typisch für totale Institutionen ist eine Komplementarität von Erwerbskarrieren des Personals, das durch Zuordnung zu Stellen und durch Wechselschichten raumzeitlich sequenziell in sie inkludiert ist, und von Exklusionskarrieren der Insassen, die durch Zuordnung zu Plätzen, Zellen, Betten etc. raumzeitlich total bzw. umfassend in sie inkludiert sind. Ihre Form gewinnen die Exklusionskarrieren durch eine Kombination von Fremd- und Selbstselektion (vgl. generell zum Karrierebegriff Luhmann 1989b, 232ff.; Luhmann 2000a, 101ff.; Hohm 2002, 89ff.; Hohm 2016, 216ff.; Hohm 2020, 129ff.), welche mit den Aufnahmeverfahren beginnt, ihre Eigendynamik durch die vorgesehene Dauer der Totalinklusion erhält und ihren Abschluss durch die Entlassung. Goffman (1977, 25) spricht in diesem Zusammenhang von einer moralischen Laufbahn bzw. moralischen Karriere (ebd., 65) der Insassen, ohne diese Begriffe näher zu explizieren. Im Anschluss an unseren Exkurs zur Moralkommunikation können wir den Begriff der moralischen Karriere in der Form präzisieren, dass Goffman mit ihm vor allem die asymmetrische kommunikative Dynamik von Achtungsbedingungen beschreibt, welche die Selbstachtung der Insassen gefährden. Durch welche Merkmale der totalen Institutionen und kommunikative Strategien des Personals (=Fremdselektion) die Selbstachtung der Insassen attackiert wird, ob sie zur intendierten Personenveränderung führen oder nichtintendierte Formen der Selbstanpassung (=Selbstselektion) erzeugen, lässt sich als das zentrale Thema Goffmans rekonstruieren. Diesem wollen wir uns im Folgenden anhand der Darstellung der oben erwähnten Dynamik bzw. Sequenz der Exklusionskarrieren in totalen Institutionen zuwenden. Dabei werden wir uns im Wesentlichen auf Goffmans Darstellung der »Welt der Insassen« (vgl. ebd., 24–77) beschränken, die er der »Welt des Personals« (vgl. ebd., 78–94) gegenüberstellt. Selektiv werden wir auch seine Erörterung der »Anstaltszeremonien« (vgl. ebd., 95–112) berücksichtigen. a) Aufnahmeprozeduren als Prozesse der Demütigung Typisch für die Exklusion durch Inklusion in totale Institutionen sind nach Goffman Aufnahmeprozeduren, die auf Entscheidungsprozessen basieren, welche zu unterschiedlichen Formen der Demütigung der neu eingewiesenen Insassen führen, indem sie deren bisherige Identität attackieren oder ihnen ihre gewohnte Identitätsausrüstung entziehen. Goffman verdeutlicht dies u.a. anhand folgender Merkmale der Aufnahmeprozeduren (ebd., 25ff.): •
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Mit dem Eintritt in die totale Institution wird das persönliche Eigentum an Sachen der Insassen weitgehend durch das der Organisation ersetzt. Die Möglichkeit, sich durch jenes zu individualisieren, wird somit durch die Institution gekappt. Besonders einschneidend ist dies für die selbstselektive Darstellung mittels des persönlichen Outfits, das durch die Anstaltskleidung entpersönlicht und uniformiert wird (ebd., 29). Hinzu kommen die Prozeduren der körperlichen und persönlichen Identifikation der Insassen. Die damit einhergehenden Kontrollen des Personals können im ersten Fall die körperliche Bloßstellung durch totale Entkleidung einschließen (ebd., 29). Und im zweiten Fall die Aufforderung zur Mitteilung biographischer Daten zwecks
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Anlegung eines persönlichen Dossiers implizieren, die der Betroffene normalerweise nicht preisgeben würde (ebd., 33–34). Des Weiteren werden die individuellen räumlichen Rückzugsmöglichkeiten und das persönliche Territorium beschnitten. Anstelle der Wohnung und der daran gekoppelten Privatsphäre tritt der Aufenthalt in Zellen, Zimmern oder Unterkünften, welcher durch die körperliche Anwesenheit von Mitinsassen und die weitgehende Kontrolle des Personals gekennzeichnet ist (ebd., 29). Zudem wird die gewohnte individuelle Adressierung durch Eigennamen nicht selten durch respektlose und provokative neue Namensgebung von Seiten des Personals und/oder älterer Mitinsassen unterlaufen (ebd., 29). Schließlich wird die Ehrfurchtserbietung gegenüber dem Personal rituell erzwungen, selbst und gerade dann, wenn dieses dem Neuankömmling die entsprechende Achtung verweigert (ebd., 32).
Zusammengefasst stellen die Aufnahmeprozeduren somit einen radikalen Bruch mit der systemexternen Vergangenheit vor allem von denjenigen Personen dar, die derartige Attacken auf ihr Selbst bis dato nicht kannten. Durch sie werden ihnen von Anfang an die vertrauten Möglichkeiten der persönlichen Selbstselektion in mehreren Hinsichten stark beschnitten. Ihre Selbstachtung transformiert sich in kommunikative Missund Verachtung durch die Aufnahmeprozeduren der Institution und des Personals. Sie werden tendenziell zu Unpersonen, denen ihr systeminterner niedriger Status durch Takt- und Schamlosigkeit sowie Entindividualisierung ihrer Identitätsausrüstung mittels standardisierter und unpersönlicher Anstaltsausrüstung kommunikativ vermittelt wird. Die mehr oder weniger manifeste Funktion der Aufnahmeprozeduren, die Goffman auch als »Trimmen« bzw. »Programmierung« bezeichnet (ebd., 27), besteht dementsprechend darin, den Insassen von Beginn an klarzumachen, dass sie es zukünftig mit einer Sonderwelt zu tun haben, die sich von ihrer bisherigen Welt gravierend unterscheidet. b) Spezifika der Exklusionskarriere während des Aufenthaltes in totalen Institutionen Goffmans Beschreibung der weiteren Dynamik der Exklusionskarrieren in totalen Institutionen lässt sich anhand folgender Aspekte rekonstruieren: Zusätzliche organisationsspezifische Demütigungsprozesse, das organisationsspezifische Privilegiensystem als selektive Möglichkeit der persönlichen Reorganisation der Insassen, Formen der individuellen Selbstanpassung der Insassen und die Ambivalenz der Entlassung. Die durch die Aufnahmeprozeduren eingeleitete Erzeugung einer organisationsspezifischen Sonderwelt lässt sich an weiteren Demütigungsprozessen ablesen, denen die Insassen während ihres Aufenthaltes in totalen Institutionen ausgesetzt sind. Demütigungsprozesse als Verletzung und Erniedrigung des Selbstes der Insassen Sie werden durch Vorschriften, Anordnungen und Aufgaben induziert, welche sich erstens auf bestimmte demütigende Posen ihres Körpers beziehen, z.B. Speisen nur mit Löffeln zu essen (ebd.,31). Zum Zweiten von ihnen ehrfurchtgebietende Adressierungen des Personals, trotz dessen erniedrigender Behandlung, verlangen, z.B. die Anrede »mein Herr« (ebd., 32). Und schließlich das Erdulden von erniedrigender Selbstadressierung
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durch obszöne Namen von Seiten des Personals oder der Mitinsassen implizieren (ebd., 32). Gemeinsam ist diesen Demütigungsprozessen, nach Goffman, die erzwungene Präsentation eines Verhaltens der Insassen, welches mit ihrer Selbstachtung unvereinbar ist. Im Grenzfall kann dies zur Übernahme von desidentifizierenden Rollen führen, wie dies z.B. im Falle der Absenz von heterosexuellen Kontakten gegeben ist (ebd., 33). Verletzungen der Grenze, die Individuen normalerweise zwischen sich selbst und ihrer Umwelt ziehen. Im Einzelnen kann es sich dabei erstens um die Grenzüberschreitung hinsichtlich von Informationen handeln, welche die Insassen über sich zwecks Anlegung von persönlichen Dossiers preisgeben müssen (ebd., 33). Des Weiteren um die Beschmutzung und Besudelung des eigenen Körpers durch Essen aus verdrecktem Geschirr oder Duschen in unsauberen Bädern (ebd., 35). Schließlich kann durch erzwungenen Kontakt mit bzw. unerwünschter Anwesenheit von Mitinsassen und/oder dem Personal die Privatsphäre verletzt werden, z.B. im Falle von Routineinspektionen, der Öffnung der persönlichen Post oder der Öffentlichkeit bei Besuchen von bekannten Personen (ebd., 37). Die eingeschränkte Autonomie bzw. Selektionsfreiheit der Insassen hinsichtlich bestimmter elementarer Handlungen und Reaktionen auf Angriffe durch das Personal. So lässt sich als Erstes beobachten, dass die Insassen sich gegenüber bestimmten Attacken oder Anordnungen, welche ihr Selbstbild bedrohen, nicht wehren können. Weder können sie die demütigende Situation verlassen noch durch Ironie oder Spott ihr Missfallen kommunizieren. Vielmehr müssen sie damit rechnen, dass entsprechende Abwehrreaktionen als Widerstand oder Verstocktheit interpretiert und zum Anlass von erneuten Attacken auf ihr Selbst durch das Personal genommen werden. Goffman spricht in diesem Zusammenhang von einem Looping-Effekt (ebd., 43–44). Zu diesem kommt es auch dann, wenn aufgrund der mangelnden Trennung von Lebensbereichen auf das Verhalten der Insassen in einer Situation in anderen Situationen seitens des Personals kritisch Bezug genommen wird (ebd., 44). Zum Zweiten wird die Autonomie des Handelns der Insassen bzw. seine Handlungsökonomie dadurch massiv beschnitten, dass sie bezüglich der geringfügigsten Handlungen, wie Rauchen, Geld ausgeben, Telefonieren, Rasieren etc., die Erlaubnis und/oder den Zugang zu den entsprechenden Handlungsmöglichkeiten durch das Personal benötigen (ebd., 47). Damit werden sie von diesem nicht nur zur Übernahme einer für einen Erwachsenen »unnatürlichen« Rolle gezwungen (ebd., 47), sondern zugleich von dessen Ermessungsspielraum abhängig, der oft durch Formen der Unterbrechung ihres Handelns, des Hänselns oder der Zurückweisung gekennzeichnet ist. Forciert werden diese eingeschränkten Selektionsfreiheiten der Insassen zudem drittens durch Reglementierung, womit Goffman auf die gemeinsame Durchführung von verpflichtenden Tätigkeiten in einer Gruppe von Mitinsassen abstellt, und durch ein System der Autorität, welches jedem Mitglied des Personals das Recht gibt, die Insassen zu disziplinieren (ebd., 48). Was schließlich die offiziellen Begründungen für die angeführten Demütigungsprozesse durch die totalen Institutionen betrifft, wie z.B. Hygiene oder Verantwortung für
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das Leben der Insassen, so sieht Goffman in ihnen sehr häufig bloße Rationalisierungen. Im Kern geht es darum, eine große Zahl von Menschen auf beschränktem Raum und mit geringem Aufwand an Mitteln zu überwachen (ebd., 52–53). Bis dato hatten wir gesehen, dass totale Institutionen die Dynamik von Exklusionskarrieren der Insassen dadurch formen, dass sie deren Selbstanpassung an ihre Sonderwelt mittels diverser Prozesse der Demütigung ihres Selbst durchzusetzen versuchen. Im Zentrum stand dabei die Beobachtung der massiven Beschränkung von Selektionsfreiheiten und der Verletzung von Achtungsbedingungen erwachsener Personen, wie sie, nach Goffman, für die Übernahme der vielfältigen Rollen in der von ihm als »bürgerlich« bezeichneten Gesellschaft außerhalb der totalen Institutionen untypisch sind. Ob und durch welche Rollen diese den Insassen gleichwohl Spielräume für die persönliche Reorganisation zur Verfügung stellen, wollen wir im Folgenden thematisieren. Dass diese durchaus nicht leicht herzustellen ist, sahen wir bereits, als wir bezüglich der Geschlechtsrolle auf die erzwungene Übernahme von »desidentifizierenden« Rollen und hinsichtlich der eingeschränkten Handlungsautonomie auf die Zuschreibung »unnatürlicher« Rollen aufmerksam machten. Die Eigenzeit der totalen Institutionen, Rollenverluste und die selektive Übernahme organisationsspezifischer Rollen Erstens: Für die weitere Dynamik der moralischen Laufbahn bzw. der Exklusionskarrieren der Insassen ist nun relevant, dass sie bestimmte Rollen, je nach Länge ihres Aufenthaltes, durch die umfassende räumliche Rollentrennung für eine bestimmte Dauer nicht mehr und andere nie mehr übernehmen können. Die damit einhergehenden Rollenverluste werden in einem Fall von den Insassen als irreversibel verpasste Möglichkeiten einer Phase ihrer Lebenskarriere – wie z.B. die Erziehung ihrer Kinder, die Fortsetzung einer Intimbeziehung, die Teilnahme an nichtwiederkehrenden Events, das Wohnen an einem selbstgewählten Ort, die Fortsetzung einer Schul- oder Erwerbskarriere etc. – interpretiert. Und sie führen im anderen Fall zu einem Verlernen bzw. Vergessen bestimmter früherer Fähigkeiten, die für die zukünftige Lebenskarriere außerhalb der totalen Institution von Bedeutung sein können. Goffman spricht im ersten Fall vom »bürgerlichen Tod« als unwiderruflichem Rollenverlust (ebd., 25ff.). Und im zweiten Fall von »Diskulturation« bei einem längeren Aufenthalt (ebd., 24). Die Eigenzeit der totalen Institutionen gewinnt folglich ihre erste Besonderheit dadurch, dass sie von einer Mehrzahl der Insassen als »verlorene Zeit« bzw. »vergeudete Zeit« erlebt und thematisiert wird, die irgendwie abgesessen werden muss (ebd., 71). Zweitens: Einem weiteren Merkmal der Eigenzeit totaler Institutionen begegneten wir bereits in Form ihrer weitgehenden Rollenplanung der Handlungen der Insassen. Sie bestimmt mithin durch ihre Termine und Fristen deren Tages-, Wochen- und Jahresablauf. An die Stelle des eigenen Zeitmanagements der Insassen tritt das Management der Zeit durch die totalen Institutionen (ebd., 17). Dies gilt selbst für die Umweltkontakte zu Angehörigen oder sonstigen Personen des verbliebenen sozialen Netzwerkes der Insassen, die auf Besuchszeiten beschränkt und überwacht werden. Drittens: Unterbrochen werden die Redundanzen der Schlafens-, Essens-, Arbeits-, Schlaf- und limitierten Freizeiten, welche den zeitlichen Alltag der Insassen ausmachen, durch organisationsspezifische Sonderzeiten, die als temporäre Abwechslung betrach-
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tet werden können. Dazu zählen bestimmte Anstaltszeremonien, wie der Tag der offenen Tür, Festtage, der Besuch der religiösen Messe, Sportveranstaltungen, Theateraufführungen und der Besuch von Aufsichtsbehörden (ebd., 95ff.). Typisch für diese ist vor allem dreierlei: die sonstige starre Rollentrennung von Personal und Insassen wird situativ aufgehoben. So können z.B. Insassen bei einer Theateraufführung bestimmte Rollen des Personals übernehmen und sich durch Ironie und Witz über sie lustig machen (ebd.,100), oder es kommt zum rituellen Rollentausch, indem das Personal die Insassen bei Tisch bedient (ebd., 99). Des Weiteren werden den Insassen bestimmte Privilegien eingeräumt, die sie sonst nicht genießen, z.B. eine besondere Mahlzeit an Festtagen, die sich vom normalen Essen unterscheidet (ebd., 100). Und schließlich wird den Besuchern, die an den o.g. Ereignissen teilnehmen, eine Schauseite der totalen Institution präsentiert, an deren Zustandekommen alle mitwirken und von der alle Beteiligten wissen, dass sie dem Organisationsalltag normalerweise nicht entspricht (ebd., 102ff.). Die spezifische Form der Arbeit in totalen Institutionen Der Arbeit kommt insofern für die persönliche Reorganisation der Insassen eine besondere Funktion zu, als sie mit der Übernahme der primären Leistungsrolle verknüpft ist, die außerhalb der totalen Institutionen die Position und Identität, speziell der männlichen Erwachsenen, in der modernen Gesellschaft zentral beeinflusst. Folgt man Goffmans Beobachtungen, so nimmt sie in totalen Institutionen eine spezifische Form an, die sich in wesentlichen Aspekten von der Erwerbsarbeit außerhalb unterscheidet. So wird sie normalerweise nur gering, d.h. unterhalb des vergleichbaren Tarifes, entlohnt. An die Stelle der Selektionsfreiheiten des Arbeitsmarktes tritt die Beschränkung auf die reduzierten Angebote der jeweiligen totalen Institution. Die Arbeitsdurchführung erfolgt zusammen mit anderen Insassen und unter besonderer Aufsicht und Kontrolle durch das Personal. Die Arbeit weist in der Regel nur geringe oder gar keine Qualifizierungs- und Karrieremöglichkeiten auf. Zudem wird sie häufig unter therapeutischen Gesichtspunkten als »Arbeitstherapie« beobachtet und bewertet (vgl. ebd., 92–93). Das Privilegiensystem der totalen Institution Es erhält seine Besonderheit speziell dadurch, dass es auf positiven und negativen Sanktionen, sprich Belohnungen und Strafen, aufbaut, welche sich in wichtigen Hinsichten von denjenigen der Umweltsysteme unterscheiden (ebd., 54ff.). So werden die Belohnungen erst dadurch zu Privilegien, dass die Ordnung der totalen Institutionen den Insassen den Zugang zu ihnen zunächst einmal verwehrt. Sie konstruiert mithin eine systeminterne Welt von Privilegien, die in ihrer Umwelt als selbstverständliche Annehmlichkeiten betrachtet und bewertet werden (ebd., 55). Dazu gehören u.a. das Zugeständnis von etwas mehr Freizeit, die Möglichkeit, mit anderen Insassen zwecks sportlicher Wettkampfvorbereitungen oder Theatervorbereitungen zusammenzukommen, ein Nachschlag beim Essen, bestimmte entlastende Tätigkeiten, etwas längeres Schlafen etc. Umgekehrt können die Insassen für Verstöße gegen die Ordnung in einer Form bestraft werden, die außerhalb der totalen Institutionen nur Kindern zugemutet und die
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deshalb als weiteres Set von Demütigungen durch die Insassen bewertet werden (ebd., 56). Das gilt für das Verbot von Besuchen, das Vorenthalten von elementaren Ressourcen wie Schreibpapier oder Schreibmaterial, die Isolation gegenüber anderen Mitinsassen etc. Insgesamt springt in den Blick, dass die Eigenzeit der totalen Institutionen eine eigenständige Rollenplanung der Insassen weitgehend beschneidet. Die Unbestimmtheit ihrer Zukunft wird somit weniger durch sie selbst, als durch die Entscheidungen der totalen Institution absorbiert. Sofern diese Tätigkeiten der Insassen vorsehen, sind sie durch eine Form gekennzeichnet, welche oftmals eher dazu dient, ihre Zeit totzuschlagen, als einer Investition in die zukünftige Gegenwart zu entsprechen. Hinzu kommt schließlich die Konstruktion eines systeminternen Privilegiensystems, das auf Anreize setzt, die außerhalb nicht als solche gelten, und auf Strafen, welche von erwachsenen Personen als Miss- bzw. Verachtung ihrer Person bewertet werden. Formen der Anpassung der Insassen an die totale Institution Zunächst lässt sich davon ausgehen, dass es nur einer kleinen Zahl der Insassen gelingt, sich dem Zugriff der totalen Institutionen durch Flucht oder Selbsttötung zu entziehen (ebd., 65). Erstens sind die totalen Institutionen auf solche extreme Formen der Exitoption der Insassen durch das Management des Unerwarteten (vgl. Weick/Sutcliffe 2015) vorbereitet, sei es durch entsprechende Sicherheitsvorkehrungen oder Interventionen im Falle ihres Versuches. Zum Zweiten stehen die totalen Institutionen durch bestimmte Umweltsysteme unter einer gewissen Beobachtung und Aufsicht, welche eine zu hohe Quote der erwähnten Exitoptionen sanktionieren respektive skandalisieren würde. Zum Dritten gehört es zu einer weiteren Besonderheit totaler Institutionen, dass sie eine jederzeit mögliche Exitoption durch die Insassen nicht vorsehen. Demgegenüber ist die Selbstexklusion sowohl für das Personal als auch die Laienrollen in anderen modernen Organisationen jederzeit möglich. So kann man selbst den Nationalstaat, dem man von Geburt an angehörte, durch Auswanderung als Staatsbürger wechseln. Dass diese Exitoptionen für die Insassen ausgeschlossen sind, erklärt einerseits ihren temporären Rückgriff auf die o.g. extremen Alternativen der Selbstexklusion. Und macht andererseits nochmals deutlich, dass sie ihnen deshalb verwehrt werden, weil sie als Risikopersonen betrachtet werden. Für die Mehrzahl der Insassen bleibt nurmehr die Option der individuellen Selbstanpassung übrig, solange sie in die totale Institution inkludiert sind. Goffman (1977, 65ff.) unterscheidet zwischen 5 Formen der individuellen Selbstanpassung, die an die von uns kurz skizzierte Theorie der Anomie von Merton erinnern. Dabei betont er (ebd., 65): »Der gleiche Insasse wird in verschiedenen Phasen seiner moralischen Karriere unterschiedliche persönliche Formen der Anpassung finden, ja er kann sogar verschiedene alternative Strategien gleichzeitig verfolgen.« Individueller Rückzug Bei ihm handelt es sich um eine Form der Anpassung, bei der sich der Insasse, oftmals traumatisiert durch die organisationsspezifischen Kontexte der
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totalen Institution, aus der Kommunikation weitgehend zurückzieht und sich auf seine eigene Welt als organisch-psychisches System beschränkt. Er exkludiert sich gleichsam als eigenverantwortliche Adressstelle aus der organisationsspezifischen Kommunikation und lässt sich mehr oder weniger nurmehr verwahren. Goffman (1977, 65) schreibt dazu: »Der Insasse zeigt für nichts Interesse, außer für die Dinge, die ihn unmittelbar körperlich umgeben, und diese sieht er unter einer Perspektive, die von den übrigen Anwesenden nicht geteilt wird.« Individuelle Rebellion Auf diese Form der Anpassung, die Goffman (1977, 66) auch als »kompromisslosen Standpunkt« bezeichnet, rekurriert der Insasse besonders am Anfang seiner moralischen Karriere in der totalen Institution. Er kommuniziert seinen Widerstand offen und weigert sich mit dem Personal zu kooperieren. Die bereits erwähnten Aufnahmeprozeduren haben mithin auch den Nebenzweck, einen Rebellen von der Aussichtslosigkeit seines Unterfangens zu überzeugen. Kontinuiert sein kommunikativer Widerstand, widmet ihm das Personal der totalen Institution seine besondere Aufmerksamkeit und versucht, ihn durch die erwähnten negativen Sanktionen zu brechen. Der Insasse weicht dementsprechend nach Goffman (1977, 66) später auf den Rückzug aus der Situation oder eine andere Form der Anpassung aus.« Kolonisierung In diesem Fall der individuellen Selbstanpassung arrangiert sich der Insasse allmählich mit der Ordnung der totalen Institution. Er erweist ihr gegenüber zunehmend seine Loyalität und verschafft sich auf diese Weise bestimmte Annehmlichkeiten, welche das Privilegiensystem ihm dafür als Gegenleistung anbietet. Problematisch kann diese Form der individuellen Selbstanpassung allerdings dann werden, wenn sie mit dem Zweckprogramm der totalen Institution, speziell seiner Entlassung, konfligiert. Sie kann nämlich zu einer nichtintendierten Zweck-Mittel-Verschiebung führen, wenn der Insasse die Mittel der totalen Institution in eigene Zwecke transformiert und den Aufenthalt in ihr deshalb seiner Entlassung vorzieht. Goffman (1977, 66) schreibt dazu: »Der Insasse nimmt den Ausschnitt der Außenwelt, den die Anstalt anbietet, für die ganze, und aus den maximalen Befriedigungen, die in der Anstalt erreichbar sind, wird eine stabile, relativ zufriedene Existenz aufgebaut.« Konversion Die Anpassungsform der Konversion lässt sich als Steigerung derjenigen der Kolonisierung betrachten. Mit ihr übernimmt der Insasse gewissermaßen die Perspektive der totalen Institution in Bezug auf sich selbst und konvertiert in Richtung einer Person, welche dem Personal bei der Durchsetzung der organisationsspezifischen Zwecke durch die Kontrolle und negative Sanktionierung seiner Mitinsassen behilflich ist. Im Gegensatz zum kolonisierten Insassen, so Goffman (1977, 67): »[…] ist die Haltung des Konvertiten eher diszipliniert, moralistisch und monochrom, wobei er sich als einen Menschen darzustellen sucht, mit dessen Begeisterung für die Anstalt das Personal allezeit rechnen kann.« Ruhig-Blut-Bewahren Goffman tendiert anhand seiner Beobachtungen dazu, diese kommunikative Anpassungsstrategie als die aussichtsreichste zu betrachten (ebd., 68).
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Sie stellt eine opportunistische Mischform der angeführten Strategien, mit Ausnahme der erstgenannten, dar, ohne deren Einseitigkeiten zu kopieren. So ermöglicht sie es, je nach Situation, temporär zu rebellieren, um z.B. die Solidarität mit den Mitinsassen zu bekunden, von den Belohnungen der totalen Institution zu profitieren, ohne sich ihr zu sehr anzupassen, und partiell ihren Standpunkt zu übernehmen, z.B. bei Anlässen ihrer Außendarstellung, und sich ihr gegenüber ansonsten durchaus distanziert zu verhalten. Neben diesen Formen der individuellen Selbstanpassung lassen sich, nach Goffman (1977, 60ff.), zusätzlich noch solche Formen der Anpassung beobachten, welche die offizielle Ordnung der totalen Institutionen kollektiv durch »Fraternisation unter den Insassen« zu unterlaufen versuchen. Ihre Funktion für die Insassen besteht vor allem darin, einen Teil der Selbstselektion des Handelns und Erlebens und damit an Selbstachtung zu erhalten bzw. zurückzugewinnen, der ihnen durch jene beschnitten wird. Dabei kann es zur Bildung von unterschiedlichen Formen von Gegenkulturen kommen, deren Werte sich im Gegensatz zur Organisationskultur befinden. Ihre selektiven sozialen Netzwerke, wie Cliquen oder Kameradschaften der Insassen, fungieren in diesem Kontext sowohl als kommunikative Selbstthematisierung und Kritik an der Ungerechtigkeit der Organisation und ihrer Umwelt mittels einer Erzählkultur als auch als solidarische Unterstützung des Zugangs zu offiziell verbotenen und knappen Mitteln wie Zigaretten, Alkoholika, Sexualpartnern etc. Es überrascht dementsprechend nicht, dass das Personal diese informellen sozialen Netzwerke zu unterbinden versucht, können sie doch ihre offiziellen Zweckprogramme der Personenveränderung unterminieren oder zum Ausgangspunkt für kollektiven kommunikativen Widerstand werden. c) Entlassung Stellt die Entlassung der Insassen das programmierte Ziel der Mehrzahl der totalen Institutionen dar und begleitet als solche die moralische Karriere bzw. Exklusionskarriere als dauerhaftes Hintergrundthema, scheint sie durchaus problematischer zu sein, als man aufgrund der umfassenden Inklusion und der mit ihr einhergehenden Beschränkungen der individuellen Selektionsfreiheiten anzunehmen scheint. Zum einen erreichen die totalen Institutionen entgegen ihrer Selbstschreibung das Ziel der Personenveränderung im Sinne einer vertrauenswürdigen, kompetenten und selbstverantwortlichen Adressstelle für die systemexternen Kommunikationssysteme selten. Dazu tragen, neben den beschriebenen Demütigungsprozessen, der Diskulturation durch die Rollenverluste und ihre nur höchst selektive Kompensation durch das verbliebene Rollenset der totalen Institutionen, nicht zuletzt auch die angeführten Anpassungsmechanismen der Insassen bei. Zum anderen erzeugen gerade bestimmte von ihnen, wie die Konversion und Kolonisierung, die Sicherheit eines organisationsspezifischen Status, dem die Unsicherheit einer zunehmend unbekannten und teilweise ablehnenden, wenn nicht sogar stigmatisierenden Umwelt gegenüber steht (Goffman 1977, 76). Es erstaunt dementsprechend nicht, dass ein Teil der Insassen ihrer Entlassung eher mit Angst als mit Freude entgegensieht. Und ein anderer Teil aufgrund der Stigmatisierung durch Vermieter, Behörden und Arbeitgeber, aber auch der Effekte der organisationsspezifischen Gegenkultur nicht lange nach der Entlassung wieder in eine der totalen Institutionen zurückkehrt. Goffman (1977, 73–74 u. 75) schreibt dazu:
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»Obwohl die Insassen für den Tag der Entlassung Sauftouren planen und häufig die Stunden bis dahin zählen, ist die Entlassung für diejenigen, denen sie unmittelbar bevorsteht, ein beunruhigender Gedanke[…]Die Angst des Insassen vor der Entlassung formuliert sich oft in der Frage, die er sich und seinen Freunden vorlegt: ›Werde ich es draußen schaffen?‹ […] Und doch vergessen die Insassen schon bald nach der Entlassung einen Teil der Wirklichkeit des Lebens hinter Anstaltsmauern und bekommen Heimweh nach den Privilegien, um die sich das Anstaltsleben drehte. Schritt für Schritt verliert sich das Gefühl der Entrechtung, Verbitterung und Entfremdung, das die Anstaltserfahrungen im Insassen hervorrufen und das so eine wesentliche Stufe seiner moralischen Karriere bildet.« 8.3.4.1.4 Systemtheoretische Anmerkungen In Differenz zu Goffmans klassischem Aufsatz muss eine vertiefte systemtheoretische Beschreibung totaler Institutionen folgende Aspekte stärker thematisieren: Sie muss bestimmte Unterschiede hinsichtlich der Exklusionskarrieren stärker herausarbeiten. Hervorzuheben wären u.a. deren alters-, geschlechts- und milieuspezifischen Differenzen und das Ausmaß oder der Grad ihres funktionssystemspezifischen Risikos. Berücksichtigt man dieser Unterschiede variieren der lebenskarrierespezifische Bruch beim Crossing vom Inklusions- zum Exklusionsbereich der totalen Institutionen, die geschlechtsspezifische Verteilung und Segregation ihrer Insassen, ihre selektive Formen der Selbstanpassung und die Möglichkeit/Unmöglichkeit ihrer Entlassung bzw. Reinklusion. So unterscheiden sich der Bruch und die Diskontinuität mit der sozialen Lage und den Werten im Inklusionsbereich, wenn man aus einem eher sozialschwachen Milieu oder einem gehobenen sozialen Milieu in den Exklusionsbereich der totalen Institutionen überwechselt. Fällt auf, dass es totale Institutionen, wie die Vollzugsanstalten auf der einen und Altenpflegeheime auf der anderen Seite, gibt, die entweder primär durch männliche, wie im ersten Fall, oder weibliche Insassen, wie im zweiten Fall, dominiert werden. Dass dies Konsequenzen für die jeweilige Organisationskultur, die Dynamik der Exklusionskarrieren und die organisationsspezifische Kommunikation hat, ist zu vermuten. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die Verlaufsform von Exklusionskarrieren sowohl bezüglich der Möglichkeiten der Reinklusion als auch der Formen der Selbstanpassung divergiert. Und zwar je nachdem, ob jemand bereits in der Kindheits- oder Jugendphase oder erst in der Altersphase zum schwer Pflegebedürftigen oder Schwerkriminellen wird. Schließlich weisen nicht zuletzt bestimmte, als irreversibel diagnostizierte Formen des Erlebens, Handelns und Zustandes der Insassen auf sie als Risikopersonen hin, die keine Alternative zur dauerhaften Totalinklusion zuzulassen scheinen. Ferner gilt es der Frage nachzugehen, welches Problem totale Institutionen im kommunikativen Netzwerk unterschiedlicher Organisationen des jeweiligen Funktionssystems lösen. Sind sie die jeweilige vorläufige oder dauerhafte organisationsspezifische Endstation einer sich verschärfenden Exklusionskarriere wie im Falle von Pflegeheimen?
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Oder repräsentieren sie auch die mögliche Umkehr von Exklusionskarrieren wie im Falle von Erziehungsheimen? Darüber hinaus müssen bestimmte mehr oder weniger explizite organisationstheoretische Grundannahmen Goffmans überprüft werden: z.B., ob alle totale Institutionen ihre Programme an der Personenveränderung mit der Aussicht auf mögliche Entlassung orientieren; ob sich ihr Personal nach wie vor primär auf seine organisationsspezifische Macht bezieht und mit ihr die Selbstachtung der Insassen attackiert, oder stärker am professionsspezifischen Wissen und den daran gekoppelten Entscheidungen; ob das Privilegiensystem kontinuiert oder sich verändert hat und sich die totalen Institutionen gegenüber ihrer Umwelt stärker geöffnet haben mit der Konsequenz, dass die systeminterne Vorbereitung der Insassen auf die Welt außerhalb größere Erfolgschancen nach der Entlassung verspricht. Zudem stellt sich die grundsätzliche Frage, ob totale Institutionen nicht insofern obsolet geworden sind, als sie eine Totalinklusion kontinuieren, welche quer zu den Anforderungen der Multiinklusion der heutigen spätmodernen Gesellschaft steht. Reformreflexionen und Reformmaßnahmen, die auf einen Um- oder Abbau von Anstalten, Heimen und Asylen abzielen, sind dementsprechend daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie funktional äquivalente Problemlösungen für diese darstellen. Schließlich gilt es noch auf einige Paradoxien aufmerksam zu machen, wie sie sich durch die spezifische Organisationsform totaler Institutionen ergeben. Durch die Präferenzentscheidung der totalen Institution für Drinnen wird das Draußen als gegenwärtige Alternative für die Insassen ausgeschlossen und in eine oftmals als Termin feststehende zukünftige Gegenwart verschoben. Indem das Draußen in der jeweiligen Gegenwart der totalen Institution als ausgeschlossene Alternative jedoch immer präsent ist, lässt sich nahezu jede kommunizierte Entscheidung sowohl von Seiten des Personals als auch von Seiten der Insassen daraufhin beobachten, was sie für das zukünftige Draußen der Insassen bedeutet. Daraus resultieren Folgeparadoxien, von denen ich ohne Anspruch auf Vollzähligkeit einige anführen möchte: a) Ist in das Privilegiensystem der totalen Institutionen eine vorzeitige Entlassung eingebaut, mithin die Alternative des Draußen vor dem ursprünglichen Termin möglich, ergibt sich daraus das Paradox des Drinnen gleich Draußen. Die Beobachtung des Verhaltens der Insassen innerhalb der totalen Institution fungiert nämlich als Kriterium für sein Verhalten außerhalb der Organisation. Damit wird die Differenz von Drinnen und Draußen invisibilisiert, indem dem Drinnen die erfolgreiche und konstante Personenveränderung des Insassen attribuiert wird, die auch für das zukünftige Draußen unterstellt wird. Ob diese Gleichsetzung zutrifft und der Insasse seine Personenveränderung auch in der hochkomplexen Gesellschaft außerhalb der totalen Institution durchzuhalten vermag, ist jedoch das immanente Entscheidungsrisiko, das das Personal gegenüber dem Insassen und den Umweltsystemen zu verantworten hat. b) Wird die Alternative des Draußen auf einen bestimmten zukünftigen Termin verschoben, induzieren die Sicherheitsvorkehrungen der totalen Institutionen sowie die Beobachtungen der Insassen durch ihr Personal ein Misstrauen, dass sie zu Ri-
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sikopersonen oder gar Unpersonen werden lässt, wären sie doch sonst nicht drinnen. Das Paradox oder der performative Widerspruch, den es kommunikativ zu invisibilisieren oder aufzulösen gilt, wenn es gleichwohl um Personenveränderung gehen soll, lässt sich dementsprechend auf die Formel bringen: vertraue mir, obwohl ich Dir misstraue! c) Wenn mit der Totalinklusion die weitgehende Entkopplung der freiwilligen Teilnahme an Kommunikationssystemen unter Anwesenden, inklusive von Intimsystemen, verknüpft ist, entsteht das Problem, wie eine zivilisierte Teilnahme an körperbetonten Kommunikationssystemen gelernt werden kann, die sexualisierte Gewalt als Problemlösung ausschließt. Generiert die totale Institution damit nicht das Paradox einer zwangsasketischen Person im Drinnen bei einer körperbetonten Welt des Draußen bzw. die Alternative eines die Selbstachtung gefährdeten körperlichen Körperbezugs, der Draußen nur schwer kommunikativ anschlussfähig ist? d) Wie soll schließlich eine Personenveränderung in Richtung einer verantwortlichen Inanspruchnahme von Selektionsfreiheiten außerhalb der totalen Institutionen möglich werden, wenn deren Entscheidungsprämissen und Entscheidungen in Bezug auf die systemintern zugelassenen Rollen die Selektionsfreiheiten der Insassen drastisch beschneiden? M.a.W.: wie lässt sich das Paradox von negativer Selektionsfreiheit Drinnen und positiver Selektionsfreiheit Draußen innerhalb der totalen Institutionen lösen?
8.3.4.2 Beschäftigungsorganisationen der Funktionssysteme und Mobbing Im Folgenden wollen wir uns mit Konfliktsystemen (vgl. Messner 2003; Simon 2012a; Hohm 2016, 68ff.) in Beschäftigungsorganisationen befassen, deren Besonderheit darin besteht, dass sie die Erwerbskarriere von Mitgliedern in einer Form beeinträchtigen, die in ihrer Selbstbeobachtung mit einer erzwungenen Exklusion endet. Dabei kann diese entweder auf eine Beschäftigungsorganisation durch Versetzung beschränkt bleiben, die Erwerbskarriere durch erzwungenen Wechsel in eine andere fortgesetzt werden, oder zu einem völligen Ausschluss aus dem Beschäftigungssystem mit den entsprechenden Folgeproblemen führen. Wie es zu diesen Konfliktsystemen kommt, durch welche Form der Kommunikation sie sich reproduzieren und welche Konsequenzen dies für die betroffenen Mitglieder der Beschäftigungsorganisationen hat, wird seit Beginn der 1990er Jahre mit der Semantik des Mobbing von Sozialwissenschaftlern beschrieben. Seit Mitte des gleichen Jahrzehntes wurde Mobbing durch die Berichterstattung und Skandalisierung der Massenmedien einem breiteren Publikum bekannt und führte zu einer erhöhten Aufmerksamkeit bei den Beschäftigungsorganisationen und ihrem Personal. Zudem bildeten sich vielfältige darauf bezogene Selbsthilfegruppen und stieß das Mobbing-Problem mit der steigenden Arbeitslosigkeit und der verbreiteten Angst um den Arbeitsplatz auf zusätzliche Resonanz in der öffentlichen Meinung. Auch lässt sich eine Ausdehnung des Begriffs auf andere Organisationen der Funktionssysteme, z.B. die Schulen des Erziehungssystems, oder das Internet als Cyber-Mobbing beobachten (vgl. Kolodej 2018; Fawzi 2015). Der Gebrauch der Mobbing-Semantik gerät somit in die Gefahr, inflationiert zu werden, und als Modethema, kaum dass es die öffentliche Aufmerksamkeit erreicht hat, an Relevanz zu verlieren.
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Um dies zu vermeiden, wollen wir im Folgenden einige seiner zentralen Prämissen, die für unser Generalthema, Exklusionsbereiche in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft, von Bedeutung sind, vorstellen und aus unserer systemtheoretischen Perspektive kommentieren. Beschränken werden wir uns auf Mobbing am Arbeitsplatz und – wie im vorhergehenden Abschnitt – an einen inzwischen klassischen Text anschließen, nämlich den von Heinz Leymann (1998), der als Nestor der MobbingForschung gilt. Für das Interesse am Thema spricht u.a. die Verbreitung seines Buches, das bereits bei seinem Ersterscheinen 1998 51.000 Mal verkauft wurde. 8.3.4.2.1 Mobbing: eine allgemeine Definition Bevor wir auf Mobbing am Arbeitsplatz im engeren Sinne eingehen werden, wollen wir zunächst auf dem Hintergrund der von Leymann vorgeschlagenen allgemeinen Definition von Mobbing abzuklären versuchen, was er genauer darunter versteht. D.h. wir beobachten aus systemtheoretischer Perspektive, was bzw. wie Leymann als Beobachter mit Hilfe des Mobbing beobachtet. Leymann (1998, 21) definiert Mobbing allgemein wie folgt: »Der Begriff Mobbing beschreibt negative kommunikative Handlungen, die gegen eine Person gerichtet sind (von einer oder mehreren anderen) und die sehr oft und über einen längeren Zeitraum hinaus vorkommen und damit die Beziehung zwischen Täter und Opfer kennzeichnen.« Zunächst fällt auf, dass Leymann vom Begriff und nicht Wort Mobbing spricht, was deutlich macht, dass er ihn offensichtlich in eine theoretische Beobachtung einordnet, sofern man unter einer Theorie ein explizit formuliertes Netzwerk von Begriffen (vgl. Luhmann 1990e, 124ff.) im Unterschied zum alltagssprachlich verwendeten Netzwerk implizit genutzter Worte versteht. Innerhalb dieser Theorie, von der noch zu erörtern sein wird, um welche es sich dabei handelt, kommt dem Begriff Mobbing offenbar die Funktion eines Grundbegriffs zu. Fragt man sich, was Leymann als Theoretiker mit dem Begriff Mobbing beobachtet, so gilt es vorab kurz abzuklären, was wir unter Beobachtung verstehen (vgl. Luhmann 1995e, 92ff.). Bei ihr handelt sich um eine empirische Operation, die eine Unterscheidung mit zwei Seiten voraussetzt, von der jeweils nur die eine von beiden Seiten bezeichnet werden kann (ebd., 100). Zum Beispiel hier statt dort. Was nicht ausschließt, dass eine spätere Beobachtung auf die andere Seite der Unterscheidung überwechseln kann, also dort statt hier. Als Erstes »beschreibt (Mobbing) negative kommunikative Handlungen«. Indem Leymann seine Definition von Mobbing so ansetzt, referiert er mit dem Begriff auf eine Wirklichkeit, die er als negative kommunikative Handlungen bezeichnet. Er geht mithin von einer Handlungstheorie aus, die auf eine unbestimmte Anzahl von realen Handlungen verweist, die er als zugleich kommunikative und negative bezeichnet. Die von ihm nicht bezeichnete andere Seite seiner Beobachtung wären dann positive kommunikative Handlungen bzw. im Falle einer allgemeine Handlungstheorie, wie sie
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Habermas (Bd.1, 1982, 384ff.) als Theorie kommunikativen Handelns ausgearbeitet hat, verständigungsorientiertes Handeln. Offen bleibt hierbei erstens, wie die Präferenz für negative anstelle von positiven kommunikativen Handlungen zustande kommt; zweitens, wie bzw. wodurch die Anschlussfähigkeit der negativen kommunikativen Handlungen möglich wird; drittens, ob die Zuschreibung bzw. Beobachtung von negativen kommunikativen Handlungen nur eine des theoretischen Beobachters oder auch eine der an den kommunikativen Handlungen Beteiligten ist und schließlich, in welchem Kontext oder sozialen System die negativen kommunikativen Handlungen sich reproduzieren. Leymann gibt eine erste Antwort auf einen Teil unseren Fragen, indem er die negativen kommunikativen Handlungen dahingehend präzisiert, dass er sie als »gegen eine Person gerichtet von einer oder mehreren anderen Personen« bezeichnet. Er löst damit das Zuschreibungs- bzw. Attributionsproblem der negativen kommunikativen Handlungen, indem er Personen als Adress-bzw. Identifikationsstellen anführt (vgl. Luhmann 2000a, 89ff.). Diese unterscheidet er dadurch, dass er zum eine quantitative Differenz zwischen einer und einer sowie mehreren Personen vornimmt und zum anderen implizit eine Kausalitätsannahme in der Form unterstellt, dass letztere gleichsam die Auslöser bzw. Verursacher für die negativen kommunikativen Handlungen sind, deren Wirkungen gegen eine Person gerichtet sind. Reformuliert man die Adressstellen als soziale Dimension der kommunikativen Handlungen, unterstellt sein Mobbingbegriff eine Interpunktion (vgl. Watzlawick u.a. 1969, 57ff.). So identifiziert er eine oder mehrere Personen als Verursacher für negative kommunikative Handlungen und lässt offen, welche kommunikative Handlungen der Person zugeschrieben werden können, gegen die sie sich richten. Leymann ergänzt seine Definition des Mobbingbegriffs dadurch, dass er die Zeitdimension einführt, indem er die negativen kommunikativen Handlungen als »sehr oft und über einen längeren Zeitraum hinaus vorkommen(d)« bezeichnet. Damit setzt er implizit voraus, dass die Personen, um die es geht, sich nicht einmalig und zufällig, wie in den von uns in anderen Kontexten erwähnten flüchtigen Interaktionssystemen begegnen (vgl. Hohm 2016, 23ff.), sondern wiederholt. Es muss sich dementsprechend um einen Kontext, sprich ein soziales System, handeln, dass dem Gesetz des Wiedersehens unterliegt – und zwar für alle beteiligten Personen. Die Begegnungen müssen folglich in irgendeiner Form organisiert sein, sollen sie Erwartungssicherheit garantieren (vgl. Luhmann 1984, 418). Schließlich schließt Leymann seine Mobbing-Definition ab, indem er das Resultat der zeitlichen Reproduktion von negativen kommunikativen Handlungen als eine »Beziehung zwischen Täter und Opfer kennzeichnet«. Mit dem konsekutiven Wort »damit« unterstellt er eine Sequenz der negativen kommunikativen Handlungen, welche aus den beteiligten Personen die Zuschreibung der Rollen von Täter und Opfer werden lässt. Sieht man Leymanns allgemeine Mobbing-Definition auf einen Blick, so beschreibt sie eine Realität, die mehr oder weniger explizit von folgenden Annahmen eines handlungstheoretischen Beobachters ausgeht:
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf 1. Sachdimension: negative kommunikative Handlungen als Thema. 2. Sozialdimension: Differenzierung in zwei unterschiedliche Adressstellen, die quantitativ als eine Person einerseits und eine oder mehrere Personen anderseits bezeichnet werden. 3. Interpunktion der Sozialdimension: kausale Zuschreibung der negativen kommunikativen Handlungen auf eine oder mehrere Personen. 4. Zeitdimension: Mehrfache Wiederholung der so zugeschriebenen Handlungen über einen längeren Zeitraum. 5. Kopplung von Zeit- und Sozialdimension: Transformation der zwei unterschiedlichen personenbezogenen Adressstellen zu Tätern und Opfer.
Offen bzw. ungeklärt bleiben dabei u.a. folgende Fragen: Zu 1. Wie wird die bewertende Differenz von positiven und negativen kommunikativen Handlungen erzeugt, und wie kommt es zur Dominanz der Negativbewertung? Zu 2. Wie erklärt sich die quantitative Reduktion auf eine Person als Adressstelle der negativen kommunikativen Handlungen? Zu 3. Wird die kausale Zuschreibung der negativen kommunikativen Handlungen nur durch den handlungstheoretischen Beobachter oder auch durch die beteiligten Personen selbst als Beobachter vollzogen? Wenn nur ersteres zutrifft, sieht der handlungstheoretische Beobachter dann etwas, was für die von ihm beobachtenden Personen latent bleibt? Wenn letzteres zutrifft, wie schließt die Person dann an die kommunikativen Handlungen an, die als negative gegen sie gerichtet sind? Bewertet sie sie z.B. auch als solche, oder gibt sie ihnen eine andere Interpretation? Zu 4. Wie wird der Kontext oder das soziale System bestimmt, dass eine mehrmalige Wiederholung der negativen Kommunikativen über einen längeren Zeitraum zulässt? Wie wird die Zeitdimension abgegrenzt? Nur durch den handlungstheoretischen Beobachter, oder zusätzlich durch den Kontext bzw. das soziale System und die beteiligten Personen selbst? Zu 5. Ist die Zuschreibung von Täter und Opfer nur eine des handlungstheoretischen Beobachters, oder zusätzlich eine der beteiligten Personen? Ab wann wird eine anfängliche Beziehung der beteiligten Personen zu einer Täter-Opfer-Beziehung, und ist dies nur das Resultat des beobachtenden Handlungstheoretikers oder auch der beteiligten Personen bzw. des beobachtenden Sozialsystems? Neben den hier angeführten systemtheoretisch inspirierten Fragen lässt sich generell fragen, wie sich die vorgeschlagene handlungstheoretische allgemeine Mobbing-Definition Leymanns von einer allgemeinen Definition unterscheiden lässt, wie sie innerhalb der Theorien der Abweichung in der Viktimologie als Viktimisierung und in der Stigmatheorie als Stigmatisierung kursiert (vgl. Lamnek 1997, 236ff.; Goffman 1970). 8.3.4.2.2 Die Respezifikation des Mobbing-Begriffs im Kontext von Beschäftigungsorganisationen Leymann (1998) respezifiziert in einem zweiten Schritt seine allgemeine Mobbing-Definition in Richtung auf das ihn eigentlich interessierende Thema: Mobbing am Arbeits-
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platz. Im Anschluss an 300 Interviews, die er Anfang der 1980er Jahre durchgeführt hat, gelangt er dementsprechend zur folgenden Definition (ebd., 32): »Mobbing bedeutet, dass dem Opfer zentrale soziale Möglichkeiten am Arbeitsplatz genommen werden. Es ist ein direkter, über lange Zeit andauernder Angriff auf die Möglichkeit, sinnvoll zu kommunizieren, auf die sozialen Beziehungen und das gesellschaftliche Ansehen, auf die Möglichkeit des Opfers, seinen Beruf auszuüben und auf seine Gesundheit.« Für seine statistischen Untersuchungen hat er diese Definition an anderer Stelle wie folgt operationalisiert (ebd., 22): »Mobbing ist dann gegeben, wenn eine oder mehrere von 45 genau beschriebenen Handlungen über ein halbes Jahr oder länger mindestens einmal pro Woche vorkommen.« Vergleicht man diese Mobbing-Definitionen mit der allgemeinen Mobbing-Definition, so respezifiziert er diese in folgenden Hinsichten: 1. Hinsichtlich der Zeitdimension: »über ein halbes Jahr oder länger mindestens einmal pro Woche«. 2. In Bezug auf das Sozialsystem, in dem das Mobbing generiert wird: »am Arbeitsplatz«. 3. Bezüglich der Sachdimension, indem er die Anzahl der negativen kommunikativen Handlungen quantitativ zum einen in »45 genau beschriebene Handlungen« unterscheidet. Und sie zum anderen in 5 Gruppen von Angriffen qualitativ binnendifferenziert, welche sich auf die Möglichkeit der sinnvollen Kommunikation des Opfers, seine sozialen Beziehungen, sein gesellschaftliches Ansehen, seinen Beruf auszuüben und seine Gesundheit beziehen. 4. im Hinblick auf die Ursache-Wirkungs-Kette, welche die Angriffe als Ursache den Tätern und ihre Wirkungen dem Opfer zuordnet.
Um zu verdeutlichen, um welche 45 Handlungen es sich dabei handelt, listet sie Leymann zum einen unter der Überschrift »45 Handlungen – was die »Mobber« tun« (ebd., 33) auf, und führt zu jeder der 5 Gruppen ausgewählte Beispiele an, ohne auf alle 45 Handlungen Bezug zu nehmen. Wichtig für ihn ist dabei, hervorzuheben, dass die einzelnen Handlungen ihre Wirkung für das Mobbing-Opfer erst dadurch gewinnen, dass sie – wie in der Definition erwähnt – wiederholt und nicht einmalig auftreten. Nur so lässt sich nämlich der Mobbing-Verlauf von einer bloßen Unverschämtheit oder einem dummen Scherz abgrenzen (vgl. ebd., 32). Diese Bemerkung Leymanns ist für uns insofern von besonderer Bedeutung, weil sie auf den zentralen Unterschied von einem folgenlosen Konfliktereignis bzw. einer Konfliktepisode, die mit seinem Entstehen bereits wieder verschwindet, einerseits und der
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Emergenz eines Konfliktsystems andererseits aufmerksam macht, das sich gleichsam parasitär in den Beschäftigungsorganisationen bzw. am Arbeitsplatz einnistet. Wir ersparen uns, auf Leymanns Beispiele und Liste der 45 Handlungen näher einzugehen. Zu ihrer Illustration wollen wir nur kurz jeweils ein Beispiel aus den von ihm unterschiedenen 5 Gruppen der Liste anführen: 1. Angriffe auf die Möglichkeiten, sich mitzuteilen: Kontaktverweigerungen durch abwertende Blicke oder Gesten. 2. Angriffe auf die sozialen Beziehungen: man spricht nicht mehr mit dem/der Betroffenen. 3. Auswirkungen auf das soziale Ansehen: Man verbreitet Gerüchte. 4. Angriffe auf die Qualität der Berufs- und Lebenssituation: Man gibt ihm sinnlose Arbeitsaufgaben. 5. Angriffe auf die Gesundheit: Zwang zu gesundheitsschädlichen Arbeiten.
Wichtiger als die ausführliche Darstellung und Interpretation dieser und anderer Handlungen ist stattdessen die Frage, ob und wie Leymann im weiteren Verlauf seiner Argumentation diese von ihm empirisch beobachteten Handlungen theoretisch – und das heißt begrifflich – mit der Emergenz, Dynamik und Beendung eines Konfliktsystems und seinen Folgen für das Mobbing-Opfer verknüpfen kann. Entscheidend ist mithin in diesem Zusammenhang nicht die Frage, ob es sich dabei empirisch um 45 Handlungen oder um einen Zeitraum von einem halben Jahr handelt. Dies sind eher willkürliche Entscheidungen des theoretischen Beobachters. Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie aus der negativen Selektion einer der von uns beispielhaft angeführten oder anderer Kommunikationen am Arbeitsplatz ein Konfliktsystem mit einer asymmetrischen binären Struktur von Konfliktparteien werden kann. Und sich die Beiträge der einen Konfliktpartei auf die Schädigung von immer mehr Bereichen der anderen ausweiten können und diese dadurch zu einem Mobbing-Opfer werden lassen. Leymann (1998, 21) kommt unserer Fragestellung im Kontext seiner Ausführungen zur allgemeinen Mobbing-Definition mit folgenden Formulierungen am nächsten: »Auch Konflikte am Arbeitsplatz wird es immer geben. Sie können ein wichtiger Teil von Veränderung und Weiterentwicklung sein. Es sind also nicht Konflikte an sich, die den Gegenstand dieses Buches ausmachen. Mit Mobbing soll eine kommunikative Situation gemeint sein, die für den einzelnen gravierende psychische (und somit auch körperliche) Folgen mit sich zu bringen droht. Mobbing ist ein zermürbender Handlungsablauf. Einzelne Handlungen werden also erst dann zum Mobbing, wenn sie sich ständig wiederholen.« (Kursivdruck von Hohm) Wir haben den Begriff der kommunikativen Situation deshalb hervorgehoben, weil er aus unserer systemtheoretischer Perspektive durch den des Konfliktsystems ersetzt werden müsste, das für die Umwelt des psychischen und organisch-körperlichen Systems der gemoppten Person die gravierenden Konsequenzen generiert, die letztlich zu seiner Exklusion führen.
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8.3.4.2.3 Die Respezifikation der Mobber durch ihre Position am Arbeitsplatz Leymann versucht nun in einem weiteren Argumentationsschritt seine allgemeine und spezifische Mobbing-Definition dadurch zu respezifizieren, dass er die Selektion des Mobbings auf vor allem drei typische Mobbingsituationen am Arbeitsplatz zurückführt (ebd., 35ff.). Dabei unterstellt er folgende Prämissen: 1. Eine stellenspezifische Differenzierung des Personals von Beschäftigungsorganisationen mit unterschiedlichen Entscheidungskompetenzen im Kontext von horizontalen und vertikalen Kommunikationswegen. 2. Eine Semantik des Personals, das sich selbst und andere auf der horizontalen Ebene der Kommunikationswege als Kollege adressiert; von der vertikalen Ebene zur horizontalen als Vorgesetzter und Untergebener und umgekehrt als Untergebener und Vorgesetzter. 3. Eine unterschiedliche empirische Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Mobbinghandlungen anhand von repräsentativen Untersuchungen der schwedischen arbeitenden Bevölkerung, nämlich 44 % auf der kollegialen Ebene; 37 % vom Vorgesetzten gegenüber einem Untergebenen 37 %, 10 % in Kombination von Kollegen und Vorgesetzten gegenüber einem Kollegen bzw. Untergebenen und 9 % von Untergebenen gegenüber einem Vorgesetzten (ebd., 47). 4. Eine positionsabhängig unterschiedliche Wahrscheinlichkeit, zum Mobber werden zu können. 5. Arbeitsgruppen, die sich u.a. von zufällig und freiwillig zustande gekommenen Gruppen dadurch unterscheiden, dass sie eine innerbetriebliche Funktion zu erfüllen haben.
Ausgehend von diesen Prämissen stellt Leymann 3 Mobbingsituationen anhand von ausgewählten Fallbeispielen vor und generalisiert sie in Bezug auf das Typische, auf das wir uns im Folgenden beschränken werden. Dabei nimmt er auch schon partiell auf Ursachen Bezug, auf deren systematischere Erörterung durch ihn wir im nächsten Abschnitt eingehen werden. 1. Mobbingsituation: Übergriffe von Kollegen auf einen Kollegen Typisch für diese ist, dass die Kollegen die Selektion ihrer Mobbinghandlungen klar kommunizieren, dem Adressaten jedoch ihre Gründe dafür oft vorenthalten. Dessen Anschlusskommunikation fällt von daher oft verwirrt aus und reduziert seine Möglichkeiten, initiativ zu werden. Alles, was er tut, wird von den Kollegen aufgrund ihrer Deutungshoheit negativ interpretiert. Ihr Ziel scheint es zu sein, sich an der dadurch induzierten Verwirrung des Kollegen zu belustigen. Leymann sieht zudem das Typische dieser Mobbingsituation darin, dass sie ihre Eigendynamik vor allem dadurch gewinnt, dass potenzielle Dritte – der Vorgesetzte, der Gewerkschaftsvertreter oder einzelne Mitglieder – eine Intervention unterlassen (vgl. Simon 2012, 112ff.; Hohm 2016, 87 zur zentraler Relevanz der Hinzuziehung von Dritten für die Konfliktlösung oder -entschärfung).
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2. Mobbingsituation: Übergriffe von Untergebenen gegen einen Vorgesetzten Diese ergibt sich typischerweise durch die Rekrutierungsentscheidungen, sprich die Neueinstellung von Vorgesetzten. Wenn diese unerwartete Schwierigkeiten hinsichtlich ihrer Führungsrolle zeigen oder mit programmspezifischen Veränderungen der Arbeitssituation ihrer Arbeitsgruppe beauftragt werden, kann es zur personalen Attribution in Form von persönlichen Defiziten durch die Untergebenen kommen. Leymann führt die Möglichkeit der Entstehung und die Eigendynamik dieser Mobbingsituation vornehmlich auf eine fehlende Unterstützung und Zusammenarbeit der Betriebsleitung mit dem neuen Vorgesetzten zurück. Er hebt hervor, dass dies einem länger eingestellten Vorgesetzten weniger passieren könnte, da er normalerweise gut in das kommunikative Netzwerk der Hierarchie integriert sei. Ansätze von kommunikativem Widerstand der Belegschaft, welche die Form des Mobbing anzunehmen drohen, scheitern deshalb auch in den meisten Fällen. 3. Mobbingsituation: Übergriffe vom Vorgesetzten gegen einen Untergebenen Gemeinsamer Nenner dieser Mobbingsituation ist eine unangemessene oder unzeitgemäße Machtausübung durch den Vorgesetzten. Deren Manifestationen variieren von massiver Einschränkung des Einflusses eines Angestellten, über grobe Beschimpfungen oder Drohungen, die auf Unterwerfung abstellen, bis hin zur Unterdrückung von Meinungsäußerungen oder dem Gefühl, der Stärkere sein zu wollen. Leymann räumt bei seiner Kommentierung dieser Mobbingsituation ein, dass die Auslöser für dieses Mobbinghandeln oftmals hypothetisch bleiben müssen, weil ihm diesbezüglich nur die Aussagen der Gemobbten bekannt sind. Dennoch verweist er darauf, dass in den meisten Fälle die Anlässe dafür auf die Bedrohung der Machtstellung des Vorgesetzten oder Angst vor Kontrollverlust gegenüber den Untergebenen zurückzuführen seien. Hinzu kämen oftmals noch organisatorische Schwierigkeiten und Zeitdruck. Zwischenfazit Als Zwischenfazit können wir festhalten, dass Leymann seine allgemeine Mobbing-Definition in einem weiteren Schritt seiner Argumentation durch 3 Mobbingsituationen respezifiziert. Dabei können wir in Ergänzung zu den eingangs aufgeführten Prämissen folgende zusätzlichen Einsichten gewinnen: 1. Ob aus Konflikten in Arbeitsgruppen Konflikte werden, die sich zu Mobbingsituationen verdichten, ist an positionsspezifisch ungleiche Chancen gebunden, die Personen in Beschäftigungsorganisationen einnehmen. 2. Diese beschneiden zugleich auch die Selektion der Form, welche die Mobbinghandlungen annehmen können, wie Leymann (1998, 47) explizit erwähnt, wenn er schreibt: »Diese verschiedenen Situationen (gemeint sind die sozialen Situationen im Betrieb, Hohm) entscheiden auch darüber, mit welchen Handlungen ›gemobbt‹ wird.« 3. Verstetigen und reproduzieren sich die Mobbingsituationen, erzeugen sie eine strukturelle Asymmetrie zweier Konfliktparteien, welche bei den zwei ersten Mobbingsituationen entweder die Ranggleichheit der Kollegen unterläuft oder die
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formale Positionshierarchie umkehrt. In der dritten Mobbingsituation scheint sie sie vordergründig zu forcieren. 4. Im Gegensatz zu symmetrisch gebauten Konfliktsystemen, welche zur ZweierGegnerschaft bzw. reziproken Freund-Feindverhältnissen mit beidseitiger Unterstellung des Eigennutzes durch Schädigung des anderen tendieren (vgl. Luhmann 1984, 531ff.) scheint bei den angeführten Mobbingsituationen die Schädigung der einen Konfliktpartei durch die andere zu dominieren. Dass dies so ist, hängt offensichtlich u.a. damit zusammen, dass ihre Selektionsfreiheiten durch die Übermacht der anderen Konfliktpartei immer stärker reduziert werden. Möglichkeiten der Gegenwehr oder Gegenschädigung scheinen ihr somit verbaut. Die Semantik des Mobbing-Opfers wird somit in dieser Lesart komplementär zur Übermacht der anderen Konfliktpartei an ihrer zunehmenden Selbstbeobachtung der eigenen Ohnmacht festgemacht. 5. Ausgelöst und stabilisiert werden die Mobbingsituationen aus der Sicht von Leymann zusätzlich und vor allem durch bestimmte Organisationsdefizite, welche zum einen die Eigendynamik der Konflikte durch die Intervention von Dritten – Vorgesetzte, Gewerkschaftsvertreter, Personalräte etc. – nicht zum Stoppen bringen. Und welche zum anderen erst die organisationsinternen Unsicherheiten durch Entscheidungen und Nichtentscheidungen erzeugen, welche die Möglichkeit von Mobbinghandlungen durch Kollegen, Untergebene oder Vorgesetzte in Gang setzen.
Mit dieser Beobachtung nähert sich Leymann einer Deutung der Mobbingsituationen, welche nicht nur die Gemobbten, sondern auch die Mobber tendenziell zu Opfern der Defizite der Organisation und ihrer Entscheidungen werden lässt. Die Mobbingsituationen wären in diesem Fall ein Resultat der organisationsinternen Konfliktverschiebung mit destruktiven Folgen nicht nur für die Gemobbten, sondern auch für die Organisationssysteme selbst, welche in the long run auch auf die Mobber selbst zurückwirkten. Dass dies auch Konsequenzen für Leymanns allgemeine Mobbing-Definition und ihre klare Unterscheidung von Täter und Opfer hätte, soll am Ende unserer Ausführungen nicht unerwähnt bleiben.
8.3.4
Gesamtfazit und Ausblick: Thesen zu einer Systemtheorie der Randständigkeit und Randgruppen
Abschließen wollen wir mit einem kurzen Fazit unserer bisherigen Ausführungen zur Exklusion und einem thesenartigen Ausblick auf eine Systemtheorie der Randständigkeit.
Fazit zur Exklusion Erstens: Exklusion in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft unterscheidet sich in wichtigen Hinsichten, nicht zuletzt der Anzahl der betroffenen Bevölkerungssegmente, von den peripheren Regionen der Weltgesellschaft.
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Zweitens: Eine systemtheoretische Korrektur der vorwiegend normativ orientierten klassischen Theorien der Abweichung erweitert den Blick über das am Rechtssystem orientierte Dual rechtskonform/rechtswidrig hinaus. Die Pluralität und Komplexität der Formen abweichenden Handelns, Erlebens und des körperlichen Zustandes mit ihren Exklusionsfolgen geraten so stärker in den Fokus des theoretischen Interesses. Drittens: Gradualisiert man die Negativwerte der funktionssystemspezifischen Codes programmspezifisch, lässt sich zwischen Normal- und Schwerstabweichung mit verschiedenen Folgen für die Inklusion/Exklusion der Personen unterscheiden. Viertens: Anhand von ausgewählten Exklusionsbereichen (totalen Institutionen, Mobbing am Arbeitsplatz; vgl. auch unsere Ausführungen zu sozialen Brennpunkten) wurde deutlich, wie Exklusionskarrieren in Gang kommen, sich stabilisieren und wie schwer das Crossing zur anderen Seite der Inklusion fällt, je länger die betroffenen Personen mit ihrer Dekonstruktion als stigmatisierte Unpersonen und/oder Risikopersonen konfrontiert werden.
Thesen zur Randständigkeit und Randgruppen in den Modernisierungszentren der Weltgesellschaft 1. Randgruppen stellen eine statistische Größe dar, wenn die zu ihr gehörigen Individuen offiziell durch staatliche Behörden und/oder wissenschaftliche Institute anonymisiert als Anzahl bezogen auf die Gesamtbevölkerung registriert werden. 2. Teile dieser statistisch erfassten Randgruppen können Gruppen als soziale Systeme bilden. Abhängig ist die Gruppenbildung u.a. von der Art der sozialen Kontrolle durch Berufsgruppen der Funktionssysteme, Ressourcen und Fähigkeiten der Gruppenmitglieder, Kommunikationsmöglichkeiten, dem Grad der Negativbewertung durch Außenstehende und der Selbstbewertung der Mitglieder der Gruppe etc. 3. Randgruppen und ihre Mitglieder werden normalerweise als eine negative Minderheit der Bevölkerung typisiert. Dabei unterscheidet sich die Typisierung hinsichtlich der Verbindlichkeit und Folgen, je nachdem, ob sie durch die Berufsgruppen (Experten) der Funktionssysteme, das Laienpublikum oder die Betroffenen selbst erfolgt. 4. Gegenbegriffe, mit denen das Verhalten, Erleben oder der Körper der Bevölkerungsmehrheit bezeichnet werden, gibt es eher implizit als explizit anhand des allgemeinen und unspezifischen Duals normal/abweichend. Normal referiert dabei auf eine scheinbare allgemeine Selbstverständlichkeit des Handelns, Erlebens und Körperzustandes als der positiven Seite des Duals, deren andere negative Seite als anormale Abweichung bezeichnet wird. 5. Randständigkeit (Kriminalität, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit usw.) unterscheidet sich als soziale Lage eines Exklusionsbereichs von der Randgruppe (Kriminelle, Obdachlose usw.) als der Gruppe der exkludiert Inkludierten und dem randständigen Individuum (Krimineller, Obdachloser usw.) mit seiner Exklusionskarriere.
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6. Für die Exklusionskarriere und ihre Dynamik als Kombination von Fremd- und Selbstselektion spielt die jeweilige funktionssystemspezifische Codierung mit der programmspezifischen Zuordnung durch die Organisationsentscheider eine zentrale Rolle. So dominiert bei leichteren Fällen der Abweichung (Grippe, geringer Pflegebedarf, einfacher Diebstahl, schlechte Note, Falschparken, kurzfristige Arbeitslosigkeit usw.) bezüglich ihres jeweiligen Negativwerts (Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Unrecht, Nicht-Lernen-Können, Verkehrswidrigkeit, Zahlungsunfähigkeit usw.) die relativ problemlose Kontinuität der jeweiligen Rollen durch die jeweiligen Personengruppen im Inklusionsbereich oder ein nur kurzer Aufenthalt im Exklusionsbereich. Demgegenüber kommt es bei schwereren Fällen der Abweichung zu eine Diskontinuität bisheriger Rollen mit einem unterschiedlichen Ausmaß an temporären und/oder irreversiblen Rollenverlusten. Die Zugehörigkeit zum Inklusionsbereich wird durch die der längeren Zugehörigkeit zum Exklusionsbereich ersetzt. 7. Wichtig für die Wahrscheinlichkeit eines Re-Crossing der in den Exklusionsbereich inkludierten Personen in den Inklusionsbereich sind diesem Zusammenhang, neben der Selbstselektion, das Vorhandensein von Möglichkeiten der Reinklusion durch Angebote der Reintegration, Rehabilitation und Resozialisation. 8. Ein Teil der Randgruppen kann als ehemals exkludierte Inkludierte auch einen wichtigen eigenständigen Beitrag zur Innovation von Verhaltensweisen leisten. So können sie als Selbsthilfegruppen unterschiedlicher Betroffener oder in Form von Protestbewegungen wie die Krüppel- oder Schwulenbewegung zur Avantgarde neuer Lebensführungsstile und Befürworter von Diversität statt Abweichung werden. Merton (1995/1938) hatte in seiner Anomietheorie diesen Typus des Nonkonformisten als Rebellen schon früh integriert. 9. Eine systemtheoretische Definition von Randgruppen und Randständigkeit, die zugestandenermaßen recht umfassend ist, aber für sich reklamiert, zentrale ihre Merkmale auf den Punkt zu bringen, lautet dann wie folgt: Randgruppen sind a) Minderheiten, deren Verhalten, Erscheinung oder Zustand von der Mehrheit der Gesamtbevölkerung und/oder den formalen Kontroll- und Hilfsinstanzen als kommunikatives und/oder psychisch/körperliches Risiko aufgrund gesteigerter Formen der Negativabweichung im Kontext der zentralen Funktionssysteme der modernen Gesellschaft bewertet werden. b) Sie werden deshalb in deren Exklusionsbereiche mit entsprechenden randständigen sozialen Lebenslagen als Risiko- und Unpersonen abgedrängt bzw. inkludiert.
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Diese differenzieren sich einerseits in Form von Sonderorganisationen (stationäre, teilstationäre, ambulante) aus, die primär durch professionelle und sonstige Leistungsrollen kontrolliert und gesteuert werden und den Inhabern der randständigen Laienrollen in Abhängigkeit vom Grad der Negativabweichung eine unterschiedlich umfassende Mitgliedsrolle zuweisen.
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Andererseits differenzieren sich die Exklusionsbereiche als Sonderquartiere, Sondermilieus und Sonderszenen oder Formen der Selbstorganisation aus, welche die Randständigen primär selbst kommunikativ vollziehen.
c) Deren Karriereverläufe nehmen die Form von unterschiedlich stark ausgeprägten Negativkarrieren an, die ein komplexes und dynamisches Resultat von zunehmenden sozialstrukturellen Restriktionen zentraler gesellschaftlicher Funktionssysteme, negativer Fremd- und Eigenselektion, unglücklichen Zufällen und Life-Events darstellen. d) Ihre Chancen der Reinklusion und Reintegration variieren in Abhängigkeit vom Primärstatus der Randständigen, vom Eintrittsalter und von der Verweildauer in den Sonderorganisationen des Exklusionsbereiches, von den Vor- und Nachteilen der Sonderquartiere, Sondermilieus und den Sonderszenen im Vergleich zu den organisatorischen Angeboten der zentralen Funktionssystemen sowie den Ressourcen und der Selbstzuschreibung der Randständigen selbst als Exkludierte oder Avantgarde der Diversität.
8.4 Die Personengruppen des Inklusionsbereiches 2. Ordnung als Adressaten systemischer Sozialarbeit1 8.4.1
Einleitung
Sehr geehrtes Publikum, ich freue mich, Sie zu meinem Vortrag begrüßen zu können. Wie Sie gehört haben, habe ich Sie weder mit »sehr geehrte Damen und Herren« noch mit »sehr geehrte oder liebe Kolleginnen und Kollegen« begrüßt. Aber auch nicht mit »sehr geehrte oder liebe Studentinnen und Studenten bzw. Studierende«, mit »Kollegen, Studenten, Freunde« oder mit »liebe Freundinnen und Freunde«. Erst recht nicht mit »Hallo, schön, dass Ihr hier seid«, »Tag, Leute«, »Hey Jungs, seid Ihr gut drauf?« oder »Hey Jungs, was geht ab?«. Stattdessen habe ich Sie als Publikum adressiert. Dass ich so und nicht anders begonnen habe, macht deutlich, dass in einer inklusionssensiblen Zeit die Begrüßungskommunikation ihren Entlastungscharakter durch Interaktionsrituale (Goffman 1971) oder Reduktion von Komplexität (Luhmann 1970b) verloren hat. Bereits der Beginn meines Vortrages zwang mich deshalb als Redner dazu, mir der Beobachtung meiner Beobachtung durch die von mir adressierte Hörerschaft bewusst zu werden und die kommunikative Selektion meiner Mitteilung bewusst zu selegieren, um Missverstehen zu vermeiden. 1 3Ersterscheinung: Hohm, Hans-Jürgen, 2015: Die Personengruppen des Inklusionsbereiches 2. Ordnung als AdressatInnen systemischer Sozialarbeit, in: Systemische Soziale Arbeit-Journal der dgssa, Systemisches Handeln, Reflektieren und Forschen. Beiträge der Jahrestagung 2014 der dgssa »Die Kunst der systemischen Sozialen Arbeit, H 8 und 9, 5.Jahrgang, 53–71.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
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Andererseits differenzieren sich die Exklusionsbereiche als Sonderquartiere, Sondermilieus und Sonderszenen oder Formen der Selbstorganisation aus, welche die Randständigen primär selbst kommunikativ vollziehen.
c) Deren Karriereverläufe nehmen die Form von unterschiedlich stark ausgeprägten Negativkarrieren an, die ein komplexes und dynamisches Resultat von zunehmenden sozialstrukturellen Restriktionen zentraler gesellschaftlicher Funktionssysteme, negativer Fremd- und Eigenselektion, unglücklichen Zufällen und Life-Events darstellen. d) Ihre Chancen der Reinklusion und Reintegration variieren in Abhängigkeit vom Primärstatus der Randständigen, vom Eintrittsalter und von der Verweildauer in den Sonderorganisationen des Exklusionsbereiches, von den Vor- und Nachteilen der Sonderquartiere, Sondermilieus und den Sonderszenen im Vergleich zu den organisatorischen Angeboten der zentralen Funktionssystemen sowie den Ressourcen und der Selbstzuschreibung der Randständigen selbst als Exkludierte oder Avantgarde der Diversität.
8.4 Die Personengruppen des Inklusionsbereiches 2. Ordnung als Adressaten systemischer Sozialarbeit1 8.4.1
Einleitung
Sehr geehrtes Publikum, ich freue mich, Sie zu meinem Vortrag begrüßen zu können. Wie Sie gehört haben, habe ich Sie weder mit »sehr geehrte Damen und Herren« noch mit »sehr geehrte oder liebe Kolleginnen und Kollegen« begrüßt. Aber auch nicht mit »sehr geehrte oder liebe Studentinnen und Studenten bzw. Studierende«, mit »Kollegen, Studenten, Freunde« oder mit »liebe Freundinnen und Freunde«. Erst recht nicht mit »Hallo, schön, dass Ihr hier seid«, »Tag, Leute«, »Hey Jungs, seid Ihr gut drauf?« oder »Hey Jungs, was geht ab?«. Stattdessen habe ich Sie als Publikum adressiert. Dass ich so und nicht anders begonnen habe, macht deutlich, dass in einer inklusionssensiblen Zeit die Begrüßungskommunikation ihren Entlastungscharakter durch Interaktionsrituale (Goffman 1971) oder Reduktion von Komplexität (Luhmann 1970b) verloren hat. Bereits der Beginn meines Vortrages zwang mich deshalb als Redner dazu, mir der Beobachtung meiner Beobachtung durch die von mir adressierte Hörerschaft bewusst zu werden und die kommunikative Selektion meiner Mitteilung bewusst zu selegieren, um Missverstehen zu vermeiden. 1 3Ersterscheinung: Hohm, Hans-Jürgen, 2015: Die Personengruppen des Inklusionsbereiches 2. Ordnung als AdressatInnen systemischer Sozialarbeit, in: Systemische Soziale Arbeit-Journal der dgssa, Systemisches Handeln, Reflektieren und Forschen. Beiträge der Jahrestagung 2014 der dgssa »Die Kunst der systemischen Sozialen Arbeit, H 8 und 9, 5.Jahrgang, 53–71.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
Hätte ich eine der alternativen Adressierungen gewählt, hätte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendeine anwesende Person als nicht adressiert wahrgenommen und ein Exklusionsbewusstsein entwickelt. Hätte sie ihre Wahrnehmungen kommuniziert und nicht als Bewusstseinsüberüberschuss für sich behalten, hätte eine Transformation der Begrüßungs- in eine Konfliktkommunikation nahe gelegen. Der Vortrag wäre zu einem moralisch aufgeladenen Konfliktsystem mit dem Risiko der Negativeskalation mutiert. Insider der Systemtheorie Luhmannscher Provenienz werden sofort bemerkt haben, dass mein Hinweis auf die Kontingenz des Begrüßungsrituals bereits durch Rückgriff auf einige ihrer zentralen Begriffe erfolgte. Ob ich damit einen Teil der Anwesenden irritiert habe, weiß und hoffe ich nicht. Stattdessen möchte ich mich nun explizit dem Generalthema meines Vortrages zuwenden. Beginnen werde ich mit einer knappen Skizze der Luhmannschen Theorie. Dabei soll der Name Luhmann für das Programm einer spezifischen Variante der Systemtheorie stehen. Danach folgt die Darstellung einiger zentralen Merkmale der funktionalen Differenzierung. Dann die Thematisierung der durch sie erzeugten Differenzierung in einen Inklusions- und Exklusionsbereich. Dabei unterscheide ich zum einen zwischen einem Inklusionsbereich erster Ordnung als soziale Lagen und Inklusionskarrieren der Mainstream-Inklusion von Personengruppen der Bevölkerungsmehrheit sowie der exklusiven Inklusion einer privilegierten Minderheit von Funktionseliten. Zum anderen einem Exklusionsbereich als nachrangigem Inklusionsbereich zweiter Ordnung, dessen exkludierende Inklusion auf besondere Lebenslagen disprivilegierter Minderheiten mit korrespondierenden Exklusionskarrieren verweist. Aus ihren Personengruppen, so meine Generalthese, rekrutiert sich die Mehrheit der Klientel des Funktionssystems Sozialer Hilfe. Was dies für die »Kunst« der systemischen Sozialarbeit bedeuten könnte, werde ich abschließend (– mangels eigener empirischer Expertise in dieser Kunst – mit einigen Fragen anzudeuten versuchen.
8.4.2
Eine knappe Skizze der Luhmannschen Systemtheorie
Luhmann (1970b, 113) verfolgte vom Beginn bis zum Ende seiner soziologischen Karriere das ambitiöse Ziel einer fachuniversellen soziologischen Theorie. Standhalten können diesem Anspruch nur diejenigen soziologischen Theorien, deren begriffliches Netzwerk alles Soziale, inklusive der Soziologie, zu beobachten ermöglicht. Eine solche Theorie kann folglich keinen gesellschaftsexternen Beobachterstandpunkt einnehmen. Vielmehr kommt sie selbst in ihrem Gegenstand als Teil einer Disziplin der Wissenschaft der Gesellschaft vor. In ihr kann sie sich selbst und ihre gesellschaftsinterne Umwelt thematisieren und damit ihren Beitrag zur Semantik, sprich Ideenevolution, der Gesellschaft leisten. Der Universalitätsanspruch macht verständlich, dass Luhmann disziplinintern primär an Soziologen mit ähnlichen Ambitionen anschloss. Zum einen war dies Talcott Parsons’ strukturell-funktionale Systemtheorie, die er zunächst durch eine funktionalstrukturelle Systemtheorie zu überbieten intendierte (Luhmann 1970b, 113–114). Zum anderen war es Jürgen Habermas’ Kritische Theorie des kommunikativen Handelns, deren selbstdeklariertem Anspruch einer Kombination von Vernunftaufklärung und
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
entlarvender Aufklärung er eine soziologisch abgeklärte Aufklärung entgegensetzte (Luhmann 1970c, 86). Neben den disziplinintern soziologisch rivalisierenden Perspektiven waren es jedoch vor allem auch Theorieimporte aus anderen Disziplinen, die Luhmann für die Deund Rekonstruktion seiner primär soziologischen Systemtheorie selektiv adaptierte. So integrierte er in sie z.B. den Form- bzw. Beobachtungsbegriff des Philosophen SpencerBrown (Luhmann 1990b, 68ff.) sowie die Begriffe der Autopoiesis und strukturellen Kopplung des Biologen Maturana (Luhmann 1984, 66ff.; 1997b, 92ff.). Für unser Generalthema werden wir uns aus dem daraus resultierenden komplexem Netzwerk von Luhmanns Teiltheorien hauptsächlich auf die Differenzierungstheorie (Luhmann 1997b, Bd.2, 595ff.) sowie seine Differenzierung vom Inklusions- und Exklusionsbereich (Luhmann 1995e, 258ff.) beziehen, aber auch an Beiträge einiger seiner Epigonen anschließen. Schließlich werden wir besonders im Kontext unserer Kernthese selektiv Einsichten der Milieu-, Armuts-, Prekaritäts-, Devianz- und Randgruppensoziologie zu verarbeiten versuchen.
8.4.3
Funktionale Differenzierung als primäre Systemdifferenzierung der Moderne
Mit dem Primat der funktionalen Differenzierung distanziert sich die systemtheoretische Gesellschaftsbeschreibung von drei zentralen Annahmen klassischer Gesellschaftsbeschreibungen (Luhmann 1997b, Bd.1, 23ff.; Kneer u.a. 2001). 1. Sie lehnt die Dominanz von Differenzierungsformen ab, die sich als Teilsysteme auf Nationalstaaten, hierarchisch strukturierte Schichten bzw. Klassen mit einer Spitze oder einem Zentrum als Weltimperium beziehen. 2. Sie negiert die Möglichkeit, dass die Religion, die Moral oder das Naturrecht die Einheit der Gesellschaft konsensuell durch Werte oder Normen legitimieren und konstituieren könnten. 3. Sie bricht mit der humanistischen Vorstellung, die heutige Weltgesellschaft könne als menschliche Gesellschaft beschrieben werden, die aus der Weltbevölkerung mit ihren ca. 7,2 Milliarden Individuen als Grundeinheiten bzw. Operationen besteht.
Wechselt man von dieser Negativabgrenzung zur Darstellung einiger konstitutiver Merkmale der funktionalen Differenzierung über, lassen sich für unser Generalthema die folgenden anführen: Für die systemische Differenzierungstheorie gibt es heute nur noch eine Gesellschaft: die Weltgesellschaft (Luhmann 1997b, 145ff.; Stichweh 2000). Als umfassendstes Sozialsystem produziert sie mit Hilfe ihres kommunikativen rekursiven Netzwerkes eine Differenz zur nichtkommunikativen, gesellschaftsexternen Umwelt. Sie markiert dadurch eine Grenze zur äußeren Natur sowie der Weltbevölkerung mit ihren über 7 Milliarden Einzelmenschen als organisch-psychischer Systeme. Gesellschaftsintern erzeugt sie eine Sozialstruktur, welche die System/Umwelt-Differenz kommunikativ durch Ausdifferenzierung einer Vielzahl gleichwertiger Teilsyste-
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
me wiederholt. Als globale Funktionssysteme sprengen sie die territorialen Grenzen nationaler Gesellschaften und Staaten. Jedes der ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilsysteme spezialisiert sich auf eine gesamtgesellschaftliche Funktion bzw. ein gesamtgesellschaftliches Bezugsproblem, die kein anderes für es übernehmen kann. Es handelt sich folglich um Funktionssysteme, deren kommunikative Autopoiesis auch dann kontinuieren können muss, wenn ihre Strukturen durch kommunikative Selbstveränderung diskontinuieren. So ist die Wissenschaft der Gesellschaft (Luhmann 1990) auf das Problem von theoretisch und methodisch erzeugtem Erkenntnisgewinn zugeschnitten; fokussiert sich die Wirtschaft der Gesellschaft (Luhmann 1988) auf das Problem der monetär vermittelten Daseinsvorsorge durch gegenwärtige Herstellung und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen angesichts von Knappheit; spezialisiert sich die Politik der Gesellschaft (Luhmann 2000b) auf das Problem des kollektiv bindenden Entscheidens; hat es die Medizin der Gesellschaft (Luhmann 1990b) mit der Behandlung von Kranken zu tun, die Pflege der Gesellschaft mit der Pflegebedürftigkeit von Personen (Hohm 2002), sind die Intimsysteme der Gesellschaft (Luhmann 1982a) auf das Problem der Inklusion der Vollperson bezogen und ist die Soziale Hilfe der Gesellschaft (Baecker 1994; Hohm 2011) mit der Daseinsnachsorge exkludierter Personengruppen befasst etc. Auffallend ist, dass sich kein Funktionssystem mit dem Moralcode gut/schlecht bzw. gut/böse ausdifferenziert hat (Luhmann 1989a). Statt für gesamtgesellschaftliche Integration durch universelle anerkannte Bedingungen der Achtung/Missachtung zu sorgen, tendiert die Moralkommunikation eher dazu, parasitär an die funktionssystemspezifische Kommunikation anzudocken und streitauslösend, wenn nicht kriegsauslösend zu wirken. Exemplarisch lässt sich dies aktuell anhand des Freund/Feind-Schemas durch die fundamentalistische Moralisierung der Politik und ihre Gewaltnähe im Kontext der unterschiedlichsten Regionen der Weltgesellschaft beobachten. Die Kommunikation der Funktionssysteme vollzieht die gesellschaftsinterne Ausdifferenzierung durch eine operative Schließung. Sie erzeugt ihre je spezifische Form durch die Orientierung an binären Codes mit einem Positiv- und einem Negativwert (Luhmann 1997b, Bd.1 359ff.). Die Wirtschafts-, Medien-, Wissenschafts-, Rechtskommunikation etc. qua Wirtschaftscode zahlungsfähig/zahlungsunfähig, Mediencode Information/Nichtinformation, Wissenschaftscode wahr/unwahr, Rechtscode Recht/ Unrecht. Dass die Positivwerte die funktionssystemspezifische Anschlussfähigkeit der Kommunikation erleichtern, macht z.B. die Selbstbeschreibung der Funktionssysteme als Rechts-, Gesundheits-, Regierungs- oder Wissenschaftssystem deutlich, welche die Negativwerte Unrechts-, Krankheits-, Oppositionssystem oder System des Nichtwissens ausblendet. Gleichwohl garantieren diese die Kontingenz, d.h. den für die Moderne typischen Seinsmodus des anders Möglichen der Codes durch Beobachtung zweiter Ordnung. Und sie erleichtern die operative Schließung und den Ausschluss dritter Codewerte durch Engführung auf zwei. Damit wird Reflexivität ermöglicht, d.h., wenn etwas nicht wahr ist, ist es unwahr, aber nicht hässlich. Die Formalität, Invarianz und Inhaltsleere der Codewerte der Funktionssysteme liefern keine Kriterien für die Zuordnung der kommunikativen Ereignisse zum Positivoder Negativwert. Das leisten die Entscheidungsprogramme. Die Funktionssysteme,
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
sind dementsprechend auf ihre Organisationen als Entscheidungssysteme angewiesen (Luhmann 2000a). Sie garantieren die programmspezifische Richtigkeit/Unrichtigkeit der Zuordnung der kommunikativen Ereignisse auf die Codewerte bis zur nächsten Programmänderung. Die Verknüpfung von invarianter Codierung und flexibler Programmierung steigert die Eigenkomplexität der jeweiligen Funktionssysteme und erzeugt die Polykontexturalität der Gesellschaft durch eine Kombination von universeller und spezifischer kommunikativer Thematisierung der Weltereignisse. D.h. qua simultaner Politisierung, Verrechtlichung, Monetarisierung, Szientifizierung, Mediatisierung etc. Da die Funktionssysteme selbstreferentiell und autopoietisch operieren, stellt sich die Frage, wie sie sich auf die systeminterne Umwelt der anderen Funktionssysteme einstellen können. Die Antwort auf diese Frage bezieht sich auf die Interdependenz bei gleichzeitiger autopoietischer Independenz der Funktionssysteme. Anders ausgedrückt: auf das Verhältnis von Unabhängigkeit/Abhängigkeit der Funktionssysteme von- und zueinander. Platziert man dafür den Begriff der Integration, kann man ihn im Anschluss an Luhmann als wechselseitige Beschränkung der Freiheitsgrade der Funktionssysteme präzisieren (Luhmann 1997b, Bd.2, 605). Zugleich kann man ihn von dem späteren Begriff der Inklusion durch Gradualisierung unterscheiden. Der Grad der Integration der Funktionssysteme kann entsprechend nach niedrig, mittel und hoch, positiv und negativ sowie ereignis- und strukturabhängig variieren. Und schließlich kann man den Integrationsbegriff mit den Begriffen der operativen und strukturellen Kopplung verknüpfen (Luhmann 1997b, Bd.2, 604ff.). So lassen sich kurzfristige kommunikative Weltereignisse als operative Kopplungen beobachten, die, wie die Terroranschläge durch Flugzeuge auf die Twin-Tower, das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien oder die Vereidigung des US-Präsidenten Obama, in rascher und unvorhersehbarer Form Variationen von niedrigen oder hohen, positiven oder negativen Integrationseffekten in den jeweils anderen Funktionssystemen auslösen. Des Weiteren existieren strukturelle Kopplungen (Luhmann 1997b, Bd. 2, 781ff.), z.B. die Verfassung in Bezug auf das Recht und die Politik, Zertifikate und Abschlüsse hinsichtlich des Erziehungssystems/der Wissenschaft und dem Beschäftigungssystem, Steuern bezüglich der Politik und der Wirtschaft. Je nach unterschiedlichen Inanspruchnahmen, Anspruchsniveaus oder Umfängen können sie zur Erhöhung oder Verringerung der Freiheitsgrade der Politik oder des Rechts, des Erziehungssystems oder des Beschäftigungssystems, der Politik oder der Wirtschaft sowie der Schrumpfung oder Expansion der jeweiligen funktionssystemspezifischen Kommunikation führen. Der Primat der funktionalen Differenzierung ist durchaus mit anderen Differenzierungsformen (Luhmann 1997b, Bd.2, 595ff.) kompatibel, wenngleich diese nicht mehr – wie in vormodernen Stufen der Gesellschaft – die Systemdifferenzierung der Gesamtgesellschaft prägen. So kontinuiert die segmentäre Differenzierung, verstanden als das mehrfache Vorkommen des gleichen Sozialsystems, auf der Ebene der formalen Organisationen der Funktionssysteme. Prägnantestes Beispiel sind diesbezüglich die ca. 200 Nationalstaaten mit ihren formalen Merkmalen der Souveränität, territorialen Integrität und Staatsangehörigkeit.
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
Zudem verweist die veränderte Form der Zentrum-Peripherie-Differenz darauf, dass sich der Primat der funktionalen Differenzierung in den Regionen der heutigen Weltgesellschaft in unterschiedlicher Schnelligkeit durchsetzt. So stehen den Schrittmachern der Globalisierung der Funktionssysteme in den Modernisierungszentren, der USA, Teile der EU, Japan, Regionalgesellschaften Afrikas, Asiens, Südamerikas und der ehemaligen Sowjetunion gegenüber, die zur Peripherie der modernen Weltgesellschaft gehören. Zwischen diese, die man lange Zeit als sogenannte »Dritte Welt« bezeichnete, und jene, die man die »Erste Welt« nannte, schieben sich die sogenannten Schwellenländer, vor allem die BRICS-Länder, mit Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika als eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten, die zwischen Moderne und Tradition oszillieren. Die regionale Differenzierung der Weltgesellschaft verweist nicht nur auf die funktionssystemspezifische Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit des Globalisierungstempos, sondern hauptsächlich auch auf die mit ihr verknüpften unterschiedlichen Exklusionsrisiken der einzelnen Weltregionen und die damit gekoppelte forcierte soziale Ungleichheit der Weltbevölkerung. Semantiken der Gesellschaftsbeschreibung, die auf die damit einhergehende verstärkte Differenzierung eines Exklusionsbereiches aufmerksam machen wollen, sprechen, je nach soziologischem Paradigma, von Zwei-Drittel-Gesellschaft (Geißler 2006, 219), gespaltener Gesellschaft, Parallelgesellschaft (Bukow u.a. 2007), Sekundärgesellschaft (Baecker 1994) oder Prekarisierungsgesellschaft (Marchart 2013). Luhmann (1995e, 260ff.; 1997b, Bd.2, 632) prognostizierte für das 21. Jahrhundert die gesellschaftliche Primärdifferenzierung bzw. Metadifferenz respektive Supercodierung von Inklusions- und Exklusionsbereich als das zentrale Folgeproblem der global durchgesetzten funktionalen Differenzierung. Es überrascht von daher nicht, dass spätestens seit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2006 eine Gesellschaftsbeschreibung ins Zentrum der massenmedialen Aufmerksamkeit, aber auch anderer Funktionssysteme rückte, die gleichsam als Gegenreaktion das universalistische Inklusionspostulat der Menschenrechte mit der Semantik der »Inklusiven Gesellschaft« (BMAS 2011) im 21. Jahrhundert einzulösen intendiert.
8.4.4
Differenzierung von Inklusions- und Exklusionsbereich
Die Durchsetzung des Primats der funktionalen Differenzierung geht mit einer im Vergleich zur Vormoderne anderen Form der Relation von Einzelmensch und Gesellschaft einher. Sie nimmt vorwiegend in den Modernisierungszentren, auf die wir uns im Folgenden vor allem konzentrieren werden, die Form eines Primats des Inklusionsbereichs an, der sich in eine Mainstream-Inklusion und exklusive Inklusion differenzieren lässt. Dem steht ein Exklusionsbereich gegenüber, dessen exkludierende Inklusion wir als Inklusionsbereich zweiter Ordnung bezeichnen wollen. Aus ihm rekrutieren sich, so unsere Generalthese, hauptsächlich die Personengruppen des Funktionssystems Sozialer Hilfe bzw. der Sozialen Arbeit. Was das im Einzelnen bedeutet, wollen wir im Folgenden zu zeigen versuchen.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
8.4.4.1
Inklusionsbereich erster Ordnung:
8.4.4.1.1 Mainstream-Inklusion Spätestens seit dem 18. Jahrhundert starteten in Europa die Menschenrechte der Gleichheit und Freiheit als universelle Inklusionsformel. Auf sie beruft sich auch die aktuelle Semantik der »inklusiven Gesellschaft«. Sozialstrukturell leitete dies den Anfang vom Ende der alten Inklusionsordnung ein (Luhmann 1997b, Bd.2, 622ff.). In ihr entsprach die Identität der Person der durch Geburt zugewiesenen Position in einer Schicht der hierarchischen Ordnung und einem Haushalt. Die Evolution der Funktionssysteme von der Hoch- zur Spätmoderne ersetzte sie durch eine Inklusionsordnung, deren Mainstream heute folgende Merkmale aufweist: Die Inklusion wird von Statik auf Dynamik bzw. von Vergangenheit auf Zukunft umgestellt. Die passende Form dafür ist die Karriere (Luhmann/Schorr 1979, 278ff.; Luhmann 2000a, 101ff., Luhmann 2002, 70). Sie symbolisiert die temporale kommunikative strukturelle Kopplung bzw. Integration der Funktionssysteme mit den Einzelmenschen. Dabei fungiert die Form Person (Luhmann 1995d) für die Kommunikation der Funktionssysteme als Zukunftssymbol (Luhmann 1997b, Bd.2, 1019), Eigenwert (Luhmann 2002, 30) und adressierbare Erwartungsstruktur des Menschen (Luhmann 1984, 178; Luhmann 1990e, 33; Luhmann 2000a, 89). Dessen von der Person zu unterscheidende Eigenkomplexität als empirisch organisch-psychisches System bleibt dabei für sie weitgehend intransparent und als operativer Vollzug prinzipiell ausgeschlossen. Die Karriere wird damit zur Lebenskarriere, welche die Personen von ihrer Geburt bis zum Tod in den vier Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsenseins und Alter als eine Kombination von Fremd- und Selbstselektion, Zufällen und Life-events durchlaufen. Die Lebenskarriere wird als Positivkarriere zu einer Sequenz von Inklusionskarrieren mit einer Haupt- und einer Vielzahl von Nebenkarrieren. In der Kindheit und Jugend dominiert die Inklusion durch die lernende Rolle in die Lehr- und Lernorganisationen des Bildungssystems. Im erwachsenen Alter erhält die Inklusion durch die Erwerbsrolle in die Arbeitsorganisationen der Funktionssysteme Vorrang. Und im Alter geht die Inklusion durch die Rentnerrolle in die Organisationen jenseits der Arbeits- und Bildungsorganisationen in Führung. Die Sequenz der Inklusionskarrieren variiert von einem Platz über eine Stelle hin zu einer platz- und stellenlosen Positionierung. Die wachsenden wissensbasierten Ansprüche des Beschäftigungssystems an die Erwerbskarrieren erhöhen den Druck auf das vorgeschaltete Bildungssystem und die Bildungskarrieren. a) Die Haupt- vormals Volksschule wird zur Rand- oder Restschule. Die Realschule – wenn nicht bereits das Gymnasium – zur Regelschule und die Inklusionsquoten in die Hochschulen sowie Universitäten erhöhen sich. Zugleich wird die schulische Inklusionspflicht durch das Recht auf einen Kinderkrippenplatz ergänzt. De facto führt das zu früher beginnenden und längeren Inklusionskarrieren im Bildungssystem mit seiner didaktischen Wissensvermittlung variierender Curricula und der Bewertung durch den Selektionscode besser/schlechter (Luhmann 2002).
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf b) Die forcierte Pädagogisierung der Kindheit und Jugend transformiert die frühe Zugangs- bzw. Inputgleichheit in die Ergebnis – bzw. Outputungleichheit unterschiedlich erfolgreicher Bildungskarrieren. Sie ist das Ergebnis von professioneller Fremdselektion durch die Lehrerschaft und Selbstselektion der Lernenden. Die divergierenden Abschlüsse und entsprechenden Zertifikate symbolisieren in drastisch reduzierter Form das dokumentierte Systemgedächtnis der Bildungskarriere. Je nach Anforderungen des Beschäftigungssystems und Ansprüchen der Absolventen an die eigene Erwerbskarriere, limitiert (=Unfreiheit) oder erhöht (=Freiheit) es deren Zukunftsaussichten. c) Zugleich verändern sich die Semantik der Bewertung der Mainstream-Inklusion und der Positivkarrieren im Bildungssystem. Gehören zu diesen in aufsteigender Form die Real-, Gymnasial- und Hochschulabschlüsse, mutiert der Hauptschulabschluss zur paradoxen Form des Randschulabschlusses. Er rückt somit in die Nähe der exkludierenden Inklusion der Sonderorganisationen der Förderschulen (Klemm 2013). d) Die Exklusion wird im Kontext der Mainstream-Inklusion als Struktureffekt der Inklusionskarrieren zwangsläufig mit erzeugt. Zum einen als unproblematische alters- bzw. entwicklungsbedingte andere Seite der inklusiven Sequenz der Bildungskarriere, d.h. der Exklusion aus der Kinderkrippe als Voraussetzung der Inklusion in den Kindergarten, der Exklusion aus diesem als Prämisse der Inklusion in die Grundschule etc. Zum anderen als problematische leistungskonditionierte Karrieresequenz, deren Folge der exkludierenden Differenzierung in Haupt-, Realund Gymnasialschülerinnen eine Dauerreform und -kritik von Teilen des pädagogischen Establishments induziert. Aktuell qua internationaler Kritik an einer diskriminierenden Leistungsideologie (=»Ableism«) mit dem korrelierenden Postulat eines inklusiven Bildungs-, Schul- und Unterrichtssystems (Colognon 2013, 17ff.).
Die gestiegenen Erwartungen an das funktionssystemspezifische Wissen, die forcierte Umstellung auf die computervermittelte Kommunikation (Digitalisierung), die stärkere globale Konkurrenz sowie die geringere Loyalität bei gleichzeitig höheren Qualitätsansprüchen der Laien- bzw. Publikumsrollen verändern auch die Mainstream-Inklusion der Erwerbskarrieren in den Arbeitsorganisationen der Funktionssysteme (Jäger/ Schimank 2005; Böhle u.a. 2010). Diese müssen • • • •
den kommunikativen Latenzschutz ihrer traditionellen Organisationskulturen durch neue Formen der Corporate-Identity restabilisieren; die Programme ihrer Stellenordnungen sachlich stärker diversifizieren, sozial mehr individualisieren, zeitlich rascher ändern und räumlich weiter ausdehnen; die positionsspezifischen Erwartungen ihrer Stellenordnungen auf die programmspezifischen Veränderungen zuschneiden; das entsprechende Personal im Hinblick auf die Positionen rekrutieren und befördern.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
An die Stelle der klassischen Arbeitsorganisationen, sie reformierend oder ergänzend, treten in jedem der Funktionssysteme zunehmend neue Formen der Arbeitsorganisation. •
•
•
Beispielhaft erwähnt seien nur die Industrieunternehmen der Kommunikationstechnologie (Microsoft, Apple, Google) sowie die entsprechenden auf E-Commerce spezialisierten konsumorientierten Dienstleistungsorganisationen (Face-Book, E-Bay, Amazon, Media Markt, Saturn). Ferner die Vielfalt der massenmedialen privaten Hörfunk- und Fernsehsender sowie die Zunahme der Online-Angebote der Printmedien. Des Weiteren neue Tourismus-, Verkehrs- und Logistikunternehmen. Und schließlich die – wenn auch partiell verzögerte – Umstellung der öffentlichen Verwaltung, der Gerichte, der Schulen und Hochschulen, der Parteien sowie der Sozialen Hilfe und Religionsorganisationen auf Online-Kommunikation.
Insofern es weder ein Recht auf eine Stelle noch auf eine Erwerbskarriere in einer der Arbeitsorganisationen gibt, kontinuiert die Inklusions- bzw. Positivkarriere der Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung auch unter den skizzierten Veränderungen als kontingente. •
•
Zugleich gilt nach wie vor: Je erfolgreicher sie ist, desto höher ist sie normalerweise in der vertikalen Stellenordnung angesiedelt. Dabei nimmt mit der Aufwärtsmobilität des Stelleninhabers der Zugang zu den zentralen Erfolgsmedien der Arbeitsorganisation, nämlich Geld, Macht, Wissen, Prestige, zu, sowie die Anzahl der gleichgestellten Berufsgruppen als arbeitende, angestellte, verbeamtete, professionelle oder selbständige Kollegen ab und umgekehrt. Eine strukturelle Kopplung von erfolgreichen Bildungsabschlüssen und erfolgreichen Erwerbskarrieren ist dabei hochwahrscheinlich, wenn auch keine Garantie. Das Risiko, im unteren Segment der Mainstream-Inklusion platziert zu sein oder gar exkludiert zu werden, wächst hauptsächlich bei denjenigen, die einen geringen Bildungsabschluss aufweisen, oder bei denjenigen, die zu lange an den erlernten Kompetenzen der klassischen Arbeitsorganisationen festhalten.
Obwohl die Bildungs- und Erwerbskarriere jeweils die Hauptkarriere in der Kindheit, Jugend bzw. im Erwachsensein in Form der primäre Leistungsrolle repräsentieren, heißt dies nicht, dass die übrigen Rollen unwichtig oder irrelevant sind. Vielmehr muss potenziell jede Person zu potenziell allen Funktionssystemen Zugang haben und an ihrem Leistungsbezug bzw. ihrer Leistungserbringung mitwirkungsrelevant teilnehmen können, d.h. konsumieren, lernen, studieren, ihre Rechte wahrnehmen, wählen, glauben, mobil sein, sich informieren, sich behandeln lassen, Museen besuchen etc. können. Luhmann (1981e, 25) formulierte den damit verknüpften Inklusionsbegriff bereits zu Beginn der 1980er Jahre wie folgt: »Der Begriff der Inklusion meint die Einbeziehung der Gesamtbevölkerung in die Leistungen der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme. Er betrifft einerseits Zu-
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
gang zu diesen Leistungen, andererseits Abhängigkeit der individuellen Lebensführung von ihnen (Hervorhebung i. O.).« Dabei stellt das hinsichtlich der Gesamtbevölkerung implizit mitgeführte Inklusionspostulat der Gleichheit auf eine Vielzahl von an die Personen adressierten Laienrollen (Luhmann 1977, 234; Hohm 2006, 107ff.) bzw. Publikumsrollen (Stichweh 1988) ab. •
Sie differenzieren sich als Komplementärrollen des Kunden, der Schülerin, des Studenten, des Mandanten, der Wählerin, des Versicherten, der Gläubigen, des Fahrgastes, des Medienpublikums, der Patientin, des Museumsbesuchers etc. (vgl. zur entsprechenden Enumeration von Komplementärrollen Luhmann 1977, 236ff.; Luhmann 2000c, 302ff.) der primären Leistungsrollen (=Berufsrollen) in den jeweiligen Funktionssystemen aus.
Bei diesen handelt es sich entsprechend um den Verkäufer, die Lehrerin, den Professor, die Juristin, den Politiker, den Versicherer, den Priester, Piloten, Journalisten, die Ärztin, Künstlerin, Animateurin etc. Ob, wie und welche der vielfältigen Laien- bzw. Publikumsrollen die Personen als Neben- und manchmal sogar als temporäre Hauptkarrieren selegieren und kombinieren können, verweist auf ihre mit dem Inklusionspostulat verknüpfte Freiheit. Sie ist vor allem, wenn auch nicht nur, von ihrer Bildungskarriere in der Jugend sowie von ihr und der Erwerbskarriere im Erwachsensein und von beiden im Alter abhängig. Das Ergebnis der karrierespezifischen Interdependenz von Monoinklusion durch eine Hauptrolle (Lernende Rolle, Erwerbsrolle und Rentnerrolle) und Multiinklusion durch eine Vielfalt von Laien- und Publikumsrollen produziert die gegenwärtige gesellschaftliche soziale Positionierung der Personengruppen. Ihre Dynamik und Heterogenität korrespondiert im Inklusionsbereich erster Ordnung mit einer Pluralität bzw. Iteration sozial ungleicher Lagen. Diese lässt sich semantisch weder mit der Statik des klassischen Dreierschemas der hierarchischen Schichtenordnung und schon gar nicht dem Zweierschema des Marxschen Klassenmodells beschreiben. Vielmehr scheint es sinnvoller zu sein, mit Gerhard Schulze (1993, 174) an die Semantik der Milieus anzuschließen und diese als »Personengruppen, die sich […] durch gruppenspezifische Existenzformen und erhöhte Binnenkommunikation voneinander abheben«, zu definieren. Diese Definition hat den Vorteil, dass sie sich durch ihren Bezug auf Großgruppen von Friedhelm Neidhardts (1999, 135) systemischer Gruppendefinition unterscheidet, die soziale Gruppe eher als eine interaktionsnahe Kleingruppe versteht. Nämlich als ein »soziales System […], dessen Sinnzusammenhang durch unmittelbare und diffuse Mitgliederbeziehungen sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt ist«. Typisch für die sozialen Milieus der heutigen Mainstream-Inklusion im Vergleich zu den klassischen modernen Milieus scheint vor allem der gestiegene Grad der Individualisierung der Personengruppen zu sein. Er manifestiert sich sowohl durch die lockere Kopplung ihrer Bildungs- und Erwerbskarrieren an bestimmte Bildungs- und Arbeitsorganisationen als auch ihrer Nebenkarrieren an bestimmte Dienstleistungsorganisationen sowie den niedrigeren Integrationsgrad der Binnenkommunikation. Dies gilt ten-
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denziell sowohl für das Selbstverwirklichungsmilieu von Schulze (1993, 312ff.) als auch für bestimmte der jüngeren Milieus der Sinus-Studien (vgl. zur aktuellen soziologischen Milieudebatte ZTS 2014), z.B. das sozial-ökologische, das adaptiv-pragmatische und das expeditive Milieu (www.sinus-institut.de 2013). 8.4.4.1.2 Exklusive Inklusion Auf sie wollen wir nur kurz stichwortartig wie folgt Bezug nehmen: 1. Sie verweist auf Glanzkarrieren, d.h. Höchstüberbietung der programmspezifischen Normalerwartungen der Funktionssysteme durch eine Minderheit von Personengruppen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Seniorinnen), die 2. dadurch zu positiv bewerteten Funktionseliten mit hoher Reputation gehören; 3. oft Toppositionen in hoch anerkannten Zentral- bzw. Spitzenorganisationen der Funktionssysteme – wie Eliteuniversitäten, Exzellenzinitiativen, Hochbegabtenschulen, Spitzenvereinen und -verbänden, Opernhäusern, Theatern, Verlagen etc. – mit hochexklusiver Binnenkommunikation innehaben; 4. hinsichtlich bestimmter Erfolgsmedien, wie Einkommen, Entscheidungskompetenz, Wissen, Erwähnung in Massenmedien, Auszeichnungen, höchst privilegiert sind; 5. umso prominenter im jeweiligen Funktionssystem der Mainstream-Inklusion sowie den Massenmedien sind, desto leichter ihre Leistungen seitens der Laien oder des Publikums verstanden werden können; 6. nicht selten mit einer Überattribuierung der persönlichen Leistung verknüpft sind; 7. sowohl im jeweiligen Funktionssystem als auch medial unter Sonderbeobachtung stehen und deshalb besonders kritisiert sowie skandalisiert werden, wenn einzelne Personen der Funktionseliten deren präeminente Funktion durch Verstöße gegen die Sondermoral der Funktionssysteme diskreditieren, z.B. durch Doping im Hochleistungssport, Datenfälschungen und Plagiate in der Wissenschaft, Literatur oder Kunst, Korruptionen in der Politik oder Wirtschaft; 8. einerseits höchste Selektionsfreiheiten bezüglich der Stellensuche, der Platzierung und Präsentation ihrer Leistungen, des Zugangs zu exklusiven Konsumgütern und exklusiven Personen aufweisen. Andererseits hohe Einschränkungen der Freiheitsgrade qua Beobachtung durch die jeweilige funktionssystemspezifischen Konkurrenten, die Massenmedien oder das Sicherheitspersonal in Kauf nehmen müssen; 9. milieuspezifisch entsprechen die Personengruppen am ehesten dem Niveaumilieu von Schulze, erinnert sei nur an sein Erlebnisparadigma »Nobelpreisverleihung« (1993, 291), sowie dem konservativ-etablierten Milieu, liberal-intellektuellen Milieu und dem Milieu der Performer des Sinus Instituts (2013).
8.4.4.2 Inklusionsbereich zweiter Ordnung: Exkludierende Inklusion Wenn wir von exkludierender Inklusion sprechen, gehen wir davon aus, dass es sich bei der Form Inklusion um eine hierarchische Opposition handelt (Stichweh 2004, 357; Hohm 2012, 99). Das bedeutet, dass der Begriff der Inklusion umfassender als derjenige
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
der Exklusion ist. Die Inklusion der Exklusion entsprechend wie ein Schatten folgt – in Umdrehung einer Formulierung Luhmanns (1995e, 262). Exkludierende Inklusion unterscheidet sich von der Mainstream-Inklusion durch ihre Nachrangigkeit. Sie manifestiert sich in besonderen Lebenslagen eines durch Sonderorganisationen, soziale Brennpunkte, Sondermilieus, Sonderszenen etc. differenzierten Exklusionsbereiches. Indem wir diesen in der Gesellschaft verorten, lösen wir damit ein Dilemma der klassischen Randgruppensoziologie, das im Oszillieren zwischen partiellem und völligem Ausschluss der Randgruppen aus der Gesellschaft bestand (vgl. dazu exemplarisch Fürstenberg 1965, 236 und 237). Wenn wir die in den Exklusionsbereich Inkludierten als exkludierte Personengruppen bezeichnen, substituieren wir damit den klassischen Begriff des Außenseiters (Becker 1973) durch den präziseren Begriff der Exkludierten als Außenseite der Form der Mainstream-Inkludierten. Sofern wir die Inklusion durch Exklusion aus dem Inklusionsbereich erster Ordnung als Ergebnis von Exklusions- bzw. Negativkarrieren begreifen, macht deren Exklusionsdynamik die exkludierten Personengruppen in spezifischer Form zu negativ bewerteten Minderheiten. Zu ihnen gehören mindestens die folgenden Merkmale: Die generelle sowie unspezifische gesellschaftliche Differenz normal/abweichend muss code- und programmspezifisch differenziert werden. Dazu müssen funktionssystem- und organisationsspezifische kommunikative Ereignisse auftreten, die den Personen so zugerechnet werden können, dass sie sich auf der negativen Codewert (rechtswidrig, somatisch/psychisch oder geistig krank, zahlungsunfähig, lernunfähig, ungeliebt, pflegebedürftig, körperlich/psychisch oder geistig behindert, un- bzw. andersgläubig, unwahr, radikal-oppositionell) beziehen. Da die organisationsspezifischen Programme der Funktionssysteme nach leicht, schwer, schwerst oder besser/schlechter skaliert sind, macht es einen folgenreichen karrierespezifischen Unterschied, ob den Personen ihr (Körper-)Verhalten oder Erleben als Bagatellabweichung (Grippe, leichtes Hinken, leichte Kurzsichtigkeit, Handy am Steuer, einmaliges Überziehen des Girokontos, einmalig schlechte Note, temporäre Pflegebedürftigkeit, vorübergehende Ignoranz der Partnerin etc.) oder als eine schwere bzw. schwerste Abweichung zugeschrieben wird. Bagatellabweichungen wollen wir als paradoxe Formen der Normalabweichung der Mehrheit der Gesamtbevölkerung im Inklusionsbereich erster Ordnung bezeichnen. •
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Sie führen allenfalls temporär zur Exklusion aus der jeweiligen Rolle und nur dann für längere Zeit, wenn Quantität in Qualität durch mehrfache Wiederholung umschlägt. Ansonsten werden sie als einmalige Ereignisse im jeweiligen System schnell vergessen und die betroffenen Personen können ihre Rollenausübung problemlos fortsetzen.
Anders sieht es aus, wenn kommunikative Ereignisse im Inklusionsbereich erster Ordnung auftreten, welche die programmspezifische Zuschreibung auf die Extremwerte der
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Abweichung durch autorisierte Entscheider des gleichen oder anderer Funktionssysteme auslösen. •
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Durch deren Entscheidungen werden die bisherigen kommunikativen Adress- und Identifikationsstellen der betroffenen Personen des Inklusionsbereiches erster Ordnung nachhaltig dekonstruiert. Je nach abweichendem Verhalten, Erleben oder Körper, werden sie zu Schwerstkriminellen, Schwerstpflegebedürftigen, Schwerstkörperbehinderten, Schwererziehbaren, chronisch Kranken, Sonderschülern, Dropouts, Links-oder Rechtsextremen, Drogensüchtigen, Insolventen, Langzeitarbeitslosen, Hilfesuchenden, Wohnungslosen, Plagiatoren, Dopern, illegalen Migranten etc. Personen, denen man als Adressstellen der Kommunikation Zukunft, d.h. Kredit und Vertrauen, in den jeweiligen Funktionssystemen und Organisationen einräumte, mutieren zu diskreditierten Personen. Sie werden als Risiko- bzw. Unpersonen rekonstruiert, die sich selbst/und oder andere im Inklusionsbereich erster Ordnung gefährden können. Die Exklusion aus ihm durch Inklusion in unterschiedliche Segmente des Inklusionsbereichs zweiter Ordnung, sprich Exklusionsbereichs, ist die Folge. Die Transformation der inkludierten Personen des Inklusionsbereichs erster Ordnung zu exkludierten Personen im Inklusionsbereich zweiter Ordnung ist oft zusätzlich an ein Umschlagen von kognitiver Differenzierung zur evaluativen Diskriminierung bzw. Stigmatisierung durch Moralkommunikation gebunden (Goffman 1970). Da es kein Funktionssystem der Moral gibt, kann sich die Moralkommunikation potenziell überall dort andocken, wo die exkludierten Personengruppen Thema oder Teilnehmer von Kommunikation sind. Besonders sind es jedoch bestimmte Massenmedien, selektive Repräsentanten des Establishments der Funktionssysteme und mehr oder weniger große Bevölkerungsteile, die das Verhalten, Erleben oder den Körper der exkludierten Personen als schlecht oder böse diskreditieren. Ihre Missoder gar Verachtung als Unpersonen stabilisiert dann zusätzlich ihre Exklusion im Inklusionsbereich zweiter Ordnung dadurch, dass primär über sie statt mit ihnen kommuniziert wird. Im Extremfall werden sie sogar mit physischer Gewalt als Folge der forcierten Diskriminierung und Stigmatisierung konfrontiert.
Über das Dargestellte hinaus lassen sich anhand einiger Vergleichsdimensionen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der nachrangigen Inklusion verdeutlichen. Dazu werden wir selektiv auf Sonderorganisationen wie Anstalten, Heime und Asyle, Förderschulen, soziale Brennpunkte, Prekarität und spezifische Szenen als besondere Lebenslagen der exkludierten Personengruppen Bezug nehmen. Exklusionssemantik: Reduktion der Person auf eine imageschädigende Hauptrolle Die Dekonstruktion der Person korrespondiert, wie bereits erwähnt, mit ihrer Rekonstruktion. Die Exklusionssemantik reduziert ihre kommunikative Adressierung und Identifikation auf eine negative Hauptrolle. Je nach funktionssystemspezifischem Programm variieren das Ausmaß des ihr zugeschriebenen Risikos sowie die persönliche Verantwortung für das mit ihr verknüpfte Verhalten, Erleben und den Körper. So
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
ist es z.B. ein gravierender Unterschied, ob eine Person als schwer Pflegebedürftige, blinde Person, Schwerstkrimineller oder Erwerbsloser adressiert wird und sich selbst adressiert (Goffman 1977; Rohrmann 2008). Soziale Mehrfachexklusion: Reduktion und Substitution der Adressstellen des sozialen Netzwerkes Dominiert die Fremd- und/oder Selbstzuschreibung des Gefahren- und Gefährdungspotentials in Bezug auf die imageschädigende Hauptrolle, kann ihr Labeling als Risikogruppen zu einem Spillover-Effekt auf andere Rollen und zur Mehrfachexklusion führen. Das verbliebene soziale Netzwerk der exkludierten Personen schrumpft auf wenige existentiell wichtige soziale Rollen. Gleichzeitig sinkt die Anzahl der kommunikativ adressierbaren Personen. Zudem erfolgt ihr Austausch, der im Extremfall das kommunikative Netzwerk nur noch auf gleichbetroffene Personen zusammenschnurren lässt (Thomas 2010; Hohm 2011). Ob bzw. wie leicht oder schwer es zu ihrer kommunikativen Schließung kommen kann, hängt, neben ihrer Fähigkeit zur Selbstorganisation, nicht zuletzt davon ab, ob die sie beobachtenden funktionssystemspezifischen Kontrollinstanzen sie fördern, dulden oder zerschlagen. Dass dies bei organisierter Kriminalität, terroristischen Vereinigungen, rechtsoder linksextremen Gruppierungen anders aussieht als bei Selbsthilfegruppen chronisch Kranker, geistig Behinderter, Arbeitsloser oder Szenejugendlichen, liegt auf der Hand. Räumliche Mehrfachexklusion: Reduktion der rolleninduzierten Mobilität und Imagegefährdung durch die immobile sozialräumliche Adresse Die Reduktion des sozialen Netzwerkes kann sowohl Folge als auch Ursache der Mehrfachexklusion aus den dislozierten Rollen des Inklusionsbereichs erster Ordnung sein. Durch sie beschränkt sich die Mobilitätskarriere des Verkehrssystems weitgehend auf den lokalen Nahraum (Hohm 1997). Und die Immobilitätskarriere des Wohnens korrespondiert mit der unfreiwilligen Identifikation mit einer sozialräumlich diskreditierten Adresse (Thomas 2010). Dabei indiziert die räumliche Totalinklusion der Insassen den fremdbestimmten Extremfall einer auf die Binnen- und Außenräume der totalen Institution reduzierten Mikromobilität und einer auf die halböffentlichen Mikroräume beschränkten Immobilität mit Anstaltsadresse (Goffman 1977). Dem steht der selbstbestimmte Extremfall der Inklusion eines Teils der Wohnungslosen gegenüber. Ihre Mobilität fokussiert sich auf die öffentlich zugänglichen Binnenund Außenräume der urbanen Zentren mit der gleichsam informalen sozialräumlichen Adresse des nicht selten durch einen Hund bewachten Körperterritoriums. Dazwischen rangieren Formen der Verkehrsmobilität, die hauptsächlich an die Quartiere des sozialen Wohnungs- bzw. Unterkunftsmarktes gebunden sind. Dabei nimmt das Negativimage der sozialräumlichen Adressen der entsprechenden Immobilien in dem Maße zu, in dem es sich um solche von sozialen Brennpunkten bzw. Problemquartieren handelt (Hohm 2011). Sachliche Mehrfachexklusion: Substitution der Hauptrollen der Lernenden und des Erwerbstätigen durch Inklusion in Rollen mit eingeschränktem Zugang zu den Erfolgs-
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medien Geld, Macht, Wissen, Prestige Implizit setzten wir bereits voraus, dass die bisherigen Komponenten der nachrangigen Inklusion mit einem eingeschränkten Zugang zu den Erfolgsmedien Geld, Macht, Wissen, Prestige einhergehen. So knüpft die Totalinklusion in Anstalten, Heimen oder Asylen den Zugang zur lernenden Rolle oder Erwerbsrolle, wenn er überhaupt möglich ist oder zugelassen wird, an Konditionen, die von den Selektionsfreiheiten und Erwerbseinkommen im Inklusionsbereich in der Regel weit entfernt sind. Wird die Inklusion als Förderschülerin in die Förderschulen in den seltensten Fällen mit einem Hauptschulabschluss oder gar Abitur beendet und der Selektionscode in bestimmten Förderbereichen explizit außer Kraft gesetzt (Rohrmann 2009; Klemm 2013). Und leben die Personengruppen der sozialen Brennpunkte (Hohm 2011) oder bestimmter Szenetreffpunkte (Thomas 2010) oft unter prekären Bedingungen, die sie als Working Poor des Beschäftigungssystems weniger zu »Zwischenschichten« (Vogel 2008) als zu Grenzgängern und damit zu eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten des Inklusionsbereichs erster und zweiter Ordnung machen. Zeitliche Mehrfachexklusion: Abnahme der Zeiten im Inklusionsbereich erster Ordnung bei gleichzeitiger Zunahme der Inklusionszeiten im Exklusionsbereich Die Zunahme der Inklusionszeiten der exkludierten Personengruppen im Exklusionsbereich führt nicht nur zur Ersetzung früherer sozialer Netzwerke, reduzierter Raumerfahrungen und Entlernen vergangener Kompetenzen, sondern auch zu veränderten Temporalstrukturen und anderem karrierespezifischem Zeiterleben. So wird bei denjenigen in prekären Lebenslagen, denen es früher besser ging, die Gegenwart zugunsten der nostalgischen Erinnerung abgewertet und der Langfristhorizont der Zukunft ausgeblendet. Andere hingegen versuchen sich als »Jobnomaden« oder »Pfadfinder« durchzuschlagen und der jeweiligen Gegenwart immer wieder neue Gelegenheiten des Überlebens abzugewinnen (Vogel 2008). Besonders problematisch ist hingegen die Situation bei denjenigen exkludierten Personengruppen, die entweder auf keine Zukunft jenseits der totalen Institutionen hoffen können oder auf keine Vergangenheit im Kontext zentraler Rollen des Inklusionsbereichs zurückblicken können. Handelt es sich bei jenen um die Mehrzahl der älteren Pflegebedürftigen, Häftlinge mit anschließender Sicherheitsverwahrung oder bestimmte Gruppen mehrfach Behinderter, sind es hier diejenigen, die bereits die zweite oder dritte Generation von exkludierten Personen in den Problemquartieren des Inklusionsbereiches 2. Ordnung repräsentieren (Hohm 2011). Riskanter Körperumgang: Transformation der Körperbedarfe von Einbettung in kommunikative Reziprozität zur rücksichtslosen unmittelbaren Bedarfsbefriedigung Wenn die Selbstsozialisation und Selbstdisziplinierung des Körpers trotz Exklusion aus relevanten Rollen des Inklusionsbereichs erster Ordnung nicht hinreichend habitualisiert ist, kommt es sowohl zum riskanten Umgang mit dem eigenen als auch dem Körper anderer Personen (Bette 1989; Luhmann 1995e). Dieser kann zum einen in der Binnenkommunikation des noch verbliebenen sozialen Netzwerkes der exkludierten Personengruppen stattfinden. Die Körper werden zum Sucht-, Gewalt-, Sexual-, Konsum- oder Verkehrskörper, ohne dass die Beobachtung der Beobachtung durch das Gegenüber als Selbstkontrolle ihres Körperverhaltens oder -er-
8. Inklusion/Exklusion und der Lebenslauf
lebens fungieren könnte. So kommt es im Underlife bestimmter totaler Institutionen, wie Vollzugsanstalten, Erziehungs- oder Asylantenheime, zum Drogenhandel, zur Konfliktlösung durch Gewalt oder zu sexuellen Übergriffen. Aber auch im Kontext von Szenetreffs wird die promiske Sexualität oder der Joint zum letzten Rettungsanker der Zugehörigkeit (Thomas 2010). Zum anderen kann sich das entsprechende Körperverhalten, z.B. die Gewalt, auch gegen die Umwelt anderer Personengruppen richten, seien es die Kontrollinstanzen, seien es andere Personengruppen des Problemquartiers, oder gegen bestimmte zufällig an bestimmten Szenetreffs vorbeilaufenden Passanten. Fazit: Hohe und negative konfliktauslösende Integration statt niedrige und positive konfliktreduzierende Integration Sieht man die dargestellten Merkmale der nachrangigen Formen der exkludierenden Inklusion auf einen Blick, dann lässt sich konstatieren, dass sie auf eine hohe und zugleich negative Integration der Personengruppen im Inklusionsbereich zweiter Ordnung mit Stabilisierung von Konfliktsystemen verweisen. Negativ ist die Integration zum einen deshalb, weil die Mehrfachexklusion die Personen am Zugang zu wichtigen Ressourcen der Funktionssysteme hindert. Und zum anderen deswegen, weil das verbliebene Inklusionsprofil an Rollen von Exklusionskarrieren in Sondersystemen gekoppelt ist, welche die Unperson als erratische und riskante andere Seite der Form Person ins Zentrum der Identifikation von Erwartungen des (Körper) Verhaltens und Erlebens rücken. Hoch ist die Integration, da die Sondersysteme das rollenspezifische (Körper-)Verhalten der Risikopersonen unter Sonderbeobachtung stellen (Goffman 1977; Foucault 1994). Dadurch beschränken sie nicht nur deren, sondern auch die eigenen Selektionsfreiheiten. Aus Vertrauen als Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität (Luhmann 1973) wird Misstrauen mit erhöhten Erfordernissen der Kontrolle. Konfliktauslösend ist die hohe und negative Integration, weil die sozialräumliche Reduktion der Kommunikation auf einige wenige Sondersysteme und Sonderrollen Strategien der Konfliktvermeidung durch Systemwechsel erschwert. Und nicht zuletzt und vor allem auch deshalb, weil Konfliktsysteme die Beteiligten durch eine negative Form der doppelten Kontingenz verbinden, welche darauf hinausläuft, dass beide Seiten nur das tun, von dem sie vermuten, dass es dem anderen schadet.
8.4.5
Fragen an die Kunst der systemischen Sozialarbeit
Abschließen möchte ich meinen aus der Perspektive der soziologischen Systemtheorie gehaltenen Vortrag mit fünf durch sie inspirierten Fragen an die Kunst der systemischen Sozialarbeit: 1. Welches ist das Heimatsystem, in dem die Reflexion (=Planung und Evaluation) systemischer Sozialarbeit stattfindet? 2. Wie gelingt es der systemischen Sozialarbeit, die exkludierten Personengruppen zu inkludieren? 3. Macht es einen Unterschied für die systemische Sozialarbeit, ob sie in ihrem Heimatsystem oder den Sondersystemen der exkludierten Personengruppen stattfindet?
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf 4. Gehört die Inklusion der exkludierten Personengruppen als Leistungserbringung der systemischen Sozialarbeit durch die Rolle des Klienten zur Mainstream-Inklusion, oder ist sie eine imageschädigende Hauptrolle der exkludierenden Inklusion? 5. Was konstituiert die »Kunst« der Kunst systemischer Sozialarbeit?
9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft Zur quantitativen Dimension sozialer Systeme
9.1 Einleitung Zahlen scheinen für die unterschiedlichen Typen sozialer Systeme von großer Relevanz zu sein. So macht es einen Unterschied für die Eigenkomplexität und Evolution der Gesellschaft sowie ihre Ordnung und Konflikte, ob es – wie spätestens seit dem 20. Jahrhundert – nur eine umfassende Gesellschaft als Weltgesellschaft gibt. Oder ob eine Vielfalt von Gesellschaften ohne wechselseitige Kenntnis voneinander, wie zur Zeit der Vormoderne (vgl. Luhmann 1975e, 55; Luhmann 1995b, 8; Luhmann 1997b, Bd.1, 145; Stichweh 2000, 11), miteinander koexistiert. Im Gegensatz zu der einen umfassenden Weltgesellschaft basieren die Leitdifferenzen oder binären Codes ihrer globalen Funktionssysteme auf zwei und nicht auf drei Orientierungswerten (vgl. Luhmann 1986, 75ff.). Die Anzahl von Nationalstaaten, die Organisationsmitglieder der Metaorganisation Vereinte Nationen sind (vgl. Ahrne/Brunsson 2005), beträgt 193, während es weltweit Millionen Intimbeziehungen gibt. Für ihre quantitative Bestimmtheit als Liebespaar (=Zweierbeziehung), speziell der romantischen Liebe, wurde immer wieder auf die Bedeutung der Zahl zwei für seine Entstehung, seine Dynamik und Grenzziehung sowie seinen Erhalt als Close-Relationship aus systemtheoretischer Sicht hingewiesen (vgl. Luhmann 1982a, 175–178; Leupold 1983, 299ff.; Tyrell 1987, 583ff.). Ferner nehmen im Zusammenhang mit den Problemen der stratifikatorischen Differenzierung bzw. der sozialen Ungleichheit die Zahlen zwei und drei eine wichtige Rolle ein. Man denke nur an die Marxsche Reduktion der Sozialstruktur auf zwei Klassen (Kapitalisten/Proletarier). So schreibt Luhmann (1985, 152): »[Die Kritik der Schichtungsstrukturen] […] wird im 19. Jahrhundert mit Hilfe des Klassenbegriffs auf die aktuelle Gesellschaft bezogen und an Zukunftshoffnungen orientiert. Und dafür empfiehlt sich die Radikalisierung der Klassensemantik auf den Gegensatz von nur zwei Klassen, auf einen Gegensatz, der die Zukunft gewissermaßen schon an die Hand gibt.« (Hohm: Kursivdruck im Original)
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Oder an das Dreierschema Ober-, Mittel-und Unterschicht, mit dem die soziologische Analyse der Sozialstruktur des 20. Jahrhunderts lange Zeit durchgeführt und jeweils reflexiv nochmals auf die einzelne Schicht als z.B. obere, mittlere und untere Mittelschicht angewandt wurde (vgl. Geißler 2014, 98ff.). Interessanterweise spielt die Reduktion auf die Zahl zwei nicht nur für Paarbeziehungen, sondern auch für Konfliktsysteme eine zentrale Rolle (vgl. Luhmann 1984, 488ff.; Tyrell 1987, 585; Hohm 2016, 68ff.). So formuliert Luhmann (1984, 534): »Für Konflikte heißt dies: strukturell eine scharfe Reduktion auf eine Zweier-Gegnerschaft (oder bei mehr als zwei Beteiligten: Tendenzen zur Reduktion auf zwei Parteien durch Koalitionsbildung) und auf der Ebene des Handelns: Offenheit für fast alle Möglichkeiten des Benachteiligens, Zwingens, Schädigens, sofern sie sich nur dem Konfliktmuster fügen und den eigenen Interessen nicht zu stark widersprechen.« Weitere Evidenzen für die Wichtigkeit von Zahlen lassen sich auch im Zusammenhang mit einigen Funktionssystemen jenseits ihrer bereits angeführten binären Codierung finden. So kommt der Zahl drei als Dogma der Trinität im Religionssystem eine besondere Bedeutung zu (vgl. Luhmann 1977, 150); sticht die Zahl eins als beste Note bzw. ein »sehr gut« des Selektionscodes im Erziehungs- und Bildungssystem hervor (vgl. Luhmann 2002, 73), während demgegenüber die Zahlen fünf und sechs als mangelhaft oder ungenügend negativ bewertet werden; zählt im Sportsystem vor allem der erste Platz als Sieger, was die Prämierung der Zweit- und Drittplatzierten nicht ausschließt (vgl. Hohm 2020, 23ff.); orientiert sich das Wirtschaftssystem sehr stark an Zahlen qua Preisen und bezieht sich sein Code zahlungsfähig/zahlungsunfähig (vgl. Luhmann 1988, 13ff. u. 134ff.) als einziger der funktionssystemspezifischen Codes explizit auf den Begriff der Zahlen; rekurriert das Verkehrssystem qua Geschwindigkeitsbegrenzungen und Entfernungsangaben auf Zahlen (vgl. Hohm 1997); arbeiten im Wissenschaftssystem empirisch quantitativ verfahrende Forscher mit Zahlen (vgl. Nassehi 2019, 54ff.) und werden schließlich in der Politik die Wahlergebnisse und Mandate in Zahlenrelationen ausgedrückt, wie z.B. das Summenkonstanzprinzip bei der Verteilung der Mandate auf Parteien bzw. deren Abgeordnete (vgl. Luhmann 2000b, 103). Obwohl die Zahlen für die Gesellschaft von besonderer Bedeutung sind, gibt es, soweit wir sehen, bis dato wenig soziologische Veröffentlichungen, die sich explizit mit den Zahlen der Gesellschaft befasst haben (vgl. allerdings Mennicken/Vollmer (Hg.) 2007; Cevolini (Hg.), 2014; Mau 2018). Unsere folgenden Ausführungen verstehen sich deshalb als ein erster Versuch, die Bedeutung der Zahlen für die Gesellschaft etwas tiefer zu ergründen. Wir werden zunächst (9.2) die Funktionen von Zahlen im Kontext sozialer Systeme thematisieren, dann (9.3) Interaktionssysteme und Zahlen, angefangen von Zweierbeziehungen über Dreierbeziehungen bis hin zu Kleingruppen, erörtern. Im Zentrum steht dabei die Beantwortung der Frage, wie die jeweilige Anzahl der Beteiligten konstant gehalten werden kann und welche Konsequenzen es für den Systembestand hat, wenn dies nicht der Fall ist. Danach soll die Bedeutung der Anzahl (9.4) von Organisationen für die Reproduktion der Funktionssysteme behandelt werden. In einem abschließenden Fazit (9.5) werden wir kurz einige Themen für weitere Forschungen anschneiden.
9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft
9.2 Funktionen von Zahlen im Kontext sozialer Systeme Zahlen können im Kontext sozialer Systeme mindestens folgende Funktionen einnehmen:
9.2.1
Alarmfunktion
Man denke z.B. an die Anzahl von Verkehrstoten im Verkehrssystem, die Ozonwerte, die Aidskranken oder Covid-Toten im Gesundheitssystem, die Drogentoten, die Arbeitslosenzahlen, die Ärzteschwemme, den Studentenberg, die Sozialhilfeempfänger, die Kriminalitätsquote etc. Die Alarmfunktion spielt vor allem auch in den Verbreitungsmedien eine wichtige Rolle. So schreibt Luhmann (1996b, 60–61) hinsichtlich der Selektionsmechanismen der Nachrichten: »Ein besonders wirksamer Aufmerksamkeitsfänger sind Quantitäten. Quantitäten sind immer informativ, weil eine bestimmte Zahl keine andere ist als die genannte – weder eine größere noch eine kleinere. Und das gilt unabhängig davon, ob man den Sachkontext versteht (also weiß oder nicht weiß, was ein Bruttosozialprodukt oder ein Tabellenzweiter ist). Der Informationswert kann im Medium der Quantität gesteigert werden, wenn man Vergleichszahlen hinzufügt – seien es zeitliche (Inflationsrate des vorherigen Jahres), seien es sachliche, zum Beispiel territoriale.« (Hohm: Kursivdruck im Original) Indem sie auf die Überschreitung gewisser statistische Grenzwerte oder die überraschende Veränderung gewohnter Zahlen im Verlauf eines bestimmten Zeitraums verweisen, die für die jeweiligen Funktionssysteme von besonderer Relevanz sind, zwingen sie deren Repräsentanten, darauf durch Stellungnahmen und/oder Entscheidungen zu reagieren.
9.2.2
Bewertungsfunktion/Rangordnungsfunktion/Vergleichsfunktion
Sie spielt u.a. im Erziehungs-und Hochschulsystem (vgl. Luhmann/Schorr 1979, 305ff.; Luhmann 2002, 73; Hohm 2015, 59–60; Nassehi 2019, 299), aber auch im Sportsystem eine wichtige Rolle (Werron 2010, 257–258; Hohm 2020, 97–98). Die Zahlen drücken hier Leistungsdifferenzen aus, die anhand unterschiedlicher Bewertungsskalen (Benotungssystem, Punktesystem) gemessen werden. Man könnte auch von der Platzierungsfunktion sprechen. Dabei können sich die bewerteten Leistungen sowohl auf den Vergleich von Personen in ihren Rollen als Schüler und Sportler als auch auf Organisationen mit ihren Programmen und Werten, z.B. durch Ratings, wie im Falle von Universitäten, Betrieben oder Nationalstaaten, beziehen.
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9.2.3
Inklusions- und Exklusionsfunktion
Zahlen können auf zugelassene Teilnehmerzahlen, z.B. beim Studium durch Numerus Clausus, referieren, oder auf Mindest-und Höchstzahlen wie im Falle bestimmter Sportarten. So müssen es beim Synchronspringen mindestens zwei Sportler sein, während beim Fußball elf Spieler die Höchstzahl repräsentieren. Die Differenz von zu wenig und zu viel reguliert zugleich die Differenz von Inklusion/Exklusion. Auch im Kontext des Lebenslaufs und seiner Lebens- bzw. Altersphasen lassen sich bestimmte altersspezifische Zahlenangaben als Teilnahme-/Ausschlussbedingungen der Personen hinsichtlich sozialer Systeme registrieren (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2013, 26ff.; 44–46; Backes/Clemens 2013, 43 u. 56ff.). So gibt es für Dreijährige ein Recht auf einen Kindergartenplatz, muss man ab 6 Jahren in die Schule, darf ab 18 Jahren wählen und den Führerschein machen. Demgegenüber muss man mit 6 Jahren den Kindergarten verlassen, kann man mit 16 Jahren die Schule beenden, wenn man kein Abitur und Studium anstrebt, wird man zukünftig ab 67 Jahren verrentet etc. Wird die Inklusion regional, geschlechtsspezifisch oder ethnisch als unzureichend in Relation zu anderen Regionen, Geschlechtern oder Ethnien bewertet, werden z.B. im politischen System Quotenregelungen institutionalisiert, d.h. die quantitativen Anteile der bis dato benachteiligten Personengruppen erhöht.
9.2.4
Strukturierungsfunktion
Sie bedeutet, dass soziale Systeme sich mit der Anzahl ihrer quantitativen Elemente grundlegend in ihrer Struktur ändern. So macht es einen Unterschied aus, ob zweistellige oder dreistellige Konstellationen im Kontext sozialer Systeme vorliegen. Man denke nur an den Unterschied von einem Paar bzw. einer Zweierbeziehung (=Dyade) und einer Dreierbeziehung (=Triade) (vgl. Tyrell 1987, 583ff.). •
•
Betrachtet man die quantitative Dimension der Zweierbeziehung beispielhaft anhand eines Liebespaares, wird deutlich, dass ihre Struktur im Sinne normativer Erwartungen u.a. auf Exklusivität durch Ausschluss Dritter basiert, auf reziproker Höchstschätzung bis hin zu wechselseitiger Idealisierung, Offenheit und Vertrauen. Nimmt man demgegenüber Dreierbeziehungen in den Blick, lässt sich ein Strukturwandel beobachten. Die Exklusivität wird dadurch erschwert, dass drei Beziehungen statt nur eine zwischen den beteiligten Personen möglich sind. Das kann zu Koalitionsbildungen mit entsprechendem Schimpfklatsch über die abwesende Person führen. Das Vertrauen und die Offenheit untereinander können leichter in das Gegenteil, Misstrauen und Geheimnisse, mutieren und somit die Konfliktanfälligkeit von Dreierbeziehungen erhöhen.
Die Strukturierungsfunktion wird auch anhand des Unterschieds von Einparteien-, Zweiparteien- und Mehrparteiensystem im politischen System der Weltpolitik deutlich.
9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft
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Sind erstere, wie die NSDAP, KPD, SED, kommunistische Parteien Russlands, Chinas und Nordkoreas, identisch mit Diktaturen und autoritären Systemen, indem sie als Einparteiensysteme jedwede Kontingenz der Zulassung einer anderen Partei tilgen, öffnen sich Zweiparteiensysteme und Mehrparteiensysteme für die Zulassung anderer Parteien und den damit verbundenen demokratischen Machtwechsel (vgl. Luhmann 1987b,141; Luhmann 2000a, 269ff.). Eine Strukturierungsfunktion weist auch die Ausdifferenzierung der Ligen des Sportsystems in eine quantitativ nach Leistung gestaffelte Pyramide von Klassen auf, deren Anzahl an teilnehmenden Sportlern/Teams von unten nach oben abnimmt. Konkurriert wird dabei jeweils um die Bestplatzierung als Meister, Champion der jeweiligen Liga, quantitativ formuliert, um den ersten Platz als Saisongewinner (vgl. Hohm 2020, 42).
9.2.5
Sequentialisierungsfunktion
Diese Funktion stellt auf die Reihenfolge zeitlicher Abläufe ab. Sie werden von sozialen Systemen vielfach qua Programmen oder Aufbau-und Ablauforganisationen festlegt. Dabei geht es oft um irreversible Sequenzen. •
•
So musste man sich im Hinblick auf das Ingangsetzen von Intimsystemen bis in die 1960er Jahre erst kennenlernen, dann verlieben, danach heiraten und schließlich eine Familie gründen. Eine Zweitheirat wurde stigmatisiert. Zweitoptionen wurden generell limitiert und negativ sanktioniert, ob bei der Bildungs-, der Erwerbskarriere oder bei Organisationsmitgliedschaften. Die Erstentscheidung wurde quasi als unumstößlich festgezurrt. Die gesellschaftlich größere Zulassung der Kontingenz im Hinblick auf Erstentscheidungen, wie sie seit den 1970er Jahren einsetzte, lässt sich deshalb zahlensemantisch auch als quantitative Erweiterung von Möglichkeiten im Sinne größerer Pluralität (=Vielzahl) und Chance der Reversibilität der Erstentscheidung interpretieren (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 2005, 52; Peuckert 2012, 147ff.; Hohm 2016, 192ff.).
Dass festgelegten Sequenzen bzw. Reihenfolgen gleichwohl auch heute noch eine wichtige Funktion zukommt, •
•
lässt sich u.a. anhand folgender Beispiele ablesen: So kann man erst dann den Doktortitel als Namensbestandteil führen, wenn man vorher promoviert wurde; wird man erst krankgeschrieben, wenn man vorher den Arzt besucht hat; erhält man sein Abitur erst dann, nachdem man die entsprechenden Prüfungen abgelegt hat. Die Sequentialisierungsfunktion tendiert hier in Richtung eines Konditionalprogrammes mit dem Schema Wenn/Dann, sprich wenn der erste Schritt eingetreten ist, erfolgt der zweite (vgl. Luhmann 2000, 263ff.).
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9.2.6
Glücksfunktion/Unglücksfunktion
Man denke nur an die Zahl 13 oder Freitag, den dreizehnten, sowie persönliche Glückszahlen. Aber auch an den Zauber bzw. die Spannung, die von den 6 Gewinnzahlen wöchentlich im Lotto ausgeht, oder an Spielkasinos, bei denen die Spieler immer wieder ihr Glück durch das Setzen auf bestimmte Zahlen trotz statistisch höchst geringer Aussicht auf Erfolg zu manipulieren versuchen, bis sie die andere Seite des Glücks, das Unglück, durch Spielschulden einholt. Erwähnt seien auch die Sportwetten, bei denen es darum geht, auf den Eintritt zukünftiger Siege, Platzierungen oder Wettkampfergebnisse mit einer unterschiedlich hohen Geldsumme zu setzen. So schreibt Werron (2010, 393): »Wetten meint also immer eine vom Wettkampf unterschiedliche Beobachterperspektive auf Wettkämpfe: Wer wettet, handelt nicht und leistet nichts, sondern beobachtet Handlungen und Leistungen, indem er seine Wettkampf- und Leistungserwartungen durch Geldeinsätze verstärkt oder symbolisiert. So verstanden, hat Wetten einerseits immer mit der Form des Wettkampfs zu tun und setzt wie die Wettkampfform die Teilnahme mindestens zweier Parteien voraus, fügt ihr aber eine zweite Beobachtungsebene hinzu, welche die Erwartung bestimmter Ausgänge mit den Chancen und Risiken des Geldgewinns/des Geldverlusts verknüpft. Diese Verquickung von Wettkampf-und Geldinteressen impliziert, dass die Erlebnisperspektive von ›Wettinteressenten‹ stets zweigespalten, auf Wettkämpfe und auf Geld bezogen ist und beide Teilperspektiven sich wechselseitig ergänzen und verstärken.« (Hervorhebung i. O.)
9.2.7
Diskretions-, Exklusivitäts-, Schutz-, Verschlüsselungsfunktion
Hierzu gehören Geheimzahlen oder Geheimcodes, die nur den wenigen Entscheidern der Funktionseliten der Organisationen bekannt sind. Beispielhaft sei hier der berühmte Atomkoffer der Präsidenten der Atommächte genannt. Aber auch weniger spektakulär, der Tresorschlüssel des Bankvorsitzenden der Kreissparkasse oder des Geschäftsführers eines mittelständischen Betriebs. Im Zuge der Digitalisierung kommt es gleichsam zur Demokratisierung der o.g. Funktionen, indem Zahlen breitenwirksam immer mehr als wichtige Inklusionsvoraussetzung bezüglich sozialer Systeme fungieren, indem sie die persönliche Identifikation konstitutiv an den Nachweis von Passwörtern und PINS binden. Zuckmayers Hauptmann von Köpenick, der ohne Pass seine kommunikative Identifikations- und Adressstelle als Person verlor (vgl. zur Entwicklung der Passregimes Bohn 2006, 71–94) wird dementsprechend heute durch die Personen repräsentiert, die ihre Passwörter und PINS vergessen haben. Sie werden durch die Unkenntnis der entsprechenden Zahlen aus vielfältigen organisationsspezifischen Teilnahmemöglichkeiten exkludiert: dem Einkauf beim Supermarkt, dem Abheben von Geld am Bankomat oder der Online-Überweisung via Online-Banking, dem Tanken an der Tankstelle, Online-Anfragen bei Behörden, der Verlängerung von Büchern bei ihrer Bibliothek etc. Dabei gilt die Exklusion so lange, bis sie sich entweder neue Passwörter/PINS besorgt, sich die von anderen illegal angeeignet (siehe Köpenicks Hauptmanns Uniform) oder die Zahlen der vorhandenen Passwörter/PINS reaktualisiert haben.
9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft
9.2.8
Machtfunktion/Reputationsfunktion
Sie indiziert die überlegene Zahl der Panzer der Armee einer Nation, unterstrichen durch Militärparaden an Nationalfeiertagen, aber auch das größere Bruttosozialprodukt eines Landes im internationalen Vergleich. Des Weiteren das Spitzeneinkommen der Reichtumsklasse, die Anzahl der Luxuslimousinen und -yachten als Ausdruck von Conspicous consumption (vgl. Veblen 1981), aber auch die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen von Forschern, von Siegen im Sportsystem oder Preisen im Kunstsystem. Mehr vom Gleichen wird als Überlegenheit kommuniziert und durch den Vergleich quantitativ skaliert. So z.B. auch die unterschiedlichen Quintile oder Dezile bei der ökonomisch orientierten Reichtums- und Armutsforschung (vgl. bpb 2020) oder der Berichterstattung der Positionierung der Nationalstaaten im internationalen militärischen oder ökonomischen Vergleich. Dass die Macht der Zahlen durchaus unterschiedlich interpretiert und bewertet werden kann, wird z.B. bei der nachträglichen Angabe der Zahl der Demonstranten bei Veranstaltungen von Protestbewegungen deutlich. Tendieren die Veranstalter zu höheren Zahlen von Demonstranten, ist dies bei den Sprechern der sie schützenden Polizei genau umgekehrt. Die Anzahl der Demonstranten wird mithin zum Gegenstand von Machtstrategien, wobei mit wachsenden Zahlen der Protestierenden die potenziellen Einflussmöglichkeiten auf die etablierte Politik steigen und umgekehrt.
9.2.9
Informationsfunktion/Digitalisierungsfunktion
Zahlen sind schließlich informativ für die diversen Entscheidungen der Organisationen der Funktionssysteme. Nur wenn entsprechend statistisch annähernd abgesicherte Informationen als Zahlen vorliegen, können die Entscheider – quantitativ informiert – sich begründet auf bestimmte programmspezifische Maßnahmen festlegen. Dass dabei aufgrund der »Grenzen der menschlichen Intellektualität im Vergleich zu den Komplexitäten der Probleme, denen sich Individuen und Organisationen gegenübergestellt sehen« »Grenzen der Rationalität« (March/Simon 1976, 157ff.) und ein Management des Unerwarteten (Weick/Sutcliffe 2015) zu berücksichtigen sind, versteht sich von selbst. Nassehi (2019, 32ff.) macht deutlich, dass es sich bei der Digitalisierung um eine Informationstechnik handelt, deren Besonderheit darin besteht, das sie unspezifisch in dem Sinne ist, dass es für sie keinen gesellschaftlichen Sonderbereich gibt (ebd., 35). •
•
Dabei sind »Listen von codierten Zahlenwerten das Rohmaterial«, die »Lösung […] Informationen über alles Mögliche auf der Grundlage der Daten« (ebd., 32) (Hervorhebung i. O.). Nassehi (ebd., 33–34) definiert »das Digitale…als die Verdopplung der Welt in Datenform mit der technischen Möglichkeit, Daten miteinander in Beziehung zu setzen, um dies auf bestimmte Fragestellungen rückzuübersetzen.« (Hervorhebung i. O.)
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
•
Das Bezugsproblem, auf dessen Lösung die Digitaltechnik zugeschnitten ist, sieht er »in der Komplexität der Gesellschaft« (ebd., 36).
»Der Siegeszug der digitalen, also zählenden, Daten rekombinierenden Selbstbeobachtung von auf den ersten Blick unsichtbaren Regelmäßigkeiten, Mustern und Clustern ist womöglich der stärkste empirische Beweis dafür, dass es so etwas wie eine Gesellschaft, eine soziale Ordnung gibt, die dem Verhalten der Individuen vorgeordnet ist. Daten, die Individuen durch ihre Zahlungen, durch das Bewegungsprofil ihrer mobilen Datengeräte, durch ihr Kaufverhalten, durch die Suchroutinen im Internet, durch Verbindungen in sozialen Netzwerken, durch die Aufzeichnung ihrer Autonummern usw. hinterlassen, sind für Unternehmen, Strafverfolgungsbehörden, für Marktbeobachtung, Verhaltenssteuerung, Verkehrssteuerung usw. nur deshalb interessant, weil die Kumulation des je individuellen Verhaltens sich zu ›gesellschaftlichen Mustern‹ aufrunden lässt, mit denen man digital sieht, was analog verborgen bleibt.« (Hervorhebung i. O.)
Im Prinzip müsste die von uns angerissene Multifunktionalität der Zahlen systemspezifisch und hinsichtlich der Sinndimensionen konkretisiert werden. Wichtig für eine weitere Vertiefung wäre auch der intersystemische Vergleich. Wir können und wollen das an dieser Stelle nicht tun, sondern uns stattdessen im Folgenden auf die Relation von unterschiedlichen Sozialsystemen und Zahlen konzentrieren.
9.3 Interaktionssysteme und Zahlen 9.3.1
Systemische Überlegungen zum ausgeschlossenen Dritten im Kontext von Zweierbeziehungen
Zweierbeziehungen sind als Interaktionssysteme soziale Systeme, die sich gegenüber der Umwelt ausdifferenzieren und abgrenzen müssen. Dabei spielt im Kontext der Relevanz der quantitativen Dimension bzw. der Semantik der Zahlen zunächst in der sozialen Dimension die Grenzziehung in Bezug auf andere potenzielle Teilnehmer eine Rolle. Wenn in diesem Zusammenhang vom ausgeschlossenen Dritten die Rede ist, dann kann dieser auf unterschiedlichen Ebenen der Abstraktion identifiziert werden, was gleichzeitig auch etwas über die Spezifizität der jeweiligen Zweierbeziehung aussagt.
9.3.1.1
Ausgeschlossener Dritte: Generalized other
In einer ersten Variante kann mit dem ausgeschlossenen Dritten jedweder anderer mit Ausnahme der zwei Beteiligten gemeint sein. •
Es ist demnach sinnvoll von Dritten im Plural zu sprechen. Sie können entlang der Skala sehr gut, gut bekannt, bekannt, wenig bekannt, unbekannt, differenziert werden.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
•
Das Bezugsproblem, auf dessen Lösung die Digitaltechnik zugeschnitten ist, sieht er »in der Komplexität der Gesellschaft« (ebd., 36).
»Der Siegeszug der digitalen, also zählenden, Daten rekombinierenden Selbstbeobachtung von auf den ersten Blick unsichtbaren Regelmäßigkeiten, Mustern und Clustern ist womöglich der stärkste empirische Beweis dafür, dass es so etwas wie eine Gesellschaft, eine soziale Ordnung gibt, die dem Verhalten der Individuen vorgeordnet ist. Daten, die Individuen durch ihre Zahlungen, durch das Bewegungsprofil ihrer mobilen Datengeräte, durch ihr Kaufverhalten, durch die Suchroutinen im Internet, durch Verbindungen in sozialen Netzwerken, durch die Aufzeichnung ihrer Autonummern usw. hinterlassen, sind für Unternehmen, Strafverfolgungsbehörden, für Marktbeobachtung, Verhaltenssteuerung, Verkehrssteuerung usw. nur deshalb interessant, weil die Kumulation des je individuellen Verhaltens sich zu ›gesellschaftlichen Mustern‹ aufrunden lässt, mit denen man digital sieht, was analog verborgen bleibt.« (Hervorhebung i. O.)
Im Prinzip müsste die von uns angerissene Multifunktionalität der Zahlen systemspezifisch und hinsichtlich der Sinndimensionen konkretisiert werden. Wichtig für eine weitere Vertiefung wäre auch der intersystemische Vergleich. Wir können und wollen das an dieser Stelle nicht tun, sondern uns stattdessen im Folgenden auf die Relation von unterschiedlichen Sozialsystemen und Zahlen konzentrieren.
9.3 Interaktionssysteme und Zahlen 9.3.1
Systemische Überlegungen zum ausgeschlossenen Dritten im Kontext von Zweierbeziehungen
Zweierbeziehungen sind als Interaktionssysteme soziale Systeme, die sich gegenüber der Umwelt ausdifferenzieren und abgrenzen müssen. Dabei spielt im Kontext der Relevanz der quantitativen Dimension bzw. der Semantik der Zahlen zunächst in der sozialen Dimension die Grenzziehung in Bezug auf andere potenzielle Teilnehmer eine Rolle. Wenn in diesem Zusammenhang vom ausgeschlossenen Dritten die Rede ist, dann kann dieser auf unterschiedlichen Ebenen der Abstraktion identifiziert werden, was gleichzeitig auch etwas über die Spezifizität der jeweiligen Zweierbeziehung aussagt.
9.3.1.1
Ausgeschlossener Dritte: Generalized other
In einer ersten Variante kann mit dem ausgeschlossenen Dritten jedweder anderer mit Ausnahme der zwei Beteiligten gemeint sein. •
Es ist demnach sinnvoll von Dritten im Plural zu sprechen. Sie können entlang der Skala sehr gut, gut bekannt, bekannt, wenig bekannt, unbekannt, differenziert werden.
9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft
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In modernen Gesellschaften, speziell in ihren Großstädten, ist der Anteil der Dritten, der unbekannt ist, quantitativ immer weitaus größer als die ersten o.g. Werte der Skala (vgl. Simmel 2005). Die ausgeschlossenen Dritten sind in der sozialen Dimension quantitativ primär anonym und unbekannt. Die Differenz von Anwesenheit/Abwesenheit kombiniert universelle Exklusion mit der konkreten Inklusion zweier anwesender Beteiligter. Im Anschluss an Mead (1974, 157–158) könnte man auch von dem generalized other reden, der exkludiert und durch den particular other als zweifache Adressstelle unter Bedingungen doppelter Kontingenz substituiert wird.
9.3.1.2
Ausgeschlossene Dritte: Diesseits des anonymen Dritten
Respezifiziert man den Dritten und bleibt nicht bei dem generalized other stehen, lassen sich die Zweierbeziehungen danach unterscheiden, welche besondere Dritte sie außer den anonymen Dritten ausschließen. •
Identifiziert man die Dritten als Personen, Inhaber von Rollen und Positionen oder Vertreter kollektiver Organisationen bis hin zu Nationen und ordnet die Interaktionssystemen den jeweiligen Funktionssystemen mit ihren Subsystemen zu, dann lassen sich die noch zu erörternden Zweierbeziehungen im Hinblick auf den Ausschluss von Dritten und das Re-entry von Dritten präzisieren.
Eine wichtige Zwischenüberlegung (vgl. Luhmann 1984, 565–566) sollte man an dieser Stelle noch einschieben: •
•
Zweierbeziehungen lassen sich unter modernen Bedingungen als Interaktionsysteme mit der Bedingung der unmittelbaren Anwesenheit immer nur temporär aufrechterhalten, da die an ihnen Beteiligten immer auch in andere Funktionssysteme eingebettet sind und ihr Verhältnis zur Gesellschaft dem einer Exklusionsindividualität entspricht. Temporär heißt jedoch nicht, dass sich Zweierbeziehungen nicht auf Dauer stabilisieren lassen. Sie müssen jedoch mit Unterbrechungen ihrer Kommunikation rechnen. Zweierbeziehungen sind insofern labil, da sie zeitlich immer wieder aufgelöst und neu begonnen werden müssen. Der permanente Wechsel von An-und Abwesenheit und damit die Kommunikation mit einer quantitativ unterschiedlichen Anzahl von Dritten zum einen und die Tendenz der Singularisierung zum anderen muss gewissermaßen strukturell aufgefangen werden, soll es nicht zu einer Beendigung von Zweierbeziehungen kommen.
Wenn Zweierbeziehungen zeitlich labil sind, müssen sie ihre temporäre Grenzziehung nicht nur gegenüber anonymen Dritten, sondern auch gegenüber bekannten, gut und sehr gut bekannten Dritten, je nach Typus der Zweierbeziehung, durchführen können.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
9.3.2
Systemische Überlegungen zur Singularisierung/Individualisierung und Tertiarisierung im Kontext von Zweierbeziehungen
9.3.2.1
Strukturmerkmale und Typen von Interaktionssystemen als Zweierbeziehungen
Konstituiert die Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit das System-Umwelt-Verhältnis von Interaktionssystemen (vgl. Luhmann 1984, 560ff.), dann spielt für die Kommunikation und die Möglichkeit des Aufbaus von Strukturen die Zahl der an den jeweiligen Interaktionssystemen beteiligten psychischen Systeme bzw. Personen als zurechenbarer Handlungsinstanzen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das fällt zunächst bei all den Formen auf, die sich als Paarbeziehungen begreifen lassen. Angefangen vom Liebespaar über das Eiskunstlaufpaar bis hin zu Zwillingen führt die Abwesenheit von einem von beiden zu Problemen der Fortführung der Kommunikation. •
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Dies hängt u.a. damit zusammen, dass Dyaden die kleinste mögliche Form von sozialen Systemen überhaupt sind, da nur so doppelte Kontingenz (vgl. Luhmann 1984, 148ff.) entstehen kann. Die Abwesenheit führt dann zur Beendigung der unmittelbaren Interaktion. Es müssen somit Vorkehrungen im Interaktionssystem selbst getroffen werden, damit das Alleinsein im Sinne des Verlustes des direkten Kommunikationspartners nicht zu einer Negativsemantik wie Verlassenwerden, Isolation, Einsamkeit und Unglück führen soll (vgl. Tyrell 1987, 580ff. u. 584). Interaktionssysteme als Paarbeziehungen können sich so organisieren, dass sie die Kommunikation unter modernen Bedingungen auch in Form von Verbreitungsmedien fortsetzen können, z.B. per Telefon, Telefax, Internet oder Briefkommunikation. Eine Bewältigungsstrategie besteht also darin, dass die Abwesenheit qua Ersatzkommunikation kompensiert wird. Dabei kommt es entscheidend darauf an, wie lange die jeweilige Abwesenheit dauert, und ob sie freiwillig oder erzwungen ist. Man muss also die Abwesenheit von Paarbeziehungen dahingehend unterscheiden, ob es sich um kurze, mittelfristige, lange oder gar endgültige Formen der Abwesenheit handelt, und ob es freiwillige oder unfreiwillige Trennungen, z.B. Scheidungen, sind (vgl. Peuckert 2012, 130ff.).
Zweierbeziehungen sind nicht notwendigerweise Paarbeziehungen, falls man darunter Gleichberechtigung bzw. Partnerschaft in der sozialen Dimension versteht (vgl. Leupold 1983, 297ff. zur Semantik der Partnerschaft). Sie können auch als asymmetrische Beziehungen qua Mutter-Kind-Relation, Arzt-Patient, Anwalt-Mandant, Vorgesetzter-Untergebener etc. auftreten. Besonders wichtig ist, wie sich die Zweierbeziehungen generell gegenüber Dritten ausdifferenzieren. Wenn in fortgeschrittenen modernen Gesellschaften jede Person normalerweise mehr als nur einen Kommunikationspartner hat, kann man Zweierbeziehungen dahingehend unterscheiden, ob der jeweilige Adressat der Kommunikation ei-
9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft
nen privilegierten Zugang aus der Perspektive von beiden hat, oder ob es nur für einen von beiden ein Privileg ist, mit dem anderen zu kommunizieren. •
•
Für Intimbeziehungen (Paare, Mutter-Kind, Vater-Kind, Freundschaften) gilt ersteres. Jeder der beiden ist an der Anwesenheit des anderen interessiert und hat im Vergleich zu Dritten auch einen privilegierten Zugang. Demgegenüber zeichnen sich asymmetrische Zweierbeziehungen dadurch aus, dass einer von beiden bestimmen kann, wann und wie lange der andere seine Anwesenheit »genießen« kann. Er muss gleichsam um Audienz, Sprechstunden oder Termine bitten.
Zweierbeziehungen werden, wenn sie sich zu sehr ausdifferenzieren und verdichten, von manchen Soziologen (vgl. Slater 1963) als sozial regressiv bezeichnet. Sie stellen dann eine Gefahr für Dritte dar, da sie die Spielregeln und Normen der Gesellschaft unterlaufen können. Dies wird für totale Institutionen auch von Goffman (1977, 64) behauptet. Offensichtlich können bestimmte Typen von Zweierbeziehungen dazu tendieren, neue Erwartungen und Definitionen, ja ein neues Weltbild auszuhandeln, das mit dem der Umwelt konfligiert. Es unterläuft die jeweiligen Kontrollen durch Dritte. Andererseits wächst im Interaktionssystem die Gefahr symbiotischer Formen der Kommunikation, die die Eigenkomplexität der beteiligten psychischen Systeme blockieren. Zu restriktive Typisierungen im Kontext lang andauernder Zweierbeziehungen können die beteiligten psychischen Systeme an einer freien Kommunikation ihrer Ansprüche hindern, und es kann entweder zur Dauermonotonie, zu pathologischen Abhängigkeiten oder zur Trennung kommen. Asymmetrische Zweierbeziehungen werden an diesen Verselbständigungstendenzen schon allein dadurch gehindert, dass sie in der Regel flüchtiger sind, da besonders der Privilegiertere von beiden auf eine unbedingte Fortführung der Zweierbeziehung nicht angewiesen ist, sondern die Möglichkeit der Beendigung auf seiner Seite hat. Zweierbeziehungen stellen kommunikativ verdichtete Beziehungen in der Form dar, dass sie, so lange sie als unmittelbare Beziehungen andauern, sehr oft eine wechselseitige körperliche Präsenz aufweisen, der sich beide Beteiligte nicht entziehen können. Die Face-to-Face-Beziehung erfährt hier ihre Exklusivität, da ein Abschweifen der Blicke sofort als Unaufmerksamkeit registriert werden kann. Die Konzentration auf das Gegenüber wird in einer Form gesteigert, wie sie andere Interaktionssysteme mit mehreren Teilnehmern nicht aufbauen können.
9.3.2.2 Zweierbeziehungen: zwischen Singularisierung und Tertiarisierung Zweierbeziehungen scheinen zum einen in Richtung von Lebenslagen zu tendieren, die das Single zurücklassen oder zum anderen in Richtung des Hinzuziehens bzw. des Ausschlusses von besonderen Dritten. Sofern das Dritte als ausgeschlossenes eingeschlossenes parasitär wieder auftaucht, kann man bei Zweierbeziehungen, ähnlich wie bei den Leitdifferenzen von Funktionssystemen, einen Präferenzwert für die Zweierbeziehung und einen Negativwert sowohl für die Singularisierung als auch für das Hinzuziehen von Dritten konstatieren.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Zweierbeziehungen lassen sich dann formal dadurch charakterisieren, dass sie die Singularisierung und Tertiarisierung als Möglichkeiten mitführen und ihren Strukturaufbau so anlegen, dass sie ein Crossing in die eine oder andere Richtung vorübergehend blockieren. Wichtig ist hier die Zeitdimension »vorübergehend«, da es nicht selbstverständlich, jedoch möglich ist, dass sich Zweierbeziehungen als Interaktionssystem auf Dauer stellen lassen. Man muss also zwischen solchen Interaktionssystemen unterscheiden, die kurzfristige, mittel-und langfristige Zweierbeziehungen darstellen und solchen, die ihre Grenzen reduzieren oder erweitern, indem sie zur Singularisierung (Backes/Clemens 2013, 361–62) oder Tertiarisierung übergehen (vgl. Leupold 1983, 315). 9.3.2.2.1 Intimbeziehungen als Paradigma dauerhafter Zweierbeziehungen Als Paradigma dauerhafter Zweierbeziehungen bieten sich Intimbeziehungen an. Geht man von familiensoziologischen Überlegungen zur Entwicklung von Intimbeziehungen aus (vgl. Peuckert 2012), so bedeutet die quantitative Erweiterung der Zweierbeziehung zur Familie eine Systemtransformation. •
•
Zum einen kontinuiert die Zweierbeziehung als Paarbeziehung, gleichzeitig führt aber die Hinzunahme von mindestens einer weiteren Person zu einer Dreierbeziehung, die die Exklusivität des Paares dadurch relativiert, dass nun zusätzlich eine Person hinzukommt, die die Intimkommunikation strukturell verändert. Gleichwohl ist klar, dass diese zu einem zukünftigen Zeitpunkt nicht mehr raumzeitlich dem System zugehören, sondern sich aus dem System entfernen wird. Die Zweierbeziehung ist somit der strukturelle Kern der Intimbeziehung, der im idealtypischen Fall nur qua Tod beendet wird und somit das Single zurücklässt, was dann in der Altersphase zur Singularisierung führt.
Die Hintergründe der strukturellen Blockierung von Tendenzen in Richtung Single bzw. Tertiarisierung müssen wir mit Bezug auf die Liebessemantik präzisieren. Sie tabuisiert Tendenzen der Singularisierung, sofern diese in Form des Narzissmus oder der Amour propre die Liebe gleichsam selbstreferentiell an die eigene Person zurückbinden und zur Selbstbefriedigung führen. Sexualität als symbiotischer Mechanismus, der den Körper in die Kommunikation einbindet, ist im Rahmen von Paarbeziehungen zwar erwünscht (vgl. Luhmann 1981f, Luhmann 1982a, 32ff.). Sie muss jedoch unter Latenzschutz bleiben, wenn sie den Partner/die Partnerin ausschließt. Als Individualisierung ist die Singularisierung im Kontext von Paarbeziehungen allein schon deshalb gegeben, weil sich die beteiligten psychischen Systeme – trotz der Close relationship – qua Bewusstsein und nicht qua Kommunikation reproduzieren. Sie können deshalb auf das Bewusstsein und den Körper von Alter Ego nur qua verbaler oder körperbetonter Kommunikation referieren. Das Spezifische des Funktionssystems Intimbeziehungen, verstanden als Paarbeziehung, besteht darin, dass diese die Inklusion der Personen mit Höchstrelevanz besetzt und sowohl ihre internen und externen Rollen mitthematisiert.
9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft
An die Individualisierung können sich Negativsemantiken des Alleinseins, der Einsamkeit, der Isolation, des Nichtverstandenwerdens ebenso ankristallisieren, wie Positivsemantiken der Einzigartigkeit, des Höchstgefühls, der exklusiven Relevanz des Du. Beide Semantiken werden qua Intimkommunikation vermittelt und Hinterlassen im Erleben der psychischen Systeme ihre entsprechenden Effekte. Die manifeste Form der Singularisierung, die strukturell blockiert, in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten aber zunehmend als Möglichkeit bewusst wurde, ist die der dauerhaften räumlichen und sozialen Trennung (vgl. Hradil 1995, 7). Die Inklusion ins System der Paarbeziehung als Person wird damit aufgekündigt. Die latente Form der Singularisierung haben wir oben beschrieben. Während diese also die exklusive Relevanz des Alter Ego durch das eigene Ego substituiert und damit die Paarbeziehung als Sozialsystem auflöst, besteht eine zweite Form der strukturellen Blockierung darin, dass die Paarbeziehung nicht in eine Triade transformiert wird, wenn ihr einer der beiden Personen der Paarbeziehung nicht zustimmt. Ein unerwünschtes Kind ist dann ebenso eine Gefahr für die Stabilität der Paarbeziehung wie ein zusätzlicher dritter Partner. Das ausgeschlossene Dritte gilt hier ebenso wie das ausgeschlossene Single-Dasein. Wir können also im Hinblick auf Paarbeziehungen als einer Form der gleichberechtigen Zweierbeziehung festhalten, das die Intimkommunikation strukturelle Beschränkungen sowohl in Richtung der Reduktion qua Singularisierung vorsieht, somit einer Tautologie, deren Paradoxie darin besteht, dass eine Differenz kommuniziert wird, die keine ist: »Ich bin ich«. Aber auch in Richtung einer Tertiarisierung, sofern damit die gleichberechtigten Exklusivitätsansprüche anderer Erwachsenen verbunden sind. Dabei sind Singularisierung als Individualisierung und Tertiarisierung als Transformation in eine Triade dann für die Personen des Sozialsystems Paar akzeptabel, wenn sie qua Intimkommunikation Resultat einer konsentierten Entscheidung sind. 9.3.2.2.2 Zweierbeziehungen als Interaktionssysteme von Organisationen: strukturelle Beschränkung von Dritten und Vermeidung der Singularisierung Unterscheidet man Zweierbeziehungen nach dem Grade der strukturellen Beschränkung des Hinzuziehens von bzw. der Kommunikation mit Dritten und der legitimen Möglichkeit der Individualisierung, dann fällt auf, dass es jenseits von Paarbeziehungen im Kontext der Intimsphäre besonderer struktureller Vorkehrungen bedarf, wenn Zweierbeziehungen sich temporär ausdifferenzieren können sollen. Zunächst gibt es Zweierbeziehungen, die Dritte als Beobachter der Kommunikation in Form von unmittelbaren Zuhörern oder Zuschauern ausschließen. Oft handelt es sich hierbei um Verdichtungen der Kommunikation, die Themen behandeln, deren Ergebnisse zwar sehr wohl selektiv an Dritte weitergegeben werden können, wenn auch nicht müssen, die aber für beide Beteiligten ein bestimmtes Maß an Vertrautheit, zugleich aber auch eine gewisse Relevanz implizieren. Dabei kann man zwischen solchen Zweierbeziehungen unterscheiden, die asymmetrisch und solchen, die symmetrisch strukturiert sind.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Asymmetrisch strukturierte Zweierbeziehungen,die Dritte als Zuhörer und Zuschauer exkludieren. Dazu gehören Beratungsgespräche, Sprechstunden von Professionen (Anwälte, Ärzte, Sozialarbeiter, Steuerberater, Seelsorger, Kreditberater, Therapeut), Einstellungsgespräche, aber auch Konfliktgespräche (Vorgesetzter, Untergebener) und Beförderungsgespräche. • •
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Diese Formen der Ausdifferenzierung von Zweierbeziehungen müssen durch die jeweilige Organisation strukturell als Subsysteme eingerichtet werden. Die temporäre strukturelle Blockierung des wechselseitigen Hinzuziehens von Dritten verleiht der Kommunikation eine gewisse Exklusivität und Kommunikationsdichte. So treten die Inhaber der Leistungsrolle nicht zu mehreren auf und gleichzeitig verzichtet der Inhaber von Laienrollen auf die Mitnahme von Angehörigen. Dies kann implizieren, dass beide Beteiligten Themen behandeln, die nur sie betreffen und die zu einer Entscheidung oder Interpretation führen, mit denen beide Beteiligte einverstanden sind. Es kann aber auch bedeuten, dass beide Beteiligten sich mit Dritten zurückschließen müssen oder wollen, um zu einem zufriedenstellenden Entscheidungsresultat zu kommen. Die Zweierbeziehungen können einmalig, aber auch wiederholt stattfinden. Sie kommen nicht zufällig zustande, sondern setzen generalisierte Erwartungen in Form von programmspezifisch festgezurrten Terminen der jeweiligen Organisation voraus, z.B. Sprechstunden. Individuelle Lösungen im Sinne von Selbsthilfe bzw. Selbstthematisierung können strukturell blockiert werden, indem entweder die Inhaber der Laienrolle zwecks Erreichens gewisser Ziele, wie Befreiung des Gewissens (Beichte), Heilung, Anspruch auf Sozialhilfe, Krankschreibung oder Medikamentenbezug, Kredit etc., oder die Inhaber der potenziellen bzw. faktischen Leistungsrolle die Zweierbeziehung eingehen müssen. Gleichzeitig darf der Inhaber der Leistungsrolle entsprechende Entscheidungen nicht treffen und sie Dritten mitteilen, ohne die Zweierbeziehung durchlaufen zu haben. Seine Autonomie wächst in dem Maße, in dem er sich von der Hinzuziehung von Kollegen und Vorgesetzten bei seiner Entscheidung entkoppeln kann, und sie wird in dem Maße eingeschränkt, in dem er diese in den Entscheidungsprozess einbeziehen muss bzw. von deren Entscheidung abhängig ist. Die o.g. Zweierbeziehungen werden also zunächst von der unmittelbaren Beobachtung durch Dritte entkoppelt, was eine gesteigerte Konzentration auf die jeweilige Anwesenheit des Gegenübers ermöglicht und eine Verdichtung der körperlichen Präsenz einschließt. Dabei gibt es zum einen bestimmte Tabus, z.B. in Form der Unterlassung sexueller Avancen, zum anderen wird gleichzeitig eine gewisse Offenheit der Kommunikation in Bezug auf die eigene Person erwartet, speziell des Inhabers der Laienrolle.
Symmetrisch strukturierte Zweierbeziehungen ohne Dritte als Zuhörer und Zuschauer. Neben den bereits behandelten Paarbeziehungen fallen hierunter u.a. kollegiale Zweierbeziehungen, aber auch Zweierbeziehungen von Insassen- oder Laienrollen im Rahmen der unterschiedlichsten Funktionssysteme und entsprechenden formalen Organisationen. Man denke z.B. an die Besetzung von Streifenwagen bei der Polizei;
9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft
Kollegen, die sich gemeinsam ein Büro teilen; Gefangene in einer Zelle; Zweibettzimmer im Krankenhaus oder im Hotel etc. •
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Das Gesetz des Wiedersehens und/oder die relativ dauerhafte räumliche Nähe und körperliche Präsenz führt hier zwangsläufig zu einer kommunikativen Dichte, die die beteiligten psychischen Systeme dazu veranlasst, sich stärker an der Kommunikation zu beteiligen als in anderen Kontexten. Dabei macht es natürlich einen Unterschied, wie der Zugang zu Dritten und die Möglichkeiten des individuellen Rückzuges geregelt sind. So spielt es z.B. eine wichtige Rolle, inwieweit Formen der Telekommunikation (Telefon, Telefax) die Kommunikation unterbrechen können, oder dritte Personen jederzeit oder nur selektiven Zugang, z.B. durch Voranmeldung, zu den Personen der Zweierbeziehung haben. Wichtig ist zudem, ob es sich um freiwillige oder unfreiwillige Zweierbeziehungen handelt.
9.3.3
Dreierbeziehungen: Triaden
Beispiele für Triaden sind Eltern-Kind-Beziehungen, Freundschaften zu Dritt, zwei Parteien und eine neutrale dritte Instanz, z.B. bei Gerichtsverfahren, Vorstandsgremien mit zwei Stellvertretern, das Dreigestirn beim Karneval, eine Dreiecksbeziehung, ein Musiktrio etc. Triaden erhöhen – im Unterschied zu Dyaden – zunächst einmal die Adressstellen für Kommunikation. Es können drei kommunikative Beziehungen, A-B, B-C, A-C, im Gegensatz zu einer, A-B, bei Dyaden stattfinden. Die Differenz von Anwesenheit/Abwesenheit impliziert die Möglichkeit der Subsystembildung in Form wechselnder Dyaden: A-B, B-C, A-C. Damit kann auch über den jeweils Abwesenden geredet werden und können sich temporäre oder dauerhafte Koalitionen bilden. Entscheidungsprozesse können, sofern sie nicht einstimmig ausfallen müssen, mit Mehrheiten von 2:1 enden. Während demgegenüber bei Dyaden Konsens-oder Aushandlungsprozesse stattfinden müssen, sofern A und B ranggleich sind. Der Dritte kann zur Konfliktdeeskalation beitragen, wenn er sich im Falle des Konflikts glaubwürdig für die beiden anderen Beteiligten als unparteiisch bzw. neutral darstellen kann, was bei Dyaden nicht möglich ist, wenn beide Beteiligte nicht zu einer Übereinstimmung kommen (vgl. Simon 2012a, 112ff.). Die Abwesenheit eines der Beteiligten fällt – wie bei der Dyade – auf, da die Anzahl der vorgesehenen Teilnehmer überschaubar ist. Symmetrisierung und Asymmetrisierung sind auch hier denkbar. So kann man an drei KollegInnen, aber auch an drei Freunde denken. Es lassen sich jedoch auch Kombinationen von zwei ranggleichen und einem rangungleichen Teilnehmer vorstellen, wie beispielsweise bei einem Vorgesetzten und zwei Untergebenen oder zwei Elternteilen und einem Kind. Schließlich sind auch Rangordnungen im Sinne der Skalierung bester, zweitbester und drittbester, z.B. beim Sport, vorstellbar, oder die Trias Geschäftsführer, Abteilungsleiter, Gruppenleiter. Triaden sind als Interaktionssysteme komplexer als Dyaden, da sie mehr Möglichkeiten der Rollendifferenzierung zulassen und die Kommunikation variabler gestalten können. Zugleich müssen die Konversationsmaximen dafür Sorge tragen, dass eine Ka-
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kophonie vermieden wird und immer nur einer der drei Anwesenden zu einem bestimmten Zeitpunkt redet, während die jeweils anderen beiden die Rolle der Zuhörer übernehmen. Möglich ist es auch, dass zwei der drei miteinander in ein Gespräch verwickelt sind, während der Dritte zuhört. Demgegenüber gibt es bei einer Dyade immer nur einen, der redet, und einen, der zuhört. Für die Grenzziehung des Interaktionssystems gegenüber der Umwelt ist bedeutsam, wer dazu gehört und wer nicht. Die Frage stellt sich, ob Triaden, ebenso wie Dyaden, schrumpfen können, z.B. in Richtung von Dyaden, oder ob sie ihre Grenzen erweitern können durch Hinzuziehung von vierten und weiteren Teilnehmern. Für Intimbeziehungen ist dies auf jeden Fall möglich So kann sich eine Familie um weitere Mitglieder erweitern, sie kann sich aber auch durch Unfall, Tod, Scheidung, Auszug des Kindes wieder in eine Dyade zurückverwandeln. Sollen sich triadische Interaktionssysteme dauerhaft oder für eine gewisse Zeit ausdifferenzieren können, müssen strukturelle Vorkehrungen getroffen werden, um die Reduktion auf Dyaden oder die Expansion in Richtung größerer Gruppen zu vermeiden. Dies kann u.a. dadurch erfolgen, dass man räumliche Präsenz – trotz vorübergehender Abwesenheit – auf Dauer stellt. Am ehesten gelingt dies wohl in Form der Wohnung, z.B. durch Mietvertrag einer Familie oder Wohngemeinschaft. Schwieriger ist dies im Kontext der Räume von Organisationen, die sich nicht dauerhaft anmieten lassen und deren Nutzung nicht der exklusiven Disposition der Triade überlassen ist. Die kommunikative Zugehörigkeit zu einer Triade als Interaktionssystem kann sich auf konkrete Personen oder Rollenträger beziehen und formal oder informal sein. Während sie im Kontext von Laienrollen eher informal ist, tendiert sie im Zusammenhang mit Leistungsrollen in Richtung formaler Mitgliedschaft. Der Ersatz der Mitglieder von Triaden ist hier deshalb auch eher möglich, ohne die Funktionen der Triade als Interaktionssystem für die Organisation prinzipiell in Frage zu stellen. Demgegenüber führt das Auswechseln von Personen bei informellen Beziehungen eher zur Systemtransformation. Man denke nur den Wechsel eines Elternteils bei einer dreiköpfigen Familie. Dennoch erhalten Personen bei solch kleinen Interaktionssystemen eine größere Relevanz, da sie sich bei wechselseitiger Wahrnehmung und unmittelbarer Präsenz nicht ohne Weiteres auf die Position eines Fremden zurückziehen können, der mit den anderen beiden nichts zu tun haben möchte. Gilt dies schon für flüchtige Interaktionssysteme wie die Fahrstuhlfahrt (vgl. Hirschauer 1998; Hohm 2016, 23ff.), trifft dies erst recht auf organisierte Interaktionssysteme zu, die dem Gesetz des Wiedersehens unterliegen. Auch für Triaden gilt, wenn auch in abgeschwächter Weise, dass sie Rückzugsmöglichkeiten aus der Kommunikation erschweren, d.h. dass das Axiom der Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren, von Watzlawick u.a. (1972, 50ff.) hier wirksam ist. Zwar wächst aufgrund der um eine Person erweiterten Adressstelle der Kommunikation die Eigenkomplexität der Interaktionssysteme, dennoch können die Bewusstseine der Beteiligten ihren Kommunikationsverlauf noch einigermaßen im Gedächtnis rekonstruieren. Es fällt auch auf, wer schweigt oder redet, und wie er schweigt und redet (vgl. Luhmann/ Fuchs 1989, 17). Die Kommunikationspartner sind klar identifizier- und adressierbar. Man kann sich nicht verstecken. Die körperliche Präsenz spielt hier ebenso wie bei der Dyade eine bedeutende Rolle.
9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft
Ein wichtiger Punkt ist das Verschwiegensein. Geht man davon aus, dass die Vertraulichkeit mit der Größe der Zahl abnimmt, damit auch Probleme der Indiskretion zunehmen, kann man bei drei Teilnehmern immer noch relativ eindeutig rekonstruieren, wer systeminterne Informationen nach außen lanciert hat. Umgekehrt gilt, dass gerade die Überschaubarkeit der Teilnehmer Diskretion ermöglicht. Die geringe Teilnehmerzahl stellt also eine Art interne Binnenkontrolle in Bezug auf Diskretionen und Verschwiegenheit dar. Kommt es zur dauerhaften Koalitionsbildung von zwei Teilnehmern in Dreierbeziehungen, kann eine Singularisierung im Sinne der Isolierung des Dritten entstehen. Die Stabilität der Triade ist dann gefährdet mit dem Ergebnis ihrer Reduktion auf eine Dyade oder der Substitution des isolierten Dritten durch einen anderen.
9.3.4
Viererbeziehungen: Quartett
Quartetts gibt es im musikalischen Kontext, z.B. ein Streichquartett oder bei Popgruppen wie den Beatles, beim Skatspiel, aber auch als vierköpfige Familie oder bei bestimmten Sportarten, z.B. als Vierer beim Rudern, Bobsport, bei Staffelläufen in der Leichtathletik, aber auch am Stammtisch, in der Politik, z.B. die Viererbande, oder beim Film, z.B. die Musketiere. Es erhöht sich die Komplexität möglicher Kommunikationsadressen erheblich: A-B; A-C; A-D; B-C; B-D; C-D; D-A; D-C; D-B; etc. Eine weitere Besonderheit von Viererbeziehungen besteht darin, dass es beim Entscheidungsprozess zu Patt-Situationen kommen kann, wenn 2:2 Entscheidungen getroffen werden und die Koalitionsbildungen zunehmen können, z.B. A-B; C-D; C-A; B-D; A-D; B-C; etc. Darüber hinaus wird das wiederholte kontinuierliche Zusammenkommen der Beteiligten erschwert. Man muss nun vier Personen zeitlich, räumlich, sachlich und sozial »unter einen Hut« bekommen, was aufgrund der übrigen Rollenverpflichtungen der Teilnehmer schwieriger wird. Am ehesten scheint eine Problemlösung im Kontext von formalen Organisationen des Berufs oder der Freizeitorganisationen möglich zu sein. Da die Absenzmöglichkeiten einzelner Teilnehmer zunehmen, steigt damit auch die Thematisierung abwesender Anderer. Problematischer scheinen auch der Rückzug und die Ausdifferenzierung gegenüber der Umwelt zu werden. Bei der Mehrzahl der Quartetts nehmen die Probleme des räumlichen Rückzuges und die Möglichkeiten der Indiskretion zu. Am ehesten können noch die Familien diese Probleme bewältigen, wenngleich auch hier durch die quantitative Erweiterung der Personen auf vier Familienmitglieder neue Herausforderungen für die familiale Selbstorganisation in vielerlei Hinsicht entstehen. Die Reduktion auf Triaden oder die Erweiterung durch zusätzliche Mitglieder ist zwar auch hier gegeben, sie sprengt aber z.T. die Funktionen und Zielsetzungen des Systems. So wird aus einem musikalischen Quartett ein Trio oder ein Quintett und bestimmte Sportarten ändern sich ebenfalls oder lassen sich nicht mehr durchführen, wenn sie ihre Teilnehmer auf drei reduzieren oder fünf erhöhen.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
9.3.5
Kleingruppen und ihre variierende Gruppengrößen
Kleingruppen, zu denen auch die bis dato besprochenen Zweierbeziehungen, Triaden und Quartetts gehören, werden ebenfalls durch ihre spezifisch angebbare Teilnehmerzahl definiert und von Großgruppen wie Bevölkerung, Schichten, Klassen, Milieus, Massen, Protestbewegungen abgegrenzt. So können Kleingruppen wie eine Seminarveranstaltung nur mit einer Mindestzahl von 5 gestartet werden; eine Schulklasse sollte nicht mehr als 25 Teilnehmer aufweisen; eine Fußballmannschaft hat in der Regel 11 Spieler; Ausschüsse, das Kabinett und Fraktionen lassen ebenfalls nur eine bestimmte Teilnehmerzahl zu; das Gleiche gilt für Unternehmensvorstände, aber auch für Fortbildungsveranstaltungen; Selbsthilfegruppen etc. Während Kleingruppen ihr Präfix dadurch empirisch einlösen, dass sie auf maximal 25-30 Personen beschränkt sind, gehen die Zahlen der Großgruppen in die Tausende und Millionen. Sie können, aber nicht eindeutig bis Hinter das Komma als systemische Zugangsvoraussetzung der jeweiligen Personengruppen festgelegt werden. Das schließt es nicht aus, dass man z.B. bei größeren Sportevents die Anzahl potenzieller Zuschauer durch die Kontingentierung der Karten oder die Sperrung bestimmter Plätze zu steuern versucht und der Stadionsprecher die exakte Zuschauerzahl im Laufe des Events verkündet. Ebenso können Demographen, Statistiker und Soziologen die Bevölkerungszahl oder quantitative Verteilung der Personen auf Schichten, Klassen und Milieus prozentual oder in absoluten Zahlen genauer zu bestimmen versuchen (vgl. Sinus-Sociovision 2002; Geißler 2014, 99ff.). Zudem fällt auf, dass die formalen Organisationen bzw. Metaorganisationen (Ahrne/Brunsson 2005) als Steuerungsinstanzen je spezifische Mindest-und Höchstgrenzen von Teilnehmerzahlen festzurren, jenseits deren das Interaktionssystem als unter-oder überlastet gilt. So muss ein Fußballspiel ab einer gewissen Schrumpfung auf eine Mindestzahl von Spielern abgebrochen werden; fällt ein Seminar aus, wenn sich weniger als fünf Teilnehmer einfinden; gilt eine Schulklasse als überfüllt, wenn sie 30 und mehr Schüler umfasst; werden Betreuungsschlüssel für Kitagruppen festgelegt etc. Was sind die Gründe für diese Höchst-und Mindestgrenzen? Sind sie an die Funktionen und die Reproduktion der einzelnen Interaktionsysteme zurückgebunden? Handelt es sich um willkürlich gezogene Grenzen, oder haben sie etwas mit dem Erfolg oder Misserfolg der jeweiligen Interaktionsysteme zu tun? Es ist offenbar nicht beliebig, wie viele Bewusstseine respektive Personen ihre Eigenkomplexität für die Kommunikation des jeweiligen Interaktionssystems zur Verfügung stellen können und dürfen. Und umgekehrt erfordert eine zu hochgetriebene Eigenkomplexität der Kommunikationssysteme Sozialisationszumutungen, die von den beteiligten Personen nicht mehr toleriert werden. Anders ausgedrückt, wenn es sich nicht um willkürlich festgelegte Grenzen handelt, scheint es so zu sein, dass die strukturelle Komplexität der Interaktionssysteme nur ab und bis zu einer bestimmten Zahl von teilnehmenden Personen Effekte erzielen kann, die diesen Umwelten zumutbar sind. Und umgekehrt scheint es so, dass die strukturelle Eigenkomplexität von Interaktionssystemen bei einer zu geringen Teilnehmerzahl nicht hinreichend ausgeschöpft ist, um voll zur Entfaltung zu kommen.
9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft
Würde ein Fußballspiel z.B. mit jeweils 6 Spielern auf dem normalen Spielfeld fortgeführt werden, würden die einzelnen Spieler offensichtlich in Bezug auf ihre körperlichen Möglichkeiten überfordert und die Spielkommunikation würde gleichzeitig vieler möglicher Taktiken, Spielzüge, Varianten etc. beraubt. Die Leitdifferenz von Sieg/ Niederlage und die inhärente Spannung des stetigen Tempowechsels sowie der Veränderung des Spielgeschehens würden unterlaufen. Mit der Abnahme von Spannung würde der Reiz des Spieles für die Zuschauer gedrosselt. Ein Indiz für unsere Argumentation ist die Ende der 1960er beschlossene Ersetzung des Feldhandballs durch Hallenhandball. Es dauerte offensichtlich zu lange, bis die jeweiligen Teams die jeweiligen Torzonen nach einem abgeschlossenen Torwurf erreichten und aufgrund des sehr sicheren Ballbesitzes im Handball geschah auch wenig Spannendes in den Zwischenzonen. Im Unterschied zu unserem fiktiven Beispiel des Fußballs wurde allerdings in diesem Falle die Teilnehmerzahl zwecks Erhöhung der Spannung und Dynamik reduziert und nicht erhöht sowie eine kleinere Spielfläche eingeführt.
9.4 Formale Organisationen und Zahlen Für formale Organisationen spielt im interorganisatorischen Austausch bzw. auf der Ebene der Subsysteme von Funktionssystemen die Anzahl der Organisationen eine wichtige Rolle. So werden im Wirtschaftssystem Monopole von Oligopolen und anderen Organisationen unterschieden; im politischen System dominieren in Diktaturen und Autokratien Einparteiensysteme im Gegensatz zu Zwei-, Drei- und Mehrparteiensystemen in Demokratien; im Religionssystem wird in manchen Regionen der Weltgesellschaft nur eine Glaubensorganisation zugelassen, während in anderen Regionen eine Vielfalt von ihnen existiert, wie z.B. im Protestantismus; im Kontext des Systems Sozialer Hilfe existieren in Deutschland 6 Spitzenverbände der Wohlfahrt (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013); im Gesundheitssystem gibt es die Differenz von öffentlichen, privaten und freigemeinnützigen Krankenhäusern; in den Massenmedien ebenfalls die Unterscheidung von öffentlichen und privaten Anbietern etc. Die Ausdifferenzierung der funktionssystemspezifischen Organisationen entspricht offensichtlich strukturell keiner beliebigen Organisationsvielfalt, sondern einer Selektion und Stabilisierung von Strukturmerkmalen, die die empirische Mannigfaltigkeit in Form der statistisch messbaren Anzahl von Organisationen auf wenige Organisationstypen reduzieren. Dabei wird das Organisationsmonopol in aller Regel in Richtung eines Zweierschemas oder pluralen Organisationsangebotes erweitert, um Machtmissbrauch zu verhindern. Zudem fällt auf, dass wichtige organisationale Merkmale binär strukturiert sind. Die binäre Strukturierung manifestiert sich u.a. als Differenz formal/informal mit dem Präferenzwert formal; der Differenz stationär/ambulant mit dem Präferenzwert ambulant; der Differenz öffentlich-rechtlich/privat mit dem Präferenzwert öffentlich; der Differenz hierarchisch/heterarchisch mit dem Präferenzwert heterarchisch; der Differenz freiwillige/unfreiwillige Organisationsmitgliedschaft mit dem Präferenzwert freiwillig etc.
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9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft
Würde ein Fußballspiel z.B. mit jeweils 6 Spielern auf dem normalen Spielfeld fortgeführt werden, würden die einzelnen Spieler offensichtlich in Bezug auf ihre körperlichen Möglichkeiten überfordert und die Spielkommunikation würde gleichzeitig vieler möglicher Taktiken, Spielzüge, Varianten etc. beraubt. Die Leitdifferenz von Sieg/ Niederlage und die inhärente Spannung des stetigen Tempowechsels sowie der Veränderung des Spielgeschehens würden unterlaufen. Mit der Abnahme von Spannung würde der Reiz des Spieles für die Zuschauer gedrosselt. Ein Indiz für unsere Argumentation ist die Ende der 1960er beschlossene Ersetzung des Feldhandballs durch Hallenhandball. Es dauerte offensichtlich zu lange, bis die jeweiligen Teams die jeweiligen Torzonen nach einem abgeschlossenen Torwurf erreichten und aufgrund des sehr sicheren Ballbesitzes im Handball geschah auch wenig Spannendes in den Zwischenzonen. Im Unterschied zu unserem fiktiven Beispiel des Fußballs wurde allerdings in diesem Falle die Teilnehmerzahl zwecks Erhöhung der Spannung und Dynamik reduziert und nicht erhöht sowie eine kleinere Spielfläche eingeführt.
9.4 Formale Organisationen und Zahlen Für formale Organisationen spielt im interorganisatorischen Austausch bzw. auf der Ebene der Subsysteme von Funktionssystemen die Anzahl der Organisationen eine wichtige Rolle. So werden im Wirtschaftssystem Monopole von Oligopolen und anderen Organisationen unterschieden; im politischen System dominieren in Diktaturen und Autokratien Einparteiensysteme im Gegensatz zu Zwei-, Drei- und Mehrparteiensystemen in Demokratien; im Religionssystem wird in manchen Regionen der Weltgesellschaft nur eine Glaubensorganisation zugelassen, während in anderen Regionen eine Vielfalt von ihnen existiert, wie z.B. im Protestantismus; im Kontext des Systems Sozialer Hilfe existieren in Deutschland 6 Spitzenverbände der Wohlfahrt (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013); im Gesundheitssystem gibt es die Differenz von öffentlichen, privaten und freigemeinnützigen Krankenhäusern; in den Massenmedien ebenfalls die Unterscheidung von öffentlichen und privaten Anbietern etc. Die Ausdifferenzierung der funktionssystemspezifischen Organisationen entspricht offensichtlich strukturell keiner beliebigen Organisationsvielfalt, sondern einer Selektion und Stabilisierung von Strukturmerkmalen, die die empirische Mannigfaltigkeit in Form der statistisch messbaren Anzahl von Organisationen auf wenige Organisationstypen reduzieren. Dabei wird das Organisationsmonopol in aller Regel in Richtung eines Zweierschemas oder pluralen Organisationsangebotes erweitert, um Machtmissbrauch zu verhindern. Zudem fällt auf, dass wichtige organisationale Merkmale binär strukturiert sind. Die binäre Strukturierung manifestiert sich u.a. als Differenz formal/informal mit dem Präferenzwert formal; der Differenz stationär/ambulant mit dem Präferenzwert ambulant; der Differenz öffentlich-rechtlich/privat mit dem Präferenzwert öffentlich; der Differenz hierarchisch/heterarchisch mit dem Präferenzwert heterarchisch; der Differenz freiwillige/unfreiwillige Organisationsmitgliedschaft mit dem Präferenzwert freiwillig etc.
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Hans-Jürgen Hohm: Funktional differenzierte Moderne und Lebenslauf
Interessant sind die Fragen nach der strukturellen Blockierung von dritten Möglichkeiten bzw. des parasitären Wiedereintretens des ausgeschlossenen Dritten; dem jeweiligen Präferenzwert und seiner Relation zur Leitdifferenz des Funktionssystems sowie der Einheit des Zweierschemas der Strukturmerkmale im Sinne von Organisationsparadoxien und ihrer Invisibilisierung bzw. Entparadoxierung. Exemplarisch kann man die drei Fragen anhand des Parteiensystems zu beantworten versuchen. •
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Dort, wo Zweiparteiensysteme existieren, wird die präferierte Seite Regierung der Leitdifferenz des politischen Systems Regierung/Opposition (vgl. Luhmann 2000b, 97ff.) durch jeweils eine der beiden Parteien für ein oder mehrere Legislaturperioden besetzt, während die andere Seite, die Opposition, von der anderen Partei eingenommen wird. Die Organisationsebenen des Staates und der Parteien werden als Regierungs- und Oppositionspartei verbunden. Das ausgeschlossene Dritte in Form weiterer Parteien wird strukturell durch ein entsprechendes Wahlsystem blockiert. Die paradoxe Einheit des politischen Codes in Form der Gleichsetzung der Regierung mit einer der beiden Parteien als staatstragender Partei wird durch die Möglichkeit des Crossings am Ende der Legislaturperiode als Resultat der veränderten Mehrheitsverhältnisse qua Wahlverfahren entparadoxiert. Die Polity (=Verfassung) verhindert somit die Kurzschließung des Codes Regierung/Opposition mit einer der beiden Parteien als dauernder Regierungspartei. In Drei-und Mehrparteiensystemen erzwingt der Zweiercode Regierung/Opposition Koalitionen der Parteien, so dass es zu Regierungskoalitionen von Zwei- oder mehreren Parteien kommt, während die anderen Parteien als Opposition fungieren. Das ausgeschlossene eingeschlossene Dritte wird im Gegensatz dazu durch die außerparlamentarische Opposition in Form von Minderheitenparteien oder Protestbewegungen repräsentiert.
Organisationsspezifisch sind auch noch solche Relationen von Relevanz, bei denen die funktionssystemspezifischen Leitdifferenzen mit einer Hierarchisierung ihrer Organisationen als Subsysteme gekoppelt sind. •
So unterscheidet man im Sportsystem pyramidenförmig ausdifferenzierte unterschiedliche Klassen bzw. Ligen von der 1. Bundesliga bis hinab zur Kreisklasse (vgl. Hohm 2020, 42). Dabei fällt bei näherem Hinsehen auf, dass hier eine Skalierung bzw. Rangordnung in mehreren Hinsichten Platz greift. Zum einen nimmt die Anzahl der Organisationen (=Vereine) quantitativ von unten nach oben ab, wobei die damit verknüpfte Leistungsdifferenz mit der Unterscheidung des Amateurund Profisports korreliert. Zum anderen indizieren –je nach Sportart – die ersten drei und die letzten drei Rangplätze den Erfolg/Misserfolg des körperbetonten Leistungsvergleichs der Organisationen und ihrer Sportler, während die restlichen Plätze diesbezüglich indifferent sind bzw. das Mittelmaß verkörpern. Zugespitzt gilt, dass gemäß des Siegescodes nur der erste Platz zählt, der der Organisation und ihren Spielern Ruhm und Anerkennung verschafft, während die letzten drei Plätze den Negativwert symbolisieren, da sie mit Abstieg verbunden sind.
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Ähnliche Rangordnungen von Organisationen lassen sich auch im Kontext anderer Funktionssysteme antreffen. Im Rechtssystem sind es 5 Gerichtsinstanzen vom Verfassungsgericht, Oberen Landgerichten, Landgerichten bis hin zu Schöffenund Amtsgerichten. Im Verkehrssystem fünf Autoklassen; im Gesundheitssystem die drei Krankenhaustypen der Regel-, Zentral-und Maximalversorgung; im Erziehungssystem das Dreierschema Haupt-, Realschule und Gymnasium und im Wirtschaftssystem die Dreiteilung Fachgeschäft, Supermarkt und Discountgeschäfte. Offensichtlich sind diese funktionssystemspezifischen Rangordnungen von Organisationen quantitativ nicht beliebig, sondern entsprechen vorwiegend einem Dreieroder Fünferschema. Sie ändern nichts an der Orientierung an der jeweiligen binären Leitdifferenz der Funktionssysteme, sie verweisen jedoch auf eine leistungsspezifische Gradualisierung qua organisatorischer Hierarchisierung. So spielt man in der Kreisklasse nach den gleichen Regeln und orientiert sich am Siegescode wie in der Bundesliga. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die medial vermittelte Inklusion des Publikums bei letzterer größer ist und die Inklusionsvoraussetzungen der Akteure anspruchsvoller sind.
Die funktionssystemspezifische Hierarchisierung der formalen Organisationen erzeugt Berufskarrieren mit unterschiedlichen Erfolgen/Misserfolgen (vgl. Hohm 2002, 89ff.; Hohm 2016, 216ff.; Hohm 2020, 129ff.). Als Organisationskarrieren weisen sie ebenfalls eine quantitative Dimension auf. • • •
So gibt es Spitzenpositionen als knappe Positionen, die nur einmal besetzt werden können wie der Vorsitzende. Der Vorstand und das Präsidium sowie Aufsichtsrat implizieren ebenfalls knappe Stellen mit begrenzter Zahl. Darunter befindet sich, je nach horizontaler und vertikaler Binnendifferenzierung und Größe der Organisationen, eine Vielzahl weiterer Stellen, deren organisationsspezifische Relevanz in Abhängigkeit von ihrer Fach-, Entscheidungskompetenz und Berufserfahrung variiert. Dabei gilt generell: je geringer bzw. knapper die Zahl der zu vergebenen Stellen, desto höher ihre organisationsspezifische Bedeutung und je aufwendiger die Rekrutierungs- und Versetzungsverfahren (Luhmann 2000b, 288ff.).
9.5 Fazit Wie in der Einleitung angekündigt, möchten wir zum Schluss unserer Ausführungen noch kurz einige Themen andeuten, die im Kontext des Generalthemas »Die Zahlen der Gesellschaft« von Relevanz für weitere Forschungen wären. 1. So lässt sich hinsichtlich der Soziologie als Beobachter zweiter Ordnung der Gesellschaft die Frage stellen, wie ihre jeweiligen Paradigmen bezüglich der quantitativen Dimension ihrer zentralen Begriffe optieren bzw. diese begründen und welche Implikationen das für die Eigenkomplexität ihrer theoretischen Beobachtungen hat. Man denke
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Ähnliche Rangordnungen von Organisationen lassen sich auch im Kontext anderer Funktionssysteme antreffen. Im Rechtssystem sind es 5 Gerichtsinstanzen vom Verfassungsgericht, Oberen Landgerichten, Landgerichten bis hin zu Schöffenund Amtsgerichten. Im Verkehrssystem fünf Autoklassen; im Gesundheitssystem die drei Krankenhaustypen der Regel-, Zentral-und Maximalversorgung; im Erziehungssystem das Dreierschema Haupt-, Realschule und Gymnasium und im Wirtschaftssystem die Dreiteilung Fachgeschäft, Supermarkt und Discountgeschäfte. Offensichtlich sind diese funktionssystemspezifischen Rangordnungen von Organisationen quantitativ nicht beliebig, sondern entsprechen vorwiegend einem Dreieroder Fünferschema. Sie ändern nichts an der Orientierung an der jeweiligen binären Leitdifferenz der Funktionssysteme, sie verweisen jedoch auf eine leistungsspezifische Gradualisierung qua organisatorischer Hierarchisierung. So spielt man in der Kreisklasse nach den gleichen Regeln und orientiert sich am Siegescode wie in der Bundesliga. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die medial vermittelte Inklusion des Publikums bei letzterer größer ist und die Inklusionsvoraussetzungen der Akteure anspruchsvoller sind.
Die funktionssystemspezifische Hierarchisierung der formalen Organisationen erzeugt Berufskarrieren mit unterschiedlichen Erfolgen/Misserfolgen (vgl. Hohm 2002, 89ff.; Hohm 2016, 216ff.; Hohm 2020, 129ff.). Als Organisationskarrieren weisen sie ebenfalls eine quantitative Dimension auf. • • •
So gibt es Spitzenpositionen als knappe Positionen, die nur einmal besetzt werden können wie der Vorsitzende. Der Vorstand und das Präsidium sowie Aufsichtsrat implizieren ebenfalls knappe Stellen mit begrenzter Zahl. Darunter befindet sich, je nach horizontaler und vertikaler Binnendifferenzierung und Größe der Organisationen, eine Vielzahl weiterer Stellen, deren organisationsspezifische Relevanz in Abhängigkeit von ihrer Fach-, Entscheidungskompetenz und Berufserfahrung variiert. Dabei gilt generell: je geringer bzw. knapper die Zahl der zu vergebenen Stellen, desto höher ihre organisationsspezifische Bedeutung und je aufwendiger die Rekrutierungs- und Versetzungsverfahren (Luhmann 2000b, 288ff.).
9.5 Fazit Wie in der Einleitung angekündigt, möchten wir zum Schluss unserer Ausführungen noch kurz einige Themen andeuten, die im Kontext des Generalthemas »Die Zahlen der Gesellschaft« von Relevanz für weitere Forschungen wären. 1. So lässt sich hinsichtlich der Soziologie als Beobachter zweiter Ordnung der Gesellschaft die Frage stellen, wie ihre jeweiligen Paradigmen bezüglich der quantitativen Dimension ihrer zentralen Begriffe optieren bzw. diese begründen und welche Implikationen das für die Eigenkomplexität ihrer theoretischen Beobachtungen hat. Man denke
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nur an Luhmanns Leitdifferenz System/Umwelt, seine binären Codes, seine Unterscheidung von Beobachtung erster und zweiter Ordnung, die drei Systemebenen Interaktion, Organisation, Gesellschaft sowie die drei Sinndimensionen. Des Weiteren aber auch an Habermas’ Unterscheidung von kommunikativem/strategischem Handeln und Lebenswelt/System, Parsons Viererschema adaptation, goal-attainment, integration und pattern maintenance (AGIL) der zu lösenden Bestandserhaltungsprobleme sozialer Systeme oder Mertons Fünferschema der Anomietheorie (Konformität, Innovation, Ritualismus, Rückzug, Rebellion). 2. Inwieweit ist eine bestimmte Zahlengröße Mindestbedingung für die Reproduktion sozialer Systeme, und ab wann überfordert sie deren Fortbestand? Stellvertretend sei hier nur an den Personalmangel, der bestimmte Betriebe zur Beendigung zwingt, erinnert; an die zu geringe Zahl von Kindern hinsichtlich der Fortführung von Kitas; an die Schrumpfung der Bevölkerung und die Verschiebung des Altersquotienten zu Lasten der jüngeren Bevölkerung in den Modernisierungszentren mit den Folgeproblemen für ihre Sozialversicherungssysteme, oder umgekehrt das zu schnelle Wachstum der Bevölkerung in manchen Regionen der Weltgesellschaft mit der Herausbildung von Megastädten und deren vielfältigen sozialen und ökologischen Problemen. 3. Was bedeutet es für die Identität und Selbstdarstellung der Person, wenn ihre funktionssystemspezifische Inklusionsvoraussetzung und kommunikative Adressstelle zunehmend auf (Geheim-)Zahlen (PIN, Passwort etc.) reduziert wird und sie diese digitalen Identifikationsaufhänger als Gedächtnis mit sich führen muss? Wird sie gestärkt, wie der englische Spion James Bond 007 und gewinnt sie dadurch eine einzigartige zahlenmäßige Selbstbeschreibung durch selbstselegierte Zahlenkombinationen, oder verliert sie an Individualität durch die immer häufigere numerische Substitution ihres Eigennamens? 4. Welche Funktion hat die Zahl Null für soziale Systeme und die jeweils in sie inkludierten Personen? Verweist sie auf einen offenen Anfang, der es ermöglicht, eine desaströse Vergangenheit zu vergessen oder wiedergutzumachen durch den Take-off für ein in Zahlen gemessenes Wachstum der jeweiligen Funktionssysteme und Organisationen und ihrer korrespondierenden Inklusionsquoten der Bevölkerung? •
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Erwähnt sei hier nur die Semantik der berühmten Stunde Null, die wiederholt nach kollektiven Katastrophen wie Weltkriegen, Naturkatastrophen oder sonstigen einschneidenden Zäsuren in Anspruch genommen wird. Beispiele für eine mit ihr beginnenden Prosperität sind kollektive Wirtschaftshilfen wie der Marshallplan der USA oder die Gründung der Montanunion als Vorläufer der späteren EWG und EU nach dem 2. Weltkrieg. Andererseits kann die Zahl Null auch mit einer paradoxen Semantik des Nullwachstums verknüpft werden, das die zahlenmäßige Schrumpfung in den Minusbereich kaschiert und invisibilisiert. Schließlich lässt sich fragen, was es für die Selbstachtung einzelner Personen oder von Personengruppen bedeutet, wenn sie als »Null« bezeichnet werden oder sich als
9. Sonstiges: Die Zahlen der Gesellschaft
»Null« selbstetikettieren. Zygmunt Baumans Theorie der Postmoderne mit seiner Semantik des Abfalls, die er auf die Exkludierten der gegenwärtigen Gesellschaft bezieht, scheint hier interessante theoretische Anschlussmöglichkeiten zu bieten. So schreibt er (2005, 12): »Die Produktion ›menschlichen Abfalls‹- korrekter ausgedrückt: nutzloser Menschen (womit der ›überschüssige‹ und ›überzählige‹ Teil der Bevölkerung gemeint ist, der an seinem Wohnort entweder nicht bleiben konnte oder dem dort die notwendige Anerkennung oder Erlaubnis für weiteren Aufenthalt verweigert wurde) – ist ein unvermeidliches Ergebnis der Modernisierung und eine untrennbare Begleiterscheinung der Moderne. Sie ist ein unvermeidlicher Nebeneffekt des Aufbaus einer gesellschaftlichen Ordnung (jede gesellschaftliche Ordnung stuft einen Teil ihrer Bevölkerung als ›deplatziert‹, ›ungeeignet‹ oder ›unerwünscht‹ ein) und des wirtschaftlichen Fortschritts (der sich nicht weiterentwickeln kann, ohne vormals effektive Arten ›den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen‹, herabzustufen und abzuwerten und damit den Menschen, die so wirtschaften, unweigerlich ihre Existenzgrundlage entzieht).« (Hervorhebung i. O.)
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Literatur
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