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German Pages 255 [256] Year 2013
Breuer, Bunia, Erlinghagen (Hg.) ____________________________________________________________________________
FRIEDRICH SCHLEGEL UND DIE PHILOLOGIE
SCHLEGEL-STUDIEN ____________________________________________________________________________
Begründet von Detlef Kremer Herausgegeben von Peter-André Alt und Monika Schmitz-Emans BAND 7
Ulrich Breuer, Remigius Bunia, Armin Erlinghagen (Hg.) ____________________________________________________________________________
FRIEDRICH SCHLEGEL UND DIE PHILOLOGIE
2013
Ferdinand Schöningh Paderborn • München • Wien • Zürich
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2013 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-77712-6
Inhaltsverzeichnis
Ulrich Breuer / Remigius Bunia /
Einleitung
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Armin Erlinghagen Genealogie Christoph König
Sotera Fornaro
Dorit Messlin
Vinzenz Hoppe / Kaspar Renner
Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate Zur Philologie als Form des Romans Lucinde
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Christian Gottlob Heyne und Friedrich Schlegel
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Ordo inversus. James Harris und Friedrich Schlegel
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‚Symphilologie‘. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung des Briefwechsels zwischen Jacob Grimm und August Wilhelm von Schlegel
71
Rezeption Christian Benne
Héctor Canal
Kunst der Organisation. Zur Philologie der ‚Massen‘ in Friedrich Schlegels Über Goethes Meister
99
Die Philologie im Organismus der Wissenschaften. Friedrich Schlegels Hefte Zur Philologie und August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über Encyklopädie
127
Mirco Limpinsel
Elena Polledri
Diaskeuasen des Geistes. Perspektiven auf den philologischen Gegenstand bei Friedrich Schlegel, Wolf, Ast und Boeckh
145
„Uebersetzungen sind ƶƫ[philologische] Mimen“. Friedrich Schlegels Philologie und die Übersetzungen von Johann Diederich Gries
165
Studium Stefan Hagemann
Mark-Georg Dehrmann
Philologie als historische Kritik. Zu Friedrich Schlegels transzendentalphilologischer Wende und ihren geschichtsphilosophischen Implikationen
191
Eine „neue Epoche in der Geschichte der Poesie“. Friedrich Schlegels philologische Poesie der Moderne am Beispiel des Roland-Epos
203
Disziplin Nikolaus Wegmann
Hans-Christian Riechers
Philologie – etwas mit Medien? Eine Aktualisierung
221
„eine Art Kritik der gattungspoetischen Vernunft“. Peter Szondi liest Friedrich Schlegel
237
Anschriften der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
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Ulrich Breuer / Remigius Bunia / Armin Erlinghagen
Einleitung Das Thema des vorliegenden Sammelbandes kann ohne Übertreibung einerseits als dringendes Desiderat der Schlegel-Forschung, andererseits als aktuelles Desiderat der philologischen Selbstverständigung bzw. – mit einem auf Schiller zurückgreifenden Wort Christoph Königs – einer sentimentalischen philologischen Praxis1 bezeichnet werden. Obwohl Friedrich Schlegel zusammen mit Friedrich August Wolf zu den Begründern eines dezidiert modernen Philologie-Konzepts gehört und als solcher auch jüngst zu Recht in eine Anthologie mit Texten zur modernen Philologie aufgenommen worden ist,2 wurde sein spezifischer Beitrag zur Philologie bislang weder in der Geschichte der Philologie noch in der Forschung zu Schlegels Leben und Werk hinreichend klar konturiert und angemessen gewürdigt. Zu den Gründen gehört vor allem der fragmentarische Charakter von Schlegels gewichtigster Arbeit zur Philologie: der lediglich in Form von Notizen überlieferten und erstmals 1928 von Josef Körner herausgegebenen Hefte Zur Philologie.3 Erst in jüngster Zeit liegen diese Notizen auch in einer historisch-kritischen Edition vor.4 Zahlreiche weitere Überlegungen zur Philologie finden sich verstreut in den altertumskundlichen Frühschriften, in den Essays und Fragmenten der Athenaeums-Zeit, in Vorlesungen und Rezensionen aus der Periode nach der Konversion sowie in den umfangreichen Notizenkonvoluten aus dem Nachlass. Über die theoretischen Erwägungen zur Philologie hinaus gibt es bei Schlegel zudem auch eine philologische, anfangs insbesondere altphilologische, dann dominant ‚germanistische‘ und später auch indologische Praxis, die es zu entdecken gilt. Wenn auch eine differenzierte Gesamteinschätzung bisher fehlt, so kann die Tagung doch an eine Reihe von historiographischen Spezialstudien anknüpfen. So liegen quellengeschichtliche Studien über Schlegels Verhältnis zu Friedrich August Wolf 5 und 1 2 3 4 5
Christoph König: „Einleitung“. In: ders. (Hg.): Das Potential europäischer Philologien. Geschichte, Leistung, Funktion. Göttingen 2009, S. 9–15, hier: S. 11. Friedrich Schlegel: „Philosophie der Philologie“. In: Kai Bremer/Uwe Wirth (Hg.): Texte zur modernen Philologie. Stuttgart 2010, S. 88–100. Friedrich Schlegel: „Philosophie der Philologie. Mit einer Einleitung hg. von Josef Körner“. In: Logos 17 (1928), S. 1–72. Friedrich Schlegel: Hefte zur Philologie. Als Manuskript hg. von Samuel Müller. Paderborn u. a. 2013 (im Druck). Siegfried Reiter: „Friedrich August Wolf und Friedrich Schlegel (Mit einem ungedruckten
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Ulrich Breuer / Remigius Bunia / Armin Erlinghagen
zu Christian Gottlob Heyne6 vor, es gibt einen wirkungsgeschichtlichen Beitrag zur Schlegel-Rezeption Schleiermachers7 und Erörterungen bzw. Weiterführungen von zentralen Aspekten seines Philologiekonzepts, darunter der Theorie des Lesens,8 der Edition9 und der Interpretation10, sowie des Zusammenhangs von Philologie und Geschichte11 und des Verhältnisses von Philologie und Poesie12. Und schließlich liegen auch – nach der trotz ihrer begrenzten Perspektive wegweisenden wissenschaftsgeschichtlichen Studie von Nikolaus Wegman zur philologischen Selbstreflexion bei Wolf, Schlegel, Boeckh, Lachmann und Nietzsche13 – zwei neuere umfassende Arbeiten vor, die das disziplinäre Potential von Schlegels Beitrag zur Philologie abzuschätzen versuchen.
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Brief )“. In: Euphorion 23 (1921), S. 226–233; Joachim Wohlleben: „Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum in der literarischen Szene der Zeit“. In: Poetica 28 (1996), S. 154–170; Reinhard Markner: „Fraktale Epik. Friedrich Schlegels Antwort auf Friedrich August Wolfs homerische Frage“. In: Jutta Müller-Tamm/Cornelia Ortlieb (Hg.): Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und Bildende Kunst in Klassizismus und Romantik. Freiburg 2004, S. 199–216. Werner Mettler: Der junge Friedrich Schlegel und die griechische Literatur. Ein Beitrag zum Problem der Historie. Zürich 1955; Maria Michela Sassi: „La freddezza dello storico: Christian Gottlob Heyne“. In: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, serie III, XVI, 1 (1986), S. 105–126; Martin Vöhler: „Christian Gottlob Heyne und das Studium des Altertums in Deutschland.“ In: Glenn W. Most (Hg.): Disciplining classics – Altertumswissenschaft als Beruf. Göttingen 2002, S. 39–54; Marianne Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte. München/ Leipzig 2006; Daniel Graepler/Joachim Migl (Hg.): Das Studium des schönen Altertums. Christian Gottlob Heyne und die Entstehung der klassischen Archäologie. Göttingen 2007; Sotera Fornaro: „Christian Gottlob Heyne dans l’histoire des études classiques“. In: Revue germanique internationale 14 (2011), S. 15–26. Hermann Patsch: „Friedrich Schlegels Philosophie der Philologie und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik. Zur Frühgeschichte der romantischen Hermeneutik“. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 (1966), S. 434–474. Cezary Lipiński: „Von der Befriedigung des ‚philologischen Triebs‘. Friedrich Schlegels Theorie des Lesens“. In: Orbis Linguarum 17 (2001), S. 71–97. Andreas Arndt: „‚Philosophie der Philologie‘. Historisch-kritische Bemerkungen zur philosophischen Bestimmung von Editionen“. In: Editio 11 (1997), S. 1–19. Robert S. Leventhal: From Semiotic Interpretation to Critical Hermeneutics. The emergence of hermeneutic critique in the early writings of Friedrich Schlegel. Diss. Stanford 1982; ders.: The Disciplines of Interpretation. Lessing, Herder, Schlegel and Hermeneutics in Germany 1750-1800. Berlin 1994. Vittorio Santoli: „Philologie, Geschichte und Philosophie im Denken Friedrich Schlegels“. In: ders.: Philologie und Kritik. Forschungen und Aufsätze. Übers. v. K.-Richard Bausch. Bern/ München 1971, S. 82–101. Matthias Buschmeier: Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit. Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft. Tübingen 2008. Nikolaus Wegmann: „Was heißt einen ‚klassischen Text‘ lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Dichtung“. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 334–450.
Einleitung
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Während Martin Bäuerle in seiner einschlägigen Dissertation dieses Potential als gering beurteilt,14 untersuchen die Beiträge in dem von Christian Benne und Ulrich Breuer herausgegebenen Sammelband am Spezialfall zweier früher, bisher noch nicht edierter Notizhefte Schlegels die für Schlegels Philologie grundlegende Differenz zwischen Antike und Moderne (die der frühe Schlegel bekanntlich ‚Romantik‘ nennt).15 Sie kann als spezifische Form eines nach Denis Thouard für die Philologie als Wissensmodell generell konstitutiven geschichtlichen Kontinuitätsbruchs gelten.16 In der Bruchstelle zwischen Antike und Moderne nistet sich die Philologie Schlegels gewissermaßen ein, und der vorliegende Sammelband versucht, die von seinem Vorgänger am konkreten Material eröffnete Perspektive mit dem Ziel einer differenzierten Gesamteinschätzung weiter auszuweiten. Der Titel ‚Friedrich Schlegel und die Philologie‘ hat freilich noch einen weiteren Aspekt. Es gilt nicht allein, Friedrich Schlegels Aussagen über die Philologie zu verstehen und die Stellung des Autors innerhalb der Geschichte der Philologie zu beurteilen, es geht auch darum, seine Schriften als Gegenstand der Philologie ernst zu nehmen. Dies zu betonen ist darum nicht überflüssig, weil Friedrich Schlegels Schriften nicht nur vielfach Philologisches zum Thema haben, sondern sein Denken und Schreiben – auch noch dort, wo es poetisch wird (die nachfolgenden Beiträge von Mark-Georg Dehrmann und Christoph König weisen dies aus) –, sofern sie beständig das Verhältnis von Geist und Buchstaben erforschen, den Zusammenhang von Grammatik, Kritik, und Hermeneutik reflektieren, in ihrer Substanz philologisch sind. Sie sind dies generell darum, weil sie die Materialität und die Historizität sprachlich verfasster Gegenstände voraussetzen und deshalb eines substantiell philologischen Zugangs bedürfen – ein Umstand, der, vermutlich in Folge der Prädominanz geisteswissenschaftlicher Methoden in der Friedrich-Schlegel-Forschung, bisher nicht hinreichend berücksichtigt worden ist. In diesem Sinne ließe sich gegenüber dem genannten Forschungszweig geltend machen, dass seine Methodik ihrerseits einer Philologisierung bedarf. In dieser Hinsicht befinden wir uns noch in den Anfängen.17 14
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Martin Bäuerle: Kommunikation mit Texten. Studien zu Friedrich Schlegels Philologie. Würzburg 2008. Vgl. die Rezension von Till Dembeck: „Martin Bäuerle: Kommunikation mit Texten“. In: Athenäum 19 (2009), S. 201–207. Christian Benne/Ulrich Breuer (Hg.): Antike – Philologie – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte. Paderborn u. a. 2011. Vgl. dazu auch die Rezension von Matthias Schöning: „Christian Benne/Ulrich Breuer (Hg.): Antike – Philologie – Romantik“. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 22 (2012), S. 722–723. Denis Thouard: „Einleitung. Die Folgen der Philologisierung“. In: ders./Friedrich Vollhardt/ Fosca Mariani Zini (Hg.): Philologie als Wissensmodell / La philologie comme modèle de savoir. Berlin/New York 2010, S. 1–19, hier: S. 6 f. Vgl. aber Armin Erlinghagen: Das Universum der Poesie. Prolegomena zu Friedrich Schlegels Poetik. Historisch-kritische Edition der Leipziger Manuskripte. Mit dem Faksimile der Leipziger
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Ulrich Breuer / Remigius Bunia / Armin Erlinghagen
Seine Aktualität gewinnt der vorliegende Band daher nicht zuletzt angesichts der laufenden Arbeiten am Abschluss der 1958 durch Ernst Behler begründeten Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe.18 Er ist Ausdruck des Ehrgeizes, in der Edition der Schriften Friedrich Schlegels nicht hinter den Stand der philologischen Einsichten des Edierten zurückzufallen – ohne sie freilich vorschnell zu überschätzen. Will man Schlegels Beitrag zur Philologie angemessen würdigen, dann müsste freilich der Fokus über den begrenzten Rahmen der Schlegelforschung hinaus auf die Entwicklung der Philologien insgesamt gerichtet werden.19 Was dann in den Blick käme, sind nach Nietzsche „Wir Philologen“20. In dieser Perspektive ist aktuell eine doppelten Öffnung der Philologien zu den Medien- und den Kulturwissenschaften zu beobachten. Wir Philologen sehen uns dadurch mit der Aufgabe konfrontiert, unser Selbstverständnis neu zu bestimmen. Zu den aktuell zu beobachtenden Strategien dieser Neubestimmung gehört erstens eine Rephilologisierung, mit der sich einige Philologen von den Medien- und Kulturwissenschaften ab- und in neuer Weise wieder sich selbst und ihrer Praxis zuwenden, zweitens eine eigenartige Selbstpreisgabe, indem philologische Fächer und Fachbereiche unter teils tatkräftiger Beteiligung der Fachvertreter in medien- und kulturwissenschaftliche umbenannt und dadurch abgeschafft werden, und drittens eine Strategie der Kooperation, die auf der Einsicht in die wechselseitige Angewiesenheit von Philologie und Medienkulturwissenschaft beruht. Die dritte Option eröffnet der Philologie vermutlich langfristig die größten Chancen. Für eben diese Option, diejenige der Kooperation, bietet der Philologe Friedrich Schlegel auf verschiedenen Ebenen gut durchdachte und operativ erprobte Anschlüsse an. Zum einen stehen seine Reflexionen zur Philologie im Kontext der bis auf Giambattista Vico zurückgehenden und heute wieder ausgesprochen attraktiven Bemühungen um eine historische Kulturwissenschaft.21 Hierher gehören Schlegels entschiedene Historisierung der Philologie bei gleichzeitig festgehaltenem Gegenwartsbezug, seine enge Verknüpfung von Philologie und Philosophie und sein insbesondere nach 1804 auf
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Manuskripte I & II. Paderborn u. a. 2012, sowie die weiteren Arbeiten Erlinghagens zu Friedrich Schlegel. Vgl. Matthias Emrich: „Abschluss der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe“. In: Athenäum 22 (2012), S. 139-143. Vgl. dazu zuletzt Marcel Lepper: Philologie zur Einführung. Hamburg 2012. Friedrich Nietzsche: „Notizen zu ‚Wir Philologen‘“. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 8. 2., durchges. Aufl. München 1988, S. 11 ff. Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. München 2004; Jan Kusber/Mechthild Dreyer/Jörg Rogge u. a. (Hg.): Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven. Bielefeld 2010.
Einleitung
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nahezu alle kulturellen Felder erweiterter, dabei aber zugleich perspektivisch verengter, ja um seine kritische Pointe gebrachter Literaturbegriff. Zum anderen kann Schlegel als früher Protagonist, wenn nicht als Erfinder einer spezifischen Form von Medienphilologie22 verstanden werden, wobei vor allem seine Buch- und Zeitschriftenprojekte und seine am Widerstand des Buchstabens sich abarbeitende Lessing-Edition anzuführen wären. Was Schlegels nur scheinbar triviale Definition des Romans als „romantisches Buch“23 im Brief über den Roman vor diesem Hintergrund anvisiert, haben erst jüngere und jüngste Arbeiten wie diejenige von Andrew Piper zur Rolle des Mediums Buch in der Romantik verdeutlichen können.24 Auch hier stehen wir noch ganz am Anfang. Um den theoretischen und praktischen Beitrag Friedrich Schlegels zu einer medienkulturwissenschaftlich erweiterten, praxeologisch als „Kulturtechnik“25 zu erkundenden Philologie trennscharf bestimmen und differenziert einschätzen zu können, perspektiviert der Sammelband sein Thema durch eine Verknüpfung der Schlegelforschung im engeren Sinne mit Überlegungen zum aktuellen Stand der Philologie. Das war bereits der Ausgangspunkt des Sammelbandes Antike – Philologie – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte, der auf eine Tagung in Odense mit dem Titel ‚Friedrich Schlegel und die Philologie‘ zurückging. Während dort jedoch Schlegelforschung und allgemeine Perspektiven auf die Philologie am konkreten Gegenstand der bisher unedierten altertumswissenschaftlichen Notizhefte sich zusammengefunden haben, strebt der vorliegende Band, der auf die gleichnamige dritte Jahrestagung der Friedrich Schlegel Gesellschaft an der Freien Universität Berlin zurückgeht, eine Gesamteinschätzung an und fächert sich zu diesem Zweck in vier Sektionen auf. Sie nehmen Schlegels Verhältnis zur Philologie in unterschiedlichen Hinsichten in den Blick. Zuerst wird nach den Einflüssen gefragt, die Friedrich Schlegel in philologischer Perspektive aufgenommen hat (Genealogie); es folgen Beiträge zur Rezeption, die seine Überlegungen zur Philologie und seine philologische Praxis bei den Zeitgenossen, aber auch bei späteren Fachvertretern erfahren haben (Rezeption); sodann geht es um die 22
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Ähnlich bereits Ulrich Breuer: „Friedrich Schlegel“. In: Wolfgang Bunzel (Hg.): Romantik. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt 2010, S. 60–75, hier: S. 60. Zur Medienphilologie vgl. etwa Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie. München 2003. In historischer Perspektive setzt Schlegel Impulse der Aufklärung und ihrer Funktionalisierung der Öffentlichkeit fort, hebt sie aber auf ein neues, selbstreflexives Niveau. KFSA 2, S. 335. Andrew Piper: Dreaming in Books. The Making of the Bibliographic Imagination in the Romantic Age. Chicago/London 2009. Vgl. dazu auch Ulrich Breuer: „Ethik der Ironie? Paratextuelle Programmierungen zu Friedrich Schlegels Idee der Komödie und Ludwig Tiecks Der gestiefelte Kater“. In: Athenäum 23 (2013) (im Druck). Vgl. Pál Kelemen/Ernő Kulcsár Szabó/Ábel Tamás (Hg.): Kulturtechnik Philologie. Zur Theorie des Umgangs mit Texten. Heidelberg 2011.
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Ulrich Breuer / Remigius Bunia / Armin Erlinghagen
spezifischen Merkmale und Formen, die sein Philologieverständnis und seine philologischen Verfahrensweisen auszeichnen (Studium); und schließlich – hier rundet sich der Kreis zu den disziplinären Dimensionen des Themas – wird auch die Frage nach der fachspezifischen Bedeutung der Philologie Friedrich Schlegels zumindest gestreift (Disziplin). Wie bereits Marcel Lepper vermerkt hat, greift kein Geringerer als Peter Szondi in seinem vielfach zitierten Traktat Über philologische Erkenntnis das Philologieverständnis Friedrich Schlegels auf, das sich im 19. Jahrhundert gegenüber der editorischen und lexikalischen Fachphilologie nicht durchsetzt, wenn es das Insistieren, nicht die Abschließbarkeit als entscheidendes Merkmal philologischer Prozesse ausweist.26
Die Faszination, die für Walter Benjamin vom jungen Friedrich Schlegel und seinem Begriff der Kunstkritik ausgegangen ist,27 dürfte auf analoge, von der Disziplinengeschichte der Deutschen Philologie lange ausgegrenzte Optionen zurückgehen. Neue Impulse scheint die Deutsche Philologie erst dann zu erhalten, wenn man sie nicht nur von innen, sondern auch von außen betrachtet. * Wir danken der Freien Universität Berlin, insbesondere dem Peter Szondi-Institut sowie der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien, für die großzügige Unterstützung der Tagung. Selina Reimer danken wir für die sorgfältige Einrichtung der Beiträge und die Erarbeitung der Druckvorlage.
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Lepper: Philologie zur Einführung (s. Anm. 19), S. 107. Walter Benjamin: „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1974, S. 7–122.
Genealogie
Christoph König
Grenzen der Cyklisation Friedrich Schlegels Notate Zur Philologie als Form des Romans Lucinde 1. Dichter und Philologen Die sprichwörtliche Aversion zwischen Dichtern und Philologen setzt den gemeinsamen Gegenstand, die Literatur, voraus. Dichter und Philologen teilen ihn und verhalten sich unterschiedlich dazu. Noch mehr: Sie sind aufeinander angewiesen und können dennoch ihre eigenen Aufgaben nur erfüllen, wenn sie diese Abhängigkeit anfechten. Das Paradox, in der Nähe die jeweilige Eigenständigkeit zu wahren, drückt sich gern im Schweigen aus. Das Paradox bestimmt die Interpretation als Verfahren, individuelle sprachliche Äußerungen zu verstehen. Die Geschichte dessen, was man unter Interpretation jeweils verstand und wie man sie praktizierte, lässt sich erzählen entlang der Versuche, Lösungen im Unvermeidlichen zu finden. Gerade die Disziplinierung der Philologen im 19. Jahrhundert hat eine Distanz der Philologie gegenüber der Kreativität weniger simuliert als erzwungen. Eine hierarchisch erlebte Distanz, denn gegenüber der Kreativität galt die Philologie seither als sekundär. Allerdings wusste der Philologe innerhalb seiner Sekundarität einen eigenen Hochmut zu entwickeln, indem er umgekehrt den Dichtern keine wissenschaftliche Erkenntnis zutrauen wollte. Und dennoch verbirgt die Distanz seit jeher die spezifische Nähe, die sich in der Personalunion von Schriftsteller und Gelehrtem direkt zeigt, sei es in Gestalt des barocken poeta doctus,1 sei es als Artistenphilologe der Moderne, wie Hugo von Hofmannsthal,2 seien es die vielen Germanisten als Autoren heute. Die Dichterphilologen und ‚Wissenschaftskünstler‘ (Friedrich Schlegel)3 füllen eine eigene, insgesamt 1
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Vgl. Wilfried Barner: „Poeta doctus. Über die Renaissance eines Dichterideals in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts“. In: Jürgen Brummack u. a. (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981, S. 725–752. Vgl. Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. Göttingen 2006. „Die Dedukzion der cyklischen Methode liegt vielleicht im Begriff einer Wissenschaftskunst.“ In: KFSA 16, S. 59–81, hier: S. 66 [II/65].
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Christoph König
wenig erforschte Sparte der Literaturgeschichte. Mein Interesse an der Hassliebe, die diese Geschichte prägt, ist freilich nicht anekdotisch, sondern vielmehr methodisch. Es geht mir um die Grundlagen des Verstehens literarischer Werke selbst, und darum, ob angesichts jenes Paradoxons das Verstehen an ein Ende kommen kann. In den Mittelpunkt tritt das Vermögen der Werke, über sich selbst zu reflektieren. Dieses Vermögen schafft jene Nähe, welche die Eigenständigkeit voraussetzt. Die protestantische Exegese wählt für das Vermögen – mit theologischen Voraussetzungen freilich, die wir nicht mehr teilen – die Formel der ‚scriptura sui ipsius interpres‘. Die Rationalität, die der Produktion eigen ist und die Grundlage des Verstehens bildet, tritt an die Stelle der Offenbarung. Sie ist die Instanz, die über die Deutung entscheidet. Zu dieser ästhetischen Rationalität hat eine richtig geübte Philologie privilegierten Zutritt. Denn sie gibt der Praxis des Lesens, Kommentierens, kritischen Restituierens, der Exegese oder – um dem universalen Charakter dieser philologischen Praxis gerecht zu werden – der Prognose und Divination4 das Primat. In der Praxis wirken unausgesprochen und im Moment des Erkennens nicht zu bedenkende Fähigkeiten, die vernünftig und insofern der Vernunft der Kunst gewachsen sind. Die Philologie kann, wenn sie sich ihres Potentials bewusst ist, den Ort jener Nähe zwischen der Poesie und der Wissenschaft von der Poesie bilden. Ihn gilt es zu explorieren. Friedrich Schlegel, die zentrale Gestalt der Frühromantik, hat als erster über die Möglichkeitsbedingungen der Nähe reflektiert, da sie sein Schaffen als Autor wie als Philologe und das entsprechende Schaffen verwandter Geister prägte. Sein Experiment findet innerhalb seiner Erfahrung mit einer ausgebildeten philologischen Disziplin statt. So können sich in Schlegels Werk die Tätigkeiten von Kritik, Philologie und Dichtung konzentrieren. Sie bilden genau in dem Moment, als der Konflikt von Poesie und Philologie auftritt, schon eine bis heute kaum mehr erreichbare Reflexionskunst dieses Konflikts. Berühmt ist Schlegel durch den Roman Lucinde (1799), durch seine Athenaeums-Fragmente, seine Analysen der Werke von Lessing und Goethe, sowie seine literarhistorischen Studien und – später – Vorlesungen. Der Schüler der großen Klassischen Philologen Friedrich August Wolf5 und Christian 4
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Der Begriff der ‚Divination‘ wird nicht ohne Grund von der Hermeneutik Schleiermachers und der chinesischen Mantik geteilt; die nicht von Regeln ableitbare (kunstgemäße, genialische) Erkenntnis setzt, so Schleiermacher, eine Verdoppelung des vom Menschen Gemachten voraus: die Produktion des Orakels/Texts und die Auslegung. Die Prognose als Form des Verstehens von Texten setzt wie die Interpretation voraus, dass die beiden Bewegungen nichts voneinander wissen (Jean Lévi: Le Grand empereur et ses automates. Paris 1985, weist nach, dass die chinesische Kommentartradition aus der Mantik entstanden ist). Schlegels philologisierende Lucinde führt dieses Paradox vor. Denis Thouard: „Der unmögliche Abschluss. Schlegel, Wolf und die Kunst der Diaskeuasten“.
Grenzen der Cyklisation
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Gottlob Heyne6 veröffentlicht 1799, im Alter von 26 Jahren, seine Geschichte und Poesie der Griechen und Römer; den Konflikt zwischen Antike und Moderne legt er dem Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie zugrunde; 1808 begründet er mit der Abhandlung Über die Sprache und Weisheit der Indier die moderne SanskritForschung in Deutschland (Schlegel hatte das Sanskrit 1803/1804 in Paris gelernt). Das will heißen: Bevor sich die Hierarchie von Poesie und Philologie institutionell und literarhistorisch einbürgert, sind beide schon ineinander verschlungen. Nicht nur wurde die romantische Poesie erfunden, um Probleme der Philologie zu lösen (wie ein schönes Aperçu von Heinz Schlaffer in seinem Buch Poesie und Wissen, lautet7), sondern die Philologie übernimmt in der Dichtung einen entscheidenden kreativen Part. Schlegel konzentriert sich auf die Verbesserung der Lektürevermögen, die ihr Ziel erreichen durch den Umschlag von der wissenschaftlichen in die poetische Aktivität. Das damit scheinbar mögliche Ende der Interpretation ist indes durch Schweigen erkauft. Meine Grundgedanken in der Erläuterung von Schlegels Projekt lauten: (1) Schlegels Arbeitshefte Zur Philologie (1797) bereiten die philologischen Techniken und Vermögen vor, um mit der schöpferischen Kraft in den Werken eins zu werden. Die Lucinde erweist sich als ein philologischer Roman, in dem die gewissermaßen erhöhten philologischen Methoden selbst poetisch produktiv werden. (2) Das vollkommene Verstehen wird von Schlegel vorgeführt (und analysiert) als eine Philologie, die schafft. Das Verstehen gilt dem Eigenen; und das meint: Die Philologie hat sich zur Kunst zu wandeln. Dafür zahlt die Philologie den Preis, sich als jene schöpferische Kraft verheimlichen zu müssen. (3) Eine verheimlichte Wissenschaft ist keine mehr, denn der wissenschaftliche, öffentliche Diskurs, das hin und her gehende – sichtbare – Argument, konstituiert ihre raison d’être. Schlegels große Klugheit bestand darin, das Paradox der Philologie erkannt zu haben. Er sah dieses Paradox in der Notwendigkeit der Philologie, sich im Schweigen annihilieren zu müssen, um ihr Ziel, die Wissenschaft kunstgemäß zu üben, erreichen zu können.
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In: Christian Benne/Ulrich Breuer (Hg.): Antike – Philologie – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte. Paderborn 2011, S. 41–61, würdigt als erster Wolfs Bedeutung für F. Schlegel und betont den Gedanken einer durch die Kritik erwiesenen Unendlichkeit des Werks. „Geschichtlichkeit“ trete in Schlegels Denken im Sinn des „kritischen Anwachsen[s] des Textes aufgrund der Diaskeuase“ (ebd., S. 56) auf. Thouard erweitert jedoch die Gedanken über Schlegel hinaus: Wie die Aktualisierung der Antike sei auch die Vollendung der modernen Werke Aufgabe der Kritik. Nach meinem hier entwickelten Verständnis ist die Diaskeuase (anders als bei Homer) Aufgabe des modernen Künstlers und nicht die seiner Leser. Vgl. allgemein Denis Thouard: Symphilosophie. F. Schlegel à Iéna. Paris 2002. Vgl. dazu den Beitrag von Sotera Fornaro in diesem Band. Vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt a. M. 1990, S. 201.
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Christoph König
2. Wiegebewegung Friedrich Schlegels zwei Arbeitshefte Zur Philologie entstanden innerhalb weniger Monate und waren – gemäß Hans Eichners, des Herausgebers, Einschätzung – Ende des Jahres 1797 abgeschlossen; die insgesamt 463 Notate, Aufzeichnungen und Fragmente blieben bis zur Edition Josef Körners im Jahr 1928 unveröffentlicht. Sie sollten einer Reihe von Aufsätzen zur Begründung einer Philosophie der Philologie dienen, wie Schlegel sie gegenüber F. J. Niethammer, dem Herausgeber des Philosophischen Journals, ankündigte, später auch einem Buch,8 dessen vier geplanten Kapiteln im zweiten Heft einzelne Aufzeichnungen bereits ausdrücklich zugeordnet werden.9 Diese Schreib- und Publikationspläne geben einen ersten Anhaltspunkt dafür, die Arbeitshefte als ein Ganzes zu lesen. Über die Art, wie sie zu lesen sind, gibt die Dynamik der Gedanken Auskunft.10
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Zur Genese der Arbeitshefte vgl. Hans Eichner: „Einleitung“. In: KFSA 16, S. XVI–XVIII; zu den Arbeitsheften vgl. Nikolaus Wegmann: „Was heißt einen ‚klassischen Text‘ lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung“. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, S. 334–450; Christian Benne: „Intérêt pour un savoir conditionné?“. In: Christoph König/ Heinz Wismann (Hg.): La lecture insistante. Autour de Jean Bollack. Paris 2011, S. 429–446. Aus den beiden Arbeitsheften wird im folgenden nach KFSA 16, S. 33–81, zitiert; die römischen Ziffern beziehen sich auf die Arbeitshefte, die arabischen auf die jeweiligen Notate. Die Zuordnungen sind recht stabil; sie ergeben folgende vier Gruppen bzw. geplanten Kapitel: zunächst ein philosophisches Kapitel als begriffliche Spekulation, z. B. mit einer „Dedukzion der Philologie“ (II/8, vgl. auch II/48); das zweite Kapitel soll eine Literaturgeschichte als „Kritik der berühmten Schriftsteller, die als ƶƫ [Philologen] gelten können“ (II/29), sein, vgl. auch II/14, II/19, II/25, II/51; ein drittes Kapitel ist kaum konturiert, doch lässt sich vermuten (vgl. II/62), dass die philologische Methode ins Zentrum rücken soll. Und viertens will Schlegel sich der Geschichte der philologischen Reflexion, besser: der Vorgeschichte seiner Reflexion widmen; er spricht von einer „Geschichte der materialen Alterthumslehre“ (II/20, II/21, II/23). Man neigt in der Schlegel-Forschung (namentlich in der philosophisch orientierten) dazu, die Journale als Steinbrüche für Gedanken und Begriffe zu gebrauchen und weniger auf deren Genese innerhalb der einzelnen Journale zu achten. Volker Deubel: „Die Friedrich SchlegelForschung. 1945–1972“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 47 (1973), Sonderheft, S. 48–181, hier: S. 96–99, weist schon darauf hin, dass synchrone Betrachtungen an der „verwirrenden Vielfalt“ (Karl Konrad Polheim: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik. München u. a. 1966, S. 11) und chronologische Betrachtungen an der lockeren Bindung zwischen Begriff und Bedeutung leiden. Deubel beschreibt einen Konflikt, der bis heute prägend ist und sich etwa im Widerstreit von Editoren und Philosophen erweist. Die Arbeitshefte Zur Philologie geben Gelegenheit, statt einer philosophisch motivierten komplexen Systematisierung (wie Deubels Lösungsvorschlag lautet) eine gedankliche und begriffliche Dynamik zu verfolgen, deren Bewegung in den Notaten (qua ‚Cyklisation‘) selbst einen systematischen Status erhält. Eine Naturbewegung des Verstandes zeigt ihre Ratio.
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In den Arbeitsheften kommt es auf Begriffe an. Nicht die Gegenstände der Philologie (die Werke) und eine von ihrer (ästhetischen) Art herzuleitende Methode, sie zu bemeistern, stehen im Zentrum. Sondern die (philologische) Verstehensanstrengung der Notate richtet sich auf die überkommenen Begriffe der Philologie, die in einer Gedankendynamik zu neuen Instrumenten werden sollen. Schlegel strebt danach, die Begriffe einer Philologie zu entwickeln, die über den Lehrmeister Wolf und dessen Prolegomena ad Homerum11 gerade kraft dieser Begriffsdynamik hinausgelangt. Die Begriffe und Gedanken selbst werden in den Arbeitsheften immer wieder von neuem durchgenommen. Die zentralen Begriffe lauten ‚Kritik‘, ‚Hermeneutik‘, ‚Grammatik‘, ‚Historismus‘, das ‚Classische‘, ‚Wissenschaft‘, ‚Cyklisation‘ oder ‚materiale Alterthumslehre‘; die Begriffe gewinnen nicht nur ein deutlicheres Verhältnis zueinander, sondern sie werden zusehends dem Begriff der ‚Kunst‘ unterworfen. Im Zeichen der ‚Kunst‘ verlieren die Unterschiede, die die Begriffe im Grunde auszeichnen, an Bedeutung, oder sie treten dort, wo die Begriffe den Kunststatus nicht zu fassen vermögen, zurück. Was Schlegel von seiner Zukunftsphilologie fordert, geschieht also in seinen Arbeitsheften selbst: Die Notate und ihre Begriffe werden ihrerseits ‚philologisirt‘, um Schlegels Neuprägung aufzugreifen, das heißt in ihrer Gänze ergriffen bzw. mit immer neuen Anläufen in eine umfassende Konstruktion eingebaut, und schließlich in ihren Bedeutungen ausgebleicht. Zum Paradox von Schlegels Verfahren philologischer Reflexion gehört, dass sie, je weiter sie voranschreitet, im Theoretischen die Unterschiede zusehends verliert, im Produktiven jedoch umso unverkennbarer und individueller wird. Mit anderen Worten: Die Selbstannihilierung der methodischen Prinzipien (so bestimmt Schlegel mit dem Begriff der ‚Annihilazion‘ seine ‚absolute Philologie‘ näherhin) mündet in seiner ‚Philologie der Philologie‘, wie sie sich in den Arbeitsheften niederschlägt, in ein totalisierendes Wort, nämlich in das Wort von der ‚Kunst‘; wird die ‚Kunst‘ indes im ‚Kunstwerk‘, der Lucinde nämlich, ausbuchstabiert, so schaffen die theoretisch zum Schweigen gebrachten methodischen Prinzipien in der Verwirrung, von der Schlegel in seinem Roman ausgeht, im Stillen einen Sinn. Zu diesem Zweck wird die kunstgemäß in der Begriffsarbeit philologisierte Wissenschaft wieder – gegenläufig – aktiviert, vor allem die ‚Kritik‘ als Technik der Restitution von Texten. Das Philologische wird unsichtbar-sichtbar in dem Hauptwort, mit dem der Roman sich selbst zu begreifen sucht. Es ist ein quasi philologisiertes, seinen Sinn im Hintergrund 11
Vgl. Pierre Judet de La Combe: „Sur la perfectibilité d’Homère. Friedrich August Wolf et Benjamin Constant“. In: Etienne François (Hg.): Marianne – Germania. Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kontext. 1789–1914. Berlin 1998, S. 253–274; Philippe Rousseau: „L’intrigue de Zeus“. In: Europe 79 (2001) 865, S. 120–158.
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bewahrendes Wort, das dem Wort der Arbeitshefte von der ‚philologischen Kunst‘ völlig entspricht, weil dieser Hintergrund philologisch ist – das Wort ‚Liebe‘ im Roman Lucinde. Die Begriffe sind, so lässt sich zugespitzt sagen, geeignete Instrumente, weil sie ihren spezifischen Gehalt in einer Wiegebewegung verlieren und bewahren. Das Partikulare in Schlegels Projekt überhaupt wird sichtbar: Die Doppeltendenz zur Auflösung der semantischen Differenzen einerseits, zur Respezifizierung und also Herausbildung der Differenzen andererseits. Diese Doppelbewegung ist gleichsam das Ein- und Ausatmen der Schlegel’schen Denkbewegung, innerhalb derer nun auch die Arbeitshefte und der Roman aufeinander bezogen werden. Das Schlegel’sche Projekt wird so rekonstruierbar.
3. Begriffsarbeit in den Notaten Zur Philologie Schlegel legt mit folgendem Notat den Grundstein seiner Überlegungen Zur Philologie: „Das wichtigste Stück zu einer Philosophie der Philologie ist also eine Theorie der historischen Kritik. – Winkelmanns Historismus“ (I/9). Diese Aufzeichnung ist der Grundstein in einem Gedankengerüst, das gleich auf den ersten Seiten entsteht und das Schlegel in der Folge ausfaltet. Schlegel formuliert eine Intuition, die sich bewährt. Die Philologie sei grundsätzlich historisch, doch weder Wolfs Skepsis, ob es einen Autor der homerischen Epen gegeben hat (vgl. I/174), ist gemeint noch eine „Totalität von Notizen“ (I/92), eine Philologie des Kleinsten und ohne Überblick (das ist das Bild, das bis heute viele von der Philologie haben), sondern Winkelmanns Einsicht, dass die Antike ebenso gültig wie fremd sei. ‚Historismus‘ bedeutet daher, hier wie auch später durchwegs, die Anerkennung des Unterschieds zwischen dem Klassischen und dem Progressiven: Winkelmann („Mein Meister“ fügt Schlegel nachträglich ein) habe „den unermeßlichen Unterschied eingesehn, die ganze eigne Natur des Alterthums.“ (I/1) Wolf, dem dieser entscheidende Baustein zur Philologie weitgehend fehle,12 wird durch Winkelmann korrigiert. Der Moment dieser Aufzeichnung Schlegels hat eine große ideengeschichtliche Bedeutung: Schillers Ästhetik des Naiven und des Sentimentalischen, das heißt ihre Geschichtsphilosophie und ihre Konzentration auf ein System von Gattungen (auf Idylle, Satire und Elegie), wird 12
„Wolf fängt ein wenig an zu historisieren. Doch lange nicht genug.“ (I/26) Die Begriffsverwendung changiert im Urteil Wolfs, doch wenn Schlegel ihm später zugesteht: „Wolfs Proleg.[omena] sind einzig in ihrer Art durch historischen Geist“ (I/54), so steht im Hintergrund der Gegensatz von ‚Historismus‘ (qua Geschichtsphilosophie) und ‚historisch‘ (genetisch), wobei zusehends sich ersteres als Prämisse des letzteren herausschält.
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Grundlage der neuen Philologietheorie, die Schlegel im Sinn hat.13 Die in dem Notat I/9 mit der Formel „Theorie der historischen Kritik“ gemeinte Kritik ist zunächst ein Wort aus der Methodenlehre der Philologie,14 das die niedere (technische) Kritik und die höhere Kritik, das heißt die in der Kenntnis der Urkundensprache sich vollziehende, auf das Einzelne gerichtete Kritik vereint. Höhere und divinatorische Kritik sind eins. Beide Kritikformen haben die Konstitution („restit.[utio]“, I/180) und die Prüfung der „Aechtheit“ (I/204) eines Texts zum Ziel. Die Ganzheit eines Werkes ist im Bewusstsein der historischen Fremdheit des Werks wieder herzustellen. Die philologische historische Kritik basiert, folgt man weiterhin dem vorliegenden Notat, auf einer Theorie, die Baustein einer ‚Philosophie der Philologie‘ ist: „Ohne ƶƳ [Philosophie] der Historie auch keine ƶƳ [Philosophie] der ƶƫ [Philologie].“ (I/121) Die ‚Kritik‘ im genuin philologischen Sinn übernimmt im philologietheoretischen Projekt Schlegels eine tragende Rolle. Zwei Reihen gilt es zu versöhnen, die beide sich auf den Begriff der Kritik stützen. Die erste Reihe geht von Kants Erkenntniskritik aus und wird von Schlegel mit der Formel ‚Philosophie der Philosophie‘ gefasst. Eine ‚Philosophie der Philologie‘ ist freilich das Ziel (so sollte das Buch, auf das die Arbeitshefte zusteuern, heißen), doch soll sie jener Formel analog sein und so spricht Schlegel – eine zweite Reihe bildend – von der ‚Philologie der Philologie‘. Der Begriff ‚Philosophie‘ in der angestrebten ‚Philosophie der Philologie‘ ist als Philologie zu denken. Schlegels Satz „Philologiren gebraucht wie Philosophiren“ (I/90) ist im Bewusstsein geschrieben, dass man die Philosophie auf die Philosophie (Reihe 1), jedoch nicht auf die Philologie anwenden dürfe (vgl. I/87). Das ist ein zentrales Anliegen der Arbeitshefte. Schlegels Wort von der ‚Philosophie der Philologie‘ mahnt an, die Philosophie im Namen der Philologie zu verstehen (genetivus subjectivus). Der Philologe soll denken, doch mit Mitteln der Philologie. Letztlich wird die Formanalyse eines Arguments (Philosophie der Philosophie) der praktischen Zuspitzung (Philologie der Philologie) unterworfen. Die ‚Kunst‘ ist Mittel der Unterwerfung und vermag in diesem Sinn die beiden Reihen zu versöhnen. Philologisch ist die ‚restitutio‘, und wenn sie theoretische Kraft gewinnen soll, gilt die Herstellung des Ganzen dem Ganzen der methodischen Möglichkeiten. 13
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Schlegel wird Schillers Einteilung der Gattungen nach äußeren Darstellungsformen zugunsten von Dichtungs- und Empfindungsweisen, die – wie Peter Szondi zeigt – schon in Schillers Gattungspoetik angelegt waren, in Schillers Sinn überwinden. Vgl. Peter Szondi: „Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie. Mit einem Exkurs über Schiller, Schlegel und Hölderlin“ (1966). In: ders.: Schriften. Hg. von Jean Bollack u. a. Mit einem Nachwort von Christoph König. 2 Bde. Frankfurt a. M. 2011, Bd. 2, S. 367–412; vgl. auch Eichners Argumente (in: Friedrich Schlegel: Literary Notebooks 1797–1801. Edited with introduction and commentary by Hans Eichner. London 1957) gegen die These vom Einfluss Schillers auf den Studium-Aufsatz. Auf die Frage in I/6 nach dem „Verhältniß der Philologie zur Kritik“ präzisiert Schlegel im nächsten Notat: „Künftig: Methodenlehre der Philologie“ (I/7).
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Hier verbindet Schlegel den Gegenstand mit der Methode. Die in der philologischen Kritik zutage geförderten Teile erhalten Berechtigung und damit Sinn, indem die philologische Kritik Teil von philologischen Methoden wird, deren Ganzheit eine ‚Philologie der Philologie‘ schafft. Das Werk erhält einen Sinn als Ganzes, auf den sich das Verstehen kunstgemäß bezieht. Das Muster einer solchen Kritik gibt Schlegel im letzten Abschnitt seines Lessing-Aufsatzes (1801).15 Die philologische Kritik gilt als ‚historische‘ einem fernen, abgeschlossenen, ganzen und fremden Werk, und so stellt sich die Frage, inwiefern die Kritik in dem engeren philologischen Verstand dieser fernen Ganzheit gewachsen sei.
4. „wissenschaftlich“ vs. „kunstmäßig“ Um über die ihm nötige Kritik Klarheit zu gewinnen, führt Schlegel den Unterschied zwischen ‚wissenschaftlich‘ und ‚kunstmäßig‘ ein und er wird die Gültigkeit des Unterschieds auch für die anderen philologischen Methoden in Anspruch nehmen. Die technische Kritik muss, so lautet seine These, einen höheren Sehepunkt gewinnen, oder – wie er sagt – vollendet werden: Die Kritik der schrift[lichen] Antiken beruht auf historischen Prinzipien – besonders die sogenannte höhere. [...] Die höhere Kritik ist wohl allerdings das Höchste der isolirten Philologie und Grammatik das Fundament. [...] Sollen Kritik, Grammatik und Hermeneutik bis zur Totalität vollendet werden; so erfordern sie eine historische Kentniß des Alterthums. (I/39 und I/40)
Die kunstmäßig gehandhabte Kritik hat also nicht in sich selbst, sondern anderswo die ihr nötige Grundlage. Die Kritik besitzt hier, laut dieser Aufzeichnung, in der Grammatik ihr Fundament. Solche Fundamente zählen zur ‚Wissenschaft‘; die ‚Wissenschaft‘ meint – das ist durchgängiger Sprachgebrauch in den Notaten – statt eines ‚Aggregats‘ (Kant) praktische Regelsysteme,16 die innerhalb eines Ganzen organisiert sein können.
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Vgl. Friedrich Schlegel: „Abschluß des Lessing-Aufsatzes“. In: KFSA 2, S. 397–419. Vgl. im Einfluss Schlegels (und Kants) auch Schleiermacher in seinen Vorlesungen zur Hermeneutik; schon im ersten Entwurf 1805 heißt es: „Grammatisch. Das Object ist die Sprache nicht als allgemeiner Begriff auch nicht als Aggregat von empirischen Einzelheiten, sondern als individuelle Natur.“ (Friedrich Schleiermacher: „Hermeneutik-Vorlesung Wintersemester 1809/10“. In: ders.: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik [Kritische Gesamtausgabe, Abt. II, Bd. 4]. Hg. von Wolfgang Virmond. Berlin 2012, S. 57).
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Das Ganze ist zunächst enzyklopädisch gefasst, es kann also sowohl eine Wissenschaft als auch ein System von Wissenschaften sein, eine „Architektonik des Wissens bzw. der Wissenschaften“17. Wissenschaft und Enzyklopädie (d’Alembert und Diderot sind die großen Vorbilder) begründen sich im Diskurs der Zeit gegenseitig. Friedrich Schlegel positioniert sich bewusst in der Geschichte der Begriffe ‚Wissenschaft‘ und ‚Enzyklopädie‘.18 Den Hauptbegriff seiner Philologie, den Begriff der ‚Cyklisation‘, auf den ich – der Dynamik der Arbeitshefte folgend – bald zu sprechen komme, verbindet er tatsächlich mit dem Begriff der ‚Encyclopädie‘. Es geht um die Frage, wie Ordnung herzustellen sei. Schlegel leitet seinen eigenen (ordnenden) Hauptbegriff paronomastisch von dem Begriff der Enzyklopädie ab: „Verhältnis und Verwandtschaft der cyklischen Methode mit der ƶƫ [Philologie], die in dem Wort ƥƣƪƵƪƫƯươƩƤ.[Ʃơ] liegt.“ (II/59) Schlegel ist zuversichtlich, sich auf Diderots und Wolfs ‚Enzyklopädie‘ (die beide, sowohl die allgemeine wie die Fachenzyklopädie,19 nicht mehr der alten Aggregats-Wissenschaft angehören) stützen zu können. Das ist zugleich gegen eine philosophische Begründung des Wissens gerichtet.20 Die Philosophie hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts zwischenzeitlich selbst als die ordnende Kraft des Wissens und der Wissenschaften installiert, indem sie Philosophie und Wissenschaft (nach Kant der Ort des „nach Principien geordneten Ganzen der Erkenntnis“21) gleichsetzte. Schlegel 17 18
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Jürgen Mittelstraß im Art. „Enzyklopädie“ über die von Leibniz zu Kant führende Tradition, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2005, S. 560. Vgl. S. Meier-Oeser zum Wissenschaftsbegriff bis zur ‚Neuzeit‘, und H. Hühn zu ‚Wissenschaftskonzeptionen im Idealismus und Nachidealismus‘ im Art. „Wissenschaft“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Bd. 12. Basel/Stuttgart 2004, Sp. 902–920. Vgl. Wegmann: „Was heißt einen ‚klassischen Text‘ lesen?“ (s. Anm. 8), S. 352 f.: „Was die Fachenzyklopädie an Vorstrukturierung mitbringt, ist nämlich nur die überlieferte Begriffstopik von Wissenschaft. Wie jedoch die Einheit des fachlichen Wissens zu denken war, darüber gibt die Tradition des Begriffs keine eindeutige Antwort. [...] Als ein Reservoir von Denkalternativen avanciert die Fachenzyklopädie zu jenem Ort, an dem die Philologie das Problem der Selbstdefinition gleichsam institutionalisiert.“ Auf die (implizit gegebenen) Zusammenhänge weist Jürgen Henningsen hin: „‚Enzyklopädie‘. Zur Sprach- und Bedeutungsgeschichte eines pädago-gischen Begriffs“. In: Archiv für Begriffsgeschichte 10 (1966), S. 271–325, hier: S. 287. August Wilhelm Schlegel behauptet, anders als sein Bruder und philosophischer, in seinen Vorlesungen über Encyclopädie (1803), dass hinsichtlich ihrer Klassifikation die Enzyklopädien zu verstehen seien als ein „logisches Ganzes, worin alle Sätze in strenger Unterordnung unter einem Princip stehen“. August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über Enzyklopädie. Kommentiert und hg. von Frank Jolles und Edith Höltenschmidt. Paderborn u. a. 2006; vgl. Jochen Strobel: „Der Romantiker als homo academicus. August Wilhelm Schlegel in der Wissenschaft“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2010, S. 298–338; Andreas Kilcher: mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000. München 2003. Immanuel Kant zu Beginn seiner Abhandlung „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“. In: ders.: Schriften zur Naturphilosophie. Hg. von Wilhelm Weischedel. (Werkausgabe. Bd. 9). Frankfurt a. M. 1977, S. 11.
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lehnt dies zugunsten seines modernen Verständnisses von Forschung ab, denn ihm kommt es darauf an, dass der Forscher spezifische Gegenstände prozedural (und nicht begriffslogisch) erschließt. Der Übergang von der Philosophie zur modernen (Fach-) Wissenschaft hat für Schlegel kraft eines Metiers, genauer: kraft seiner Philologie stattgefunden. Von den Gelehrten zu den Philosophen und von da zu den Philologen spannt sich personell der Bogen, der den wissenschaftsgeschichtlich entscheidenden Wandel von der ‚Wissenschaft‘ als Aggregat zu einer ‚Wissenschaft‘ als philosophisches System und schließlich zu einer ‚Wissenschaft‘ als Verfahren, wie sie ab 1800 zeitgemäß war, spiegelt. Schlegel versucht, die Geschichte noch weiter voranzutreiben und das Metier der Philologie über ihren Status einer Wissenschaft hinauszuführen bzw. in ein umfassenderes Vermögen einzubetten,22 eine Totalisierung von Methoden, der er – in der Nähe zur Tradition der Enzyklopädie – auch den Namen ‚Encyklopädie‘ gibt. Eine neue Differenz tut sich auf, nämlich der Unterschied zwischen ‚Wissenschaft‘ und ‚Vermögen‘, verstanden als kunstgemäßer Umgang mit einer Technik. Unsicher ist Schlegel hinsichtlich des systemischen Rangs und auch hinsichtlich der Zuordnung der einzelnen ‚Wissenschaften‘. Die ‚Grammatik‘ gilt anfangs als (kunstgemäß) totalisierbar, d. h. als Vermögen, doch daran hält Schlegel später nicht mehr fest, er wertet die ‚Grammatik‘ systemisch ab, und in der zweiten Hälfte der Notate hat er sich entschieden (die oben zitierten Aufzeichnungen I/39 und I/40 bezeugen das): Die Beherrschung einer Sprache sei keine Kunst, sondern eine Fertigkeit. Und auch die Zuordnung der Wissenschaften changiert: Der Hermeneutik entspricht die Grammatik so wie der Kritik die Poetik. So viel Bestandtheile die ƶƫ [Philologie] hat, so viel material[e] Wissenschaft[en] setzt sie voraus. Erst dachte ich: die Herm[eneutik] beruht auf der Logik – die klass.[ische] Gramm[atik] auf der ƶƳ[philosophischen] Gramm[atik]. – (I/159)
Nun ist die ‚Poetik‘ der Kritik als Wissenschaft zugeordnet. Für Schlegel bereitet die Poetik die Entscheidungen der Kritik vor. Das ist ein ebenso überraschender wie entscheidender Schritt. Wenn Kritik als Methode zur Konstituierung und Bestimmung der 22
Indem er dafür die ‚Kunst‘ nutzt, warnt er davor, auf das Metier als Wissenschaft zu verzichten; er schreibt: „Die ƶƫ [Philologie] als Kunst ist viel zu isolirt und dominirt zu sehr über die materiale Alterthumslehre.“ Freilich hebt Schlegel, in Abgrenzung zu seinem (geschichtsphilosophischen) ‚Historismus‘, der – mithilfe der Kunst – das Ganze im Blick hat, die Historizität oder Geschichtlichkeit der Wissenschaft hervor: „Als Wiss.[enschaft] ist sie [d. i. die nicht ihrem Potential gemäß gebrauchte Philologie] Theil der Geschichte.“ (I/117) Erst der kunstgemäße Gebrauch führe über die Wissenschaftsgeschichte hinaus.
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Gänze eines Werks verstanden wird, dann vermag die Poetik diese Aufgabe zu erfüllen, wenn sie eine Gattungspoetik ist. Und genau als diese versteht sie Schlegel.23 Als eine Gattungspoetik, die von den Gattungen ausgeht, um die Grenzen der Gattungen – im Projekt der romantischen Universalpoesie – schließlich zu überwinden.24 Schlegel denkt in der Bestimmung der Gattungen konkret, literarisch, an die Literatur selbst und verbindet einzelne Werke mit seinen Begriffen, deren Vorstellungsbilder sie werden. Damit lässt er bestimmte Werke zu einer erkenntniskritischen Möglichkeitsbedingung der Kritik werden. „Muß der vollendete ƶƫ [Philolog] nicht auch Poet seyn?“ (I/168).25 Ja, lautet die Antwort, und zwar im Sinne der für die einzelnen Gattungen vorbildlichen, schon existierenden Werke. Nach Schlegels System verfügen die philologischen Methoden bzw. Vermögen wie Hermeneutik, Kritik und Rhetorik über jeweils eigene Wissenschaften, denen sie überlegen sind. (Die Rhetorik tritt, das hat Thomas Schirren eben erst gezeigt,26 als Vermögen auf, die Größe eines Werks zu begründen. Die erwiesene Größe ist die Voraussetzung überhaupt, dass die Partikularität, die von der hermeneutischen Kritik in den Werken eruiert wird, auch tatsächlich möglich ist. Dieser Gedanke tritt allerdings 23
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25 26
Mit dieser Vorstellung gehört Schlegel zum Kreis der Klassiker im Einfluss Kants, die die Dritte Kritik gemäß einer Medienpoetik geschichtsphilosophisch (Bilden vs. Zeugen qua Antike vs. Moderne qua Bild vs. Schrift) auslegen. Poet könne man nur innerhalb eines geschichtlichen, polaren Systems sein. Wie Schiller und Goethe, trotz ihres Mentors Wilhelm von Humboldt, sich darin von Kant entfernen, so auch Schlegel, dessen Wortwahl (‚Kunst‘, ‚Kritik‘) und dessen Gesten (etwa die Suche nach Bedingungen) eine größere Nähe anzeigen, freilich ohne die Poetik zu spezifizieren. Postklassisch ist die Poetik nicht anders als ‚unendlich‘ und unspezifisch denkbar. Schlegel wendet sich gegen Goethes und Schillers fast zeitgleiche Literaturpolitik, die systematisch aufeinander bezogene Gattungen schaffen wollen: mit der ‚Elegie‘, der ‚Novelle‘, dem ‚Märchen‘ etc. Schlegels Mittel ist die Entgrenzung der systematischen Bezüge. Darauf werde ich noch im Zusammenhang mit der Rolle zu sprechen kommen, die Schlegel den Gattungen gibt. Thomas Schirren skizziert die Rolle der Rhetorik im Spiegel unveröffentlichter Notate aus Arbeitsheften Schlegels der Jahre 1796/1797; ders.: „Rhetorik und Romantik. Schlegels Philosophie der Prosa in den frühen Notaten“. In: Neue Beiträge zur Germanistik (Internationale Ausgabe von Doitsu Bungaku 145) 11 (2013), H. 1, S. 18-46. In Gestalt der Epideixis gelange die Rhetorik in die beiden philologischen Journale. Schirren zeigt nun die Verwandlungsmöglichkeit der Rhetorik in der Romantik: Schlegels Ziel ist eine absolute Rhetorik, die den Rang der anderen totalisierbaren Vermögen besäße; dabei gerät die Rhetorik vor allem in die Nähe zur Kritik, denn der im absoluten Lob gesicherte Bildungswert der klassischen Werke wird als Bedingung der Kritik erwogen. „Die Rhetorik soll den Wirkungsaspekt eines Programms sicherstellen, das das klassische Altertum neu, d. h. gegenwärtig erstehen läßt.“ Das wäre (es wird nicht ausdrücklich gesagt von Schlegel) der absichtslose, philologische Nachweis des Wertes eines Werks und die Rhetorik als Kunstlehre eine der zu cyklisierenden Wissenschaften der Philologie. Vgl. zur poststrukturalistischen Deutung rhetorischer Strategien durch Paul de Man: David E. Wellbery: „Rhetorik und Literatur. Anmerkungen zur poetologischen Begriffsbildung bei Friedrich Schlegel“. In: Ernst Behler/Jochen Hörisch (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik. Paderborn 1987, S. 161–173.
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insgesamt in den Arbeitsheften in den Hintergrund.) Die Überlegenheit der Methoden Hermeneutik und Kritik speist sich aus ihrem Potential – ihr Potential besteht darin, dass sie kunstmäßig gehandhabt werden können; das lässt sich mit dem Wort Kants von den ‚Vermögen‘ deutlich zum Ausdruck bringen. Ein solches Vermögen ist in der Lage, die Regeln eines Metiers zu nutzen, ohne dafür selbst eine Regel zu benötigen. Das Vermögen ist in diesem Sinn eine Kunst. So spricht Schleiermacher später in seinen Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik27 von der Auslegungskunst.28
5. Absolute Philologie als Kontrolle des Absoluten Doch die Verhältnisse werden dadurch noch komplizierter, die Zuordnungen auf neue Weise variierbar. Auch die Hermeneutik kann, da sie ‚kunstmäßig‘ zu praktizieren ist, eine Poetik gebrauchen, wie die Kritik umgekehrt auch eine Grammatik (vgl. oben I/39). Die wissenschaftlichen Grundlagen werden volatil, weil sich die philologischen, höheren Methoden bzw. Vermögen kraft der Kunstperspektive in die Arme fallen, fast ununterscheidbar werden und schließlich jede für sich das Ganze verkörpern muss. „Die ƶƫ [Philologie] ist selbst jeder ihrer Bestandtheile ganz.“ (I/177) Schlegel bestimmt in diesem Sinn das Verhältnis von Hermeneutik und Kritik; die Wiegebewegung bildet sich aus: Hermeneutik und Kritik sind absolut unzertrennlich dem Wesen nach: ob sie gleich in Ausübung, Darstellung getrennt werden können, und die Tendenz jeder ƶƫ[Philologie] auf einer Seite gewöhnlich überwiegt. (I/178)
Dieser Satz von der Unzertrennlichkeit zweier kardinaler philologischer Vermögen führt, der Wiegebewegung gemäß, in zwei Richtungen. Zur absoluten Philologie einerseits, und andererseits zur Kontrolle des Absoluten, um die absolute Philologie von der mystischen Philologie zu unterscheiden, die Schlegel ablehnt, weil sie auf die Unmittelbarkeit setzt, ohne eine Technik zu benutzen: 27
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„Hermeneutik und Kritik, beide philologische Disziplinen, beide Kunstlehren, gehören zusammen, weil die Ausübung einer jeden die andere voraussetzt. Jene ist im allgemeinen die Kunst, die Rede eines andern, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen, diese die Kunst, die Echtheit der Schriften und Schriftstellen richtig zu beurteilen und aus genügenden Zeugnissen und Datis zu konstatieren.“ (Friedrich Schleiermacher: „Allgemeine Einleitung“ [von Manfred Frank aus Randbemerkungen Schleiermachers 1828 und mehreren Vorlesungsnachschriften zusammengestellt]. In: ders.: Hermeneutik und Kritik. Hg. von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1977, S. 71–72, hier: S. 71). Vgl. Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik (s. Anm. 16), S. 75.
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Mystisch ist die ƶƫ [Philologie] welche Kritik, Hermeneutik, allenfalls auch Litter.[atur], Archäol.[ogie] und selbst Gram.[matik] ÜBERSPRINGT und ohne das Alles gradezu übersetzt z. B. wie die Araber. (I/173)29
Der eine Weg, den das Notat I/178 weist, lautet: Die absolute Philologie hört auf, Philologie zu sein. „Sie annihilirt sich selbst.“ (I/158) In ihr haben die totalisierten Vermögen wie Hermeneutik und Kritik ihre Wissenschaften vertauscht, weil sie selbst für einander eintauschbar wurden. Der zweite Weg, den jener Satz einschlägt, ist der einer Charakterisierung des Absoluten durch ‚Tendenzen‘ (vgl. oben I/178), die sich ergeben, weil die ‚Wissenschaften‘ (Poetik, Grammatik) und die ‚Vermögen‘ (Kritik, Hermeneutik) wirksam bleiben. Wenn die ‚Annihilazion‘ das Ideal von Schlegels Philologie ist, das er in der Kunst verwirklicht sieht, dann hat sein Begriff von der „Wissenschaftskunst“ (II/65) genau den Sinn, eine Kunst zu praktizieren, die zugleich die Wissenschaft überwindet (als ‚Kunst der Wissenschaft‘) und die Wissenschaft (als ‚Wissenschaft der Kunst‘, d. h. als ihr dienlich) voraussetzt. Diese Verbindung innerhalb der absoluten Philologie mit Tendenz ist gerade in der Art möglich, wie Schlegel von der Philologie spricht. Das Sprechen von der Philologie nennt Schlegel ‚Philologisieren‘. Sein Wort vom ‚Philologisieren‘ meint eine ‚Philologie der Philologie‘ und ist, wie wir gesehen haben, der Verbindung ‚Philosophie der Philosophie‘ abgeschaut. Die philologische Reflexion über sich selbst bedient sich philologischer Mittel. Dazu zählen vor allem, wie ich am Beispiel des Begriffs der ‚Kritik‘ bereits gezeigt habe, die Restitution einer Totalität und deren Verstehen. Er bewerkstelligt das, indem er die Begriffe in der Dynamik der Arbeitshefte in einen einzigen überführt. Der Sinn der Begriffe wird unaussprechbar. Sie treten nur mehr als ein Name auf. Dieser Name lautet in Schlegels Welt ‚Kunst‘. Der Name ist der Weg – absolut und zugleich konkret – tendenziös zu sein.
6. Annihilierte Werke von Goethe, Platon und Lessing Doch wie können die Aspekte der Begriffe entfaltet werden, ohne den Charakter der Begriffe, innerhalb des Wortes ‚Kunst‘ unaussprechlich zu sein, zu verletzen? Schlegel nennt die Begriffe und Methoden nur beim Namen und erläutert kaum, was seine
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Heute würde man Hans-Ulrich Gumbrechts Präsenz-Philologie hierher setzen. Vgl. Christoph König: „Präsenz ohne Text. Zur neuen Attraktivität der ‚Philologie‘ bei Hans-Ulrich Gumbrecht“. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen (2003), 23/24, S. 5–11.
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Begriffe an Bedeutungen von außen mitbringen.30 Tatsächlich wird viel vom Gebrauch der Begriffe bei Wolf und Heyne eingeschleust, und die Begriffe meinen bestimmte Werke, denen sie abgebildet sind, ohne dass diese Werke benannt, geschweige denn gedeutet werden. Schlegel verzichtet auf die Kontur, die die Begriffe durch Vorstellungen konkreter Beispiele besitzen können, die durch sie regelmäßig und recht verlässlich aufgerufen werden. Zu solchen Verbindungen zählen etwa die des Begriffs ‚Kritik‘ mit Wolfs Prolegomena, oder es ist mit ‚Grammatik‘ das Werk der Philologen in Alexandrien gemeint, der Begriff ‚Übersetzung‘ wiederum hat sein Modell in den ShakespeareÜbersetzungen von August Wilhelm Schlegel, oder der Sinn von ‚Kunst‘ bildet sich nach den Schlegel vorbildlichen Werken Platons, Lessings und Goethes. Schlegel hebt diese Ideale, denen er Charakteristika, Gedichte und Übersetzungspläne (Platons Dialoge werden dann allerdings nur von Schleiermacher allein übersetzt) widmet, auch in den beiden Arbeitsheften Zur Philologie hervor. Letztlich sorgt Schlegel dafür, dass der Verzicht auf konkrete Angaben zu den Werken selbst kein Verzicht ist, denn er unterwirft die ihm idealen Werke selbst der Annihilation. Die Werke werden auf methodische Bewegungen reduziert, die den Begriffsbewegungen selbst entsprechen und diese somit spiegeln können. Goethe, Platon und Lessing sind die großen Vorbilder, deren prinzipienorientierte Analyse seitens Schlegel einer partikularen Interpretation zuwiderläuft. Der Wilhelm Meister wird in der großen bekannten Rezension als Werk gezeigt, das selbst philologisiere.31 Schlegel sagt es nicht ausdrücklich, aber die Prinzipien, die er in Goethes Roman hervorhebt, sind einschlägig: Gänze,32 Notwendigkeit,33 Autoreflexion,34 Gattungskritik,35 30
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Das mag seinen anekdotischen Grund darin haben, dass Schlegel nicht beabsichtigte, die Hefte den Freunden zu zeigen. (Novalis’ teilweise wörtlichen Schlegel-Zitate, etwa im Allgemeinen Brouillon, sprechen dagegen; vgl. auch Novalis zur aktualisierenden Übersetzung als Verstehensweise [Friedrich Schlegel: Athenaeums-Fragmente. In: KFSA 2, S. 165–255, hier: S. 214].) Doch auch sich selbst gegenüber verzichtet Schlegel auf die Explikation und gewinnt eine spezifische Freiheit gegenüber sich selbst. Vgl. dazu auch den Beitrag von Christan Benne in diesem Band. „Aber nicht minder notwendig ist es, von allem Einzelnen abstrahieren zu können, das Allgemeine schwebend zu fassen, eine Masse zu überschauen, das Ganze festzuhalten, selbst dem Verborgensten nachzuforschen und das Entlegenste zu verbinden [...] sonst fehlt uns, was wir auch für andere Fähigkeiten haben, der Sinn für das Weltall“; Friedrich Schlegel: „Über Goethes Meister“. In: KFSA 2, S. 126–146, hier: S. 131. Vgl. ebd., S. 126 ff. Neben der Entwicklung Wilhelms sei es ebenso Goethes Absicht gewesen, seine Kunstlehre in den Roman einzubinden; aber nicht als „das tote Fachwerk eines Lehrgebäudes“ (KFSA 2, S. 132), sondern als exemplarische Bildung. „Glücklicherweise ist es eben eins von den Büchern, welche sich selbst beurteilen“; ebd., S. 133. ÅMan darf es nur auf die höchsten Begriffe beziehn und es nicht bloß so nehmen, wie es gewöhnlich auf den Standpunkt des gesellschaftlichen Lebens genommen wird: als ein Ro-
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Intuition der Lektüre36 und Vermittlung.37 Platon komme, so Schlegels Auffassung, erst in der deutschen Sprache (also qua Übersetzung philologisiert) zum eigenen Ausdruck. Und Schlegel beantwortet die Frage, welche Tendenzen seine Bemerkungen über Lessing einigen, mit dem Hinweis auf dessen einheitliche Methode, die dessen eigene Werke und die Werke aus der angeeigneten Tradition präge.38 Die Methode, der vor dem Material der Vorzug gegeben wird, könne allein eine Wissenschaft anerkennen, die es noch nicht gebe, die jedoch die großen Werke schon durchdringe:39 die Encyklopädie, worunter er eine Totalisierung der Methoden und Wissenschaften im Namen der Kunst versteht. Schlegel sagt von sich, er habe die Enzyklopädie als neue Wissenschaft im Geist in „kritischen Versuchen und Bruchstücken entworfen“40. Womöglich spricht er von den Arbeitsheften, denn dort hat er den Nachweis geführt, dass es eine Wissenschaft ist, die in der Kunsthaftigkeit tätig ist, d. h. im Schutz nicht weiter definierter Begriffe. Über solche vagen Auskünfte gelangt er in den Notaten Zur Philologie auch mit Lessing (seinem konkreten Bild für den Begriff der Kunst) nicht hinaus. Die Notate sollen eine Anweisung für die Lektüre Lessings sein, ohne diese Lektüre durch eine Explikation zu stören. Daher wohl taucht in den Arbeitsheften immer wieder eine Art Schweigegebot auf: „Die Methode darf nicht kritisch seyn. “ (I/14) Und: „Auf die Theorie der historischen Kritik muß die Aufmerksamkeit sehr gespannt; sie selbst aber nicht gegeben werden.“ (I/18) Schlegel entwickelt die Kunst, im Schweigen der Begriffe beredt zu sein.
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man, wo Personen und Begebenheiten der letzte Endzweck sind. Denn dieses schlechthin neue und einzige Buch, welches man nur aus sich selbst verstehen lernen kann, nach einem aus Gewohnheit und Glauben, aus zufälligen Erfahrungen und willkürlichen Forderungen zusammengesetzten und entstandenen Gattungsbegriff beurteilen; das ist, als wenn ein Kind Mond und Gestirne mit der Hand greifen und in eine Schachtel packen will“; ebd., S. 133. Goethe spricht von dem Leser, „den das Rechte trifft wie ein Blitz“; ebd., S. 134. Zu den Optionen Charakterisierung und Dichtung als Wege der Kritik vgl. ebd., S. 140 f. Werke, „auf die er sich, äußerlich vielleicht durch Nationen und Jahrhunderte getrennt, unsichtbar dennoch bezieht“; Schlegel: „Abschluß des Lessing-Aufsatzes“ (s. Anm. 15), S. 410. „So kann [...] wahre Kritik gar keine Notiz nehmen von Werken, die nichts beitragen zur Entwicklung der Kunst und der Wissenschaft; ja es ist sonach eine wahre Kritik auch nicht einmal möglich von dem, was nicht in Beziehung steht auf jenen Organismus der Bildung und des Genies, von dem, was fürs Ganze und im Ganzen eigentlich nicht existiert“; ebd., S. 411 Ebd.
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7. Die Hauptsache: Cyklisation Das Verhältnis von Kunst (immer als ein Name gebraucht) und Methode gewinnt – im Zeichen der ‚Wissenschaftskunst‘ – einen zentralen Ort in Schlegels Gedankengebäude. Die Integration einer absoluten (unaussprechlichen) und gleichwohl vermittelten (aussprechbaren) Philologie ist Schlegels Ideal. Tatsächlich prüft Schlegel die philologische Praxis, inwiefern sie an die Kunst heranführe, und rückt den Begriff der ‚Cyklisation‘ ins Zentrum. Cyklisierend könne man, so Schlegels Zuversicht, eine Methode (qua Wissenschaft) sich selbst zur Kunst führen lassen. Es geht also in der Philologie der Philologie nicht um die Totalisierung eines Gegenstands im Sinne des hermeneutischen Zirkels, sondern um die Vervollkommnung eines methodischen Vermögens. In II/73 schreibt Schlegel in diesem Sinn: „Alles kritische Lesen, alles Lesen mit Rücksicht auf Klassizität [...] ist cyklisch“ Das Vermögen, so wird sich zeigen, sei nur in der Kunst vermittelbar. Die Cyklisation lässt als Methode der Methoden alle Begriffe in ein Verhältnis zueinander treten. Das zyklische Verfahren wird nicht mit der Hermeneutik gleichgesetzt,41 es eigne auch der Kritik und der Grammatik, sowie der Vermögen und Wissenschaften untereinander. Das in der Cyklisation entstehende Ganze sind alle Methoden bzw. Genres der Altertumswissenschaft, und auf dieses Ganze werden die einzelnen Methoden bezogen. Schlegel sieht die mit diesem Begriff benannte Methode im Zentrum der Praxis der ‚materialen Alterthumslehre‘, sie sei ihr völlig genuin (vgl. I/99). Diese ‚materiale Alterthumslehre‘ besitzt in Schlegels Konstruktion die Qualität und den Rang von absoluter Philologie, Annihilation und Kunst – in diese Anerkennung tritt die Cyklisation. Die Cyklisation sei die der Altertumswissenschaft genuine Methode (vgl. I/99), da sie nur hier heimisch sei, und in anderen Disziplinen gerade nicht: die 41
Willy Michel: Ästhetische Hermeneutik und frühromantische Kritik. Friedrich Schlegels fragmentarische Entwürfe. Rezensionen, Charakteristiken und Kritiken. 1795–1801. Göttingen 1981, akzentuiert die Verbindung von Hermeneutik und Kritik und sieht in ihrem Zusammenwirken das philologische Genie am Werk. Schleiermacher wird die Bereiche aufgreifen, aber ebensowenig charakterisieren wie Michel: während für Schlegel die jeweilige interne Dialektik von ‚Wissenschaft‘ und ‚Kunst‘ entscheidend ist, gilt Michels Interesse dem hermeneutischen Zirkel, der auch der Kritik zugrunde liege (Michel sieht in der Cyklisation die Struktur der Arbeitshefte: darin hat er recht, doch für ihn ist das Zyklische die ständige Wiederkehr zum selben Punkt, während Schlegel einer Intuition gerecht werden will und auf eine Annihilierung drängt). Entsprechend versteht Michel die ‚Annihilierung‘ falsch (vgl. ebd., S. 52): es handelt sich nicht, wie er meint, um eine Erweiterung auf den ‚Historismus‘ (den er nicht erläutert, er gebraucht das Wort schlicht im Sinn von Historisierung) hin, eine Erweiterung, die jedem Philologen möglich sei, sondern um die radikale Besonderung, die im gelungenen Ausnahmefall den Begriff der Philologie tilgt. Die Orientierung Michels auf eine allgemeine Hermeneutik wird deutlich.
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Logik verfahre linear, die Historie heteronomisch, die Mathematik cyklisiere nicht, die Philosophie werde erst durch die Philologie zur Kunst (vgl. II/61). Und so setzt Schlegel im nächsten Notat dezidiert ein: „Auch die Methode der materialen Alterthumslehre erkannte ich selbst, lange ehe ich von Fichte wußte, für cyklisch.“ (II/62) Wie die absolute Kunst werde er die Cyklisation im ersten Aufsatz bzw. im ersten Kapitel seines Buchs über den Begriff der Philologie behandeln, dort wo es um die ‚Dedukzion der Philologie‘ (vgl. II/8, II/48) gehe. Schlegel beabsichtigt, die ‚Cyklisation‘ bzw. die ‚Totalisierung von unten‘ (vgl. II/84) aus dem Begriff der ‚Wissenschaftskunst‘ abzuleiten, in dem Kunst und Methode verknüpft sind: „Die Dedukzion der cyklischen Methode liegt vielleicht im Begriff einer Wissenschaftskunst.“ (II/65) Letztlich muss Schlegel auch die ‚Cyklisation‘ totalisieren (wie die Hermeneutik, die Kritik, die Grammatik auch), denn auch sie hat einen heimlichen Begriffssinn. Schlegel lässt die Cyklisation nicht ohne Bedingungen gehen, als handele es sich schlicht um den Weg vom Allgemeinen zum Besonderen und zurück. Der bereits zitierte Satz II/73 „Alles kritische Lesen, alles Lesen mit Rücksicht auf Klassizität [...] ist cyklisch “ gibt einen Hinweis. Das Wort von der „Klassizität“ ruft die historistischen Voraussetzungen des Verstehens hervor und alles, was daraus folgt, also die Formen der Philologie selbst.42 Die Cyklisation allein ist also keine Kunst, wenngleich sie ihr nahe kommt; ihre Bestimmungen sind erst zu überwinden. Doch Schlegel kann die Cyklisation der Kunst unterwerfen aufgrund des Gattungsprogramms, welches ihr eine Tendenz gibt und die Kunst bestimmt. Das ist der Sinn der Verbindung von Klassizität und Cyklisation. Die Klassizität ist die Qualität großer Kunst und die Grundlage philologischen Lesens. Von ihr gehen die Romantiker aus – sie ist auf romantischem Weg wieder zu gewinnen. Die Grundlagen der Lektüre sind das mit der Klassizität zunächst gegebene Gattungssystem. Die Cyklisation als Methode der Methoden beruht also – in der Rücksicht auf ‚Klassizität‘ – auf den Gattungen. Das gilt zwar auch für die Poetik und die Kritik. Das Besondere an der Cyklisation ist die romantische Überzeugung, dass die auf Klassizität gerichtete Verbesserung der Methode kraft einer Entdifferenzierung des Gattungssystems erfolgen kann. Indem Schlegel den Begriff der Cyklisation durch Gedanken über die Gattungen auslegt, unterwirft er die Methode der Kunst und präzisiert diese Kunst wie Schiller und Goethe Kants Kategorie des Genies.43 42 43
Vgl. oben den zweiten Weg zur ‚absoluten Philologie‘. Wie in Schillers und Goethes ästhetischer Reflexion Medien und in weiterer Folge Gattungen (nach der Logik, dass dem Medium der bildenden Kunst das Epos entspreche) der Präzisierung dienen, so tun sie das auch in Schlegels Überlegungen. Der Unterschied zu den Klassikern besteht darin, dass Schlegel die Gattungen diskutiert, um sie aufzulösen – entsprechend seines Umgangs mit den ‚Wissenschaften‘. Vgl. Christoph König: „Wilhelm von Humboldt 1798. Zu Goethe und zur Problematik einer dichterischen Aktualität“. In: Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung. Stuttgart/Weimar 2004, S. 128–157.
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Schlegel fasst im Gedanken von der cyklischen, insistierenden Lektüre seine eigene, von ihm angesichts der Klassiker (und gegen sie) verstandene Entwicklung zusammen, als sei sie von der philologischen, annihilierenden Gedankenbewegung getrieben gewesen. Die Schritte seiner Entwicklung sind an den kurz aufeinander folgenden Werken abzulesen: Das Klassische zeichnete sich für ihn anfangs durch das der Klassik eigene System von Gattungen aus (a). Das Klassische galt ihm als reines Vorbild, und die Moderne war ihm reine Mimikry (vgl. seine Geschichte der Poesie der Griechen und Römer, 1798). Das Progressive galt ihm dann (b) als eine defiziente, wenn auch kraft des Interessanten (vgl. Über das Studium der griechischen Poesie44) eigenständige Variante. Der dritte Schritt (c) war die Aufgabe: Das Progressive müsse selbst ein neues System von Gattungen entwickeln, um wiederum klassisch werden zu können (vgl. die Fragmente zur Litteratur und Poesie).45 Nur das klassische Werk sei ein eigentlicher Gegenstand der Philologie (ein basso continuo in den Notaten Zur Philologie), und nur die progressive Universalpoesie vermöge diesen Status heute, nur approximativ freilich, zu erlangen. Die Philologie besitzt, weil sie das Altertum konstruiert hat, einen privilegierten Zugang zur Werkstatt, in der die neuen Gattungen entstehen. Sie liefert die Prämissen, sie liefert selbst Gattungen, und sie reinterpretiert literarische Gattungen dergestalt, dass sie den modernen philologischen Ansprüchen genügen. Die philologische Cyklisation als immer neues Durcharbeiten der aus den Werken gewonnenen Begriffe zugunsten neuer Gattungsverhältnisse soll schließlich produktiv werden.
8. Philologische Methoden im Zeichen literarischer Gattungen Die Last trägt damit die Literatur. Literarische Gattungen können die philologisch nötige Entdifferenzierung der Methoden, mit anderen Worten: das Projekt der Cyklisation verwirklichen. Die Voraussetzungen sieht Schlegel in der Literatur seiner Zeit nicht gegeben. Deren Mangel an historistischem Sinn, der die Grundlage der Philologie 44
45
Andreas Kablitz: Die Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur. Freiburg i. Br. u. a. 2013, ordnet Schlegels Studium-Aufsatz eine Ästhetik zu, die dem Poststrukturalismus nahe stehe, ja dessen Vorläufer sei; die Ästhetik beruhe auf dem Gedanken einer Freiheit kraft der willkürlichen Zeichensprache. Die Tradition in der Literaturwissenschaft, das Interessante gegen das Gültige zu stellen (vgl. den Briefwechsel zwischen Staiger und Szondi im Juni und Juli 1967, in: Peter Szondi: Briefe. Hg. von Christoph König und Thomas Sparr. Frankfurt a. M. 1994, S. 219–231), bliebe gewissermaßen bei Schlegels Aufsatz stehen: die philologische Reflexion wird Schlegel dazu führen, das Klassische oder das Moderne gerade nicht mit einer bestimmten Ästhetik zu verbinden, sondern an die totalisierbaren Methoden zu heften. Die Lucinde selbst kann, philologisierend, klassisch werden (siehe unten). Vgl. Peter Szondi: „Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung“. In: ders.: Schriften. Bd. 2 (s. Anm. 13), S. 59–105, hier: S. 62–66.
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darstelle, behindere sie. Bedauernd stellt Schlegel für die Literatur seiner Zeit fest: „Sie [die Literatur] ist bloß Mittel, nicht Theil der Philologie.“ (I/139) Schlegel formuliert das Ziel, die literarischen Gattungen zu philologisieren, in seinen Arbeitsheften (ähnlich wie im Lyceums-Fragment 75): „Lexika sind ƶƫ[philologische] Satiren. Noten und Scholien sind ƶƫ [philologische] Epigramme, Xenien.“ (II/85) Und er ergänzt nachträglich: „Der fortlaufende Kommentar ein ƶƫ [philologisches] Epos, Epopöe.“ (II/85) Und früher schon: „Meine Alterthumslehre ist ein philologischer Roman.“ (I/220) Diese Notate drücken folgende Gedanken aus: Der Roman sei das Höchste, quasi die ‚Kunst‘, die Schlegel stets mit seiner ‚materialen Alterthumslehre‘ gleichsetzt. Die philologischen Genres lassen sich für den Roman einer Altertumswissenschaft gebrauchen, wenn die herkömmlichen literarischen Gattungen philologisiert, d. h. nach den Prinzipien einer progressiven Philologie rekonstruiert werden. Lexika sind keine Satiren, aber in der literarisch-genrehaft ausgerichteten Welt der Philologie tun sie, was Satiren (nach Schillers Ästhetik) können, nämlich den Abstand zum Ideal verdeutlichen. Im philologischen Epos wird der historistische Abstand zum Kommentierten (wie hat ihn Goethe in Hermann und Dorothea schmerzlich gespürt) Teil des literarischen Wissens. Und so fort. Zweierlei geschieht hier: Die Philologie gerät in die Gravitation literarischer Genres und deren Welt: Davon zeugen das ‚Lexikon‘ und die Altertumslehre insgesamt. Und die Literatur nimmt mit den philologischen Techniken neue Gattungen auf und rechnet damit, selbst philologisiert zu werden. Der philologische Kommentar ist dafür das beste Beispiel. Er stellt für Schlegel eine bedeutsame romantische literarische Form dar. Man denke allein an die regelmäßigen, nachträglichen, das heißt zeitlich späteren Gedanken zu aufgefundenen Texten in der Lucinde.
9. Der Roman Lucinde als Modell einer progressiven Philologie Die Notate Zur Philologie haben zum Ziel, die Philologie mit ihren eigenen Mitteln, namentlich der Cyklisation, zu durchdringen. Das Ergebnis der Cyklisation ist ein Wort, nämlich der Begriff der ‚Kunst‘, der die Wissenschaften, Techniken und Vermögen der Philologie enthält. Das Wort ‚Kunst‘ (oder ‚kunstmäßig‘) bezeichnet die vervollkommnete philologische Methode. Freilich soll das Wort inhaltsleer sein, und so werden die darin enthaltenen Methoden nicht expliziert, sondern durch immer neue experimentelle, progressiv sich ändernde Konstellationen, in wachsendem internen Gebrauch, geführt. Die Notate sind damit selbst ein Werk geworden, im zweiten Grad, das durch eine entgrenzende Gattungenaktivität die für die Klassizität nötige historistische Fremdheit gewinnt. Die Methode ist quasi literarisch – sie will diskursiv nicht fassbar, sondern
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eine Kompetenz, bzw. ein Vermögen sein. Sie will insofern in actu fassbar sein, weniger womöglich in den Notaten, deren historische Genese in den (in ihrem Aufbau dem Leben folgenden) Arbeitsheften die progressive Durchdringung mindert, als in einem Kunstwerk. Was sich in den Arbeitsheften andeutet, ist im Verhältnis der Arbeitshefte zu einem Kunstwerk vollends verwirklicht: Der Umschlag der philologischen Methode in die Kunst, um die in der methodischen Reflexion verloren gegangene Diskursivität in der Lektüre des Kunstwerks wieder zu gewinnen. Schlegels Roman Lucinde46 (1799) hat die philologische Methodik der eigenen Produktion und Machart zugrunde gelegt. Die Lucinde entstand eineinhalb Jahre nach den Arbeitsheften Zur Philologie, in wenigen Monaten seit Dezember 1798. Der Roman enthält die Bekenntnisse eines Ungeschickten – so lautet der Zwischentitel, der nach einem Prolog eingefügt ist und eigentlich den zweiten Untertitel der Lucinde darstellt. Die Liebe ist das Sujet des Romans, und es wird sich erweisen, dass in ihr die philologischen Prinzipien des Romans totalisiert werden. Die Verbindung von Liebe und Philologie prägt eine große Passage gleich auf den ersten Seiten. Der Abschnitt zeigt die große Begabung des Ungeschickten, sich und seine Geliebte und auch ihre gemeinsame Liebe in einem Schriftstück zu erkennen; ungeschickt wie er ist, ersetzt er das Schreiben durch das Lesen: Eine große Träne fällt auf das heilige Blatt, welches ich hier statt Deiner fand. Wie treu und wie einfach hast Du ihn aufgezeichnet, den kühnen alten Gedanken zu meinem liebsten und geheimsten Vorhaben. In Dir ist er groß geworden, und in diesem Spiegel scheue ich mich nicht, mich selbst zu bewundern und zu lieben. Nur hier sehe ich mich ganz und harmonisch, oder vielmehr die volle ganze Menschheit in mir und in Dir. Denn auch Dein Geist steht bestimmt und vollendet vor mir; es sind nicht mehr Züge die erscheinen und zerfließen; sondern wie eine von den Gestalten, die ewig dauern, blicket er mich aus hohen Augen freudig an und öffnet die Arme, den meinigen zu umschließen. Die flüchtigsten und heiligsten von jenen zarten Zügen und Äußerungen der Seele, die dem, welcher das Höchste nicht kennt, allein schon Seligkeit scheinen, sind nur die gemeinschaftliche Atmosphäre unsers geistigen Atmens und Lebens.47
Das ist der Bericht von einer Liebe, die sich in Texten erkennt, weil Texte ihre Welt konstituieren. „Die [...] Äußerungen der Seele [...] sind [...] die gemeinschaftliche Atmosphäre unsers geistigen Atmens und Lebens.“ Die Philologie tritt auf als Technik, 46 47
Friedrich Schlegel: Lucinde. In: KFSA 5, S. 1–92. Ebd., S. 10.
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diese Welt zu entziffern und also zu konstituieren. Nicht jede Lektüre kann gemeint sein. Philologisch ist die hier vorgeführte Lektüre, weil sie „ewige“, man kann auch sagen: klassische Züge eines dem Betrachter fremden Gegenstands festhält. Bemerkenswerterweise gibt der Bericht nicht den Text, von dem die Rede ist: Der Roman ist hier direkt Interpretation. Dieser Bericht im Roman Lucinde ist jedoch nur eine Gattung unter einer Vielzahl von Gattungen. Was der Bericht im Kleinen erzählt, geschieht im Ganzen des Romans: Texte werden gelesen, um der Liebe von Julius und Lucinde habhaft zu werden. Das geschieht im Brief, im Dialog, in der Tagebucheintragung, in der Charakteristik, in Eine Reflexion, in den Tändeleyen der Phantasie, oder – Goethes Roman zur Gattung heranzitierend – in Lehrjahre der Männlichkeit. Die Gattungen erweisen sich als Grundlage, und das herkömmliche Gattungssystem ist – konsequenterweise, wie wir nun sagen können – derart aufgelöst, dass manche Gattungen so spezifisch sind, dass sie nur hier Gültigkeit besitzen. Der Bericht selbst trägt als Titel, oder besser: als Namen die Dithyrambische Phantasie über die schönste Situation. Auf die Philologie als Prinzip des Romans setzt meine Interpretation der Lucinde; eine solche Interpretation steht freilich gewohnten Einschätzungen entgegen. Manche meinen, Schlegel habe die Form aus gattungspolitischen Gründen gewählt, um die Strukturformel des modernen Romans zu entwickeln,48 andere meinen, dass Schlegel das Leben poetisch durchdringen will.49 Das sind wichtige Beobachtungen, doch nur Epiphänomene des Versuchs, den Text als Ganzes zu verstehen. Auch die ältere Rezeption hatte anderes als das hier von mir Entwickelte vor Augen. Sie gehorchte den Normen des Klassischen und der Moral. Das Gültige der Klassik wurde dem Interessanten entgegengehalten, dessen Parteigänger Friedrich Schlegel sei. So argumentierte Emil Staiger in seinen Briefen an Peter Szondi während des Zürcher Literaturstreits 1966/1967 (und tat Szondi auf die Seite des ‚Interessanten‘).50 Das Missverständnis Staigers bestand darin, dass Szondi gerade auf die Dialektik des Klassischen und Progressiven, bei Schiller und Schlegel, achtete. Und schon die Zeitgenossen haben die Liebe als Sujet des Romans erkannt, doch deren Darstellung als zu freizügig abgetan. Für die Leser damals standen im Mittelpunkt „die Langeweile und der Ekel, das Erstaunen und die Verachtung, die Scham und die Traurigkeit, womit jeder Leser von gesunden Sinnen diese ‚Lucinde‘ 48
49 50
Gert Mattenklott: „Der Sehnsucht eine Form. Zum Ursprung des modernen Romans bei Friedrich Schlegel, erläutert an der Lucinde“. In: Dieter Bänsch (Hg.): Zur Modernität der Romantik. Stuttgart 1977, S. 143–166. Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik. Transzendentale Geschichten. Stuttgart/Weimar 1993. Vgl. auch Anm. 44 sowie den Beitrag von Hans-Christian Riechers in diesem Band.
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von sich wirft.“51 Solche erste Reaktionen auf den Roman provozierten Schlegels Freund Friedrich Schleiermacher, seine Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde52 (1800) zu schreiben. Eine Verteidigung Schlegels im Namen der Liebe.
10. Philologie der Gattungen der Liebe Tatsächlich ist die Liebe allein das Sujet des Romans, doch besteht der Sinn dieser Zuspitzung darin, ein semantisches Dach zu bilden, das wenig sagt und der Praxis alle Freiheit lässt. Die dichterische Praxis, der diese Freiheit zugute kommt, entfaltet sich in den philologischen Operationen des Romans. Philologisch, denn sie wollen dessen Klassizität behaupten. Eine Klassizität aufgrund der Verfasstheit als fremdes, historistisch gefasstes Ganzes. Die Methodik auf diesem Weg verbirgt sich im zum Namen gewordenen Begriff. Insofern hat das Wort ‚Liebe‘ den Status des Wortes ‚Kunst‘ in den Arbeitsheften Zur Philologie. Und sie hat nicht nur einen analogen Status, sondern auch den Sinn des Wortes aus den Arbeitsheften. Die Liebe wird zur philologischen Methode, die sich hinter ihrem Namen versteckt und also annihiliert ist. Dabei muss der Roman seine Klassik, philologisierend, innerhalb eines in Auflösung begriffenen Gattungssystems erreichen. Die Gattungen in der Lucinde werden zur Wissenschaft einer als philologische Kunst verstandenen Liebe. Eine romantische Klassik entsteht, die den Roman, in den Augen Schlegels, erst zu einem genuinen Gegenstand der Philologie macht. Worin besteht, fragt man sich schließlich, der Eigenwert dieser Philologie gegenüber einer philologisch sich gebärdenden Literatur? Und wie ist die philologische Methode fassbar? Die Mitte der Lucinde bildet das Kapitel Lehrjahre der Männlichkeit. Entsteht damit auch eine Symmetrie der Kapitel, wie Ernst Behler meint?53 Vor und nach den Lehrjahren ordnet Schlegel jeweils sechs Kapitel an, und die Lehrjahre, das längste Kapitel überhaupt, verstehen sich als Referenz gegenüber Goethes Wilhelm Meisters 51
52
53
Zit. nach Henriette Beese: „Nachwort“. In: dies. (Hg.): Friedrich Schlegel. Lucinde. Friedrich Schleiermacher. Vertraute Briefe über Schlegels Lucinde. Frankfurt a. M. u. a. 1979, S. 171–199, hier: S. 171. Friedrich Schleiermacher: Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde. In: ders.: Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802. Hg. von Günter Meckenstock (Kritische Gesamtausgabe. Bd. 3). Berlin/New York 1988, S. 139–216. Ernst Behler: „Friedrich Schlegel: Lucinde (1799)“. In: Paul Michael Lützeler (Hg.): Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen. Stuttgart 1981, S. 98–123; zuvor bereits Karl Konrad Polheim: „Friedrich Schlegels Lucinde“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 88 (1969), Sonderheft, S. 61–90.
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Lehrjahre, die Schlegel in seiner berühmten Rezension „als ersten Beitrag zu seinem eigenen Projekt ‚romantischer Roman‘“54 liest, nämlich in seiner Fähigkeit, die einzelnen Teile des Romans zu individuellen Organismen zu bilden, die indes ohne das Ganze des Romans bedeutungslos blieben. Eine einheitliche „Subjektstruktur“55 mache sich in allen Teilen geltend, was schließlich zur Klassizität des modernen Romans führe; im Fragment zur progressiven Universalpoesie schreibt Schlegel: Die romantische Poesie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird.56
Indem das einheitsstiftende Prinzip in den Vordergrund rückt, verliert jedoch jedes Kapitel, auch das Kapitel der Lehrjahre der Männlichkeit, seinen Prioritätsanspruch. Diese Lehrjahre stehen nur scheinbar in der Mitte. Sie stehen in einem Geflecht von Gattungen, die untereinander wettzumachen haben, was die Gattung als Gattung jeweils versäumt. Nur innerhalb eines sich radikalisierenden Systems der Gattungen, wo am Ende jedes Werk seine eigene Gattung sein soll,57 wäre nach dieser Poetik die klassische Totalität zu erreichen. Nimmt man die Gattungen und die Totalisierung zusammen, folgt der Gedanke, dass die Gattungen, insofern sie einem Prinzip folgen, der ‚Wissenschaft‘ angehören, und insofern sie einander ins Wort fallen, also wechselseitig die Cyklisation ihrer Gattung vorantreiben, einen Kunstzweck verfolgen. Die Tendenz der Kapitel, die sich alle aufeinander beziehen, Titel zu schaffen, die den Status von Eigennamen besitzen (‚Allegorie von der Frechheit‘, ‚Lehrjahre der Männlichkeit‘, ‚Tändeleyen der Phantasie‘ oder ‚Eine Reflexion‘), weil sie zu partikular für eine Gattungsbezeichnung sind, spricht für jene Anstrengung, ein festes System von Gattungen aufzulösen (unter der Voraussetzung einer Idee der Gattung) und so das Individuelle zu schaffen. Die philologische Kritik wirkt an der ‚Wissenschaft der Gattungen‘ mit und reflektiert den Prozess ihrer Überwindung. Von den drei Tendenzen Kritik, Hermeneutik und Rhetorik, die sich – der jeweiligen Wissenschaft folgend – in der philologischen Kunst 54 55 56 57
Engel: Der Roman der Goethezeit (s. Anm. 49), S. 382; vgl. oben den Abschnitt Annihilierte Werke von Goethe, Platon und Lessing. Ebd., S. 385. KFSA 2, S. 183. „Der modernen Dichtarten sind nur Eine oder unendl[ich] viele. Jedes Gedicht eine Gattung für sich.“ KFSA 16, S. 176.
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bemerkbar machen, tritt die Kritik in der Lucinde hervor. Es geht um die restitutio eines Werks, und die zugehörige Wissenschaft ist, den Notaten Zur Philologie streng folgend, die Poetik (vgl. I/159). Es ist eine Gattungspoetik, die es – zugunsten der Wissenschaftskunst – zu annihilieren gilt.
11. „Lehrjahre der Männlichkeit“ Die Lehrjahre der Männlichkeit sind ein chronikhaftes Stück Prosa, das aufgereiht die Erlebnisse Julius’ mit einzelnen Frauen schildert und in der glücklichen Verbindung von Julius und Lucinde endet. Das Dokumentarische dominiert das Narrative. Im Grunde werden Liebschaften aufgezählt und laufend kommentiert. Die Erlösung vom Dokumentarischen am Ende verdankt sich einer literaturgeschichtlichen Konstruktion. Schlegel baut in das Dokumentarische eine Epochensystematik von Klassik und Moderne ein, die die Lehrjahre der Männlichkeit organisiert. Diese Epochensystematik folgt der in Schlegels Arbeitsheften entwickelten historistischen Prämisse philologischer Praxis. (Mit dem Übergang vom Dokumentarischen zum Historistisch-Reflexiven gibt Schlegel zugleich einen wissenschaftsgeschichtlichen Abriss.) Julius hat viel erlebt und ist vielen Frauen begegnet. Bald nach manchen „vorübergehende[n] Zustände[n] ohne Zusammenhang“58, nach der Verwirrung, setzt die philologische Ordnung von Antike und Moderne ein, die erst zur wahren Liebe führt: Zunächst liebt Julius die Frau eines Freundes, die selbst antik und ebenso naiv wie sentimentalisch lebt (es regiert die von Szondi später auf den Punkt gebrachte Einsicht, das Naive sei das Sentimentalische)59, doch Julius selbst muss aus Rücksicht auf den Freund seine Liebe zurückdrängen und lebt daher quasi klassizistisch, das heißt ohne Verbindung von innerer Leidenschaft und objektiver Kunst, die er nach antikem Vorbild schafft:60 Was er bildete, war groß gedacht und in altem Stil, aber der Ernst war abschreckend, die Formen fielen ins Ungeheure, das Antike ward ihm zu einer harten Manier, und seine Gemälde blieben bei aller Gründlichkeit und Einsicht steif und steinern. Es war vieles zu loben, nur die Anmut fehlte; und darin glich er seinen Werken.61
58 59 60 61
KFSA 5, S. 47 [m. H.]. Vgl. Szondi: „Das Naive ist das Sentimentalische“ (s. Anm. 45). Zu den Grundfiguren der Schlegel-Forschung gehört Schlegels frühe ‚klassizistische‘ Epoche der ‚Graecomanie‘ – eine im Roman vorweggenommene Literaturgeschichte. KFSA 5, S. 50.
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Nun erst begegnet er einer älteren Freundin, und ex post werden die Gründe seiner klassizistischen Reaktion deutlich. Die Gründe spiegeln die Opposition von Wissenschaft und Kunst, von einem Spiel nach Regeln, denen Julius gefolgt ist, und der künstlerischen Notwendigkeit, die er nun findet; er gibt der Regel den Namen ‚Konsequenz‘ und konzipiert sie kantianisch als Bedingung des Genies.62 Die Regeln (oder anders gesagt: die Wissenschaften) werden erst in einem weiteren, geselligen Kreis kunstgemäß gehandhabt. Der gesellige Genius, der die Regelhaftigkeit über sich selbst hinausführt, tritt als mütterliches Herz auf: In dieser Anschauung begriff es Julius klar, daß es keine andre Tugend gebe als Konsequenz. Aber es war nicht die kalte steife Übereinstimmung berechneter Grundsätze oder Vorurteile, sondern die beharrliche Treue eines mütterlichen Herzens, das den Kreis seiner Wirksamkeit und seiner Liebe mit bescheidner Kraft erweitert und in sich selbst vollendet, und die rohen Dinge der umgebenden Welt zu einem freundlichen Eigentum und Werkzeug des geselligen Lebens bildet.63
Das Poetisch-Systematische wird hier in der biographischen, voll Bewunderung gezeichneten Relation Schlegels zu Goethe nochmals gespiegelt. Goethe tritt quasi als diese gesellige ältere Freundin auf. Die Spiegelung erlaubt die Wertschätzung einer noch fruchtbaren Klassik: Die alte Dame erwartet – trotz ihres Alters, aber dank ihres Charakters – noch ein Kind. Danach folgen in den Lehrjahren Übergänge, rasche Liebschaften, die Julius (die schon im Untertitel des ‚Romans‘ gegebene Doppelbedeutung: Gattung und Liebschaft, nutzend) ‚Romane‘ nennt, aber noch schreibt er keine. Das ändert sich mit der Liebe zwischen ihm und Lucinde. Der Gang von der Antike in die Moderne vollendet sich, denn: „Lucinde hatte einen entschiedenen Hang zum Romantischen, er fühlte sich betroffen über die neue Ähnlichkeit und er entdeckte immer mehrere.“64 Ihr gemeinsamer Maßstab ist die selbstgebildete Welt. Was sind nun die Grundlagen dafür, dass Liebeslehrjahre einer systematischen Geschichte der Ästhetik folgen können? In den Lehrjahren der Männlichkeit kann Schlegel die Grundlagen nicht explizit nennen. Er nennt sie anderswo, namentlich in seiner Allegorie von der Frechheit. An diesem Beispiel wird besonders augenscheinlich, wie die Gattungen einander aushelfen. Die Lehrjahre sind das produktive Kapitel; die Reflexion, die sich noch in dem Kapitel der Lehrjahre unmittelbar an den Bericht an-
62 63 64
„Genie ist Enthusiasmus plus Consequenz plus Talent.“ KFSA 18, S. 403. KFSA 5, S. 51. Ebd., S. 53.
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schließt65 und insofern eigentlich ein philologischer Kommentar ist, erklärt, warum die Gründe für die Produktivität in der Produktivität selbst nicht formulierbar sind. (Auch das selbständige Kapitel, das den Titel Eine Reflexion66 trägt, dient diesem Zweck.) Und das Allegorie-Kapitel liefert die Gründe, von der Seite gewissermaßen, mit Abschlägen in der Qualität der Bilder. So treiben die Kapitel qua Gattungen ihre Cyklisation voran.
12. Reflexion der Produktivität in der Allegorie Die Reflexion am Ende der Lehrjahre ist von erkenntniskritischer Skepsis motiviert: Julius’ inneres Leben lasse sich, überlegt er, in all den Erzählungen nicht „äußerlich darstellen“, denn sein Inneres sei der Kern der Kreativität: „In jener tiefsten Mitte des Lebens treibt die schaffende Willkür ihr Zauberspiel.“67 Genie, materiale Altertumswissenschaft, Kunst – diese Konzepte sind Schlegels Basis für diesen Satz. Nun geht Schlegel einen Schritt weiter, um einen Ort für seine Interpretation zu schaffen: Was sich nicht direkt darstellen lasse, sei der Allegorie indirekt zugänglich. An sie halte man sich, um zu erkennen, was sich in den Lehrjahren nicht ausdrücken ließ und als Unaussprechliches im Inneren sitzt. Namentlich nimmt er auf die Allegorie von der Frechheit Bezug und ortet in den Lehrjahren selbst einen allegorischen, „geistigen Hauch“.68 Der Hauch in den Lehrjahren ist ihr Historismus. Und in der Allegorie von der Frechheit wird dieser Historismus textkritisch fundiert. Tatsächlich erzählt die Allegorie von der Frechheit von vier Romanen, die der gottähnliche Witz als Söhne gezeugt hat, und es wird berichtet, wie diese Romane, die wiederum literarhistorische Rollen innehaben (der naive, der christlich-ritterliche, der antike und der moderne Roman), zu den Frauengestalten, namentlich zur Dezenz und 65 66
67 68
KFSA 5, S. 58 f. Ebd., S. 72–74. Das Kapitel Eine Reflexion handelt davon, wie vom Namenlosen zu sprechen sei. Man kann hinzufügen: vom Namenlosen anderer Kapitel. Ein skeptischer Ansatz, der wie jeder Skeptizismus eine Antwort geben will. Die Antwort lautet hier, dass in solcher Reflexion die Individualität des Namenlosen entstehe, die dann das Leben zeuge: „Durch diese Individualität und jene Allegorie blüht das bunte Ideal witziger Sinnlichkeit hervor aus dem Streben nach dem Unbedingten.“ (Ebd., S. 73) Das Individuelle des Kapitels ist diese – gegenstandslose – Reflexion über das Namenlose und dessen Individualität: „Sich vertiefend in diese Individualität nahm die Reflexion eine so individuelle Richtung, daß sie bald anfing aufzuhören und sich selbst zu vergessen.“ (Ebd.) Daher der Name des Kapitels: Er ist so allgemein, dass er keine Gattung mehr bezeichnen kann und insofern sich auf dem Weg zu jener Individuation befindet, von der es handelt. Die Gattung heißt daher auch ‚Eine Reflexion‘. Ebd., S. 59. Ebd.
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zur Frechheit sich verhalten. Die Frechheit, deren „Bildung groß und edel“69 ist, tut sich naturgemäß mit dem klügsten und elegantesten der Romane zusammen: „Man hätte ihn ebensogut für einen Franzosen wie für einen Deutschen halten können; seine Kleidung und seine ganze Art war einfach, aber sorgfältig und völlig modern.“70 Die Frechheit, Stellvertreterin des Witzes, und der Elegant konstituieren die romantische Literatur. Ihr werden Julius und Lucinde am Ende huldigen. Damit stellt sich auch hier die Wiegebewegung von Sprechen und Schweigen ein, die ich eingangs als Kern des Schlegel’schen Projekts bezeichnet habe. Der nicht ausgesprochene Sinn der Lehrjahre ist die in der Liebe mögliche Kreativität, die sich erzählend verwirklicht und allegorisch-reflexiv fassen lässt. Der Sinn der Allegorie ist eine Bücherlandschaft, die philologisch-historistisch totalisiert wird. Die Allegorie macht den notwendigen Mangel der Lehrjahre wett: Sie spricht, wie eine Wissenschaft gegenüber der Kunst.71 Und die Philologie wird – als ‚Kunst‘, die verschwiegen ist – zum Garanten des modernen Werks.
13. Perspektiven oder: Wann endet eine Interpretation? Die hermeneutische Reflexion nach Friedrich Schlegel entwickelt sich auf der Grundlage der in den Notaten Zur Philologie explizierten Gedanken. Um dem Schweigen der Reflexion zu entkommen, gehen die Theoretiker der Hermeneutik von der ‚Kunst‘ einen Schritt zurück zu den Vermögen der Hermeneutik und der Kritik und behaupten nur mehr den in ihnen notwendigen kunstgemäßen Gebrauch. Entscheidend wirkt in dieser Hinsicht Friedrich Schleiermacher, der Freund Schlegels. Der Schritt zurück findet sich bereits modellhaft in Schleiermachers Durchgang von den Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde (1800),72 einem Briefroman, in dem Schleiermacher bald nach ihrem Erscheinen die Lucinde verteidigt, zu dessen 1805 und 1809/1810 einsetzenden Kollegien in Berlin. 69 70 71
72
KFSA 5, S. 18. Ebd., S. 17. Am Ende der Reflexion in den Lehrjahren heißt es entsprechend: „Es war nicht ohne Grund, daß der phantastische Knabe, der mir am meisten gefiel unter den vier unsterblichen Romanen, die ich im Traum sah, mit der Maske spielt. Auch in dem was reine Darstellung und Tatsache scheint [die Liebesgeschichten der Lehrjahre], hat sich Allegorie [philologische Reflexion] eingeschlichen, und unter die schöne Wahrheit bedeutende [ebenso wichtige wie sinnstiftende] Lügen gemischt. Aber nur als geistiger Hauch schwebt sie beseelend [Sinn schöpfend] über die ganze Masse, wie der Witz, der unsichtbar mit seinem Werke spielt und nur leise lächelt“; ebd., S. 59. Zur Beziehung zwischen Schlegel und Schleiermacher vgl. Wilhelm Dilthey: Aus Schleiermachers Leben in Briefen. Bd. 3: Schleiermachers Briefwechsel mit Freunden bis zu seiner Übersiedlung nach Halle, namentlich der mit Friedrich und August Wilhelm Schlegel. Berlin 1861; Walter Benjamin:
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Christoph König
Die Vertrauten Briefe nehmen das Wort ‚Liebe‘ aus der Lucinde auf und sehen in diesem Wort das Prinzip der Totalität des Romans. Diese Totalität verteidigt Schleiermacher. Er macht die selektive Lektüre, das „Naschen“,73 den Frauen, mit denen er korrespondiert, zum Vorwurf. Die Liebe, die die Totalität des Romans gewährleiste, setze sich „in jedem Zuge“ durch: „Hier hast Du die Liebe ganz und aus einem Stück, das Geistigste und Sinnlichste nicht nur in demselben Werk und in denselben Personen nebeneinander, sondern in jeder Äußerung und in jedem Zuge aufs innigste verbunden.“74 Die Liebe wird als Formprinzip angesehen und folgerichtig mit Begriffen und Konzepten der Ästhetik charakterisiert: mit der Identität von Empirie und Geist, mit der inneren Reinheit eines Kunstprinzips (daher auch als Erläuterung der ‚Innigkeit‘: „Die bürgerliche Welt und die feine Gesellschaft sind so gut als gar nicht vorhanden.“75), mit Vollendung, Lebendigkeit, der „innern Schönheit“76 und Stil. Auch die Einwände der Korrespondenzpartnerinnen pariert Schleiermacher mit Hinweisen auf den ironischen Abstand Julius’ zu seinen früheren Amouren, also mit Normen der romantischen Kunst (die Figur der Karoline etwa lässt Schleiermacher auftreten und schreiben als ein Mädchen, das die Ironie der Lehrjahre der Männlichkeit, etwa in der Mädchen-Episode, verkennt).77 Angesichts der ästhetischen Charakterisierung und Verteidigung wäre die Liebe als Stoff selbst kaum mehr nötig, und Schleiermacher drückt sich am Rande dieser Möglichkeit aus: der Roman ist ihm ein „Zeichen [...] von der Wiederkehr eines großen und schönen Stils in der Kunst“.78 Vom Zeichen einer Kunstkraft zu deren Verkörperung ist in diesen Briefen oft nur ein kleiner Schritt, den die Adressaten freilich nicht verstehen. Das Missverständnis Schleiermachers mit Ernestine hat in dem von Schleiermacher vollzogenen Schritt zur Liebe als Namen
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Deutsche Menschen. Hg. von Momme Brodersen (Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 10). Frankfurt a. M. 2008, S. 109 f. (dort der Brief Schlegel/Schleiermacher, der nicht in die Originalausgabe von Benjamins Deutsche Menschen aufgenommen wurde); Beese: Nachwort (s. Anm. 51); Michael Thomas Taylor: „Erotic Philology. Schlegel’s Farewell to Schleiermacher and the Reception of their ‚Marriage‘“. Vortrag, gehalten auf der 35th Annual Conference der German Studies Association in Louisville, Kentucky, September 2012 (im Druck). Wie er gegenüber Karoline sagt; Schleiermacher: Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (s. Anm. 52), S. 184. Ebd., S. 150 (Brief an Ernestine). Ebd., S. 152. Ebd. Friedrich Schlegel an Friedrich Schleiermacher, wohl Anfang Juli 1800: „Aber Ironie gehört nicht hierher […] so würde ich die Reflexion bey einer Umarbeitung nur noch weiter und stärker entwickeln.“ Friedrich Schleiermacher: Briefwechsel 1800. Hg. von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond (Kritische Gesamtausgabe im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 4). Berlin/New York 1994, S. 123. Schleiermacher: Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (s. Anm. 52), S. 152.
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für eine Kunstform seine Ursache. Ernestine begegnet dem Argument, die innere Schönheit der Liebe sei ein ästhetisches Prinzip, auf der Ebene des Stoffes: Wer nur innerlich liebe, liebe mangelhaft, da die wahre Liebe sich in den Taten bewähre.79 Schleiermacher benutzt Kunst-Formeln, um die Form der Liebe zu benennen; so muss er die Form nicht näher analysieren, sondern umspielt sie in einer wiederum künstlerischen Gattung. Schleiermacher reagiert in Gestalt des Briefromans kongenial auf die Vorlage, indem er seine Lektüre auf eigene und andere Briefe verteilt. Er wiederholt Schlegels Prinzip der Cyklisation und schiebt deren Auflösung hinaus. Schlegels Philologie der Philologie findet nur schwer zur Philologie als Wissenschaft, d. h. zu den Tendenzen der ‚Kunst‘ zurück. Schlegel hat im Verhältnis der Notate zum Roman ein chiastisches Argument vollzogen: Vermögen und Wissenschaft (A) münden, kraft der Cyklisation, in ein Wort (B); dieses Wort ‚Kunst‘ wird im Roman übersetzt in das Wort ‚Liebe‘ (B’), in dessen Schutz die Prinzipien der Notate produktiv werden können (A’), ohne expliziert zu sein.80 Indem er – mit dem Stilmittel der Allegorie – eine Interpretation der künstlerischen Praxis (B’) vorlegt, öffnet er einen Weg, aus der progressiven Cyklisation reflexiv und artikuliert herauszukommen. Schlegel schlägt eine Interpretation der philologisch-produktiven Praxis vor. Diesem Weg folgt Schleiermacher in seinen Hermeneutik-Vorlesungen. Er legt quasi seine Vertrauten Briefe aus, die August Boeckh zu Recht als Schleiermachers hermeneutisches Werk par excellence hervorgehoben hat: nota bene als hermeneutisches, d. h. von der Hermeneutik angetriebenes Werk, und nicht als Studie der Hermeneutik.81
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3. Brief an Ernestine (s. Anm. 52). In dem von Polheim zusammengestellten Begriffs-Repertorium zur Lucinde (Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman. Kritisch hg. und mit Begriffs-Repertorium, Bibliographie und Nachwort versehen von Karl Konrad Polheim. Stuttgart 1999, S. 131–211) fehlt das philologische Register, das in den Arbeitsheften Zur Philologie ausgebreitet ist, gänzlich. Taylor (s. Anm. 72) geht auf den Konflikt der Freunde ein und rekonstruiert Schlegels Sicht: Gegenüber einem Verstehen durch den Verstand (das wirft Schlegel im Jahr 1799 Schleiermacher vor) sei das Einander- bzw. Sich-Verstehen vorzuziehen, das durch Reflexion auf das Gesagte möglich werde. Freundschaft, Liebe und Ehe gründen allein darauf. Schlegel hofft auf ein künftiges Verstehen – seiner progressiven Philologie gemäß. Die Rezeption der Freundschaft zwischen Schlegel und Schleiermacher im 19. Jahrhundert sei dann von einem Ehe-Konzept bestimmt, welches das Innere und Persönliche (und damit auch den methodischen Kern des Konflikts) ausgeblendet habe. Das Nicht-Verstehen, das Schlegel zum Abschied Schleiermacher vorwirft, hat Schleiermacher womöglich schon in den Vertrauten Briefen, erst recht aber in der Reflexivität der Hermeneutik-Kollegs beherzigt.
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Christian Gottlob Heyne und Friedrich Schlegel I. Christian Gottlob Heyne (1749–1812) hat für die Durchsetzung der Philologie und der Altertumswissenschaft in der deutschen Kultur an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert eine entscheidende Rolle gespielt.1 Dem Textkommentar und der Textedition, der Archäologie und Numismatik, der Anthropologie der Antike und der Mythologie, also sämtlichen Disziplinen der Altertumswissenschaft, hat er wichtige Erneuerungsimpulse gegeben. Mit seinem Göttinger Seminar hat er eine Form des Forschungsseminars vorweggenommen, die später für die klassische Philologie als Lehrfach an deutschen Universitäten prägend werden sollte.2 Vor allem aber hat Heyne entscheidend zur Reflexion über die Antike beigetragen und Fragen beantwortet, die in seiner Zeit von großer Aktualität waren: Welcher Unterschied besteht zwischen den Alten und den Modernen? Welche physischen und historischen Faktoren waren für das ‚griechische Wunder‘ verantwortlich? Welche Rolle spielt die Kenntnis der antiken Kunstwerke für die moderne Dichtung und Kunst? Was von der antiken Geschichte konnte für die Interpretation der zeitgenössischen Ereignisse nützlich sein? Diese Themen scheinen vor allem in den Reden auf, die er in der Rolle des professor eloquentiae 1763 vor der Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen hielt.3 Denn Heynes 1
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Vgl. Maria Michela Sassi: „La freddezza dello storico: Christian Gottlob Heyne“. In: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, serie III, XVI, 1 (1986), S. 105–126; Martin Vöhler: „Christian Gottlob Heyne und das Studium des Altertums in Deutschland.“ In: Glenn W. Most (Hg.): Disciplining classics – Altertumswissenschaft als Beruf. Göttingen 2002, S. 39–54; Marianne Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte. München/Leipzig 2006; Daniel Graepler/Joachim Migl (Hg.): Das Studium des schönen Altertums. Christian Gottlob Heyne und die Entstehung der klassischen Archäologie. Göttingen 2007; Sotera Fornaro: „Christian Gottlob Heyne dans l’histoire des études classiques“. In: Revue germanique internationale 14 (2011), S. 15–26. Zur Rolle Heynes und der Göttinger Universität bei der Entstehung der Seminarform vgl. William Clark: Academic Charisma and the Origins of the Research University. Chicago 2008, bes. S. 176 ff. Gesammelt in Opuscula academica collecta et animadversionibus locupletata, 6 Bände. Göttingen 1785–1812. Zu Friedrich Schlegels Kenntnis dieser Reihe vgl. KFSA 16, S. 45 [129]. Schlegel
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Tätigkeit muss im Zusammenhang mit der Vorbildfunktion der Göttinger Universität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gesehen werden und ist ein Beispiel für die Richtungen, die die historiografische Forschung dort einschlug und die in der Gründung des Königlichen Instituts der Wissenschaften gipfelten.4 Obgleich Heyne wenig Charisma gehabt haben soll und ein kleiner Mann mit einer schwachen Stimme war, war er dennoch ein erfolgreicher Professor und eine internationale Berühmtheit. Aus ganz Europa reisten junge Bildungsbürger nach Göttingen – er lehrte dort von 1763 bis zu seinem Tod –, um seine Vorlesungen zu hören. Freilich war sein Einfluss nicht auf seine akademische Hörerschaft beschränkt. Seine Reden waren außerdem einem viel breiteren Publikum zugänglich als der gebildeten Göttinger Gesellschaft, vor der er sie bei offiziellen Anlässen auf Lateinisch hielt, denn er publizierte regelmäßig eine deutsche Fassung seiner Vorträge in den Göttingischen gelehrten Anzeigen.
II. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war Heyne also die wichtigste Persönlichkeit für alle, die sich dem Altertumsstudium widmeten oder jedenfalls etwas über die Antike erfahren wollten, auch die jungen Reichen, die sich einfach auf die Grand Tour in den Süden vorbereiteten.5 Dieser Umstand allein wäre ausreichend, um sich zu fragen, ob und wie Friedrich Schlegel die Lehre Heynes rezipiert hat.6 Die aufgeworfene Frage rechtfertigt sich umso mehr, als Schlegel, wenngleich nur kurze Zeit (1790–1791), zu den Mitgliedern von Heynes Seminar zählte, wo er von seinem Bruder August Wilhelm
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scheint „besonders den IVen Band“ zu schätzen, der die Reden enthält, in denen Heyne die antike und die zeitgenössische Geschichte besonders eng miteinander verbindet (vgl. Fornaro: „Christian Gottlob Heyne dans l‘histoire des études classiques“ [s. Anm. 1], S. 18–19). Vgl. Luigi Marino: Praeceptores Germaniae. Göttingen 1770–1820. Göttingen 1995, vor allem S. 246 ff.; Christian Gottlob Heyne: „Oratio ad Institutum Historicum inaugurandum (1766)“. In: Opuscula academica collecta et animadversionibus locupletata. Göttingen 1785 (ND 1997), Bd. 1, S. 280–289. Vgl. Graepler/Migl (Hg.): Das Studium des schönen Altertums (s. Anm. 1). Auf Heyne als Vorbereiter der Reflexion des jungen Schlegel über die griechische Literatur richtet nur Werner Mettler sein Augenmerk; vgl. Der junge Friedrich Schlegel und die griechische Literatur. Ein Beitrag zum Problem der Historie. Zürich 1955; allerdings bleibt in dem Buch offen, in welchem Sinn Schlegel die von Heyne in der Altertumsforschung eingeführten Neuerungen aufnimmt. Zu dem Ergebnis, Schlegel lehne Heynes Methode en bloc ab, gelangt dagegen Dorit Messlin: Antike und Moderne: Friedrich Schlegels Poetik, Philosophie und Lebenskunst. Berlin/ New York 2011, S. 75 ff., deren Vorstellung, Schlegels Philologie-Verständnis bestimme sich „eher in Abgrenzung zu Heyne als im Bemühen um Berühungspunkte mit ihm“ (S. 75), ich hier einzuschränken versuche.
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eingeführt worden war. Allerdings darf man sich die Beziehung zwischen Heyne und Schlegel nicht als Lehrer-Schüler-Verhältnis vorstellen. Schlegel studierte Jura und Theologie und verfasste für Heyne keinerlei wissenschaftliche oder philologische Arbeit. Es handelte sich um eine recht distanzierte Beziehung, und im Übrigen äußerte Schlegel verschiedentlich bei privater Gelegenheit intellektuelle und auch moralische Vorbehalte gegenüber dem berühmten Professor: „Heyne ist doch wohl eigentlich nicht einmal ein scharfer Denker, geschweige denn ein Mensch“, schreibt er gelegentlich an seinen Bruder.7 Auch wäre es falsch, von einer ‚Schule‘ Heynes zu sprechen, ganz abgesehen von der Möglichkeit, Friedrich Schlegel einer solchen Schule zuzurechnen. Heynes Wirken fiel nämlich in eine Zeit, die der Entstehung des philologischen Seminars als einer wissenschaftlichen Anstalt vorausging, in dem die ‚Schule‘ eine Art Familienersatz darstellte und über strenge Regeln militärischer und klösterlicher Art verfügte. Diese Art von Seminar, in dem die Treue zum ‚Lehrer‘ eine unabdingbare Anforderung war, setzte sich erst mit Karl Lachmann durch.8
III. Die unmittelbar auf Heyne folgende Philologengeneration distanzierte sich – bisweilen auf scharfe Weise – von diesem, weil sie ihn für den Vertreter einer alten und überwundenen Methode der Altertumsforschung hielt. Zu dieser Verkennung Heynes trugen mehrere Faktoren bei, allen voran die Politik. Heyne war ein Mann des 18. Jahrhunderts, ein aufgeklärter Konservativer, der nie zur Revolution Stellung nahm und kosmopolitische Ideale vertrat. In seinen Schriften hebt er nirgends die geistige Gemeinsamkeit zwischen den alten Griechen und den Deutschen hervor, die – namentlich mit antifranzösischer Stoßrichtung – einen nicht unbedeutenden Anteil an der Begründung der deutschen Nationalidentität hatte. Die raschen Fortschritte der Textkritik überschatteten außerdem bald Heynes Tätigkeit im spezifisch philologischen Bereich, der Technik der Textedition, so dass seine Editionen und Kommentare zu Tibull, Pindar, Homer, Vergil und Apollodor alsbald als dilettantisch empfunden wurden und man sie den Methoden der Polyhistorie und antiquarischen Gelehrsamkeit zurechnete.9 Hinzu kam der zu seinen 7
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Brief vom 13. November 1793. In: KFSA 23, S. 157. Weitere ausführliche Belege bei Irene Polke: Selbstreflexion im Spiegel des Anderen. Eine wirkungsgeschichtliche Studie zum Hellenismusbild Heynes und Herders. Würzburg 1999, S. 196–198. Vgl. Sotera Fornaro: „Karl Lachmann et sa méthode.“ In: Revue Germanique International 14 (2011): La philologie allemande, figures de pensée, S. 125–138 (mit Literaturhinweisen). Zu Unrecht: vgl. Sebastiano Timpanaro: La genesi del metodo del Lachmann. Torino 2004,
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Ungunsten ausfallende Vergleich mit zwei Figuren, die mit Heyne zusammengedacht werden: in erster Linie Winckelmann, mit dem er befreundet war und im Briefwechsel stand, was ihn jedoch nicht daran hinderte, die geschichtlichen Fehler Winckelmanns und dessen geringe Sorgfalt im Umgang mit den antiken Quellen aufzuzeigen.10 Die zunehmende ‚Heroisierung‘ Winckelmanns stellte den gelehrten, wenig genialen Heyne indes vollkommen in den Schatten. Auf der anderen Seite wurde Heynes Rolle verdunkelt durch Friedrich August Wolf, der einen normativen Rahmen für die Altertumswissenschaft schuf.11 Im Übrigen hatte Wolf schon während der Studienzeit in Göttingen ein äußerst konfliktreiches Verhältnis zu Heyne. Weder erkannte Wolf dessen Verdienste an, noch das, was er ihm bei der Ausarbeitung einer organischen Idee der Altertumswissenschaft und der Rekonstruktion der ältesten Phasen der Entstehung von Homers Texten schuldete.12 Im Vergleich zu diesen beiden auf unterschiedliche Weise herausragenden Figuren gerieten Heynes Gedanken über den Wert des Studiums der Antike, die nie systematisch ausgearbeitet, sondern in den Vorworten zu seinen Editionen, in Gelegenheitsreden, Vorlesungen und antiquarischen Aufsätzen formuliert wurden, in Vergessenheit. Schließlich darf nicht übersehen werden, dass die innovativsten Beiträge Heynes aus dem mutigen Versuch hervorgegangen waren, kulturelle Anregungen, die aus der Ethnologie und Geschichtsphilosophie kamen, auf das Altertumsstudium anzuwenden. Seine größten Neuerungen bestanden darin, sich zu fragen, was der Mythos sei, und dessen Ursprung an der Unzulänglichkeit der ‚primitiven‘ Sprache festzumachen, ferner in der Unterscheidung zwischen Urmythos und mythologischer Tradition sowie im Gebrauch des ethnografischen Vergleichs, um
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S. 44; Giovanni Fiesoli: La genesi del Lachmannismo. Firenze 2000, insbesondere zur TibullEdition (1755). Z. B. in der Lobschrift auf Winckelmann, die den Preis der Hessen Casselischen Gesellschaft zum Thema gewann: „Wo, auf welcher Stufe fand Winckelmann das Studium des Altherthums? Und wo ließ er es?“ Bekanntlich gewann Heyne vor dem Mitwettbewerber Johann Gottfried Herder. Die Schriften beider Autoren sind wiederabgedruckt in: Die Kasseler Lobschriften auf Winckelmann. Einführung und Erläuterungen von Arthur Schulz. Winckelmann-Gesellschaft Stendal, Jahresgabe 1963. Berlin 1963 (Zitate hier nach der Originalausgabe Leipzig 1778). Eine genauere Untersuchung der Fehler von Winckelmann findet sich in dem Aufsatz: „Über die Künstlerepochen beym Plinius“. In: Sammlung antiquarischer Aufsätze. Bd. 1. Leipzig 1778, S. 165–235. Vgl. zuletzt Giovanni Leghissa: Incorporare l’antico. Filologia classica e invenzione della modernità. Milano 2007, S. 25–48. Die ausgewogene, fundierte Rezension Heynes zu den Prolegomena ad Homerum (1795) von Friedrich August Wolf, erschienen in den GGA 203 (19. Dezember 1795), S. 2025–2036, löste eine empörte Reaktion des Letzteren aus, wie die Briefe an Herrn Hofrat Heyne von Professor Wolf. Berlin 1797, belegen. Es handelt sich um eines der ersten Zeugnisse des Philologenstreits, der das 19. Jahrhundert belebte
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die Mentalität der archaischen Griechen zu durchdringen.13 In seinen Reden, in denen er literarische Quellen über das archaische Griechenland mit neueren Reiseberichten über die Bräuche moderner ‚Primitiver‘ verglich, beispielsweise der amerikanischen Indianer, schränkte Heyne jede Form von Idealismus ein, die sich mit der Vorstellung von der Einzigkeit und Unerreichbarkeit der Griechen verband. Die homerische Dichtung musste seines Erachtens als Ausdruck einer primitiven und folglich unvollkommenen Epoche verstanden werden, in der die Mythologie die Rolle der Geschichte, der Philosophie und der Religion innehatte.14 Heynes Historizismus wurde indes als Anti-Klassizismus interpretiert, so dass Johann Heinrich Voss geraume Zeit später sogar den Neologismus ‚Heynianismus‘ prägte, um abwertend die mythologische ‚Schule‘ zu bezeichnen, die angeblich in Heynes Gefolge entstanden war.15 Voss irrte jedoch, wenn er Heyne für den Stammvater einer symbolischen Interpretation der Mythologie hielt, von der dieser weit entfernt war und die sich vielmehr dem späteren romantischen Klima (Friedrich Creuzer) verdankte. Dennoch ist sein Missfallen ein weiterer Beleg dafür, dass Heyne, wo er nicht vergessen wurde, unverstanden blieb.
IV. Die Beziehung zwischen Heyne und Schlegel kann weder in akademischer noch in intellektueller Hinsicht als direktes Abstammungsverhältnis beschrieben werden. Ebenso wenig geht es darum, Heynes Einfluss auf Schlegel darzustellen. Vielmehr sollte jenseits persönlicher Begegnungen oder direkter Bezugnahmen überprüft werden, ob und wie Schlegel in seinen Vorstellungen von der klassischen Antike und ihrem Studium Heynes Positionen fortentwickelte. Heyne hinterließ der jüngeren Generation die Aufgabe, den 13
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Valerio Verra: Rivelazione e filosofi in J. G. Herder e nel suo tempo. Milano 1966; Alex E. Horstmann: „Mythologie und Altertumswissenschaft. Der Mythosbegriff bei Ch. G. Heyne“. In: Archiv für Begriffsgeschichte 16 (1972), S. 60–85; Gioachino Chiarini: „Ch. G. Heyne e glinizi dello studio scientifico della mitologia“. In: Lares LV (1989), S. 317–333; Fritz Graf: „Die Entstehung des Mythosbegriffs bei C. G. Heyne“. In: ders. (Hg.): Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigna Roms. Stuttgart/Leipzig 1992, S. 284–294; Sotera Fornaro: I Greci senza lumi. L’antropologia della Grecia antica in Christian Gottlob Heyne (1729–1812) e nel suo tempo. Göttingen 2004. Vgl. die Commentatio de Apollodori Bibliotheca novaque eius recensione simulque universe de litteratura mitica. In: Apollodori Atheniensis Bibliothecae Libri Tres. Bd. III, Notae. Goettingae 1783, S. 905–971 (dann in: Apollodori Atheniensis Bibliothecae Libri Tres et Fragmenta, curis secundis illustravit Chr. G. Heyne. Gottingae 1803, S. XXV–LVI, ND: Hildesheim/New York 1972). Johann Heinrich Voss: Antisymbolik. Zweiter Theil. Stuttgart 1826 (I. Heynianismus nach Erfahrungen von J. H. Voss, S. 1–222).
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Begriff des Studiums der Antike genau zu definieren und in all seinen Folgen zu entwickeln.16 Denn mit Heyne erlangte der Begriff des Studiums eine komplexe Bedeutung, die über das Vorgehen der Antiquare des 18. Jahrhunderts, das heißt die Sammlung von gelehrtem Material, hinauswies und zwei neue Voraussetzungen für die Annäherung an die Antike einführte.17 Die erste Voraussetzung ist ästhetischer Art: Die Werke der Alten erziehen uns zum Schönen. Da das ästhetisch Schöne nicht vom moralisch Schönen getrennt ist, werden wir durch das Studium der Alten zu besseren Menschen, denn so bilden wir den ‚Geschmack‘ aus, der uns befähigt, das wirklich Schöne von der vergänglichen Mode zu unterscheiden. Nur dank des ästhetisch Schönen streben wir nach der Erlangung des Schönen, das zugleich das moralisch Gute ist. Diese allgemeine Voraussetzung macht das Studium der Alten unabdingbar für die Bildung jedes Menschen, auch desjenigen, der nicht berufen ist, Philologe zu werden. Heyne hebt dergestalt den pragmatischen Ansatz der philanthropischen Pädagogik aus den Angeln und weist dem Studium der Antike die hohe Aufgabe zu, den Menschen allein durch den Genuss der antiken Kunst, die keinen anderen Nutzen hat als das Vergnügen, moralisch zu vervollkommnen und zu veredeln. Zudem ist bei der konkreten Arbeit des Philologen jede Einzelheit wichtig, weil sie zur Vision des Ganzen beiträgt. Jedes Stück der Antike ist in seinem Eigenwert zu beurteilen, weil nur so deren polyhistorische und antiquarische Zersplitterung vermieden werden kann. Bei der Annäherung an das Studium der Antike muss man die Gelehrsamkeit also anhand eines wissenschaftlichen Kriteriums überprüfen, das den von anderen Wissenschaften angewandten Methoden, allen voran der Klassifizierung und geschichtlichen Verortung, entsprechen muss.18 Überdies darf das Studium der Alten, das in den Händen „gelehrter und ungelehrter Pedanten“ schlecht aufgehoben ist, „nicht nur für die [moderne] Kunst“, „für den Geschmack und den Reichthum der Erfindung dienen, sondern muss auch zur 16
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Vgl. vor allem die Vorrede in der Sammlung antiquarischer Aufsätze. Bd. I. Leipzig 1778, S. III und IX. Heyne verfasste eine kurze Einleitung in das Studium der Antike, oder Grundriß einer Anführung zur Kenntniß der alten Kunstwerke. Göttingen/Gotha 1772, die einen so großen Erfolg hatte, dass Goethe sie auch in Die Leiden des jungen Werther (I. Buch, Brief v. 17. Mai 1772) zitiert. Heyne gelang es nicht, genau zu definieren, was dieses Studium sei, und Ausdrücke wie ‚das antiquarische Studium‘, ‚Studium der Alterthümer‘, ‚Archäologie‘ waren für ihn Synonyme, doch war er sich der Neuheit seiner ganzheitlichen Sicht der Antike bewusst. Vgl. den Brief an Hagedorn vom 3. Oktober 1772, nachgedruckt und kommentiert in: Hermann Bräuning-Octavio: Christian Gottlob Heynes Vorlesungen über die Kunst der Antike und ihr Einfluß auf Johann Heinrich Merck, Herder und Goethe. Darmstadt 1971, S. 38–46. Vgl. Sotera Fornaro: „Das ‚Studium der Antike‘ von Heyne bis Boeckh“. In: Christiane Hackel/Sabine Seifert (Hg.): August Boeckh. Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik. Berlin 2013, S. 197–210. Vgl. Heyne: Lobschrift auf Winckelmann (s. Anm. 10), die das eigentliche ‚Manifest‘ Heynes zur Bedeutung des Altertumsstudiums und seinen Methoden ist. Der Vergleich zwischen Altertumskenner und Naturkündiger steht auf S. 12–13.
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Bildung der Jugend und zur Erweckung des Gefühls vom Schönen, Wahren und Großen“ beitragen und endlich „zu philosophischen Raisonnements über den Gang des menschlichen Verstandes im Denken und Handeln“ führen.19 Das Altertumsstudium erfordert also einen außerordentlichen Besitz an Kenntnissen und Geisteskräften, die allesamt zur (rein hypothetischen) Erreichung einer einheitlichen Idee der Antike beitragen, welche im Gegensatz zu der bis dahin praktizierten sterilen Materialanhäufung steht. So weist Heyne auch im spezifischen Bereich der Erforschung der literarischen Texte der Antike auf die Unzulänglichkeit einer rein formalen Philologie hin, wie sie von der holländischen Schule praktiziert wurde, und fragt nach dem Sinn dieses Studiums, seinem Nutzen für das Leben und seinem Zusammenhang mit einer philosophischen Erkenntnis der Geschichte. Kein Fach kann also vernachlässigt werden, wenn man in den Geist der Antike eindringen will. Literarische und archäologische Quellen sind gleich viel wert; die Kenntnis der Realien, von den Münzen über die Epigrafe bis zu den künstlerischen Objekten, ist nicht weniger wichtig als die der Grammatik. In allen Fällen handelt es sich um historische Quellen, so dass die Regeln der historischen Kritik gleichermaßen für die Texte wie für die Gegenstände gelten. Heyne überwindet also die antiquarische Gelehrsamkeit des 18. Jahrhunderts als Sammelsurium von Disziplinen und schafft die Grundlagen für die enzyklopädischen Entwürfe von Wolf und Boeckh.20 Aber er geht auch weiter als Winckelmann, denn er lässt die Beziehung zur Vergangenheit nicht in der bloßen Nachahmung aufgehen, sondern zielt auf die Rekonstruktion der antiken Welt als Ganzheit, als innerlich zusammenhängendes kulturelles System. Heynes Streben nach der enzyklopädischen Totalität erwies sich jedoch als Fehlschlag. Das „Ganze“, das er sich zum Ziel gesetzt hatte, blieb eher „ein dunkeles Bild“21. Dennoch ist Schlegels Beurteilung unzutreffend, wenn er schreibt, Heyne sei nicht über den Thesaurus seiner Vorläufer Fabricius und Ernesti hinausgegangen.22 Im Gegenteil. Heynes enzyklopädischer Totalitätsanspruch hinsichtlich der Kenntnis der Vergangenheit hatte zweierlei wesentliche Folgen. In erster Linie ist die Antike hier weder Vorbild noch Nachahmungsgegenstand, sondern eine kulturelle Welt, die sich von der gegenwärtigen zutiefst unterscheidet. Um sich ihr zu nähern, muss man die eigene Mentalität aufgeben, um sich in die der Alten hineinzuversetzen, wodurch das Bewusstsein von der unüberwindlichen Andersheit zwischen Antike und Gegenwart wächst. Die erste Regel der Hermeneutik der Antike, schreibt Heyne in seiner Lobschrift auf Winckelmann, müsse 19 20 21 22
Heyne: Lobschrift auf Winckelmann (s. Anm. 10), S. 36. Vgl. Silvia Caianiello: „Christian Gottlob Heyne“. In: dies.: Scienza e tempo alle origini dello storicismo tedesco. Napoli 2005, S. 129–162. Vorrede in Sammlung antiquarischer Aufsaetze. Bd. I. Leipzig 1778, S. IX. KFSA 16, S. 81.
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darin bestehen, das antike Kunstwerk mit den Begriffen und in dem Geist zu entziffern und zu bewerten, mit denen der antike Künstler es ausgeführt hat. Man muss sich folglich in die Epoche des antiken Autors einfühlen, um zu verstehen, von welchen Kenntnissen der Künstler der Antike seinen Ausgang nahm.23 In zweiter Linie macht das Streben nach einer ganzheitlichen Rekonstruktion der Vergangenheit das Studium der Antike zu einer unendlichen Tätigkeit, zu einer Lebensaufgabe, deren Wert nicht nur den Einzelnen betrifft, sondern die ganze Gesellschaft.
V. Die hier in Kürze herausgestellten Aspekte bilden meines Erachtens allesamt Voraussetzungen für die Reflexion des jungen Schlegel über die Antike und seien im Folgenden nochmals zusammengefasst: das Bedürfnis nach einem Studium derselben, das auf ein System abzielt und die chaotische Materialanhäufung ablehnt; der absolute Unterschied zwischen der antiken und der modernen Welt, der jedoch nicht verhindert, dass man in der Antike Anhaltspunkte für das Verständnis und die Veränderung der Gegenwart findet; die Theorie des Schönen als Theorie des moralisch Guten, die bei der Detailanalyse der antiken Gegenstände eine Voraussetzung a priori darstellt; die philologische Forschung als historische Forschung, jedoch nicht als blinder Historismus, sondern als Geschichte der veränderlichen Stile und Gattungen, also als Geschichte des Geschmacks, der Ästhetik und Kunst; die Philologie schließlich als Werk, dem es um die Wiedergabe des authentischen Geistes der Originaltexte geht, entgegen den Manipulationen der modernen Nachahmer und den verschiedenen Modernisierungsversuchen.
VI. Auch die Gedanken des jungen Schlegel zur archaischen griechischen Epik stehen denen Heynes sehr nahe.24 Die Epik ist nämlich im Studium-Aufsatz Ausdruck eines primitiven, mythischen Zeitalters, das die Mythologie, mittels der Dichtung, zu 23 24
Heyne: Lobschrift auf Winckelmann (s. Anm. 10), S. 13. Bevor er die Prolegomena ad Homerum von Friedrich August Wolf las. Zu Wolfs Einfluss auf Schlegel vgl. Denis Thouard: „Der unmögliche Abschluss. Schlegel, Wolf und die Kunst der Diaskeuasten“. In: Christian Benne/Ulrich Breuer (Hg.): Antike – Philologie – Romantik. Paderborn u. a. 2011, S. 41–61.
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einem gemeinsamen Erbe der griechischen Kultur erhebt. „Poesie und der Mythus war der Keim und Quell der ganzen antiken Bildung; die Epopöe war die eigentliche Blüte der mythischen.“25 In seiner mehr beschreibenden als lobenden Rezension des Studium-Aufsatzes hebt Heyne hervor, was Schlegel über das Epos als „unreife Dichtart“ sagt, die „nur in dem Zeitalter an ihrer Stelle ist, wo es noch keine gebildete Geschichte und kein vollkommnes Drama gibt“.26 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Heyne es für angebracht hielt, der Rezension einen polemischen Anhang zu Schlegels Abhandlung Über die Diotima hinzuzufügen, in dem er schwerwiegende Vorbehalte gegenüber Schlegels Umgang mit den Quellen äußert (im betreffenden Fall das Symposion von Plato, dem Schlegel Dinge in den Mund gelegt habe, die in Platos Text gar nicht stehen).
VII. Heyne rezensierte noch Schlegels Über die Sprache und Weisheit der Indier von 1808,27 als der Abstand zwischen dem alten Göttinger Praeceptor und Schlegel nunmehr unüberbrückbar geworden war. Es handelt sich um eine eingehende Besprechung, in der Heyne erneut Betrachtungen zur Methode anstellt, die Schlegel zu einer stärkeren Beachtung der Quellen mahnen, obwohl dessen Rekonstruktion der indischen Mythologie und der Rolle, die sie in der Dichtkunst gespielt hat, viele Übereinstimmungen mit Heynes Ausführungen zum griechischen Mythos und zur griechischen Mythologie aufweist. Doch akzeptiert Heyne Schlegels Vorstellung nicht, dass der Urmythos an eine göttliche Offenbarung gebunden sei bzw. die Gottesvorstellung überhaupt unter den ‚primitiven‘ Völkern vorkomme. Für Heyne besteht eine scharfe Trennung zwischen Mythos und Religion, da letztere eine Entfaltung des menschlichen Denkens verlange, die im mythischen Zeitalter fehle. Heyne ist außerdem gegenüber dem Orientalismus überhaupt skeptisch, und zwar nicht aufgrund eines gräkophilen Klassizismus, der ihm, wie gesagt, fremd war. Vielmehr ist ‚Orient‘ seines Erachtens eine zu allgemeine Kennzeichnung, und die Heilige Schrift mit der indischen Kultur in Verbindung zu bringen, um sie dank letzterer zu verstehen, erscheint ihm als Missbrauch.
25 26 27
KFSA 1, S. 333. GGA 133 (21. August 1797), S. 1326. GGA 98 (18. Juny 1808), S. 969–979.
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VIII. Heynes Abhandlungen über die Mythologie und seine Forschungen zum Mythos als einer Symbolsprache des Menschen, welcher der Vernunftsprache noch unfähig ist, öffnen ein immenses Forschungsfeld, vor allem zur Spezifik der griechischen Mythologie (darin bahnen sie Karl Otfried Müller den Weg), aber auch zur Natur der Vorstellungswelt, zur mythopoetischen Fähigkeit der Modernen und zur Unterschiedlichkeit der Mythologien je nach ihrem kulturellen Entstehungszusammenhang. Diese Reflexion, die auch bei Herder wichtige Entsprechungen fand, darf wohl nicht übersehen werden, wenn man den ganzen Kontext verstehen will, in dem Schlegel die Idee einer neuen Mythologie erarbeitet hat. Auch diese Mythologie ist eine Symbolik der Vorstellungswelt, aber sie wird als freie, bewusste Konstruktion des Geistes des modernen Dichters und seiner Geschichte gedacht und entspringt nicht mehr spontan der Natur. Auch nach Heyne ist die Mythologie stets ein rationales Gebilde, das vom Urmythos als vorlogischer Sprache weit entfernt ist. Der Urmythos ist für uns unerreichbar. Bei Homer und Hesiod ist die Mythologie bereits Dichtung und ein bewusster Ausdruck des Geistes der Zeit. Denn jede Epoche hat ihren Geist, und der junge Schlegel berücksichtigt dies in der Geschichte der Poesie der Griechen und Römer, in der er bekanntlich den Begriff ‚Zeitalter‘ auf die Literaturgeschichte anwendet. Der Erste, der die verschiedenen Epochen der Literaturgeschichte als individuelle Totalität begriff, deren principium individuationis der sogenannte Zeitgeist ist, war jedoch Heyne: Jedes Zeitalter bildet für ihn eine abgeschlossene Einheit und ist als Ganzes zu sehen; es entsteht aus einer Reihe politischer, geografischer und moralischer Bedingungen und bringt eine Vielzahl von Äußerungen hervor, die bei aller Mannigfaltigkeit doch auf eine grundlegende Einheit zurückgeführt werden können. Heyne setzt diese historizistische Sicht vor allem in der Abhandlung De genio aevi Ptolemaeorum (1763) um,28 bei der es sich um die erste beachtenswerte Gesamtdarstellung der hellenistischen Kultur handelt.
IX. Die vorstehenden Ausführungen dienen der genaueren Verortung von Schlegels Reflexion über die Antike innerhalb der Geschichte der Altertumsforschung des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Zu untersuchen ist aber auch, wie Schlegel selbst diese Geschichte und die zentrale Rolle, die Heyne darin spielt, rekonstruiert. Den Anlass bildete die 28
In: Opuscula academica. Bd. I. Göttingen 1785, S. 76–134. Vgl. dazu Polke: Selbstreflexion im Spiegel des Anderen (s. Anm. 7).
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Publikation der Heyne-Biografie durch den Göttinger Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren, die Friedrich Schlegel im Vierten Band seiner Zeitschrift Deutsches Museum besprochen hatte.29 In Wirklichkeit handelt es sich, wie auch Schlegel hervorhebt, nicht um eine Biografie im engeren Sinn, sondern um eine Sammlung von Dokumenten, autobiografischen Aufzeichnungen und Briefen, begleitet von Erinnerungen des Verfassers, der Heynes Schüler und Schwiegersohn war. Aber gerade dies macht sie umso bedeutsamer, weil es die herkömmliche Gattung der Lobrede auf den Gelehrten nach dem Tod in Frage stellt und stattdessen sein konkretes Tun aufzeigt, auch wenn das Dokumentierte, wie im Fall der religiösen Gedichte, die der alte Heyne schrieb, sich zuweilen dem Lächerlichen annähert.30 Schlegels Seiten sind mehr als eine Rezension; sie bieten einen Überblick über die Geschichte der Altertumsforschung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Schlegel spricht nämlich von einer ‚Schule‘ Heynes, die, obwohl der Begriff, wie gesagt, streng genommen keine Anwendung auf diesen finden kann, als polemische Fiktion gleichwohl bedeutende, gar über dessen Tod hinaus wirksame Folgen zeitigte. Schlegel setzt sich mit Heynes Persönlichkeit auseinander und betrachtet sie nicht nur als Sinnbild für eine vergangene Gelehrtengeneration, sondern für eine ganze Gesellschaft, die in der moralischen Essayistik der Aufklärung als Mode- und Luxusgesellschaft bezeichnet wurde. Heyne, Sohn eines Leinewebers und dazu bestimmt, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, repräsentiert eine Generation, die sich sozial und kulturell emanzipiert hat und deren akademische Tätigkeit den Ansprüchen einer ungemein erweiterten Bildungsschicht und der Ausweitung des Literaturkonsums auf das Bürgertum entsprach. Der Zusammenprall mit diesem Publikum, das ganz neue Ansprüche hatte, war der historische Faktor, der Schillers und Goethes Gedanken zur Ästhetik auslöste und auf die auch Schlegels Literaturtheorie Bezug nahm.31 Heyne kann aus Schlegels Perspektive keineswegs als Wissenschaftler gelten. Eher sei er, wie Schlegel prägnant, aber ein wenig abschätzig formuliert, ein „literarischer Geschäftsmann“ gewesen,32 ein Vertreter jenes Bürgertums, das die Antike für sich zu entdecken begann, zu deren Vermittlung Heyne maßgeblich beigetragen, aus der er geradezu ein ästhetisches Konsumprodukt gemacht habe. Einer Gesamtschau der griechischen 29
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32
Arnold Hermann Ludwig Heeren: Christian Gottlob Heyne. Biographisch dargestellt. Göttingen 1813. Die Rezension Schlegels findet sich in: Deutsches Museum 4 (1813), S. 177–185 (KFSA 3, S. 294–301). KFSA 3, S. 298. Vgl. Giuliano Baioni: „Teoria della società e teoria della letteratura nell’età goethiana“. In: Friedrich Schegel: Sullo studio della poesia greca. Ital. Übers. von A. Lavagetto. Napoli 1998, S. 1–37. KFSA 3, S. 296.
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Kultur wie die, über die in seiner Zeit allein Herder verfügt habe, sei Heyne nicht fähig gewesen. Sicher sei es, wie Schlegel hinzufügt, gut gewesen, dass die Kenntnis der Antike in Deutschland nicht, wie in anderen Ländern, z. B. in England,33 auf die Hörsäle der Universitäten beschränkt geblieben war, doch habe dieser Weg nicht fortgesetzt werden dürfen; der einzig gangbare Weg sei der gewesen, der zur Wissenschaft führt. Heyne dagegen habe „ein gewisses tumultuarisches Wesen“, besessen, das ihn zum Dichter hätte befähigen können und das zweifellos auch zum Erfolg seiner Vorlesungen ebenso beigetragen habe wie dessen „verve“;34 zu Resultaten, die der „höhern Kritik“35 zugehören, also der Textkritik der Holländer und Engländer – die Franzosen spielen für Schlegel in dieser Angelegenheit keine Rolle – sei Heyne nicht gelangt. Die „höhere Kritik“ hat nämlich die restitutio des Textes zum Ziel, und diese betrachtet Schlegel im Vergleich mit der ästhetischen und historischen Interpretation, d. h. der von Heyne praktizierten Hermeneutik, als die höherwertige Tätigkeit.36 Außerdem, so Schlegel in seiner Rezension weiter, habe Heyne sich trotz seiner herausragenden Leistungen auch bei der Interpretation in der Bewunderung der Einzelheiten verloren, seien es schöne Stellen, seien es einzelne Bilder. Die Grenzen seines Ansatzes bekundeten sich in der Oberflächlichkeit seines philologischen Umgangs mit der Bibel, von der Heyne und seine ‚Schule‘ allein das poetische Gewand geschätzt hätten; deren Vertretern habe es an der Fähigkeit gefehlt, die kulturelle Tiefe der biblischen Zeugnisse zu ermessen. Der „neuen Exegese“ dieses Typus nämlich ermangelte es, Schlegel zufolge, an der dafür unerlässlichen Kenntnis der orientalistischen Studien.37 Die Philologie als Kunst erfordere, dass man ihr das ganze Leben widme; wer hingegen, wie Heyne, tausend Aufgaben übernehmen musste, um über ein ausreichendes Einkommen zu verfügen, dem sei es nicht möglich gewesen, alle Energien auf sie zu verwenden. In diesen Betrachtungen Schlegels spricht sich eine elitäre Sicht der wissenschaftlichen und intellektuellen Arbeit aus, von der auch das Bürgertum, das den fehlenden Geburtsadel durch die akademische Laufbahn aufzuwiegen trachtete, nicht unberührt geblieben war. Der von Heyne repräsentierten Generation konnte Schlegel zufolge nach 33 34 35 36
37
KFSA 3, S. 299. Ebd., S. 296. Ebd., S. 297. Vgl. KFSA 16, S. 50 [177]: „Heyne hält dieƶƫ[Philologie] bloß für Hermeneutik, sieht mehr auf den historischen und scientifischen höchsten Endzweck. Andre sehn mehr aufs Wesen ƋƱƩƴƩƪƯƩ Andre auf die Materie, Organ, Medium ƄƱơƬƬơƴƩƪƯƩ Andre auf die Materialen/Totalität von Notizen / Litteratur und Archäol.[ogie] (der populärste Begriff)“. Siehe auch Fragment 178: „Hermeneutik und Kritik sind absolut unzertrennlich dem Wesen nach. […]“ und 180: „[…] Auch in Rücksicht auf Kunst, Virtuosität pp verdient die Kritik den Vorzug vor der Hermeneutik“. KFSA 3, S. 298.
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der Jahrhundertwende nur mehr ein rein „historisches Interesse“ gelten,38 weil die Situation der deutschen Kultur sich grundlegend verändert hatte: Jetzt kam einer Avantgarde weniger Auserwählter die Aufgabe zu, die moderne Kultur und Wissenschaft durch eine außergewöhnliche Synthese zu erlösen. Diese Aufgabe konnten, Schlegel zufolge, nur die Deutschen übernehmen, weil sie alle nationalen Interpretationstraditionen der europäischen Länder aufgenommen, sich die Antike einverleibt und sie überwunden hatten.39 Deshalb stehen sie am Beginn einer neuen Epoche der deutschen Dichtkunst, Literatur und Wissenschaft. So scheint Heynes Seminar nicht nur methodisch, sondern auch in Bezug auf seinen Gegenstand einer fernen Zeit anzugehören, denn das deutsche philologische Seminar muss nunmehr auch die orientalischen Literaturen und Kulturen einschließen. Im Verhältnis zu diesen stellt die griechische Philologie nur eine „Vorübung“ dar.40
38 39 40
KFSA 3, S. 294. KFSA 2, S. 303. KFSA 3, S. 301. Für seine hilfreichen Ratschläge in sprachlichen Dingen danke ich Armin Erlinghagen, dessen stilistisches Feingefühl ich nur rühmen kann.
Dorit Messlin
Ordo inversus James Harris und Friedrich Schlegel Der folgende Beitrag behandelt einen zentralen theoretischen Bezugspunkt der hermeneutischen und kritischen Methodologie Friedrich Schlegels. An ihm lässt sich zeigen, dass Schlegels Begriff der Kritik und seine Verstehenslehre durchaus nicht einem kongenialen und kreativen, letztlich aber unsystematischem Genie zu verdanken sind, sondern methodisch und theoretisch reflektiert verwendet werden. Es geht um die hermeneutische Figur eines ordo inversus, die in der philologisch-philosophischen Theorie der Allgemeinen Grammatik im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt und für Friedrich Schlegel als theoretisches Referenzmodell bei der Begründung und Profilierung von Hermeneutik und Kritik fungiert. Ausgangspunkt der wissenschaftshistorisch angelegten Darstellung ist Schlegels Untergliederung der Philologie in die Gebiete Kritik, Hermeneutik und Grammatik, wobei er jedoch zugleich immer wieder auch die unzertrennliche Zusammengehörigkeit von Kritik, Hermeneutik und Grammatik betont.1 Unter einem ordo inversus, dem Leitbegriff dieser Untersuchung, versteht man eine Figuration, in der die Bewegungen eines Ausgehens von etwas mit der Rückkehr zum Ausgangspunkt verbunden wird.2 In Schlegels Konzeption ist diese Bewegung in der klassischen Denkfigur von Einheit und Vielheit gedacht, die der eidos-Problematik in der griechischen Philosophie zugrunde liegt. Der Begriff des eidos bezeichnet in der antiken Philosophie die Vermittlungsstruktur von Einheit und Vielheit, die von Friedrich Schlegel gelegentlich als das „schwierige Hauptproblem“3 der gesamten Philosophie bezeichnet worden ist. Bei Platon wird eidos als Idee konzeptualisiert, bei Aristoteles als Form.4 1
2
3 4
„Hermeneutik und Kritik sind absolut unzertrennlich dem Wesen nach; ob sie gleich in Ausübung, Darstellung getrennt werden können, und die Tendenz jeder ƶƫ [Philologie] auf einer Seite gewöhnlich überwiegt.“ Weiter heißt es: „[…] was ist Interpretazion anders als mitgetheilte hermeneutische Kritik, Unterricht in der Kritik des Sinns“ (KFSA 16, S. 50 [180] bzw. S. 76 [167]). Definition nach Lutz Danneberg: Der ordo inversus in Hermeneutik und Naturphilosophie auf den Seiten der Forschungsstelle Historische Epistemologie und Hermeneutik (fheh.org/projekte/ hermeneutik/35/145—der-ordo-inversus-in-hermeneutik-und-naturphilosophie; 20.4.2013). KFSA 23, S. 382. Der wissensgeschichtliche Kontext, aus dem das Strukturmodell der Kritik hervorgeht, ist
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Friedrich Schlegels Konzeptualisierung einer kritischen Urteilslehre in der Figur eines ordo inversus geht aus einer spezifischen Annäherung der platonischen und aristotelischen eidos-Begriffe hervor, die Strukturanalogien zu einer ähnlichen Konzeption in der Theorie der Allgemeinen Grammatik von James Harris aufweist. Diese Konzeption beruht auf der Entdeckung der analogen Vermittlungsstruktur beider Begriffe und dient in der Theorie der Allgemeinen Grammatik der theoretischen Begründung analytischer und synthetischer Urteile. Bei Harris soll die Vermittlungsstruktur von Einheit und Vielheit den Universalismus der Ideen mit der Vielfalt der Sprachen und Kulturen vereinbaren. Aus dieser Struktur ergeben sich eine Reihe von systematischen Folgeunterscheidungen, die insgesamt das strukturelle Repertoire der Universalsprachentheorie ausmachen und insbesondere auch die Ableitung und Begründung von Analysis und Synthesis als grundlegenden Verfahrensweisen wissenschaftlichen Denkens ermöglichen. Diese Konzeption erfährt in Schlegels Begründung einer kritischen Urteilslehre eine weitergehende systematische Ausarbeitung. Der folgende Beitrag wird die angedeuteten Transformationen antiker Philosophie in der klassischen Philologie des 18. Jahrhunderts rekonstruieren, um dadurch Schlegels Überlegungen zu einer theoretisch-kritischen Philologie zu kontextualisieren und historisch schärfer zu konturieren. Die Theorie der Allgemeinen Grammatik in der Prägung des englischen Philosophen James Harris wird hier als ein theoretisches Referenzmodell der hermeneutisch-kritischen Urteilslehre Schlegels verstanden. Die Theorie der Universalsprache wurde von dem Philologen Friedrich August Wolf in seiner Enzyklopädie der Altertumslehre mit expliziter Referenz auf den Aristoteliker James Harris als methodisch-systematisches Organon der somit die griechische Philosophie. Die der eidos-Problematik entstammende Denkfigur von Einheit und Vielheit sieht Schlegel, ein hervorragender Kenner der griechischen Philosophie, von der Grundspannung zwischen eleatischer und ionischer Naturphilosophie geprägt, jeweils repräsentiert durch die Antipoden Parmenides und Heraklit. Während die eleatische Naturphilosophie die Unveränderlichkeit der Welt nach dem Prinzip der Einheit und Beharrlichkeit behauptet, wird in der ionischen Naturphilosophie die Welt als ewiges Werden nach dem Prinzip unendlicher Tätigkeit und Bewegung gesehen. Aus dieser Grundspannung generiert sich die eidos-Problematik in der griechischen Philosophie in den komplexen Gegensatzstrukturen von Einheit und Vielheit, Identität und Alterität, Allgemeinem und Besonderem, Sein und Werden, Form und Stoff, Intelligiblem und Sinnlichem usw. als Hauptproblem der Philosophie. Schlegel sieht wie Harris, dass Platon und Aristoteles mit ihren Konzeptionen des eidos versuchen, diese theoretische Grundspannung zu lösen. Zudem hat Schlegel klar erkannt, dass vor allem der platonische Lösungsversuch der eidos-Problematik in der Konzeption der Idee als eidos letztlich das Prinzip der Einheit und Unveränderlichkeit einseitig bevorzugt; vgl. Schlegels Kritik an Platon, der nach Schlegels Ansicht nur das Eine und die Einheit als gut und vollkommen anerkannt habe, alle Mannigfaltigkeit dagegen als „Übel“ und als ungöttlich verwarf (KFSA 1, S. 19).
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klassischen Philologie behandelt. Wolff spricht im Kontext seiner Überlegungen zur Methodik der Altertumswissenschaft mit Blick auf das theoretische Strukturmodell der Allgemeinen Grammatik von den „Werkstätten der Auslegungskunst und Kritik“5. In seiner Darstellung der Altertumswissenschaft6 und in der Encyclopädie der Philologie7 wird die methodologische Grundlegung der Altertumswissenschaft durch die Allgemeine Grammatik als deren methodisches Organon angeregt, was zeigt, dass die Theorie der Universalsprache als Theoretisierungsmodus in der Methodologie der Altertumswissenschaft um 1800 eine wichtige Rolle spielt. Die Theorie der Universalsprache, verstanden als allgemeine Logik-Lehre, dient im 18. Jahrhundert als Form- und Strukturplan für die Etablierung einer wissenschaftlichen Methodik. Die allgemeinen Auslegungslehren der Kritik und der Hermeneutik werden in diesen Zusammenhängen als ein Teil der Logik behandelt, d. h. als Lehren, die aufgrund ihres erforderlichen Allgemeinheitsgrades theoretisch auf dem Fundament der Logik ruhen. Schlegels Studienhefte, seine Vorlesungen aus der Kölner Zeit sowie zahlreiche andere Bemerkungen in unterschiedlichen Zusammenhängen belegen seine Auseinandersetzung mit der Theorie der Allgemeinen Grammatik. In einem Athenaeums-Fragment bezeichnet er etwa die Grammatik als den „philosophische[n] Teil“ einer analytischsynthetischen „universellen Scheidungs- und Verbindungskunst“8, die die Tätigkeit des Philologen ausmache. Philologie, so hält Schlegel in diesem Zusammenhang fest, sei in der „ursprünglichsten Bedeutung des Wort[e]s […] grammatisches Interesse“9. Was aber ist Grammatik in der ursprünglichsten Bedeutung des Wortes? In der Kölner Privatvorlesung über Logik und Propädeutik spricht Schlegel mit Blick auf die Aristotelische Philosophie von einer „Lehre, die wir früher philosophische Grammatik genannt haben, und die für die Logik und Philosophie überhaupt gewiß von dem größten Nutzen ist.“10 In den Philosophischen Lehrjahren setzt Schlegel Philosophie und Allgemeine Grammatik überhaupt gleich: Philosophie, heißt es dort, ist wohl nichts anderes als eine „universelle Grammatik“11. An anderer Stelle heißt es, dass die allgemeine, philosophische
5 6 7 8 9 10 11
Friedrich August Wolf: Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert. Berlin 1807, S. 46. Ebd. Friedrich August Wolf: Encyclopädie der Philologie. Nach dessen Vorlesungen im Winterhalbjahre 1798–1799. Hg. v. S. M. Stockmann. Leipzig 1831. KFSA 2, S. 241 f. [404]. Ebd. KFSA 13, S. 212. KFSA 18, S. 71 [506]
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Grammatik zusammenfalle mit der Aristotelischen Logik.12 In diesem Zusammenhang ist auch die Bedeutung von Interesse, die Aristoteles in Schlegels Augen für die gesamte Kritik besitzt, etwa wenn Schlegel Aristoteles als den „Vater der Kritik“13 bezeichnet. Was die Philologie betrifft, so besteht diese nach Schlegel aus philosophischer Grammatik (Wissenschaft) und aus literarischer Kritik (Kunst), wobei die höhere Kritik aus der Grammatik hervorgehe, also im Prinzip auf derselben methodischen Verfahrensweise beruht. Zusammengenommen zeigen diese Bestimmungen Schlegels, dass der zugleich philosophische und philologische Rekurs auf die Allgemeine Grammatik den engen Zusammenhang von Philosophie und Philologie in Schlegels Methodenverständnis der Wissenschaft zu begründen hilft. Schlegel hat auf der Grundlage der Theorie der Allgemeinen Grammatik als methodisches Strukturierungsverfahren eine kritische Urteilslehre konzipiert, die nach dem Modell eines hermeneutischen ordo inversus angelegt ist. Nach dieser Konzeption ist die kritische Urteilslehre als eine offene, prinzipiell unabschließbare (approximative) Verfahrensweise wissenschaftlicher Begriffsbildung für Definitionen, Charakteristiken und Kritiken zu verstehen. Es handelt sich um ein recht komplex aufzufächerndes Instrumentarium zur Entfaltung einer kritischen Methodik wissenschaftlicher Urteilsbildung – und damit auch um eine Art „Form- und Strukturplan“ der für Schlegel so wichtigen Form der Charakteristik. Der Beitrag wird zunächst Schlegels Konzept einer kritischen Urteilslehre nach dem Modell eines hermeneutischen ordo inversus skizzieren und dabei auch erläutern, inwiefern dieses Modell Bezüge zur Theorie der Allgemeinen Grammatik (verstanden als eine Synthese platonischer und aristotelischer Ontologie) aufweist. Aus Schlegels philologischen Studienheften Über die Schönheit der Dichtkunst, die um 1795 als methodische Reflexion parallel zur Arbeit am Studium-Essay entstanden sind, weiß man, dass Schlegel sich in dieser Zeit intensiv um die Erarbeitung einer „Theorie der Beurtheilung des Schönen“ bemüht hat, die als „sichre objektive Methode oder Regel und Norm der Anwendung der objektiven Gesetze der Aesthetik auf einzelne Fälle, oder der Beurtheilung“14 dienen soll. Dieser Plan einer wissenschaftlichen Lehre der Beurteilung, wie ihn die Notizen der philologischen Studienhefte im Kontext der Altertumsstudien dokumentieren, wurde von Schlegel viele Jahre später im Rahmen seiner Kölner Vorlesungen (Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Bänden und Logik und Propädeutik) systematisch erläutert. 12 13 14
Vgl. die Vorlesung über Logik und Propädeutik, KFSA 13, S. 212. KFSA 11, S. 50. KFSA 16, S. 5 [1].
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Die Darstellung der Gesetzmäßigkeit des Kunsturteils, wie sie in den philologischen Studienheften von 1795 im Sinne einer objektiven Wertlehre der Kunst für die Theorie des Menschen15 angedacht war, muss auch in den Kölner Vorlesungen zunächst auf der Folie allgemeiner anthropologischer Entwicklungsgesetze des Werdens16 in Schlegels Theorie des Menschen betrachtet werden, d. h. die Urteilslehre der Kritik wird zunächst im Rahmen der Anthropologie Schlegels gesehen. Das erklärt sich aus der Tatsache, dass Kunst und Literatur der Situierung des Menschen innerhalb eines ordo dienen. Ihr Zweck, so Schlegel, ist die „Menschheit“, weil Kunst und Literatur einen „Inbegriff“ geben „von dem, was nothwendigen Werth für den Menschen hat, die Bestimmung des Menschen.“17 Die „reine Gesetzgebung“ für die Kunst steht in Beziehung zur „wertmäßigen Gesetzlichkeit des Guten für den Menschen“18, womit Schlegel die Ästhetik an die Ethik koppelt: „Das Schöne ist die Erscheinung des Guten.“19 Bereits an den um 1795 entstandenen philologischen Heften Von der Schönheit der Dichtkunst lässt sich ablesen, wie Schlegel die Idee des Guten im Rückgriff auf die Struktur der eidos-Problematik behandelt, da er sie in die drei ursprünglichen Bestandteile „Vielheit, Einheit, Allheit“ unterteilt, welche die „Sphäre des geistigen Daseyns ganz erschöpfen“.20 „Allheit“ repräsentiert in Schlegels Ästhetik die gelungene Vermittlung von „Einheit“ und „Vielheit“, den beiden zentralen Kategorien der eidos-Denkfigur. Diese wird von Schlegel – ebenfalls in den Heften Über die Schönheit der Dichtkunst – mit der auf James Harris zurückgehenden Unterscheidung zwischen sukzessiven und koexistenten Medien in Verbindung gebracht, wenn er sagt, dass Vielheit auf zweierlei Art bestehe, nämlich koexistent im Raum und sukzessiv in der Zeit.21 Zehn Jahre später knüpft Schlegel in der Theorie des Menschen (1804/1805) an die Vermittlungsstruktur von Einheit, Vielheit und Allheit an, aus der dann später die Gesetzlichkeit des kritischen (Kunst-)Urteils abgeleitet wird. Dabei entspringt das Gesetzmäßige aus der Tatsache, dass alle intelligiblen Wesen, also auch die Werke der Kunst, in einer grundsätzlichen, doppelten Beziehung auf Einheit und Vielheit stehen:
15 16 17 18 19 20 21
KFSA 16, S. 19: „Gesetzgebung der Kunst als subjektiv-objektiver Wert für den Menschen“. KFSA 13, S. 4: „Naturgesetze des menschlichen Bewusstseins“. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27.
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In dem geistigen Element entspringt das Gesetz aus der doppelten Beziehung auf die unendliche Fülle und die unendliche Einheit. Das geistige Element strebt nach unendlicher Fülle; zugleich aber soll bei diesem Streben die unendliche Einheit nicht verlorengehen, sondern beide verbunden werden.22
Jedes intelligible Wesen generiert aus dieser zweifachen Bezogenheit eine spezifische Vermittlungsweise von Einheit und Vielheit, die sich als (aristotelische) Form manifestiert: Dasjenige, was die unendliche Einheit und die unendliche Fülle verbindet, ist die Form.23 Die höchste erreichbare Form der Vermittlung ist das Ideal oder die (platonische) Idee, die Schlegel als einen „gewisse[n] gemeinschaftliche[n] Typus aller Gestaltungen und Konfigurationen in der höchsten irdischen Organisation“24 fasst. Auch das Ideal oder die Idee ist also „Verbindung von Einheit und Vielheit“25 in höchster erreichbarer Weise. Hier sieht man, wie die Vermittlungsstruktur des Platonischen und des Aristotelischen eidos-Begriffs in Schlegels Konzeption verbunden wird. Er verfährt dabei ganz ähnlich wie Harris, ohne dass die graduelle Stufung des Begriffs verloren geht. „Alle jene Gestaltungen“, führt Schlegel aus, wo neben der Mannigfaltigkeit zugleich die Einheit erscheint, nehmen teil an der höhern, geistigen Gesetzmäßigkeit, sie sind gleichsam die Formen des geistigen Elements des Gesetzes, ebenso viele verschiedene Ausdrücke des Ideals.26
In strukturanaloger Weise hatte auch James Harris den platonischen Begriff der Idee und den Aristotelischen Form-Begriff einander angenähert, da beide auf derselben Vermittlungsstruktur beruhen. James Harris begründet innerhalb dieses Konzeptes, das er im Hermes (seiner Schrift über die universelle Grammatik) entwickelt hatte, auf der Grundlage der Synthese von Platonischer und Aristotelischer Ontologie die Ableitung analytischer und synthetischer Urteile als grundlegende Verfahren der Wissenschaftsmethodik. Zusammengenommen macht die Anwendung beider Vermögen die universale Verfahrensweise wissenschaftlicher Begriffsbildung aus:
22 23 24 25 26
KFSA 13, S. 7. Ebd., S. 8; vgl. auch ebd., S. 9: „In allen Wesen, wo Formen stattfinden, sind diese nur verschiedene Verbindungsweisen der unendlichen Fülle und der unendlichen Einheit.“ Ebd., S. 7. Ebd., S. 9. Ebd., S. 7
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Kurz – das Wesen der Wissenschaft besteht in Zusammensetzung und Trennung; vermittels jener werden […] Wahrheiten gebildet, die uns die Dinge nach ihrer Aehnlichkeit und Gleichheit zeigen; die Trennung […] zeigt uns die Dinge nach ihren Unähnlichkeiten und Verschiedenheiten.27
Grammatik in diesem Verständnis ist Wissenschaftsmethodik als „Kunst der Zusammensetzung“ und der Konstruktion durch spezifische Anordnung von Verbindungen und Trennungen, die sehr an Schlegels eingangs erwähnte Bestimmung der Philologie als universelle Scheidungs- und Verbindungskunst erinnert. In diesem Zusammenhang sei auch auf eine Selbstcharakterisierung der Philosophie Schlegels hingewiesen, die dieser in den Notizen der Philosophischen Lehrjahre formuliert hat und die ebenfalls auf Harris’ Verbindung von platonischem und aristotelischem eidos verweist. Dort heißt es: „Die Formen des Aristoteles schließen sich an die Ideen des Plato [an]. – Meine Philosophie ist vielleicht nichts andres als eine Vereinigung des Aristoteles mit dem Plato.“28 Vor diesem Hintergrund ist das hermeneutische Modell Schlegels zu sehen: Aus dem „doppelten Streben“ nach Einheit und Vielheit entsteht für jedes Wesen eine „Art von Gesetz“29, weil zwar einerseits das Streben nach Vielheit zur Entwicklung von Individualität und Besonderheit führt, andererseits aber durch die beibehaltene Bezogenheit auf die Einheit auch immer etwas „Gleichförmiges und Gesetzmäßiges im Ganzen des Elements“30 entsteht. Bemerkenswert ist nun, wie diese Figur, die zugleich naturphilosophisch und epistemologisch lesbar ist, in einem aus auf- und absteigenden Bewegungen zusammengesetzten Modell – eben dem ordo inversus – konstituiert wird. Denn als „Naturwesen“ ist es dem Menschen aufgegeben, dem (absteigenden) „Trieb zur Vereinzelung“ zu folgen, der sich umso vollkommener verwirklicht, „je selbstständiger und individueller“31 der Mensch wird. Obgleich Schlegel diesen Individualisierungs-Trieb als göttlich erkennt, wird der entgegengesetzte Trieb der (aufsteigenden) Rückkehr zur ursprünglichen Einheit, die „nur in Beziehung auf das Ganze, [...] nur in Liebe und Gemeinschaft“32 statthat, von ihm als die wichtigere Bewegung gewertet. 27
28 29 30 31 32
James Harris: Hermes oder philosophische Untersuchung über die Allgemeine Grammatik. Uebersetzt von Christian Gottfried Ewerbeck nebst Anmerkungen und Abhandlungen von Friedrich August Wolf und dem Uebersetzer. Erster Theil. Halle: Johann Jacob Gebauer 1788, S. 294. KFSA 19, S. 49 [70]. KFSA 18, S. 7. Ebd. Ebd., S. 11. Ebd.
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Nachdem Schlegel in der Theorie des Menschen die Gesetzlichkeit des Werdens in den Zusammenhang eines übergreifenden, zugleich anthropologischen und kosmischen ordo gestellt hat, wird im Jahr darauf die Kritik als Beurteilungslehre innerhalb der Vorlesung über Propädeutik und Logik (1805/1806) in eben derselben Struktur ausgeführt, und zwar im Rahmen der Logik als einer allgemeinen Urteilslehre. Das wird nach heutigem Verständnis zunächst überraschen, ist jedoch aus dem historischen Bezug der philologischen Konzepte Schlegels und deren altertumswissenschaftlicher Fundierung erklärbar. Dadurch erhält sich in Schlegels Konzeption die historische Verbindung der hermeneutischen Kritik zur Logik. Denn in der aristotelischen Schrift Peri hermeneias wird die Hermeneutik innerhalb des Organon als eine Art logische Grammatik behandelt, die „die logischen Strukturen des apophantischen Logos (des Urteils) untersucht“33. Die Urteils-Struktur des ordo inversus, die Schlegel bereits in den Heften Über die Schönheit der Dichtkunst und innerhalb seiner Kölner Philosophie-Vorlesung Über die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern in der „Theorie des Menschen“ festgehalten hat, erfährt weitere Aufschlüsselung. Das geschieht auf der Ebene der Begriffsbildung für die Theorie der Definitionen sowie auf der Ebene der Urteilsbildung, auf welcher die gebildeten Begriffe zu Urteilen verknüpft werden. Auch die Bildung der Begriffe vollzieht sich innerhalb einer Struktur, die durch die Denkfigur der eidos-Problematik strukturiert ist: Die logische Vollkommenheit der Begriffe, die den Gegenstand der Theorie der Definitionen bildet, steht in Verbindung mit den beiden „Urbegriffen“ der „Einheit“ und der „Fülle“.34 Alle Arten von Begriffen gehen aus diesen beiden „Urbegriffen“ der eidos-Figur hervor.35 Dieses Verfahren ähnelt der Herleitung analytischer und synthetischer Begriffe und Urteile aus der Struktur des eidos bei James Harris und liefert das theoretische Muster der universellen Scheidungs-und Verbindungskunst. Auch auf der Ebene der Urteilsbildung, die durch logische Verbindung, Verknüpfung und Verkettung von Begriffen charakterisiert ist, wird der „Grundsatz der Begriffsverbindung“36 im Urteil aus der Einheit/Vielheit-Denkfigur abgeleitet: 33 34 35
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9gl. Hans Georg Gadamer: „Hermeneutik“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. a. Bd. 3, Sp. 1061–1073, hier: Sp. 1062. KFSA 13, S. 243 f. Vgl. Schlegels Erläuterung zu den logischen Kriterien der „Klarheit“ und der „Deutlichkeit“ eines Begriffes in ihrer Bezogenheit auf „Einheit“ und „Vielheit“: „Klar nenne ich ihn [den Begriff, D. M.], wenn der Punkt der Einheit, worauf alle einzelnen Teile und Glieder des Begriffes zusammenkommen, und worauf sie sich beziehen, vollkommen einleuchtend ist.“ (KFSA 13, S. 248) „Deutlich“ ist ein Begriff, wenn auch die einzelnen Glieder und Bestandteile, die der Begriff umfasst, hinlänglich voneinander unterschieden sind (Prinzip der „Analysis“, die auf „Vielheit“ geht); vgl. KFSA 13, S. 248 f. Ebd., S. 262.
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Da dieser Grundsatz der Begriffsverbindungen nun selbst ein Begriff sein soll, so müssen wir ihn herleiten aus jenen beiden höchsten Ideen oder Urbegriffen, aus welchen alle übrigen Begriffe abgeleitet und zusammengesetzt sind: der Idee nämlich der unendlichen Einheit und der unendlichen Fülle. Verbinden wir diese beiden Begriffe, so entsteht der Begriff des organischen Zusammenhangs. Denn organisch heißt gerade dasjenige, worin Einheit und Fülle auf das innigste verbunden sind [...].37
Besondere Aufmerksamkeit verdient hier der Umstand, dass aus diesem grundlegenden Herleitungsverhältnis die Eigenschaften des „Genetischen“ und des „Charakteristischen“ erklärt werden, die nach Schlegels Forderung von einem kritischen Begriff oder von einem kritischen Urteil erfüllt sein müssen, denn diese zählen – neben dem erwähnten Leitprinzip des „organischen Zusammenhangs“ – zu den wichtigsten Komponenten seiner Kritik-Konzeption. Mit Blick auf die erkenntnistheoretische Einordnung der ideellen Struktur des Kunsturteils in einen übergreifenden ordo erklärt sich die Generierung des „Genetischen“ einerseits aus der Bezogenheit auf den ursprünglichen Ort der „Einheit“, während andererseits das „Charakteristische“ aus dem Nachspüren der „Vielheit“ in dem Bestreben entspringt, „alle Eigenschaften und Individualitäten [zu] erforschen.“38 Da die Vervielfältigungen des Individualisierungsprozesses hin zu unendlicher Mannigfaltigkeit und Komplexität jedoch prinzipiell unbegrenzt – also unendlich – sind, ist das „Prädikat der Charakteristik [...] einer unbestimmten Steigerung fähig“39. Deswegen besteht die Charakteristik bei Schlegel in einem Prozess unendlicher Approximation, der nie vollkommen abgeschlossen werden kann. Die entscheidende Pointe gegenüber den eidos-Konzepten der klassischen Ontologie besteht nun darin, dass Schlegel seine Begründung der Charakteristik als eine Art genetische Ontologie modelliert, da die Kritik für ihn eine Methode sein muss, mit der sich geistige Erscheinungen aus ihrem Werden begründen lassen. Deshalb muss die auf das Werden eines Gehaltes abzielende Kritik selbst genetisch verfahren. Die Neuerung gegenüber der klassischen Ontologie besteht in der theoretischen Modifikation des eidos als Substanz- und Seinsbegriff der klassischen Metaphysik. Bei Schlegel wird die Idee einer Substanz oder eines eidos im Sinne eines unveränderlichen beharrlichen Seins zugunsten der Idee fortfließenden Lebens und Werdens verworfen:
37 38 39
KFSA 13, S. 262. Ebd., S. 252. Ebd.
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Dorit Messlin
Man mache den Versuch und entferne aus dem Gegensatz des Endlichen und Unendlichen den Begriff des ewigen, unveränderlichen, beharrlichen Seins, und setze an dessen Stelle den entgegengesetzten Begriff des ewigen Lebens und Werdens, so fällt alle Schwierigkeit weg [...]. Die wahre Philosophie kann nirgends eine beharrliche Substanz, ein Ruhendes, Unveränderliches, statuieren, sie findet die höchste Realität nur in einem ewigen Werden, einer ewig lebendig beweglichen Tätigkeit, die unter stets wechselnden Formen und Gestalten eine unendliche Fülle und Mannigfaltigkeit aus sich erzeugt.40
Durch diese theoretische Modifikation will Schlegel das strukturierende und relationierende Verfahren der Charakteristik bzw. die Theorie des kritischen (Kunst-)Urteils als eine bewegliche Matrix der Begriffs- und Urteilsbildung profilieren. Weiter aufgeschlüsselt wird die Lehre von der Gesetzlichkeit des Urteils durch ein Gefüge kategorialer Begriffe, wobei die Ableitung der Kategorien wiederum von der Vermittlungsstruktur zwischen Einheit und Vielheit und dem daraus hervorgehenden Grundsatz des „organischen Zusammenhangs“41 ihren Ausgang nimmt. Aus dieser Figur wird zunächst die für das klassische griechische Denken so charakteristische Unterscheidung zwischen Form und Stoff hergeleitet, wobei außerdem der (aristotelische) Formbegriff auf eine „unsichtbare Grundform“, auf ein „Vorbild“ und „Urbild“42 bezogen wird, die Schlegel mit dem Begriff des Ideals fasst, der strukturell und inhaltlich dem platonischen eidos, der Idee entspricht. Die erste Klasse der kritischen Kategorien umfasse daher die Grundunterscheidungen „Ideal – Form – Stoff“43. Es trifft dabei genau die Intention der aristotelischen Konzeption des eidos, dass Schlegel die Form als einen „Mittlerbegriff“ begreift, der Stoff und Ideal einander annähert,44 denn Aristoteles konzipiert eidos als Milderung des schroffen Gegensatzes zwischen sinnlicher und intelligibler Welt in der platonischen Ideenlehre. Aus den Begriffen der Form und des Stoffes werden dann alle anderen Kategorien (Konstruktion, Tendenz, Qualität, Quantität, Positives, Negatives usw.45) abgeleitet, die insgesamt „unbestimmbar viele Kombinationen und Modifikationen“46 kritischer Bestimmung erlauben. Die aufgestellten Kategorien, die als kritische Beschaf40
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46
KFSA 13, S. 277 f. „Unendliches“ und „Endliches“ sind demnach nicht als Gegensatz von Substanz und Nicht-Substanz zu begreifen, sondern als in verschiedenen Graden wirksame, „ewig bewegliche, wechselnde, sich verändernde, verwandelnde Tätigkeit“ (KFSA 13, S. 277). Ebd., S. 267. Ebd., S. 268. Ebd. Ebd. Insbesondere die Kategorien der „Konstruktion“, der „Tendenz“ und der „Form“ beinhalten für Schlegel die wichtigsten „Elemente und Bedingungen einer reellen Definition“ oder Charakteristik; ebd., S. 270. Ebd., S. 271.
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fenheits- und Verhältnisbegriffe fungieren, enthalten nach Schlegel „alle wesentlichen Elemente und Rubriken zu einer reellen [...] Charakteristik“47. Schlegel sieht die Kategorien als „Urbegriffe“ oder „Fachwerk“ des menschlichen Verstandes für den methodischen Nachvollzug der Architektonik eines Werkes und für die Grundprinzipien der Analyse seines „Gliederbaus“48. Sie besitzen daher grundlegende Bedeutung bei der begrifflichen Ausarbeitung der „Fächer der Charakteristik“49. Hierin zeigt sich Schlegels Bemühen, die Wissenschaftlichkeit des kritischen Urteils theoretisch in einem systematischen Konzept zu begründen. Demnach erscheint die Kritik als eine koordinierte pragmatische Disziplin, deren methodisches Verfahren darin besteht, alle charakteristischen Begriffe eines Werkes aus den Gehalten der individuellen Kunstanschauung heraus aufzufächern. Für diese kritische Verfahrensweise der Charakteristik als einem feinmaschigen, beweglichen Netzwerk der begrifflichen Urteilsbildung sind nicht nur poetische Kongenialität, sondern eben durchaus auch analytische Fertigkeiten erforderlich. Eine analytische Kritik im Sinne begrifflicher Urteilsbildung, der es darauf ankommt, adäquate „Beschaffenheits- und Verhältnisbegriffe“50 für die Gegenstände ihrer Anschauung, Beobachtung und Erkenntnis zu entwickeln, steht daher in enger Verbindung zu der Wissenschaft der Logik.51 „Die Kritik“, schreibt Schlegel deshalb, „ist gleichsam die Logik der Poesie“52, denn für jede kritische Methode ist die Bezogenheit auf die „logische Form“53 eines Kunstwerks elementar. In diesem Verständnis der Beziehung zwischen Logik und Methodenlehre der Kritik wird der Rückgriff auf das theoretische Repertoire der Universalsprachentheorie verständlich. Fasst man die Analyse zusammen, dann sollte deutlich geworden sein, dass Schlegels Konzeption der Methodenlehre kritischer Urteilsbildung im Modell eines hermeneutischen ordo inversus einem systematischen Antrieb folgt. Er erweist sich als eine originelle Verarbeitung der Theorie der Allgemeinen Grammatik (verstanden als eine Synthese platonischer und aristotelischer Ontologie), zu der vermutlich der klassische Philologe Friedrich August Wolf mit seiner Rezeption der Überlegungen von James Harris die Anregung gegeben hat.
47 48
49 50 51 52 53
KFSA 13, S. 269. Vgl. ebd., S. 264. Zu den Kategorien zählen „substantia – quantitas – qualitas – relatio (Verhältnis) – actio et passio (Tun und Leiden) – ubi – quando (Raum und Zeit) – situs et habitus“; ebd., S. 265. KFSA 18, S. 98 [839]. KFSA 13, S. 213. Vgl. KFSA 19, S. 307 [95]. Vgl. KFSA 16, S. 170 [1024]. Vgl. ebd., S. 164 [945].
Vinzenz Hoppe / Kaspar Renner
‚Symphilologie‘ Zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung des Briefwechsels zwischen Jacob Grimm und August Wilhelm von Schlegel 1. Zeitschrift und Briefwechsel als Quellen der Wissenschaftsgeschichte Die Frage nach dem Verhältnis der Brüder Schlegel zur germanistischen Philologie des frühen 19. Jahrhunderts ist auch im Lauf einer langen Forschungsgeschichte nicht abschließend geklärt worden. Mit Blick auf die Beziehung zwischen August Wilhelm von Schlegel und Jacob Grimm ist heute immer noch ein biographisches Narrativ wirksam, das der große Romantikforscher Josef Körner vor etwa hundert Jahren anlässlich von Jacob Grimms fünfzigstem Todestag prägte. Körners Erzählung geht in etwa so: Zunächst bestand „Feindschaft“ zwischen beiden Gelehrten, die sich vor allem in August Wilhelm von Schlegels Verriss der Altdeutschen Wälder Jacob und Wilhelm Grimms im Jahr 1815 äußerte. Dieser Konflikt wird von Körner als letztes Rückzugsgefecht des Universaldilettanten Schlegel gedeutet, der allmählich von einem neuen Typus des Expertenphilologen verdrängt wurde, für den die Grimms einstehen. Wissenschaftsgeschichte wird so konsequent als Generationenkonflikt erzählt. Nach Schlegels Wendung zur Indologie, vor allem mit der Indischen Bibliothek, wandelte sich aus Körners Perspektive „frühere Gegnerschaft“ dann zu „lauter[er] und ehrlich[er] Liebe“,1 die im Briefwechsel der beiden Gelehrten ab dem Jahr 1826 gepflegt wurde. 1
Josef Körner: „August Wilhelm Schlegel und Jacob Grimm. Zur fünfzigsten Wiederkehr von Jacob Grimms Todestag († den 20. September 1863)“. In: Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 31 (1913), S. 667–673, hier: S. 673. Siehe außerdem ders.: „Zwei ungedruckte Aufsätze von Jacob Grimm. Aus der Handschrift herausgegeben von Josef Körner“. In: Zeitschrift für Deutschkunde 44 (1930), S. 23–36, hier: S. 23 f.: „Das entscheidende Ereignis der Bildungsgeschichte Jacob Grimms, jenes, das die dilettantischen und allzu phantastischen Bemühungen seiner Jugend abscheidet von den meisterlichen Leistungen der Reifezeit, ist die gründliche Selbstbesinnung, zu der ihn A. W. Schlegels in Ton und Tat überlegene Beurteilung der Altdeutschen Wälder in den heidelbergischen Jahrbüchern zwang. Der anfängliche Zorn über so heftigen Angriff schwand bald dahin, sobald der Getadelte erkannte, wie berechtigt und wie heilsam die Belehrung war […].“ Vgl. auch ders.: „August Wilhelm Schlegels Nibelungenstudien“. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung
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Die Gattung der Gelehrtenbiographie, die Josef Körner noch wie selbstverständlich bedient, ist wissenschaftlich längst aus der Mode gekommen. Das zeigt sich schon daran, dass die Biographie nicht mehr zu jener, im 19. Jahrhundert etablierten, Gattungstrias gehört – Biographie, Edition und Interpretation –, durch die sich Germanisten akademisch qualifizieren können. Für die Kritik des Biographismus, die ihre letzte große Konjunktur in den 1970er Jahren erlebte, gibt es sicherlich gute Gründe. Seit den 1980er Jahren lässt sich jedoch eine gegenläufige Bewegung beobachten, die auf eine Rehabilitierung biographischer Forschungs- und Darstellungsverfahren hinausläuft.2 Was eine germanistische Wissenschaftsgeschichte, die sich wesentlich als Fachgeschichte definierte und die Entwicklung des germanistischen Faches wiederum als Grundlegung eines Kanons von wissenschaftlichen Methoden rekonstruierte, als ‚biographisches Detail‘ vernachlässigen musste, hat in jüngerer Zeit wieder an Bedeutung gewonnen. Dazu haben die wissenschaftssoziologischen Studien im Umfeld Rainer Kolks maßgeblich beigetragen.3 Hier wurde ein entscheidender Blickwechsel vollzogen: Die Etablierung der Germanistik als wissenschaftlicher Disziplin wird nicht mehr nur auf methodischer, sondern zugleich auf habitueller Ebene verortet. An diese Forschungen anknüpfend hat sich jüngst eine regelrechte philologische ‚Habitusforschung‘ entwickelt.4 Demgemäß weist ein Philologe seine Zugehörigkeit zur philologischen Gemeinschaft nicht nur durch Publikationen aus, die belegen, dass er auf methodisch kontrollierte Art und Weise lesen, interpretieren und schreiben kann. Das Anforderungsprofil des frühen 19. Jahrhunderts ist viel umfassender: Gerade in dem
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4 (1928), S. 74–90, hier: S. 84. – In leicht abgewandelter Form kehrt diese Erzählung noch in der grundlegender Dissertation Edith Höltenschmidts wider, die explizit „dem Andenken Josef Körners und Ernst Behlers“ gewidmet sein soll; Edith Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel. Paderborn u. a. 2000. Vgl. grundlegend zu neueren Perspektiven der Biographie: Bernhard Fetz (Hg.): Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie. Berlin 2009; sowie Wilhelm Hemecker (Hg.): Die Biographie – Beiträge zu ihrer Geschichte. Berlin 2009. Vgl. exemplarisch für die Grimm-Philologie Steffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. 2. Aufl. Berlin 2010. Vgl. Rainer Kolk: „Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts“. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, S. 48–114; ders.: „Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14 (1989), S. 51–73; sowie ders./Holger Dainat: „‚Geselliges Arbeiten‘. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie“. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Stuttgart 1987, S. 7–41. Vgl. Steffen Martus/Carlos Spoerhase: „Praxeologie der Literaturwissenschaft“. In: Geschichte der Germanistik 35/36 (2009), S. 89–96; sowie Rainer Rosenberg: Die deutschen Germanisten. Ein Versuch über den Habitus. Bielefeld 2009.
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Augenblick, in dem die Germanistik professionalisiert wird, also zu einem von vielen möglichen Berufsfeldern innerhalb des universitären Betriebs aufsteigt, gerät neben der Arbeits- zunehmend die Lebensweise des einzelnen Wissenschaftlers in den Blick. Philologie avanciert zur ‚Lebensform‘,5 die sowohl praktisch vollzogen, als auch diskursiv verfertigt wird. Um die Konstitutionsbedingungen der frühen Germanistik zu verstehen, muss daher die ganze Vielfalt derartiger philologischer Lebensformen in den Blick genommen werden. Dabei zeigt sich, dass der Prozess der personellen Ausdifferenzierung, den Kolk in seinen Studien verfolgt, alles andere als geradlinig verläuft. Binäre Oppositionen wie diejenige zwischen ‚Experte‘ und ‚Dilettant‘ sind deutlich zu wenig komplex, um diese Vielfalt von Existenzmöglichkeiten zu rekonstruieren. Sie kennzeichnen allenfalls den bisweilen polemisch geprägten Oberflächendiskurs eines philologischen Feldes, das auf feinere Unterschiede hin beobachtet werden muss. Dabei sind auch eingeschliffene Deutungsmuster zu korrigieren. So mag Jacob Grimm zwar als Disziplinengründer in die Geschichte der Germanistik eingegangen sein. Im zeitgenössischen Diskurs hingegen tritt immer wieder die Inkongruenz seiner Lebens- und Arbeitsweise, die als hochgradig selbstbezüglich beobachtet wird, mit den Anforderungen einer wissenschaftlichen Lehr- und Forschungstätigkeit hervor – etwa derjenigen des Professors –, deren Ergebnisse für eine größere Öffentlichkeit bestimmt sein sollten.6 Umgekehrt neigt die sich zunehmend in Spezialgebiete ausdifferenzierende Germanistik des frühen 19. Jahrhunderts zwar dazu, August Wilhelm von Schlegel als letzten Vertreter eines Typus des Universalgelehrten zu beobachten, der besser im 18. Jahrhundert aufgehoben wäre; gleichwohl hat Schlegel dieser Germanistik wichtige Anregungen gegeben.7 Wer dieses komplexe Geflecht wissenschaftlicher Kommunikations- und Interaktionsformen, das die frühe Germanistik kennzeichnet, einigermaßen dicht beschreiben will, muss das Korpus relevanter Quellen deutlich erweitern. Neben philologischen 5 6
7
Vgl. Thomas Steinfeld: Der leidenschaftliche Buchhalter. Philologie als Lebensform. München u. a. 2004, der den Begriff in einem etwas anderen Sinn verwendet. Vgl. die Selbstbeschreibung Jacob Grimms in einem Brief an Gervinus vom 6. September 1841. In: Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm, Dahlmann und Gervinus. Bd. 2. Hg. von Eduard Ippel. Berlin 1886, S. 50, Nr. 20: „[W]ie viel mehr meiner Natur stilles Ausarbeiten zusagt, als öffentliche Mittheilung obenabgeschöpfter Resultate. Ich meine von Haus aus oder durch lange Verwöhnung für den Cellenfleiß gemacht zu sein und gebricht mir für die Welt an Facon, obgleich ich das Kritische und Tüchtige in der Welt hochhalte und gern erreichte.“ Vgl. hierzu auch York-Gothart Mix/Jochen Strobel (Hg.): Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer Kulturtransfer – romantische Wissenswelten. Berlin 2010; sowie Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel (s. Anm. 1).
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Werken im engeren Sinne – wie etwa Grimms Deutscher Grammatik – gerät dabei erstens der öffentliche Diskurs in den Blick, der in den Zeitschriften wie den Altdeutschen Wäldern geführt wird. Der Zeitschriftendiskurs lässt sich als Experimentierfeld beschreiben, auf dem die Möglichkeitsbedingungen der philologischen Forschung verhandelt werden. Ihr Gegenstandsbereich wird definiert, und die Frage wird erörtert, mit welchen Methoden – etwa der Etymologie oder der Grammatik – er sinnvoll erschlossen werden kann. Zugleich entwickelt sich die Zeitschrift zum Medium einer habituellen Abgrenzung selbsternannter ‚Experten‘ von den vermeintlichen ‚Dilettanten‘. Genau dies ist der Einsatzpunkt für die zeitschriftengestützte Kontroverse zwischen Grimm und Schlegel, die bei Rainer Kolk bereits in wissenschaftssoziologischer Sicht perspektiviert wird.8 Komplementär zu diesen öffentlichen Verhandlungsformen ist jedoch zweitens der Briefwechsel als Medium des privaten Schriftverkehrs zu berücksichtigen. Im Vorfeld einer Disziplinengründung oder über bereits etablierte Disziplinengrenzen hinweg werden hier Kooperationsmöglichkeiten und Konkurrenzlagen ausgehandelt. Je nach Phase der Philologiegeschichte prägen sich dabei unterschiedliche Typen der Korrespondenz aus: Gerade für die Frühzeit der Germanistik ist es charakteristisch, dass an Texteditionen arbeitende Philologen mit wissenschaftlichen ‚Hilfskräften‘ korrespondieren, die privilegierten Zugang zu bestimmten Handschriften haben. Gleichzeitig wandelt sich die Gattung des gelehrten Briefwechsels, der sich zwischen gleichrangigen Individualgelehrten ergibt, durch die universitäre Reorganisation der philologischen Arbeitsverhältnisse. Genau an dieser Schwelle einer institutionellen Ausdifferenzierung, die ebenfalls bei Kolk beschrieben wird,9 ist der Briefwechsel zwischen Grimm und Schlegel anzusiedeln. In unserer wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion des Verhältnisses von August Wilhelm von Schlegel und Jacob Grimm werden wir uns vor allem diesen beiden Quellengattungen widmen: In einem ersten Teil wenden wir uns dem Diskurs von Kritik und Anti-Kritik zu, der sich ausgehend von Schlegels Rezension der Wälder zwischen 1815 und 1816 entwickelt. Drei Fragen sind hier blickleitend: Welche Funktion erfüllen Zeitschriften wie Grimms Altdeutsche Wälder für die Herausbildung einer Gemeinschaft von philologischen Experten? Aus welcher Position greift Schlegel diese Zeitschrift an und welchen Zweck erfüllen seine polemischen Ausfälle? Schließlich: Auf welche Formen der Antikritik greifen die Grimms zurück, um sich zu verteidigen? Durch 8 9
Vgl. Kolk: „Liebhaber, Gelehrte, Experten“ (s. Anm. 3), S. 55–60. Vgl. ebd., sowie im Allgemeinen Uwe Meves: „Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie. Die Periode der Lehrstuhleinrichtung“. In: Fohrmann/Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert (s. Anm. 3), S. 115–203.
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einen kommunikationsgeschichtlichen Blick, der für Medien, Gattungen und Formen der Kritik geschärft ist, sollen neue Perspektiven auf jenen Wandel der philologischen Erkenntnisverfahren eröffnet werden, welcher die Disziplinenbildung begleitet. Im zweiten Teil widmen wir uns dem Briefwechsel, dessen Neuausgabe derzeit an der Arbeitsstelle Grimm-Briefwechsel der Humboldt-Universität vorbereitet wird. Anhand des Briefwechsels werden wir folgende Leitfragen diskutieren: Was erfährt man im Briefwechsel über Jacob Grimms und August Wilhelm von Schlegels jeweilige Lebens- und Arbeitsweise? Welche Perspektiven der philologischen Kooperation eröffnen sich mit Blick auf eine geteilte Methode – wie die grammatische Sprachvergleichung – oder gemeinsame Gegenstände? Wie verhält sich dieser Briefwechsel zu zeitgleich entwickelten Alternativen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit? Dieser letzte Aspekt der philologischen Kooperation scheint uns für den Briefwechsel besonders aufschlussreich zu sein. So spricht August Wilhelm von Schlegel in seinem Brief an Jacob Grimm vom 13. Oktober 1832 explizit von Symphilologie: „Das ƳƵƬƶƩƫƯƫƯƣƥƩƭ“, schreibt er, „würde mir großes Vergnügen gewähren.“10 Wir wollen dies als Denkanstoß nehmen, um zu diskutieren, welche Formen der Kooperation innerhalb der Philologie allgemein vorstellbar sind. Jörg Schönert hat jüngst in seinem Vortrag Zu Nutz und Frommen kooperativer Praxis in der Literaturwissenschaft11 auf verschiedene systematische und historische Perspektiven dieser Frage hingewiesen – etwa auf das Problem, dass sich bestimmte Bereiche der Philologie offenbar besser arbeitsteilig organisieren lassen als andere – wie die Editionsphilologie im Vergleich zum Interpretationsgeschäft. Mit Blick auf unsere historische Fragestellung ist zunächst festzuhalten, dass kooperative Arbeitsformen in der Philologie gerade an der Epochenschwelle zum 19. Jahrhundert im Wandel begriffen sind. Durch die Verankerung der Germanistik an Universität und Akademie werden Arbeitsabläufe neu organisiert: Als modellhaftes Großprojekt kann hier das Deutsche Wörterbuch der Grimms gelten. Unter der Aufsicht philologischer Experten werden Belegstellen für das Wörterbuch gesammelt und von 10
11
August Wilhelm von Schlegel an Jacob Grimm, 23. August 1832, Nr. 17. In: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Kritische Ausgabe in Einzelbänden. Bd. 7: Briefwechsel der Brüder Grimm mit Friedrich von Schlegel und August Wilhelm von Schlegel. Hg. von Elisabeth Stoye-Balk u. Vinzenz Hoppe. Stuttgart [erscheint 2014]. Jörg Schönert: „Zu Nutz und Frommen kooperativer Praxis in der Literaturwissenschaft“. Vortrag, gehalten auf der Tagung: Ethos und Pathos des Logos. Wissenschaftliches Ethos und Pathos der Wissenschaften in historischer und systematischer Perspektive. Humboldt-Universität zu Berlin, 24.–26. November 2011. Vgl. auch ders.: „Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung.“ In: Peter J. Brenner (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1993, S. 384–408.
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wissenschaftlich qualifizierten Redakteuren bearbeitet.12 Zu fragen wäre, wie sich der gelehrte Briefwechsel, der sich gattungsgeschichtlich aus einem Gespräch zwischen Individualgelehrten herschreibt, vor dem Hintergrund dieser neuen, institutionell verankerten Formen der philologischen Arbeitsteilung wandelt.
2. Kritik und Antikritik im Medium der Zeitschrift (1813 bis 1816) Es entspricht schon fast einer Gattungstradition, die Genealogie des Verhältnisses von Jacob Grimm und August Wilhelm von Schlegel mit den Altdeutschen Wäldern beginnen zu lassen.13 Häufig ist Schlegels Kritik an den Wäldern aus dem Jahr 1815 in der Fachgeschichtsschreibung als Urszene der germanistischen Philologie gedeutet worden.14 Um die wissenschaftsgeschichtliche Relevanz der öffentlichen Auseinandersetzung zu verstehen, muss jedoch das publizistische Feld genauer beschrieben werden, auf dem diese Konflikte ausgetragen werden. Hier können wichtige Impulse aus der jüngeren Romantikforschung aufgenommen werden.15 Gerade in der Anfangsphase der sich formierenden Germanistik sind Zeitschriften ein besonders wichtiges Medium. Das ist den Akteuren durchaus bewusst. So bemerkt August Wilhelm von Schlegel in seiner Rezension der Altdeutschen Wälder: In einem Fache, wo noch viel zu entdecken und aufzuräumen ist, wie in der Geschichte unserer Sprache und Dichtkunst, sind Zeitschriften ein recht angemeßenes Mittel, manche Nachweisungen, Zweifel und Erörterungen mitzutheilen, die, wenn sie auf die Abfaßung eines besondern Buches hätten warten sollen, vielleicht nie ans Licht gefördert worden wären.16
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Vgl. im Allgemeinen Alan Kirkness (Hg.): Studien zum Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 2 Bde. Tübingen 1991. Altdeutsche Wälder. Hg. durch die Brüder Grimm. Bd. 1. Kassel 1813; Bd. 2. Frankfurt a. M. 1815. Vgl. Kolk: „Liebhaber, Gelehrte, Experten“ (s. Anm. 3), S. 55: „Es ist eine unfreiwillige Pointe der germanistischen Fachgeschichtsschreibung, daß sie, im Bestreben, einen möglichst präzisen Anfang für ihren Gegenstand zu bestimmen, ihre Wissenschaft mit einem Verriß beginnen läßt.“ Vgl. die Beiträge von Astrid Urban: Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik. Heidelberg 2002, v. a. S. 151–186; sowie Mark Napierala: Archive der Kritik. Die „Allgemeine Literatur-Zeitung“ und das „Athenaeum“. Heidelberg 2007, bes. S. 123–180. August Wilhelm von Schlegel: „Altdeutsche Wälder herausgegeben durch die Brüder Grimm. Erster Band. I.–VI. Heft. Cassel, bey Thurneisen. 1813. 330 S. 8“. In: HJdL 8/2 (1815),
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Gleichsam unterhalb der Schwelle von Buchpublikationen ermöglichen es Zeitschriften also, einen wissenschaftlichen Objekt- und Problembereich abzustecken und diesen in einem ersten, auf Versuch gestellten Diskurs des Nachweisens, Zweifelns und Erörterns zu bearbeiten. In der Vorrede zum ersten Band ihrer Altdeutschen Wälder sind Jacob und Wilhelm Grimm im Jahr 1813 entsprechend mit dem Gestus der Erschließung eines neuen wissenschaftlichen Feldes, nämlich des ‚Altdeutschen‘, aufgetreten. Schon mit dem Titel ihrer Zeitschrift reihen sich die Grimms dabei in die bis auf die Frühe Neuzeit zurückgehende Gattungsgeschichte der ‚Wälder‘ bzw. ‚silvae‘ ein,17 bei denen mit Blick auf die beiden philologischen Grundoperationen ‚Sammeln‘ und ‚Ordnen‘ zunächst das Sammeln im Vordergrund steht: Wir fangen hiermit an, aus unserm gemeinschaftlichen, beträchtlich angewachsenen Vorrath altdeutscher Poesien Materialien mitzutheilen, die nicht ohne Absicht so vielseitig als möglich ausgelesen werden sollen.18
An der „Wir fangen an“-Formel wird zugleich deutlich, dass die Zeitschrift eine wichtige Plattform für Jacob und Wilhelm Grimm darstellt, damit sie sich auf dem wissenschaftlichen Feld der Germanistik selbst als Brüderpaar positionieren. Ein ‚brüderliches‘ Projekt sind die Altdeutschen Wälder insofern, als Jacob und Wilhelm Grimm nicht nur in doppelter Herausgeber-, sondern auch alleiniger Autorschaft auftreten: Die Beiträge in den Wäldern sind – bis auf einen einzigen Gastbeitrag – entweder mit „J.“ oder mit „W.“ gezeichnet. Der Name „Brüder Grimm“ – so die Selbstbezeichnung der Herausgeber – soll in die „altdeutschen Studien“ eingetragen werden. Dass die Grimms mit den Altdeutschen Wäldern ihre eigene Zeitschrift gründen, ist vor dem Hintergrund der damaligen Zeitschriften- und Verlagssituation zu betrachten. Nachdem den Grimms verschiedene Fachzeitschriften aufgrund von Kontroversen mit den Herausgebern verschlossen sind19 und sie mehrfach die Erfahrung machen, für ihre
17
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S. 721–766, Nr. 46–48, hier zit. nach August Wilhelm von Schlegel’s sämmtliche Werke. Bd. 12. Hg. von Eduard Böcking. Leipzig 1847, S. 383–426, hier: S. 383. Vgl. die gattungsgeschichtliche Einordnung bei Wolfgang Adam: Poetische und kritische Wälder. Untersuchung zu Geschichte und Formen des Schreibens „bei Gelegenheit“. Heidelberg 1988; sowie Otfried Ehrismann: „Vorwort“. In: Jacob und Wilhelm Grimm: Werke. 3. Abt.: Die gemeinsamen Werke. Bd. 37: Altdeutsche Wälder. Neu hg. von Otfrid Ehrismann. Frankfurt a. M. 1815–16 (Reprint: Hildesheim 1999), S. 6* f. Jacob und Wilhelm Grimm: „Vorrede“. In: Altdeutsche Wälder 1 (s. Anm. 13), S. I. Vgl. Jacob Grimm an Friedrich von Schlegel, 21. Dezember 1812, Nr. 3. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10). Es handelt sich hier um Friedrich Heinrich von der Hagens, Bernhard Joseph
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wissenschaftlichen Projekte bei Verlegern kein Interesse zu finden, arbeiten sie zeitweilig am Deutschen Museum mit,20 das Friedrich Schlegel (ohne August Wilhelm Schlegel) bis 1813 herausgab. Das dezidiert für eine breitere Leserschaft bestimmte Museum, das – wie die Grimms schon früh befürchten21 – bald eingehen sollte, ist jedoch nicht das geeignete Forum für ihr Wissenschaftsprojekt. Wie der Briefwechsel zwischen Jacob Grimm und Friedrich Schlegel dokumentiert, gelingt es insbesondere nicht, das Publikum der Laien – mit Blick auf die Einsendung von Quellen für eine Ausgabe des Reinhart Fuchs – dazu anzuregen, sich am Diskurs der Wissenschaftler zu beteiligen.22 Daraus ziehen die Grimms insofern Konsequenzen, als sie die Altdeutschen Wälder als Keimzelle für ein künftig zu entwickelndes Fachorgan anlegen. Es bildet sich hier – von Heft zu Heft deutlicher – ein Diskurs heraus, der an einen engeren Kreis von Experten auf dem Feld der „altdeutschen Studien“ gerichtet ist – etwa im Verkehr zwischen Jacob und Wilhelm Grimm und Georg Friedrich Benecke, der den einzigen Gastbeitrag zum ersten Band der Wälder leistet –, ohne Rücksicht auf das allgemeine Publikum zu nehmen.23 Genau dies ist nun ein Hauptkritikpunkt der Rezension, die August Wilhelm von Schlegel im Jahr 1815 zum ersten Band der Wälder verfasst – ein Gesichtspunkt, der in der bisherigen Forschung eher wenig berücksichtigt wurde, obwohl die Rezension als wissenschaftsgeschichtliche Quelle häufig diskutiert worden ist. So heißt es gleich zu Beginn von Schlegels Rezension: Dem, der schon nachgeforscht hat, kann nichts willkommner sein, als entweder Bestätigung des Gefundenen, oder Anregung zu neuer Untersuchung zu empfangen. Allein zum Gedeihen einer Zeitschrift ist es nöthig, auch solche Leser in hinreichender Anzahl zu gewinnen, die neben einer leichten Belehrung Unterhaltung begehren; und hierauf scheinen uns die Herren Grimm nicht eben sonderliche Sorgfalt gewandt zu haben.24
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Docens und Johann Gustav Büschings Museum für Altdeutsche Literatur und Kunst (1809–1811) sowie Friedrich David Gräters Idunna und Hermode (1812–1816). Zum Streit mit diesen vgl. auch Lothar Bluhm: Die Brüder Grimm und der Beginn der Deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert. Hildesheim u. a. 1997, S. 251–275, sowie S. 315–359. Vgl. Ernst Behler: Die Zeitschriften der Brüder Schlegel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Romantik. Darmstadt 1983, S. 100–146. Vgl. Jacob Grimm an Wilhelm Grimm, 25. Juni 1812, Nr. 113. In: Krit. Ausg. Bd. 1 (s. Anm. 10), S. 246. Vgl. die Briefe Nr. 1–6. In: Krit Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10). – Vgl. exemplarisch auch Kolk/Dainat: „‚Geselliges Arbeiten‘“ (s. Anm. 3). Vgl. Georg Friedrich Benecke: „Ueber den altdeutschen Umlaut“. In: Altdeutsche Wälder 1 (s. Anm. 13), S. 168–173. A. W. Schlegel: „Altdeutsche Wälder“ (s. Anm. 16), S. 383 f.
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Schlegel gibt den Grimms als selbstberufener ‚Medienberater‘ also einige Hinweise, wie man in Zeiten unsicherer Lesererwartungen ein erfolgreiches Blatt macht: Die Experten können ihr Fachgespräch, das sich idealerweise zwischen Tradition („Bestätigung des Gefundenen“) und Innovation („Anregung zu neuer Untersuchung“) bewegen sollte, nur dann führen, wenn es genügend interessierte Laien oder Dilettanten gibt, die ihnen teils zur „Belehrung“, teils zur „Unterhaltung“ dabei zuhören wollen; dies ist ein Wissenschaftsprojekt, das Schlegel – mit ähnlich wechselhaftem Erfolg wie sein Bruder Friedrich – in den eigenen Zeitschriften verfolgen wird. Dabei bezieht Schlegel selbst – wenigstens vorläufig – eine Sprecherposition, die zwischen den Ansprüchen der ‚Experten‘ und denjenigen der ‚Dilettanten‘ vermitteln will: Er tritt in der Rolle des weltläufigen Universalgelehrten auf, wenn er gleich zu Beginn markiert, dass er seine Rezension „außerhalb Deutschland[s]“ schreibe – und zwar in Paris – und daher nicht „jedesmal die Bücher“, auf die in der Zeitschrift verwiesen werde, „selbst nachschlagen“ könne – was für eine fundierte Fachkritik eine nicht ganz unwesentliche Voraussetzung wäre.25 An diesen Hinweisen wird bereits deutlich, dass sich auf dem Feld der Zeitschriften besonders gut jener Prozess der personellen Ausdifferenzierung beobachten lässt, den Rainer Kolk in seinem grundlegenden Beitrag Liebhaber, Gelehrte, Experten beschrieben hat.26 Folgt man der dort entwickelten Terminologie, könnte die Verschärfung der Kritik, die mit Blick auf Schlegels Rezension immer wieder beobachtet worden ist, auch als Effekt einer Krise der Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Feldes gedeutet werden.27 Um dieses Argument aus kritikgeschichtlicher Perspektive zu schärfen, sei darauf verwiesen, dass Schlegel, der bereits in einer brieflichen Ankündigung seiner Kritik sagt, dass er „gewaffnet auftreten“ wolle,28 hier auf das gesamte Waffenarsenal der früh25
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A. W. Schlegel: „Altdeutsche Wälder“ (s. Anm. 16), S. 383. – Zwar konzediert Schlegel im Folgenden, dass jeder „Schriftsteller“, das heißt jeder Herausgeber und jeder Autor das „Recht“ habe, „seinen Kreis der Leser nach Gutdünken zu beschränken.“ Jacob und Wilhelm Grimm gehen ihm hier aber entschieden zu weit, wenn sie nicht nur „ausschließend für Kenner“ schreiben, sondern zugleich „vieles als bekannt“ voraussetzen, „was auch dem Gedächtnisse des Kenners nicht immer gegenwärtig ist“. Vgl. Kolk: „Liebhaber, Gelehrte, Experten“ (s. Anm. 3). In diese Richtung geht bereits die Deutung Rainer Kolks, der betont, dass Polemik gerade in der Selbstabgrenzung der Experten von den Dilettanten beobachtet werden kann. Vgl. Kolk: „Liebhaber, Gelehrte, Experten“ (s. Anm. 3), S. 75; vgl. zur historischen und systematischen Grundlegung der Polemikforschung Kai Bremer/Carlos Spoerhase: „Rhetorische Rücksichtslosigkeit. Problemfelder der Erforschung gelehrter Polemik um 1700.“ In: dies. (Hg.): Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfung um 1700. Frankfurt a. M. 2011, S. 111–122. „Ich muß gewaffnet auftreten, denn die Hagen, Grimm usw. werden sich die Sache nicht ganz friedlich aus den Zähnen rücken lassen. […] Ich muss noch ihrer aller Meister werden.“ Zit. nach Josef Körner: „August Wilhelm Schlegels Nibelungenstudien“ (s. Anm. 1), S. 84.
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romantischen Literaturkritik zurückgreift: Wie Schlegel in den letzten Sätzen seiner in den Heidelbergischen Jahrbüchern erscheinenden Rezension klarstellt,29 sind hier genau die gleichen Kriterien blickleitend wie im Umfeld des Athenaeum-Projekts:30 Die Herausgeber der altdeutschen Wälder aber werden unsere Achtung erkennen, in der Aufmerksamkeit, die wir ihren Arbeiten gewidmet, und in der Freymüthigkeit des Urtheils, welche sie selbst immer als ein Vorrecht wahrheitliebender Schriftsteller behauptet haben.31
Wichtig ist die „Freymüthigkeit des Urteils“, die bekanntlich bereits in der Vorrede zum ersten Band des Athenaeum eingeführt wird.32 Sie begründet ein Konzept der frühromantischen Kritik , die sich zwischen den beiden Extremen der „annihilierenden“ und der „charakterisierenden Kritik“ bewegt, um in jedem Fall einen Gewinn an „Aufmerksamkeit“ für die kritisierten Werke zu verbuchen33 – diesen Aspekt wird dann auch Wilhelm Grimm in seiner Anti-Kritik hervorheben. Zugleich markiert „Freymüthigkeit“ den Punkt, an dem Kritik in Polemik umschlägt: Das zeigt sich exemplarisch an der Diskussion von Jacob Grimms Beitrag zur Bedeutung der Blumen und Blätter,34 den Schlegel sich in einer recht selektiven Lektüre des Bandes herausgreift, um zu zeigen, dass die Altdeutschen Wälder wie in der Ankündigung der Kritik formuliert eigentlich eher „Wildnisse“ seien, also eine unfreiwillige Persiflage der Gattung, auf die sie sich beziehen. Schlegel lässt hier ausführlich Grimm selbst zu Wort kommen, um seine etymologischen Verfahren ad absurdum zu führen: Der Herausgeber versteigt sich bei dieser Gelegenheit wieder in die Etymologie. S. 141: ÄSind nicht die Sprachen Zungen, d. i. der Sage und äußerlichen Form nach, Blätter? die Wörter Wurzeln und Pflanzen? […] Rede wäre hiernach radix, gerade wie Rune eine Wurzel (Alraun); der Gesang, das Gedicht, wird ein Zweig oder Ast, der Stil, stilus ein
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Bevor er dann – wiederum eine wichtige Wendung – namentlich zeichnet. Vgl. grundlegend Behler: Die Zeitschriften der Brüder Schlegel (s. Anm. 20). August Wilhelm von Schlegel: „Altdeutsche Wälder“ (s. Anm. 16), S. 426. Im Athenaeum war von der „freyesten Mittheilung“ die Rede. Vgl. August Wilhelm und Friedrich Schlegel: „Vorerinnerung“. In: Athenaeum 1 (1797), S. III. Vgl. zu diesen terminologischen Unterscheidungen Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin 2007, S. 409, Anm. 398. Jacob Grimm: „Bedeutung der Blumen und Blätter“. In: Altdeutsche Wälder 1 (s. Anm. 13), S. 121–158.
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Schreibgriffel, oder auch eine Redeweise, der Ast, ramus ein Reim, Klang; die einzelnen Zeilen: Reiser, Ruthen, darum heißen die Sänger Rhapsoden³ – So geht es noch lange fort, aber die meisten Leser möchten hier schon außer Athem seyn.35
Grimm soll also gegen sich selbst Beweis führen, nachdem Schlegel das Urteil schon einige Seiten vorher verkündigt hat: „Darüber werden alle Kenner einverstanden sein“, schreibt Schlegel, „daß, wer solche Etymologien an das Licht bringt, noch in den ersten Grundsätzen der Sprachforschung ein Fremdling ist.“36 Wenn Schlegel hier wie selbstverständlich als Sprachrohr einer opinio communis auftritt, die von allen wichtigen „Kennern“ geteilt werde – und auf diese opinio hat Schlegel offenbar privilegierten Zugriff, ohne irgendwelche Bücher konsultieren zu müssen –, dann ist damit ein weiterer wichtiger Aspekt im Verhältnis von Schlegel und Grimm angesprochen. In der Kritik der Altdeutschen Wälder wird nämlich auch ein generationeller Konflikt ausgetragen. Josef Körner liegt mit seiner polemischen Zuspitzung nicht falsch, wenn er Schlegels Kritik als Rückzugsgefecht eines der letzten Universalisten deutet, der im Zuge der disziplinären Ausdifferenzierung langsam von einem neuen Typus des Expertenphilologen verdrängt wird. Gerade in den 1810er Jahren verschieben sich allmählich die Kräfteverhältnisse von einer ersten Generation (Schlegels) zu einer zweiten Generation (Grimms) in der germanischen Philologie.37 Ein guter Beleg dafür ist die Kontroverse um das Lied der Nibelungen ab 1812, mit der ein weiterer Schauplatz für Kritik und Antikritik eröffnet wird. Wie als Antwort auf einen Beitrag August Wilhelm von Schlegels zu diesem Gegenstand, der in den eher dilettantischen Diskurs des Deutschen Museums eingebettet ist,38 wendet sich Jacob Grimm in einem Aufsatz mit genau gegenteiligen Ergebnissen an das Fachpublikum der Wälder.39 35 36 37
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August Wilhelm von Schlegel: „Altdeutsche Wälder“ (s. Anm. 16), S. 402 f. Ebd., S. 400. Mit Blick auf das Projekt der Märchen wird dieser Gedanke bei Steffen Martus reformuliert: „Vielleicht versteht man die Provokation, die die Grimm’schen Arbeiten darstellten, erst dann, wenn man die Psychodynamik des Konflikts als Streit zwischen dem tadelnden Vater, in dessen Rolle Schlegel auftrat, und jenen ungehörigen Kindern rekonstruiert, als die die Grimms einigen arrivierten Gelehrten erschienen.“ Steffen Martus: „Die Politik der Märchen“. In: Carola Pohlmann/Berthold Friemel (Hg.): Rotkäppchen kommt aus Berlin. 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen in Berlin. Berlin 2012, S. 18–33, hier: S. 26. Der anonyme Beitrag, der im zweiten Band des Deutschen Museums von 1812 direkt auf August Wilhelm Schlegels Aufsatz „Ueber das Nibelungen-Lied“ (H. 1, S. 1–23) folgt, trägt den Titel „Einfälle eines Dilettanten über historische Gegenstände“. Vgl. Jacob Grimm: „Ueber die Nibelungen“. In: Altdeutsche Wälder 2 (s. Anm. 13), S. 145–180. Bezug genommen wird hier auf neu entdeckte Handschriften. „A. W. Schlegel gedenkt ihrer
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Mit seiner Auffassung von der kollektiven Schöpfung der Volkspoesie prägt Grimm einen Topos, den die künftige Generation von Philologen und Poeten bereitwillig aufgreifen wird. Wie sich gleichzeitig die generationelle Selbst- und Fremdwahrnehmung im Verhältnis von Grimm und Schlegel wandelt, spiegelt sich in der Anti-Kritik wieder, die Wilhelm Grimm – auch im Namen Jacob Grimms – im Jahr 1816 im dritten Band der Altdeutschen Wälder veröffentlicht. Im Bescheidenheitsgestus der philologischen ‚newcomer‘ bekunden die Grimms zunächst, welch große Ehre es sei, durch einen „ausgezeichneten“ Gelehrten wie Schlegel zurechtgewiesen zu werden:40 „Was uns berichtigt und eines Besseren belehrt hat,“ schreibt Wilhelm Grimm, „nehmen wir dankbar an.“ Gleich im nächsten Halbsatz aber wird Gegenkritik formuliert: das Tadelnswürdige darin, womit ich nicht Unrichtigkeiten und Irrthümer meine, welche man in diesem Fache leicht entschuldigt, sondern den niederdrückenden Ton gegen ganz gute und wahre Dinge […] dieses Tadelnswürdige schadet uns nicht, sondern der Recensent, der sich, wie es bei allen scharfen Beurtheilungen sein sollte, genannt, hätte es nötigen Falles zu verantworten.41
Wenn Wilhelm Grimm sich hier gegen den „niederdrückenden Ton“ wendet, von dem Schlegels Kritik der Wälder getragen sei, dann wird damit der Erkenntniswert gerade jener polemischen Invektiven infrage gestellt, die als charakteristisch für die frühromantische Kritik gelten können. Eine neu zu formierende, wissenschaftliche Kritik, die sich von der Literaturkritik gelöst hätte, müsste anderen Kriterien der Beurteilung folgen – und zwar solchen, die dem jeweiligen Stand der philologischen Erkenntnis, und den Medien, in denen sie sich verwirklicht, ‚angemessen‘ sind.42 Genau aus diesem Grund betreibt Wilhelm Grimm keinen allzu großen argumentativen Aufwand, um die etymologischen „Irrthümer“ seines Bruders Jacob Grimm zu rechtfertigen;43 vielmehr weist er darauf hin, dass derartige „Irrthümer“ nun einmal
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nicht bei seiner im deutschen Museum erschienenen Untersuchung; er muss die Hs. zwar gesehen, ohne sie aber, soviel ich glaube, benutzt zu haben“ (ebd., S. 145–146). Wilhelm Grimm: „Antikritik gegen A. W. von Schlegel“. In: Jacob und Wilhelm Grimms Werke. Abt. 2: Die Werke Wilhelm Grimms. Bd. 32: Kleinere Schriften 2 (1882). Nach der Ausgabe von Gustav Hinrichs neu hg. von Otfrid Ehrismann. Hildesheim u. a. 1992, S. 156–161, hier: S. 156. Ebd. – Vgl. auch Otfrid Ehrismann: „Einleitung“. Ebd., S. 8. Zum Topos der Angemessenheit vgl. den Beitrag von Mirco Limpinsel in diesem Band. Seine eigenen Beiträge, insbesondere zum Verhältnis von Individual- und Kollektivbegriff der Poesie, rechtfertigt Wilhelm Grimm hingegen ausführlich; vgl. Wilhelm Grimm: „Antikritik gegen A. W. von Schlegel“ (s. Anm. 40), S. 159-161.
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konstitutiv für die Frühphase der sich formierenden Germanistik seien, für ihre privilegierte Gattung (den kleinen Aufsatz) und ihr Medium (die Zeitschrift), aber auch für ihre epistemische Funktion (die Anregung). Dies zu berücksichtigen, gebiete die „Billigkeit“ im wissenschaftlichen Verkehr miteinander; gewisse Fehler seien folglich „stillschweigens hingehen zu lassen“.44 Das philologische Ethos, das sich in diesem Plädoyer bekundet, Fehler als mögliche Innovation zu werten, hat Steffen Martus jüngst in einem Beitrag als Ethos des Fehlermachens wieder ins Gespräch gebracht.45 Nimmt man die wechselseitige Bezüglichkeit von philologischer Erkenntnis und Formen ihrer Kritik ernst, der Wilhelm Grimm hier Ausdruck verleiht, dann wäre auch der wissenschaftsgeschichtliche Wandel, den er und Jacob Grimm in den Jahren 1816 bis 1819 vollziehen werden, neu zu perspektivieren. Der Übergang zur Deutschen Grammatik46, der sich in diesen Jahren vollzieht, ist dann nicht allein methodengeschichtlich zu beschreiben, etwa in Gestalt des Narrativs eines ‚Paradigmenwechsels‘ von der Etymologie zur Grammatik,47 das häufig erzählt und erst in jüngerer Zeit differenziert betrachtet worden ist.48 Vielmehr ist gerade bei den Grimms der enge Zusammenhang von wissenschaftlicher Erkenntnis, Kritik und ihren Formaten zu berücksichtigen: Denn während sich kleinere Beiträge, die in Zeitschriften veröffentlicht werden (wie in den Altdeutschen Wäldern oder der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft), allmählich zu größeren Werken entwickeln (wie der Deutschen Grammatik oder den Deutschen Rechtsalterthümern49), perfektionieren die Grimms als Brüderpaar eine Arbeitsweise, die darauf beruht, ihre eigenen Werke immer wieder zu über44 45 46 47
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Wilhelm Grimm: „Antikritik gegen A. W. von Schlegel“ (s. Anm. 40), S. 158. Steffen Martus: „Der Mut des Fehlens: Über das Ethos des Fehlermachens“. Vortrag gehalten auf der Konferenz Ethos und Pathos des Logos (s. Anm. 11). Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. T. 1. Göttingen 1819. 2. Aufl. 1822, 3. Aufl. 1840; T. 2. Göttingen 1826; T. 3. Göttingen 1831; T. 4. Göttingen 1837. Vgl. Rudolf von Raumer: Geschichte der Germanischen Philologie, vorzugsweise in Deutschland. München 1870, S. 452; sowie Hermann Paul: Geschichte der Germanischen Philologie. Strassburg 1897, S. 74. Eine diskursanalytisch begründete Kritik dieses Fortschrittsnarrativs entwickelt Ulrich Wyss: Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus. München 1979, bes. S. 12 f. u. S. 122 f.; vgl. daran anknüpfend Stefan Willer: Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik. Berlin 2003, bes. S. 87–98; vgl. auch die differenzierende, aufgrund ihrer philologischer Genauigkeit nach wie vor grundlegende Darstellung von Gunhild Ginschel: Der junge Jacob Grimm. 1805–1819. Berlin 1967, S. 53 ff. Jacob Grimm: Deutsche Rechtsalterthümer. Göttingen 1828, 2. Aufl. ebd. 1854. – Vgl. hierzu im Allgemeinen Kaspar Renner: „Deutsche Rechtsalterthümer“. In: Katalog zur hessischen Landesausstellung Expedition Grimm 2013. Kassel 2013, S. 84–93.
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arbeiten und neu aufzulegen – vor allem in Jacob Grimms Deutscher Grammatik, deren kontinuierliche Überarbeitung nur durch die lebens- und arbeitspraktischen Verhältnisse möglich wird, welche die Brüder in Kassel vorfinden.50 Wenngleich dieser Befund mit Blick auf die unterschiedlichen Arbeitsweisen Jacob und Wilhelm Grimms sowie verschiedene Werkphasen differenziert werden müsste,51 lässt sich die foldende These formulieren: Durch eine Form der fortlaufenden Selbst-Korrektur, in der idealtypisch einer der Brüder die Rolle des Autors, der andere diejenige eines ‚ersten Lesers‘ übernimmt, immunisieren sich die Grimms gegen Formen der öffentlichen Kritik, die immer auch eskalieren könnten. Für die Entwicklung dieser Werkpolitik, die als kennzeichnend jedenfalls für das Frühwerk der Grimms gelten kann, ist die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung von August Wilhelm Schlegels Rezension der Altdeutschen Wälder zu relativieren. Josef Körner hat die Deutsche Grammatik noch als Erfüllung eines von August Wilhelm Schlegel geäußerten „Wunsches“ nach stärkerer Verwissenschaftlichung gedeutet. Dieser Topos wird auch in der nachfolgenden Forschung aufgegriffen und variiert. Dass sich die Grimms jedoch keineswegs von der öffentlichen Beurteilung ihrer Werke abhängig machen, zeigt bereits die Art und Weise, wie sie Schlegels Rezension im Briefwechsel miteinander kommentieren. Dort schreibt Wilhelm Grimm kurz und knapp: „Schlegels Rec. der Wälder ist 3. Bogen stark u. enthält manches alberne“.52
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Vgl. Anm. 46. Die kooperativen Arbeitsformen der Grimms sind erst ansatzweise erforscht. Vor allem in der Frühzeit verfolgen die Brüder das Projekt, öffentlich als Arbeitsgemeinschaft aufzutreten. Im Gefolge der Altdeutschen Wäldern differenzieren sich die jeweiligen Arbeitsfelder zwar aus: Während Jacob Grimm sich auf die Arbeit an der Deutschen Grammatik und an den Rechtsalterthümern konzentriert, verlegt sich Wilhelm Grimm insbesondere auf Die deutsche Heldensage. Die Zusammenarbeit bleibt jedoch eng. In den großen Sammelprojekten, vor allem den Kinder- und Hausmärchen sowie beim Deutschen Wörterbuch, kommen die Grimms dann wieder in doppelter Autor- bzw. Herausgeberschaft zusammen. Zum Versuch, ihre beiden wissenschaftlichen Lebensläufe als „Kritik und Krise der Brüderlichkeit“ lesbar zu machen, vgl. Martus: Die Brüder Grimm (s. Anm 2), v. a. S. 142–151; implizit wird hier Bezug genommen auf das Kapitel „Persönlichkeit und Bruderschaft“ bei Ludwig Denecke: Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm. Stuttgart 1971, S. 183–188. Wilhelm Grimm an Jacob Grimm, 14. Oktober 1815, Nr. 209. In: Krit. Ausg. Bd. 1 (s. Anm. 10), S. 459.
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3. ‚Symphilologie‘ im Medium des Briefwechsels Zwölf Jahre vergehen nach der Veröffentlichung von August Wilhelm von Schlegels Rezension der Wälder, bevor sich ein Briefwechsel zwischen ihm und Jacob Grimm entwickelt. Um die Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Gelehrten zu verstehen, ist zunächst ihre Neupositionierung auf dem philologischen Feld zu berücksichtigen. Als der Briefwechsel im Jahr 1826 eröffnet wird, sind die Grimms als Bibliothekare an der Kurfürstlichen Landesbibliothek in Kassel angestellt.53 In einem geschützten Wissensraum außerhalb der Universität findet insbesondere Jacob Grimm die idealen Arbeitsbedingungen vor, um das Werkprojekt der Deutschen Grammatik und der Deutschen Rechtsalterthümer zu verwirklichen. Schlegel hat einen anderen Weg eingeschlagen. Wesentlich angeregt durch Friedrich Schlegels Über die Sprache und Weisheit der Indier ist die indische Altertumskunde zu einem seiner wichtigsten Arbeitsschwerpunkte geworden.54 Auch Schlegel ist im wissenschaftlichen Betrieb arriviert, ohne jedoch vollständig einer universitären Rollenerwartung zu entsprechen. So ist die Professur, die im Jahr 1818 an der neugegründeten Universität Bonn für Schlegel geschaffen wird, ganz allgemein für Literatur- und Kulturgeschichte bestimmt. Wie Ernst Windisch in seiner grundlegenden Studie zur Geschichte der Sanskrit-Philologie und Indischen Altertumskunde ausführt, nutzt Schlegel die universitäre Anbindung jedoch insbesondere dazu, um seine Sanskrit-Studien voranzutreiben.55 Diese gewandelte Ausgangslage beider Wissenschaftler spiegelt bereits die Art und Weise wider, in der sich ihr Briefwechsel anbahnt. Im Herbst 1826 schickt August Wilhelm von Schlegel zwei Hefte aus der Indischen Bibliothek an Jacob Grimm, was dieser als Aufforderung begreift, sich in einem ersten Brief ausführlich zu bedanken. Durch die Übersendung seiner Indischen Bibliothek vermittelt Schlegel zugleich eine klare Botschaft: Sein Arbeitsbereich ist nicht mehr die Germanistik, sondern die Indologie. Damit steht er nicht mehr in einem direkten Konkurrenzverhältnis zu den Grimms. Ganz im Gegenteil: bei der Erschließung des neuen wissenschaftlichen Feldes scheint Schlegel durchaus dem Vorbild der Grimms zu folgen. 53 54 55
Vgl. Denecke: Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm (s. Anm. 51), S. 40–50. Friedrich Schlegel: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde. Nebst metrischen Uebersetzungen indischer Gedichte. Heidelberg 1808. Vgl. Ernst Windisch: Geschichte der Sanskritphilologie und Indischen Altertumskunde. Um ein Namen- und Sachverz. zum III. Teil erw., ansonsten unveränd. Nachdr. der Ausg. von 1917, 1920 und 1921. Berlin/New York 1992, S. 75–81.
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Mithilfe seiner im Jahr 1820 begründeten Indischen Bibliothek will Schlegel die indische Altertumskunde auf ähnlich universelle Art und Weise als Forschungsfeld etablieren, wie es einst die Grimms in den Altdeutschen Wäldern am Beispiel der germanischen Altertumskunde vorgeführt haben. Aus diesem Feld hat sich Schlegel zurückgezogen. Seit seiner Rezension der Wälder hat Schlegel keine größere Publikation mehr in der Germanistik vorgelegt.56 Jacob Grimm dagegen hat sich im Lauf der 1820er Jahre in der altdeutschen Sprach-, Rechts- und Literaturwissenschaft fest etabliert – vor allem mit der Deutschen Grammatik, deren zweiter Band 1826, also kurz vor Beginn des Briefwechsels, erscheint.57 Dabei wirkt es fast wie eine ironische Wendung der Philologiegeschichte, dass August Wilhelm Schlegel diesen Ansehens- und Einflussgewinn der Grimms selbst maßgeblich gefördert hat. In der Indischen Bibliothek sollen Grimms grammatische Leistungen in einer „Reihe von Briefen“ öffentlich gelobt werden.58 Auch im privaten Schriftverkehr äußert sich Schlegel immer wieder affirmativ über die Grammatik. Fast scheint es, als wolle er seinen Verriss der Altdeutschen Wälder wieder gutmachen.59 In einem Brief an Johannes Schulze empfiehlt er, Grimm an „eine heimische Universität zu ziehen“, und begründet diesen Vorschlag mit einem ganzen Katalog von philologischen Tugenden, die er Grimm zuschreibt: Seine Deutsche Grammatik […] ist in meinen Augen ein unübertreffliches Meisterwerk. Eine solche Verbindung von Talent für allgemeine Sprachforschung, von divinatorischem Scharfsinn, von strenger philologischer Kritik und unermüdlichem Fleiß ist einzig in ihrer Art.60 56
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Josef Körner pointiert: „Die Rezension der ‚Altdeutschen Wälder‘ war Schlegels letzte große Leistung in der germanischen Philologie“. Körner: „August Wilhelm Schlegel und Jacob Grimm“ (s. Anm. 1), S. 671. Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. Göttingen 1826. August Wilhelm von Schlegel an Jacob Grimm, 17. Januar 1827, Nr. 8. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10). Schlegel hatte vor, eine Reihe von Dankesbriefen an Jacob Grimm in der Indischen Bibliothek zu veröffentlichen. Die Zeitschrift wurde zuvor jedoch eingestellt. Vgl. auch den Anhang zu Der Wettstreit der Sprachen. Ein Gespräch über Klopstocks grammatische Gespräche. 1798 in Schlegels Kritischen Schriften (Bd. 1. Berlin 1828, S. 250): „Seit ich das Gespräch schrieb, haben wir durch die Entdeckung des Sanskrit, durch manche scharfsinnige Untersuchungen, insbesondre durch die unsers großen Sprachforschers Jakob Grimm, eine ganz andre Einsicht in das Wesen dieser Verwandtschaft gewonnen. J. Grimm hat allein mehr für die Geschichte unserer Sprache und die Aufstellung ihres Stammbaumes gethan, als alle seine Vorgänger in Deutschland, Holland, England, Dänemark und Scandinavien zusammengenommen.“ Vgl. Höltenschmidt: Die Mittelalterrezeption der Brüder Schlegel (s. Anm. 1), S. 158. August Wilhelm Schlegel an Johannes Schulze, 8. April 1825. In: Briefe von und an August Wilhelm Schlegel. Hg. u. komm. von Josef Körner. T. 1. Wien 1930, S. 424 f.
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Die bedingungslose Affirmation, die in diesem Lob zum Ausdruck kommt, ist jedoch nur die Kehrseite von polemischen Attacken, die gleichzeitig geführt werden. Die Indologie, die sich gerade als wissenschaftliche Disziplin herausbildet, ist ein ähnlich polemogenes Feld wie die frühe Germanistik.61 Gerade weil noch große Unsicherheit über den Gegenstandsbereich und die Methode der neuen Disziplin herrscht, gewinnen die Konflikte zunehmend an Schärfe. Es bilden sich verfeindete Schulen heraus; vor allem Schlegels und Franz Bopps62 Schüler führen Stellvertreterkriege gegeneinander. So schreibt Christian Lassen im Auftrag seines Lehrmeisters Schlegel vernichtende Kritiken über die grammatischen Arbeiten seines Kontrahenten Bopp.63 Schlegels briefliche Äußerungen müssen also in einen größeren wissenschaftsgeschichtlichen Kontext eingebettet werden. An der Herausbildung der indischen Altertumskunde als Verbund wissenschaftlicher Disziplinen lässt sich exemplarisch nachvollziehen, wie komplex jene Prozesse der „institutionellen Ausdifferenzierung“ verlaufen können, mit denen sich Rainer Kolk in seinen wissenschaftssoziologischen Studien beschäftigt. Hier müssen vor allem jene Konkurrenzlagen und Kooperationsversuche in den Blick genommen werden, die gleichsam unterhalb der Institutionalisierungsschwelle angebahnt werden: Im Vorfeld der akademischen Disziplinengründung wird vor allem offensiv Schulenbildung betrieben. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb sich Schlegel sein künftiges Verhältnis zu Grimm als ‚Symphilologie‘ vorstellt: Das „ƳƵƬƶƩƫƯƫƯƣƥƩƭ“, so schreibt er im eingangs erwähnten Brief an Jacob Grimm aus dem Jahr 1832, würde ihm „großes Vergnügen gewähren.“64 Dabei ruft Schlegel das frühromantische Ideal eines geselligen, und das heißt herrschaftsfreien, Gesprächs zwischen großen Individualgelehrten auf,65
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Vgl. hierzu auch Windisch: Geschichte der Sanskritphilologie (s. Anm. 55), S. 75–81, sowie S. 67–72. Schlegel und Bopp begannen ihre Sanskrit-Studien beim gleichen Lehrer, Silvestre de Sacy. Bopp gehörte aber einer jüngeren Generation an und spezialisierte sich von Anfang an auf vergleichende Sprachwissenschaft. Vgl. u. a. Christian Lassens Rezension von Bopps Grammatischem System der Sanskritsprache in der Indischen Bibliothek (Bd. 3 [1830], S. 110): „Man urteilt am zuverläßigsten über das, was man nicht kennt; so ist es Hrn Bopp mit den Indischen Grammatikern gegangen“; sowie Ralf Georg Czapla: „Annäherungen an das ferne Fremde. August Wilhelm Schlegels Kontroverse mit Friedrich Rückert und Franz Bopp über die Vermittlung von indischer Religion und Mythologie“. In: Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft 17 (2006/2007), S. 121–151; Salomon Lefmann: Franz Bopp, sein Leben und seine Wissenschaft. Teil 1. Berlin 1891, S. 36 f. August Wilhelm von Schlegel an Jacob Grimm, 14. Oktober 1832, Nr. 17. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10). Vgl. etwa KFSA 2, S. 185 [125].
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das eigentlich schon längst zum Anachronismus geworden ist. Wie Schlegel sich diese ‚Symphilologie‘ ganz praktisch vorstellt, beschreibt er bereits in seinem ersten Brief aus dem Jahr 1827: Ich habe Ihnen aber noch etwas anderes vorzuschlagen. Könnten Sie sich nicht einen Urlaub während der Sommer-Monate auswirken, und wenigstens einige Wochen in Bonn zu bringen. Sie ließen sich gefallen, mein Haus- und Tischgenosse zu seyn, wir könnten manches besprechen, und dabei uns auf Spaziergängen der heitern Gegend erfreuen. Wir haben zu viel wissenschaftliche Berührungen, als daß sie sich in ein paar Tagen abthun ließen.66
Der junge Jacob Grimm hätte es gewiss als große Ehre empfunden, zum gelehrten Tischgespräch und Spaziergang mit dem allseits verehrten August Wilhelm von Schlegel eingeladen zu werden.67 In den zwanzig Jahren, die seitdem vergangen sind, hat Schlegel seinen philologischen Führungsanspruch jedoch längst verloren. Genau dies soll offenbar rückgängig gemacht werden. Mit seiner ‚Politik des Gastmahls‘ will er Grimm wieder zum Schüler machen, ihn also in seine eigene Schülergemeinde eingliedern. So ist es kein Zufall, dass von ‚Symphilologie‘ immer mit Blick auf Sanskrit-Studien die Rede ist. Hier wären die Rollen im Sinne eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses noch klar verteilt. Das klingt bereits im Subtext desselben Briefs an: Das Sanskrit wissen Sie zwar in bedeutendem Grade, ohne es förmlich erlernt zu haben; es wird Ihnen, wenn Sie sich an die Lesung der Schriften begeben, wie ein alter Bekannter erscheinen. Aber es würde Ihnen einen Genuß gewähren; sowohl mein gelehrter Mitarbeiter Hr. Lassen als ich selbst, wir würden uns beeifern, Ihnen jede Erleichterung entgegen zu bringen, u Sie lernen mehr in einem Monat als andre Schüler in Jahren. Überlegen Sie doch ja, ob es nicht möglich zu machen ist.68
Gerade in dem Kompliment, das Schlegel macht – Grimm lerne mehr – verbirgt sich die polemische Spitze: „als andre Schüler“. In dieser Eigenschaft steht Grimm wiederum nicht nur unter dem Meister Schlegel, sondern zugleich unter den Fittichen eines „gelehrte[n] Mitarbeiter[s]“: Grimm als Schüler Lassens, eines Schülers Schlegels. Jacob Grimm in diesen 66 67 68
Vgl. August Wilhelm Schlegel an Jacob Grimm, 28. Februar 1827, Nr. 10. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10). Vgl. Jacob Grimm an August Wilhelm von Schlegel, 14. Juni 1828, Nr. 12. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10). Jacob Grimm markiert A. W. v. Schlegel hier als eines seiner Jugendidole. August Wilhelm von Schlegel an Jacob Grimm, 17. Januar 1827, Nr. 8. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10).
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neuen Kreis von Anhängern einzugliedern wäre zugleich taktisch klug: Grimm brächte eine schlagende Kompetenz auf dem Feld der Grammatik des Deutschen ein, die kaum in Zweifel gezogen werden kann – nicht zuletzt aufgrund von Schlegels affirmativen Kritiken. Dass mit dieser Schulenbildung vor allem gegen Franz Bopp Front gemacht werden soll, zeigt sich an Schlegels Anmerkungen zu Sanskritthemen: Bei allem was Sie voraus haben, hätte es Ihnen nur wenig Mühe und Zeit gekostet, u die epische Poesie würde Ihnen doch große Freude machen. Auch brauchten Sie sich dann nicht an Bopp als Ihren Gewährsmann zu halten, von dem Sie sogar das Glossar, ein wahres Pfenningsbuch, citiren.69
Durch das Zitierverhalten wird bekanntlich die Zugehörigkeit zu einer wissenschaftlichen ‚peer group‘ markiert. Und Schlegel hätte es sicher bevorzugt, wenn nicht Bopp, sondern er selbst als wissenschaftliche Autorität auf dem Feld der Sanskritstudien angeführt würde.70 Das Projekt einer allgemeinen und vergleichenden Grammatik soll sich demgemäß vor allem mit einem Namen verknüpfen: August Wilhelm von Schlegel.71 Aus dem weiteren Verlauf des Briefwechsels wissen wir, dass Grimm Schlegels Einladung zur ‚Symphilologie‘ nicht angenommen hat.72 Vielleicht hat er Schlegels wissenschaftspolitisches Motiv durchschaut. In den folgenden Briefen zeichnet sich jedenfalls immer deutlicher ab, dass Grimm und Schlegel das Bedürfnis entwickeln, sich – wenn nicht auf methodischer Ebene, so doch wenigstens habituell – voneinander abzugrenzen. Dabei werden Unterscheidungen reaktiviert, die im wissenschaftlichen, das heißt auf Wahrheitswerte ausgerichteten, Diskurs eigentlich ihre Geltung verloren haben sollten. Das gilt insbesondere für ständische Unterscheidungen. 69 70 71
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August Wilhelm von Schlegel an Jacob Grimm, 13. Oktober 1832, Nr. 17. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10). Jacob Grimm verwies im dritten Band seiner Deutschen Grammatik häufig auf Bopps Glossarium sanscritum (Berlin 1830). Schlegels große sprachvergleichende Arbeit Etymologicum novum sive Synopsos Linguarum bleibt Fragment. Nur die Einleitung erschien unter dem Titel De studio Etymologico (Indische Bibliothek 1 [1823], S. 274–294). Auch Schlegels Kurzgefasste Grammatik des Sanskrit wird nicht vollendet. – Franz Bopp verfasste hingegen eine Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Zend, Griechischen, Lateinischen, Litthauischen, Gothischen und Deutschen (6 Bde. Berlin 1833–1852). Vgl. Jacob Grimm an August Wilhelm von Schlegel, 16. Februar 1827, Nr. 9. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10). Dass Jacob Grimm ohnehin nicht vor hatte, Schlegels Bitte nachzukommen, geht aus einem Brief an Karl Lachmann vom 20. April 1827 hervor: „[E]r hoffe bald durch Cassel zu reisen, ich solle sechs wochen nach Bonn kommen und sanskrit lernen (es scheint, daß mans überall in so kurzer frist erlernen kann). Ich zweifle stark daran, daß ich es thun werde.“ In: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann. Hg. von Albert Leitzmann. Bd. 2. Jena 1927, S. 509 (Nr. 112).
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So spricht Schlegel seine Einladung nach Bonn durchaus mit dem selbstbewussten Gestus eines Adligen aus, der sich über die bürgerlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse, in welche die Grimms in Kassel eingebunden sind, eher belustigt zeigt. Da die ‚Symphilologie‘, die er als Freizeit oder „Vergnügen“ verbuchen könnte, von Grimm als „Urlaub“ beantragt werden müsste, schlägt er vor, dass man die Reise ja auch als Dienstreise deklarieren könnte.73 Diese käme der „Amtsführung“ Jacob Grimms in jedem Fall „zu Statten“.74 Umgekehrt neigen die Grimms dazu, Schlegels philologische Umgangsformen aus der Perspektive einer spezifisch bürgerlichen Arbeitsethik zu beobachten. Das zeigt sich besonders deutlich an Jacob Grimms Charakterisierung eines Osterbesuchs Schlegels in Kassel im Jahr 1827. In einem Brief an Karl Lachmann schreibt er: Zwar die eitelkeit und vornehmheit in manier, kleidung, tragen geschmackloser ringe und nadeln, vordeclamieren indischer stellen, lateinischer aus dem dampfschiffgedicht und dergleichen läßt sich nicht verbergen, aber sein natürliches geschick und talent macht sich doch bahn darüber hinaus und man denkt viertelstundenlang nicht daran. Ich mag auch von Schlegels schwächen und fehlern so hart urtheilen, wie ich will, für gutmüthig und ohne galle muß ich ihn halten, was er erzählt und mittheilte war heiter und unterhielt.75
In der leicht karikierenden Darstellung Grimms erscheint Schlegel als wissenschaftlicher Selbstdarsteller, der seine Sprachkenntnisse nicht anders als modische Accessoires einsetzt – „tragen geschmackloser ringe und nadeln, vordeclamieren indischer stellen“ – und dabei die primäre Wirkungsabsicht verfolgt, sein Publikum auf gelehrte Weise zu unterhalten. Der Briefwechsel avanciert somit zum Medium gegensätzlicher Strategien der philologischen Selbst- und Fremdinszenierung. Die gegenseitigen Wertungen, welche die Briefpartner in der gemeinsamen Korrespondenz stets implizit mitverhandeln, werden in brieflichen Äußerungen gegenüber Dritten 73
74 75
August Wilhelm von Schlegel an Jacob Grimm, 17. Januar 1827, Nr. 8. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10); sowie Jacob Grimm an August Wilhelm von Schlegel, 16. Februar 1827, Nr. 9. In: ebd. – Während seiner knapp fünfzehnjährigen Amtszeit als Bibliothekar in Kassel (1816– 1830) wurden Jacob Grimm zwei Urlaubsgesuche bewilligt: eine sechswöchige Bibliotheksreise nach Heidelberg im Jahr 1817 und ein zweiwöchiger Urlaub zu einer Reise nach Frankfurt und Schlangenbad im Jahr 1823 (Vgl. Private und amtliche Beziehungen der Brüder Grimm zu Hessen. Eine Sammlung von Briefen und Actenstücken […]. Zusammengestellt und erläutert von Edmund Stengel. 3 Bde. Marburg 1886–1910, Bd. 2, S. 100–102). August Wilhelm von Schlegel an Jacob Grimm, 28. Februar 1827, Nr. 10. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10). Jacob Grimm an Karl Lachmann, 20. April 1827. In: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann (s. Anm. 72), S. 509 (Nr. 112).
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explizit gemacht. Für den Wissenschaftshistoriker, der das Sozialsystem der frühen Germanistik in all seinen Facetten rekonstruieren will, ist das nicht nur unterhaltsam, sondern auch lehrreich. Wie viele Klischees hat Grimms Charakterisierung Schlegels einen wahren Kern. So strebt Schlegel in den 1820er und 1830er Jahren noch das prodesse et delectare als Leitwert seiner philologischen Arbeiten an. Dabei tritt er stets in der Doppelrolle eines Wissenschaftlers auf, der sich an ein Fachpublikum wendet, aber immer auch ein allgemeines Publikum im Blick hat.76 Das zeigt sich vor allem an seinen Zeitschriftenprojekten: So war die Indische Bibliothek, wie Schlegel im Vorwort zur ersten Ausgabe formuliert, zunächst als „Unterhaltungsblatt“ angelegt, das vor allem für den „gebildeten Leser“ konzipiert und „allgemein verständlicher Belehrung oder willkommener Unterhaltung gewidmet“ sein sollte.77 Zwar weicht Schlegel von dieser anfänglichen Konzeption immer stärker ab, 78 die Umwandlung seiner Zeitschrift in ein Fachorgan schlägt jedoch fehl. Im Jahr 1830 wird die Indische Bibliothek eingestellt. Währenddessen konzentriert sich Schlegel stärker auf den populärwissenschaftlichen Sektor, etwa mit seinem knapp 250-seitigen Beitrag Indien in seinen Hauptbeziehungen, der im Berliner Taschen-Kalender erscheint.79 Demgegenüber sind viele der fachwissenschaftlichen Monographien, die Schlegel ankündigt, Fragment geblieben.80 76
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Vgl. hierzu im Allgemeinen Josef Körner: „Indologie und Humanität“. In: ders.: Philologische Schriften und Briefe. Hg. von Ralf Klausnitzer, mit einem Vorwort von Hans Eichner. Göttingen 2001, S. 137–162, bes. S. 158 ff. Im Vorwort des ersten Bandes der Indischen Bibliothek schreibt Schlegel auf S. XIII: „Hauptsächlich geht mein Bestreben aber dahin, die Theilnahme gebildeter Leser zu gewinnen, welche aller wahren Erweiterungen des geistigen Besitzes sich lebhaft erfreuen, ohne die philologischen Forschungen, wodurch dergleichen gewonnen werden, selbst anstellen zu wollen oder zu können. Ich werde daher Sorge tragen, daß solche Leser in jedem Hefte nur wenige Blätter zu überschlagen finden, der größte Theil des Raumes wird allgemein verständlicher Belehrung oder willkommener Unterhaltung gewidmet seyn.“ Verwirklichung fand dieses Projekt etwa im Aufsatz Zur Geschichte des Elephanten, der knapp hundert Seiten umfasst (1 [1823], S. 129–231) oder in der ‚Rätselrubrik‘ Die indische Sphinx. Vgl. August Wilhelm von Schlegel an Alexander von Humboldt, 1. Dezember 1822. In: Briefwechsel zwischen Wilhelm von Humboldt und August Wilhelm Schlegel. Hg. von Albert Leitzmann. Mit einer Einleitung von B. Delbrück. Halle 1908, S. 87 (Nr. 10): „Ein Unterhaltungsblatt kann die Indische Bibliothek nun einmal nicht sein. Und das etwas leichtsinnig gegebene Versprechen, die nicht eigentlich Gelehrten, sondern bloß Gebildeten Leser sollten in jedem Heft nur wenige Blätter zu überschlagen finden, habe ich schon brechen müssen.“ Vgl. August Wilhelm von Schlegel: „Indien in seinen Hauptbeziehungen“. In: Berliner Kalender 3 (1829), S. 1–86, sowie 5 (1831), S. 1–160. Seine angekündigte Interpretatio latina zum Hitopadesa erscheint z. B. nicht. Vgl. auch Anm. 71; sowie Windisch: Geschichte der Sanskritphilologie (s. Anm. 55), S. 78, der darüber hinaus auf
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Schon aufgrund dieser unterschiedlichen Publikumsbezüge, Schreibweisen und Wirkungsabsichten mag man die Chance, dass Schlegel und Grimm im Briefwechsel eine genuin schriftgestützte Form der philologischen Zusammenarbeit entwickeln, als eher gering einschätzen. Gleichwohl ergeben sich „wissenschaftliche Berührungen“81 in der gemeinsamen Korrespondenz, und zwar in doppelter Hinsicht: Sowohl mit Blick auf geteilte Methoden – etymologische Studien und grammatischer Sprachvergleich –, als auch im Bezug auf gemeinsame Gegenstände – wie etwa die Fabel. So widmet sich eine ganze Reihe von Briefen zwischen beiden Gelehrten der vergleichenden Fabelkunde in deutscher und indischer Literatur. Am 16. Januar 1834 übersendet Jacob Grimm an August Wilhelm von Schlegel den Reinhart Fuchs,82 ein Werk zur Fabel, das er im begleitenden Brief mit einer Detailfrage versehen hat. Dabei markiert Schlegel selbst, dass er den Reinhart Fuchs eher flüchtig zur Kenntnis nimmt: Sie haben mir, mein hochverehrter Herr und Freund, durch das Geschenk Ihres neuen Werkes eine lebhafte Freude gemacht. Da ich meine eigene Saumseligkeit im Briefwechsel kenne, so will ich die Bezeugung meines Dankes nicht bis dahin verschieben, wann ich Muße gefunden haben werde das reichhaltige Buch gründlich zu studiren. Ich bin zwar wie ein Habicht darüber hergefallen, aber ich darf doch nur flüchtig naschen, da ich eben in einer ganz andern Arbeit stecke. Einige Bemerkungen über Nebendinge sind Ihnen vielleicht nicht unwillkommen.83
Schlegel verliert sich in seinem Antwortbrief, an dem er immerhin fünf Tage schreibt, in der Tat in „Nebendingen“. Nachdem er Grimm etwas schulmeisterlich darüber belehrt hat, dass er zwei grundlegende indische Fabelbücher – nämlich Hitopadesa und Panchatantra – verwechselt habe,84 will Schlegel seine Gelehrsamkeit in der indischen Literatur möglichst eindrucksvoll unter Beweis stellen: Auf knapp 14 Seiten entwickelt
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die unvollendete Edition des Ramayana verweist, die auf 8 Bände angelegt war. August Wilhelm von Schlegel an Jacob Grimm, 17. Januar 1827, Nr. 8. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10). Jacob Grimm: Reinhart Fuchs. Berlin 1834. – Siehe hierzu im Allgemeinen Berthold Friemel/ Vinzenz Hoppe: „Die Arbeit der Brüder Grimm am mittelalterlichen Tierepos. Zum Buchprojekt Reinhart Fuchs“. In: Katalog zur hessischen Landesausstellung Expedition Grimm 2013. Kassel 2013, S. 95–103. August Wilhelm Schlegel an Jacob Grimm, 5. Januar 1834, Nr. 23. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10). Den Hinweis Schlegels übernimmt Jacob Grimm in seiner Selbstanzeige des Reinhart Fuchs (Göttingische Gelehrte Anzeigen 2 [1834], St. 89, S. 881–887). Allerdings verweist Grimm nicht direkt auf Schlegel, sondern schreibt: „auf den [Irrtum hat] mich jetzt einer der gelehrtesten Kenner des Sanscrit aufmerksam gemacht“ (S. 886).
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er eine groß angelegte Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der indischen Fabelbücher, die mit einer Vielzahl von Exkursen und Anekdoten gespickt ist. Auch an anderen Stellen in der Korrespondenz nimmt Schlegel kleinere Rückfragen Grimms zum Anlass, um große Etymologien oder Sprachvergleichungen zu entwickeln.85 Schlegel prägt hier eine Form der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit aus, die nicht auf einen Gegenstand konzentriert wird, sondern sich gleichschwebend auf eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Gegenstände verteilt. Es ließen sich viele Stellen aus dem Briefwechsel anführen, die das belegen. Seine Selbstbeschreibung als „Habicht“, der zwar gierig über seine Beute herfällt, aber nur „flüchtig“ davon naschen darf, weil er gleichzeitig „in anderer Arbeit“ steckt, kennzeichnet dies nur auf besonders prägnante Weise. Es zeigt sich im Briefverkehr also, dass Grimm und Schlegel nicht nur gegensätzliche Publikationsstrategien verfolgen, sondern auch unterschiedliche Formen der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit und jeweils eigene Arbeitsweisen kultiviert haben, die nur schwer miteinander kompatibel sind. Darin liegt sicher ein Hauptgrund dafür, dass die Briefe über die Fabel die letzten sind, die Grimm und Schlegel miteinander wechseln. Bemerkenswert ist jedoch, dass Jacob Grimm den Briefwechsel fast gleichzeitig, also ebenfalls in den 1820er Jahren, in einer anderen Konstellation gezielt für die Weiterentwicklung seines germanistischen Werks einsetzt – in den sogenannten ‚Adversarien‘, die er mit dem Göttinger Philologen Georg Friedrich Benecke wechselt.86 Bei den ‚Adversarien‘ handelt es sich um eine Gattung des Gelehrtenbriefes, die hochgradig formalisiert ist: Es werden einzelne Bögen verschickt, die in zwei Spalten gegliedert sind – eine für Fragen, eine für Antworten –, wobei der Empfänger den ausgefüllten Bogen zurückschickt. Klar definierte wissenschaftliche Probleme werden Punkt für Punkt abgehandelt, während private Fragen in den begleitenden Briefwechsel ausgelagert werden. Die grammatischen Fragen, die Grimm und Benecke hier verhandeln, bringen einen direkten Erkenntnisgewinn besonders für Grimms Deutsche Grammatik, die entsprechend überarbeitet werden kann: Hier werden die Möglichkeiten der schriftlichen Kommunikation gezielt für den philologischen Erkenntnisgewinn ausgenutzt. Die Funktion der Adversarien für die philologische Kommunikation hat Berthold Friemel prägnant wie folgt beschrieben: 85
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Vgl. August Wilhelm von Schlegel an Jacob Grimm, 3. Juni 1833, Nr. 20. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10). Schlegel paraphrasiert hier beispielsweise Absätze aus seinem Lettre a M. Eugène Burnouf (Oeuvres écrites en français. Bd. 3. Hg. von Eduard Böcking. Leipzig 1846, S. 89–94, hier: S. 92). Parallel zu gelegentlicher mündlicher Kommunikation ähnlicher Art.
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Die Adversarien ermöglichten, neue Hypothesen zunächst privat zu erproben, gemeinsam zu präzisieren und abzusichern und die gedruckten Werke auf diese Weise von allzu gewagten Behauptungen zu entlasten, ohne daß es möglich oder auch nur erwünscht gewesen wäre, das Prinzip des ‚trial and error‘ aus den Büchern fernzuhalten. Vor die öffentliche Äußerung wurde eine Stufe der Kritik und Selbstprüfung innerhalb eines engen Zirkels gestellt […].87
Gerade Benecke war es, den August Wilhelm von Schlegel in seiner Rezension von 1815 dem „etymologischen Heraklitus“ Jacob Grimm, der sich „in babylonischen Sprachverwirrungen“ verstricke, als Muster wissenschaftlicher Seriosität und „sprachkundige[r] Genauigkeit“ gegenüberstellte.88 Dass Grimm und Benecke in ihrem Briefverkehr zu einer produktiven Form der philologischen Zusammenarbeit finden, zeigt deutlich, dass die methodischen und habituellen Gegensätze zwischen beiden Wissenschaftlern, die Schlegel in seiner Rezension behauptet, allenfalls Scheingegensätze sind. In den 1820er Jahren kommt es zu einer weiteren Annäherung zwischen den befreundeten Philologen. Die durchaus technische Form der Adversarien, die Grimm und Benecke dabei entwickeln, scheint dem fortgeschrittenen Stand einer gleichermaßen spezialisierten wie professionalisierten Germanistik viel eher angemessen zu sein, als Schlegels noch frühromantisch geprägte Vision einer ‚Symphilologie‘.
4. Fazit und Perspektiven Ausgangspunkt unseres Beitrags war die Frage, wie sich die biographische Konstellation um Jacob Grimm und August Wilhelm von Schlegel, die bereits von Josef Körner beschrieben wurde, in einen größeren Kontext der Wissenschaftsgeschichte einbetten lässt. Im Hintergrund stand dabei Rainer Kolks wissenschaftssoziologische Beschreibung des Sozialsystems der frühen Germanistik mit Blick auf einen Prozess der Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Feldes, der sich sowohl in personeller, als auch in institutioneller Hinsicht vollzieht. Bei der Verknüpfung von biographischem und wissenschaftssoziologischem Ansatz wurde besonderes Augenmerk darauf gelegt, den spezifischen Quellenwert von Zeitschriften und Briefwechseln zu berücksichtigen. 87
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Berthold Friemel: „Die Göttinger Adversarienhandschrift Benecke-Grimm“. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 5 (1995), S. 96–103, hier: S. 100. – Vgl. auch Lothar Bluhm: „Adnoten zum Gelehrtenbrief“. In: ders./Andreas Meier (Hg.): Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition. Würzburg 1993, S. 93–107. A. W. Schlegel: „Altdeutsche Wälder“ (s. Anm. 16), S. 403 f.
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Mit Blick auf den Zeitschriftendiskurs wurde deutlich, dass das überkommene Bild der germanistischen Fachgeschichte, August Wilhelm von Schlegel habe durch seine Rezension der Wälder einen Prozess der wissenschaftlichen Formalisierung ‚angeregt‘, erheblich differenziert, wenn nicht revidiert werden muss. Wie sich zeigte, sind die öffentlichen Diskussionen im Medium der Zeitschrift keineswegs nur auf methodische Fragen konzentriert; vielmehr wird hier unter Rekurs auf habituelle Gesichtspunkte die Frage mitverhandelt, welche Autoren- und Leserkreise zur philologischen Gemeinschaft gehören und welche nicht. Der Prozess ‚personeller Ausdifferenzierung‘ des wissenschaftlichen Feldes muss dabei als komplexes Wechselspiel von Selbst- und Fremdbeschreibungen rekonstruiert werden. Kritik gewinnt vor allem dort an polemischer Schärfe, wo sich ‚Experten‘ von ‚Dilettanten‘ abgrenzen oder sich diese gegen ihre Ausgrenzung zur Wehr setzen. Die Verschärfung von Kritik in den 1810er Jahren wird somit symptomatisch als Krise einer wissenschaftlichen Ausdifferenzierung lesbar. Unterhalb der Reizschwelle des öffentlichen Spiels von Kritik und Antikritik transformieren sich jedoch die philologischen Arbeits- und Lebensweisen der beteiligten Wissenschaftler. Als Brüderpaar entwickeln die Grimms eine Praxis der permanenten Selbstüberarbeitung, die sich von der öffentlichen Kritik weitgehend entkoppelt hat und größere Werkprojekte wie die Deutsche Grammatik überhaupt erst als machbar erscheinen lässt. Wer die Geschichte derartiger Praktiken der philologischen Zusammenarbeit erforscht, wird in den Briefwechseln des 19. Jahrhunderts einige Aufschlüsse gewinnen.89 Unsere Absicht war es, die Korrespondenz zwischen Schlegel und Grimm während der 1820er und 30er Jahre vor dem Hintergrund jenes Vorgangs der ‚institutionellen Ausdifferenzierung‘ lesbar zu machen, der ebenfalls bei Kolk beschrieben wird. Als der Briefwechsel beginnt, hat sich Jacob Grimm auf dem Forschungsfeld der germanischen Sprach-, Literatur- und Rechtsgeschichte bereits fest etabliert, während August Wilhelm Schlegel die indische Altertumskunde erst allmählich zu erschließen beginnt. Daraus ergibt sich bereits ein strategischer Hintergedanke, den Schlegel mit seiner Einladung zur ‚Symphilologie‘ verfolgt: Im Vorfeld der Disziplinengründung soll zunächst offensiv Schulenbildung betrieben werden. Dass es trotz geteilter Methoden und gemeinsamer Gegenstände Grimms und Schlegels weder im Gespräch noch im Briefverkehr zu einer produktiven Form der Zusammenarbeit kommt, liegt nicht zuletzt in den unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsformen der beiden Wissenschaftler begründet, die
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Vgl. auch Carlos Spoerhase/Steffen Martus: „Die Quellen der Praxis. Probleme einer historischen Praxeologie der Philologie. Einleitung“. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 23 (2013), S. 212–225.
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sich auch in der Schreibweise ihrer Briefe bemerkbar macht. So mag sich erklären, dass sich Grimm für das philologische Fachgespräch lieber andere Briefpartner wie Benecke sucht, mit dem er die Gattung der ‚Adversarien‘ neu erfindet. Künftige Forschungen zur Philologiegeschichte des 19. Jahrhunderts werden darauf angewiesen sein, dass beide Quellengattungen – Zeitschriften und Briefwechsel – editorisch noch besser erschlossen werden. So hat es sich eine Reihe von geplanten oder kürzlich begonnenen Forschungsprojekten zur Aufgabe gemacht, umfangreiche Briefkorpora zu erschließen und zu edieren.90 Dabei sind einige editorische Grundsatzentscheidungen zu treffen. Einerseits stellt sich die Frage, welche wissenschaftlichen Briefwechsel überhaupt editionswürdig sind. Dass etwa auch die Korrespondenz der Grimms mit Gelehrten wie Ferdinand Glöckle,91 die von der germanistischen Fachgeschichte bisher nicht berücksichtigt wurde, der Forschung zugänglich gemacht wird, trägt wesentlich dazu bei, ein genaueres Bild der personellen Vernetzungen der frühen Germanistik zu zeichnen. Andererseits stellt sich die Frage, wie Briefwechsel zwischen vermeintlich gut erforschten Figuren der Philologiegeschichte wie etwa Jacob Grimm und August Wilhelm Schlegel möglichst angemessen ediert werden können. Ein Kommentar sollte es nicht dabei belassen, auf die im Briefwechsel erwähnten wissenschaftlichen Werke zu verweisen, sondern vielmehr die Lebens- und Arbeitsbedingungen der beteiligten Wissenschaftler rekonstruieren, die keineswegs als kontingente Begleitumstände der Werkgenese zu vernachlässigen sind. Erst auf dieser Grundlage kann der Briefwechsel als eigenständige Quelle der Wissenschaftsgeschichte interpretiert werden.
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Vgl. hierzu u. a. die Edition der Grimm-Briefwechsel (http://www.grimmbriefwechsel.de/index. html); Jochen Strobel: „Eine digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels“. In: Geschichte der Germanistik 41/42 (2012), S. 135–138 (http://www.august-wilhelm-schlegel. de); Anne Baillot/Christian Hackel/Sabine Seifert: „Neue Perspektiven der August BoeckhForschung“. In: ebd., S. 139 (http://www.tei.ibi.hu-berlin.de/berliner-intellektuelle); die unter der Leitung von Ulrich Breuer geplante Fertigstellung der KFSA (http://www.uni-mainz.de/ presse/52843.php); die Edition des Briefwechsels von Johann Christoph Gottsched (http:// www.saw-leipzig.de/forschung/projekte/edition-des-briefwechsels-von-johann-christophgottsched), um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Briefwechsel der Brüder Grimm mit Ferdinand Glöckle. Hg. von Vinzenz Hoppe u. Berthold Friemel. In: Krit. Ausg. Bd. 7 (s. Anm. 10).
Rezeption
Christian Benne
Kunst der Organisation Zur Philologie der ‚Massen‘ in Friedrich Schlegels Über Goethes Meister Zum ersten „Theoretiker der Moderne“1 wurde Friedrich Schlegel als Philologe. Die Entwicklung seines Denkens ist untrennbar mit seiner philologischen Reflexion verbunden, zunächst der antiken Poesie, dann der modernen Literatur. Die Frühromantik war weder besonders früh noch besonders romantisch – gemessen an der europaweit verbreiteten Verwendung dieses Begriffs. Schlegels Interesse galt zunächst dem klassischen Altertum, nicht der Volkskultur oder außereuropäischer Poesie. Nicht Innerlichkeit, Inspirationsästhetik oder Irrationalismus, sondern brillanter Witz gepaart mit einer Vorliebe für rhetorische Figuralität zeichnete ihn aus. Gewiss spielte die kantische Philosophie eine wichtige Rolle, aber bei aller Faszination nahm Schlegel schon früh andere, eigenständige Positionen ein und machte sich über Jünger Kants lustig. Die Hauptquelle frühromantischer Programmatik und damit des spezifisch reflexiven Charakters der deutschen Romantik ist die Philologie auch als Missing Link zwischen zwei auseinanderstrebenden Auffassungen der Schlegel-Forschung. Die Rede ist von der rein philosophiehistorischen Betrachtung, die Schlegel vornehmlich aus der Perspektive der Systemansätze von Kant bis Hegel beurteilt2 – sowie der ausschließlichen Betonung von Schlegels Rolle für die Autonomisierung der Poesie, verstanden als vehemente Absage an jeglichen philosophischen, v.a. geschichtsphilosophischen Kontext.3 Für die Frühromantik sind jedoch beide Seiten unverzichtbar, 1
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Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1974–1976. Bd. 2, S. 112. Zur Philologie bei Schlegel s. zuletzt Christian Benne/Ulrich Breuer (Hg.): Antike – Philologie – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte. Paderborn 2011. Vgl. vor allem Bärbel Frischmann: Vom transzendentalen zum frühromantischen Idealismus. J. G. Fichte und Fr. Schlegel. Paderborn 2005. Die materialreiche und anregende Studie diskutiert insbesondere die Frage, inwiefern bei Schlegel von einem (frühromantischen) Idealismus die Rede sein kann. Vgl. zuletzt Walter Jaeschke/Andreas Arndt: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845. München 2012. Dazu v.a. zahlreiche Schriften Karl Heinz Bohrers, die insgesamt gegen die „Eindimensionalität des Hegelschen Urteils in Deutschland“ anschreiben, das Phantasie und Ästhetik zugunsten
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Christian Benne
nicht lediglich als ein weiteres Kapitel der ewig neuen Begegnung von Poesie und Philosophie, sondern in ihrer reflexiven, durch die Philologie vermittelten gegenseitigen Abhängigkeit. Nicht nur die Poesie, auch die Philologie trat seit F. A. Wolf und Schlegel erstmals seit der Antike wieder als autonome Disziplin auf. Friedrich Schlegel hat die daraus folgende Grundkonstellation allegorisch in der Setzung eines Geburtsaktes festgehalten, die als Geburtsanzeige der Frühromantik, einer Drillingsgeburt, selbst gelten mag: „Zur Philologie muß man geboren sein, wie zur Poesie und zur Philosophie.“4 In der Wilhelm Meister-Rezension wird Schlegel zur Hebamme der modernen, philologisch konfigurierten Literatur, weil er sie zugleich philosophisch reflektiert. In der Moderne bilden Poesie, Philosophie und Philologie eine Einheit, in der nicht eins aufs andere (dialektisch) reduzierbar ist. Die zentrale Bedeutung von Schlegels eigenständiger philologischer Theoriebildung ist der Nachwelt lange verborgen geblieben, weil er sie niemals systematisch dargestellt und gesammelt publiziert hat. Dafür gab es allerdings gute Gründe. Allgemein ausgedrückt wird die Ausarbeitung der Theorie in dem Moment überflüssig, wo das Ausmaß erkennbar wird, in dem die Objekte der Philologie ihre eigene Theorie enthalten. Dies deutet sich etwa in dem Gewicht an, das die Philologiehefte auf die Praxis des zyklischen Lesens legen, der immer wiederholten, mit jedem Durchgang mikrologischer werdenden Lektüre, die gleichwohl das Ganze nicht aus den Augen verlieren darf und deshalb – theoretisch unendlich – immer wieder von vorn beginnt. Die zyklische Lektüre als Alleinstellungsmerkmal der Philologie, die als „Totalisazion von unten“5 explizit der deduktiven Methode der Grundsatzphilosophie6 entgegengesetzt wird, entwickelt sich zum Grundbaustein der hermeneutischen Methodik.7
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der Philosophie abwerte (Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt a.M. 1989, S. 181). Dass philosophische und ästhetische Reflexion bei Schlegel einander nicht ausschließen, dass eine „ursprüngliche Einheit zwischen künstlerischer Tätigkeit und deren Reflexwerdung“ besteht, hat dagegen Michael Elsässer in der wohl besten Einführung zu Schlegel, der Einleitung in seine Ausgabe der Transcendentalphilosophie, festgestellt, der ich mich hier anschließe. Schlegels Werk zeige, „daß eine Trennung zwischen Romantik als künstlerischer Bewegung und dem Versuch, diese auf einen philosophischen, abstrakten Begriff zu bringen, unmöglich ist.“ (Friedrich Schlegel: Transcendentalphilosophie. Hg. v. Michael Elsässer. Hamburg 1991, S. XV). KFSA 2, S. 241 [404]. KFSA 16, S. 68. Vgl. ferner z. B. KFSA 16, S. 66 f. Dass die Jenaer Romantik sich eben nicht selbstgenügsam aus dem Selbstbewusstsein ableiten lässt und dass darin ein schroffer Unterschied zum Idealismus liegt, sieht auch Manfred Frank: Auswege aus dem Deutschen Idealismus. Frankfurt a.M. 2007. Dazu Nikolaus Wegmann: „Was heißt einen ‚klassischen Text‘ lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Dichtung“. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.):
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Philologie und Philosophie lassen sich von keinem obersten Wissensgrundsatz ableiten, sondern speisen sich im Gegenteil aus dem „Gefühl eines Mangels an Wissen“.8 Gegen Fichte9 und Schelling bringt Schlegel die Pluralität der Sätze ins Spiel, die Erkenntniskraft auch der Poesie und des historischen Wissens sowie des kritischskeptischen Potentials der Philologie. Auch das Unbedingte ist immer schon bedingt, und die Experten für das bedingte Wissen sind die Philologen: „ƶƫ[Philologie] ist Interesse für bedingtes Wissen“.10 Dies ist einer der wenigen bekannteren Sätze aus den Heften Zur Philologie. Meist wird damit auf ein allgemeines Interesse der historisch orientierten Textwissenschaften an Kontextfragen verwiesen – und die eigentliche Zielrichtung von Schlegels Überlegung verkannt. Schlegel setzt sich hier mit Fichtes Wissenschaftslehre v. a. in der Form auseinander, wie sie ihm durch Schelling begegnete. Es ist bisweilen unklar, ob er überhaupt zwischen Fichte und dem frühen Schelling differenziert, beim wörtlichen Ausdruck vom bedingten Wissen scheint er jedenfalls an Schelling gedacht zu haben11. Als Bezugspunkt für die Absetzung von sowohl Fichte als auch Schelling eignet sich die kleine, im Jahr 1795 erschienene Schrift Schellings, Vom Ich als Princip der Philosophie
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Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 334–450; vgl. auch Waltraud Wiethölter: „Ursprünglicher Gedanken Refrain – Wiederholung. Zum Phänomen frühromantischer Zyklik“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 75 (2001), S. 587–656. Manfred Frank: „‚Wechselgrundsatz‘. Friedrich Schlegels philosophischer Ausgangspunkt“. In: ders.: Auswege aus dem deutschen Idealismus (s. Anm. 6), S. 106. Die kritische Auseinandersetzung mit Fichte lässt sich durch fast alle Journale Schlegels verfolgen. Namentlich Bd. 18 der KFSA bietet reichliches Material zu Schlegels Einschätzung der Wissenschaftslehre. In Schlegels Terminologie ist sie eine Art von Mystik, die dem Skeptizismus und Empirismus entgegentsteht, die aber alle für sich genommen an ihrer Einseitigkeit zugrunde gehen (z.B. KFSA 18, S. 4 f.). Der entscheidende Einwand bleibt die Nicht-Deduzierbarkeit des Kontingenten (s. z.B. die Aufzeichnungen zum „Geist der Fichtischen Wissenschaftslehre“ von 1797–98, S. 31 ff.). KFSA 16, S. 46. Die folgenden Ausführungen zum bedingten Wissen folgen in Teilen einem bereits in französischer Sprache publizierten Aufsatz, sind für den Zusammenhang hier aber so wichtig, dass die Wiederholung angezeigt ist: Christian Benne: „Interêt pour un savoir conditionné? Les Cahiers Sur la philologie de F. Schlegel“. In: Christoph König/Heinz Wismann (Hg.): La lecture insistante. Paris 2011, S. 429–460. Der Begriff des bedingten Wissens kommt v. a. in Schlegels Auseinandersetzung mit Schelling vor: „Schelling geht nicht aus von dem Satze: Wissenschaft soll seyn; oder ich will wissen: sondern: Wissenschaft ist. Nicht von einem logischen Imperativ, sondern von einem logischen Datum. – Dann folgt der Erweis, daß ohne unbedingtes Wissen kein bedingtes also überhaupt keins möglich sey. Dann das Problem : etwas zu finden, das schlechterdings nicht als Ding gedacht werden kann. – Schelling hat das Nicht Ich nicht deduziert“ (KFSA 18, S. 514 – im Umfeld dieser Stelle finden sich mehrere gründliche Überlegungen zu Problemen der schellingschen Philosophie).
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oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen12, die die Rolle des absoluten Ich als Grundlage der transzendentalen Philosophie deduziert. Der entscheidende Passus erscheint relativ früh: Entweder muß unser Wissen schlechthin ohne Realität – ein ewiger Kreislauf, ein beständiges wechselseitiges Verfliessen aller einzelnen Säze in einander, ein Chaos seyn, in dem kein Element sich scheidet, oder – Es muß einen lezten Punkt der Realität geben, an dem alles hängt, von dem der Bestand und alle Form unsers Wissens ausgeht, der die Elemente scheidet und jedem den Kreis seiner fortgehenden Wirkung im Universum des Wissens beschreibt.13
Die Basis für das Wissen als Letztbegründung philosophischer Wissenschaft soll das Unbedingte im Gegensatz zu einem „Wissen“ sein, „zu dem ich nur durch ein anders Wissen gelangen“ kann: „bedingtes Wissen.“14 Für dieses bedingte Wissen interessiert sich die transzendentale Philosophie nicht (schon höchste Abstraktionen wie der Subjekt- und Objektbegriff fallen aus ihrem Rahmen, weil diese jeweils nur durch einander bestimmt und damit bedingt sind). Unbedingt sei einzig und allein das absolute Ich, weil man sich nicht unter der Bedingung seines Seins denken könne ohne sich schon als seiend zu denken. Ausgehend von dem von jeder Empirie gereinigten, absolut gesetzten Ausgangspunkt aller Philosophie, an dem sich „die ganze Kette des Wissens“15 auffädeln lässt, wird die gesamte Sphäre des Nicht-Ich als bedingtes Wissen beschreibbar. Die Philologie als Interesse für bedingtes Wissen bezeichnet vor dem skizzierten Hintergrund zunächst nichts weiter als eine Tautologie, insofern die Feststellung, dass Philologie eben nicht nach einem transzendentalphilosophischen letzten Prinzip sucht, schon in ihrem Begriff steckt; sie wäre sonst identisch mit der Philosophie. Bezogen auf die grammatische Analyse der Genetivkonstruktion ergibt sich nun eine Aporie. Denn wenn „Philologie“ im Ausdruck „Philosophie der Philologie“ ersetzt wird durch „bedingtes Wissen“, führte das zu einer Philosophie des bedingten Wissens, die nicht mehr streng genommen philosophisch (transzendentalanalytisch) sein kann, weil sie sich nun auch mit (empirischen) Wissensbeständen zu beschäftigen hätte, in die sie keine apriorische Einsicht hat. Im Falle des Genitivius subjectivus müsste die Philosophie das 12
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Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: „Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen [1795]“, In: ders. Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Stuttgart 1980, Bd. 2, S. 1–175. Ebd., S. 85. Ebd., S. 87. Ebd., S. 100.
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bedingte Wissen aus sich selbst heraus entwickeln und wäre folglich durch dieses selbst wiederum bedingt. Wenn Philologie Interesse für bedingtes Wissen ist, lässt sie sich per definitionem also nicht auf ein Wissen hinter dem Wissen zurückführen. Philologie ist deshalb immer, auch in ihrer theoretischen Grundlegung, unendlich. Dem Problem des infiniten Regresses ist auf diese Weise nicht beizukommen, weil es sich analog auf der Ebene seiner Analyse wiederholt, wo die Reflexion ihrer Bedingungen selber eine Bedingung für die Möglichkeit von Philologie im Sinne Schlegels ist – und sie als ihren Gegenstandsbereich zugleich die gesamte Fülle der empirischen Überlieferung definiert. Schlegels Einsicht in dieses Dilemma lässt sich bis in die Anlage der Philologiehefte hinein nachweisen: die Wesensbestimmung der Philologie in Zur Philologie I gehört auch zu den Bedingungen des Heftes Zur Philologie II. Jede philologische Erkenntnis bezieht sich also zugleich auf eine unermessliche Menge von bedingten Kenntnissen und ist wiederum selbst Bedingung.16 Radikalisiert wird dieses schon im kantischen Erbe angelegte Zusammenspiel von Empirie und Philosophie in der allgemeinen Aufwertung und eigenständigen philosophischen Bedeutung der materiellen Überlieferung selbst. Schlegel leitet damit einen Wendepunkt ein, der auch philosophiegeschichtlich bisher nicht genügend gewürdigt worden ist. Das „Chaos“, das Schelling fürchtete, stellt Schlegel nun in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Im Unterschied zu Schelling ist es freilich keine Größe, „in dem kein Element sich scheidet“, sondern im Gegenteil Ausdruck des Zusammenhangs von Widersprüchlichkeiten. Es enthält selbstreflexive Elemente, die es herauszuarbeiten gilt. Die Konsequenz für die Philologie ist eindeutig: „Das Alterthum ist die Arena der philologischen Kunst“.17 Die Erkenntnis des philologischen Objekts ergibt sich nur aus der Auseinandersetzung der Philologen. In der Arena hat der Philologe sein ganzes grammatisches, kritisches und hermeneutisches Können gegenüber anderen zu zeigen und zu beweisen. Die daraus entstehende Polemik – also der Kampf der Richtungen, Editionen, Funde und Interpretationen – ist ein integraler Bestandteil der Philosophie der Philologie und die Vorstufe wahrer Kritik, dergestalt nämlich, dass erst über die Konfrontation widersprüchlicher Ansichten ein Verständnis produziert wird, das mehr als die goldene Mitte repräsentiert. Wo Wahrheit die Indifferenz „zweyer sich entgegengesetzer Irrthümer“ ist, wie es in der Transcendentalphilosophie heißt,18 wo Wissensbestände nur symbolisch ausgedrückt werden können und Philosophie diesen Voraussetzungen entsprechend unendlich ist, gilt für die Philosophie der Philologie
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KFSA 16, S. 67. Ebd., S. 37. KFSA 7, S. 92.
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die polemische Methode ganz von selbst, da sie den doppelten Zweck verfolgt, den Irrtum zu vernichten und den Eigensinn der Empirie zu verteidigen, ohne ihn zu verabsolutieren. Die Polemik wird zum Schlüsselbegriff weit über konkrete, persönliche Polemiken hinaus.19 Sie ist es, die jenseits eines obersten Prinzips oder Grundsatzes aus diskreten Einheiten erst eine „Totalität“ macht.20 Schlegel erweitert diese Perspektive, deren philologische Wurzeln sich kaum verleugnen lassen, ins Epistemologische: in den Philologieheften finden sich die wichtigsten und ersten Spuren von Schlegels Denken der Polemik als Aggregatzustand dieses Denkens.21 Wenn das Altertum die Arena der Philologen ist, dann ist Philosophie der Philologie in dem Moment, da sie darauf verzichtet, die Fülle der Phänomene deduktiv abzuleiten, der Versuch, die Theorie der Kampfhandlungen zu entwerfen, die sich nur in der Praxis bewähren kann und die systematische Theorie deshalb überflüssig macht. Parallel zur Theorie der Polemik in den Philologieheften knüpft Schlegel seine Bestimmung der romantischen Poesie an den Begriff des Romans. Zunehmend soll der von ihm avisierte Roman die Philologie der Philosophie bzw. philologische Enzyklopädie sogar ersetzen. Gegen Ende der 90er Jahre konvergieren sie vollends: „In d[er] nächsten Generation wird an die Stelle der Encyl[opädie] ein Roman treten“22 19
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Dieser Begriff der Polemik ist gewiss der dominante. Szondi etwa bezog den Polemik-Begriff noch weitgehend auf die Literaturkritik und den Einfluss Lessings (Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie, Bd. 2 [s. Anm. 1], S. 132). Auch bei Fichte scheint die rhetorische Funktion der Polemik eine Rolle gespielt zu haben (Carlos Spoerhase: „‚Harte Kriege‘ – Johann Gottlieb Fichtes ‚Theorie‘ der Polemik“. In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2005), S. 71–92). Ein genauer Vergleich Fichtes mit Schlegel würde aber gerade für die Theorie der Polemik entscheidende Unterschiede zutage fördern, etwa in Schlegels Aufzeichnungen zum „Geist der Fichtischen Wissenschaftslehre“ von 1797–98 (KFSA 18, S. 31 ff.): Bei Schlegel ist die Polemik kein notwendiges Übel, sondern die einzige Möglichkeit die phänomenale Welt und ihre Interpretation im Zusammenhang zu denken. KFSA 18, S. 515; s. auch S. 517 (schon aus einer Jenaer Aufzeichnung von 1796): „Jede verschiedene Meinung ist in der Philosophie eine entgegengesetzte. Daher polemische Totalität nothwendige Bedingung der Methode und Kriterium des Systemes.“ „Theorie der philologischen Polemik“ (KFSA 16, S. 36). Noch in einer Pariser Notiz schreibt Schlegel: „Meine erste Ansicht d[er] Polemik war Encycl[opädisch]“ (KFSA 18, S. 482). Zu Recht pointiert Dorit Messlin, dass Schlegel zwei Begriffe von Einheit verwendet: den herkömmlichen Vernunftmonimus, wie er in der systematischen Philosophie kulminiert, aber auch den positiv besetzten lebendigen Zusammenhang der „Fülle“ (Dorit Messlin: Antike und Moderne. Friedrich Schlegels Poetik, Philosophie und Lebenskunst. Berlin/New York 2011, S. 273 ff.). Entscheidend ist indes der kategoriale Unterschied dieser Einheitskonzeptionen nach den Prinzipien, die die Einheit stiften. Im Vernunftmonismus ist das letztlich ein einziges Grundprinzip, das Prinzip der Widerspruchsfreiheit, während im Chaos eine polemische Einheit der Widersprüchlichkeit herrscht. Schlegel ist in der neueren Philosophiehistorie damit einer der ersten, der noch vor Hegel mit dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit bricht. KFSA 18, S. 364.
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heißt es in einer Randnotiz, die einen Satz kommentiert, der der Enzyklopädie, also der philologischen Methodenlehre, die Aufgabe zuspricht, Philosophie und Poesie in alle Künste und Wissenschaften einzuführen – und d. h. die notwendige Verbindung zwischen den getrennten Sphären zu bilden, deren Überwindung sie selber überflüssig macht. Im Roman wäre sie aber wie jene beiden anderen noch enthalten, weil dieser ihre Funktion übernommen hat. Die Entwicklung der Enzyklopädie, die, wie sich aus den Heften Zur Philologie erschließen lässt, nie an ein Ende kommt, geht in die Entwicklung des Romans über. In den Heften Zur Philologie heißt es bereits, und zwar doppelt unterstrichen und eingerahmt: „Meine Alterthumslehre ist ein philologischer Roman.“23 Diese Altertumslehre ist weder der Studium-Aufsatz noch das vorliegende Heft, sondern das künftige Projekt, das die Altertumsstudien aufgrund der neuen Reflexionen noch einmal aufs Neue darstellen soll. In Aufzeichnungen unter dem Titel „Zum Roman“, die vornehmlich der Lucinde, durchaus aber auch dem allgemeinen Begriff des Romans gelten, wird die rhetorische Frage gestellt, ob der Roman nicht auch philologische Bestandteile besitzen solle, und zwar, das ist wichtig, im Kontext des Verhältnisses des Ganzen zum Einzelnen. Die Aufzeichnung schließt mit der Feststellung, dass wir philosophische Romane besäßen (gemeint ist der von Schlegel ebenfalls rezensierte Woldemar von Jacobi) und poetische Romane (gemeint ist Goethes Wilhelm Meister) – aber noch keine romantischen.24 Auch dies suggeriert eine enge Verbindung von Philologie und Romantik, denn man erwartet hier doch das Adjektiv ‚philologisch‘, wo tatsächlich von ‚romantisch‘ die Rede ist. Da Schlegel wenige Zeilen weiter notiert, dass in einem gewissen Sinne alle Gedichte Romane seien, wird deutlich, dass es bei diesem Begriff längst nicht mehr um Genreabgrenzung oder gar einen einzelnen konkreten Roman geht. Der Höhepunkt dieser Konvergenzbewegung ist die berühmte Wilhelm MeisterRezension, die Schlegel weniger als ein Jahr nach dieser Aufzeichnung publiziert. Sie wird zum ersten und wichtigsten Dokument einer neuen und zugleich philologischen Behandlung zeitgenössischer Literatur, deren Philologie aber schon die Philosophie der Philologie enthält. Merkwürdig an diesem Text, der gewiss zu Schlegels bekanntesten und meistzitierten gehört, ist die Tatsache, wie selten er trotz seiner offensichtlichen
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KFSA 16, S. 54. Ebd., S. 133: „In einem vollendeten Rom. müßte nicht bloß d.[as] Einzelne sondern d.[as] Ganze ƶƳ[philosophisch] sein. Muß der Roman auch ƶƫ[philologische] Bestandtheile haben? – Fast scheint es so, da sie ein unentbehr.[liches] Ingrediens der guten schönen und großen Gesellschaft sind. – Wir habenƶ[philosophische] Rom[ane] (Jakobi) poetische (Goethe); nun fehlt nur noch ein romantischer Roman.“
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Bedeutung wahrhaft philologische Aufmerksamkeit erfahren hat. 25 Wenn Schlegel zeitgenössischen Dokumenten zufolge Goethes Roman gar nicht so hoch einschätzte,26 muss in erster Linie nach den Gründen gesucht werden, die ihn bewogen, gerade an diesem Beispiel seine neu gewonnenen Einsichten zur modernen Literatur durchzuexerzieren. Schlegels Aufgabe bestand darin, ihm eine Komplexität nachzuweisen, die den Vergleich mit antiken Texten nicht zu scheuen brauchte; zugleich musste er darüber hinaus gehende Eigenschaften aufweisen, die ihn der Literatur zuordnen, die auf dem Weg zum romantischen Kunstwerk ist. Die Rekonstruktion von Schlegels Verfahren ist der Schlüssel zur Bedeutung dieses Textes für die Literaturkonzeption der Moderne. Schlegel betont, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Rezension handeln kann, die sich auf die „schulgerechte Kunstbeurteilung“ in der „üblichen Umständlichkeit“ beschränkt27. Stattdessen müsse die „lebendige Individualität des Werks“ erforscht werden28, als eines völlig neuen und einzigartigen Buches „welches man nur aus sich selbst verstehen lernen kann“29. Die Analyse enthält zumindest einen hermeneutischen Vorschuss, eine Vorannahme von „geheimen Absichten“30, die in der Lektüre einzulösen ist. Schlegels Konzentration auf die Kompositionsweise des Wilhelm Meister hat einen zeitgenössischen Hintergrund. Goethes Roman war nicht zuletzt wegen seiner Heterogenität beim großen Lesepublikum durchgefallen. Kritikern schienen die einzelnen Bücher und Teile nicht recht zusammenzuhängen. Schlegels Beschreibungen zum Aufbau des Romans lassen kaum eine Metapher aus, die geeignet ist, die notwendige Verknüpfung des gesamten Werkes auszudrücken. Sie vermischen Kunst, Musik und Architektur in synästhetischen Paradoxien, um räumliche und temporale Elemente im Begriff des Romans zusammenzuführen. Der eindrucksvollste dieser Ausdrücke ist die Charakterisierung von Goethes Schilderungen als „bewegliche Gemälde“ – die frühromantische Intuition des Films als späterem Erbe des romantischen Gesamtkunstwerks.31 Auch die zahlreichen Theater-Gleichnisse sollen weniger die epische Ausrichtung des Romans infrage stellen als vielmehr seine Charakterisierung als bewegliches Gemälde unterstreichen.
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Hans Eichner hat in seiner Einleitung zu Bd. 2 der KFSA auf die Spannbreite der Einschätzung von Schlegels Text in der Wissenschaft hingewiesen, die von Gundolf („beste Rezension deutscher Sprache“) bis Staiger („manierierte Inhaltsangabe“) reichte (KFSA 2, S. LXXI f.). Ebd., S. LXXI ff. KFSA 2, S. 133. Ebd., S. 134. Ebd., S. 133. Ebd., S. 131. Vgl. Ulrich Breuer: „Denkmal, Puppe, Göttergebild. Das Konzept der Plastik in den Charakteristiken Friedrich Schlegels“. In: Bernhard Spies/Dagmar von Hoff (Hg.): Textprofile intermedial. München 2008, S. 129–141.
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Den Wilhelm Meister aus sich selbst heraus zu verstehen heißt, zumindest in einem ersten Schritt, ihn nach außen abzugrenzen und das Gewicht auf die eigene, innere Organisation zu legen. Dieser Organisation gilt Schlegels Hauptinteresse; sie ist nicht notwendigerweise identisch mit der bewussten Konstruktion des Werks. Seit Wolfs Prolegomena war die Rekonstruktion der Organisation des Werks die Königsdisziplin einer Philologie, die immer von dem Anfangsverdacht ausgehen musste, dass die Überlieferung eines Ganzen nur eine scheinbare war und – um dieses Ganzen willen – in seine Teile zurückzerlegt werden musste. Kommt die Rede auf die Organisation, verzichtet Schlegel auf die klare Benennung der Intention eines Konstrukteurs, etwa des Dichters und seiner geheimen Absichten. Der wichtigste Satz des gesamten Textes lautet: „Der angeborne Trieb des durchaus organisierten und organisierenden Werks, sich zu einem Ganzen zu bilden, äußert sich in den größeren wie in den kleineren Massen.“32 Unklar bleibt zunächst, wer oder was hier Agens der Organisation ist. Jedenfalls entsteht die Einheit des Romans offenbar erst aus dieser doppelten Organisation, und zwar als Prozess der Bildung, der damit an den allerersten Satz der Rezension anknüpft, wo die „Geschichte“ des Protagonisten der „Bildung eines strebenden Geistes“ verglichen wird.33 Jedes Wort in diesem Satz ist geheimnisvoll und erklärungsbedürftig. In seiner Rätselhaftigkeit ragt jedoch das Wort „Masse“ hervor, das dann im gesamten weiteren Verlauf des Textes nur immer noch wichtiger zu werden scheint. Weder die Schlegel-Forschung noch angrenzende Gebiete haben sich ihm bisher gewidmet. Ohne Verständnis seiner spezifischen Geschichte und Funktion aber muss Schlegels Satz, muss die gesamte Wilhelm Meister-Rezension dunkel bleiben. Bei näherem Hinschauen erweist sich der Begriff der Masse als ein einst bedeutender philosophischer Grundbegriff, der allerdings im Unterschied zu Begriffen wie Subjekt, Objekt oder Substanz das Ende der Metaphysik nicht überlebte und uns deshalb fremd geworden ist. Er war nicht in gleicher Weise unabkömmlich wie die Genannten, außerdem wurde er stark von dem modernen physikalischen Verständnis der Masse überlagert, so dass von seinem metaphysischen Gehalt wenig mehr blieb als das Prinzip der Trägheit, das auch für den physikalischen Massebegriff gilt.34 Ein Synonym zur Fülle oder copia ist er gerade nicht, auch wenn er mit ihr in Verbindung 32 33 34
KFSA 2, S. 131. Ebd., S. 126. In seinem einflussreichen Standardwerk beschrieb Whitehead Newtons Revolution und die Auffassungen vor dem Übergang zum wissenschaftlichen Massebegriff folgendermaßen: „The common measurable element of mass was discerned as characterising all bodies in different amounts. Bodies which are apparently identical in substance, shape, and size have very approximately the same mass: the closer the identity, the nearer the equality.“ (Alfred North Whitehead: Science and the Modern World. New York 1956, S. 46).
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steht. Etymologisch lässt sich die Masse bis auf das hebräische Wort mazza (Matze), für ungesäuertes Brot, zurückführen. Das lateinische massa, der Teig oder Teigklumpen, ist der offensichtliche Ursprung des deutschen Wortes. Diese Bedeutung des Teiges hat bis ans Ende des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt, z. B. als Fachbegriff der Gießer und Drucker (die aus der „Masse“ ihre Lettern gießen.35) „Die Massen sind im Fluß“, heißt es in diesem Sinne in Schillers bekanntem „Lied von der Glocke“36, oder auch: „In trüben Massen gäret noch die Welt“ im Prolog zum Wallenstein.37 In der Literatursprache des 18. Jahrhunderts finden sich erstaunlich viele Belege dieses Begriffes, auch wegen eines zweiten Herkunftsstranges aus dem Neuplatonismus. Hier bezeichnet die Masse den Sammelbegriff jener Akzidenzien, die sich auf die körperliche Fülle und Ausdehnung jenseits ihrer Formgebung beziehen. Die Masse ist das noch unerkannte, ungeformte Ganze, die Materie ihrer quantitativen Bestimmungen nach und in ihrer Gestaltlosigkeit.38 Diese Bedeutung lässt sich noch bei Kant nachweisen. Hier die dazu expliziteste Stelle aus den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft: Die Quantität der Materie ist die Menge des Beweglichen in einem bestimmten Raum. Dieselbe, so fern alle ihre Teile in ihrer Bewegung als zugleich wirkend (bewegend) betrachtet werden, heißt die Masse, und man sagt, eine Materie wirke in Masse, wenn alle ihre Teile in einerlei Richtung bewegt außer sich zugleich ihre bewegende Kraft ausüben. Eine Masse von bestimmter Gestalt heißt ein Körper (in mechanischer Bedeutung).39
Die Vorstellung des Teiges sowie der Gedanke der Gestaltlosigkeit addieren sich im 18. Jahrhundert zu einem literarisch-philosophischen Begriff, der auf den Dualismus von Geist und Körper bezogen bleibt, ohne mit ihm identisch zu sein. Schiller verwendet ihn namentlich in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen. So spricht er davon, wie „der mechanische Künstler seine Hand an die gestaltlose Masse legt, um ihr die Form seiner Zwecke zu geben“40. Er vergleicht an dieser Stelle den mechanischen 35
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40
S. etwa das zeitgenössische Standardwerk von Johann Beckmann: Anleitung zur Technologie, oder zur Kenntniß der Handwerke, Fabriken und Manufacturen […]. 2. Aufl. Göttingen 1780 [Faksimileausgabe, Leipzig 1970]. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hg. v. Peter-André Alt, Albert Meier u. Wolfgang Riedel. München 2004, Bd. 1, S. 431. Ebd., Bd. 2, S. 272. Vgl. M. Jammer/E. Pankoke: „Masse, Massen“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Hg. v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer. Basel 1980, Sp. 825–832. Immanuel Kant: „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“. In: ders.: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. 5. ern. überpr. reprogr. Nachdr. Darmstadt 1998, S. 7–135, hier: S. 101. Schiller: Sämtliche Werke (s. Anm. 36), Bd. 5, S. 578 (4. Brief ).
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mit dem schönen Künstler daraufhin, wie weit sie der jeweiligen „Masse“ Gewalt antun. Der schöne Künstler ist nicht weniger gewalttätig als der mechanische. Er respektiert auch seinen „Stoff“ nicht mehr als dieser, ist aber geschickter darin, den gewalttätigen Zugriff auf ihn zu kaschieren. Die „Masse“ ist bei Schiller deshalb ein Synonym für jeden unterspezifizierten „Stoff“41. An einer späteren Stelle ist in eben diesem Sinne die Rede vom „Reich der blinden Masse“, das, den Absichten der Briefe entsprechend, in ästhetischer wie politischer Hinsicht durch die „siegende Form“ veredelt werde.42 Die Form wiederum setzt den Geist voraus, so wie erst die geistreiche Anordnung von Lettern Sinn ergibt, nicht schon die gegossene Masse der Buchstaben selbst. Masse ist, was durch einen Geist in sinnreiche Form gebracht wird, dann aber Wirkungen zu erzielen vermag, die über die ursprüngliche Absicht dieses Geistes hinausgehen. Wenn die Masse einmal, wie in dem zitierten Kant-Zitat angezeigt, in Bewegung gesetzt ist, ist ihr Effekt, den sie qua Masse ausübt, nicht abzusehen und nicht identisch mit der geistigen Kraft (dem conatus), die sie anschob.43 Der Massebegriff kommt bei Schlegel gehäuft zum ersten Mal im Studium-Aufsatz vor. Die Bezeichnung Masse ermöglicht ihm eine spezifische Perspektive auf die untersuchten Phänomene, als Bezeichnung zunächst für ein nicht analysierbares Ganzes, ähnlich dem Teig, der nur als zusammenhängender denkbar ist. Von Anfang an ist die griechische Poesie für Schlegel eine solche zusammengehörende Masse. Man wird sie erst dann philosophisch erklären und ästhetisch würdigen lernen, wenn man sie in Masse studieren wird: denn sie ist ein so innig verknüpftes Ganzes, daß es unmöglich ist, auch nur den kleinsten Teil außer seinem Zusammenhange isoliert richtig zu fassen und zu beurteilen. Ja die ganze Griechische Bildung überhaupt ist ein solches Ganzes, welches nur in Masse erkannt und gewürdigt werden kann.44
Der Charakter der Masse der griechischen Kultur ist mit anderen Worten Ausdruck einer Verfassung, die dem fragmentarischen Charakter der Moderne diametral entgegengesetzt ist. Entsprechend wird die „Unvollkommenheit“, ja „Unechtheit“ der Spätantike u. a. mit der Schwerfälligkeit und „Trockenheit“ ihrer „toten und aus einzelnen Stücken
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Schiller: Sämtliche Werke (s. Anm. 36), Bd. 5, S. 578 (4. Brief ). Ebd., S. 655 (26. Brief ). Dass Schiller und Schlegel trotz ihrer Verfeindung geistig verwandter waren als gemeinhin angenommen, hat jüngst Nikoletta Wassiliou zu belegen versucht: Nikoletta Wassiliou: „Idealismus und Modernität. Schillers philosophische Ästhetik im Spiegel Kants, der Romantik und des Deutschen Idealismus“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 56 (2012), S. 81–106. KFSA 1, S. 347.
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zusammengeflickten Masse“45 erklärt: Das Ende der griechischen Kultur kündigt sich im Auseinanderfallen ihrer Masse an, die, metaphorisch angedeutet, wie ein ausgetrockneter Teig zerbröselt. Darin wird sie von der modernen Poesie beerbt. Ihre „Masse“ ist gekennzeichnet durch „Anarchie“, ihrem „Fortgange“ fehlt es an „Gesetzmäßigkeit“ und „ihrem Ganzen eine befriedigende Einheit“46. Schlegel steht hier noch auf dem Standpunkt, den er erst mit der Philosophie der Philologie überwindet. Das „Chaos“, das er dort als notwendige, polemisch zusammenhängende Einheit begreift, dient ihm im Studium-Aufsatz noch zur negativen Bestimmung. Die Masse der modernen Poesie erscheine „wie ein Meer streitender Kräfte, wo die Teilchen der aufgelösten Schönheit, die Bruchstücke der zerschmetterten Kunst, in trüber Mischung sich verworren durcheinander regen. Man könnte sie ein Chaos alles Erhabnen, Schönen und Reizenden nennen“47. Wo er bald darauf die Fülle und das Chaos gegen die Grundsatzphilosophie ins Recht setzen wird, verharrt er bis zum StudiumAufsatz noch auf dem Standpunkt, dass die Fülle der Phänomene nur als geordneter Zusammenhang zu begrüßen wäre: exemplarisch dafür ist eben die griechische Kultur. Da hilft es auch nicht, den Massebegriff europäisch zu erweitern – etwa die moderne Poesie nicht länger im rein nationalen Rahmen zu betrachten. Auch in diesem Falle erscheine „die ganze Masse der modernen Poesie“ noch immer „als das bloße Stück eines Ganzen“.48 Die Masse der griechischen Kultur ist gleichsam von innen her beseelt bzw. mit einem ihr eigenen Geist ausgestattet, der sie zusammenhält. Sie ist, mit anderen Worten, organisiert. Das Problem der Moderne ist, aus der Perspektive des Studium-Aufsatzes, der Mangel an Organisation, der auf eine doppelte Ursache zurückzuführen ist, die ihrerseits die zwei Seiten desselben Problems repräsentiert. Einerseits stammt er aus der Auflösung der antiken, organischen Masse selbst: „die einmal aufgelöste elementarische Masse organisiert sich nie wieder“.49 Die Moderne kann deshalb nie wieder die Vollkommenheit der Antike erreichen.50 Andererseits ist die Moderne per definitionem 45 46
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KFSA 1, S. 316. Ebd., S. 221. Das ist eine Variation des ersten Satzes, die damit dessen Bedeutung unterstreicht: „Es springt in die Augen, daß die moderne Poesie das Ziel, nach welchem sie strebt, entweder noch nicht erreicht hat; oder daß ihr Streben überhaupt kein festes Ziel, ihre Bildung keine bestimmte Richtung, die Masse ihrer Geschichte keinen gesetzmäßigen Zusammenhang, das Ganze keine Einheit hat.“ (S. 217) Schlegel fährt weiter unten noch schwerere Geschütze auf: „Charakterlosigkeit scheint der einzige Charakter der modernen Poesie, Verwirrung das Gemeinsame ihrer Masse, Gesetzlosigkeit der Geist ihrer Geschichte, und Skeptizismus das Resultat ihrer Theorie“ (S. 222). Ebd., S. 223 f. Ebd., S. 228. KFSA 1, S. 293. „Der Gipfel der natürlichen Bildung der schönen Kunst bleibt daher für alle Zeiten das hohe Urbild der künstlichen Fortschreitung.“ (Ebd.)
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unvollendet. Ihr rein theoretisch vorstellbarer Zusammenhang wäre nur sub specie aeternitatis zu erkennen und ist nach menschlichem Maß deshalb unmöglich. Im Unterschied zur „schönen Organisation“ der klassischen Antike, „wo auch der kleinste Teil durch die Gesetze und den Zweck des Ganzen notwendig bestimmt, und doch für sich bestehend und frei ist“, kann er nur divinatorisch, „nur in Gedanken zur Vollständigkeit ergänzt werden“, als der „künstliche Mechanismus eines durch menschlichen Fleiß hervorgebrachten Produkts“51. Diese Künstlichkeit bleibt im Vergleich zur Organisation letztlich inferior. Der „künstliche Mechanismus des lenkenden Verstandes“ könne sich die Kunst der Antike allenfalls „zueignen“, nie aber „wiederherstellen“52 – das ist das Problem der Masse, der ein organisierendes Prinzip fehlt. Die „Ansprüche an die Selbsttätigkeit der Masse“, so Schlegel resignierend, könnten „nie mäßig genug sein“53. Die Vorstellung von der Selbsttätigkeit der Masse, deren Mangel ihr der traditionellen Definition nach angehört, ist keineswegs idiosynkratisch. Vielmehr folgt sie aus dem Begriff der Organisation selbst, der seinerseits von traditionellen und modernen Organismusvorstellungen abgeleitet ist. Grundlegend zählen dazu natürlich die aristotelische Entelechie und Epigenese, spezifisch jedoch in erster Linie die Theorie des Organismus, die Kant in der Kritik der Urteilskraft im Rahmen der Teleologie entwickelte.54 Dass Schlegel sich ausführlich mit ihr beschäftig hat, liegt schon deshalb nahe, weil sich Kant an dieser Stelle explizit mit dem Problem des Ganzen und der Teile auseinandersetzt, das für Schlegel die wichtigste Frage zur Unterscheidung alter und moderner Dichtung betraf. Kant ging es, wie Schlegel in seinen philologischen Studien seit dem Studium-Aufsatz, um den „Erkenntnisgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen, was in der gegebenen Materie enthalten ist, für den, der es beurteilt“55.
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55
KFSA 1, S. 305. Ebd., S. 293. Ebd., S. 256. Der Organismus-Bezug ist der älteren Forschung zwar aufgefallen, aber den Bezug zu Kant hat sie nicht hergestellt. Stattdessen wird Schlegel traditionell fast im Sinne von Goethes Morphologie interpretiert – ohne Auge für die Spannung zwischen Organismus und Mechanismus, auf dem Schlegel, wie zu sehen sein wird, aufbaut (etwa Raymond Immerwahr: „Friedrich Schlegel‘s Essay ‚On Goethe‘s Meister‘“. In: Monatshefte 49:1 [1957], S. 1–22). Dahinter steckt natürlich der wenig brauchbare Versuch, Schlegel in den organizistisch-romantischen Bildungsdiskurs der geistesgeschichtlichen Germanistik heimzuholen, gegen den die poststrukturalistische Schlegelrezeption mit Recht Einspruch erhob – freilich nur, um das spezifische Anliegen Schlegels sowie seine Herkunft aus der philologischen Reflexion ihrerseits zu verfehlen. Ich danke Alexander Knopf (Heidelberg) für seinen wichtigen Hinweis auf eine entscheidende Stelle in der Kritik der Urteilskraft. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Heiner F. Klemme. Hamburg 2001, S. 279. Die relevanten Passagen finden sich in den Absätzen 65–68, S. 278 f.
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Entscheidend wird nun folgender Umstand. Während Schlegel im Studium-Aufsatz die moderne Literatur im Unterschied zur antiken noch nicht als Organismus sieht, geht er in der Wilhelm Meister-Rezension einen folgenreichen Schritt weiter, indem er das von Kant geschärfte Problem von den aus der Philosophie der Philologie gewonnenen Erkenntnissen her neu interpretiert und bewertet. Kant will zur Materie als einer „Vielheit der Dinge“ einen „Bestimmungsgrund a priori“ ergründen, der dieser Vielheit Einheit zu geben vermag, einen Zweck, der sich auf jedes einzelne Teil der gesammelten Vielheit erstreckt.56 Schlegels Engführung eigener Schlussfolgerungen aus dem Versuch der Philosophie der Philologie, insbesondere die Ablehnung eines apriorischen Bestimmungsgrundes bei gleichzeitiger Aufwertung des polemischen Zusammenhangs der Massen, führt in der Auseinandersetzung mit Kants Organismusbegriff zu einem neuen und bahnbrechenden Verständnis moderner Literatur und einer spezifischen Applikation des Organismusbegriffs auf ihren inneren Zusammenhang. Die Anwendung dieses Begriffs auf das Gebiet der Kunst ist dabei die erste und ausschlaggebende Abweichung von der Quelle. Für Kant fängt die Parallelität bei der Beurteilung von Naturgegenstand und Kunstgegenstand bei der Schönheit an – und hört bei ihr als Reflexion „der Form der Oberfläche“57 auch gleich wieder auf. Das ästhetische Urteil macht keine Aussage über die Beschaffenheit des Gegenstandes, sondern thematisiert lediglich seine Relation zum Urteilenden. Kunst- und Naturgegenstand sind kategorial so verschieden, dass sie gar nicht auf gleiche Weise beurteilt werden können. Für Kant folgt das bereits aus ihrer Definition. Die Gegenständlichkeit eines Kunstwerks geht ganz in einem von außen zugeführten Zweck auf. Betrachtete man einen Naturgegenstand unter derselben Perspektive, dann wäre er eben auch „bloß ein Kunstwerk“, und d. h. „das Produkt einer von der Materie (den Teilen) desselben unterschiedenen vernünftigen Ursache, deren Kausalität (in Herbeischaffung und Verbindung der Teile) durch ihre Idee von einem dadurch möglichen Ganzen (mithin nicht durch die Natur außer ihm) bestimmt wird.“ Beim Kunstwerk ist also die Idee des Ganzen maßgeblich für „die Form und Verbindung aller Teile“58. Kants Beispiel ist die Lieblingsmetapher des 18. Jahrhunderts, das Uhrwerk. Anders beim Naturgegenstand. Das Verhältnis zwischen dem Ganzen und den Teilen kann für Kant eben nicht auf eine externe, zweckgebundene Ursache zurückgeführt werden – allein schon deshalb, weil er dann nicht mehr von einem Kunstwerk unterscheidbar wäre. Als Naturprodukt müsse ein Ding sich vielmehr „zu sich selbst
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Kant: Kritik der Urteilskraft (s. Anm. 55), S. 284. Ebd., S. 282. Ebd., S. 279.
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wechselseitig als Ursache und Wirkung verhalten“59, und zwar sowohl nach der vom Verstand gedachten Kausalbeziehung als auch der teleologischen Beziehung der Vernunft. Ein solches Ding nennt Kant im Unterschied zum Kunstwerk einen Organismus. Organisiert zu sein heißt, dass die Teile des Ganzen selber bildende Kraft besitzen und, unabhängig von einer externen organisierenden Instanz, eigene Wirkungen auf andere Teile hervorbringen: Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine denn die hat lediglich bewegende Kraft, sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert), also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanism) nicht erklärt werden kann.60
Im Gegensatz zum Uhrwerk, wo, getrieben von einer zentralen Mechanik, ein Rädchen diese Mechanik auf das nächste überträgt, ohne jede eigene Zutat, entfalten die Teile im Organismus ein Eigenleben61, freilich ohne den Gesamtzusammenhang aufs Spiel zu setzen. Wenn Kant das Naturprodukt unter der Perspektive des Naturzwecks entsprechend als ein „organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“ bezeichnet,62 so dient diese Doppelung eigentlich nur der Verdeutlichung: in der Definition des organisierten Zustandes ist das Sich-selbst-Organisieren schon enthalten. Explizit ist die Organisation des Organismus der Natur vorbehalten, denn in der Kunst „denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr“ hinzu,63 das alle Fäden in der Hand behält. Wenn Kant diesen Begriff des Dings als Naturzweck lediglich als regulativen statt als konstitutiven verstanden wissen will, dann schließt er damit letztlich auch die Möglichkeit aus, die Natur insgesamt als Kunstwerk zu verstehen, d. h. als abgeleitet von Gott als Schöpfer der Zweckmäßigkeit:
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62 63
Kant: Kritik der Urteilskraft (s. Anm. 55), S. 277. Ebd., S. 280 f. Vorsicht ist angebracht, um Kants Organismus nicht biologistisch im heutigen Sinn zu interpretieren. Organismus ist ferner nicht mit Leben gleichzusetzen; das Leben ist für Kant ein beseelter Organismus, aber das Analogon zum Leben breitet für ihn einen Leib-Seele-Dualismus auf die gesamte Natur aus, was er an dieser Stelle vermeiden möchte, weil dann wieder die Kausalitäten zwischen der Materie und der ihr inhärenten Seele statt der Teleologie zur Debatte stünden. Im Organismusbegriff geht es darum, die Besonderheit der Naturdinge unabhängig davon, ob sie belebt sind oder nicht, herauszuarbeiten. Kant: Kritik der Urteilskraft (s. Anm. 55), S. 280. Ebd., S. 281.
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Um sich also auch nicht der mindesten Anmaßung, als wollte man etwas, was gar nicht in die Physik gehört, nämlich eine übernatürliche Ursache, unter unsere Erkenntnisgründe mischen, verdächtig zu machen, spricht man in der Teleologie zwar von der Natur, als ob die Zweckmäßigkeit in ihr absichtlich sei, aber doch zugleich so, daß man der Natur, d. i. der Materie diese Absicht beilegt; wodurch man […] anzeigen will, daß dieses Wort hier nur ein Prinzip der reflektierenden, nicht der bestimmenden Urteilskraft bedeute und also keinen besonderen Grund der Kausalität einführen solle, sondern auch nur zum Gebrauche der Vernunft eine andere Art der Nachforschung, als die nach mechanischen Gesetzen ist, hinzufüge, um die Unzulänglichkeit der letzteren, selbst zur empirischen Aufsuchung aller besonderen Gesetze der Natur, zu ergänzen.64
Wir können die Natur mit unserem Verstand und unserer Vernunft nur so ansehen, als ob sie organisiert bzw. sich selbst organisierend ist, aber wir werden nicht wissen, ob es sich tatsächlich so verhält. Um überhaupt „nach einer entfernten Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken“65 die Natur denken zu können, müssen wir Ursachen annehmen und sie in diesem Falle in die Natur selbst verlegen. Die „teleologische Naturerkenntnis“ des Menschen erstreckt sich deshalb nur auf den inneren Naturzweck, nicht auf ihren äußeren oder Endzweck.66 Dazu gehört allerdings auch die Annahme, dass die angenommene Perspektive nicht nur für das einzelne Produkt der Natur, sondern für die Natur im Ganzen gilt. Kant stellt für sie eine Maxime auf, nach der sie im Ganzen als System „nach der Regel der Zwecke“ zu beurteilen sei: „man ist durch das Beispiel, das die Natur an ihren organischen Produkten gibt, berechtigt, ja berufen, von ihr und ihren Gesetzen nichts, als was im ganzen zweckmäßig ist, zu erwarten.“67 In einer Art rekursiven Struktur spiegelt sich das Ganze68 dann doch in den Teilen: spiegeln wörtlich im Sinne der reflektierenden Urteilskraft, die der Natur die Organisation zuspricht, denn es ist „nur die Materie, sofern sie organisiert ist, welche den Begriff von ihr als einem Naturzwecke notwendig bei sich führt, weil diese ihre spezifische Form zugleich Produkt der Natur ist.“69 Damit schließt sich der Kreis zur gesamten Anlage der Kritik der Urteilskraft. Der Mensch nimmt die empirisch gar nicht zu beweisende Einheit der Natur an und stellt sie durch die reflektierende Urteilskraft 64 65 66 67 68
69
Kant: Kritik der Urteilskraft (s. Anm. 55), S. 292. Ebd., S. 282. Ebd., S. 286. Ebd., S. 286 f. Dazu neuerdings Armin Erlinghagen: „Das Konzept des ‚Ganzen‘ in Friedrich Schlegels Poetik 1793–1804. Ein systematischer Aufriss auf der Grundlage seiner Traktate über Lessing und des unveröffentlichten Notizhefts Studien des Alterthums“. In: Athenäum 22 (2012), S. 15–63. Kant: Kritik der Urteilskraft (s. Anm. 55), S. 286.
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dergestalt her, dass zum jeweiligen Besonderen das prinzipiell Allgemeine gefunden, d. h. subjektiv erschaffen wird. Die Zweckmäßigkeit des Ganzen als Apriori ist am Ende nicht nur eine Verstandesnotwendigkeit, sondern wird auch als beglückend erfahren, weil jeder empirische Hinweis auf die tatsächliche Existenz dieser Zweckmäßigkeit (etwa im Aufbau eines Organismus) als Hinweis auf die postulierte Einheit von Natur und Freiheit gilt. Schlegel übernimmt zunächst Kants Überlegungen zum Gegensatz von Mechanismus und Organismus. Indem er den Organismusbegriff auf den Bereich der Kunst überträgt, stellt er nicht Kants Naturteleologie infrage, sondern seine Kunstauffassung. Das gilt sogar schon für den Studium-Aufsatz, der Kants Organismuskonzept allerdings allein auf die Gesamtheit der kulturellen Äußerungen der Antike anwendet. Neu in der Wilhelm Meister-Rezenzion ist die Übertragung auf ein einzelnes Kunstwerk. Dieses enthält nun selbst die Totalität, der es im Sinne einer gesamtkulturellen Einbettung enträt.70 Die komplexe äußere Gliederung ist gleichsam internalisiert. Ähnlich wie für die Philologie hatte Schlegel die Vorstellung eines Prinzip oder Grundsatzes aufgegeben, von dem sich der Zusammenhang des Kunstwerkes herleiten lässt. Der Künstler hält also nicht mehr, wie noch bei Kant, alle Fäden in der Hand. Wenn ein Phänomen dergestalt aber nicht – wie in Kants Uhrwerk – in Analogie zum Mechanismus gedacht werden kann, muss es, teleologisch gesehen, notwendigerweise und mit allen Implikationen ein Organismus sein. So entsteht eine vergleichbare rekursive Struktur, die es wiederum erlaubt, vom Werk auf den Kontext zu schließen. Goethes Wilhelm Meister war für Schlegel deshalb so wichtig und neuartig, weil er diesen Umstand zu beweisen schien und bereits selbst thematisierte. Erst mit seiner Rezension kann er zeigen, inwiefern ein Kunstwerk eben doch beides ist. Das ist überhaupt das eigentliche Anliegen seines Textes. Das moderne, das romantische Kunstwerk ist deshalb neu und einzigartig, weil es weder Kunst im alten Sinne ist, noch einfach Organismus oder organisch im Sinne der Antike, sondern ein Drittes, das auf ingeniöse Weise Kunst (Konstruktion) und Organisation verbindet. Anders gesagt: Kunst besteht nun auch in der Organisation, und erst die Organisation befreit die Kunst vom mechanistisch-deduktiven Modell der reinen Konstruktion.71
70 71
„Die Modernen nicht in Masse zu studiren, wie die Alten; sondern isolirt, und in der nächsten Umgebung“ (KFSA 16, S. 186). Schlegel weicht damit vom vitalistisch-organizistischen Denken ab, wie es sich im 18. Jahrhundert entwickelt hatte und zur wichtigen Grundlage der europäischen Romantik wurde (zuletzt Denise Gigante: Life. Organic Form and Romanticism. New Haven/London 2009). Schlegels Kunstbegriff versucht das mechanistische Moment gegenüber dem organischen zu retten und beide neu aneinander auszutarieren.
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Da diese Lösung inkompatibel mit Kants Ansatz ist, benötigt Schlegel auch eine dritte Position, die zwischen Werk als Organisation und Werk als Kunstwerk vermitteln kann. Dies ist der ingeniöseste Teil seines Projekts: er führt die Auslegung und den Auslegenden als ebenfalls internalisierten Teil dem Werk zu und verleiht diesem damit eine neue, prozessuale Ontologie, die auf den Begriff der Bildung getauft wird. Die strenge Teilung zwischen Außen und Innen des Werks fällt ihr genauso zum Opfer wie die strenge Teilung von Autor und Interpret. „Der angeborne Trieb des durchaus organisierten und organisierenden Werks, sich zu einem Ganzen zu bilden, äußert sich in den größeren wie in den kleineren Massen.“72 Um diese Äußerung zu demonstrieren und damit erst zu erzeugen, bedarf es einer Instanz, die die Massen nachweist und in der Organisation den Kunstcharakters des Werks affirmiert. Diese Instanz kann nicht der Autor selber sein, sondern nur sein kritisches Pendant. Seit dem Studium-Aufsatz arbeitete Schlegel indes nicht nur an einer Zurichtung des Organismusbegriffs, sondern auch das Massebegriffs. Die über verschiedene Hefte verstreuten Bemerkungen erweisen sich am Ende als erstaunlich konsistent. Jede Masse muss durch die Beziehung auf ein Ganzes bzw. ein Teil erst definiert werden. „Jedes Indiv.[iduum] constituiert eine Masse“73. Rein logisch gilt der Umkehrschluss nicht automatisch: eine Masse kann durchaus teilbar, also ein Dividuum sein, wie ein Teigklumpen. Ein Individuum, das keine Masse besitzt, ist nicht denkbar, aber größere Massen, die, ähnlich dem Modell der leibnizschen Monadologie, aus individuellen Massen zusammengesetzt sind, müssen durchaus keine Individuen sein. Massen, die keine neue gemeinsame Masse ergeben, sondern gleichsam linear miteinander verbunden werden, heißen in Schlegels Terminologie Rhapsodie. Das kommt der antiken und wörtlichen Bedeutung der Praxis des rhapsodos (der die Gesänge nicht nur vortrug, sondern je nach Gelegenheit auch immer wieder neu miteinander verband) recht nahe. Da die Rhapsodie formgebend ist, hebt sie zwar die Gestaltlosigkeit der Masse auf, aber der bloße lineare Zusammenhang der Massen schafft selbst noch keine eigentliche Organisation. Friedrich August Wolfs Argument gegen die Einheit Homers gründete sich auf den Nachweis der Sollbruchstellen, die durch die rhapsodische Technik entstanden waren. Trotz dieses Mangels kann auch eine Rhapsodie als Ganzes wiederum als Masse gelten. Diese besondere Rekursivität im Verhältnis von Masse und Rhapsodie, die an die potenzierende Rekursivität der Philosophie der Philologie erinnert, macht für Schlegel das Wesen des Systems aus: „Jedes ƳƵƳƴ[System] eine ƱơƸ[Rhapsodie] von
72 73
KFSA 2, S. 131. KFSA 16, S. 163.
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Massen und eine Masse von ƱơƸ[Rhapsodien].“74 Das System, Schlegels Begriff einer spezifischen Form der Philosophie, entsteht mit anderen Worten erst aus der Identifizierung von Massen und ihrer rhapsodischen Verbindung. Schlegel unterscheidet in diesem Zusammenhang drei grundlegende Aggregatzustände des Geistes, außer der Masse und der Rhapsodie zusätzlich das Fragment. Er vergleicht sie dem Körper, der Linie sowie dem Punkt und notiert: „Fragmente sagt man (sie kommen einem), Massen sammelt man, Rhapsodie dichtet man, strömt man aus. Systeme müssen wachsen.“ Dazu steht am Rand notiert: „Masse = Körper/Fragment = Punct/ ƱơƸ[Rhapsodie] = Linie.“75 Ein System ist bei Schlegel dasjenige, was sich aus dem Wachstumsprozess der Philosophie von ihrem Ende her darstellt (und deshalb die lebendige Philosophie bereits wieder verrät).76 Der entscheidende Punkt an dieser Stelle scheint aber die Intransivität des Wachsens zu sein. Es gibt kein Agens, das, wie das „Man“ die Fragmente, Massen oder Rhapsodien, ein System erzeugt. Damit nähert sich das System, bestärkt durch die organische Wachstumsmetaphorik, dem Organismusbegriff. Das System auf der einen und Fragmente, Massen, Rhapsodien auf der anderen Seite befinden sich kategorial auf verschiedenen Ebenen, sind aber miteinander verschränkt, weil erst das Wachstum der letzteren sich zum ersteren zusammenfügt. Die Masse als Körper ist die Grundeinheit bzw. der Oberbegriff für die Zusammensetzung von Fragmenten und Rhapsodien mit Bezug auf ein Ganzes. Indem sie gesammelt bzw. identifiziert werden, lassen sich zugleich kleinere Einheiten herausarbeiten, die ihrerseits als Massen begreifbar sind. So entsteht eine Arbeitsteilung oder dreigliedrige Bewegung, die jeweils eine Potenzstufe repräsentiert. Es handelt sich um genau jenes Muster, das sich hinter den rätselhaften Passagen der Wilhelm Meister-Rezension verbirgt. „Der angeborne Trieb des durchaus organisierten und organisierenden Werks, sich zu einem Ganzen zu bilden, äußert sich in den größeren wie in den kleineren Massen.“ – Das heißt nichts anderes, als dass die Organisation des Werks einem Bildungsprozess entspricht, der aus den Massen herausgearbeitet werden muss. Die „Bildung eines strebenden Geistes“77, auf die gleich im ersten Satz angespielt wird, ist nicht so sehr jene des Protagonisten, als vielmehr des Werkes selbst. 74 75 76
77
KFSA 16, S. 164. Ebd., S. 165. Über Platon heißt es entsprechend, Hegels Phänomenologie antizipierend: „Plato hatte kein System, sondern nur eine Philosophie; die Philosophie eines Menschen ist die Geschichte, das Werden, Fortschreiten seines Geistes, das allmähliche Bilden und Entwickeln seiner Gedanken. Erst dann, wenn er mit seinem Denken fertig und zu einem bestimmten Resultat gekommen ist, entsteht ein System.“ (KFSA 11, S. 118.) KFSA 2, S. 126.
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Von allen Lesern, die sich überhaupt mit Schlegels Überlegung zum „organisierten und organisierenden“ Werk auseinandergesetzt haben, ist bisher übersehen worden, dass sich diese Stelle gar nicht auf den gesamten Roman, sondern lediglich das 1. Buch bezieht, über dessen interne Gliederung Schlegel schreibt, dass „die kleineren deutlich geschiednen Massen und Kapitel mehr oder weniger jede für sich ein malerisches Ganzes [bilden]“78. Das 1. Buch ist selbst ein Werk im Werk und besteht aus Teilen mit einer gewissen Autonomie bzw. Individualität, die rhapsodisch zusammengefügt sind und deshalb ein Ganzes ergeben, das sich als Bildungsprozess entpuppt. Im Zuge dieses Prozesses muss es aber zu einer Arbeitsteilung kommen, nämlich zwischen dem Künstler als Produzenten der Fragmente und Rhapsodien einerseits und dem Interpreten andererseits, der in ihnen die Organisation der Massen erkennt. Auch hier drückt sich Schlegel mit unmissverständlicher Klarheit aus, kurz vor der Passage mit dem entscheidenden Satz: Es ist schön und notwendig, sich dem Eindruck eines Gedichtes ganz hinzugeben, den Künstler mit uns machen zu lassen, was er will, und etwa nur im einzelnen das Gefühl durch Reflexion zu bestätigen und zum Gedanken zu erheben, und wo es noch zweifeln oder streiten dürfte, zu entscheiden und zu ergänzen. Dies ist das Erste und das Wesentlichste. Aber nicht minder notwendig ist es, von allem Einzelnen abstrahieren zu können, das Allgemeine schwebend zu fassen, eine Masse zu überschauen, und das Ganze festzuhalten, selbst dem Verborgensten nachzuforschen und das Entlegenste zu verbinden.79
Hier geht es längst nicht mehr um Goethes Roman als Einzelfall, sondern um eine allgemeine Theorie der modernen Literatur. Überhaupt nennt Schlegel, wie auch schon Manuel Bauer aufgefallen ist,80 den Autor nicht beim Namen. Das liegt freilich nur zum Teil an der allgemeinen Ausrichtung der (vermeintlichen) Rezension. Viel wichtiger ist, dass Schlegel im Begriff des Künstlers auch die Rolle des Künstlers betonen will, der bewusst mit dem Material arbeitet, um einen Effekt zu erzielen, ohne in dieser Rolle bereits die Komplexität des Kunstwerks erschöpft zu haben. Das „Wesentlichste“ ist die Anerkennung des Künstlers und seiner Effekte, dann aber kommt eine zweite Funktion ins Spiel, die der „Künstler“ nicht mehr selber steuert. Das Allgemeine „schwebend“ zu erfassen heißt, in der von Fichte adaptierten Terminologie,81 zugleich das Konkrete 78 79 80 81
KFSA 2, S. 129. Ebd., S. 130 f. Manuel Bauer: Schlegel und Schleiermacher. Frühromantische Kunstkritik und Hermeneutik. Paderborn 2011. „Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung,
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nicht aufzugeben, beides zugleich zu bedenken: die einzelnen Elemente und Massen, aber auch das Ganze, das ihnen die Form gibt und von ihnen geformt wird. Dazu bedarf es bei Fichte der produktiven Einbildungskraft, bei Schlegel einer Reflexion, die über die reine Bestätigung der künstlerischen Absichten hinausgeht.82 Vor dem Hintergrund der ästhetischen Versenkung gilt es herauszufinden, „wie das Ganze konstruiert“83 sei. In der Rekonstruktion der Konstruktion kann es nun aber nicht darum gehen, die Konstruktionsprinzipien als Absichten oder, in der kantischen Terminologie, Zwecke zu entdecken, die der Autor um gezielter Wirkungen willen einsetzt. Vielmehr läuft die Betrachtung darauf hinaus, die einzelnen Massen in ihrem Eigenwert zu bestätigen, die einen organischen Zusammenhang ergeben, den der Autor selbst nicht überschauen konnte, nicht zum Zweck seiner Mittel machte: Obgleich es also den Anschein haben möchte, als sei das Ganze ebenso sehr eine historische Philosophie der Kunst, als ein Kunstwerk oder Gedicht, und als sei alles, was der Dichter mit solcher Liebe ausgeführt, als wäre es sein letzter Zweck, am Ende doch nur Mittel: so ist doch auch alles Poesie, reine, hohe Poesie. Alles ist so gedacht und so gesagt, wie von einem der zugleich ein göttlicher Dichter und ein vollendeter Künstler wäre; und selbst der feinste Zug der Nebenausbildung scheint für sich zu existieren und sich eines eignen selbständigen Daseins zu erfreuen.84
Dichter ist Goethe, weil er mehr ist als Künstler, weil eben nicht alles wirkungsästhetisch aus einem vorhergefassten Plan ableitbar ist. Das ist auch „Poesie“ im Unterschied zum „Kunstwerk“. Eine historische Philosophie, die nur auf den Kunstcharakter, nicht aber auf ihren poetischen Charakter Rücksicht nimmt, verfehlt auch in philosophischer Hinsicht die Eigenart des Romans, weil sie nicht das „für sich“-Existieren der Organisation erfasst. Zwar lässt sich empirisch alles auf Goethe zurückführen, aber eben unter verschiedenen Perspektiven: einmal in seiner Funktion als „vollendeter Künstler“, dann
82
83 84
zwischen Endlichem, und Unendlichem in der Mitte schwebt; und demnach wird durch sie allerdings A+B. zugleich durch das bestimmte A. und zugleich durch das unbestimmte B. bestimmt, welches jene Synthesis der Einbildungskraft ist, von der wir so eben redeten. – Ienes Schweben eben bezeichnet die Einbildungskraft durch ihr Produkt; sie bringt dasselbe gleichsam während ihres Schwebens, und durch ihr Schweben hervor.“ (Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe. Hg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky. Stuttgart 1964 ff. Bd. I.2., S. 360). Dazu KFSA 2, S. 182 f. [116]. „[…] wer dem ästhetischen Schein des Werkes traut, der unterschätzt seine Bedeutung“ (Matthias Schöning: Ironieverzicht. Friedrich Schlegels theoretische Konzepte zwischen ‚Athenäum‘ und ‚Philosophie des Lebens‘. Paderborn 2002, S. 114). KFSA 2, S. 131. Ebd., S. 132.
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wieder als „göttlicher Dichter“. Die „schulgerechte Kunstbeurteilung des göttlichen Gewächses“85, gegen die Schlegel sich gleich im Anschluss ausspricht, ist eben deshalb inadäquat, weil sie höchstens seiner artistischen, nicht aber seiner organizistischen Logik, die Schlegel durch die Metapher des Gewächses unterstreicht, gerecht werden kann. Die Verbindung des ‚göttlichen‘ Dichters zum ‚göttlichen‘ Gewächs ist offensichtlich; das herkömmliche Kunsturteil ist ihm inkommensurabel, weil ihm auf der Suche nach dem Mechanismus der Kunst das Verständnis für ihr Wachstum fehlt. Die Erkenntnis der Organisation in dem von Kant abgeleiteten Sinn führt aber auch über das Verständnis der Poesie (im Unterschied zur bloßen Kunst) hinaus, nämlich zum geistigen Zusammenhang, der eigentlich den Zusammenhang der Massen garantiert: „je tiefer“ man forsche, „je mehr innere Beziehungen und Verwandtschaften, je mehr geistigen Zusammenhang“ entdecke man.86 Die Erforschung der Organisation ist die Erforschung der Massen, und da Massen auf den Begriff des formgebenden Geistes bezogen sind, am Ende der Königsweg zu dem, was das Werk im Grunde zusammenhält: „Über die Organisation des Werks muß der verschiedne Charakter der einzelnen Massen viel Licht geben können.“87 Deutlich zeichnen sich darunter die Linien ab, die über die Philosophie der Philologie von F. A. Wolf und Winckelmann herkommen. Da für die Moderne eine Einsicht in ihren Geist nicht, wie Winckelmann für die Antike, zur Verfügung steht, ein Verzicht auf ihn aber der Resignation in die geistlose Mikrologie gleichkäme, wird aus der Not eine Tugend gemacht durch die Annahme, dass er sich gerade durch die Mikrologie und das Studium der Massen à la Wolf sukzessive zu erkennen gibt und deshalb im Werden, statt im Überblick zu fassen ist. Schlegel verlangt entsprechend „Beobachtung und Zergliederung, um von den Teilen zum Ganzen gesetzmäßig fortzuschreiten“ ohne dass sich die Beobachtung „ins unendlich Kleine“ verliere: Sie muß vielmehr als wären es schlechthin einfache Teile bei jenen größern Massen stehn bleiben, deren Selbständigkeit sich auch durch ihre freie Behandlung, Gestaltung und Verwandlung dessen, was sie von den vorhergehenden überkamen, bewährt, und deren innre absichtslose Gleichartigkeit und ursprüngliche Einheit der Dichter selbst durch das absichtliche Bestreben, sie durch sehr verschiedenartige doch immer poetische Mittel zu einem in sich vollendeten Ganzen zu runden, anerkannt hat. Durch jene
85 86 87
KFSA 2, S. 133. Ebd., S. 134. Ebd., S. 135.
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Fortbildung ist der Zusammenhang, durch diese Einfassung ist die Verschiedenheit der einzelnen Massen gesichert und bestätigt; und so wird jeder notwendige Teil des einen und unteilbaren Romans ein System für sich.88
Die poetische Intention wird durch die reflexive Durchdringung mit Blick auf das System, d. h. die gewordene Philosophie ergänzt. Schlegel spricht sogar von „der Höhe, zu welcher das Werk noch steigen soll; eine Höhe, auf der vielleicht die Kunst eine Wissenschaft und das Leben eine Kunst sein wird.“89 Dieser Satz, der aus der MeisterRezension einen wichtigen Text des Übergangs von Schlegels Frühwerk zum Spätwerk macht,90 beweist, wie die Reflexion, die das Werk zunächst transzendiert, doch zuletzt sein integraler Bestandteil ist. Um des Werkcharakters willen bedarf der Roman dieser Art der Reflexion, sonst bleibt er nur das Aggregat unzusammenhängender Massen ohne künstlerischen und poetischen Wert. Die Potenzierung macht aus der Poesie ein romantisches Werk im Sinne des 116. Athenaeum-Fragments, das „die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik“ zusammenführt und alles umfasse „was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang“. Aus der „endlosen Reihe von Spiegeln“ heraus, die die Reflexion „in der Mitte schweben“ lassen, ist die romantische Poesie dann „der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig“, und zwar, wie Schlegel betont, „nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird.“ Im Unterschied zu anderen Dichtarten, die „fertig“ seien und „nun vollständig zergliedert werden“ könnten, sei sie auf ewig „noch im Werden“ und könne „nie vollendet sein“.91 „Von außen hinein“: im organisierten Kunstwerk ist die Bildung im Unterschied zum bloßen Organismus notwendigerweise ein doppelter Prozess, zugleich willkürlich, vom Dichter gesteuert, wie auch unwillkürlich aus Perspektive des Dichters, reflexiv von außen erkannt. Die „Klassizität“ ist eine Kategorie des Urteils, die nicht dem Dichter selbst zukommt, sondern sich ebenfalls aus dem Wachstum ergibt – dem Wachstum der Urteile, die das Werk inspiriert. In gewisser Weise handelt es sich hier um eine Weiterentwicklung von Kants regulativer Vernunft, d. h. der oben 88 89 90 91
KFSA 2, S.135. Ebd., S. 128. Hier angedeutet durch den Lebensbegriff. Die Ausführung bleibt einer zukünftigen Arbeit vorbehalten. KFSA 2, S. 182 f.
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dargestellten Maxime, die die innere Zweckmäßigkeit organisierter Wesen voraussetzt, ohne sie letztlich beweisen oder alternativ über die jeweiligen Phänomene denken zu können. Bei Schlegel wird daraus eine regulative hermeneutische Maxime über die innere Zweckmäßigkeit der Massen des Kunstwerks, die gleichsam ‚von außen hinein‘ ins Werk getragen werden muss, ihm aber aufgrund der Natur dieses Werks schon inhärent ist, weil das Werk eben nur mithilfe der regulativen Urteilskraft zu dem Werk wird, das es jenseits rein mechanischer Kunst (im Sinne Kants) sein kann. Im Gegensatz zur bereits vollständig organisierten Masse der griechischen Poesie, die uns aufträgt, den Geist dieser Organisation zu ergründen ohne die auch sie für uns bloß Masse bliebe, bedarf die moderne Literatur der artifiziellen Unterstützung, die die einzelnen Teile immer wieder aufs Neue auf ein ebenfalls immer wieder neu konstruiertes Ganzes bezieht – und die, das ist die eigentliche Pointe, selber wieder einen Organismus ergibt. Für die Masse der modernen Poesie werden die Organisationsprinzipien nicht als direkte Anschauung mitgeliefert, sondern nur indirekt, indem der Leser die Selbstreflexion des Werks nachvollzieht und nach Möglichkeit übertrifft. Die Geschichte der Urteile wird selber zu einem Bildungsprozess, der mit den Werken untrennbar verbunden ist und seine eigene Systematik entwickelt. Es geht Schlegel in der Analyse der verschiedenen Teile des Romans gar nicht mehr um die Erziehung des Protagonisten oder einer sonstigen Figur, „sondern die Natur, die Bildung selbst sollte in mannichfachen Beispielen dargestellt, und in einfache Grundsätze zusammengedrängt werden“92. Schlegel unterläuft damit die schlichte Gegenüberstellung von Kants Mechanismus und Organismus, indem er viele Mechanismen einen Organismus bilden lässt – und viele Organismen einen Mechanismus. Auf diese elegante Weise lässt sich Kants Organismusbegriff dann eben doch auf die Kunst anwenden. In der nun bereits mehrfach zitierten Bezeichnung des ersten Buchs als eines „organisierten und organisierenden Werks“ deutet Schlegel die subtile Abweichung von Kant durch eine ebenso subtile grammatische Variation an.93 Es handelt sich nämlich keineswegs um ein wörtliches Zitat Kants: bei diesem erschien der Organismus als „organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“ (s. o., meine Hervorhebung) –
92
93
KFSA 2, S. 143 f. Interessant auch an dieser Stelle die Gegenüberstellung von Studium-Aufsatz und Wilhelm Meister-Rezension. Im Studium-Aufsatz ist die „Bildung“ der Masse noch („trauriges Los“!) allein „dem Zufall überlassen“ (KFSA 1, S. 255), während es über den Wilhelm Meister heißt, dass „aber der Zufall selbst hier ein gebildeter Mann“ sei (KFSA 2, S. 145). Zur subtilen grammatischen Anspielung bei Schlegel, nicht zuletzt im Wilhelm Meister-Text, s. schon Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a. M. 1987.
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und war keineswegs mit dem Begriff des (künstlichen) Werks kompatibel. Schlegel lässt „sich selbst“ weg: das Partizip „organisierenden“ ist stattdessen gerundivisch zu lesen. Gerundivisch heißt, dass das Partizip als satzwertiges Verbaladjektiv gelten muss, das semantisch eine strenge Notwendigkeit ausdrückt, keine ungewöhnliche Fügung im ausgehenden 18. Jahrhundert, als der deutsche Stil noch vornehmlich an lateinischen Übersetzungsaufgaben geschult wurde. Im heutigen Deutsch lässt es sich mit dem ersten Partizip und „zu“ ausdrücken. Der Wilhelm Meister wäre demzufolge ein organisiertes und zu organisierendes Werk. Zu organisieren ist es vom Leser, der es als Masse von Rhapsodien und Rhapsodie aus Massen betrachtet und durch diese Reflexion einerseits seine Systematik herausarbeitet, andererseits selber zum Glied einer Kette mit eigener Systematik (eigenem Geist) wird.94 Es muss zeigen, wie auch die Organisation künstlerisch gestaltet ist, gleichzeitig ist dieser Nachweis selber wieder Auftakt zur Organisation. In diesem Sinne kommt die Lektüre bei Schlegel in der Tat erstmalig, worauf Klaus Weimar hingewiesen hat,95 ohne Applikation aus, weil durch den Prozess der Lektüre und ihrer Bestimmung der Massen schon etwas neues erschaffen wird, sie selber die Applikation schon ist. Diese Zusammenhänge sind überhaupt erst der Grund, warum sich Schlegel ausgerechnet den Wilhelm Meister aussucht, um die Theorie der romantischen Literatur zu exemplifizieren. Schlegel legt genau auf die inhaltliche Rekursivität des Romans wert, die dem geschilderten doppelten Verständnis der Organisation entspricht. Deshalb ist es so wichtig, dass sich die Ausführung über die Organisation nur auf das 1. Buch bezieht, das wiederum in der Künstlichkeit des 4. Buches aufgehoben ist, ehe der Leser das Gesamtwerk wieder zum Organismus macht – ad infinitum.96 So wie der junge Wilhelm 94 95
96
Selbst wenn man der gerundivischen Lesart nicht folgen mag, bleibt das Ergebnis gleich. Der fehlende Agens muss in jedem Falle ergänzt werden. „Schlegels Hermeneutik ist, trotz des ursprünglich ganz anderen Gegenstandsbereiches, eine vervollständigte Theorie der Herderschen Interpretation. Sie erklärt, ohne es zu wollen, was Herder unbegreiflich war, obwohl er es zum Teil praktizierte: die Gleichsinnigkeit von Produktion und Interpretation, die Gegenwärtigkeit des Verstehens, die Umformung des Verstandenen durch das Verstehen und demzufolge die Entbehrlichkeit der Applikation.“ Klaus Weimar: Historische Einleitung zur literaturwissenschaftlichen Hermeneutik. Tübingen 1975, S. 108. Dieser Zusammenhang wird auch von den wenigen Forschungsbeiträgen nicht gesehen, die Schlegels Auseinandersetzung mit Kant erkennen. S. Ute Maack: Ironie und Autorschaft. Zu Friedrich Schlegels Charakteristiken. Paderborn 2002, S. 128–233, über Schlegels Meister-Rezension – Maack konstatiert zwar für das 4. Buch eine erneute „Annäherung an das Mechanische“ (S. 144), zieht daraus aber keine weitere Schlussfolgerung. Noch stärker betont Manuel Bauer die enge Verbindung der Wilhelm Meister-Rezension zu Kants Organismus-Theorie, einschließlich der Stelle des „organisierten und organisierenden Werks“ (Manuel Bauer: Schlegel und Schleiermacher [s. Anm. 80], S. 36–73). Schlegels veränderte Formulierung der Kant-Anspielung spielt indes keine Rolle. Für Bauer weicht Schlegel zwar von Kant „vorsätzlich“ ab und „unter-
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Freude am Puppen-, später Theaterspiel hat, erweist er sich am Ende selbst als Marionette der Turmgesellschaft. Deshalb auch die Bedeutung, die Schlegel der Hamlet-Episode zumisst: der Dichter und Künstler habe „die Darstellung von neuem darstellen, das schon Gebildete noch einmal bilden wollen; er wird das Werk ergänzen, verjüngen, neu gestalten“ – dies geschieht indem er es in „Glieder und Massen und Stücke“ teile und „nie in seine ursprünglichen Bestandteile“ zerlege, „die in Beziehung auf das Werk tot sind, weil sie nicht mehr Einheiten derselben Art wie das Ganze enthalten“.97 Shakespeares Drama ist ja selber berühmt für sein play-within-play. Es wird nun zum Stück im Stück im Stück, nämlich der Wilhelmhandlung, im Stück, nämlich der Lenkung durch die Turmgesellschaft, im Stück, nämlich der Komposition des Autors als Meisterregisseur. Lothario, dessen „Geist immer im Fortschreiten“ sei, so Schlegel, ist paradoxerweise zugleich „vollendet“. Deshalb sei eigentlich erst der vierte Band „das Werk selbst“, auf das die anderen Bände nur vorbereiten.98 Dieser vorläufige Abschluss des Werks ist eine wenig versteckte allegorische Beschreibung der eigenen Rolle. Denn Schlegel fügt ein weiters play-within-play hinzu. Im Wilhelm Meister werden „die letzten Fäden des Ganzen nur durch die Willkür eines bis zur Vollendung gebildeten Geistes gelenkt“99, deshalb stünden am Ende eben auch „die gediegnen Resultate einer Philosophie vor uns, die sich auf den höhern Sinn und Geist gründet“100. Damit ist nicht mehr nur Lothario gemeint, sondern auch sein interpretatorisches Alter ego – Friedrich Schlegel selbst. Der Titel Über Goethes Meister enthält zwei exquisite Wortspiele: zum einen das über als Anspielung auf die trans-zendentale Ausrichtung von Schlegels Text – viele der hier ausprobierten Denkfiguren kehren in seinen Vorlesungen zur Transzendentalphilosophie wieder. Zum anderen aber auch der Meister, der nicht nur das Buch bezeichnet, sondern auch den Meister der Interpretation, Schlegel selbst, der den Autor (im Titel zum einzigen Male beim Namen genannt) übertrifft, weil er ihn in der Lektüre auf einer höheren Reflexionsstufe noch einmal neu nachbildet, ergänzt und mit ihm über ihn hinausweist, ihn trans-zendiert. Die im Athenaeum angekündigte (nie durch einen weiteren Text eingelöste) „Fortsetzung“101 spielt genau darauf an: die Fortsetzung ist miniert“ damit Kants Unterscheidung von Kunst- und Naturprodukt (S. 41), deren neuartige Verschränkung sieht er dagegen nicht – obwohl er zugibt, dass Schlegels Privilegierung bestimmter Textteile (etwa des 4. Buches) der reinen Organismus-Metapher zuwiderläuft (S. 48). So muss Schlegels Rezension letztlich als „inkonsistentes textuelles Gebilde“ erscheinen, das im besten Falle die „kalkulierte Strategie eines ironischen Spiels“ verkörpere (S. 43). 97 KFSA 2, S. 140 f. 98 Ebd., S. 144 f. 99 Ebd., S. 144. 100 Ebd. 101 Ebd., S. 146.
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die unendliche Kette von Lektüren, die nicht nur die Rezension, sondern auch das rezensierte Werk fortsetzen. „Jedes vortreffliche Werk“, schreibt Schlegel, „wisse mehr als es sage und wolle mehr als es weiß“102 – hier liegt die eigentliche (transzendentale) Begründung des Besserverstehens, das er in den philologischen Grundsatzreflexionen herausarbeitete und im Athenaeum formulierte.103 „Nur dem, der vorlesen kann“, heißt es in der Meister-Rezension, „und sie vollkommen versteht, muß es überlassen bleiben, die Ironie, die über dem ganzen Werke schwebt, hier aber vorzüglich laut wird, denen die den Sinn dafür haben, ganz fühlbar zu machen“.104 Die romantische bzw. moderne Literatur ist vor allem deshalb modern, weil sie einen neuen Typus Leser erheischt. Das organisierte und organisierende Werk (im gerundivischen Sinne) ist die Überführung des Wolfschen Historia loquitur105 auf die moderne Poesie: die Dokumente sprechen zu uns, wenn wir sie zum Sprechen bringen, wenn wir sie aus ihrem Status als Masse erlösen. Der philologische Leser muss nach Schlegel in letzter Konsequenz prinzipiell alle Materialien des Werks mit einbeziehen, besser: erst die Summe aller Materialien ergibt den Organismus des Werks, im Unterschied zum bloßen Kunstwerk des vom Künstler autorisierten Buches. So wird Schlegel konsequenterweise auch zum Editor, namentlich mit seinem Lessing-Projekt, das ohne die dargestellten Zusammenhänge undenkbar wäre, aber auch in der gemeinsam mit Tieck veranstalteten Novalis-Ausgabe. Wenn kein ordnender Geist die Massen eines Autors immer wieder neu arrangiert, bleiben sie Massen, d. h. träge, formlose und letztlich tote Gebilde. Aber erst die Massen garantieren auch die Einheit der bildenden Systematik. In der Phänomenologie des Geistes, deren häufige Verwendung des Masse-Begriffs auffällig ist, schreibt Hegel von der „Natur des Bewußtseins, sich in sich selbst zu unterscheiden, als eine in ihre
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KFSA 2, S. 140. Vgl. ebd., S. 241 [401]. Ebd., S. 137 f. „Nunc vero nihil opus est coniecturas capere. Historia loquitur. Nam vox totius antiquitatis et, si summam spectes, consentiens fama testatur, Pisistratum Carmina Homeri primum consignasse litteralis, et in eum ordinem redegisse, quo nunc leguntur.“ Friedrich August Wolf: Prolegomena ad Homerum. 2. Aufl. Halle 1859, S. 85) – in der englischen Standardübersetzung der einzigen modernen Ausgabe: „But there is no need now to grasp for conjectures. History speaks. For the voice of all antiquity and, if you keep the heart of the matter in view, the consensus of tradition attest that Pisistratus was the first to set down the poems of Homer in writing and to have put them into the order in which they are now read.“ (F.A. Wolf: Prolegomena to Homer. 1795. Transl., with intr. and notes by Anthony Grafton, Glenn W. Most u. James E. G. Zetzel. Princeton University Press 1985, S. 137). Im Zusammenhang ist das historische Zeugnis der Dokumente gemeint, deren Faktizität selber schon die Evidenz ist, die aufgrund fehlender schriftlicher Quellen aus der Entstehungszeit der Schrift und der homerischen Epen in Zweifel gezogen werden kann (das Zeugnis der antiken Philologen).
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Christian Benne
Massen gegliederte Welt“106. Unabhängig davon, wie stark Hegel letztlich von Schlegel abhängt,107 steckt darin noch die eigentliche Pointe der Philosophie der Philologie, nämlich die Einführung der basalen Unterscheidung der phänomenalen Welt nach Massen, die in ihrem polemischen Zusammenhang als sich gegenseitig reflektierende Einheit verstanden werden können. Anders als Hegel möchte Schlegel sie aber nicht als bewusstseinsimmanent verstehen, sondern die Fülle der phänomenalen Welt in der ästhetischen Beziehung auf Dichter und Interpreten feiern, die bisweilen in derselben Person vereint sein mögen. Die Widersprüche von Goethes Roman bilden einen polemischen Zusammenhang, den Schlegel erst in der polemischen Auseinandersetzung mit Goethes Lesern, mit Kant – und mit dem Autor selbst herstellt.
106 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M. 1986, S. 328. 107 Das ist nach wie vor ein Forschungsdesiderat (vgl. aber schon Otto Pöggeler: „Ist Hegel Schlegel? Friedrich Schlegel und Hölderlins Frankfurter Freundeskreis“. In: Christoph Jamme/Otto Pöggeler (Hg.): „Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde“. Das Schicksal einer Generation der Goethe-Zeit. Stuttgart 1983, S. 325–348).
Héctor Canal
Die Philologie im Organismus der Wissenschaften Friedrich Schlegels Hefte Zur Philologie und August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über Encyklopädie Die Aufklärung gilt als das Zeitalter der Enzyklopädie – man denke dabei an durch das Dictionnaire historique et critique des Einzelkämpfers Pierre Bayle angestoßene monumental-kollektive Projekte wie die von Diderot und D’Alembert herausgegebene Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751–1780) oder die Encyclopaedia Britannica (ab 1768).1 In den deutschen Universitäten etablierte sich die Enzyklopädie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als ein allgemeines, propädeutisches und daher in der philosophischen Fakultät angesiedeltes Fach, das in Form einer ‚allgemeinen Enzyklopädie‘ gleichzeitig eine Übersicht und Klassifikation der Wissenschaften sowie eine Vorbereitung für das weitere Studium bieten sollte. Um 1800 führen drei konvergente Entwicklungen zu einer veränderten Situation. Erstens: Die Evolution vom polyhistorischen zum spezialisierten Wissen – vom Gelehrten, der auf das vorhandene, breite Wissen zurückgreift, zum Forscher, der auf neues Wissen, auf Unbekanntes zielt. Dieser Prozess geht mit der Professionalisierung des Gelehrtenstandes und mit der ansetzenden Differenzierung, Herausbildung und Institutionalisierung der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen einher und führt zu der im 19. Jahrhundert sich etablierenden Spezialisierung.2 Zweitens: Die philosophische 1
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Die Arbeit von Ulrich Dierse ist heute immer noch die zuverlässigste Standardquelle zur Enzyklopädie; vgl. Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bonn 1977. Zur Rezeption und Wirkung der Encyclopédie in Deutschland vgl. Jürgen Voss: „Verbreitung, Rezeption und Nachwirkung der Encyclopédie in Deutschland“. In: Gerhard Sauder/Jochen Schlobach (Hg.): Aufklärungen. Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1986, S. 183–192. Diese Enzyklopädien erschienen allerdings erst nach Zedlers Universal-Lexicon (1732–1754), das 72 unterschiedliche Wissensbereiche und mehrere ältere Lexika integriert und 64 Bände und 4 Supplementbände umfasst, wie die fundierte Monographie von Ulrich Johannes Schneider zeigt, die darüber hinaus eine grundlegende Untersuchung zur Praxis des enzyklopädischen Schreibens im 18. Jahrhundert bietet. Vgl. Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens. Enzyklopädisches Schreiben im Zeitalter der Aufklärung. Berlin 2013. Vgl. dazu Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen.
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Fakultät befreit sich von ihrer rein propädeutischen Funktion und wird eine autonome Fakultät, die zu modernen Berufen ausbildet. Im Streit der Fakultäten (1798) thematisiert Kant nicht nur das Verhältnis der philosophischen zu den höheren Fakultäten, sondern begründet auch die Autonomie der Philosophie dadurch, dass sie als Wissenschaft der Wissenschaften deren metatheoretische Grundlage bilde.3 Drittens: Parallel zur Aufwertung der philosophischen Fakultät etabliert sich die Philologie unter den Fittichen Heynes in Göttingen und Wolfs in Halle als eigenständiges Fach.4 Zwar erfolgte die Aufnahme der Philologie in die Enzyklopädie bereits in der frühen Neuzeit, aber erst um 1800 wird sie Gegenstand von Fachenzyklopädien wie die von Wolf und Boeckh.5 In diesem Umfeld ist die frühromantische Enzyklopädik zu verorten, die von der Alternative Aggregat/System geprägt ist und die unübersichtlich gewordene, nur willkürlich zu organisierende Materialsammlung der Polyhistorie (Aggregat) zu über-
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Physik in Deutschland 1740–1890. Frankfurt a. M. 1984, S. 7–93; konkret für die Germanistik vgl. Uwe Meves: „Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie. Die Periode der Lehrstuhlerrichtung“. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, S. 115–223. Obwohl der Begriff der Enzyklopädie in Kants Werk unscharf bleibt, übt er mit seiner Vorstellung der Enzyklopädie als System im Gegensatz zum Aggregat einen entscheidenden Einfluss auf die Nachfolger um 1800 aus. Daraus entwickeln Kantianer wie Heydenreich, Krug oder Jakob eine Enzyklopädie als Wissenschaftskunde. Vgl. Dierse: Enzyklopädie (s. Anm. 1), S. 91–121. Zur Herausbildung und Etablierung der Philologie, die mit einer intensiven Selbstreflexion verbunden ist, vgl. Nikolaus Wegmann: „Philologische Selbstreflexion. Die Frage nach der disziplinären Einheit“. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. München 1991, S. 113–126. Zu Heynes Wirkung auf das historisch-kritische Verständnis überlieferter Texte um 1800 vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt a. M. 1990, S. 196–206. Trotz seiner Verdienste für die Etablierung einer modernen Philologie wurde Heynes Leistung im 19. Jahrhundert unterschätzt, nicht zuletzt weil seine Schüler – vor allem Voß und Wolf – sich stark von ihm distanzierten; vgl. Martin Vöhler: „Christian Gottlob Heyne und das Studium des Altertums in Deutschland“. In: Glenn W. Most (Hg.): Disciplining Classics – Altertumswissenschaft als Beruf. Göttingen 2002, S. 39–54. F. Schlegel würdigt zwar die Leistung seines alten Göttinger Professors, der die Philologie vom Polyhistorismus zu differenzierten Fachdisziplinen führte, jedoch keine theoretischen Reflexionen wie Wolf unternahm. Vgl. dazu Dorit Messlin: Antike und Moderne. Friedrich Schlegels Poetik, Philosophie und Lebenskunst. Berlin/New York 2011, S. 75–78. A. W. Schlegel zielt in den Vorlesungen über Encyklopädie mit seiner Kritik an Heyne vor allem auf die umfangreichen Kommentare, die wenig über das Ganze des Werkes aussagen, sodass seine Philologie immer noch Aggregat-Charakter hat und nicht die Stufe eines organischen Systems erreicht. Vgl. August Wilhelm Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Bd. 3, Vorlesungen über Encyklopädie. Hg. von Frank Jolles und Edith Höltenschmidt. Paderborn u. a. 2006, S. 358 f. (im Folgenden zitiert als KAV III). Fachenzyklopädien, die wissenschaftstheoretische Ansprüche stellen, gewinnen am Ende des 18. Jahrhunderts an Bedeutung. Neben den o. g. philologischen Enzyklopädien ist Hegels Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften (1817) das prominenteste Beispiel einer Fachenzyklopädie.
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winden und in der Nachfolge Kants durch ein auf der Philosophie basierendes System zu ersetzen bestrebt ist. So hat beispielsweise Novalis’ Enzyklopädie, die Jean Pauls ‚Exzerptenenzyklopädik‘ folgt, einen kombinatorischen und assoziativen Charakter. Sie fungiert als Scharnier zwischen Literatur bzw. Kunst und Wissenschaft – zwischen Mathesis und Poiesis.6 Dieser Beitrag präsentiert August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über Encyklopädie (1803) als Versuch, mittels der Denkfigur des ‚Organismus‘ den fragmentarischen Charakter der romantischen Enzyklopädik in eine systematische Form zu überführen. Dabei übernimmt die Philologie, die bereits in Friedrich Schlegels berühmten Notizheften Zur Philologie (1797) prominenter Reflexionsgegenstand war, eine zentrale Funktion als Vermittlerin zwischen Philosophie und Geschichte. In einem ersten Schritt werde ich die Enzyklopädie-Konzepte der Schlegels umreißen, um die relevanten Unterschiede in der Konzeption beider Brüder aufzeigen zu können.7 In einem zweiten Schritt werde ich auf die eng mit der Enzyklopädie verbundene Philologie und ihr Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft eingehen, um abschließend eine Reflexion über das Verhältnis von Übersetzung und Enzyklopädie anzustellen. 6
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Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft in der Enzyklopädie seit dem 17. Jahrhundert siehe die einschlägige Arbeit von Andreas B. Kilcher: mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000. München 2003, zur romantischen Enzyklopädik bes. S. 379–431. Zu Novalis’ Enzyklopädik vgl. auch Gerhard Neumann: „Die frühromantische Enzyklopädie. Novalis und sein Konzept des Wissenstheaters“. In: Theo Stammen/Wolfgang E. J. Weber (Hg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Berlin 2004, S. 119–142; Jonas Maatsch: „Naturgeschichte der Philosopheme“. Frühromantische Wissensordnungen im Kontext. Heidelberg 2008, S. 143–265. Die unübersichtliche Fülle an Inhalten und Formen ist eine der Ursachen dafür, dass A. W. Schlegels Werk lange Zeit als eklektisch und unzusammenhängend abgewertet und im Vergleich zum Denken seines jüngeren Bruders wenig erforscht wurde. Nicht zuletzt weil es August Wilhelm an Originalität mangele, so das geläufige Urteil, bestehe sein einziger Verdienst darin, Friedrich Schlegels Ideen popularisiert und verbreitet zu haben, wie es in Rudolf Hayms berühmten Diktum heißt: „Apostel der Romantik, […] der Ausführer und Dolmetscher der Gedanken seines Bruders […], der geschickteste Ordner und Systematiker.“ Vgl. Rudolf Haym: Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Nachdruck der ersten Auflage, Berlin 1870/Hildesheim 1961, S. 764–768, hier S. 767. Die vorliegenden Ausführungen zu A. W. Schlegels Organismus-Modell gehen auf mein Dissertationsprojekt August Wilhelm Schlegels Philologie (TU Braunschweig) zurück, das dessen vermeintlich eklektisches Werk unter der theoretischen Klammer der Philologie – Philologie i. w. S.: sie reicht von der Phonetik bis zur Kulturwissenschaft – als ein organisches Ganzes in ein neues Licht rückt, indem die Verbindungen zwischen theoretischer Reflexion, Sprach- und Literaturgeschichte, Übersetzung und Dichtung aufgezeigt werden. Aus dieser Perspektive zeichnet sich sein Werk nicht durch das Disparate, wie von der älteren Forschung behauptet, sondern gerade eben durch seinen integrativen Charakter aus. A. W. Schlegels organologisches Modell der Künste und Wissenschaften spiegelt sich in der Struktur seines Werkes wider. Selbst organisch integriert A. W. Schlegels Werk mehrere Wissenschaften – dabei fungiert die Philologie als methodische Klammer.
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1. Der Organismus der Wissenschaften A. W. Schlegels in Berlin vor einem ausgewählten Publikum gehaltene Vorlesungen über Encyklopädie entwickeln keine Enzyklopädie im herkömmlichen Sinne, sie erstreben vielmehr eine systematische, über das bloße Aggregat hinausgehende Darstellung der Enzyklopädie.8 Denn die Encyklopädie fungiert als das wissenschaftliche Pendant zur Kunstlehre (1801–1802). Diese Berliner Vorlesungen ergänzen sich gegenseitig und bilden somit ein Ganzes, das sowohl die Kunst als auch die Wissenschaft umfasst.9 Der von Frank Jolles beobachtete Parallelismus zwischen Kunstlehre und Encyklopädie ist von großer Bedeutung für die Interpretation der Encyklopädie: An die Stelle der Kunstkritik als Mittelglied der poetischen Trias (Theorie, Kritik und Geschichte) tritt die Philologie in die enzyklopädischen Vorlesungen als Mittelglied zwischen Philosophie bzw. Theorie und Geschichte ein.10
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Einem ähnlichen Ansatz folgen Schellings Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Studiums (1803), die die Rolle der Philosophie als Grundlage für die Einheit der Wissenschaften nachdrücklich betonen. Sie bildet den trigonometrischen Punkt, aus dem die restlichen Disziplinen ihre Stellung im organischen System der Wissenschaften erhalten, vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Studiums. 2. Aufl. Hg. von Walter E. Ehrhardt. Hamburg 1990, S. 6–11. Im Unterschied zu Schelling bezieht sich A. W. Schlegel nicht auf die Strukturen der Universität. Dieser Zusammenhang wird in der Forschungsliteratur aufgrund der sehr unterschiedlichen Publikationsgeschichte beider Vorlesungszyklen oft verkannt, da die Encyklopädie etwa 200 Jahre lang im Nachlass lag und erst 2006 vollständig ediert wurde, während die restlichen Berliner Vorlesungen seit dem 19. Jahrhundert eine frühe und breite Rezeption genießen. Es gibt daher nur wenige Studien, die auf die Encyklopädie eingehen: Zu Schlegels Enzyklopädie-Verständnis und dessen Darstellung der Enzyklopädie als Organismus vgl. Dierse: Enzyklopädie (s. Anm. 1), S. 140–146. Allerdings lässt Dierse den dritten Teil der Vorlesungen, die Philologie, unberücksichtigt. Die Herausgeberin Edith Höltenschmidt liefert in ihrer Dissertation einen guten Überblick über die Struktur der Vorlesungen sowie eine fundierte Gegenüberstellung der Encyklopädie mit F. Schlegels Fragmenten Zur Philologie. Vgl. Edith Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel. Paderborn u. a. 2000, S. 490–506. Der Gedanke eines systematischen Zusammenhangs der Berliner Vorlesungen wird von Jolles entwickelt. Vgl. Frank Jolles: „August Wilhelm Schlegel als Historiker. Von seiner Göttinger Studienzeit bis zu seinem Antritt in Bonn 1818“. In: Heinz Rupp/HansGert Roloff (Hg.): Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980. Teil 4. Bern u. a. 1980, S. 432–438; Höltenschmidt folgt diesem Ansatz in der von ihr besorgten Einleitung zum 3. Band der Kritischen Ausgabe der Vorlesungen. Vgl. KAV III, S. XXIII f. In den o. g. Arbeiten von Kilcher und Maatsch, den wichtigsten Arbeiten zur romantischen Enzyklopädie, werden A. W. Schlegels Vorlesungen über Encyklopädie kaum rezipiert. Vgl. Maatsch: „Naturgeschichte der Philosopheme“ (s. Anm. 6), S. 119–123; Kilcher: mathesis und poiesis (s. Anm. 6), S. 417–420. Vgl. Jolles: „August Wilhelm Schlegel als Historiker“ (s. Anm. 9), S. 433 f.
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Als „Inbegriff [...] aller Wissenschaften“ soll die Enzyklopädie „aus allen Wissenschaften das wichtigste ausheben, und in der Kürze vortragen.“11 A. W. Schlegel verwirft die Vorstellung der Enzyklopädie als „irgend eine Masse von Kenntnissen, die man als etwas gemeinschaftliches mit einander habend, gesammelt, und unter einem besondern Namen verknüpft hat.“12 Wie umfangreich auch die Sammlung von Wissen sein möge, so sei sie dennoch der Willkür und Zufälligkeit ausgesetzt. Als negatives Beispiel führt A. W. Schlegel die Encyclopédie an – die französische Klassik und die Aufklärung sind ohnehin neben Wieland die bevorzugte Zielscheibe seiner polemischen Attacken, die nicht immer frei von Plattitüden und entstellten Lektüren sind. In diesem konkreten Fall ignoriert A. W. Schlegel in seiner Kritik der Encyclopédie D’Alemberts Begründung der alphabetischen Ordnung im Discours préliminaire, in dem der Gebrauch der alphabetischen und der enzyklopädischen Anordnung mit Querverweisen in den Artikeln der Encyclopédie erklärt wird.13 Der Grund für A. W. Schlegels scharfe Ablehnung einer als Sammlung aller möglichen Inhalte konzipierten Enzyklopädie ist sein eigenes Konzept, denn die Enzyklopädie soll seiner Ansicht nach das leisten, was die einzelnen Wissenschaften nicht leisten können,14 nicht nur die Grenzen und Berührungspunkte der Wissenschaften, ferner ihrer Unterordnung oder Priorität, sondern auch ihre allgemeine Verkettung und gegenseitigen Einflüsse zu zeigen, wie eine aus der andern schöpfen muß und dieser hinwiederum die Fortschritte in jener zu Statten kommen.15
Die Enzyklopädie solle allerdings nicht nur eine kurze inhaltliche Zusammenfassung von gesicherten Wissensbeständen bieten, sondern eine methodische Synthese und Analyse der einzelnen Wissenschaften leisten. A. W. Schlegel erkennt diese aporetische
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KAV III, S. 3. Ebd., S. 7. Vgl. Dierse: Enzyklopädie (s. Anm. 1), S. 56 f. Zu den Querverweisen in der Encyclopédie siehe Diderots Encyclopédie-Artikel und den Arbre encyclopédique in D’Alemberts Discours préliminaire. Gerade D’Alembert erstrebt eine handhabbare und übersichtliche Wissensordnung. Zur Alphabetisierung der Enzyklopädie vgl. Kilcher: mathesis und poiesis (s. Anm. 6), S. 203–229. A. W. Schlegel wirft den französischen Enzyklopädisten darüber hinaus stellvertretend für die Aufklärung vor, einen negativen Einfluss in ganz Europa ausgeübt zu haben, vgl. KAV III, S. 7. f. Allein in Deutschland habe man sich von diesem Einfluss durch den Idealismus befreien können; in dieser Hinsicht argumentiert F. Schlegel: „Nur im Id[ealismus] ist eine Encykl[opädie] möglich“. Friedrich Schlegel: Philosophische Fragmente. Zweite Epoche. II [1798–1801]. In: KFSA 18, S. 323–422, hier S. 359 [460]. KAV III, S. 10.
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Doppelbedeutung von Enzyklopädie als einer allgemeinen Darstellung und Situierung der einzelnen Wissenschaften in einem zusammenhängenden Wissenschaftsbaum einerseits und als nicht zu bewältigender Fülle an detailliertem Wissen einzelner Fächer andererseits – und schließt an die herkömmliche Vorstellung der Philosophie als Wissenschaft der Wissenschaften an. Die Philosophie bekommt die Aufgabe, das Verhältnis zwischen der Behandlung des Allgemeinen und der Vertiefung in die einzelnen spezialisierten Wissenschaften zu bestimmen: [D]ie Encyklopädie [...] muß [...] nicht bloß den Inhalt der Wissenschaften an[...]geben, sie muß uns über ihren Geist und ihre Methode aufklären. Dieß kann nur durch Philosophie geschehen, als in welcher der Mechanismus aller Methoden aus dem Wesen des menschlichen Geistes hergeleitet wird, die in ihrer ächten Gestalt immer der Geist, das inwohnende Lebensprincip aller menschlichen Wissenschaft war, von welchen verlassen diese erstarrte, und nur ein todtes Gerippe statt einer lebendigen Organisation zurückblieb.16
Diese von den Kantianern verbreitete Ansicht wird von Schelling emphatisch vertreten.17 Die Neuerung der Frühromantiker besteht darin – der zentrale Kritikpunkt der Schlegels an Fichtes Wissenschaftslehre ist eben die Vernachlässigung des historischen Denkens –, die Historie neben der Philosophie zum zweiten Standbein der Enzyklopädie zu machen: „die Encyklopädie solle uns von einem höheren Standpunkte aus, dem der Philosophie und Historie, eine Übersicht des gesamten menschlichen Wissens verschaffen.“18 In der diachronen Dimension werden Fortschritte, Rückgänge und Stillstände in der Entwicklung der Wissenschaften untersucht. Den seit dem Humanismus tradierten Gedanken der Zusammengehörigkeit der Wissenschaften ergänzt A. W. Schlegel mit einem hochmodernen Plädoyer für Multidisziplinarität, und zwar in Zeiten zunehmender Spezialisierung.19 Um die Nähe bzw. 16 17 18 19
KAV III, S. 4. Vgl. Schelling: Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Studiums (s. Anm. 8), S. 8–11. KAV III, S. 9. Kristian Köchy unterscheidet zwischen romantischer Transdisziplinarität und moderner Interdisziplinarität: Im Gegensatz zur Wissenschaft um 1800, die noch an dem utopischen Gedanken eines Ganzheitswissens festhält, ist sich die Moderne dessen Unmöglichkeit bewusst, daher sind interdisziplinäre Ansätze bereits in ihrer Konzeption begrenzt, vgl. Kristian Köchy: Ganzheit und Wissenschaft. Das historische Fallbeispiel der romantischen Naturforschung. Würzburg 1997, S. 332–360. Seine Konzeption vom multi- und transdisziplinären Arbeiten setzt A. W. Schlegel in der philologischen Praxis um, so die zentrale These meiner Dissertation, indem seine historischen, kultur- und literaturwissenschaftlichen Studien, seine sprachtheoretischen und -historischen Untersuchungen, seine Ästhetik, seine Dichtung und die Über-
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Distanz zwischen den Wissenschaften zu verdeutlichen, bedient er sich zunächst zweier Bilder, der Landkarte und des Gebäudes.20 Das erste Bild ist statisch-topologisch, das zweite hierarchisch geprägt. Der für A. W. Schlegel treffende Vergleich – gleichzeitig ein zentrales Moment seiner Encyklopädie – ist jedoch die Darstellung der Wissenschaften als einen Organismus: Dann würde man die Gliederung und gegenseitige Abhängigkeit der Organe, die Beschaffenheit des Nahrungsstoffs, und die Art ihn zu verarbeiten und den Theilen zuzuführen, ferner die Krankheiten und Auswüchse, übermäßige Anschwellungen einzelner Theile welche den übrigen die Säfte entziehn, das Absterben andrer u. s. w. zu beobachten suchen müssen, und vielleicht dürfte sich alles dieß in der Geschichte der Wissenschaften deutlich genug nachweisen lassen.21
Das Bild der Enzyklopädie als Organismus oder Lebewesen korrespondiert nicht nur mit dem Verständnis der Sprache als Organismus,22 sondern ermöglicht im Gegensatz zur Landkartenanalogie auch die Darstellung der Fortschritte und Rückschläge der Wissenschaften und offenbart damit den relationalen und prozessualen Charakter von Wissen.23 Mit diesem organologischen Modell vermag A. W. Schlegel ohne
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setzungen sich gegenseitig bedingen und befördern. Obwohl Schlegel sich ähnlich wie ein Polyhistor in vielen Fächern versucht, unterscheidet sich seine Vorgehensweise radikal von der auf Wissensakkumulation gerichteten Polyhistorie des 18. Jahrhunderts, da sie auf die aktive Zusammenarbeit, den gegenseitigen Antrieb mehrerer Wissenschaften und Künste zielt – die Entwicklung der einzelnen Disziplinen hängt eng mit der Forschung auf anderen Gebieten zusammen. In der Wissenschaftsgeschichte gilt A. W. Schlegel als Gelehrter, der in Bonn eine der letzten Generalistenprofessuren bekleidete und der sich gegen die professionalisierte und spezialisierte Konkurrenz (Grimm, Lachmann, Bopp usw.) nicht durchsetzen konnte, vgl. Rainer Kolk: „Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts“. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, S. 48–114. Zur Entstehung dieses Bildes trug sicherlich A. W. Schlegels arrogantes Auftreten bei, das häufig karikiert wurde, wie in Heines Romantischer Schule. In einem soliden Aufsatz zeigt Jochen Strobel, wie A. W. Schlegel sich jenseits der tradierten Vorurteile über seine Privatperson als moderner Wissenschaftler und Wissenschaftsmanager profilierte, vgl. Jochen Strobel: „Der Romantiker als homo academicus. August Wilhelm Schlegel in der Wissenschaft“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2010 (2011), S. 298–338. Die von D’Alembert im Discours préliminaire eingeführte kartographische Analogie wurde von Kant, Sulzer oder Eschenburg verwendet. Kant und Schelling bedienen sich auch der GebäudeAnalogie. KAV III, S. 10. Vgl. dazu die linguistische Monographie von Jochen A. Bär: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und grammatischem Kosmopolitismus. Mit einem lexikographischen Anhang. Berlin/New York 1999, bes. S. 100–142. Die Organismus-Metapher wird von weiteren zeitgenössischen Autoren benutzt, wie Schlei-
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einen hierarchischen Aufbau der Wissenschaften auszukommen und sowohl die Philosophie als Grundlage als auch die Historie als diachrone Perspektive in sein Modell, das sich als Gegenprogramm zur fortschreitenden Spezialisierung verstehen lässt, zu integrieren.24 Anders jedoch als Novalis oder F. Schlegel in seinen Philosophischen Fragmenten postuliert A. W. Schlegel mit dem Organismus-Modell keine Verschmelzung der Wissenschaften untereinander oder der Poesie mit der Philosophie, der Wissenschaften mit den Künsten, sondern eine transversale Zusammenarbeit der Wissenschaften. Von einer Synthese der Wissenschaften kann bei A. W. Schlegel m. E. nicht die Rede sein, eher von einer integrativen, transdisziplinären Zusammenarbeit im Organismus bzw. System der Wissenschaften (beide Begriffe werden in der Encyklopädie synonym in Opposition zum Aggregat verwendet), von einer Aufsprengung der Fachgrenzen, die Parallelen zur frühromantischen Gattungstheorie aufweist.25 Allerdings dürfen sich A. W. Schlegel zufolge die Teildisziplinen nicht auflösen; er geht darin nicht so weit wie Hardenberg mit seinem ‚Wissenschaftskannibalismus‘ im Allgemeinen Brouillon: „Eine W[issenschaft] gewinnt durch Fressen – durch Assimiliren andrer
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ermacher oder Schelling, der vom „organischen Ganzen der Wissenschaften“ spricht. Vgl. Schelling: Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Studiums (s. Anm. 8), S. 7. Die einschlägige Arbeit von Kristian Köchy führt das romantische Organismus-Bild auf fünf Prinzipien zurück: Autonomie und Priorität, Ganzheit, Individualität, Prozessualität und Repräsentation. Organismen sind demnach autonom hinsichtlich ihrer Struktur und Entwicklungsdynamik, ihre Gesetze kommen von innen; der Organismus ist als Ganzes mehr als die Summe der einzelnen Teile; jeder Organismus ist singulär und unterscheidet sich von allen anderen Organismen; Organismen sind dynamisch lebendig-flexible Systeme, deren Teile sich verändern ohne die Einheit des Ganzen zu zerstören; jeder Teil des Organismus trägt die Signatur des Ganzen, repräsentiert das Ganze. Vgl. Köchy: Ganzheit und Wissenschaft (s. Anm. 19), S. 99–169, bes. S. 100. Köchy arbeitet das „organologische[] Weltbild“ der Romantik heraus, das u. a. darin besteht, „daß an Organismen erkannte Gesetzmäßigkeiten auf andere Gegenstandsbereiche übertragen werden“ (ebd., S. 99). Die Geschichte nimmt in der romantischen Enzyklopädie eine herausragende Bedeutung ein: „Da überhaupt alle Wissenschaft genetisch ist, so folgt, daß die Geschichte die universellste, allgemeinste und höchste aller Wissenschaften sein müsse“ (Friedrich Schlegel: Vorlesungen über Universalgeschichte (1805–06). In: KFSA 14, S. 3. In den Berliner Vorlesungen über schöne Literatur stellt A. W. Schlegel im Kontext der Gattungsdiskussion um Vergil die Verbindung von Poesie, Geschichte und Enzyklopädie dar und bezieht sich dabei auf den Topos der Ilias und Odyssee als Enzyklopädien der Antike: „Darin strebt also Vergil der Natur der Gattung keinesweges entgegen, daß er theils eine Encyklopädie der Römischen Alterthümer zu geben sucht, indem er uns überall auf den Ursprung der Ortschaften, die Ableitung der Geschlechter, die noch vorhandnen Denkmäler, die Entstehung heiliger Gebräuche führt; theils die Römische Geschichte in wenigen verständig eingetheilten Überblicken [...] kurz zusammengefaßt“ (A. W. Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Bd. 1. Vorlesungen über Ästhetik I. Hg. von Ernst Behler. Paderborn u. a. 1989, S. 609).
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Wissenschaften etc.“26 Ein weiterer Unterschied zwischen A. W. Schlegels und den Projekten von Novalis und F. Schlegel besteht darin, dass er sich auf die Geisteswissenschaften konzentriert, während die Naturwissenschaften nur in kurzen Absätzen gehandelt werden. Bekanntlich sind F. Schlegels Reflexionen zur Enzyklopädie einige Jahre vor August Wilhelms Vorlesungen entstanden, und zwar ab 1797, sodass man dessen Vorlesungen über Encyklopädie als Zeugnis der Rezeption von F. Schlegels Notizen lesen kann.27 Im Gegensatz zu der in systematischer Form geplanten und überlieferten Darstellung August Wilhelms sind Friedrichs Überlegungen zur Enzyklopädie in Fragmenten und Notizen, wie in den Heften Zur Philologie oder den Philosophischen Lehrjahren, verstreut. Entscheidend für F. Schlegels Enzyklopädik sind zum einen der fragmentarische Charakter und zum anderen die vielfältigen Kontexte der Reflexion über Enzyklopädie, die zunächst aus der Perspektive der Philologie, dann aus der Perspektive der Poesie erfolgt.28 Tatsächlich hängen die inhaltlichen Unterschiede zwischen den enzyklopädischen Modellen beider Brüder eng mit den unterschiedlichen Textsorten bzw. -formen zusammen – für den mündlichen Vortrag konzipiert, ist der Text von A. W. Schlegels Vorlesungen auf einen deutlichen Argumentationsstrang angewiesen, einer gewissen Systematik verpflichtet und rhetorisch konstruiert. F. Schlegels Herangehensweise dagegen zeichnet sich durch ihren fragmentarischen, kombinatorischen Charakter aus, wie er ausdrücklich betont: „Die Encycl[opädie] läßt sich schlechterdings und durchaus nur in Fragmenten darstellen.“29 Für F. Schlegel kann die Enzyklopädie daher nur eine fragmentarische Form einnehmen, die Kombinatorik, Willkür und Zufall reflektiert: „Auf die Encykl[opädie] kann nichts folgen als combinat.[orische] Versuche.“30 In dieser Hinsicht ist sie auf der Ebene des Buchstabens, anders als bei A. W. Schlegel, mehr Aggregat als System, mehr Konstrukt als Organismus – auch wenn der Geist systematisch sein müsse. F. Schlegels fragmentarische Schreibweise stellt den Leser vor andere Herausforderungen als ein ausformulierter Text – ein Schreibverfahren, das durchaus intendiert ist; es scheint sich bei den Notizheften nicht um eine Vorstufe für eine später auszuschreibende Schrift zu handeln.31 26 27 28 29 30 31
Novalis: „Das Allgemeine Brouillon“. In: Schriften. Bd. 3. Das philosophische Werk II. Hg. von Richard Samuel. Stuttgart 1968, S. 242–478, hier S. 268 [146]. Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder konnte F. Schlegel sein Enzyklopädie-Projekt nie durchführen, im Nachlass befinden sich allerdings zahlreiche Materialien aus diesem Projekt. Zu Friedrich Schlegels Enzyklopädik vgl. Kilcher: mathesis und poiesis (s. Anm. 6), S. 416–431; Maatsch: „Naturgeschichte der Philosopheme“ (s. Anm. 6), S. 106–142. Friedrich Schlegel: Zur Philosophie II. In: KFSA 18, S. 469–501, hier S. 485 [141]. KFSA 18, S. 347 [321]. Siehe dazu den Beitrag von Nikolaus Wegmann in diesem Band.
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Über die fragmentarische Form hinaus ist für F. Schlegels Enzyklopädik charakteristisch, dass sie aus unterschiedlichen Perspektiven heraus entwickelt wird, was gelegentlich auch zu widersprüchlichen Thesen führt; dies entspricht der ephemeren, fragmentarischen Schreibweise der Notizbücher. Die erste Annäherung an die Enzyklopädie erfolgt in Form von Philologie: „Philologische Encyclopädie widersprechend. ƶƫ = Encyclop[ädie].“32 Gleichzeitig schlägt Schlegel dafür die mehrdeutige Bezeichnung „Philosophie der Philologie“33 vor, um die Philologie durch die Verstärkung ihres selbstreflexiven Charakters von der materiellen Altertumswissenschaft zu differenzieren. Ein weiterer Eckpunkt der Enzyklopädie ist die Kunst – hier im Gegensatz zu A. W. Schlegels strikter Trennung von Kunst und Wissenschaft:34 Drei von F. Schlegels Philosophischen Fragmenten bezeugen beispielhaft die Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft in der Enzyklopädie: [1] Encykl[opädie] ist eben nichts als ƶƫ [Philologie], potenzirt durch ƶƳ [Philosophie] und π [Poesie]. / [2] Encykl[opädie] soll nichts als den Geist der ƶƳ [Philosophie] und der π [Poesie] in alle K[ünste] und W.[issenschaften] einführen. / [3] Die Encykl[opädie] muß wahrscheinl[ich] aus einer ƳƵ[Synthese] der Wl[Wissenschaftslehre] und der Kl.[Kunstlehre] construirt werden.35
Bereits das erste der hier zitierten Fragmente hebt die Identität von Philologie und Enzyklopädie hervor. Gleichzeitig plädiert F. Schlegel für eine Engführung von Kunst und Wissenschaft, und zwar als Werk eines schaffenden Genies, zugleich Künstler und Wissenschaftler, eines poeta philologus,36 der die Enzyklopädie „construirt“: sich also aus 32 33
34
35 36
Friedrich Schlegel: Zur Philologie II. In: KFSA 16, S. 57–81, hier S. 69 [92]. Das Notat lautet: „Philol[ogische] Encyclopaedie ist gar kein guter Nahme. Philosophie der Philologie sollte es heißen.“ KFSA 16, S. 62 [33]. Benne leitet aus F. Schlegels Fragmenten, die die Philologie als „bedingtes Wissen“ in Abgrenzung zur Philosophie definieren – die Philosophie sei im Sinne des Idealismus das unbedingte, absolutes Wissen – und den Begriff einer „zirkulären Lektüre“ den vermittelnden Charakter der Philologie zwischen Philosophie und Poesie ab. Vgl. Christian Benne: „Intérêt pour un savoir conditionné? Les cahiers Sur la philologie de Friedrich Schlegel“. In: Christoph König/Heinz Wismann (Hg.): La lecture insistante. Autour de Jean Bollack. Paris 2011, S. 429–446. Friedrich forderte in einem Brief vom 29. September 1798 August Wilhelm auf, „einmal etwas über die nothwendige Verbindung von Kunst und Wissenschaft zu schreiben“ (Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Die Periode des Athenäums. In: KFSA 24, S. 173 f.). Dieses Projekt wurde allerdings nie realisiert. KFSA 18, S. 361 [497]; S. 364 [520]; S. 374 [652]. Auch wenn die Schlegels als Kritiker und Übersetzer bekannt sind, verstanden sich beide ebenfalls als Dichter. In Bezug auf F. Schlegel zeigt dies der Beitrag von Mark-Georg Dehrmann in diesem Band.
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einem reichen Materialbestand Bausteine auswählt und zu einem komponierten Ganzen zusammenführt37 – anders als bei dem älteren Bruder, für den der Enzyklopädist als Taxonomist und Physiologe agiert, aber als Autor in den Hintergrund tritt. Für F. Schlegel dient das literarische Wissen als Integrationsform von Wissenschaften und Künsten.
2. Philologie als Kunst und Wissenschaft Reflexionen über die Philologie als Kunst und als Wissenschaft sucht man in den Vorlesungen über Encyklopädie vergebens38 – für F. Schlegel dagegen nehmen sie eine herausragende Bedeutung ein: Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Künstler von seinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenständen gründliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter über seine Kunst philosophieren. Soll er nicht bloß Erfinder und Arbeiter sondern auch Kenner in seinem Fache sein, und seine Mitbürger im Reiche der Kunst verstehn können, so muß er auch Philolog werden.39
Kunst lässt sich in diesem Zusammenhang verstehen als Techné, als methodische Fertigkeit, während Wissenschaft ein deduktives Verfahren voraussetzt.40 Für F. Schlegel soll 37
38
39 40
Bei A. W. Schlegel wird das organologische Modell an vielen Stellen nicht nur theoretisch reflektiert, sondern auch praktisch umgesetzt: Sein Werk ist wie ein Organismus strukturiert. Armin Erlinghagen zeigt anhand F. Schlegels Ausführungen zum Drama, dass der jüngere Schlegel den Organismus nur als Metapher benutzt und im Gegensatz zu seinem älteren Bruder die Konstruierbarkeit des Kunstwerkes betont – das gilt m. E. auch für die Enzyklopädie. Vgl. Armin Erlinghagen: „Das Konzept des ‚Ganzen‘ in Friedrich Schlegels Poetik 1793–1804. Ein systematischer Aufriss auf der Grundlage seiner Traktate über Lessing und des unveröffentlichten Notizhefts Studien des Alterthums“. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 22 (2012), S. 15–63, hier S. 44 f. Erlinghagen rekonstruiert F. Schlegels Begriff des ‚Ganzen‘ als Funktionsbegriff, der auf mehrere Inhalte angewendet wird, vgl. ebd., bes. S. 35–38. Die in einem an ihn gerichteten Brief geäußerte These Novalis’, „die Wissenschaften müssen alle poëtisiert werden“, wird in A. W. Schlegels Encyklopädie nicht ausdrücklich vertreten. Brief an A. W. Schlegel vom 24. Februar 1798. In: Novalis: Schriften. Bd. 4. Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Hg. von Richard Samuel. Stuttgart 1975, S. 252. Novalis entwirft ein Idealbild des Gelehrten, der gleichzeitig Künstler und Wissenschaftler sein sollte. Vgl. Novalis: Das Allgemeine Brouillon (s. Anm. 26), S. 339 [479]. An manchen Stellen hebt A. W. Schlegel lediglich die poetischen Ansprüche der Geschichtsschreibung und der Kunstkritik hervor. Vgl. KAV III, S. 270. Friedrich Schlegel: Athenaeums-Fragmente. In: KFSA 2, S. 165–255, hier S. 208 f. [265]. Zur Unterscheidung zwischen Kunst und Wissenschaft in den Fragmenten Zur Philologie vgl. Benne: „Intérêt pour un savoir conditionné?“ (s. Anm. 33), bes. S. 439 f.
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der Künstler gleichzeitig Wissenschaftler, Philologe sein:41 ein poeta philologus. In diesem Sinne fehle es Wolf z. B. an poetischem Geist.42 Philologie sei demnach „nichts eignes, sondern theils Wss[Wissenschaft] = [Grammatik] theils K[unst] = [Kritik].“43 Auch die Hermeneutik gehöre, wie die Kritik, der künstlerischen Sphäre an. Eine mögliche Erklärung für das Fehlen einer solchen Reflexion über die Philologie als Kunst und als Wissenschaft in A. W. Schlegels Encyklopädie ließe sich, so meine These, in der Struktur und Ausrichtung der Vorlesungsreihe selbst finden. Wie oben erläutert, bildet die Encyklopädie das wissenschaftliche Pendant der Kunstlehre, da diese Vorlesungszyklen jeweils einen wissenschaftlichen und einen künstlerischen Schwerpunkt haben, trete in der Encyklopädie die Kunst in den Hintergrund. In der Encyklopädie wird die Poesie aus dem System der Wissenschaften ausgeschlossen und durch die Philologie ersetzt; in beiden Fällen nimmt die Kritik respektive die Philologie die Vermittlungsposition zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen ein. A. W. Schlegel geht es primär um die Deduktion der Philologie als Wissenschaft und deren Verortung in der Enzyklopädie und nicht um die konkret anzuwendende Methode, kurzum um die künstlerische Dimension der Philologie, weil diese philologische Kunst an jedem unterschiedlichen Gegenstand der Forschung neu entwickelt werden muss. Ein weiteres Fragment von F. Schlegel, der die Poesie, und letzten Endes die Kunst mit der Wissenschaft verwebt sehen möchte, verdeutlicht diesen Unterschied: „Durch Vereinigung der ƶƳ[Philosophie] und ƶƫ [Philologie] – diese und das Setzen der π [Poesie] führen von selbst auf die Idee der Encykl[opädie].“44 Das Primat der Philologie in der Enzyklopädie wird auch von A. W. Schlegel in seinen Vorlesungen, wenngleich mit anderer Nuancierung, wieder aufgegriffen. Während F. Schlegel Philologie mit Enzyklopädie identifiziert, ist sie für A. W. Schlegel zunächst eine Disziplin innerhalb der Enzyklopädie, die er dem dritten Teil der Vorlesungen über Encyklopädie widmet: Im Gegensatz zum formalen ersten Teil der Encyklopädie, Philosophie, werden im zweiten, Geschichte, und im dritten, Philologie, neben Methode und Systematik eine Fülle an Materialien dargeboten. 41
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„Die ganze Geschichte der modernen Poesie ist ein fortlaufender Kommentar zu dem kurzen Text der Philosophie: Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philologie sollen vereinigt sein“, Friedrich Schlegel: Lyceums-Fragmente. In: KFSA 2, S. 147–163, hier S. 161 [115]. Dieser Themenkomplex wird in einem Tagungsband eingehend beleuchtet, vgl. dazu die Beiträge in: Christian Benne/Ulrich Breuer (Hg.): Antike – Philologie – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte. Paderborn u. a. 2011. Für Wolf ruht die Autorschaft der Epen nicht beim Dichter (Homer) sondern bei den Alexandriner Philologen, die den Text konstituierten, vgl. Matthias Buschmeier: „Friedrich Schlegels Klassizismus“. A. a. O., S. 227–250, bes. S. 240 f. Friedrich Schlegel: Zur Philosophie 1806. I. In: KFSA 19, S. 158 [42]. KFSA 18, S. 364 [516].
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A. W. Schlegels Geschichtsschreibung ist eine (in der heutigen Terminologie) kulturwissenschaftliche: Neben Politik und Religion umfasst sie sowohl Sprache als auch Literatur und ist immer mit philologischen Rückbezügen versehen.45 Die Bedeutung und das Gewicht der Philologie begründet er damit, dass sie in allen Wissenschaften präsent sei: […] Philologie, im weitesten Sinne das Studium der Äußerungen des menschlichen Geistes durch die Sprache, und die Niederlegung seiner Schätze in ihr. Sie ist folglich allgemeines Hülfsmittel bey allen wissenschaftlichen Beschäftigungen, da die Sprache das universelle Organ der Mittheilung ist.46
Die Philologie erhält eine weite Bedeutung, sie umfasst neben der Sprachwissenschaft auch die Editionsphilologie. Für A. W. Schlegel gibt es zunächst keinen Unterschied zwischen beiden Bereichen. Der Beginn der 35. Vorlesung unterstreicht dezidiert den vermittelnden Charakter der Philologie zwischen Philosophie und Geschichte, zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, und somit ihre herausragende Bedeutung im System der Wissenschaften: Wie die Historie der völlige Gegensatz der Philosophie ist, indem sie das Individuum in seiner Freyheit darstellen soll, da die Philosophie es mit dem Menschen überhaupt in seiner Gesetzmäßigkeit zu thun hat, so ist dagegen die Philologie das vermittelnde Glied zwischen beyden. In der Sprache stellt sich sowohl nationale Individualität dar, als sie auf der andern Seite nach allgemeinen Gesetzen des menschlichen Geistes construirbar ist, und so hat auch die Philologie, ihren philosophischen und ihren historischen Theil.47
Diese Textstelle markiert einen zentralen Punkt in Schlegels Vorlesungen über Encyklopädie; ohne die Philologie wäre das enzyklopädische System unvollständig und würde nicht über ein loses Aggregat hinausgehen. Die Philologie erstreckt sich durch die ganze Bandbreite der menschlichen Erkenntnis; sie vermittelt zwischen 45
46 47
Vgl. KAV III, S. 269 f. A. W. Schlegel weist bei der historischen Darstellung ständig auf Sprache und Literatur hin und verknüpft somit Geschichte und Philologie. In seinen Vorlesungen über Universalgeschichte verfolgt F. Schlegel einen anderen Schwerpunkt als sein älterer Bruder: „[D]ie moralische Entwicklung, [...] Religion und Politik“ sind „der eigentliche Gegenstand der Universalhistorie“ (KFSA 14, S. 3). Für F. Schlegel gibt es für Kunst, Wissenschaft und Technik keinen Platz in der Universalgeschichte. KAV III, S. 48. Ebd., S. 286.
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der Vernunft – Erkenntnisquelle der Philosophie – und dem entgegengesetzten Pol, der Erfahrung. Die Historie stellt die Materialien bereit, die von der Philologie aufbereitet werden. Aus der Beschäftigung der Philologie mit der sprachlichen Produktion des menschlichen Geistes und der gegenseitigen Abhängigkeit von Sprache und Denken ergibt sich der philosophische Teil der Philologie, die philosophische Grammatik mit ihrer allgemeinen Sprachreflexion und den Überlegungen zum Ursprung und zur Entwicklung der Sprache sowie zur Entstehung der Poesie. Die sprachliche Produktion steht jedoch in einer engen Wechselwirkung mit dem historischen und kulturellen Kontext, aus dem sie entstanden ist; hieraus leitet sich der historische Bereich der Philologie ab, der die vergleichende Grammatik sowie die Strukturen und die Geschichte der einzelnen Sprachen und Literaturen umfasst.48 Hinzu kommen die klassischen Teildisziplinen Kritik und Hermeneutik. Am Ende ist die Philologie nicht nur eine Einzeldisziplin im enzyklopädischen System der Wissenschaften, sie ist selbst enzyklopädisch, denn sie erstreckt ihren Aufgabenbereich über die ganze Bandbreite des vom menschlichen Geist Produzierten.49 An dieser Stelle ist das Sediment von F. Schlegels Heften Zur Philologie evident, in denen Enzyklopädie zunächst in Form von Philologie konzipiert wird. Ein Unterschied besteht allerdings darin, dass A. W. Schlegel die Philologie nicht nur im Sinne der Altphilologie verstanden wissen will. Tatsächlich haben die enzyklopädischen Projekte der Brüder Schlegel eine unterschiedliche Orientierung: F. Schlegels Hefte Zur Philologie sind als Auseinandersetzung mit Wolfs Prolegomena ad Homerum entstanden und beziehen sich daher zuvörderst auf das klassische Altertum; 50 A. 48
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Hierin folgt A. W. Schlegel Wolfs Unterscheidung zwischen der historischen und der philosophischen Dimension der Philologie: „so muss jedes Studium, das eine historische Basis hat, zugleich philosophisch werden, wenn es fruchtbar werden soll für die Ausbildung des Denkvermögens und der Urtheilskraft. So wie alle Kenntnisse theils historisch, theils philosophisch sind, so muss es auch das Fach seyn, das die Werke der alten Zeit zum Gegenstande hat“ (F. A. Wolf: Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft. Leipzig 1831, S. 12 f.). An Wolf wird der Versuch kritisiert, die Philologie als systematische Wissenschaft zu begründen, der allerdings in eine geradezu unübersichtliche Gliederung in 24 Einzeldisziplinen zerfällt. Vgl. F. A. Wolf: Darstellung der Altertumswissenschaft. Leipzig 1833, S. 75 f. Die Verbindung von Geschichte und Theorie ist kennzeichnend für die romantische Philologie der Schlegels: „Die Geschichte der Philologie ist zugleich ihre Theorie, weil die Geschichte selbst nur durch Theorie zustande kam und weil die Theorie selber ihre Geschichte hat“ (Christian Benne: „Friedrich Schlegels unveröffentlichte Sätze“. In: Christian Benne/Ulrich Breuer [Hg.]: Antike – Philologie – Romantik [s. Anm. 42], S. 15–39, hier S. 28). Der frühe F. Schlegel tendiert zu einer Fokussierung der Philologie auf das klassische Altertum, wenngleich er die Philologie als Vermittlerin zwischen Antike und Moderne ansieht und diese Scharnierposition fruchtbar macht: „In der Antike entdeckt Schlegel schrittweise die Moderne
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W. Schlegels Vorlesungen dagegen sind vielmehr als Reaktion auf die Encyclopédie entstanden. Aber auch für A. W. Schlegel behält die Altphilologie den Vorrang als Studium einer in sich geschlossenen Epoche, die die vollständigste erhaltene Sammlung von Texten, Zeugnissen und weiteren Gegenständen bietet, und, da sie lange abgeschlossen ist, eine objektive Annäherung ermöglicht. Ein weiterer Vorteil des Studiums des griechischen und römischen Altertums beruht auf dessen relativer Nähe zur zeitgenössischen europäischen Kultur, sodass es auch noch für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden kann. A. W. Schlegel erweitert aber seine Ausführungen zur Philologie auf neuere Sprachen, wie Englisch, Deutsch oder die romanischen Sprachen (Vorlesungen 41 und 42). Er zeigt, wie auch Wolf oder Boeckh, ein weites Verständnis von Philologie; alle Erscheinungen des menschlichen Geistes sind Gegenstand der Philologie: „Der Name Alterthumskunde erstreckt sich auf das Ganze der Wissenschaft, die dann nach allen Hauptrichtungen der menschlichen Thätigkeit abgetheilt werden kann.“51 Hierin geht A. W. Schlegel August Boeckh und dessen Definition der Philologie als in sich kohärente Wissenschaft des vom menschlichen Geist Produzierten, als „Erkenntnis des Erkannten“52 voraus. Alle Bereiche der Geschichte (Politik, Geographie, Gesellschaft) und der Kultur (Religion, Literatur, Kunstlehre) gehören der Philologie an, daher wird sie selbst enzyklopädisch. Er folgt damit F. Schlegels Postulaten.53
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selbst“ (Christian Benne/Ulrich Breuer: „Einleitung“. In: Christian Benne/Ulrich Breuer [Hg.]: Antike – Philologie – Romantik [s. Anm. 42], S. 7–14, hier S. 7 f.). KAV III, S. 60. Vgl. dazu Axel Horstmann: Antike Theoria und moderne Wissenschaft. August Boeckhs Konzeption der Philologie. Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 76–87. Die vollständigen Textstellen lauten bei Boeckh: „Hiernach scheint die eigentliche Aufgabe der Philologie das Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d. h. des Erkannten zu sein […]. Sieht man auf das Wesen der philologischen Tätigkeit selbst, indem man alle willkürlich und empirisch gesetzten Schranken wegnimmt und der Betrachtung die höchste Allgemeinheit giebt, so ist die Philologie – oder, was dasselbe sagt, die Geschichte Erkenntniss des Erkannten“. In: August Boeckh: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. 2. Aufl. Leipzig 1886, S. 10 f. Gerade durch dieses letzte Zitat wird die Verknüpfung zwischen Geschichte und Philologie transparent. Zur Rolle der klassischen Philologie für die Herausbildung der modernen Geschichtsschreibung vgl. Christiane Hackel: Die Bedeutung August Boeckhs für den Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen. Würzburg 2006. Diese umfassende Konzeption der Philologie von der Mikrologie bis zur Enzyklopädie wurde bereits von Friedrich Schlegel in den Fragmenten Zur Philologie postuliert. Vgl. Andreas Arndt: „‚Philosophie der Philologie‘. Historisch-kritische Bemerkungen zur philosophischen Bestimmung von Editionen“. In: Editio 11 (1997), S. 1–19, bes. S. 6–13; im Anschluss an Arndt deutet Christian Benne diese Tendenz Schlegels als einen Versuch, Winckelmann mit Wolf, die Einheit und den Geist der Antike mit der Mikrologie und dem Buchstabe zu vereinigen. Vgl. Benne: „Friedrich Schlegels unveröffentlichte Sätze“ (s. Anm. 49), S. 20.
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3. Enzyklopädie und Übersetzung Die romantische Philologie zeichnet sich, wie die romantische Poesie nach dem berühmten 116. Athenaeums-Fragment auch, durch ihren progressiven Charakter aus.54 Die Aufgabe der Alterthumskunde ist, kurz zusammengefaßt: möglichste Ergänzung eines historischen Bruchstücks. [...] Schon hier ist nach Beschaffenheit der Gegenstände zum Theil nur unendliche Annäherung möglich, und jeder Fortschritt verbreitet Licht über andres, so daß dadurch, und vollends durch jeden neuen Zuwachs noch nicht bekannter Überbleibsel des Alterthums, immer wiederhohlte Revisionen des bisher geleisteten nöthig gemacht werden.55
Diese Darstellung einer unendlichen Kette wissenschaftlicher Fortschritte ist deswegen folgenreich, weil Philologie als „unendliche Annäherung“ beschrieben wird. Erkennbar wird an dieser Stelle eine Analogie zur Übersetzung, wenn man bedenkt, dass A. W. Schlegels Definition der Übersetzung „unvollkommne Annäherung an das Original“56 lautet – oder mit einer ähnlichen Formulierung von F. Schlegel: „Jede Uebersetzung ist eine unbestimmte, unendliche Aufgabe.“57 Ein moderner Leser mag dazu verleitet werden, in solchen Aussagen der Brüder Schlegel eine gewisse Verwandtschaft zwischen der Arbeit des Übersetzers und jener des Altphilologen zu vermuten. Theoretisch konturiert gilt es jedenfalls für F. Schlegel; die erstaunliche Beobachtung, dass Übersetzung in A. W. Schlegels Vorlesungen über Enzyklopädie keine große Rolle spielt, während sie in Friedrichs Heften eingehend thematisiert wird, lässt sich, so meine These, auf den Ausschluss der Kunst aus diesen Vorlesungen und die Priorisierung der Philologie als Wissenschaft zurückführen. Denn ausgerechnet der große Übersetzer der Romantik belässt es nur bei allgemeinen Anmerkungen, wie dass „das Übersetzen ein sehr wichtiges Hülfsmittel zur erweiternden Entwicklung unsrer Sprache“ sei.58 Es besteht also eine Diskrepanz 54
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Der Begriff der ‚progressiven Universalphilologie‘ wurde von Jochen Bär geprägt: „Sie beabsichtigt eine Universalisierung der Sprache sowohl wie des Umgangs mit derselben“, vgl. Bär: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik (s. Anm. 22), S. 303–318, hier S. 282 f. Mit diesem Ausdruck wird eine Synthese von zwei Tendenzen, die in einer ‚Philologie der Philologie‘ gipfeln, angezeigt: Die Sprache als organisches Kunstwerk und die Philologie verstanden als Beschäftigung mit und Studium der Sprache, die ihrerseits zur Kunst erhoben wird. KAV III, S. 58. A. W. Schlegel: Homers Werke, von Johann Heinrich Voß. In: Sämtliche Werke. Bd. 10. Hg. von Eduard Böcking. Hildesheim 1971 [1846], S. 149 f. KFSA 16, S. 60 [18]. KAV III, S. 337. A. W. Schlegel schlägt zwei Hauptwege zur Erneuerung der Sprache vor, die Aufbereitung germanischer Archaismen und die Bereicherung durch fremde Sprachen mittels Übersetzung; vgl. KAV III, S. 335 ff. Zur Bedeutung und Stellung der Übersetzungskunst in
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zwischen der Übersetzungspraxis und der fehlenden theoretischen Verankerung im Philologie-Teil der Encyklopädie. Grund dafür ist seine Auffassung der Übersetzung als Poiesis, weshalb sie eher in die Sphäre der Kunst als in die der Wissenschaft gehört. A. W. Schlegels Übersetzungspraxis, die auf inhaltlicher und formal-metrischer Ebene eine poetische Übertragung Shakespeares oder der romanischen Literaturen verfolgt, steht in enger produktiver Wechselwirkung mit seinen sprachtheoretischen und literaturgeschichtlichen Arbeiten sowie mit der eigenen poetischen Produktion.59 Eine solche Übersetzungspraxis ist philologisch – im Sinne von A. W. Schlegel als Tätigkeit, in die die Teildisziplinen der Philologie, von der mikrologischen Analyse der Laute bis zur Kulturwissenschaft, zusammenfließen – und spiegelt das von ihm aufgestellte organologische Modell der Wissenschaften wider. Im Sinne von F. Schlegel mit seiner Konzeption der Philologie und der Enzyklopädie als Kunst und Wissenschaft ist A. W. Schlegels Übersetzungspraxis durchaus enzyklopädisch. Als Übersetzer erreicht er in der Praxis jene Synthese von Kunst und Wissenschaft, die er in seiner Theorie der Enzyklopädie verneint. F. Schlegels Notizhefte hingegen bieten aufgrund der emphatischen Betonung der Philologie als Kunst doch wichtige Überlegungen zur Übersetzungstheorie, die die poietische Dimension von Übersetzung hervorheben: Wer vollkommen ins Moderne übersetzen will, muß desselben so mächtig seyn, daß er allenfalls alles Moderne machen könnte; zugleich aber das Antike so verstehen, daß ers nicht bloß nachmachen, sondern allenfalls wiederschaffen könnte.60
Der hier erhobene hohe, ja utopische Anspruch, der Übersetzer solle sowohl im Bereich des Klassischen als auch des Romantischen gleichzeitig Interpret und Schöpfer sein, führt auf F. Schlegels Enzyklopädie-Konzept zurück. Für ihn ist Übersetzung zwar
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der Enzyklopädie sagt er jedoch nichts. Das angestrebte Projekt einer zusammenhängenden Theorie des poetischen Übersetzens, die der eigenen Übersetzungspraxis entsprechen würde, wurde nicht realisiert. Die wichtigsten Aussagen A. W. Schlegels zur Übersetzung sind in kleineren Schriften verstreut, die jeweils auf einen Einzelfall bezogen sind: Über die göttliche Komödie (1791), Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache (1795), Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters (1796), Homers Werke von Johann Heinrich Voss (1796) und Nachschrift des Uebersetzers an Ludwig Tieck (1799). Auch an manchen Stellen der Berliner Vorlesungen werden theoretische Überlegungen eingeschoben. Aus den genannten Schriften lässt sich seine Übersetzungskonzeption rekonstruieren. In meiner Dissertation wird diese Wechselwirkung anhand der Calderón-Übersetzung eingehend beleuchtet. Die beste Analyse der Shakespeare-Übersetzungen aus theoretischer und praktischer Sicht bietet immer noch Peter Gebhardt: A. W. Schlegels Shakespeare-Übersetzung. Untersuchungen zu seinem Übersetzungsverfahren am Beispiel des Hamlet. Göttingen 1970. KFSA 16, S. 65 [56].
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auch Kunst, aber eine philologische, wohlgemerkt, und hat doch einen Platz in der Enzyklopädie. F. Schlegel konzipiert die Übersetzung, die ein zentraler Bestandteil der Philologie ist, „als eine Darbietungspraxis, als [...] artistische Performanz“, die in ihrer epideiktischen Funktion als die Tür des Philologen an die Öffentlichkeit fungiert.61 Zugleich würdigt er die Leistungen seines Bruders: Das Uebersetzen gehört ganz zur ƶƫ[Philologie] ist durchaus ƶƫ[philologische] Kunst. W.[ilhelm Schlegel]s Shak[speare] in jeder Rücksicht gegen Voß Hyperion to a Satyr. Einige sind berühmt, andre sollten es seyn. Wahre Epoche in der Uebersetzungskunst.62
Indem F. Schlegel auf die Blütezeit der poetischen Übersetzung in Deutschland um 1800 verweist, gleichzeitig den Übersetzer als universalen Künstler und Wissenschaftler darstellt, deckt er die Verbindung zwischen Enzyklopädie und Übersetzung auf. Über den artistischen, improvisierenden Charakter des Übersetzers hinaus entsteht aus der romantischen Reflexion über die Enzyklopädie parallel zum Ideal des Dichter-Philologen das Bild des Übersetzers als eines idealen Enzyklopädisten.
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Zu Friedrich Schlegels Konzeption des Übersetzers als Artist vgl. Friedmar Apel: „Virtuose in der historischen Form. Philologie und Übersetzung bei Friedrich Schlegel“. In: Martin S. Harbsmeier/Josefine Kitzbichler/Katja Lubitz/Nina Mindt (Hg.): Übersetzung antiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin 2008, S. 17–27, hier S. 22. Siehe dazu den Beitrag von Elena Polledri in diesem Band. KFSA 16, S. 64 [50].
Mirco Limpinsel
Diaskeuasen des Geistes Perspektiven auf den philologischen Gegenstand bei Friedrich Schlegel, Wolf, Ast und Boeckh Wenn im Folgenden die Frage nach Friedrich Schlegels ‚Wirkung‘ auf die Philologie gestellt wird, so ist damit nicht der direkte Einfluss gemeint, den seine ‚Theorie‘ auf andere Autoren hatte, die ihn gelesen haben. Stattdessen soll nach Ähnlichkeiten gefragt werden, die hinsichtlich der hermeneutischen Objektkonstitution zwischen Schlegels Philologiekonzept und anderen, zeitgenössischen und späteren Entwürfen bestehen. Die Resultate dieses Vergleichs sagen im Prinzip nichts darüber aus, ob ausgerechnet Schlegels Texte bzw. ihre Lektüre für Ähnlichkeiten verantwortlich ist – diese Frage wird hier nicht gestellt. Gleichwohl wird sichtbar, welche für Schlegels ‚Philologie‘ spezifischen Festlegungen auch später noch verwendet werden und inwiefern also die spätere Praxis ‚schlegelianisch‘ verfährt. Hierzu soll zunächst kurz allgemein auf das Verhältnis von Objektkonstitution und philologischer Methodenbildung eingegangen werden. Im Anschluss daran kann rekonstruiert werden, von welcher Objektkonstitution Schlegel ausgeht und worin, verglichen mit anderen, populäreren Entwürfen der Zeit, Besonderheiten bestehen. Anhand zweier weiterer Autoren: Friedrich Ast und August Boeckh, wird dann exemplarisch nach Ähnlichkeiten zu Schlegels Konzept gefragt. Eine umfassende Analyse oder Darstellung der diskutierten Entwürfe kann hier indes nicht erfolgen. Der Beitrag beschränkt sich darauf, die verschiedenen Modelle zu skizzieren und auf Affinitäten hinzuweisen.
1. Objektkonstitution und philologische Methodenbildung Die Geschichte der Hermeneutik wird oft dargestellt als die sukzessive Beantwortung der Frage, was Verstehen heißt und wie es hergestellt werden kann. Was ein Text ist und welchen Sinn es hat, ihn überhaupt zum Gegenstand einer Wissenschaft zu machen, wird dabei meist als selbstverständlich vorausgesetzt und entsprechend nicht eigens thematisiert. Die Diskussion nimmt dann, beispielsweise in den philologischen Methodenkontroversen, auf die Methoden selbst Bezug, während
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Mirco Limpinsel
die Objektkonstitution meistens nicht explizit befragt wird. Dasselbe gilt auch für hermeneutische Theorien im engeren Sinne: Zwar markieren die meisten Autoren die Unangemessenheit früherer Theorien und motivieren so die Entwicklung einer neuen.1 Auch hier fällt aber auf, dass die zugrundeliegende Auffassung davon, was ein Text ist und auf welche Fragen die Interpretation überhaupt Antwort geben soll, so gut wie nie explizit gemacht wird. Die Plausibilität der jeweils vorgeschlagenen Methodologie hängt jedoch maßgeblich davon ab, ob die implizit vorausgesetzte Ojektkonstitution geteilt wird.2 Alle Methoden werden nämlich meistens als gleichsam notwendige Folgerungen aus diesen Annahmen ausgewiesen. Der Anspruch lautet dann typischerweise, die Methoden seien dem Gegenstand ‚Literatur‘ angemessen, weil sie bestimmten als wesentlich ausgezeichneten Eigenschaften Rechnung tragen. Für die Wissenschaftstheorie heißt das: Je nachdem, als was der Gegenstand vor aller Theoriebildung konzipiert wird, erscheint diese oder jene Methode als passend oder unpassend.3 Aus analytischer Perspektive könnte man die Gegenstandskonstitutionen als Präsuppositionen ansehen, die im logischen Gefüge den Status von Prämissen haben. Das Interpretieren kann dann als strikt logisch dirigierte Operation rekonstruiert werden, die allenfalls auf der Ebene der basalen Grundsätze Dissens aushalten muss, die aber als ‚Ziele‘ der Interpretation ihrerseits der Kritik ausgesetzt werden können.4 Eine wissenschaftshistorische Rekonstruktion der Philologie, die von einer solchen Beschreibung ausgeht, würde die Geschichte der philologischen Hermeneutik als sukzessive Annäherung an die ‚richtige‘ Methode sehen: Die Entwürfe würden dann als zielführende oder abseitige Antworten auf die Frage interpretiert, was Verstehen ist bzw. wie man bei der Analyse eines Textes vorgehen muss, wenn man ihm gerecht werden will. Den verschiedenen Objektkonstitutionen kann man dann entweder den 1
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Schleiermachers Äußerung, es gebe noch keine allgemeine Hermeneutik (Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Hg. und eingel. von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1977, S. 75), ist ein Beispiel dafür: Dass er die Aufklärungshermeneutiken nicht gekannt hat, ist unwahrscheinlich, und insofern verweist die Stelle eher auf einen normativen Hermeneutikbegriff im Sinne einer ‚richtigen‘ Hermeneutik. Vgl. Oliver Jahraus: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen/Basel 2004, S. 59 ff. Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch ausführlich Mirco Limpinsel: Angemessenheit und Unangemessenheit. Studien zu einem hermeneutischen Topos. Berlin 2013. Vgl. beispielsweise Christoph Dennerlein/Tilmann Köppe/Jan C. Werner: „Interpretation: Struktur und Evaluation in handlungstheoretischer Perspektive“. In: Journal of Literary Theory 2 (2008), S. 1–18, sowie Thomas Zabka: „Interpretationsverhältnisse entfalten. Vorschläge zur Analyse und Kritik literaturwissenschaftlicher Bedeutungszuweisungen“. In: Journal of Literary Theory 2 (2008), S. 51–70.
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Status von ‚Fehlern‘, zumindest von Idiosynkrasien, einräumen oder sie als subjektive Interpretationsziele aus der eigentlichen Hermeneutikgeschichte externalisieren. Zugleich kann man den ‚Einfluss‘ eines Autors wie Schlegel dann darin sehen, dass er etwa durch einen besonders originellen Einfall die philologische Methodologie weitergebracht hat. Aber auch wenn man auf alle teleologischen Implikationen verzichtet, erscheint die Hermeneutikgeschichte aus dieser Perspektive immer als die Geschichte der Beantwortung der Frage nach dem Verstehen. Demgegenüber geht die folgende Rekonstruktion davon aus, dass den hermeneutischen Objektkonstitutionen eine positive Funktion für die philologische Theoriebildung zukommt. Nicht nur war die philologische Methodenlehre häufig bemüht, sich von der logischen Form zu distanzieren, auch weisen die immensen Unterschiede zwischen den einzelnen philologischen Ansätzen darauf hin, dass hier gar nicht Antworten auf eine Frage akkumuliert werden, sondern allererst ausgehandelt wird, welche Fragen überhaupt sinnvoll an einen Text gestellt werden können. Die Geschichte der philologischen Hermeneutik ist eine Geschichte unterschiedlicher, zu bestimmten Zeitpunkten jeweils als plausibel wahrgenommener Fragesysteme. Dass die Objektkonstitutionen ihrerseits typischerweise nicht explizit markiert werden, ist dann kein Fehler der Darstellung, sondern hat eine konstitutive Funktion für die Theoriebildung: Die Methoden können nur so als einzig richtige Optionen ausgewiesen werden. Wenn ohnehin klar ist, was ein literarischer Text ist und welche Fragen man an ihn sinnvoll stellen kann, erscheinen die Methoden als mehr oder weniger notwendige Ableitungen, die auch eindeutig beurteilt werden können. Für Dissens auf der Ebene der Objektkonstitution gilt dies nicht: Was ein Text ist, ist prinzipiell nur in Form normativer Setzungen zu behaupten und kann kaum diskursiv gerechtfertigt werden.5 Dadurch, dass die Objektkonstitution latent gehalten und durch topische Plausibilitäten gestützt wird, gelingt es, den Diskurs über Literatur wissenschaftsförmig zu führen. Fragen über Kunstwerke, kann man mit Heinz von Foerster sagen, sind „undecidable questions“, Fragen, auf die es prinzipiell keine ‚richtige‘ Antwort gibt.6 Die Praxis der Objektkonstitutionen invisibilisiert diese Struktur, indem sie topisch ein bestimmtes Bezugssystem setzt, in dem dann eine effektive Beschränkung von Sinnzuschreibungsoptionen möglich wird. Eben darin besteht die Funktion der Hermeneutik. 5
6
Vgl. zur Normativität von Methoden Charles L. Stevenson: „Interpretation and Evaluation in Aethetics“. In: Max Black (Hg.): Philosophical Analysis. A Collection of Essays. Englewood Cliffs, N. J. 1963, S. 319–358. Vgl. Heinz von Foerster: „Through the Eyes of the Other“. In: Frederick Steier (Hg.): Research and Reflexivity. London u. a. 1991, S. 63–75, hier: S. 63 ff.
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Unterschiedliche Objektkonstitutionen ermöglichen unterschiedliche Modi des Sprechens über Texte. Sie stellen je besondere ‚Leitbegriffe‘ bereit, die den Gegenstand ‚Text‘ für je bestimmte philologische Diskurse intelligibel machen: Text beispielsweise als Artefakt, als Kunstwerk, als Dokument, als Zeichen, oder als Diskurs.7 Sofern es hinreichend plausibel ist, dass ein ‚Text‘ ein Vertreter der durch den gewählten Leitbegriff bezeichneten Klasse ist, ist gewissermaßen auch der Stil seiner Analyse vorgegeben. Durch die Objektkonstitution wird demnach festgelegt, als was ein Text Gegenstand der Analyse wird, das heißt: welche Fragen sinnvoll an ihn gestellt werden können und was dann als zufriedenstellende Antwort infrage kommt. Je nachdem, ob man ihn als historisches Dokument, als ‚Kunstwerk‘ oder als Mitteilungsmedium betrachtet, unterscheiden sich dann nicht nur die Resultate der wie immer methodisch angeleiteten Analyse, sondern bereits die Fragen. Ich meine deshalb, dass eine wissenschaftshistorische Rekonstruktion der philologischen Methodologie die Objektkonstitution in den Vordergrund stellen sollte. Die Frage ist dann nicht mehr, was Verstehen ist und was ein Philologe tun muss, um es zu erreichen. Stattdessen wird gefragt, als was der (literarische) ‚Text‘ konzipiert wird und welche Aussagen über einen solchen Gegenstand als sinnvoller Beitrag zur Philologie gelten – oder, präziser, welche diesbezüglichen Festlegungen zu einer bestimmten Zeit überzeugen konnten. Die Objektkonstitutionen sind insofern immer vor dem Hintergrund einer historischen Topik zu sehen, also vor dem Hintergrund zeit-, diskurs- und disziplinenspezifischer Plausibilitäten, die bestimmte Setzungen erlauben, ohne dass diese explizit markiert werden müssten.8 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann die Frage nach der Wirkung Schlegels auf andere philologische Entwürfe formuliert werden: Es interessiert nicht, was Schlegels origineller Beitrag zur Methodologie war oder was andere Autoren von Schlegel möglicherweise übernommen haben. Stattdessen ist zu fragen, ob sich hinsichtlich der Objektkonstitution Ähnlichkeiten zwischen Schlegels Theorieentwürfen und anderen, möglicherweise einflussreicheren Konzepten ausmachen lassen.
7
8
Vgl. Bernhard F. Scholz: „Zum Artefakt-Begriff der frühmodernen Poetik“. In: Jörg Schönert/ Friedrich Vollhardt (Hg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin 2005, S. 243–263. Ähnlich charakterisiert Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1998, S. 343, die latente Bezugnahme auf ‚Werte‘: Auf die Akzeptanz von Werten könne man sich fraglos verlassen; sie eigens zu markieren, würde nur „die Möglichkeit von Widerspruch zum Ausdruck bringen“.
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2. Schlegels Objektkonstitution Um die Besonderheit der Objektkonstitution herauszustellen, die Schlegel vornimmt, ist es hilfreich, kontrastiv auf populäre zeitgenössische Entwürfe einzugehen. Eine Konzeption, die sich hierfür besonders anbietet, weil sie die philologische Selbstbeschreibung in der Zeit der Jahrhundertwende wohl am stärksten prägt, ist die philologische Fachenzyklopädie von Friedrich August Wolf – auch Schlegel bezeichnet Wolf bekanntlich einmal als seine „Stütze“ in philologischer Hinsicht.9 Trotzdem kann Wolfs Hermeneutik nicht als wirklich gut erforscht gelten; so existieren zahlreiche Missverständnisse, die möglicherweise auf Schleiermachers Vereinnahmung Wolfs als Vorläufer der eigenen Theorie zurückzuführen sind. Tatsächlich zielt Wolfs Philologie auf etwas ganz anderes als Schleiermachers Hermeneutik, dem es um die zugleich grammatisch wie individuell bedingte, konkrete Textgestalt geht. Wolf ist dagegen überhaupt nicht an den idiosynkratischen Gedanken seiner Autoren interessiert, sondern sein Ziel ist es immer, die Antike als Ganzheit zu erkennen. Die Texte versteht er als historische Dokumente, und er warnt ausdrücklich davor, sie aufgrund neuerer Ansichten zu verfälschen. Der Maßstab der Interpretation soll vielmehr nur aus der Antike selbst bezogen werden, so dass der Philologe im Idealfall die eigene Zeit völlig vergisst und sich ganz in die Antike hineinstudiert. Diese Perspektivierung geht zurück auf Christian Gottlob Heynes Mythentheorie, der zufolge die antiken Mythen als historische Ausdrucksformen sachlicher Inhalte anzusehen sind,10 sowie auf zeitgenössische Projekte der protestantischen Theologie, die die Bibel als historisches, von Menschen für Menschen verfasstes Dokument verstehen.11 Eine Leseanweisung, wie sie der Göttinger Orientalist Johann Gottfried Eichhorn für die Genesis gibt, bestimmt auch Wolfs Perspektive auf die Antike. Eichhorn unterzieht die Genesis der philologischen Textkritik und kommt zu dem Befund, dass es sich nicht um einen, sondern um zwei Texte unterschiedlichen Ursprungs handelt. Er formuliert die Anweisung: Lies es [das erste Buch Mose] als zwey historische Werke der Vorwelt, und athme dabey die Luft seines Zeitalters und Vaterlandes. Vergiß also das Jahrhundert, in dem du lebst, und die Kenntnisse, die es dir darbiethet; und kannst du das nicht, so laß dir nicht träumen, daß du das Buch im Geist seines Ursprungs genießen werdest. Das Jugendalter der Welt, 9 10 11
KFSA 16, S. 52 [196]. Vgl. hierzu Luigi Marino: Praeceptores Germaniae. Göttingen 1770-1820. Dt. Übers. Göttingen 1995, S. 267 ff. Vgl. hierzu, am Fall der theologischen Hermeneutik Semlers, Gottfried Hornig: Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Tübingen 1996, S. 246 ff
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das es beschreibt, erfordert einen Geist in seine Tiefe herabgestimmt; die ersten Strahlen des dämmernden Lichts der Vernunft vertragen das helle Licht ihres vollen Tages nicht; der Hirte spricht nur einem Hirten und der uralte Morgenländer nur einem andern Morgenländer in die Seele.12
Der Maßstab der Interpretation soll demnach aus dem Text selbst bezogen werden, indem von allem aktuellen Wissen zunächst abgesehen wird. Wolf übernimmt diese Maxime und liest die Texte konsequent als Dokumente, die etwas über die Antike als solche aussagen. „Eigenthümlichkeit und Originalität“,13 für Wolf durchaus philologisches Erklärungsziel, bezieht er fast nirgends auf Einzelpersonen, sondern stets auf das Altertum insgesamt. Auch wo man logische Fehler oder ästhetische Unzulänglichkeiten finde, solle man sich, so Wolf, davor hüten, diese zu korrigieren oder vom heutigen Standpunkt aus zu beurteilen: Es geht gerade darum, die Ansicht der Antike selbst historisch getreu zu rekonstruieren.14 Das Interesse betrifft dabei nie die in den Texten verhandelten Sachen, sondern immer nur die ausgedrückte Sicht im Sinne einer historischen Tatsache: „Man muss den Text eines Schriftstellers als eine Thatsache betrachten und wie eine historische beurtheilen.“15 Eine direkte Anwendung findet diese Perspektive in Wolfs Homerstudien, wenn er die These formuliert, dass es sich bei Homer nicht um eine einzelne Person handele, sondern dass die Homerischen Epen im Zuge eines mehrere Generationen übergreifenden Redaktionsprozesses entstanden seien: Sie sind gleichsam Produkt des Altertums, und wenn wir diese Texte heute studieren, so lernen wir etwas über die Antike (und damit letztlich auch etwas über uns selbst), nicht aber erlangen wir einen wie auch immer gearteten Zugang zu den Gedanken eines Schriftstellers. Diesen historischen Umarbeitungsprozess nennt Wolf „įȚĮıࣀİȣȐȗİȚȞ“.16 Die philologische Textkritik, wie Wolf sie am Beispiel Homers demonstriert, ist zugleich das Paradigma, an dem Schlegel seine hermeneutische Objektkonstitution ausrichtet.17 In den Notizheften Zur Philologie bezeichnet er die Hermeneutik als „auch 12 13 14 15 16 17
Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung in das Alte Testament. Dritter Band. 4. Aufl. Göttingen 1823, S. 174. Friedrich August Wolf: Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert. Weinheim 1986, S. 139. Vgl. nur Friedrich August Wolf: Vorlesungen über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft, hg. von J. D. Gürtler. Leipzig 1831, S. 320. Ebd., S. 319. Friedrich August Wolf: Prolegomena ad Homerum sive de operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi. Halle 1795, S. CXXXI, Anm. 97. Vgl. Ulrich Breuer: „‚Polemik gegen d[en] Buchstaben‘. Diaskeuase und lyrisches Zeitalter
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eine Art der Kritik“.18 Im Gegensatz zu Wolf bezieht sich diese Kritik aber auf ein anderes Material. Auch wenn Schlegel sich nach eigener Auskunft an Wolfs Konzept orientiert und sich sogar an zentraler Stelle auf das Diaskeuasekonzept bezieht, weisen die beiden Modelle nämlich wichtige Unterschiede hinsichtlich ihrer philologischen Objektkonstitution auf, also hinsichtlich der Frage, was die Philologie eigentlich erklären soll. Was also soll die Philologie für Schlegel erklären? Schlegel gibt in seinen philologischen Notizheften keinen ‚Begriff der Philologie‘, auch wenn der Aufsatz, der ursprünglich daraus entstehen sollte, eben diesen Namen tragen sollte.19 Stattdessen finden sich, verteilt über die ganzen Hefte, explorative Grenzbestimmungen von ‚Philologie‘ und ‚Philosophie‘. Die Begriffe bezeichnen bei Schlegel aber weniger konkrete akademische Disziplinen als vielmehr bestimmte Aspekte, die analytisch an ein und derselben Denkoperation zu unterscheiden sind. Danach bezieht sich ‚Philosophie‘ vor allem auf die Form des Wissens. Schlegel weist an mehreren Stellen darauf hin, dass die Philosophie den Gegenstand schon voraussetzen muss, und nur die Art und Weise modifiziert, in der ich etwas über diesen Gegenstand weiß. Philosophie geht folglich von einem vortheoretisch gegebenen Material aus, das sie dann inhaltlich transformieren und neu kontextualisieren kann. Die Wahrheit solchen Wissens bezieht Schlegel aber nicht auf die Gegenstandserkenntnis selbst, sondern erst auf daran anschließende Verhältnisbestimmungen: „“20 Was der Gegenstand ist, steht schon vorher fest. Diese Bemerkungen zum Philosophiekonzept der Notizhefte charakterisieren nicht zuletzt Schlegels eigene Schreibpraxis: Er setzt, besonders in den Fragmenten, verschiedene mehr oder weniger fixe ‚Örter‘ (wie man in Anlehnung an die Topik sagen kann) immer wieder in immer neue Verhältnisse. Diese ‚Örter‘ sind inhaltlich unbestimmt, sie bilden aber gleichsam Orientierungspunkte im ‚glatten Raum‘ des Denkens. In den frühen, vor 1800 entstandenen Fragmenten lässt sich eine ganze Reihe solcher regelmäßig verwendeter ‚Örter‘ ausmachen – gemeint sind Begriffe wie Historie, Witz, Wissenschaft, Roman, Kritik, Chaos, System, Poesie, Magie, Natur, Moderne, Antike, das Absolute und dergleichen mehr; eine besondere Stellung haben zudem antike Gattungsbezeichnungen wie Tragödie, Rhapsodie, Dithyramben, Gnomen, Aphorismen. Alle diese ‚Örter‘ – es gibt viel mehr21 – werden nun
18 19 20 21
in Friedrich Schlegels frühen Notizheften“. In: Christian Benne/Ulrich Breuer (Hg.): Antike – Philologie – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte. Paderborn 2011, S. 81–100. KFSA 16, S. 62 [35]: „Ist die Hermeneutik nicht auch eine Art der Kritik?“ Vgl. Josef Körner: „Friedrich Schlegels Philosophie der Philologie“. In: Logos 17 (1928), S. 2. KFSA 18, S. 410 [1076]; Marginalie, kursiv Gesetztes im Original unterstrichen. Eine eingehende Analyse von Schlegels topischem Verfahren wäre Stoff einer eigenen, hochinteressanten Studie, die präziser und gründlicher verfahren müsste, als dies hier möglich ist. Diese Art der Topik ist nicht identisch, aber doch eng verbunden mit Schlegels ‚Kombinatorik‘
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inhaltlich so gut wie nirgends eingehend bestimmt. Sie bilden die Bezugspunkte in einem Netz von Verweisungen und Relationen, so dass durchaus der Eindruck eines systematischen Ganzen evoziert wird, ohne dass aber dessen feste Punkte je bestimmt würden: Platon ist ästhetisch, Aristoteles ist metaphysisch;22 Vernunft ist religiöser Verstand, Witz ist ästhetischer Verstand;23 Religion ist Feuer, Philosophie ist Wasser;24 Auge –– Ohr und Mund in Beziehung zu setzen mit Ʒ[Chaos]25 Combinat[orik] : Encykl[opädie] = ưƱ[Praxis] : Polit[ik]? –26 ƶƳ²ƶƫ = 27
In diesen Beispielen werden zwar normale Ist-Präpositionen formuliert, was damit gesagt wird, ist jedoch schwer zu klären, weil Subjekte wie Prädikate nur ‚Örter‘ auf einer Karte ohne definitive Koordinaten sind – vielleicht ist das die von Schlegel geforderte Verbindung von einem System und keinem System.28 Es entsteht nämlich durchaus ein System von Begriffen, die als solche wiedererkennbar sind und auch sukzessiv mit Bedeutung gefüllt werden – mit Luhmann könnte man auch sprechen von einem „Begriffsspiel, das an sich selber Halt findet“.29 Mögen dabei Relationen, Netze oder dergleichen entstehen, Realaussagen über materiale ‚Gegenstände‘ im Sinne außertextueller Entitäten sind in diesem Spiel strukturell ausgeschlossen. Hier ist jedoch zunächst nur wichtig, dass Schlegel diese Methode bezeichnet, wenn er in den Philologie-Heften von ‚Philosophie‘ spricht. ‚Philologie‘ meint dann bei Schlegel gewissermaßen den materialen Gegenpol zu diesem Konzept von Philosophie als steter Verhältnisbestimmung der Positionen im topischen Denkraum, von Philosophie also als einem Modus der Behandlung von Gegenständen. Schlegel will, so schreibt er, „[g]ewaltig insist[ieren] auf materiale Philologie.“30 Philologisch gesehen ist ein ‚Text‘ für Schlegel eine historisch konkrete Unterscheidung von Geist und Buchstabe.
22 23 24 25 26 27 28 29 30
und seinem romantischen ‚Witz‘; vgl. hierzu Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a. M. 1987, insb. S. 183 ff. KFSA 18, S. 205 [95]. Ebd., S. 269 f. [898]. Ebd., S. 318 [1517]. Ebd., S. 559 [112] Ebd., S. 377 [681]. KFSA 16, S. 72 [124]. KFSA 2, S. 173 [53]. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (s. Anm. 8), S. 1132. KFSA 16, S. 54 [222].
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Einen Text philologisch behandeln heißt gerade nicht, ihn weiterzudenken, sondern ist im Wesentlichen auf das beschränkt, was Wolf im Sinn hat. Zunächst wird das Material selbst hergestellt, das dann Gegenstand weiterer Analysen werden kann. Dies ist nicht nur Sache der Textkritik, sondern hierher gehört auch etwa das von Schlegel geforderte ‚Halbverstehen‘. Die oben zitierte Formel „ƶƳ – ƶƫ = “ besagt insofern nicht, dass von der Philosophie nichts übrig bleibt, wenn man alles abzieht, was an ihr philologisch ist, sondern, dass sie nichts mehr zu tun hätte, wenn die Philologie sie nicht mit Material versorgen würde. Wenn ihre Funktion im Relationieren und im ‚Besserverstehen‘ besteht, so braucht sie dazu notwendig auch Philologie: Ohne Ausgangsmaterial gibt es nichts weiterzudenken und somit keine philosophischen Operationen. Die Philosophie gibt einem gegebenen Material die Form des Wissens, das sie dann inhaltlich transformieren und neu kontextualisieren kann; die Philologie behandelt dieses Material selbst, ohne freilich eine philosophische Bestimmung anzustreben. Als Textkritik stellt sie sogar buchstäblich das Material her – doch dies ist nur der erste Schritt. Der Witz ist nämlich gerade, dass Schlegel in seinen Notizheften auch dafür argumentiert, dass eine rein philologische Behandlung dem Text ebenso unangemessen wäre wie eine rein philosophische. Beide Funktionen sollen einander im richtigen Maß ergänzen, und eben hierin besteht Schlegels Konzept des richtigen Verstehens. Das geht nicht zuletzt aus Schlegels bekannter Formulierung des hermeneutischen Topos vom ‚Besserverstehen’ im Athenaeumsfragment 401 hervor: Um jemanden zu verstehn, der sich selbst nur halb versteht, muß man ihn erst ganz und besser als er selbst, dann aber auch nur halb und grade so gut wie er selbst verstehn.31
Beides: Halb- und Besserverstehen muss der Philologe leisten. Diese Aufgabe lässt sich aber im Vokabular der philologischen Notizen so analysieren, dass das ‚Besserverstehen‘ eine philosophische Aufgabe, und das ‚Halbverstehen‘ eine philologische Aufgabe ist. Warum eine philologische? Weil die Tatsache, dass der Autor sich selbst nur halb verstanden hat, ein historisches Faktum ist, das zur Geschichte des Textes gehört und insofern (philologisch) erkannt werden muss. Wolf würde hier stehenbleiben und sich, überspitzt gesagt, daran erfreuen, nun den Bewusstseinsstand des Autors ebenso gut zu kennen wie dieser selbst. Schlegel fordert demgegenüber zusätzlich das philosophische Weiterdenken des Gegebenen. Durch diese Konzeption und durch die Übertragung des textkritischen Vokabulars auch auf die philosophische Komponente der Textanalyse augmentiert Schlegel den Rahmen, auf den dieses Vokabular bei Wolf bezogen war: An die Stelle des 31
KFSA 2, S. 241 [401].
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materialen Textes, also der Manuskripte, tritt bei Schlegel der Sinn des Textes. Die Autorschaft ist auch bei Wolf nicht an konkrete Einzelpersonen gebunden, vielmehr interessiert der sich gerade für den Geist des Altertums, und es gibt eine Reihe von Interpretamenten, die ihm solche Schlüsse erlauben. Schlegel fasst nun die historisch erreichten Leistungen des menschlichen Geistes in eben dem Sinne auf, in dem Wolf die Homerischen Epen behandelt: Als ‚ewiges Werden‘, als der fortgesetzten Verbesserung und Redaktion unterworfenes Material, deren ‚fertige‘ Gestalt jeweils nur das (Zwischen-)Resultat eines Prozesses ist, an dem viele Menschen beteiligt sind. Das Material der Diaskeuase ist dann der Sinn der Texte, die Diaskeuase ist nicht mehr etwas, das der Philologe rekonstruieren soll, sondern an dem er selbst aktiv teilnimmt. Indem die Verbindung von Geist und Buchstabe stets durch die „Kritik“ neu ausgehandelt wird,32 verändert sich der Sinngehalt der Texte in einem potentiell unendlichen Prozess der ‚Symphilosophie‘. Die Amalgamierung von Philosophie und Philologie gelingt nicht zuletzt aufgrund solcher Transpositionsleistungen ursprünglich philologischer Termini auf philosophische Zusammenhänge: Die ƶƳ[Philosophie] (viell[eicht] mehr als ư[Poesie]) die eigentl[iche] Heimath der Diaskeue. – Die Erklärung nach d[em] Geist tendenzirt auf eine solche Transc[endentale] höhere Kritik.33
Die Philosophie leistet für die Menschheit, was die Philologie für die Texte leistet, sie sichert das Erreichte und vervollständigt es dabei permanent: „Die Absol[ute] ij[Philosophie] ist die critica Divina d[er] Menschheit, die Conjekturalkunst d[er] Bildung. Diaskeuasen des menschl.[ichen] Geistes.“34 Die durch diese Augmentation implizierte Reflexionsfigur ist kennzeichnend für Schlegels Objektkonstitution: Die Einsicht, dass die hermeneutische Kritik der Texte ihrerseits, auf höherer Stufe, ein ‚Material‘ herstellt. Man erkennt einen Zusammenhang, an dessen Genese man gerade dadurch beteiligt ist, dass man ihn erkennt. Wie die antiken Diaskeuasten ‚sympoetisch‘ die Homerischen Epen erzeugt haben, so erzeugen die philologisch-philosophischen Kritiker den menschlichen Geist in einem andauernden Prozess. Schlegels skizzierte topische Methode ist ebenfalls nur dank dieser Reflexionsfigur möglich: Sie trägt der Einsicht Rechnung, dass Philosophie keine festsetzende, objektive Erkenntnis ist, sondern produktive Neubestimmung, bei der fixe Gehalte nur stören. Materiale Füllung erhält sie durch Philologie.
32 33 34
Vgl. KFSA 16, S. 168 [992]. Ebd., S. 160 [887]. KFSA 18, S. 114 [1015].
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3. Analoge Objektkonstitutionen Schlegels Objektkonstitution ist in der weiteren Entwicklung der Philologie nicht immer übernommen worden.35 Gerade deshalb ist es signifikant, wenn sich bei einigen Autoren doch der Gedanke einer philosophischen Augmentation des philologischen Gegenstands findet. Auf einige solcher Entwürfe soll im Folgenden hingewiesen werden.
3.1 „Hermeneutik des Geistes“ bei Friedrich Ast Friedrich Ast ist, wenn ich richtig sehe, so gut wie nie eingehend rezipiert worden, seine philologische Enzyklopädie hat sicher keine große Wirkung auf die Fachgeschichte ausgeübt. Hinsichtlich der Objektkonstitution weist sein Entwurf indes große Affinität zu Schlegel auf.36 Ein Grund für die spärliche Rezeption mag in der Explizitheit liegen, mit der Ast eben auf diese Objektkonstitution immer wieder hinweist. Wenn stimmt, was oben angenommen wurde: dass die Objektkonstitution, um zu überzeugen, typisch latent vorgenommen wird, erklärt diese Explizitheit die mangelnde Anschlussfähigkeit von Asts Konzept – explizite Objektkonstitution provoziert Ablehnung. In der Tat stellt Ast seine Grundannahme klar heraus: Die Alterthumskunde hat keine Bedeutung und Wahrheit, wenn sie das Einzelne bloss faktisch und empirisch auffasst, ohne sein höheres und eigentliches Wesen in der Idee des Ganzen zu erkennen; eben so gehaltlos und todt ist das bloss gelehrte Sprachstudium, das die Sprache nicht als Organ des Geistes erkennt und deutet, sondern sie in ihrer atomistischen Einzelnheit als ein nicht höher beziehbares, also zufälliges und blindes Wesen behandelt.37
Ast macht also klar: Der Text ist vor allem „Organ des Geistes“. Er bezieht damit gewissermaßen die Gegenposition zum ‚materialen‘ Philologieverständnis, das man bei Wolf und Schlegel ja durchaus findet. Er betont den Geist und dessen Eigenschaft, alles Getrennte (dialektisch) in sich zu vereinigen. Eben eine solche Vereinigung ist nach Ast auch das Ziel der Philologie:
35 36 37
Vgl. auch Martin Bäuerle: Kommunikation mit Texten. Studien zu Friedrich Schlegels Philologie. Würzburg 2008, S. 10 f. u. ö. Einen maßgeblichen Einfluss Schlegels auf Ast konstatiert Körner: „Friedrich Schlegels Philosophie der Philologie“ (s. Anm. 19), S. 12 ff. Friedrich Ast: Grundriss der Philologie. Landshut 1808, S. 2.
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Und dies eben ist das Ziel der philologischen Bildung, den Geist vom Zeitlichen, Zufälligen, und Subjektiven zu reinigen, und ihm diejenige Ursprünglichkeit und Allseitigkeit zu ertheilen, die dem höheren und reinen Menschen notwendig ist, die Humanität: auf dass er das Wahre, Gute und Schöne in allen, wenn auch noch so fremden, Formen und Darstellungen auffasse, in sein eigenes Wesen es verwandelnd, und so mit dem ursprünglichen, rein menschlichen Geiste, aus dem er durch die Beschränktheit seiner Zeit, seiner Bildung und Lage getreten ist, wiederum Eins werde.38
Die Fremdheit des Altertums, aus der Wolf den Leitfaden der hermeneutischen Behandlung ableitet, die Notwendigkeit nämlich, die Texte nur nach ihrem eigenen Maßstab zu beurteilen, wird durch diese Bestimmungen relativiert: Selbst die ältesten Artefakte stehen dem heutigen Philologen immer auf Augenhöhe gegenüber. Alle Differenzen sind nur zufällig, „nur zeitlich und relativ“, und das Ziel der Philologie besteht für Ast gerade darin, „den Geist vom Zeitlichen, Zufälligen und Subjektiven zu reinigen“.39 Interessant und erklärungswürdig sind die philologischen Gegenstände hiernach nur insofern, als sie etwas enthalten, das auch heute noch aktuell ist. Hierin besteht auch, neben allen Differenzen, die Parallele zwischen Ast und Schlegel: Das Interpretieren der Klassiker dient nicht nur einem historischen Interesse, es ist selbst ein Moment der kontinuierlichen Entwicklung des Geistes. Ast unterscheidet drei Ebenen der Hermeneutik, eine Hermeneutik des Buchstabens, eine Hermeneutik des Sinns und eine Hermeneutik des Geistes. Im ersten Schritt wird, vor allem durch Parallelstellen und historische Hilfsmittel, der Wortsinn grammatisch und sachlich ermittelt.40 Der zweite Schritt bezieht dann die Worterklärung auf den Geist, aber noch nicht auf den universellen Geist, sondern zunächst nur auf den Geist des Verfassers. Der Sinn hänge nämlich von den Umständen ab, also von der Absicht, der Zeit, in der der Autor lebt, und von den „Verhältnissen des öffentlichen und individuellen Lebens“.41 Bis hier verbleiben die Ausführungen im wesentlichen bei dem, was auch Wolf für die philologische Behandlung der Antike empfiehlt. Erst die Hermeneutik des Geistes vollendet das Verstehen, und erst wenn die Sprache auf sie kommt, werden Asts Formulierungen wieder esoterischer:
38 39 40 41
Friedrich Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik. Landshut 1808, S. 168 f.; Herv. im Original gesperrt. Ebd., S. 168. Ebd., S. 192 f. Ebd., S. 196.
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Erklärung des Geistes einer Schrift oder einer einzelnen Stelle ist Darlegung der Idee, die dem Verfasser vorschwebte, oder auch unbewusst ihn leitete. Die Idee ist nehmlich die höhere, lebendige Einheit, aus der sich alles Leben entfaltet, und in welche es geistig verklärt wieder zurückstrebt.42
Das Verstehen ist auch nach Asts Darstellung die Umkehrung des Produktionsvorgangs eines Textes: Die Vorstellung ist die, dass ursprünglich ein harmonischer Geist zugrunde liegt, der sich dann in Äußeres (Form) und Inneres (Inhalt) trennt, um sich schließlich im Verstehen wieder zu vereinigen.43 Ast nennt solches Hervorgehen von Vielheit aus Einheit und ihr Zurückgehen „Bildung“, und sieht darin das Universalprinzip allen Lebens überhaupt.44 Ganz analog beschreibt er die Entwicklung der Menschheit,45 die Geschichte der Tragödie,46 oder, in einem ausgerechnet Grundlinien der Philosophie betitelten Buch, die Vegetation der Pflanze: Die eigentliche Vegetation ist die äussere Entfaltung, das Wachsthum der Pflanze: Hervorstreben der Pflanzenseele aus dem materiellen (dunklen) Schosse der Erde zur lichten Wirklichkeit, d. i., ein Grünen, das in seiner Verklärung in die helleren Farben übergeht. Aus der ursprünglichen, noch verhüllten Einheit ihres Wesens bildet sie sich nehmlich in den Gegensatz des Aeusseren und Inneren hervor, und in der Versöhnung dieses Gegensatzes hat sie ihr Ziel erreicht. Die Pflanze in ihrer innerlichen Einheit (ihrem Schwerpuncte gleichsam) ist Wurzel, in ihrem geoffenbarten, entfalteten Leben Gegensatz des Aeusseren und Inneren; denn rein äusserlich (als Vielheit) ist die Blätterentfaltung, die Innerlichkeit in der Aeusserlichkeit aber ist das mit der Blätterentfaltung fortschreitende Aufsteigen des inneren Grundes, d. h., der Stamm. [...] Den Gegensatz bildet sie zur Einheit in der Blume oder Frucht, und dies ist das Ziel des Pflanzenlebens.47
Auch die Produktion von Texten denkt sich Ast als Aktualisierung dieser Struktur: Zuerst habe der Dichter eine dunkle Ahnung, aus der dann die sich gegenseitig beschränkenden Elemente flössen, um sich im fertigen Werk wiederum als Einheit
42 43 44 45 46 47
Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik (s. Anm. 38), S. 197 Ebd., S. 174 f. Dazu ausführlicher Klaus Willimczik: Friedrich Asts Geschichtsphilosophie. Im Rahmen seiner Gesamtphilosophie. Meisenheim am Glan 1967, S. 37 ff. Vgl. Ast: Grundriss (s. Anm. 37), S. 39 ff. Ebd., S. 113 ff. Friedrich Ast: Grundlinien der Philosophie. Landshut 1809, S. 76 f.
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zu präsentieren.48 Für die Hermeneutik ist nun der Buchstabe Form, nämlich „der Körper oder die Hülle des Geistes“.49 Seine inhaltliche, stoffliche Füllung ist der ‚Sinn‘. Ziel der Hermeneutik des Geistes ist es dann, die beiden zuvor ermittelten Elemente ‚Buchstabe‘ und ‚Sinn‘ als Einheit zu begreifen. Hier wird auch klar, was Ast meint, wenn er sagt, die Aufgabe der Philologie sei es, „den Geist vom Zeitlichen, Zufälligen, und Subjektiven“ zu reinigen: Beurtheilen wir z. B. eine platonische Schrift relativ und individuell, so beziehen wir ihren Geist auf den Genius des Platon, würdigen wir sie national, so ist der Massstab unserer Beurtheilung der Geist des griechischen Alterthums; wollen wir sie aber unbedingt würdigen, so müssen wir uns über den bloss relativen und nationalen Standpunct zum höchsten unbedingten erheben. Dann fragen wir, in welcher Uebereinstimmung steht die vom Platon dargestellte Idee mit der Wahrheit selbst?50
Es wird deutlich, dass hier die Textproduktion und das Verstehen nicht als zwei verschiedene Prozesse gedacht werden. Das Verstehen gehört zum Text wie die Frucht zur Pflanze. Es ist, wie die Frucht, kein Selbstzweck, sondern wiederum nur Ausgangspunkt der nächsten Phase. Die Hermeneutik ist dann aber keine Methodologie der Erkenntnis, sondern sie ist selbst ein Moment des geistigen Lebens: Produktion und Rezeption, erneute Produktion und erneute Rezeption. In dieser Festlegung besteht, bei allen Unterschieden, die Affinität dieser Objektkonstitution mit derjenigen Schlegels – während weder Asts Esoterik noch seine dialektische Konstruktion in Schlegels Werk eine Entsprechung finden.
3.2 „Erkenntnis des Erkannten“ bei August Boeckh Ein weiterer Entwurf, dessen Objektkonstitution derjenigen Schlegels zumindest auf den ersten Blick sehr nahe kommt, ist August Boeckhs 1877 postum erschienene Encyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften. Das Buch gehört zu den einflussreichsten philologischen Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts.51 Bei allen Unterschieden liegt die Affinität zu Schlegel auf der Hand: Jene Augmentation des 48 49 50 51
Vgl. Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik (s. Anm. 38), S. 187 f. Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik (s. Anm. 38), S. 191. Ebd., S. 210. Vgl. Axel Horstmann: Antike Theoria und moderne Wissenschaft. August Boeckhs Konzeption der Philologie. Frankfurt a. M. 1992, S. 14 ff.
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Bezugsrahmens, der oben als charakteristisch für Schlegels Objektkonstitution herausgestellt wurde, findet auch bei Boeckh statt. Seine bekannte, formelhafte Definition der Philologie, wonach diese „das Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d. h. des Erkannten“ leisten soll,52 trägt dieser Augmentation Rechnung: Gegenstand der Philologie sind nicht primär Texte, sondern die menschliche Erkenntnis selbst. Es geht also darum, „das ganze geistige Leben und Handeln“53 eines Volkes zu verstehen und darzustellen. Sicher ist diese Objektkonstitution nicht identisch mit derjenigen Schlegels. Aber indem die menschliche Erkenntnis selbst als unmittelbarer Gegenstand der Philologie angesehen wird, wird die bei Schlegel manifeste Tendenz zur philologisch-philosophischen Synthese fortgeschrieben. Der Begriff der Philologie ist, konstatiert Boeckh, nach seiner Definition sehr weit und deckt sich beinahe mit dem der Geschichte.54 Auch Schlegels analytische Trennung von ‚Philologie‘ und ‚Philosophie‘ findet sich bei Boeckh,55 sie findet hier aber, anders als bei Schlegel, auch Niederschlag im Konzept der Philologie als Disziplin. Wenngleich in Boeckhs Konzept Spuren der Objektkonstitution Schlegels evident sind, gilt es doch, auch die Unterschiede zu markieren. Eine offensichtlich romantische Einlassung Boeckhs findet sich in einer 1853 gehaltenen Rede Zur Begrüssung des Herrn Ernst Curtius als neu eingetretenen Mitgliedes der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften: Die zahllosen geschichtlichen Erscheinungen wollen nicht allein gesammelt sein, sie wollen analysirt, mit einander in Beziehung gesetzt und combinirt werden, und diese Verbindung, die sich bis ins Unendliche vervielfältigt, lässt immer Neues und Neues wie durch elektrische Berührung hervorspringen, zeigt immer neue Verhältnisse der Anziehung und Abstossung der massenartigen Grundstoffe: diese Analysis und Synthesis der Philologie wird ebensowenig als die mathematische oder philosophische jemals ein Ende finden, solange der menschliche Geist es der Mühe werth achtet sich und seine Schöpfungen zu betrachten.56
52 53 54 55 56
August Boeckh: Encyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften. Hg. von Ernst Bratuscheck. Leipzig 1877, S. 10; im Orig. gesperrt. Ebd., S. 56; im Orig. gesperrt. Ebd., S. 11. Ebd., S. 10. August Boeckh: „Zur Begrüssung des Herrn Ernst Curtius als neu eingetretenen Mitgliedes der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften in der öffentlichen Sitzung derselben zur Feier des Leibnizischen Jahrestages am 7. Juli 1853“. In: ders.: Gesammelte kleine Schriften. Zweiter Band: Reden, gehalten auf der Universität und in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Hg. von Ferdinand Ascherson. Leipzig 1859, S. 413–415.
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Das klingt romantisch, und in der Tat kommt Boeckhs Charakterisierung der philologischen Tätigkeit recht nah an Schlegels oben diskutierte Auffassung des philo-sophisches Umgangs mit Texten als Diaskeuase des Geistes heran. Auf den zweiten Blick fallen jedoch gewichtige Unterschiede auf: Boeckh beschreibt die unendliche Entstehung des Neuen aus der philologischen Synthesis, aus der stetigen Rekombination des Materials. Die Elemente, die „massenartigen Grundstoffe“, sieht er dabei aber als invariant an. Gerade diese Annahme bestreitet Schlegel. In einer Kölner Vorlesung zur Propädeutik und Logik von 1805/1806 formuliert er etwa Zweifel an der Auffassung, das Ich lasse sich mithilfe der Formel a=a fassen. Dieser Satz habe keine reelle Bedeutung; denn jener Gegenstand, welcher a genannt wird, verändert sich unaufhörlich; somit ist a nach Verlauf eines unendlich kleinen Zeitraums, schneller, als man jenen Satz nur aussprechen kann, nicht mehr dasselbe a, sondern schon etwas modifiziert und verändert.57
Zwar sei diese Veränderung klein und praktisch unbedeutend; „[a]llein in theoretischer Hinsicht, wo es einzig darauf ankommt, zu bestimmen, was ein Gegenstand ist, müßte auf diese mögliche Veränderung die größte Rücksicht genommen werden.“58 Versuche man aber, einen Gegenstand zu fixieren, entschlüpfe dessen „Seele“ und es bleibe „immer nur eine tote Spur zurück.“59 Boeckhs Objektkonstitution unterscheidet sich gerade aus diesem Grund von derjenigen Schlegels. Zwar übernimmt er durchaus die Bestimmungen von ‚philologisch‘ und ‚philosophisch‘, wie Schlegel sie in den Notizheften gibt, er legt die Philologie als Disziplin aber strikt auf die philologische Erkenntnis fest – Schlegel sieht ja gerade die ausgewogene Mischung beider Momente als Bedingung eines adäquaten Textverstehens an. Der Platoniker Boeckh sieht durchaus das philosophische Potential, auf das Schlegel hinweist, er beschränkt seinen philologischen Gegenstand aber ausdrücklich auf die Antike. Das Altertum, schreibt Boeckh, „soll in dem materialen Theile seiner allseitigen Eigenthümlichkeit nach als ein in sich selbst vollendeter Organismus erkannt werden“.60 Als ein in sich selbst vollendeter Organismus: Eben mit dieser Beschränkung verbietet Boeckh die Ausweitung des Erkannten auf die Gegenwart des Philologen. Boeckhs Definition der Philologie als „Erkenntnis des Erkannten“61 ist ebenfalls in diesem Sinne zu verstehen: 57 58 59 60 61
KFSA 13, S. 259. Ebd. KFSA 12, S. 331. Boeckh: Encyklopädie (s. Anm. 52), S. 56. Ebd., S. 10.
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Die Philologie kann so prinzipiell nur ex post erkennen, zur aktiven Entwicklung des Erkennens hat sie nichts beizutragen. Die in den Texten verhandelten ‚Sachen‘ haben den Philologen, so Boeckh, nicht zu interessieren, sondern nur die Tatsache, dass sie erkannt worden seien, alles was darüber hinausgeht, muss er sich regelrecht verkneifen: Philologisch sind nur die wirklich historischen Commentare, wozu auch die antiquarischen gehören. In diesen wird die Aufgabe der historischen Interpretation falsch aufgefasst [...]; indem die Sachen, die in einem Werke berührt werden, weit über das Bedürfniss der Auslegung hinaus erklärt werden, entstehen Einlegungen, die nicht zur Sache gehören. Die Philologen sind verurtheilt gelegentlich zu denken, und nicht jedem ist es gegeben diese gelegentlichen Gedanken zu verschweigen.62
Durch ein zu lebhaftes Interesse an der Sache werden also die Interpretationen geradezu falsch, sie werden zu „Einlegungen“. Der Philologe, der, mit Schlegel gesprochen, philologische und philosophische Analyse vermischt, übertreibt es, und seine Interpretationen werden aus diesem Grund sogar falsch, sie verdrehen gewissermaßen den Sinn der Texte. Obschon also Boeckh kaum als Fortsetzer des philosophisch-philologischen Syntheseprojekts Schlegels gelten kann, so weist die hier vorfindliche Objektkonstitution doch die Richtung einer dahingehenden Verschiebung. Denn auch wenn Boeckh diejenige Dimension, die Schlegel die ‚philosophische‘ nennt, gerade ausblenden will, so wird doch deutlich, dass dies eine Notwendigkeit der Philologie als Disziplin im System der Wissenschaften ist. Zugleich verlegt er aber die philologische Objektkonstitution auf die Erkenntnis, so dass gar kein inhaltlicher Unterschied mehr zwischen Philosophie und Philologie besteht, sondern nur noch ein zeitlicher. Die Philologie hat es so immer noch, wie bei Boeckhs Lehrer Wolf, mit historischen Tatsachen zu tun, diese Tatsachen sind aber nun keine Texte mehr, sondern Erkenntnisse. Auch die für Schlegel festgestellte Reflexionsfigur, also die Ansicht, die Philologie gehöre selbst dem durch sie erforschten Gegenstand an, findet sich, freilich an systematisch weniger klaren Stellen, bei Boeckh: Die Kritik habe nämlich zunächst die Aufgabe, die Objekte der Wissenschaft zu konstituieren. Dies ist nicht auf die grammatische Kritik von Manuskripten beschränkt. Für eine letzte Aufgabe hält Boeckh die Kritik aller menschlichen Werke als Ausdruck des Geistes, also eben des Gegenstands, den Schlegel der Diaskeuase unterziehen will. Auch Boeckh sieht nun, dass die Kritik des Materials immer zugleich seine ‚Diaskeuase‘ ist. Die Philologie 62
Boeckh: Encyklopädie (s. Anm. 52), S. 166.
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bestimmt Boeckh zwar als Erkenntnis des Erkannten – er sieht darin aber keine rein passive Beobachtung zweiter Ordnung.63 Der philologischen Erkenntnis der Antike kommt zugleich die Funktion zu, die ‚Antike‘ und entsprechend die ‚Moderne‘ allererst zu erzeugen: Wie sich nun in der Geschichte der Wissenschaft die Erkenntniss der Wahrheit entwickelt, so entwickelt sich in der gesammten Culturgeschichte die thatkräftige Erkenntniss der Humanität, und wenn daher die höchste Aufgabe der Kritik darin besteht, das gesammte geschichtliche Leben einer Nation oder Zeit nach dem Ideal der Humanität zu messen, so darf letzteres doch wieder nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern muss aus der Entwickelung selbst gewonnen werden. Bei der Betrachtung des Alterthums kann dies nur so geschehen, dass man die Totalität aller seiner Erzeugnisse in formaler und materialer Hinsicht zusammenfasst und ihre Gattung in der Entwickelungsskala der Menschheit bestimmt; es entsteht hierdurch die Anschauung des Antiken im Gegensatz zu dem aus demselben hervorgehenden Modernen.64
Zumindest für die Gattungsgeschichte erfüllt die Philologie demnach die Aufgabe, die Gegenstände, über die sie redet, zugleich herzustellen. Auch wenn Boeckhs ‚Erkenntnis des Erkannten‘ in Schlegels Terminologie ein ‚Halbverstehen‘ bedeutet, so wird auch diese Tätigkeit innerhalb eines höheren Zusammenhangs lokalisiert.
4. Ausblick Thema der vorigen Ausführungen waren analoge philologische Objektkonstitutionen bei Schlegel, Ast und Boeckh. Keinesfalls kann man daraus auf einen von Schlegel ausgehenden ‚Einfluss‘ schließen. Deutlich geworden ist aber, dass die Frage, was eigentlich die Philologie an einem ‚Text‘ erklären soll, unterhalb der eigentlichen Einlassungen der hermeneutischen Theorien stattfindet und dass sich auf dieser Ebene – bei allen Differenzen – durchaus Affinitäten ausmachen lassen. Die beschriebene Objektkonstitution ist auch im zwanzigsten Jahrhundert häufig anzutreffen. Derjenige Autor, der die konstatierte Reflexionsfigur am deutlichsten formuliert und infolge einer fast schon übertriebenen Rezeption auch an die Litera-
63 64
Siehe auch Boeckh: Encyklopädie (s. Anm. 52), S. 19 f., wo gefordert wird, dem Erkannten auch „in dem eigenen Denken seinen Platz anzuweisen“. Ebd., S. 257.
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turwissenschaft weitergegeben hat, ist Hans-Georg Gadamer.65 Die Parallele besteht vor allem in der Auffassung, die Kunst vermittle Wahrheit, und ihre Interpretation könne sich deshalb nicht auf die Buchstaben beschränken, sondern müsse ebenso ‚nach dem Geiste‘ verfahren; Verstehen heißt bei Gadamer ja gerade: sich in der Sache verstehen. Auch nach Gadamers Konzept geht es beim Verstehen insofern weniger um die ‚Individualität‘ des Kunstwerks als um eine inhaltliche Auseinandersetzung über ‚etwas‘. Zwar grenzt er sich explizit gegen die ‚romantische Hermeneutik‘ und insbesondere gegen ihre Maxime des ‚Besserverstehens‘ ab, der Sache nach ist aber Schlegels Konzept weniger weit davon entfernt als Gadamer suggeriert. Dem romantischen ‚besser‘ nimmt Gadamer die teleologische Konnotation und ersetzt es durch „anders“: „Es genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht.“66 Der Text erscheint bei Gadamer daher als etwas, das aktiv zu uns spricht, so dass es die Aufgabe des Interpreten ist, darauf zu ‚hören‘, was der Text (über die Sache) sagt.67 Das impliziert eine Inversion der Blickrichtung, die ebenfalls für Schlegel typisch ist. Das philologische Ideal und der spezifische kongeniale Spürsinn des Philologen besteht für Wolf darin, das Richtige zu ‚treffen‘.68 Vor allem der Kritiker hat gewissermaßen ein Händchen dafür, die richtige Lesart zu erkennen. Bei Gadamer gilt es dagegen, zu gewährleisten, „daß das Wort, das als Überlieferung auf uns gekommen ist und auf das wir zu hören haben, uns wirklich trifft“.69 Aufgabe der Interpretation ist dann nicht mehr nur die Rekonstruktion eines historisch Gegebenen, sondern der Interpret wird selbst als „Teil des Sinngeschehens“ angesehen.70 Nicht er „trifft“ die richtige Bedeutung, sondern das Gesagte „trifft“ ihn. Dieselbe Inversion der Intentionsrichtung findet sich auch bei Schlegel, der in der Wilhelm Meister-Rezension das Idealbild eines Lesers entwirft, „der Sinn für das Höchste hat, der anbeten kann, und ohne Kunst und Wissenschaft gleich weiß, was er anbeten soll, den das Rechte trifft wie ein Blitz.“71 65
66 67 68 69 70 71
Zu Gadamers Hermeneutik und ihrem Verhältnis zu Schlegel siehe nur Mirko Wischke: Die Schwäche der Schrift. Zur philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers. Köln/Weimar/ Wien 2001, sowie Matthias Buschmeier: Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit. Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft. Tübingen 2008, S. 161 f. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990, S. 302; Herv. im Original. Vgl. dazu auch Manfred Riedel: Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1990. Wolf: Encyclopädie (s. Anm. 14), S 324. Gadamer: Wahrheit und Methode (s. Anm. 66), S. 465. Ebd., S. 170; vgl. auch S. 295. KFSA 2, S. 134. Vgl. dazu auch den Beitrag von Christian Benne in diesem Band.
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Zahlreich wird in literaturtheoretischen Zusammenhängen – seitens der Rezeptionsästhetik, der Dekonstruktion, der Diskursanalyse, der Systemtheorie und anderer Ansätze – die beschriebene Reflexionsfigur auch explizit thematisiert und auf die stetige Konstruktion der Bedeutung durch die Lektüre hingewiesen. Diese Perspektive lizensiert den literaturwissenschaftlichen Einsatz sinnkonstruierender Verfahren, wie sie an Schlegels topischer Methode exemplarisch diskutiert wurden: Die immer neue Verhältnissetzung unterschiedlicher Bereiche liefert ein Muster auch heute noch üblicher Sinnerzeugungsstrategien, wie sie insbesondere in literaturwissenschaftlichen Textinterpretationen sowie im Bereich der ‚Literaturtheorie‘72 angewandt werden.
72
Im Sinne von Jonathan Culler: On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism. London u. a. 1983, S. 9.
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„Uebersetzungen sindMO [philologische] Mimen“ Friedrich Schlegels Philologie und die Übersetzungen von Johann Diederich Gries „Noten sind philologische Epigramme; Übersetzungen philologische Mimen; manche Kommentare, wo der Text nur Anstoß oder Nicht-Ich ist, philologische Idyllen.“1 So schreibt Schlegel im Lyceum. Und in einer Marginalie des Heftes Zur Philologie notiert er: „Uebersetzungen sind MO[philologische] Mimen. Sehr fruchtbarer Gedanke*!!“2 Die Übersetzung spiegelt die Ambivalenz des frühromantischen Programms wider, das, wie Novalis hervorhebt, „dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn“, umgekehrt „dem Unbekannten […] einen geläufigen Ausdruck“ 3 geben soll. Im Athenaeum schreibt Novalis: Nur dann zeige ich, daß ich einen Schriftsteller verstanden habe, wenn ich in seinem Geiste handeln kann; wenn ich ihn, ohne seine Individualität zu schmälern, übersetzen und mannichfach verändern kann.4
Der romantische Übersetzer ist Philologe, Wissenschaftler, Erfinder, nicht zuletzt auch Dichter; er ist, so Novalis, ein „Wahrsager aus Chiffern […]. Ein Ergänzer“.5 In der Goethezeit sind Dichter und Philosophen oft auch Übersetzer6 und Übersetzer nicht selten Dichter. Der Zusammenhang zwischen Übersetzung, Philologie und Dichtung (oder besser ‚Poesie‘) ist Ausgangspunkt des folgenden Beitrags. Die These lautet, dass Friedrich Schlegels Übersetzungsdiskurs Voraussetzung und theoretische Entsprechung von Johann Diederich Gries’ Übersetzungen der italienischen Dichter ist. 1 2 3 4 5 6
Friedrich Schlegel: „Lyceums Fragmente“. In: KFSA 2, S. 147–163, hier: S. 156 [75]. Friedrich Schlegel: „Zur Philologie I“. In: KFSA 16, S. 33–56, hier: S. 54 [218]. Novalis: „Logologische Fragmente [II]“. In: ders.: Schriften. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Bd. 2. Stuttgart 1965, S. 531–563, hier: S. 545 [105]. Novalis: „Athenaeums-Fragmente“. In: KFSA 2, S. 165–255, hier: S. 214 [287]. Novalis: „Teplitzer Fragmente“. In: ders.: Schriften (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 596–622, hier: S. 598. Vgl. Walter Benjamin: „Die Aufgabe des Übersetzers“. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4,1. Frankfurt a. M. 1972, S. 9–21, hier: S. 15–16.
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1. Friedrich Schlegels Übersetzungstheorie In seinen Notizen Zur Philologie aus dem Jahr 1797, die als Basis für eine romantische Neukonzeption der Philologie dienen sollten, setzt sich Schlegel zum Ziel, eine „Theorie der Uebersetzung“7 und eine „[Philosophie] des Uebersetzens“8 zu schreiben; diese Keimzelle der romantischen Übersetzungstheorie ist keine Abhandlung, sondern in der romantischen Form des Fragments realisiert. Sie erweist sich als ein Nachweis der Diskussionen der Romantiker über dieses Thema; im darauf folgenden Jahr wird im Athenaeum Novalis’ berühmtes Blüthenstaub-Fragment publiziert. Die Notizen stellen den Wendepunkt einer Übersetzungsdiskussion dar, deren Wurzeln in den Sprachursprungstheorien in der Mitte des 18. Jahrhunderts (Condillac, Süßmilch, Herder) liegen und deren erster erklärter Feind die traduction belle et infidèle ist. Es waren Wielands Shakespeare-Übersetzung und Gerstenbergs Wieland-Kritik – neben Herders Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur –, die eine Reflexion über dieses Thema ausgelöst hatten.9 Neben dieser Debatte spielte auch die Liebe für die romanischen Literaturen eine Rolle in der Annäherung an die Übersetzungskunst; es ist insbesondere das Interesse für die romanische Dichtung, das Friedrich und August Wilhelm dazu veranlasste, sich Gries, dem Übersetzer von Tasso, Ariost, Petrarca, Calderon, zu nähern: Wenn August Wilhelm durch seine Übersetzungen zu einem neuen Übersetzungsstil gelangte und den Weg für die Übersetzungen des Canzoniere (Förster10) und der Divina Commedia (Kannegießer, Streckfuß, Witte11) im 19. Jahrhundert vorbereitete, trug Friedrich durch seine Fragmente, die in den Heften Zur Poesie und Litteratur12 gesammelt wurden, seine Pariser Vorlesungen über Die italienische Literatur (Winter 1803-1804)13 und seine Wiener Vorlesungen14 zur Durchsetzung eines neuen Kanons der italienischen Dichtung in Deutschland bei, die die corone fiorentine zu den drei Häuptern der romantischen Kunst erhoben. 7 8 9 10 11
12 13 14
Friedrich Schlegel: „Zur Philologie II“. In: KFSA 16, S. 57–82, hier: S. 71 [116]. Ebd., S. 80 [211]. Vgl. Elena Polledri: Die Aufgabe des Übersetzers in der Goethezeit. Deutsche Übersetzungen italienischer Klassiker von Tasso bis Dante. Tübingen 2010, S. 25–77. Le Rime di Francesco Petrarca. Francesco Petrarca’s italienische Gedichte übers. u. mit erläuternden Anmerkungen begleitet von Carl Förster. Leipzig und Altenburg 1818. Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie des Dante. Übers. von Karl-Ludwig Kannegießer. Leipzig: 1814–1821. Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie des Dante Alighieri. Übers. von Karl Streckfuß. Halle 1824–1826. Dante Alighieri’s Göttliche Komödie. Übers. von Karl Witte. Berlin 1865. Friedrich Schlegel: „Fragmente zur Poesie und Litteratur“. In: KFSA 16, S. 253–360. Friedrich Schlegel: „Die italienische Literatur“. In: KFSA 11, S. 148–153. Er widmete der italienischen Dichtung die neunte seiner Vorlesungen über die Geschichte der alten und neuen Literatur (KFSA 6, S. 209–228).
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Schlegels Notizen entstanden als Teil jener Debatte, die, wie Apel feststellt,15 von Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum (1795) in Gang gesetzt wurde:16 Wolf hatte durch die These einer kollektiven Autorschaft Homer als dichterisches Genie in Frage gestellt und die Philologie von der Poesie getrennt; paradoxerweise hatte aber die Verpflichtung auf die Textkonstitution Wolf sich Schlegels Idee nähern lassen, nach der der Philologe ein mit Einbildungskraft begabter Autor sei, d. h. ein Dichter. In diesem Kontext entwirft Schlegel eine ästhetische Theorie, die die Übersetzung mit Philologie, Kritik und Poesie in Verbindung bringt.
1.1 Die Übersetzung als produktive, kritische, progressive philologische Kunst „Das Uebersetzen gehört ganz zur MO[Philologie] ist eine durchaus MO[philologische] Kunst.“17 Der Übersetzung liegt die Idee einer produktiven Philologie18 zugrunde, die „nicht bloß erklärend und erhaltend, sondern […] selbst produzierend“19 ist und als „Organon einer noch zu vollendenden, zu bildenden, ja anzufangenden Literatur“20 15
16 17 18 19 20
Vgl. Friedmar Apel: „Virtuose in der historischen Form. Philologie und Übersetzung bei Friedrich Schlegel“. In: Martin Harbsmeier u. a. (Hg.): Übersetzung antiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin/New York 2008, S. 17–27. Zum Übersetzungsbegriff der Romantik vgl. Friedmar Apel: Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens. Heidelberg 1982; Jochen Bär: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik: Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Berlin/New York 1999; Stefano Beretta: Trasformare e mitizzare. Aspetti della traduzione nella Germania dell’età classico-romantica. Trento 2005; Adreas Huyssen: Die frühromantische Konzeption von Übersetzung und Aneignung. Studien zur frühromantischen Utopie einer deutschen Weltliteratur. Zürich/Freiburg 1969; Josefine Kitzbichler/Katja Lubitz/Nina Mindt (Hg.): Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800. Berlin u. a. 2009. Gerhard Kurz: „Die Originalität der Übersetzung. Zur Übersetzungstheorie um 1800“. In: Ulrich Stadler (Hg.): Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens. Stuttgart/Weimar 1996, S. 52–63; Antonella Nicoletti: Übersetzung und Auslegung in Goethes West-östlichem Divan im Kontext der frühromantischen Übersetzungstheorie und Hermeneutik. Tübingen/Basel 2002, S. 23–31; Roger Paulin: „Die romantische Übersetzung: Theorie und Praxis“. In: Nicholas Saul (Hg.): Die deutsche literarische Romantik und die Wissenschaften. München 1991, S. 250–263; Wolf A. Schmidt: „Zur Übersetzungstheorie der Frühromantik – Berührungspunkte bei Herder und Friedrich Schlegel“. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 37, 1 (1985), S. 158–162. Friedrich August Wolf: Prolegomena ad Homerum sive de operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi. Halle 1859. F. Schlegel: „Zur Philologie II“ (s. Anm. 7), S. 64 [50]. Über die Auffassung der Philologie bei Friedrich Schlegel und die Bezüge zur Übersetzung vgl. Apel: Virtuose in der historischen Form (s. Anm. 15). Friedrich Schlegel: „Lessings Gedanken und Meinungen“. In: KFSA 3, S. 46–102, hier: S. 82. Ebd.
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gilt. In der Meister-Rezension stellt Schlegel fest, dass jedes literarische Werk „mehr weiß als es sagt, und mehr will als es weiß“;21 die Philologie ist eine historisch-kritische Textwissenschaft, die wie die Übersetzung auf Vergegenwärtigung und Ergänzung zielt. Ausgangspunkt für eine produktive Übersetzung22 ist es, die Grenzen des Verstehens als Herausforderung philologischer Erkenntnis anzuerkennen. So schreibt Schlegel: „Wir wissen eigentlich noch gar nicht was eine Uebersetzung sey“.23 Die erste Bezeichnung ist daher keine positive, sondern eine negative: Sie „lässt sich nicht auf den Begriff von Erklärung reduciren“;24 sie sei „durchaus keine Nachbildung“.25 Weiter bezieht er sich auf die geläufige Angabe in den Übersetzungsausgaben der Epoche („Ueber das Wörtchen Nach bei Uebersetzungen“26), in denen ‚nach‘ als Zeichen für ein bearbeitendes, unkritisches Übersetzen gilt. Hier wird das Wort von Schlegel zur Chiffre der romantischen Übersetzung erhoben, die die Unabgeschlossenheit als Voraussetzung betrachtet und die unvermeidliche Distanz zwischen Original und Übersetzung als einen Wert anerkennt. Durch die Hervorhebung des Wortes postuliert er die zeitliche und räumliche Distanz zwischen Original und Übersetzung und die Unmöglichkeit eines Abbildes. Die Geschichte der Literatur hat einen prozessualen Charakter; die Übersetzung nimmt an diesem Geschichtsprozess teil: „Der Zweck der Philologie ist die Historie“.27 Da eine Identität zweier historischer Momente ausgeschlossen wird, ist auch jede Identität zwischen Original und Übersetzung aufgehoben und dadurch auch die Vorstellung, dass eine Übersetzung das Nachahmungsprinzip als Methode übernimmt.
1.2 Die mystischen und die mythischen Übersetzer: Voß und Klopstock Als negatives Beispiel dient Friedrich Schlegel Johann Heinrich Vossens HomerÜbersetzung, die sein Bruder 1796 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung28 heftig kritisiert hat: „Voß ist ein absoluter mystischer Übersetzer, weil er das Original annihiliren will 21 22
23 24 25 26 27 28
Friedrich Schlegel: „Über Goethes Meister“. In: KFSA 2, S. 126–146, hier: S. 140. „Alle class[ischen] Schriften werden nie ganz verstanden, müssen daher ewig wieder kritisiert und interpretirt werden.“ (F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie“. In: KFSA 16, S. 83–190, hier: S. 141). „Eine klassische Schrift muß nie ganz verstanden werden können. Aber die welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer mehr draus lernen wollen.“ (Ebd., S. 149). F. Schlegel: „Zur Philologie I“ (s. Anm. 2), S. 54 [215]. F. Schlegel: „Zur Philologie II“ (s. Anm. 7), S. 60 [15]. Ebd., S. 63 [43]. Ebd. F. Schlegel: „Zur Philologie I“ (s. Anm. 2), S. 37 [27]. August Wilhelm Schlegel: „Homers Werke von Johann Heinrich Voss“. In: Allgemeine LiteraturZeitung 262–267 (22.–26. August 1796.), Sp. 473–519.
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ästhetisch, und den Homer nur in seiner Uebersetzung genießen kann.“29 August Wilhelm meint, die Übersetzung von Voß sei eine „Dollmetschung des Griechischen“30 und nicht „eine Uebertragung ins Deutsche“;31 Schlegel wirft Voß den Rekurs auf Graecismen und die Verwendung einer Sprache vor, die kein Deutsch, sondern „ein selbst erfundenes Rotwelsch“ sei, das die wesentliche Verschiedenheit der Sprachen und jene Grenzen nicht präsent halte, die „durch ursprüngliche noch fortdauernde Beschaffenheit, oder durch eine Verjährung“ festgesetzt worden seien und „die man nicht überschreiten darf, ohne sich den gerechten Vorwurf zuzuziehen, daß man eigentlich keine gültige, als solche anerkannte Sprache […] rede“.32 Voß sei ein Beispiel des „Aneignen[s] der deutschen Sprache an die griechische“,33 dessen Folge die „Künstlichkeit“34 sei. Eine poetische Übersetzung müsse auf Gräzismen verzichten und auf eine reine Zielsprache zielen; eine Sprache müsse „völlig an die Stelle der andern treten“;35 da dies aber aufgrund der wesentlichen Unterschiede zwischen den Sprachen unmöglich sei, betrachtet Schlegel „alles poëtische Uebersetzen“36 nur als „eine unvollkommne Annäherung“;37 Friedrich wird es ähnlich als eine „unendliche Aufgabe“38 bestimmen. In den folgenden Jahren wird August Wilhelm Schlegel seine puristische Forderung revidieren und in einem Brief an den bereits genannten Freund und Übersetzer Johann Diederich Gries in Bezug auf das Übersetzen feststellen, dass das Original durch die und in der Übersetzung eine sprachliche Wirkung auf die Zielsprache hat, sie verändert und erneuert: Doch das scheint mir ausgemacht, daß durch alle diese Arbeiten neue Quellen in der Sprache geöffnet werden, und daß sich schon jetzt Vieles bewerkstelligen läßt, was vor wenigen Jahren noch geradezu unmöglich war.39 29 30 31 32 33
34 35 36 37 38 39
F. Schlegel: „Zur Philologie II“ (s. Anm. 7), S. 71 [119]. A. W. Schlegel: „Homers Werke von Johann Heinrich Voss“ (s. Anm. 28), S. 496. Ebd. Ebd. „[Die] Reformation, welche Voß durch ein Aneignen der deutschen Sprache an die griechische hervorbringen wollte, musste […] da […] als höchstes Ziel ein Uebersetzen aus dem Griechischen mit gleicher Sylbenzahl und Wörtern gesetzt stand, nothwendig mislingen und in eine Künstlichkeit ausarten.“ (August Ferdinand Bernhardi: Sprachlehre. Zweiter Theil. Angewandte Sprachlehre. Berlin 1803. Repr. Nachdruck Hildesheim/New York 1973, S. 63). A. W. Schlegel: „Homers Werke von Johann Heinrich Voss“ (s. Anm. 28), S. 496. Ebd. Ebd. Ebd. F. Schlegel: „Zur Philologie II“ (s. Anm. 7), S. 60 [18]. Elise Campe: Aus dem Leben von Johann Diederich Gries. Nach seinen eigenen und den Briefen seiner Zeitgenossen. Leipzig 1855, S. 53. Vgl. Huyssen: Die frühromantische Konzeption von Übersetzung und Aneignung (s. Anm. 15), S. 86.
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Voß’ Übersetzung sei für Friedrich eine mystische, denn sie gründet auf der unhistorischen und unkritischen Identifikation des Klassischen mit dem Modernen, auf der Idee, dass die Formen und Inhalte der Alten tout court in einer anderen Sprache und Kultur reproduziert werden können. Im Athenaeum erscheinen auch die Araber als mystische Übersetzer: Sie seien „Annihilanten unter den Nationen“, denn „ihre Liebhaberei“ habe darin bestanden, „die Originale zu vertilgen, oder wegzuwerfen“.40 Neben Voß gilt als negatives Beispiel auch „Klopst[ocks] Verpflanzung der alten Metra“, die als „eine mythische Uebersetzung“41 bestimmt wird. Im Sommer 1796 traf Friedrich Schlegel in Weißenfels Novalis; im Mai 1798 bestimmte der Freund im Athenaeum diesen Übersetzungstyp folgendermaßen: Mythische Übersetzungen sind Übersetzungen im höchsten Stil. Sie stellen den reinen, vollendeten Karakter des individuellen Kunstwerks dar. Sie geben uns nicht das wirkliche Kunstwerk, sondern das Ideal desselben. Noch existiert wie ich glaube, kein ganzes Muster derselben.42
Sie stelle ein Ideal dar, das in einer vollkommenen Identität zwischen Poesie und Philosophie bestehe. Die Einheit von poetischem und philosophischem Geist, von Stoff und Geist, Form und Inhalt sei ein Mythos, von dem in der Geschichte nur Spuren existieren können, ein Ideal, das in der Übersetzung nur als Streben enthalten sei. Klopstocks Übertragung der alten Metrik auf die deutsche Sprache sei nach Schlegel mythisch, denn sie hebe die Verschiedenheit der Sprachen und den Unterschied zwischen Klassischem und Modernem auf. Der mystische Übersetzer (Voß) vergriechischt das Deutsche, die mythische Übertragung der griechischen Metrik in die deutsche (Klopstock) sei hingegen eine Verdeutschung des Griechischen; beide heben sprachliche, geschichtliche, kulturelle Unterschiede auf. Den utopischen, unkritischen Begriff des mythischen und des mystischen Übersetzers ersetzt er durch den historischen, realistischen des Mimischen.
40 41 42
F. Schlegel: „Athenaeums-Fragmente“ (s. Anm. 4), S. 202 [229]. F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie“ (s. Anm. 22), S. 177 [1122]. Novalis: „Blütenstaub“. In: ders.: Schriften (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 412–464, hier: S. 439 [68].
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1.4 Die Übersetzung als Mimus Der Übersetzer solle weder unter Auslassungen kritischer Reflexion „mystisch“43 verfahren und „Alles gradezu“44 übersetzen, noch ‚mythisch‘, d. h. nach einem unerreichbaren Ideal streben. In der Mitte zwischen den beiden Extremen setzt Schlegel die ‚mimische Übersetzung‘; er behauptet: „Uebersetzungen sind MO [philologische] Mimen. Sehr fruchtbarer Gedanke*!!“45; „die Mimik“ bestimmt er als „eine übersetzende Kunst“.46 Apel hat hervorgehoben, dass Schlegel die Definition des Mimus als ein improvisiertes Spiel im Auge hatte; er verwendet ihn in der Tat mehrmals im Zusammenhang mit dem Begriff der Improvisation und verbindet dann beide wiederholt mit der Übersetzung.47 Die mimische Übersetzung sei als eine performative, spielerische und artistische Kategorie bzw. als eine Darbietungspraxis aufzufassen. Auch die Einführung des Begriffs der Epideixis verknüpft die Übersetzung mit den anderen Bestimmungen des Performativen: „Improvisazion und Mimos sind die Merkmahle absoluter HSLGHL[L9.“48 Die Übersetzung sei nach Apel der Teil der philologischen Arbeit, mit welcher der Philologe an die Öffentlichkeit trete und auf sie wirke.49 Neben dem von Apel hervorgehobenen Performativen betont Schlegel aber auch weitere Aspekte des Mimus, die dazu dienen, die Charakteristika seiner mimischen Übersetzung näher zu begreifen: die Unvollkommenheit, die Progressivität und die Kunst. In den Mimen „ist Vollkommenheit unerreichbar. Sie sind progressiver Natur.“50 Der mimische Übersetzer verzichtet also auf Vollständigkeit, d. h. auf eine illusorische Reproduktion des Originals, ist sich der unüberwindlichen Distanz zwischen Eigenem und Fremdem bewusst und versteht sich als eine Brücke zwischen zwei Welten bzw. Sprachen, die er miteinander verbinden möchte, ohne sie zu verschmelzen. Zweitens ist er progressiv: Er schaut nach vorne und hat keine Angst, das Alte zu aktualisieren bzw. zu modernisieren und zu romantisieren. Drittens versteht 43
44 45 46 47
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F. Schlegel: „Zur Philologie I“ (Anm. 2), S. 49 [173]: „Mystisch ist die MO[Philologie] welche Kritik, Hermeneutik, allenfalls auch Litter.[atur] Archäol.[ogie] und selbst Gram.[matik] überspringt und ohne das Alles gradezu übersetzt z. B. wie die Araber.“ Ebd. Ebd. S. 54 [18]. F. Schlegel: „Fragmente zur Poesie und Litteratur II“. In: KFSA 16, S. 253–338, hier: S. 263 [118]. „Disputationen MO[philologische] Improvisazion[en]. Diese gehören zur HSLGHL[L9. Schrift[en] in todt[en] Sprach[en] gehören auch zu den MO[philologischen] Mimen. In beyden ist Vollkommenheit unerreichbar. Sie sind progressiver Natur. […] Uebersetzungen sind MO[philologische] Mimen. Sehr fruchtbarer Gedanke*!!“ F. Schlegel: „Zur Philologie I“ (s. Anm. 2), S. 54 [218]. Ebd. [223]. Apel: „Virtuose in der historischen Form“ (s. Anm. 15), S. 22. F. Schlegel: „Zur Philologie I“ (s. Anm. 2), S. 49 [218].
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er seine Tätigkeit als eine kreative, d. h. als eine Kunst, als eine dichterische Kategorie („Die Mimik ist offenbar eine übersetzende Kunst“51). Zusammenfassend erscheint das mimische Übersetzen als ein kreatives, progressives aber auch kritisches Neuschaffen; er behauptet: „Eine gute Uebersetzung aus den Alten ist also ein MO[philologischer] Mimus eines kritischen MO[Philologen]“.52 Es handelt sich um ein nachkonstruierendes Verstehen, das aus einer hermeneutischen Reflexion der Differenz entsteht und das performativ-improvisatorische Handeln mit der kritisch-philologischen Reflexivität und der dichterischen Kreativität verbindet. Die Übersetzung erscheint demnach bei Schlegel als eine mimische, progressive, kritische, unvollständige und nie befriedigende Arbeit, als eine „unbestimmte, unendliche Aufgabe“;53 dieselbe Ansicht hebt auch sein Bruder mehrmals hervor, als er sie als eine nie befriedigende Annäherung an das Original bestimmt: Eben wegen der vielfachen, nie auszugleichenden Verschiedenheit der Sprachen bleibt alles poëtische Uebersetzen, wo es nicht bloß auf den Sinn im Ganzen, sondern auf die feinsten Nebenzüge ankömmt, eine unvollkommne Annäherung.54
Die Vollendung des Mimus sieht Friedrich Schlegel in der Shakespeare-Übersetzung seines Bruders („W.[ilhelm Schlegel]s Shak.[speare] in jeder Rücksicht gegen Voß“55), deren Konzeption August Wilhelm 1796 im Aufsatz zu Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters dargelegt hatte.56 Die poetische Übersetzung müsse die komplexe Totalität des Originals in sich enthalten. Sie konzentriert sich weder nur auf den Inhalt noch nur auf die Form, sondern auf die Sprache. Der Dichotomie zwischen belle et infidèle, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert grundlegend gewesen ist, wird nun vom Sprachbegriff ersetzt, der auf die Untrennbarkeit von Form und Inhalt verweist; der poetische Übersetzer muss „die unmittelbarste, natürlichste Sprache“,57 den „Buchstaben des Sinnes“58 des Originals wiedergeben.
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F. Schlegel: „Fragmente zur Poesie und Litteratur II“ (s. Anm. 46), S. 263 [118]. F. Schlegel: „Zur Philologie I“ (s. Anm. 2), S. 55 [233]. F. Schlegel: „Zur Philologie II“ (s. Anm. 7), S. 60 [18]. A. W. Schlegel: „Homers Werke von Johann Heinrich Voss“ (s. Anm. 28), S. 496. F. Schlegel: „Zur Philologie II“ (s. Anm. 7), S. 64 [50]. August Wilhelm Schlegel: „Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters.“ In: ders.: Kritische Schriften. Bd. 1. Stuttgart 1962, S. 88–122; zuerst erschienen in Horen 4 (1796), S. 57–112. Ebd., S. 110. Ebd., S. 101.
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Soll und kann Shakespeare nur in Prosa übersetzt werden, so müßte es allerdings bey den bisherigen Bemühungen so ziemlich sein Bewenden haben. Allein er ist ein Dichter, auch in der Bedeutung, da man diesen Nahmen an den Gebrauch des Sylbenmaaßes knüpft. Wenn es nun möglich wäre, ihn treu und zugleich poetisch nachzubilden? Schritt vor Schritt dem Buchstaben des Sinnes zu folgen, und doch einen Theil der unzähligen, unbeschreiblichen Schönheiten, die nicht im Buchstaben liegen, die wie ein geistiger Hauch über ihm schweben, zu erhaschen? Es gilt einen Versuch. Bildsamkeit ist der ausgezeichnetste Vorzug unsrer Sprache, und sie hat in dieser Art schon vieles geleistet, was andern Sprachen misglückt, oder weniger gelungen ist: man muß an nichts verzweifeln.59
Schon in Bezug auf Petrarca stellt August Wilhelm fest, dass das Versmaß kein Zwang, sondern „Werkzeug, Organ“60 für den Dichter und auch für den Übersetzer sei: Solche Menschen haben freylich keinen Begriff, wie die Form vielmehr Werkzeug, Organ für den Dichter ist, und gleich bei der ersten Empfängniß eines Gedichtes, Gehalt und Form wie Seele und Leib unzertrennlich ist.61
Als Friedrich 1797 seine Notizen verfasst, weist August Wilhelm im Aufsatz Über Shakespeares Romeo und Julia,62 der mit der Übersetzung der ersten Szenen des Dramas eng verbunden ist, das deutsche Publikum darauf hin, sich von der prosaischen Übersetzung der Epoche (Wieland, Heinse) zu entfernen und neue Übersetzungsversuche zu bewerten, die nicht mehr nur den Stoff, sondern die „Gestaltung“63 in den Mittelpunkt stellen. Durch seine Übersetzungskonzeption führt Schlegel nicht nur zu einer Neuübersetzung von Shakespeares Werk, die kanonisch und noch heute als maßgebend zitiert wird, sondern antizipiert auch die übersetzungstheoretischen Positionen Schleiermachers und seine Auffassung der Hermeneutik. Die Einheit zwischen Form und Inhalt im Begriff des Poetischen erinnert an die Identität zwischen Sprache und Denken, Wort, Sache und Gedanke, die der Hermeneutik Schleiermachers zugrunde liegt (wo „wesentlich und innerlich Gedanke
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61 62 63
A. W. Schlegel: „Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters“ (s. Anm. 56), S. 101. August Wilhelm Schlegel: „Italienische Poesie“. In: ders: Geschichte der romantischen Literatur. Kritische Schriften und Briefe. Hg. von Edgar Lohner. Bd. 4. Stuttgart 1965, S. 168–222, hier: S. 186. Ebd. August Wilhelm Schlegel: „Über Shakespeares Romeo und Julia 1797“. In: ders.: Sprache und Poetik. Kritische Schriften und Briefe. Hg. von Edgar Lohner. Bd. 1. Stuttgart 1962, S. 123–180. Ebd., S. 123.
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und Ausdrukk ganz dasselbe sind“64). Schlegel bindet seine mimische Übersetzung in den historischen Prozess ein und weist ihr eine erkenntnistheoretische Funktion zu; sie zeigt die Prozesshaftigkeit der ganzen Literatur; die Modernen sind ein Werdendes, das aus den Werken anderer Epochen und anderer Nationen lernt und sich daraus progressiv entwickelt: „Aus dem, was die Modernen wollen, muß man lernen, was die Poesie werden soll: aus dem, was die Alten tun, was sie sein muß.“65 In der Übersetzung besteht die Möglichkeit einer kulturellen Vermittlung, die Voraussetzung für das geschichtliche Fortschreiten der Literatur ist. Antike und Moderne treten in einen dialektischen Spannungsbezug. Der Übersetzer soll zugleich kritisch und mimetisch handeln, das Alte wieder schaffen, ohne das Moderne zu vergessen: Schlegel möchte übersetzen, „um die modern[en] Sprachen antik zu bilden“ und „sich selbst das Klassische praktisch zuzueignen in Saft und Blut“:66 Wer vollkommen ins Moderne übersetzen will, muß desselben so mächtig seyn, daß er allenfalls alles Moderne machen könnte; zugleich aber das Antike so verstehen, daß ers nicht bloß nachmachen, sondern allenfalls wiederschaffen könnte*.67
Nur solche Übersetzungen sind nach Schlegel „rein philologisch“.68 Für eine produktive Vermittlung von Antike und Moderne ist eine Übersetzung notwendig, die die Antike wiederbelebt, die sie aber zugleich auch modernisiert: „Schwerer moderne Gedanken ins Antike zu übersetzen. Noch schwerer das Antike ins Moderne zu übersetzen. Warum noch schwerer?“69 Für die Frühromantik ist weder die Frage der Treue noch jene einer ausgangstextlichen bzw. zielsprachlichen Übersetzung zentral, denn sie erstrebt eine ideale Synthese des Eigenen und des Fremden, in der das Fremde trotz der Annäherung an das Eigene fremd und das Eigene trotz der Beziehung zum Fremden eigen bleibt; die Übersetzungstheorie der Romantik ist unter dieser Voraussetzung sowohl ausgangssprachlich als auch zielsprachlich orientiert. Schlegel drückt durch organische Begriffe, die an Herder und Schelling erinnern,70 seine Idee der Übersetzung als philologische Arbeit aus, die einen Prozess der Veränderung, der Verjüngung bzw. der Verfeinerung des Originals in Gang setzt. Da die 64 65 66 67 68 69 70
Friedrich Schleiermacher: „Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens.“ In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Berlin 1838, S. 207–245, hier: S. 232. F. Schlegel: „Lyceums Fragmente“ (s. Anm. 1), S. 149 [20]. F. Schlegel: „Zur Philologie II“ (s. Anm. 7), S. 67 [78]. Ebd., S. 65 [56]. „Meine Uebersetzungen sind doch rein ƶƫ[philologisch].“ (Ebd., S. 72 [123]). Ebd., S. 63 [42]. Zu diesem Begriff vgl. Stefan Metzger: Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18. Jahrhundert. München 2003.
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Übersetzung nur einen Verweischarakter auf das Original haben kann, stellt sie sich als eine Verwandlung desselben dar, in der das Alte fortlebt und das Neue zugleich hervorkommt, eine werdende Kunstform, in der die Progressivität der Poesie sichtbar wird: „Jede Uebersetzung ist Verpflanzung oder Verwandlung oder beides. […] Jede wahre Ueb[ersetzung] muß eine Verjüngung sein.“71
1.5 Die Übersetzung als „wahres Dichten“, „progressive Universalpoesie“, „Genie“ Im Gespräch über die Poesie bezeichnet Schlegel die Übersetzung als eine Kunst, die es verdient, auf derselben Ebene wie Poesie, Philosophie und Kritik sowie Philologie zu stehen; durch die Übersetzungen können die Deutschen hoffen, ihre Kunst und ihr Zeitalter wieder zu beleben: Das Übersetzen der Dichter und das Nachbilden ihrer Rhythmen ist zur Kunst und die Kritik zur Wissenschaft geworden, die alte Irrtümer vernichtet und neue Aussichten in die Kenntnis des Altertums eröffnet, in deren Hintergrunde sich eine vollendete Geschichte der Poesie zeigt. Es fehlt nichts, als daß die Deutschen diese Mittel ferner brauchen, daß sie dem Vorbilde folgen, was Goethe aufgestellt hat, die Formen der Kunst überall bis auf den Ursprung erforschen, um sie neu beleben oder verbinden zu können.72
Das Übersetzen gehört zum Programm der progressiven Universalpoesie, zu jener unendlichen Progressivität, die zur Nachahmung und Aneignung des Fremden führt; sie bestehe – gleich der Philologie – in einer produktiven Kunst des Verstehens. Der Zusammenhang zwischen Übersetzung und Poesie stellt den letzten Schritt und das bedeutendste Ergebnis von Schlegels Übersetzungstheorie dar. Herder hatte den Übersetzer als „schöpferisches Genie“73 und als triceps bestimmt, der „zugleich Philosoph, Dichter und Philolog ist“. 74 August Wilhelm Schlegel behauptet: „Hingegen lässt sich leicht dartun, dass das objektive poetische Übersetzen ein
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74
Friedrich Schlegel: Philosophische Fragmente, 1798–1799. In: KFSA 18, S. 195–322, hier: S. 204. Friedrich Schlegel: „Gespräch über die Poesie“. In: KFSA 2, S. 284–351, hier: S. 303. Johann Gottfried Herder: „Über die neuere deutsche Literatur. 1. Sammlung von Fragmenten“. In: ders.: Frühe Schriften 1764–1772. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985, S. 161–259, hier: S. 204. Johann Gottfried Herder: „Über die neuere deutsche Literatur. 2. Sammlung von Fragmenten“. In: ebd., S. 261–365, hier: S. 293.
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wahres Dichten, eine neue Schöpfung sei“;75 „Übersetzen ist so gut dichten, als eigene Werke zustande bringen – und schwerer, seltener. Am Ende ist alle Poesie Übersetzung“.76 Novalis glaubt, „zu den verändernden Übersetzungen gehört, wenn sie ächt seyn sollen, der höchste poetische Geist“.77 Friedrich Schlegel identifiziert den Übersetzungsprozess mit dem frühromantischen Poesiebegriff und betont die poesiebildende Funktion der Übersetzungsarbeit. Im Gespräch über die Poesie spricht er vom „Genie der Übersetzung“.78 Die Übersetzung ist erhöhte Kritik und Poesie; sie ist ein hermeneutischer Akt, der selbst produktiv ist und das Original erweitert, potenziert und universalisiert. Der romantische Übersetzer ist der Dichter des Dichters. Für die Romantiker steht die Übersetzung gegenüber dem Original höher, denn jede Form von Interpretation ist immer eine hermeneutische Erhöhung des Originals: „Ein guter Uebersetzer muß eigentl[ich] alles π[poetisch] machen, construiren können“.79
2. Gries’ Tasso-Übersetzung als Umsetzung von Schlegels Übersetzungstheorie in die Praxis Gries ist als der Übersetzer von Tasso, Ariost 80 und Calderon 81 ins Deutsche bekannt; er hat auch Petrarca,82 Bojardo, Pulci und Fortiguerra, Sannazzaro und Macchiavelli übersetzt. Seine Übersetzungen gehören zu den wenigen, die den Sprung ins 19. Jahrhundert geschafft haben, und sie sind auch im 20. Jahrhundert noch benutzt worden. Unter seinen Arbeiten ist vor allem die Tasso-Übersetzung hervorzuheben, die sowohl im Konzept als auch in der Ausführung von Schlegels Übersetzungstheorien und -ideen beeinflusst wurde.
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A. W. Schlegel: Geschichte der romantischen Literatur (s. Anm. 60), S. 35. Novalis: „Brief an A.W. Schlegel, November 1797“. In: ders.: Schriften. Hg. von Paul Kluckhohn, Richard Samuel u. a. Bd. 4. Stuttgart/Berlin/Köln 1975, S. 237. Novalis: „Blütenstaub“. In: ders.: Schriften (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 412–464, hier: S. 439 [68]. F. Schlegel: „Gespräch über die Poesie“ (s. Anm. 72), S. 319 f. F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie“ (s. Anm. 22), S. 163 [927]. Ludovico Ariosto: Ludovico Ariosto’s Rasender Roland. Übers. von Johann Diederich Gries. 4 Bde. Jena 1804–1808; Ludovico Ariosto: Rasender Roland. Übers. von Johann Diederich Gries. Jena 1827–1828. Für die Übersetzungen Tassos vgl. den folgenden Abschnitt. Calderon de la Barca: Schauspiele. Übers. von Johann Diederich Gries. 8 Bde. Berlin 1815–1842. Francesco Petrarca: „Sonette“. Übers. von Johann Diederich Gries. In: Der neue Teutsche Merkur 1 (1798), S. 311–317.
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2.1 Johann Diederich Gries und die Brüder Schlegel Johann Diederich Gries kam im Oktober 1795 nach Jena, um dort Jura zu studieren, wurde in den „Bund der freien Männer“83 aufgenommen und machte die Bekanntschaft von Schiller, Goethe, Novalis, Brentano und dem Schlegel- sowie dem Voß-Kreis. 1798 unternahm er in Begleitung von August Wilhelm eine Reise nach Dresden; hier begann er, vielleicht von Schlegel angeregt, seine Tasso-Übersetzung: Der 16. Gesang erschien im selben Jahr im Neuen Teutschen Merkur;84 im ersten Heft hatte er schon einige Sonette von Petrarca85 publiziert; auch diese waren wahrscheinlich von August Wilhelm angeregt, der schon ab 1790 angefangen hatte, Petrarcas Sonette im Göttinger Musenalmanach86 zu publizieren. Im September 1799 traf er in Jena auch Friedrich,87 und im Winter 1799, als er sich in Göttingen aufhielt, um sein Studium abzuschließen, besorgte er für die Brüder Schlegel Bücher vor allem aus den romanischen Literaturen; als Kompensation besorgte August Wilhelm die Korrektur seiner Tasso-Übersetzung.88 Im Januar 1800 bat Friedrich Schlegel Gries, ihm die Werke von Boccaccio aus der Göttinger Bibliothek zu schicken, denn er arbeitete gerade an dem Aufsatz Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio. Jubelnd schrieb er an den Übersetzer und Freund: „Ich bin auch in den Orden der Poesie gerathen“.89 Friedrich kannte wahrscheinlich schon Gries’ Stanzen; er kannte aber darüber hinaus auch seine Gedichte; der Übersetzer hatte ihm das Scherzpoem Die heiligen drei Könige an Caroline gesandt.90 Der erste Band des Gerusalemme Liberata erschien 1800. Friedrich Schlegel war einer der ersten, der ihn in der Hand hatte; wahrscheinlich waren ihm die Korrekturen des Bruders bekannt, da er schon am 6. August 1800 an August Wilhelm schrieb: 83
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Die ‚Litterarische Gesellschaft der freien Männer‘ (1794–1799) war eine Studentenverbindung von Schülern Fichtes in Jena mit Streben auf politische Betätigung. Darüber vgl. Felicitas Marwinski: „Wahrlich, das Unternehmen ist kühn…“: die Literarische Gesellschaft der freien Männer zu Jena und ihre „Constitution“ von 1795. Jena 1992. Torquato Tasso: „Probe einer neuen Uebersetzung des Tasso. Des Befreyten Jerusalems sechzehnter Gesang. Von Johann Diederich Gries“. In: Neuer Teutscher Merkur 3 (1798), S. 117–153. Petrarca: „Sonette“ (s. Anm. 82). Francesco Petrarca: „Nach dem Petrarca. Th. 2, Sonn. 12; Nach dem Petrarca P. I, Ball I. Übers. von August Wilhelm Schlegel“. In: Musenalmanach 21 (1790), S. 82, S. 151; Francesco Petrarca: „Vier Sonette des Petrarca“. In: Göttinger Musenalmanach 22 (1791), S. 3–6; Francesco Petrarca: „Gedichte. Übers. von August Wilhelm Schlegel/Johann Chr. Fr. Haug“. In: Göttinger Musenalmanach 23 (1792), S. 51–55; August Wilhelm Schlegel: Blumensträuße italiänischer, spanischer und portugiesischer Poesie. Berlin 1804. Vgl. Campe: Aus dem Leben von Johann Diederich Gries (s. Anm. 39), S. 37. Ebd., S. 39–44. Friedrich Schlegel an Johann Diederich Gries, 28. Januar 1800. In: KFSA 25, S. 51. Ebd., S. 413.
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„Den Petrarca werde ich Dir mit Gries’ Tasso und mit dem Athen[aeum] schicken.“91 Und in einem Brief an Brentano beschrieb er im November 1800 den Übersetzer mit folgenden Worten: Gries […] der ganz taube Gries, ist […], versichert die ganze Welt, transcendental ennuiant, vor seinen Stanzen hat man übrigens große Hochachtung; und so ist es wieder einmal wahr daß einige sich bey der Hochachtung ennuiren, andre aber den ennui hochachten.92
Gries hatte schon in der Jugend ein Gehörleiden; das Adjektiv ‚taub‘ ist in keiner Weise metaphorisch gemeint, wie fälschlicherweise in der KFSA zu lesen ist. Im Winter besuchte Gries das Haus des Verlegers Fromman und traf dort noch einmal Friedrich Schlegel. Kurz danach erschienen weitere Teile des Gerusalemme Liberata. Wenige Monate darauf schrieb ihm August Wilhelm aus Berlin: Meine Bemerkungen über Ihren Tasso, dessen Lesung mir für Sprache und Versbau sehr lehrreich ist, möchte ich Ihnen mündlich mittheilen; sagen Sie mir doch, ob Sie wieder etwas Neues unternehmen?93
Er begann damals auch an der Ariost-Übersetzung zu arbeiten. Ein Fragment erschien aber erst 1805 in einem von August Wilhelm herausgegebenen Taschenbuch. Schlegel schrieb ihm dazu: Wenn Sie mein „Spanisches Theater“ gesehen haben, so wird Ihnen einleuchtend geworden sein, daß man im Fach der poetischen Uebersetzungen unermüdlich arbeiten kann, ohne einander in den Weg zu kommen. […] Doch das scheint mir ausgemacht, daß durch alle diese Arbeiten neue Quellen in der Sprache geöffnet werden, und daß sich schon jetzt Vieles bewerkstelligen läßt, was vor wenigen Jahren noch geradezu unmöglich war.94
1803 verließen seine liebsten Freunde Jena; Gries hingegen, damals schon krank, blieb in Einsamkeit und ohne besondere Ereignisse bis 1837 in der Stadt; er arbeitete fleißig und unermüdlich an seinen Übersetzungen, die er ständig revidierte und in immer neuen Auflagen publizierte. 1837 kehrte er nach Hamburg zurück, wo er 1842 starb. 91 92 93 94
F. Schlegel und Dorothea Veit an A. W. Schlegel, 6. August 1800. In: KFSA 25, S. 151–152, hier: S. 152. Friedrich Schlegel und Dorothea Veit an Clemens Brentano, Mitte/Ende November 1800. In: KFSA 25, S. 203–205, hier: S. 204. Campe: Aus dem Leben von Johann Diederich Gries (s. Anm. 39), S. 50. Ebd., S. 53.
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2.2 Tassos Befreites Jerusalem als „unendliche Aufgabe“ Von Gries’ Tasso-Übersetzung sind uns eine Probe (1798) und fünf Auflagen überliefert: Die erste erschien zwischen 1800 und 1803; eine zweite, verbesserte folgte 1810; 1819 erschien eine dritte, stark veränderte und 1824 die vierte, die Gries aber noch nicht als die endgültige empfand; eine fünfte folgte 1837 und nach seinem Tod, 1844, eine sechste.95 Gries legte seiner Tätigkeit Schlegels Auffassung, die Übersetzung sei eine „unendlichen Aufgabe“, zugrunde. Er schrieb über seine vierte Auflage: Diese Aufgabe hat mich sehr viel länger aufgehalten als ich dachte, und es ist mir dabei recht klar geworden, daß die Aufgabe des Uebersetzers in der That eine unendliche ist. Vier mal habe ich das Befreite Jerusalem nun herausgegeben; jede Auflage weicht von der andern beträchtlich ab, und doch habe ich mir schon eine Menge Stellen angemerkt, die bei einer zu hoffenden fünften Auflage abermals geändert werden müssen. Ich weiß recht gut, daß Wenige mir dafür danken werden, daß es sogar Leute gibt, welche die erste, in jeder Hinsicht höchst unvollkommene Uebersetzung allen späten Bearbeitungen vorziehen. Aber ich kann einmal nicht anders. Der Begriff einer „vollendeten Ausgabe“ ist für mich ein durchaus undenkbarer, und solange ich die Feder halten kann, werde ich wol nicht aufhören, an meinen Uebersetzungen zu ändern und – si Diis placet – zu bessern.96
2.3 Tassos „ursprüngliche Gestalt“ und die „Verschiedenheit der Sprachen“ Dem Verleger Fromman gesteht Gries 1800 während der Arbeit an der ersten Auflage, dass es das Ideal seiner Übersetzung sei, die „Gestalt“ des Originals zu übertragen. Der Ausdruck erinnert an Schlegels Begriff der „Gestaltung“.97 Wie die Schlegels nimmt er
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96 97
Torquato Tasso: „Probe einer neuen Uebersetzung des Tasso. Des Befreyten Jerusalems sechzehnter Gesang. Von Johann Diederich Gries“. In: Neuer Teutscher Merkur 3 (1798), S. 117–153; Torquato Tasso’s Befreites Jerusalem. Übers. von Johann Diederich Gries. 4 Bde. Jena 1800–1803; Torquato Tasso’s Befreites Jerusalem. Übers. von Johann Diederich Gries. 2. umgearbeitete Aufl. 2 Teile in einem Band. Jena 1810; Torquato Tasso’s Befreites Jerusalem. Übers. von Johann Diederich Gries. 3. rechtmässige Auflage. Neue Bearbeitung. Jena 1819. Torquato Tasso: Befreites Jerusalem. Übers. von Johann Diederich Gries. 4. rechtmäßige Auflage, von neuem durchgesehen. 2 Teile in einem Band. Jena 1824; Torquato Tasso’s Befreites Jerusalem. Übers. von Johann Diederich Gries. 5. rechtmässige Auflage, von neuem durchgesehen. Jena 1837. Campe: Aus dem Leben von Johann Diederich Gries (s. Anm. 39), S. 135. A. W. Schlegel: „Über Shakespeares Romeo und Julia 1797“ (s. Anm. 62), S. 123.
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aber an, dass die Verschiedenheit der Sprachen eine Übereinstimmung zwischen Original und Übertragung nicht erlaubt. Trotz der vielen Versuche bleibt seine Übersetzung, wie im Folgenden gezeigt wird, eine mimische: Den Tasso so gut zu übertragen, daß an seiner ursprünglichen Gestalt nicht mehr verloren geht als es die innere Verschiedenheit der Sprachen ihm rauben muß, dahin ist, seit ich diesen Gedanken faßte, mein einziges und höchstes Streben gegangen. Die ungeheure Schwierigkeit des Unternehmens konnte mich nur für einen Augenblick abschrecken […]. Mit unverminderter Beharrlichkeit fing ich immer wieder von neuem an; an einzelnen Stanzen habe ich oft Tage lang gearbeitet, und so glückte es mir endlich, auf einen Weg zu gelangen, der mir die Ausführung meines Unternehmens mit großer Gewißheit sichert.98
2.4 Gries’ Stanzen als poetische Übersetzung und die Form als „Organ, Werkzeug des Dichters“ Als Gries 1798 im Neuen Teutschen Merkur eine Probe der Gerusalemme Liberata in Stanzen publizierte, nannte sie der skeptische Wieland, der die Reproduktion der ottave rime im Deutschen für unmöglich hielt, einen Fortschritt; er erkannte Gries’ Versuch, nicht nur den Stoff, sondern auch die Form des Originals wiederzugeben: Ganz gewiß muß ein Dichter, der uns nicht bloß den Stoff, sondern auch die Form seines Originals geben will, das befreyte Jerusalem in Ottave rime uebersetzen, und um dies nur in dem Grade von Vollkommenheit zu bewerkstelligen, den man mit Recht von einem Nachbilder fordern kann, muß er beynahe Tasso selbst sein. […] doch zweifle ich nicht, dass Hr. G. selbst, dessen seinem Gefuel, Gewandheit des Geistes und hartnaeckigem Fleiß ich alles zutraue, in der Folge manche Stelle noch glaetter zu polieren, und seiner Nachbildung hier und da noch mehr das Ansehen eines Originals zu geben vermoegend seyn wird.99
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Johann Diederich Gries an C. Friedrich E. Fromman, 3. Januar 1800. In: Georg Trübner: „Johann Diederich Gries – ein vergessener Übersetzer?“ In: Babel: Revue Internationale de la Traduction/International Journal of Translation 16 (1970), S. 150–155, hier: S. 152. Christoph Martin Wieland: „Nachricht zu Gries’ Probe einer neuen Uebersetzung des Tasso“. In: Der neue Teutsche Merkur 3 (1798), S. 152–153.
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Tassos Kreuzzugsepos erschien zum ersten Mal 1626 in den barocken Alexandrinerstanzen von Diederich von dem Werder100 und dann erst nach über hundert Jahren in der klassizistischen, von Gottsched unterstützten Fassung von Kopp101 (in paarweise gereimten Alexandrinern). 1781 legte Heinse eine Prosaübersetzung vor, die als eine Bestätigung der Auffassung Wielands erschien, die Schwierigkeiten der ottave rime seien im Deutschen unüberwindlich.102 Vor Gries unternahmen verschiedene Übersetzer eine Stanzenübertragung des Epos: Sie bildeten die ottave rime im Deutschen nach, erlaubten sich aber in Reimstellung und Versmaß Abweichungen.103 Von 1800 bis 1803 erschien Gries’ Übersetzung der Gerusalemme Liberata; er entschied sich für die formale Strenge der Stanze mit ihren dreimal wiederkehrenden Reimen, hielt das strenge italienische Reimschema ein und alternierte in den ersten sechs Versen weibliche mit männlichen Kadenzen. 1810 veröffentlichte August Wilhelm Schlegel eine ausführliche lobende Rezension der Übersetzung von Ariosts Orlando furioso durch Gries und legte am Beispiel von Gries’ Stanze das Ideal der poetischen Übersetzung dar: Der Grundsatz ist jetzt anerkannt, daß jedes Gedicht in seiner eigenen metrischen Form, oder wenigstens einer ihm so nahe verwandten, als die Natur der Sprache es nur irgend erlaubt, übertragen werden muß. Allein über den Grad der Annäherung im Sylbenmaß, welcher ohne Gewaltthätigkeit gegen die Sprache möglich ist, finden verschiedene Meinungen statt. Wir gestehen es, wir sind überall, sowohl bey Nachbildungen aus den alten als neueren Sprachen, für die strenge Observanz.104
100 Über Tassos Bild im deutschen Barock vgl. Achim Aurnhammer: Torquato Tasso im deutschen Barock. Tübingen 1994. Über Diederich von dem Werder vgl. Gerhard Dünnhaupt: Diederich von dem Werder. Versuch einer Neuwertung seiner Hauptwerke. Bern 1973. 101 Über Tasso im 18. Jahrhundert vgl. Achim Aurnhammer (Hg.): Torquato Tasso in Deutschland: seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jh. Berlin u. a. 1995. Über die Übersetzungsausgaben des Gerusalemme Liberata vgl. Achim Aurnhammer/Christina FlorackKröll/Dieter Martin (Hg.): Torquato Tasso in Deutschland. Gedenkausstellung zum 400. Todestag (25. April 1995) im Goethe-Museum Düsseldorf. Heidelberg 1995. 102 Vgl. Max L. Baeumer: „‚Mehr als Wieland seyn!‘. Wilhelm Heinses Rezeption und Kritik des Wielandschen Werkes“. In: Hansjörg Schelle (Hg.): Christoph Martin Wieland. Nordamerikanische Forschungsbeiträge zur 250. Wiederkehr seines Geburtstages 1983. Tübingen 1984, S. 115–148, hier: S. 131–135. 103 Über Tassos und Ariostos Übersetzungen im 18. Jahrhundert vgl. Polledri: Die Aufgabe des Übersetzers in der Goethezeit (s. Anm. 9), S. 106–117. 104 August Wilhelm Schlegel: „Ludovico Ariosto’s Rasender Roland übersetzt v. I. D. Gries. Jena 1804–1808. IV Theile“. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur 5 (1810), S. 193–233, hier: S. 196.
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Der Übersetzer muss seine Aufmerksamkeit weder nur dem Inhalt noch nur der Form schenken, sondern jenem unlösbaren sprachlichen Komplex, in dem Form und Inhalt als untrennbar erscheinen. Schlegel stellte in seinem Lob für Gries fest, dass die deutsche Sprache „in einem kurzen Zeitraume durch vielseitige Bearbeitung an Gewandtheit für die Kunst des Versbaues überhaupt, und insbesondere für die Kunst der poetischen Uebersetzungen gewonnen hat“.105 Er stimmte aber nicht völlig mit Gries überein: Dieser verwendete sowohl im Rasenden Roland als auch im Befreiten Jerusalem die gleiche, auf Heinse zurückgehende Kadenzfolge; die ersten sechs kreuzgereimten Verse weisen – bei stets weiblichem Beginn – alternierend weibliche und männliche Versschlüsse auf; die abschließenden, paarig gereimten Verse enden stets weiblich. In fester Folge stehen fünf weiblich kadenzierenden Versen (a- und c-Reime) drei männliche (b-Reime) entgegen. Schlegel empfahl hingegen, die Wahl der männlichen und weiblichen Reime frei zu lassen. Gries erscheint formenstrenger als August Wilhelm Schlegel. Letzterer konnte die prosodische Strenge des Ersteren, dessen extreme versund reimtechnische Anstrengung nicht ganz billigen. Er schrieb am 17. September 1803 an Gries: Das Gesetz des regelmäßigen Wechsels der männlichen und weiblichen Reime – wo steht es geschrieben? [...] Ich rieht Ihnen beym Ariost, sich völlige Freyheit zu lassen, weil das abschweifende in seinem Charakter liegt.106
Erst Gries’ Übersetzung, nicht Schlegels Versuch, wird aber das romantische Ideal der poetischen Übersetzung zur Vollendung bringen, indem er den komplizierten Bau der italienischen Stanze ohne abweichende Variation der Kadenzen nachbilden wird.107 August Wilhelm Schlegel übersetzte hingegen keine Stanze aus dem Befreiten Jerusalem, denn er erkannte die formstrenge Stanzenübersetzung von Gries als Muster moderner Poesie; in ihr sah er sein Übersetzungsprinzip völlig verwirklicht und die Dichotomie zwischen der formellen Freiheit und der strengen Observanz überwunden. Gries’ Wiedergabe der ottava rima entspricht Friedrichs Auffassung, der Übersetzer 105 A. W. Schlegel: „Ludovico Ariosto’s Rasender Roland übersetzt v. I. D. Gries“ (s. Anm. 104), S. 193. Vgl. dazu Dieter Martin: „Der ‚große Kenner der Deutschen Ottave Rime‘. Wielands Autorität bei Tasso Übersetzern um 1800“. In: Wieland-Studien 3 (1996), S. 194–215. Neupublikation in: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/wieland/martin_uebersetzer.pdf (eingestellt am 08.04.2004). 106 August Wilhelm Schlegel an Johann Friedrich Gries, 17. September 1803. In: Josef Körner: Briefe von und an August Wilhelm Schlegel. Bd. 2. Zürich 1930, S. 168. 107 Über Wielands Autorität bei Tasso-Übersetzern vgl. Dieter Martin: „Der ‚große Kenner der Deutschen Ottave Rime‘“ (s. Anm. 105).
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sei ein Dichter, der alles poetisch mache und das Poetische konstruiere: „Ein guter Uebersetzer muß eigentl[ich] alles π[poetisch] machen, construiren können“;108 seine Aufgabe bestehe im „Nachbilden“109 der Rhythmen.
2.5 Gries’ mimische Übersetzung des Befreiten Jerusalem Auf der Ebene der Syntax, des Wortschatzes und des Rhythmus scheint Gries’ TassoÜbersetzung Schlegels Idee, nach der die mimische Übersetzung eine Verpflanzung, Verwandlung und Verjüngung des Originals ist, zu verwirklichen und die dialektische Spannung zwischen Antike und Moderne als Grundlage der Übersetzungskunst zu erkennen; er erschafft das Alte neu, ohne das Moderne zu vergessen. Im Folgenden wird als Beispiel die Anfangsstrophe des ersten Gesanges analysiert:
Canto l’arme pietose, e ’l Capitano Che ’l gran sepolcro liberò di Cristo. Molto egli oprò col senno e con la mano; Molto soffrì nel glorioso acquisto: E invan l’Inferno a lui s’oppose; e invano S’armò d’Asia e di Libia il popol misto: Chè ’l Ciel gli diè favore, e sotto ai santi Segni ridusse i suoi compagni erranti. (I,1) Den Feldherrn sing’ ich und die frommen Waffen, Die des Erlösers hohes Grab befreit. Viel hat sein Geist und Arm vermogt zu schaffen. Viel duldet’ er, bevor ihm Sieg bereit. Doch fruchtlos droht die Hölle, fruchtlos raffen Asien und Libyen sich empor zum Streit: Gott schützt ihn; zum Panier des Hochverehrten Bringt er zurück die irrenden Gefährten.110 108 F. Schlegel: Fragmente zur Litteratur und Poesie (s. Anm. 22), S. 163 [927]. 109 F. Schlegel: Gespräch über die Poesie (s. Anm. 72), S. 302 f. 110 Torquato Tasso’s Befreites Jerusalem. Übers. von Johann Diederich Gries. 1. Teil. Jena 1800, S. 3. „Den Feldherrn sing’ich und die frommen Waffen, / So des Erlösers Hohes Grab befreit, / Viel wirkt er durch des Geist’s und Armes Schaffen, / Viel duldet’ er im glorreich
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Im ersten Vers steht bei Tasso das Wort „Canto“ am Versanfang. Bei Gries steht hingegen mit dem „Feldherrn“ der Mensch im Vordergrund. Selbst die Waffen sind wie bei Tasso durch das Adjektiv „pietose“ („fromm“) vermenschlicht. Im zweiten Vers bezieht sich das Relativpronomen „die“ bei Gries auf die Waffen, während bei Tasso nur der Feldherr Subjekt des Satzes ist. Der Übersetzer vermeidet außerdem alle Bezüge auf die Kreuzzüge; bei ihm wird der „gran sepolcro“ zu einem ‚hohen Grab‘ (Werder sprach in seiner Übersetzung von einem ritterlichen Kampf: „ritterlich erstritte“111). Gries bildet im dritten und vierten Vers anders als sein Vorgänger die Reihenfolge des Originals nach; das Adverb „Viel“ steht am Versanfang wie „molto“; die Anapher („Viel“/„Viel“, „Molto“/„Molto“) führt zu einer rhythmischen und semantischen Verstärkung der vielen Schwierigkeiten, die Gottfried, der Held des Epos, überwinden muss. Gries überträgt nicht nur das Metrum, sondern auch den Rhythmus neben, oder besser mit dem Stoff. Im dritten Vers verwendet er eine Synekdoche und abstrahiert von der Person, dem „Capitano“, der bei Tasso handelndes Subjekt ist: Der Geist, d. h. das ganze geistige Vermögen, statt dem Verstand („col senno“) und der Arm mit seiner physischen Kraft statt der Hand („con la mano“) werden zu Subjekten; ihre Wirkung („oprò“, d. h. ‚handeln‘, ‚wirken‘) bezeichnet Gries als ein Schaffen („zu schaffen“). „Geist“ und „Schaffen“, die hier das Vertrauen der Epoche in den Menschen widerspiegeln, sind typische Wörter der Geniezeit und der Romantik. Wenn sich Tasso ausdrücklich auf den Kampf des Helden bezieht, der im Streit den Sieg erringt, scheint sich Gries durch seinen Wortschatz („schaffen“, „Geist“, „Arm“), die Wortstellung („Viel“ im Vordergrund), den Rhythmus (die Anapher) vom Kontext des Rittertums und der Kreuzzüge zu entfernen; der Kampf des Feldherrn wird bei ihm zu einem Streit, den der Mensch, nicht nur der Ritter, durch seinen Geist und seinen Körper („Geist und Arm“) im Leben vollführt. Er setzt ganz bewusst den Menschen an die erste Stelle; ihn interessiert die Wirkung des Göttlichen auf die Menschheit. Die Umstandsbestimmung „nel glorioso acquisto“ (im rühmlichen Sieg) wird im Deutschen zu einem Temporalsatz umgeformt; der Sieg erscheint kausal und temporal durch das Schaffen und das Dulden des Menschen bestimmt; bei Tasso steht hingegen der Ruhm im Vordergrund („glorioso“), den sich der Held im Kampf verdiente;
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kühnen Streit. / Und fruchtlos droht die Hölle, fruchtlos raffen / Sich Asien auf, und Libyen, kampfbereit; / Denn Gott vergönnt ihm, die verirrrten Seinen / Bei dem Panier des Heiles zu vereinen.“ Torquato Tasso’s Befreites Jerusalem 1819 (s. Anm. 95), S. 3. „Von Wehr und Waffen ich und von dem Hauptmann sing, / der Christi werthes Grab gar ritterlich erstritte, / mit Hand und mit Verstand verrichtet er viel ding, / in dem berühmten Sieg er mächtig viel erlitte, / die Höll zu dämpfen ihn umsonst sich unterfing / die Heydeschaft umbsonst auff ihn zusammenritte, / dann seine Helden er, durchs Himmels Gunst und Macht, / bey alle Creutz Panier zusammen wider bracht.“ (Torquato Tasso: Gotfried von Bulljon Oder Das Erlösete Jerusalem. Übers. von Diederich von dem Werder. Frankfurt a. M. 1626, S. I).
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auch das Verb ‚dulden‘ statt ‚leiden‘ („soffrì“) entfernt den Leser vom Krieg. Die zweite Strophenhälfte wird von Tasso durch einen Doppelpunkt an die erste angeschlossen, und erscheint als Ausführung dessen, was der Held erleidet; Gries trennt die zwei Teile durch einen Punkt. Der Versanfang („Doch fruchtlos droht die Hölle“) klingt damit fast wie ein Motto, das unabhängig vom Kontext seine Gültigkeit besitzt. Auch in den letzten Versen streicht er die Hinweise auf den Krieg: Tasso hebt im sechsten Vers das Prädikat „s’armò“ (‚sich bewaffnen‘) hervor, indem er es an den Anfang setzt, Gries verwendet ein anderes Verb; das konfessionelle Moment bzw. der Streit zwischen Christentum und Heidentum wird gänzlich gestrichen. Tasso spricht weiter vom Himmel, der im Kampf Gottfried begünstigt hat („chè il ciel gli diè favore“), während Gries von einem Gott, der ihn schützt, spricht; er betont Gottes Vaterliebe zu seinem Sohn. Der Kreuzzug wird zum Symbol eines Streites, den jeder Mensch im Namen Gottes führt. Gottfried ist in Gries’ Übersetzung ein aufgeklärter Mensch des 18. Jahrhunderts, der Vertrauen in sich selbst und ins menschliche Vermögen hat; seine schöpferische Kraft ist typisch für die Geniezeit. Diese Aktualisierung des Epos, die den Ritter durch den Menschen und Christus durch den Erlöser ersetzt, erreicht Gries durch einen kohärenten und modernen Wortschatz und durch eine meisterhafte Verwendung der Syntax. Er ist außerdem imstande, sich durch die Nachbildung des Rhythmus und des Metrums und durch den Einsatz von Alliterationen, Anaphern und Assonanzen auch der Form des Originals anzunähern.112 Diese kurze Analyse, die durch weitere Beispiele bestätigt werden könnte, zeigt, dass Gries’ Übersetzung mit Schlegels Theorie im Einklang steht: Sie ist „keine Nachbildung“,113 sondern eine Vergegenwärtigung und Verwandlung des Originals. Der Verzicht auf Archaismen, die Modernisierung des Wortschatzes, der Versuch, zentrale Begriffe seiner Epoche in die Übersetzung einzuführen (Geist, Schaffen, Dulden), die Abstrahierung vom Kontext der Kreuzzüge und die Vergegenwärtigung des Begriffs des Göttlichen (Gott, der schützt, der Erlöser statt Christus) spiegeln Schlegels Prinzip wider, nach dem der Übersetzer fähig sein muss, „vollkommen ins Moderne“114 zu übersetzen und „alles Moderne“115 zu machen. Der Mangel an Italianismen zeigt, dass sich Gries der Verschiedenheit der Sprachen völlig bewusst war. Die Übersetzung ist eine werdende Kunstform, in der die Progressivität der Poesie sichtbar wird; sie verzichtet auf Vollständigkeit und aktualisiert, modernisiert, 112
113 114 115
Die Übersetzungen von Gries wurden bis heute von der Forschung vernachlässigt; vgl. Ingeborg Ulrich: Torquato Tassos „Befreites Jerusalem“ in den deutschen Übersetzungen von Diederich von dem Werder und Johann Diederich Gries. Diss. Bonn 1950; Friedrich Hofmann: J. D. Gries als Übersetzer. Diss. Frankfurt a. M. 1925; Georg Trübner: „Johann Diederich Gries – ein vergessener Übersetzer?“ (s. Anm. 98). F. Schlegel: „Zur Philologie II“ (s. Anm. 7), S. 63 [43]. Ebd., S. 65 [56]. Ebd.
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romantisiert das Alte. Gries erkennt die Geschichte als philologisches Prinzip und den Unterschied von zwei historischen Momenten als unüberwindlich an. Die verschiedenen Fassungen und die ständigen Bearbeitungen weisen darauf hin, dass er seine Arbeit als eine „unvollkommne Annäherung“,116 eine „unendliche Aufgabe“117 konzipierte. Der Rekurs auf die strenge Stanze, die Wiedergabe des Rhythmus durch Anaphern, Alliterationen und Enjambements bestätigen, dass er wie die Brüder Schlegel Form und Inhalt als einen unauflösbaren sprachlichen Komplex betrachtete, der übertragen werden sollte. Gries pflegte darüber hinaus die deutsche Sprache, wie es sich die Brüder Schlegel wünschten; er wurde von der Idee geleitet, es sei Zeit, alle romantischen Dichter zu verdeutschen, damit „alle klassischen gut übersetzt, und auch bei uns so allgemein wie bei den Franzosen gelesen werden möchten“;118 seine unermüdliche Tätigkeit als Übersetzer verstand er als einen Beitrag zum Programm der Weltliteratur, die auf der Idee der Poetisierung der deutschen Sprache gründete. Er war Dichter und Übersetzer und vor allem als Übersetzer ein Dichter. Er verstand seine Übersetzungen als potenzierte Metatexte, die kritisch und zugleich poetisch sind, d. h. Ergebnisse eines hermeneutischen und zugleich kreativen Aktes.
2.6 Brentanos Parodie auf Gries Im Roman Godwi streitet der fiktive Autor des Romans, Maria, mit dem Dichter Haber über dessen Plan, Tassos Befreites Jerusalem zu übersetzen. Haber ist eine Parodie auf Gries. Der Autor möchte dadurch darauf hinweisen, dass der von Gries vertretene Anspruch einer adäquaten Übersetzung zu hoch sei und dass die betreffenden Autoren nur frei übersetzt werden können; eine textgetreue Übersetzung von Werken, die spezifische sprachliche und stilistische Eigenheiten aufweisen, sei eine Utopie. Er erkennt die Grenzen der Übersetzungskunst und weist auf die Unübersetzbarkeit einiger Kunstwerke hin: Die Tonspiele, die Rhythmen, die Farben der Worte, die Assoziationen blieben immer unübersetzbar; jeder Versuch müsse vor solcher Sprachmusik scheitern; die Übersetzung wird als Verrat empfunden. Brentano hatte vielleicht Recht, aber wie Gries können alle Übersetzer auf diese „unvollkommne Annäherung“,119 auf diese „unendliche Aufgabe“120 nicht verzichten:
116 117 118 119 120
A. W. Schlegel: „Homers Werke von Johann Heinrich Voss“ (s. Anm. 28), S. 496. F. Schlegel: „Zur Philologie II“ (s. Anm. 7), S. 60 [18]. F. Schlegel: „Schillers Horen 1796, 2. bis 5. Stück“. In: KFSA 2, S. 9–20, hier: S. 11. A. W. Schlegel: „Homers Werke von Johann Heinrich Voss“ (s. Anm. 28), S. 496. F. Schlegel: „Zur Philologie II“ (s. Anm. 7), S. 60 [18].
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„Die Reime allein schon“, fuhr ich fort, „sind in unserer Sprache nur als Gereimtes wiederzugeben, und ja, sehen Sie, eben diese Reime schon sind eine solche Gestalt der Gestalt, und wie wollen Sie das alles hervorbringen? Der italiänische Reim ist der Ton, aus dem das Ganze gespielt wird. Wird Ihr Reim denselben Ton haben? Ich glaube nicht, daß Sie ein solcher Musiker sind, der aus allen Tonarten und Schlüsseln auf ein andres Instrument übersetzen kann, ohne daß das Lied hie und da stillsteht und sich zu verwundern scheint […].“ „Jede Sprache“, fuhr ich fort, „gleicht einem eigentümlichen Instrumente, nur jene können sich übersetzen, die sich am ähnlichsten sind; aber eine Musik ist die Musik selbst und keine Komposition aus des Spielers Gemüt und seines Instrumentes Art. Sie erschafft sich da, wo das Instrument, der Tonmeister und die Musik in gleicher Vortrefflichkeit sich berühren. Viele Übersetzungen, besonders die aus dem Italiänischen, werden immer Töne der Harmonika oder blasender Instrumente sein, welche man auf klimpernde oder schmetternde übersetzt. […]“ „Den Dante halten Sie denn wohl für ganz unübersetzlich“, sagte Haber. „Grade einen solchen weniger,“ fuhr ich fort, „ebenso wie den Shakespeare. […] Die meisten anderen italiänischen Sänger aber haben ganz eigentümliche Manieren, die in der Natur ihres Instrumentes liegen, es sind Tonspiele, wie bei Shakespeare Wortspiele; Tonspiele können nicht übersetzt werden, wohl aber Wortspiele.“ „Wie sind wir auf die Übersetzungen gekommen?“, sagte Godwi. – „Durch das romantische Lied Flamettens“, sagte ich. „Das Romantische selbst ist eine Übersetzung“.121
121
Clemens Brentano: „Godwi“. In: ders.: Werke. Bd. 2. München 1963, S. 7–460, hier: S. 261–262.
Studium
Stefan Hagemann
Philologie als historische Kritik Zu Friedrich Schlegels transzendentalphilologischer Wende und ihren geschichtsphilosophischen Implikationen Friedrich Schlegels Auseinandersetzung mit der antiken Literatur stand von Beginn an unter geschichtsphilosophischen Vorzeichen. Die Abhandlung Über das Studium der griechischen Poesie sowie der nachgelassene Essay Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer verfolgen das Ziel, nicht nur den Charakter der antiken Kunst und Bildung auf den Begriff zu bringen, sondern auch die Potenziale der Moderne im Lichte einer idealisierten Antike auszuloten. Schlegels frühe geschichtsphilosophische Konzeption gerät jedoch in eine Aporie, die ihren Grund in der behaupteten absoluten Verschiedenheit der antiken und modernen Bildung hat. Die in sich vollendete Naturpoesie der Griechen steht demnach der durch Unvollendetheit und Progressivität gekennzeichneten modernen Kunstpoesie unvermittelt gegenüber, so dass deren geforderte Synthese als ein Sprung aus der modernen Bildung in eine neue Klassizität erscheinen muss, nicht aber aus dem immanenten Gang der modernen Bildung begreiflich zu machen ist. Mit den Heften Zur Philologie von 1797 vollzieht sich nun ein Perspektivwechsel in Schlegels Blickrichtung auf die Antike, den ich in Analogie zu der von Kant initiierten transzendentalphilosophischen Wende als transzendentalphilologische Wende bezeichnen möchte. An die Stelle der materialen Untersuchung klassischer Kunstwerke tritt die Frage nach der Erkenntnismöglichkeit des Klassischen. Schlegel fasst eine „Theorie der historischen Kritik“1 ins Auge, deren Zentralkategorien – die des Klassischen und die des Progressiven – nicht mehr primär substanzielle Entitäten bezeichnen, sondern als problematische Reflexionsbegriffe aufgefasst werden. Transzendental kann das dort skizzierte Verfahren genannt werden, insofern es nicht allein die formalen Regeln des Verstehens und der Kritik vorliegender Texte an die Hand geben soll, sondern über die Klassizität seines Gegenstandes im Prozess des philologischen Erkennens überhaupt erst zu entscheiden hat. 1
Friedrich Schlegel: Zur Philologie I. In: KFSA 16, S. 35–56, hier: S. 35 [5].
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Im Folgenden möchte ich für die These argumentieren, dass Schlegels Konzeption einer historischen Kritik nicht allein eine Infragestellung der Mustergültigkeit der antiken Kunst zur Folge hat – eine Abkehr von der Vorbildhaftigkeit der Antike hatte schon der Studiumsaufsatz mit seiner Kritik des Nachahmungsparadigmas teilweise vollzogen –, sondern dass mit ihr weitreichende Konsequenzen für den Begriff der Geschichte, des Historischen überhaupt verbunden sind. Ich möchte dabei in drei Schritten vorgehen: Erstens möchte ich kurz die Aporie von Schlegels früher geschichtsphilosophischer Konzeption erläutern. Es geht mir dabei weniger um eine inhaltliche Überprüfung von Schlegels Theorie der Kunst, sondern um die begrifflichen Mittel, die Schlegels Konstruktion zugrunde liegen. Zweitens soll der Perspektivwechsel nachgezeichnet werden, der sich um etwa 1797 in Schlegels Auffassung des philologischen Gegenstands geltend macht. Es soll nach der spezifischen Ausprägung des Kritikbegriffs gefragt werden, der Schlegel in seinen Aufzeichnungen zur Philologie vorschwebt. Zu klären wäre, warum gerade die Philologie das Organ einer genuin historischen Kritik sein soll. Drittens soll Schlegels Kritikbegriff auf seine geschichtsphilosophischen Implikationen hin befragt werden. Ich möchte deutlich machen, dass Schlegel durch die Reflexion auf die Erkenntnisbedingungen des Klassischen zu einer Geschichtsauffassung gelangt, die sich in entscheidenden Punkten von derjenigen seiner klassizistischen Anfänge abhebt und die durchaus als zentraler Bezugspunkt seiner frühromantischen Phase gelten kann.
1. Die Aporie des Studiumsaufsatzes Zunächst möchte ich die Aporie von Schlegels früher geschichtsphilosophischer Konstruktion darstellen. Dabei stütze ich mich vor allem auf den Aufsatz von Hans Robert Jauß über Schlegels und Schillers Replik auf die ,Querelle des Anciens et des Modernes‘.2 In der Abhandlung Über das Studium der griechischen Poesie entwirft Schlegel bekanntlich ein geschichtsphilosophisches Panorama, dessen Mittelpunkt die Gegenüberstellung von klassischer Naturpoesie und moderner Kunstpoesie bildet. Lässt man einmal die Fülle erhellender Detailbeobachtungen beiseite und beschränkt sich auf die allgemeinen Charakteristika von Natur- und Kunstpoesie, so stehen beide Arten der Dichtkunst in so gut wie allen ihren Aspekten im Verhältnis eines strikten Gegensatzes zueinander: Ist die klassische Poesie durch Naturhaftigkeit (im Sinne von Anschaulichkeit und sinnlicher Unmittelbarkeit) und durch innere Vollendung und 2
Hans Robert Jauß: „Schlegels und Schillers Replik auf die ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘“. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970, S. 67–106.
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Zyklizität bestimmt, so zeichnet sich die moderne Poesie durch Reflexivität, durch Disharmonie von Form und Inhalt sowie durch ihre Progressivität aus: Im Gegensatz zur klassischen ist die moderne Bildung künstlich, insofern sie nach der tätigen Realisierung ihres Ideal gegen die Natur strebt, das ihr aber stets vorenthalten bleiben muss: Sie kann die Allgemeingültigkeit der klassischen Schönheit aus eigener Kraft nicht wiederherstellen, weil sie nach Schlegels Befund unter der „Herrschaft des Manirierten, Charakteristischen und Individuellen“3 steht. Das Individuelle sei aber seiner Natur nach keiner Vollendung fähig. Für diese Zwiespältigkeit des Individuellen – dessen inneren Trieb nach Vollendung und deren gleichzeitige Unmöglichkeit – steht die Kategorie des Interessanten: Interessant ist das Individuelle als negative Reflexionseinheit, die dem modernen Subjekt seine konstitutive Unerfülltheit vor Augen führt.4 Ist Schlegels Theorie des Klassischen noch weitgehend am Vorbild Winckelmanns orientiert, so kann als seine eigenständige Leistung die Diagnose gewertet werden, die er an die moderne Bildung stellt. Diese Diagnose fällt höchst ambivalent aus: Das Interessante ist einerseits Ausdruck eines fundamentalen Mangels der Moderne, des Verlustes einer der Antike unterstellten unmittelbaren Natureinheit, andererseits kündigt sich in ihm modo negativo die Aussicht auf eine neue Klassizität an. Es macht sich im Interessanten die Krisenhaftigkeit des Übergangs von der fraglosen Anerkennung des Antikeideals zu einer Wiedergeburt der objektiven Kunst geltend. Aber auch in seinen bedeutendsten Ausprägungen – nach Schlegel ist das Shakespeares Hamlet – ist das Interessante lediglich ein vorbereitender Modus des Schönen, ohne dass aber durch seine Kritik etwas über die spezifische Gestalt der kommenden Klassizität ausgemacht werden könnte. Den Übergang von der Antike zur Moderne einerseits und von der Moderne zur neuen objektiven Poesie andererseits schreibt Schlegel denn auch der Einwirkung äußerer Faktoren zu. So resultiere der Verlust der anfänglichen Natureinheit aus einem „unglücklichen Mißbrauch der Macht“5; und umgekehrt sei die Überwindung der „ästhetische[n] Anarchie“6 der Moderne allein vom Sich-Ereignen einer „glückliche[n] Katastrophe“7 zu erwarten: Wenngleich die Moderne diesen Umbruch vorbereitet, bleibt ihr Eintreten zuletzt einer „Gunst des Schicksal“8 überlassen und erscheint als Sprung aus deren Reflexivität in die Unmittelbarkeit einer neuen Gräzität.
3 4 5 6 7 8
Friedrich Schlegel: „Über das Studium der griechischen Poesie“. In: KFSA 1, S. 217–367, hier: S. 252. Zur Kategorie des Interessanten vgl. ebd., S. 222 f., sowie S. 252 f. Ebd., S. 231. Ebd., S. 224. Ebd. Ebd., S. 297.
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Mit dieser triadischen Geschichtskonzeption, deren rousseauistischer Einschlag unverkennbar ist, verfehlt Schlegel nun die von ihm selbst unterstellte Vermittlungsfunktion des Interessanten. Die interessante Individualität steht in einer lediglich abstrakten, negativen Beziehung zum Klassischen, nicht aber in einer bestimmten, positiven, durch die es allein befähigt wäre, jenes zu antizipieren. Seinen Grund hat dieses Verfehlen aber darin, dass Schlegel das Klassische und das Interessante nicht bloß als einen kategorialen, sondern als einen substanziellen Gegensatz begreift. Schlegel geht ganz im Sinne Winckelmanns davon aus, dass es klassische Werke gibt, deren ästhetischer Wert so offenbar wie die Defizienz der modernen Kunst ist. Die Orientierung am einfachen Vorliegen des Klassischen bzw. des Interessanten hat zur Folge, dass eine Vermittlung beider Bestimmungen denkunmöglich wird: Das klassische Ideal bleibt der Individualität ebenso äußerlich, wie das Hinaustreten aus der schönen Natureinheit als ein zufälliges Ereignis erscheint. Der schlechthinnigen Positivität des Klassischen korrespondiert dabei die Negativität des Interessanten. Weil beides aber nicht zusammengebracht werden kann, bleibt es Schlegel verwehrt, Geschichte als jenen wie immer auch diskontinuierlichen Bildungsprozess zu denken, der ihm vorschwebt.
2. Die Kritik der Philologie Für Schlegels Abkehr von seiner frühen klassizistischen Position sind verschiedene Gründe angeführt worden. Zu nennen wäre etwa die Lektüre von Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung, die Auseinandersetzung mit der Philologie Friedrich August Wolfs sowie – in weniger direkter Weise – die Kritik der Grundsatzphilosophie Reinholds und Fichtes. Dass Schlegel eine solche Abkehr bewusst vollzogen hat, mögen zunächst zwei Fragmente aus dem Lyceum belegen; so lautet das siebente Fragment: Mein Versuch „Über das Studium der griechischen Poesie“ ist ein manirierter Hymnus in Prosa auf das Objektive in der Poesie. Das schlechteste daran scheint der gänzliche Mangel der unentbehrlichen Ironie und das Beste die zuversichtliche Voraussetzung, daß die Poesie unendlich viel wert sei; als ob dies eine ausgemachte Sache wäre.9
9
Friedrich Schlegel: Kritische Fragmente. In: KFSA 2, S. 147–163, hier: S. 147 [7].
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Und im 44. Fragment heißt es: Man sollte sich nie auf den Geist des Altertums berufen wie auf eine Autorität. Es ist eine eigene Sache mit den Geistern; sie lassen sich nicht mit Händen greifen und dem andern vorhalten. Geister zeigen sich nur Geistern.10
Ohne dass ich die zitierten Fragmente hier im Detail interpretieren will, kann festgehalten werden, dass sie das Problematischwerden des Klassischen und mit ihm des Werts der Poesie überhaupt ansprechen. Dieses Problematischwerden des Klassischen markiert nun den Einsatzpunkt der Philologie, genauer: der philologischen Methodenreflexion, wie sie Schlegel in den Heften Zur Philologie unter dem Titel einer „Philosophie der Philologie“11 skizziert. Weil die Philologie auf die materiale Erkenntnis klassischer Werke abzielt, bedarf sie eines methodisch abgesicherten Verfahrens, mittels dessen sie über die Klassizität ihres Gegenstandes erst entscheiden kann. Insofern ist die Philologie als ein wesentlich kritisches Verfahren zu verstehen: Sie stellt an die überlieferten Texte die Frage, was das den historischen Wandel Überdauernde an ihnen ist. Die Grundbestimmungen dieses kritischen Verfahrens gewinnt Schlegel nun aus der Reflexion auf Bedingungen des historischen Erkennens. Die Philologie entspringt nach Schlegel überhaupt – im Gegensatz zur Philosophie – einem Interesse für bedingtes, und das heißt eben: für historisch-empirisches Wissen.12 Sie hat es nicht mit den Bedingungen objektiven Erkennens überhaupt zu tun, sondern mit der Erkenntnis bestimmter Gegenstände in ihrem historischen Wandel. In diesem Sinne will Schlegel die Philologie nicht als eine materiale Wissenschaft, sondern primär als eine Kunst verstanden wissen.13 Er hebt damit zunächst weniger auf deren poetischen Charakter ab, sondern auf das Technische ihres Verfahrens. Mit der Akzentuierung des Technischen soll nun vor allem die Autonomie der Philologie gegenüber einer inhaltlichen Festlegung auf bestimmte metaphysische, moralische und ästhetische Prinzipien gewahrt werden. Dabei steht das Technische bei Schlegel immer für das Denken im Modus der Anwendung auf die Empirie: Die Aufgabe der Technik – gerade als eines formalen Verfahrens – sei es, eine materiale Altertumslehre allererst zu ermöglichen; die Philologie sei ein „technisches Ganzes“14 von formalen Regeln, das sich aber erst 10 11 12 13 14
F. Schlegel: Kritische Fragmente (s. Anm. 9), S. 152 [44]. F. Schlegel: Zur Philologie I (s. Anm. 1), S. 43 [99]. Vgl. ebd., S. 46 [137]. Vgl. ebd., S. 35 [2]. Vgl. ebd., S. 40 [60]: „Die Philologie ist kein Aggregat von Wissenschaft, sondern ein Ganzes: aber kein logisches sondern ein technisches.“
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in der Anwendung auf einen bestimmten, empirisch gegebenen Gegenstand, also auf den je vorliegenden Text, realisiert und ihn in seinen mannigfaltigen historischen Relationen erkennbar werden lässt. Umgekehrt bleiben aber auch diese formalen Regeln selbst empirisch bedingt, insofern sie allein von dem Faktum des immer schon gegenstandsbezogenen philologischen Erkennens her zu erschließen sind. In diesem Sinne meint Schlegel: Die Gesetze der Philologie sind sämmtlich entlehnt, historisch. Nicht aus der Bildungslehre unmittelbar; sondern aus der historischen Logik, welche, wie jede Wissenschaft ihre angewandte Logik in sich begreift, aus jener Grundlage und der allgemeinen Logik zusammengesetzt ist.15
Als Grundbestimmungen jener historischen Logik gelten Schlegel nun weiterhin das Klassische und das Progressive. So hebt er gleich in der ersten Notiz deren empirischhistorischen Ursprung hervor und wendet ihn gegen die rein formal verfahrende konventionelle Philologie: „Der Unterschied des Klassischen und Progressiven ist historischen Ursprungs. Darum fehlt er den meisten Philologen.“16 Die Einsicht in den nach Schlegel „unermeßlichen Unterschied“17 des Klassischen und des Progressiven sei die Vorbedingung der Philologie; sie komme ohne jenen Unterschied nicht aus, weil sie sonst bloß formal-logisch verfahren würde und damit den historischen Charakter ihres Gegenstandes verfehlte. Entscheidend ist nun, dass Schlegel die Kategorien des Klassischen und des Progressiven im Kontext seiner Überlegungen zur philologischen Methode einer grundsätzlichen Revision gegenüber seinem früheren Ansatz unterzieht: Er begreift sie nicht mehr wie im Studiumsaufsatz als objektive, substanzielle Bestimmungen, sondern als Postulate oder regulative Ideen des philologischen Erkennens. So spricht Schlegel von dem Postulat der Philologie, dass es klassische Werke geben soll.18 An anderer Stelle notiert er: „Die Interpretazion verdient nicht jede gute historische Quelle sondern nur classische Werke.“ Aber „der classische Werth und allgemeine der alten Schriftsteller muß“, so fügt er hinzu, „in der Theorie der Philologie postuliert werden.“19 In einem ähnlichen Sinn meint Schlegel: „Die Kritik bedarf klassischer Werke zu ihren Gegenständen.“20 15 16 17 18 19 20
F. Schlegel: Zur Philologie I (s. Anm. 1), S. 48 [158]. Ebd., S. 35 [1]. Ebd. Vgl. ebd., S. 47 [143]: „Postulat: es soll klassische Werke geben.“ Ebd., S. 41 [86]. F. Schlegel: Zur Philologie II. In: KFSA 16, S. 59–81, hier: S. 62 [34].
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Aber nicht nur das Klassische, auch das Progressive versteht Schlegel als regulative Idee, wie die folgende Notiz es nahelegt: „Die Klassik und die Vervollkommnungslehre sind nichts als die Entwicklung der beyden historischen Ideen.“21 Das Klassische und das Progressive bilden demnach die vorerst hypothetischen Rahmenbedingungen des historischen Erkennens, deren Objektivität sich erst in dessen Vollzug zu erweisen habe. Mit diesem Funktionswandel überträgt Schlegel nun, wie ich vorhin bereits angedeutet habe, die von Kant in der Philosophie vollzogene transzendentale Wende auf die Philologie: Nicht das objektive Vorliegen und das allgemeine Anerkanntsein kanonischer Werke ist maßgeblich für das philologische Erkennen; vielmehr verhält es sich umgekehrt so, dass die kategorialen Bestimmungen des je Vorliegenden erst aus dem Faktum des philologischen Erkennens entspringen. Was Schlegel aber mit der Entsubstanzialisierung seiner historischen Zentralkategorien gewinnt, ist der Begriff ihrer Vermittlung: Diese Vermittlung denkt Schlegel zunächst weniger als objektive Vermittlung in den Werken, sondern er schreibt sie der Methode zu. So notiert er, die Philologie müsse „ZUGLEICH progressiv und klassisch seyn“;22 er charakterisiert den methodischen Fortgang der Philologie als eine „Cyclisazion“,23 also gewissermaßen als ein Kreisen um das zu erkennende Werk, das sich aber zugleich als eine unendliche Progression immer neuer Verstehensversuche darstellt: Die Zyklisation vollziehe sich als eine „Totalisazion von unten herauf“,24 die beim einzelnen Detail ansetzt, um von dort aus zur Einsicht in das Ganze zu gelangen. In diesem Sinne spricht Schlegel von der „cyklischen Methode“,25 mit der er die Figur des später von August Boeckh theoretisch ausgearbeiteten hermeneutischen Zirkels vorwegnimmt. Der Zusammenhang des Klassischen und des Progressiven kommt darin nun in der Weise zum Tragen, dass der zunächst bloß hypothetisch als klassisch gesetzte Text sich erst im Fortschreiten des Erkennens als ein solcher zu erweisen vermag. Das Klassische ist dabei, wie es das Athenaeums-Fragment Nr. 404 formuliert, gerade dasjenige, „was nie ganz verstanden werden mag“26 und eben deswegen ein tendenziell unendliches Fortschreiten des Erkennens erfordert. Das Interessante nun wäre demnach aber nicht allein das Gegenteil des Klassischen, sondern es wäre diejenige Form, unter der das Klassische zunächst erscheint und, sofern die Erkenntnis des Klassischen nie vollendbar ist, immer auch erscheinen muss. 21 22 23 24 25 26
F. Schlegel: Zur Philologie II (s. Anm. 20), S. 72 [130]. F. Schlegel: Zur Philologie I (s. Anm. 1), S. 51 [51]. F. Schlegel: Zur Philologie II (s. Anm. 20), S. 68 [84]. Ebd. Ebd., S. 70 [105]. Friedrich Schlegel: Athenaeums-Fragmente. In: KFSA 2, S. 165–255, hier: S. 242 [404].
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Diese Neubestimmung des Verhältnisses des Klassischen und des Interessanten mag eine Passage aus Schlegels Jenaer Vorlesung über Transcendentalphilosophie von 1800/1801 belegen, wo es heißt: Wir haben einen Begriff zu suchen, der das ausdrückt, was interessant im Individuo ist. Es ist dies der Begriff des Classischen. […] Interessant ist, wo das Gute noch nicht entschieden ist, und das objektive Interesse ist an dem Reellen. […] Classisch ist was reell ist im Individuo als Individuum.27
Sieht man von der theologischen Konnotation der beiden Kategorien ab, so wird deutlich, dass Schlegel die wie immer auch problematische Einheit von Klassischem und Interessantem in der Individualität erblickt, für die er im Studiumsaufsatz allein die Kategorie des Interessanten reserviert hatte. Das individuelle Werk, verstanden als eine solche historische Reflexionseinheit, bildet den objektiven Bezugspunkt des philologischen Erkennens, das sich aber, weil diese Einheit stets problematisch bleibt, als Kritik realisiert. Die philologische Kritik hat aber deshalb durch das Interessante einen positiven Bezug auf das Klassische, also Überdauernde, weil es in der interessanten Individualität als deren innerer Sinn zur Erscheinung kommt. Der Gegebenheit von Individualität als der objektiven, empirischen Voraussetzung des philologischen Erkennens korrespondiert nun dessen intuitives Moment, auf das Schlegel immer wieder hinweist: Wenn er die Philologie als einen ursprünglichen Trieb charakterisiert, der von einem „klassischen Sinn“28 lebt und ihr „subjektive[s] Fundament“ im „historische[n] Enthusiasmus“29 ausmacht, dann hebt er gerade darauf ab, dass das Erfassen des bestimmten historischen Sinnes überlieferter Texte nicht allein durch formale Regeln garantiert werden kann. Es ist vielmehr bedingt durch ein vorgängiges Verständnis des Sinns, das aber immer in einem Spannungsverhältnis mit der aktualen, unvollendeten Gestalt des Textes steht. Die Philologie wäre nach Schlegel somit als ein Verfahren der historischen Erkenntnis zu verstehen, das von einem intuitiven, unbestimmten Gegenstandbezug ausgeht und darauf abzielt, diesen in ein deutliches Verstehen zu überführen. Der Technik, also der Philologie im engeren Sinne, kommt dabei vor allem die vermittelnde Funktion zu: Sie soll das zunächst nur dunkel Erahnte mittels allgemeiner Regeln überprüfbar machen. Sie stellt im Erkennen jenen kontinuierlichen Bezug auf den
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Friedrich Schlegel: Transcendentalphilosophie. In: KFSA 12, S. 3–105, hier: S. 104. F. Schlegel: Zur Philologie II (s. Anm. 20), S. 60 [20]; ebd., S. 61 [25]. F. Schlegel: Zur Philologie I (s. Anm. 1), S. 39 [52].
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Text her, der durch die Sinnintuition allein nicht gewährleistet ist. Indem sie so das den historischen Wandel Überdauernde zur Erscheinung bringt, konstituiert sie den Text allererst als einen klassischen. Aus der Entsubstanzialisierung der geschichtsphilosophischen Grundbegriffe geht deshalb eine grundsätzliche Neubewertung des erkennenden Verhaltens zum historisch Gegebenen hervor: Das Klassische als das historisch Bedeutsame ist weder ein schlechthin Vergangenes noch liegt es einfach vor; vielmehr ist es durch die philologische Technik als solche progressiv zu realisieren. Philologische Erkenntnis wäre demnach also nicht allein deswegen historisch, weil ihr Gegenstand ein historischer ist, sondern weil sie ihren Gegenstand als einen historischen erst verwirklicht.
3. Kritik und Historisierung Die hohen Erwartungen, die Schlegel an die Philologie stellt, beruhen also offenbar wesentlich auf deren historisierender Funktion: Der Philologie als Methode kommt es zu, aus der Vielheit der empirischen Kenntnisse einen historischen Zusammenhang zu konstituieren. Von hier aus möchte ich nun zu den geschichtsphilosophischen Konsequenzen kommen, die sich aus dieser Konzeption der Philologie ergeben. Charakteristisch für Schlegels Geschichtsbegriff ist es, dass er den Zusammenhang des Historischen immer auch als einen herzustellenden und nicht bloß als einen schon bestehenden begreift. So schreibt er: „Der Zweck der Philologie ist die Historie. Ein Satz. Dieß ist noch fast nirgends geschehn. Es giebt noch kaum Historie.“30 Schlegel meint, dass der Begriff der Geschichte allein aus dem Faktum des philologischen Erkennens zu gewinnen sei; so heißt es: „Die ganze Historie muß aus der Philosophie der Philologie postulirt und deducirt werden können.“31 „Die Wissenschaft die aus der Philologie entspringt heißt Historie.“32 Von ‚Historie‘ – verstanden freilich zunächst im Sinne von Geschichtsschreibung und weniger als Realgeschichte – kann demnach erst dann gesprochen werden, wenn die mannigfaltigen empirischen Fakta sich in ihrer wesentlichen Beziehung auf einen übergreifenden Zusammenhang zu erkennen geben, auf dessen Begriff sie als auf ihren Zweck hin orientiert sind. Dies eben meint Schlegel mit dem totalisierenden Verfahren der Philologie. Der herzustellende Zusammenhang zeichnet sich aber gerade als historischer durch seine konstitutive Unvollendetheit aus.
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F. Schlegel: Zur Philologie I (s. Anm. 1), S. 37 [27]. Ebd., S. 47 [47]. F. Schlegel: Zur Philologie II (s. Anm. 20), S. 67 [75].
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Der bei Schlegel zentrale Gedanke der Unvollendetheit der Welt und überhaupt alles Individuellen33 hat nun zum einen die Konsequenz, dass die Totalität, um die es geht, begrifflich nur in abstracto vorweggenommen werden kann, als konkrete sich aber erst annäherungsweise im Vollzug des Erkennens realisiert, zum anderen aber, dass jedes Individuum, so sehr es in seiner aktualen Gestalt durch die Relationen, in denen es steht, determiniert ist, stets offen ist, in neue Relationen einzutreten. Die Historizität des Individuellen ermöglicht dann nicht nur, sondern erfordert geradezu ein unendliches Fortschreiten im Erkennen. Die Sphäre des Historischen wäre dann eben jener unendliche, das heißt unabschließbare Spielraum des empirischen Erkennens, von dem Schlegel – wiederum in der Transcendentalphilosophie-Vorlesung – spricht.34 Stellt man diesen Geschichtsbegriff Schlegels anfänglicher Konstruktion gegenüber, dann fällt zunächst die positive Umdeutung des Progressiven, des Fortschreitens auf: Progressivität ist nicht länger ein leeres Streben nach einem unerreichbaren Ideal, sondern in der Progression kommt das Klassische, also das Ideale selbst, zur Erscheinung. Geschichte ist dann aber nicht mehr – und das scheint mir die zentrale Differenz zu bezeichnen – von den Extremen einer schlechthin vergangenen Antike und einer noch künftigen Vollendung her zu denken, sondern von der Gegenwart her. Die Perspektive auf etwas kommendes, noch ausstehendes bleibt freilich erhalten, die utopistische Stoßrichtung von Schlegels Geschichtsdenken, die der Fortschrittsgedanke stets impliziert, tritt in Schlegels frühromantischer Phase sogar noch stärker hervor; aber entscheidend ist, dass der Sinn der Progression nicht in einem unbestimmten Jenseits liegt, sondern den bestimmten Relationen des Gegenwärtigen entspringt. Weil die historischen Fakta aber nicht auf einen univoken Sinn festzulegen sind, gibt es, wie Schlegel in der Condorcet-Rezension bemerkt, nicht nur einen einsinnigen Fortschritt, sondern viele, durchaus divergierende Fortschritte.35 Für die Philologie, also für das Studium klassischer Texte, bedeutet dies nun, dass es ihr nicht allein darum gehen kann, deren vorgeblich originären Sinn ausfindig zu machen. Die korrekte Wiederherstellung der ursprünglichen Textgestalt und die Frage danach, was der Text „eigentlich“ meine, bleiben zwar Vorbedingung aller philologischen Forschung. Deren viel entscheidendere Aufgabe besteht jedoch darin, den gegenwärtigen Sinn des Vergangenen ausfindig zu machen. Die Art und Weise, wie das Vergangene jetzt erscheint, rückt gegenüber seinem ursprünglichen Sinn in den Mittelpunkt und ist ebenso konstitutiv für den substanziellen Gehalt des Textes. 33 34 35
Zum Gedanken der unvollendeten Welt vgl. F. Schlegel: Transcendentalphilosophie (s. Anm. 27), S. 42. Vgl. F. Schlegel: Transcendentalphilosophie (s. Anm. 27), S. 42. Vgl. Friedrich Schlegel: [Über] Esquisse d’un tableau des progrès de l’esprit humain. Ouvrage posthume de Condorcet. In: KFSA 7, S. 3–10, hier: S. 7 f.
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Die historische Kritik zielt somit vor allem auf die Aktualisierung des scheinbar Vergangenen, indem sie es in seiner historischen Vieldimensionalität aufschließt. Die Philologie ist Historisierung, aber nicht im Sinne des Historismus des späteren 19. Jahrhunderts: Sie ist nicht die Erkenntnis des Vergangenen als eines Vergangenen, sondern erkennende Aneignung des Vergangenen als eines Gegenwärtigen. Schlegels früher Entwurf eines philologischen Forschungsprogramms ist nicht über das Stadium von Skizzen hinausgekommen. Vielfach handelt es sich bei seinen Notaten um programmatische Deklarationen, die theoretisch nur unter bestimmten, ihrerseits historischen Voraussetzungen verständlich gemacht werden können. Schlegels emphatischer Fortschrittsbegriff und sein Vertrauen auf die subjektive Intuition entspringen immer auch einem romantisch-aufklärerischen Erkenntnisoptimismus, dessen Prämissen in der Distanz zumindest als strittig gelten dürften. Insofern hat die Aktualisierbarkeit von Schlegels Philologie-Konzeption selbst ihre historischen Grenzen. Was hingegen als das Überdauernde von Schlegels Forschungsprogramm angesehen werden kann, scheint mir die Reflexion auf den Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und wissenschaftlicher Methodologie zu sein. Von Schlegel wäre zu lernen, dass eine Disziplin, die es wie die Philologie mit wesentlich historischen Gegenständen zu tun hat, durch die Reflexion auf ihre impliziten geschichtsphilosophischen Voraussetzungen zu einem klareren Verständnis ihrer selbst gelangen kann. Das Medium ihrer Selbstverständigung wäre aber das Historische selbst. Geschichtsbewusstsein bedeutet dann nicht Relativismus, sondern es wäre die Möglichkeitsbedingung wissenschaftlicher Selbstreflexion.
Mark-Georg Dehrmann
Eine „neue Epoche in der Geschichte der Poesie“ Friedrich Schlegels philologische Poesie der Moderne am Beispiel des Roland-Epos 1. Schlegel als Dichter? Friedrich Schlegel als Dichter – dieses Thema mag verwundern.1 Den fünften Band der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe kennt zwar jeder, der sich mit Schlegel beschäftigt.2 Und jeder wird ihn in die Hand genommen haben, da er die Lucinde enthält. Aber gerade Schlegels Romanfragment soll hier nicht gemeint sein, sondern der sehr beachtliche, aber unbeachtete ‚Rest‘: also die zahlreichen Gedichte, die der Band enthält, das Drama Alarcos, die Bearbeitungen von Friedrich Spees Gedichten, das Heldengedicht in Romanzen oder, wie man sagen darf, das ‚Epos‘ Roland. Was also hat es auf sich mit Schlegel als Dichter? Hans Eichner hat in seiner Einleitung zu dem Band ein Verdikt über den Dichter Schlegel gesprochen.3 Die meisten Schlegel-Forscher scheinen sich ihm stillschweigend angeschlossen zu haben: Schlegel war wohl auch ein Dichter – aber ein schlechter. Sicher: Die Lucinde – d. h. der erste, publizierte Band – kann für jene phantasmatische progressive Form des modernen Romans einstehen, auf die Schlegel in seinen berühmten Athenaeums-Fragmenten zielte; und sie kann es auch noch dort, wo sie scheitert oder ihr Scheitern inszeniert: in ihrer kalkuliert verwilderten Form, in ihrer Fragmentarik. Die Lucinde fand rege Aufmerksamkeit als praktische Exponentin jener progressiven Universalpoesie, oder besser: als Werk, das sich auf einen Weg macht, der gar nicht abgeschlossen werden kann – auf den Weg in eine genuin moderne Poesie. Aber
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Bei diesem Beitrag handelt es sich größtenteils um eine Zusammenfassung (Abschn. 1–2) bzw. stark gekürzte Übernahme (Abschn. 3–4) aus dem Schlegel-Kapitel meiner Monographie Studierte Dichter. Zum Spannungsverhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert, die voraussichtlich 2014 erscheinen wird. Friedrich Schlegel: Dichtungen. Hg. und eingeleitet von Hans Eichner. München u. a. 1962 (= KFSA 5). Vgl. Eichner in seinem Nachwort, etwa KFSA 5, S. LXVIII.
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Mark-Georg Dehrmann
jener schon genannte, von seinem Umfang her alles andere als geringe Rest? Hermann Patsch, Armin Erlinghagen, Monika Ritzer und Albert Meier gehören zu den wenigen, die sich in jüngerer Vergangenheit mit einzelnen Dichtungen beschäftigt haben. In luziden Interpretationen haben sie jeweils auf der Deutungswürdigkeit des Alarcos oder von Gedichten wie Herkules Musagetes oder Der welke Kranz insistiert.4 Mein Beitrag möchte sich ihnen anschließen, ja, er möchte sogar die These wagen, dass Schlegels Gedichte – jenseits der Lucinde – zum Kern seines Werkes gehören. Friedrich Schlegel mag ein schlechter Dichter gewesen sein. Aber es sei erlaubt, die Frage nach der ästhetischen Güte ganz abzutrennen von einer anderen, die man wie folgt formulieren könnte: Welche Bedeutung haben Schlegels Dichtungen in seinem Projekt, die Fluchtlinien für ein Denken und eine Poesie zu entwerfen, die der Epoche der Moderne angemessen sind? Teil der genannten These ist es, dass diese Poesie für Schlegel nicht mehr ‚naiv‘ sein kann, wie es etwa die der Antike für ihn war.5 Moderne Poesie ist reflektierte Poesie. Und das bedeutet für Schlegel: Wie es einer bewussten, kritischen, die Überlieferungen historisch reflektierenden Zeit zukommt, nimmt sie die kritische und philologische Reflexion in sich auf. Schlegels Begriff von moderner Poesie ist der einer gleichsam philologisch-kritischen Poesie; und Schlegels Dichtungen verstehen sich geradezu als Modelle für sie. Um diese Thesen zu plausibilisieren, soll zunächst erstens skizziert werden, was es für Schlegel bedeutet zu dichten (Abschnitt 2). 4
5
Vgl. aus der neueren Forschung vor allem: Hermann Patsch: „Die Sphinx der Religion: Friedrich Schlegels Sonett Die Reden über die Religion“. In: Ruth Drucilla Richardson/Edwina Lawler (Hg.): Understanding Schleiermacher: From Translation to Interpretation. FS Terrence Nelson Tice. Lewiston u. a. 1998, S. 101–116; ders.: „‚Wir dichten in italiänischen und in spanischen Weisen‘. Friedrich Schlegels Gedicht Der welke Kranz und der Cancionero General “. In: Anne Bohnenkamp/Matías Martínez (Hg.): Geistiger Handelsverkehr. Komparatistische Aspekte der Goethezeit. Göttingen 2008, S. 357–376. Demnächst erscheint: ders.: „‚Der Brüste Füll’ im Marmor‘. Friedrich Schlegels Gedicht Diana Ephesina – mit einem Seitenblick auf Goethe“. In: Hartwig Mayer/Paola Mayer/Jean Wilson (Hg.): Romanticism – Humanism – Judaism. The Legacy of Hans Eichner. Bern; Armin Erlinghagen: „Poetica in nuce. Friedrich Schlegels poetologisches Vermächtnis: die Elegie Herkules Musagetes. Historisch-kritische Ausgabe / editorischer und exegetischer Kommentar. 1. Teil“. In: Euphorion 97 (2003), H. 2, S. 193–234; Albert Meier: „‚Gute Dramen müssen drastisch sein‘. Zur ästhetischen Rettung von Friedrich Schlegels Alarcos“. In: Goethe-Yearbook 8 (1996), S. 192-209; Monika Ritzer: „Das Experiment mit der romantischen Tragödie: August Wilhelm Schlegels Ion und Friedrich Schlegels Alarcos“. In: Helmut Koopmann/Manfred Misch (Hg.): Grenzgänge. FS Hans-Jürgen Knobloch. Paderborn 2002, S. 59–90. Vgl. auch Mark-Georg Dehrmann: „Nachwort“. In: Friedrich Schlegel: Alarcos. Ein Trauerspiel. Historisch-kritische Edition mit Dokumenten. Hg. vom dems. unter Mitarbeit von Nils Gelker. Hannover 2013, S. 187–210. Die Bedeutung der Reflexion über die Antike für Schlegel wurde jüngst neu erschlossen und betont durch: Christian Benne/Ulrich Breuer (Hg.): Antike – Philologie – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte. Paderborn 2011; Dorit Messlin: Antike und Moderne. Friedrich Schlegels Poetik, Philosophie und Lebenskunst. Berlin/New York 2011.
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Zweitens gilt es, Verfahren und Sinndimensionen dieser philologisch-kritischen Poesie an einigen Aspekten des Roland-Epos anzudeuten (Abschnitte 3–4). Schließlich gilt es, die Position Schlegels innerhalb des emergierenden Phänomens einer ‚modernen‘ Volkspoesie zu bestimmen (Abschnitt 5).
2. ‚Heiliger Friedrich‘ Schlegels Dichtungen sind keine Gelegenheitsdichtungen, wie sie noch wenige Jahrzehnte vorher zum Handwerk jedes Gelehrten gehörten. Das kann auch nicht verwundern, denn mit nicht wenigen seiner Zeitgenossen teilt Schlegel bekanntlich einen Begriff von Poesie, der emphatischer kaum sein könnte. Um an die Dimensionen zu erinnern, um die es hier geht, sei es erlaubt, den Studium-Aufsatz von 1795 bzw. 1797 heranzuziehen. Das letzte Kapitel handelt, so der Titel, „Von der Wiedergeburt der neuern Poesie“.6 Den Moment dieser Wiedergeburt nennt Schlegel die „ästhetische Revolution“;7 der Sinn dieser Bewegung und Kraft, gleichsam das Momentum der Revolution, liegt darin, dass die Moderne in ihr zu sich selbst kommt. Schlegel meint dies fundamental: Die ästhetische Revolution durch die Poesie ist eine Revolution der Kultur, der Gesellschaft und auch eine politische Revolution – allerdings nicht gewaltsam wie in Frankreich, sondern ästhetisch, vorbereitet durch Kritik, Philologie und Theorie, eingelöst durch die endliche Erscheinung einer Poesie, die gleichsam die gesamte Gesellschaft, ja den ganzen Menschen durchdringt und ihn umwendet.8 In der Forschung wird der Studium-Aufsatz oft als ‚uneigentliches‘ Frühwerk angesehen, von dem der Schlegel des Athenaeum dann abrücke.9 Meines Erachtens ist seine Denkstruktur dagegen fundamental auch für den späteren Schlegel.10 Hier 6 7 8
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Vgl. Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie. In: KFSA 2, S. 330–367. Vgl. ebd., beispielsweise S. 269 und passim. Vgl. besonders zum Zusammenhang von Ästhetik und Politik: Mark-Georg Dehrmann: „How to Make a Revolution Using Philology and the Greeks? The Aporetic Structure of Friedrich Schlegel’s Studium Essay (1795)“. In: Christian J. Emden/Uwe Steiner/Martin Vöhler (Hg.): Humanism and Revolution. Eighteenth-Century Europe and Its Transatlantic Legacy. Heidelberg 2013 (im Druck). Beispielhaft: Hans Robert Jauss: „Friedrich Schlegels und Friedrich Schillers Replik auf die ‚Querelle des anciens et des modernes‘“. In: Hugo Friedrich/Fritz Schalk (Hg.): Europäische Aufklärung. München 1967, S. 117–140. Die Kontinuität betonen beispielsweise auch mit Entschiedenheit: Armin Erlinghagen: „Das Konzept des ‚Ganzen‘ in Friedrich Schlegels Poetik 1793–1804. Ein systematischer Aufriss auf der Grundlage seiner Traktate über Lessing und des unveröffentlichten Notizheftes Studien des Alterthums“. In: Athenäum 22 (2012), S. 15–64; Franz Norbert Mennemeier: Friedrich Schlegels
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kommt es mir nur auf die Bedeutung an, die Schlegel der Poesie zuweist; davon rückt er in den Jahren nach 1795 gewiss nicht ab. Dies vorausgesetzt, mag man fragen: Kann jemand, der der Poesie eine unendlich große Bedeutung zuweist und selbst Gedichte publiziert – kann er sein eigenes Dichten als quantité negligeable betrachten? Alles spricht dagegen. Man blicke einmal gleichsam auf die Innendimension dieses Dichtens, auf die Bedeutung, die Schlegel und die ihm Nahestehenden ihm selbst verleihen. Schlegel, daran sei erinnert, hat nicht ‚schon immer‘ gedichtet. Er ist bereits Kind einer Zeit, in der, wie Heinrich Bosse schreibt, der Schulunterricht sich von der Anleitung zu eigenen Versen ab- und dem bewundernden Nachvollzug musterhafter Werke zugewandt hatte. Der wahre Dichter war, ebenfalls mit Bosse gesprochen, ‚rar‘ geworden.11 Es ist eine reizende Hypothese, hinter den kritischen und philologischen Arbeiten des jungen Schlegel eine gewisse Melancholie am Werk zu sehen: die Melancholie dessen, der Dichtung versteht, sie aber selbst nicht hervorbringen kann. Dass das Thema ihn bewegt, zeigt die Lessing-Charakteristik von 1797: Ist sie nicht im Kern auch die Apotheose des Kritikers, der selbst eingesteht, ein schlechter Dichter – und also kein Dichter – zu sein?12 Dass hier gleichsam ein Knoten schmerzhaft angeschwollen ist, zeigt sich in dem Moment, in dem er platzt. Dies geschieht Anfang 1800, in den ersten Tagen des neuen Jahrhunderts. Im Hause Schlegel las man Dante, und Dorothea Veit übte sich in ottave rime. Der Geist des romantischen Italiens, für die Schlegels eine Urzelle der Moderne, ergreift nicht nur den anwesenden Schelling – sondern wunderbarerweise eben auch den ehemals unfruchtbaren Friedrich. Am 6. Januar sendet er brieflich an Schleiermacher etwas, „was Du wohl noch nicht erwartest, ein Gedicht von mir.“13 Man beachte das ‚noch nicht‘ – Friedrich und seine Freunde hatten offenbar zukünftig die Inspiration des großen Kritikers durchaus erwartet. Nun war sie gekommen. Am gleichen Tag schreibt Dorothea gleichfalls an Schleiermacher: „und nun gar der heilige Friedrich! der mit seinen [sic!] Glanz uns so verdunkelt, daß wir uns schämen auf derselben Bahn mit ihm zu treten.“14
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Poesiebegriff dargestellt anhand der literaturkritischen Schriften. Die romantische Konzeption einer objektiven Poesie (zuerst München 1971). 2. Aufl. Berlin 2007. Vgl. Heinrich Bosse: „Dichter kann man nicht bilden. Zur Veränderung der Schulrhetorik nach 1770“. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 10 (1978), S. 80–125. Vgl. dazu Mark-Georg Dehrmann: Studierte Dichter (s. Anm. 1), Abschnitt „Der schlechte Dichter Lessing“. Brief Schlegels an Schleiermacher, 6. Januar 1800. In: KFSA 25, S. 41; vgl. zu den Kontexten die hervorragende Einleitung zum Band von Hermann Patsch. Brief Dorothea Veits an Schleiermacher, 6. Januar 1800. Ebd., S. 39.
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Diese Wendung der Dinge wird nicht nur den Freunden mitgeteilt, sondern auch der Öffentlichkeit. Schlegel überließ sich seinem furor poeticus in den nächsten Wochen offensichtlich mit Lust. Das bald darauf erscheinende Heft des Athenaeum druckt als erstes sein Gedicht An Heliodora. Das Inhaltsverzeichnis kündet den Namen des neuen Dichters. Entgegen der bisherigen Praxis der Zeitschrift15 nennt es seinen vollen Namen: „Von Friedrich Schlegel“ heißt es dort.16 Und ist es ein Zufall, dass die Schlusslieferung des Gesprächs über Poesie, fertiggestellt nach jenem 6. Januar und erschienen im folgenden Heft, nun ahnungsvoll Dramenpläne diskutiert?17 Von nun an konnte Schlegel an beiden Fronten der konvergierenden Bewegungen tätig sein, die er immer wieder entworfen hatte: Der Dichter muss auch Philologe und Kritiker sein18 – der Philologe und Kritiker dagegen kann „eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.“19 In Schlegel schien sich diese Konvergenz zu ereignen. Sein Durchbruch zur Poesie machte – so lässt sich geradezu sagen – für seinen Kreis Epoche. Der Prophet einer neuen Dichtung schien gewissermaßen selbst seine Prophezeiung zu erfüllen. Die Rede vom Propheten ist kaum eine Übertreibung. Als Friedrich 1802 nach Paris zog, schrieb er das Rollengedicht Mahomets Flucht.20 Der verkannte Mohammed stößt hier eine Suada gegen seine Landsleute aus, die ihn aus der Heimat vertrieben haben. Er verwirft, was die Unverständigen ihm vorhalten: „Das ist Lug nur und Verleumdung, / Daß ich Neues stiften wollte, / Mich nur meinend, wie ihr sprachet, / Einzig dienen meinem Stolze.“ (VV. 38 f.) Nicht Eitelkeit aber und Neuerungssucht trieben ihn um. Die Neuerung, die er wirke, gelte vielmehr der höchsten Wahrheit; und sie bringe nur das Alte, Ehrwürdige und in der Gegenwart scheinbar Verlorene wieder: „Die ich dichte, meine Rede / Quillt hervor aus dem Verborgnen, / Schwingt sich ruhig fort im Sturme, / Flammend steigt sie auf zur Sonne, / Und ich darf mich kühnlich stellen / Zu den Alten unsers Volkes.“ (VV. 28–33) Dahinter steht das Programm einer Erneuerung der Gegenwart durch die Reflexion der Vergangenheit. Und es ist keine Kleinigkeit, 15
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Der Vorerinnerung vor dem ersten Heft 1798 zufolge wollten beide Schlegels ihre Beiträge mit der jeweiligen Initiale ihres Vornamens zeichnen; vgl. den Nachdruck: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Hg. von Bernhard Sorg. 2 Bde. Dortmund 1989, Bd. 1, S. 12 der durchlaufenden Seitenzählung. Vgl. Athenaeum 3 (1800), H. 1, unpag. Inhaltsverzeichnis (S. 729 der durchlaufenden Seitenzählung im zitierten Nachdruck). Schlegel selbst bittet um die volle Nennung seines Namens; vgl. seinen Brief an Schleiermacher, 6. Januar 1800. In: KFSA 25, S. 43. Vgl. Athenaeum 3 (1800), H. 2, S. 186 f. (S. 920 f. der durchgehenden Paginierung). In: KFSA 2, S. 350 f. Vgl. z. B. Friedrich Schlegel: Athenaeum-Fragment 255. Ebd., S. 208 f. Vgl. Friedrich Schlegel: Gespräch über Poesie, erste Lieferung. Ebd., S. 285. Friedrich Schlegel: Mahomets Flucht. In: KFSA 5, S. 304 f.
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dass Schlegel hier durch die Maske des Propheten spricht – eines Propheten, der, wie der Leser weiß, nach seinem Exil in Medina siegreich nach Mekka zurückkehren und seine Religion stiften wird. In seiner anonymen Rezension des Dichter-Gartens, wo der Text zuerst erschien, stützt August Wilhelm den ernsten Bezug zu den Ambitionen seines Bruders: „‚Mahomets Flucht‘ athmet hohen Unwillen in überströmender Fülle der Rede. Wem eine andere Auslegung zu kühn und stolz dünkt, der sehe darin nur was der Name aussagt“.21 Die Art und Weise, wie in der literarischen Öffentlichkeit über den Dichter Schlegel gesprochen und geschrieben wurde, zeigt, dass dieses Selbstbewusstsein wahrgenommen wurde. Es ist der quasi-messianische Gestus, den die Feinde Schlegels beispielsweise in den harschen Streitigkeiten um den Alarcos aufgriffen: Man spottet über den „göttlichen Schlegel“, die „Jünger“, die „Weihrauch“ streuen und „eine Capelle für den neuen Heiligen eröffnen“ wollen.22 Zwei dieser Jünger aus dem Berliner Umkreis der Schlegels übernahmen es denn auch, die Ironie in vollen Ernst zurückzuwenden: Gegenwärtig beginne eine „neue Epoche in der Geschichte der Poesie und Friedrich Schlegel ist derjenige, welcher sie hervorgerufen hat“ – so heißt es in einer Rezension des Alarcos von 1803.23 Sie geht zurück auf Johann Gottlieb Winzer und Friedrich Theodor Mann, beide Schüler von Schlegels Freund August Ferdinand Bernhardi am Friedrichwerderschen Gymnasium in Berlin.
3. Lücken im System der Dichtung Die neue Poesie stellt sich der alten an die Seite, indem sie, der Moderne angemessen, Poesie und Kritik bzw. Philologie verbindet. Wie sieht das in der Praxis aus? Als Beispiel soll das Gedicht von Roland dienen, an dem Schlegel im Frühjahr 1805 arbeitet.24 Der Untertitel verdeutlicht, welche philologische Reflexion in die Dichtung eingeflossen ist. Er lautet: Heldengedicht in Romanzen nach Turpins Chronik. Zwei Gattungen werden hier in Beziehung gesetzt und eine Quelle angegeben. Der 21 22
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Vgl. die anonyme Rezension von August Wilhelm Schlegel, abgedruckt in: ders.: Sämmtliche Werke. Hg. von Eduard Böcking. 12 Bde. Leipzig 1846–1847, Bd. 12, S. 206–216, hier S. 215. Vgl. die Rezension von: E. – : „Briefe über Alarkos“. In: Der Widersprecher (1803), Bd. 1, 2. Stück, S. 145–157, hier S. 145; abgedruckt in Schlegel: Alarcos (s. Anm. 4), S. 148–154, hier: S. 148. Vgl. zur Rezeption des Stückes: Nils Gelker: „Die Rezeption des Alarcos“. In: Schlegel: Alarcos (s. Anm. 4), S. 211–219. A.: „Ueber Friedrich Schlegel’s Alarcos“. In: Apollon (1803), H. 1, S. 32–50; H. 2, S. 106–123; H. 4, S. 248–270, hier S. 120; abgedruckt in Schlegel: Alarcos (s. Anm. 4), S. 115–145, hier: S. 131. Publiziert in: Poetisches Taschenbuch für das Jahr 1806 von Friedrich Schlegel. Berlin 1806.
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Roland wäre demnach ein episches Heldengedicht, entstanden aus der Transformation eines alten Geschichtswerkes in die romantische Form der Romanze. Wie viele andere Gedichte Schlegels auch ist der Roland nicht bloß ein ‚Gedicht‘. Er formuliert vielmehr ein Modell, das ‚zeigt‘, wie für die Gegenwart zu dichten sei. Um eine Formulierung Schlegels anlässlich eines anderen Gedichts zu übertragen: Er bemüht sich, das ‚System‘ der modernen Poesie zu erweitern.25 Wie vollzieht sich die Reflexion in der Dichtung, und welchen Sinn hat sie? Wichtig ist es zunächst, die Quelle einzuschätzen, die Schlegel verarbeitet: „Turpins Chronik“.26 Es handelt sich um die mittelalterliche Historia Karoli Magni et Rotholandi.27 Literaturgeschichtlich interessant ist sie, weil sie von dem Helden Roland berichtet, seinen Kämpfen in Karls Heer und schließlich seinem Tod in Ronceval. Zugeschrieben wurde sie traditionell dem Turpin, Erzbischof von Reims, der vor 800 gestorben ist.28 Forschungen des späteren 19. Jahrhunderts freilich datieren auf das späte 12. Jahrhundert, nach der Kanonisation Karls.29 Auch um 1800 entsprach die traditionelle Zuschreibung nicht mehr dem Konsens. Erduin Julius Koch und Joseph Görres beispielsweise nahmen eine Entstehung gegen Ende des 11. Jahrhunderts an.30
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In einem Brief an August Wilhelm vom Ende Dezember 1800 spricht Schlegel vom „System der romantischen Sylbenmaaße“. In: KFSA 25, S. 214. Außer in der sehr beachtlichen Arbeit von Ernst Wieneke (Patriotismus und Religion in Friedrich Schlegels Gedichten. Diss. München 1913) scheint der Roland von der Forschung nicht eingehender behandelt worden zu sein. Die Chronik lag, nach der Angabe von Wieneke (Patriotismus [s. Anm. 26], S. 50 f.), in Drucken von 1564 [recte: 1556], 1584, 1619 und 1726 vor. Plausibel ist es, mit Wieneke die Benutzung einer der zahlreichen Handschriften auszuschließen. Eine Prüfung der Drucke führt mich zu der Vermutung, dass Schlegel nicht die Ausgabe 1726 benutzt hat, sondern einen der früheren Drucke. Da diese im Text weitgehend identisch sind, kann offen bleiben, welcher es letztlich war. Im Folgenden verwende ich Reubers Ausgabe von 1584: Veterum scriptorvm, qvi Caesarvm et Imperatorvm Germanicorvm res per aliqvot secvla gestas, literis mandarvnt. Tomus vnus. Ex bibliotheca Justi Reuberi Iureconsulti, Palatinatus consiliarii. […] Francofvrti Apud hæredes Andreæ Wecheli, Anno M D LXXXIIII. Reuber (Hg.): Ps.-Turpin (s. Anm. 27), Bl. (:) iiijv druckt eine kurze Vita des Turpin. Vgl. etwa Adalbert Hämel: Überlieferung und Bedeutung des Liber Sancti Jacobi und des PseudoTurpin. München 1950; ders.: Der Pseudo-Turpin von Compostela. Aus dem Nachlaß hg. von André de Mandach. München 1965. Erduin Julius Koch spricht 1798 vom „vorgeblichen Turpin“ und schreibt ihn einem „um das Jahr 1095 lebenden Mönche, Namens Robert“, zu; ders.: Grundriß einer Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen von den ältesten Zeiten bis auf Lessings Tod. 2 Bde. Berlin 1795–1798, Bd. 2, S. 217. Joseph Görres bezeichnet diese Datierung 1807 als „allgemein“ angenommen; ders.: Die teutschen Volksbücher […]. Heidelberg 1807, S. 121.
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Schlegel selbst weist der Chronik eine ausgezeichnete Stellung in der Überlieferung zu. In seinen Pariser Vorlesungen vom Winter 1803/04 betont er die bedeutende Rolle, die die neulateinische Literatur des Mittelalters für die Entstehung der „neueren romantischen“ Dichtung gespielt habe. Insbesondere meint er die „Chroniken“. Sie enthielten nichts weniger als den „erste[n] Keim“ der sich erneuernden Poesie.31 Das Manuskript hat für die folgenden Kölner Vorlesungen vom Sommer 1804 an dieser Stelle einen aufschlussreichen Einschub: „Die älteste ist von Bischof Turpin geschrieben.“32 Mit dem Roland nach der Chronik des Turpin eignet Schlegel seiner Gegenwart also das an, was er erstens als „älteste“ Keimzelle der Rolandsepik begreift, zweitens als einen der mittellateinischen Ausgangspunkte für die romantische Literatur überhaupt.33 Welche Funktion hat diese Aneignung, die gleichsam an den Beginn der Moderne greift? Auch hier geben die Vorlesungen von 1803/04 Aufschluss. Der Roland-Stoff sei durch und nach Turpins Chronik zu einem Teil des „allumfassenden Zyklus“ der altfranzösischen „Fabeln, Helden- und Rittergeschichten“ geworden.34 Den Franzosen komme ohne Frage das „Verdienst“ der stofflichen Ausarbeitung dieses Zyklus zu. Aber dessen dichterische Gestaltung bleibe überall defizitär. Die „Form“ der überlieferten Gedichte, so sagt Schlegel, konnte der „Tiefe ihrer Erfindung“ nicht gerecht werden. „Unförmigkeit, Barbarei, Rohheit, Weitschweifigkeit im Stil und in der Sprache“ verhinderten, dass die Gedichte sich zur Poesie erhoben. Ihnen mangele ein Element, das erst die späteren, gelehrten Dichter Italiens – etwa Ariost – diesen Stoffen zu geben vermocht hätten: die „höhere, schönere Kunstform“.35
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Friedrich Schlegel: Geschichte der europäischen Literatur. In: KFSA 11, S. 140. KFSA 11, S. 140. In seinem letzten Kölner Kolleg von 1807, Über deutsche Sprache und Litteratur, variiert Schlegel den Gedanken: Den „Übergang“ von den Überlieferungen Otfrieds zur ‚Schwäbischen Periode‘ – d. h. für Schlegel vor allem zu Wolfram von Eschenbach und den Minnesingern – markierten das Annolied und „ein Gedicht auf Karl den Großen treu nach Turpin“; siehe KFSA 15.2, S. 120 f. Damit ist jedoch nicht, wie der Kommentar (S. 121) schreibt, Turpins lateinische Chronik gemeint, sondern die Rolandslieder des Strickers bzw. des Pfaffen Konrad, die Schlegel zeitüblich nicht unterscheidet; vgl. zum zeitgenössischen Kenntnisstand unten, bei Anm. 43. Turpins Chronik, so Schlegels Gedanke, liegt diesen Gedichten zugrunde, trägt also zur Erneuerung der mhd. Dichtung bei. Für die neuere Forschung (seit Gaston Paris 1865) ist der Pseudo-Turpin freilich nicht die Keimzelle der Rolandsepik, sondern schöpft selbst aus dieser Tradition; vgl. etwa André de Mandach: Naissance et développement de la chanson de geste en Europe IV: Chanson de Roland. Transferts de mythe dans le monde occidental et oriental. Genf 1993, S. 26. Friedrich Schlegel: Geschichte der europäischen Literatur. In: KFSA 11, S. 141. Ebd.
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Schlegels Abqualifizierung der altfranzösischen Dichtung erklärt sich mit Blick auf den zeitgenössischen Kenntnisstand zum Rolandsstoff.36 Es sei erlaubt, die etwas verwickelte philologische Situation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kurz zu skizzieren. Denn fundamental für Schlegels philologisch-kritische Abwertung ist vor allem eines: Das, was wir heute als Chanson de Roland bezeichnen, das um 1100 entstandene, große Epos – es war den Zeitgenossen noch unbekannt. Erst wenige Jahre vor Schlegels Roland hatte Thomas Tyrwhitt die Oxforder Handschrift eingesehen. Er erwähnt sie in seiner Chaucer-Edition kurz als „Romance“ ohne Titel. Seine Vermutung lautet, dass diese „Romance“ mit dem zusammenhänge, was Du Cange im 17. Jahrhundert vereinzelt, aber dunkel und ohne Bezug auf eine konkrete Handschrift als „Le Roman de Roncevaux“ bezeichnet hat.37 Thyrwhitt geht nicht weiter darauf ein, und der Hinweis versinkt im Meer der Bücher. Gleichzeitig bildete sich in den Jahrzehnten nach Schlegels Roland die Vermutung heraus, dass es ein bedeutendes Epos über die Taten Karls und Rolands gegeben haben müsse. Zu ihr leitete allerdings kein Textfund, sondern eine philologische Vermutung, die von Friedrich August Wolfs Hypothese zur Entstehung der Homerischen Epen ausging. Uhland formuliert sie 1812: Den noch erhaltenen späteren, schlechteren Dichtungen des Roland-Sagenkreises müsse ein großes Epos zugrunde gelegen haben.38 Uhland hat Du Cange gelesen und vermutet das hypostasierte Epos in jenem roman de Roncevaux.39 Tyrwhitt jedoch kennt er nicht, weiß also auch nichts von der Oxforder Handschrift. Noch 1833 monierte der Wiener Philologe Ferdinand Wolf, dass der „wichtigste Theil“ der nordfranzösischen Literatur, „die großen epischen Gedichte, 36
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Zur Rekonstruktion der verworrenen Genese der Rolandsforschung ist ungemein hilfreich: Emil Seelmann: Bibliographie des altfranzösischen Rolandsliedes mit Berücksichtigung nahestehender Sprach- und Litteraturdenkmale. Heilbronn 1888. Ndr. Wiesbaden 1969. Die Beiträge vor 1830 rekapituliert Léon Gautier: Les épopées françaises. Étude sur les origines et l’histoire de la littérature nationale. Seconde édition, entièrement refondue. Bd. 3. Paris 1880, S. 516–522. Thomas Tyrwhitt: The Canterbury Tales of Chaucer […]. Bd. 4. London 1795, Bd. 1, S. 318 f. Er bezieht sich auf Charles du Fresne, Sieur Du Cange: Glossarium ad scriptores mediae latinitatis […]. Paris 1678. Du Cange hatte aber keinen Fundort für jenen „Roman“ angegeben. „Daß in der alten nordfranzösischen Sprache ein Cyklus wahrhaft epischer Gedichte sich gebildet habe: dieses auszuführen und zu belegen, ist der Gegenstand des folgenden Versuches.“ Der in sich zusammenhängende Stoff von Karl berechtige zu der Hoffnung, dass sich „für jeden bedeutenderen Moment“ des Fabelkreises „eine epische Darstellung auffinden“ lasse, die sich zu einem „umfassende[n], aus großen Rhapsodien bestehende[n] fränkische[n] Heldenbuch“ fügen würden. „Mit ähnlicher Hoffnung“ müsse man sich „vorderhand“ auch im Falle des Untergangs der Helden in Ronceval begnügen; vgl. Ludwig Uhland: „Über das altfranzösische Epos“. In: Friedrich Baron de la Motte-Fouqué/W. Neumann (Hg.): Die Musen (1812), H. 3, S. 59–109 (hier: S. 59, S. 65, S. 76) und H. 4, S. 101–155. Uhland hat 1810 intensiv in Pariser Bibliotheken geforscht und dort Material für seine bedeutende Studie gesammelt. Er bezieht sich dabei auf Du Cange (vgl. Uhland: Epos [s. Anm. 38], S. 77).
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[…] so gut als unbekannt“ sei.40 Als er dies schrieb, wurden die Mosaiksteine bereits zusammengesetzt. 1834 erschloss Francisque Michel die Oxforder Handschrift, 1837 gab er sie als La Chanson de Roland heraus.41 Als Schlegel seinen Roland schrieb, waren auch die deutschen Dichtungen zum Rolandskreis den Zeitgenossen nur lückenhaft zugänglich.42 Vollständig kannte man das Heldenlied des Strickers; das ihm zugrundeliegende Rolandslied des Pfaffen Konrad war nur in Fragmenten bekannt.43 Präsent waren den Zeitgenossen Schlegels jedoch spätere Bearbeitungen des Stoffes und Lieder.44 Schlegel selbst hatte in der Pariser Bibliothek eine, wie er sagt, „unermeßliche Menge“45 späterer nordfranzösischer epischer Dichtungen gefunden. Diese nun waren es, die ihm nicht als Dichtungen beachtenswert schienen, sondern lediglich in Bezug auf ihren Stoffkreis. Turpins Chronik aber erschien als Grundlage und Quelle für alle diese anderen bekannten Überlieferungen.46 Gemessen am heutigen Wissensstand, war die Kenntnis der Rolandsüberlieferung noch äußerst lückenhaft, ja, sie entbehrte ihres zentralen Werkes, der Chanson de Roland. Schlegel dagegen erschien nicht die Überlieferung lückenhaft, sondern vielmehr die poetische Entfaltung des Stoffes defizitär. Als Folge der genannten Formschwäche 40 41
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Ferdinand Wolf: Über die neuesten Leistungen der Franzosen für die Herausgabe ihrer NationalHeldengedichte […]. Wien 1833, S. 2. La Chanson de Roland ou de Roncevaux du XIIe siècle publiée pour la première fois d’après le manuscrit de la Bibliothèque Bodléienne a Oxford. Hg. von Francisque Michel. Paris 1837. Louis Henri Monin hatte 1832 bereits eine erste ausführliche Darstellung der Chanson geliefert. Er legte zwei Pariser Handschriften zugrunde, denen weder Schlegel noch Uhland bei ihren Pariser Aufenthalten begegnet waren. Vgl. L. H. Monin: Dissertation sur le Roman de Roncevaux. Diss. Paris 1832. Koch (Grundriss [s. Anm. 30], Bd. 2, S. 217) zählt 1798 bis zum 15. Jahrhundert fünf deutsche Bearbeitungen auf. Abdrucke von beiden bei Johannes Schilter: Thesaurus antiquitatum Teutonicarum […]. Bd. 2, Ulm 1727, mit jeweils eigener Paginierung. Hans Karl Dippoldt (Leben Kaiser Karls des Großen. Stuttgart 1810, S. 247 f.) rekapituliert die zeitgenössische Textlage. Koch nennt das Lied Konrads „Ein Fragment von dem Kriege Karls des Gr. gegen die Saracenen“; ders.: Grundriss (s. Anm. 30), Bd. 2, S. 217. Büsching und Hagen kennen die Heidelberger Handschrift nicht; den Namen des „pfaffen Cunrad“ tragen sie (erstmals?) in einer Anmerkung zum Hauptteil ihrer Bibliographie nach; Friedrich Heinrich von der Hagen/Johann Gustav Büsching: Literarischer Grundriß der Geschichte der Deutschen Poesie von der ältesten Zeit bis in das sechzehnte Jahrhundert. Berlin 1812, S. 164 und S. 539. Uhland versteht im selben Jahr die Lieder des Strickers und Konrads als „ein altes Gedicht […] in zweierlei Versionen“ (ders.: Epos [s. Anm. 38], S. 77). Wilhelm Grimm gibt Konrads Gedicht dann 1838 heraus: Roulandes liet. Hg. von Wilhelm Grimm. Mit einem Facsimile und den Bildern der Pfälzer Handschrift. Göttingen 1838. Paraphrasen finden sich in: H.: „Karl der Große und die zwölf Pairs von Frankreich“. In: [Heinrich August Ottokar Reichard (Hg.):] Bibliothek der Romane. Bd. 4. Berlin 1779, S. 5–41. So in: Friedrich Schlegel: Beiträge zur Geschichte der modernen Poesie und Nachricht von provenzalischen Manuskripten (1803). In: KFSA 3, S. 33. Vgl. oben, bei Anm. 33.
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der nordfranzösischen Dichtung habe dieser sich gar nicht zu einer poetischen Blüte entfalten können.47 Erst die spanischen Romanzen und dann Ariost hätten den Stoff zu künstlerischer Form erhoben.48 Hier nun gewinnt Schlegels Roland an Kontur. Indem er mit Turpins Chronik die älteste Keimzelle dieses Sagenkreises aufnimmt und sie zu einer Dichtung transformiert, füllt er gleichsam die imaginäre Lücke in einer unterbrochenen Traditionslinie. Als moderne, gegenwärtige Dichtung, die auf die alte Überlieferung zurückgreift, muss der Roland eine besondere Form besitzen. Folgt man Schlegels Pariser und Kölner Vorlesungen, so ist die Gegenwart zwar mit dem Mittelalter in ein- und derselben Epoche der Moderne verbunden. Aber dennoch ist die Gegenwart von der mittelalterlichen Dichtung abgeschnitten. Dies gründet in einer Fehlstelle der modernen Kulturen:49 Zwar habe die moderne „romantische Zeit“ einen Reichtum an Poesie hervorgebracht; aber diese sei unmittelbar an das zeitgenössische Leben geknüpft gewesen. Mit der historischen Veränderung, mit dem Wandel dieses Lebens sei auch diese Dichtung vergessen worden. Sie ging unter, weil auf ihre Blütezeit, anders als in Griechenland, kein „Zeitalter der Kritik“50 folgte. Die Poesie wurde daher nicht bewahrt, kanonisiert, gedeutet und transformiert, die Sprache nicht gepflegt, der alte Geist nicht präsent gehalten. Die Folge davon ist für Schlegel kultureller Gedächtnisverlust. Kritik muss auf die Dichtung treffen, um deren Potentiale auszufalten. Mit seinem Roland holt Schlegel nach, was die Vergangenheit in Ermanglung einer lebendigen Traditionskette versäumt habe. Die Denkbewegung des Roland sei kurz zusammengefasst: Schlegel greift in einem genuin poetisch-philologischen Akt auf die (scheinbar) älteste Chronik zurück und befreit ihren Stoff aus dem Vehikel der neulateinischen, „toten Sprache“.51 Mittels Verkünstlichung, Poetisierung durch Wissenschaft, Witz und Kritik setzt er den Stoff in die deutsche Gegenwart hinüber. Erst die reflektierte Form aber erhebt ihn zur Poesie.
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Schlegel versucht dies auch zu begründen: vor allem mit der „schlechte[n] Beschaffenheit der französischen Sprache selbst, die unter allen aus der römischen abgeleiteten die am ärgsten verstümmelte“ sei; Friedrich Schlegel: Geschichte der europäischen Literatur. In: KFSA 11, S. 142. Vgl. ebd., S. 151. Schlegel nimmt die italienische Dichtung aus. Sie gehe durch den Witz von Beginn an aus der Gelehrsamkeit hervor, wie er beispielsweise an Dante zeigt, der zwischen dem Volgare und der neulateinischen Sprache geschwankt habe (vgl. Friedrich Schlegel: Geschichte der europäischen Literatur. In: KFSA 11, S. 140). Als gelehrte, philologische Dichtung habe sie sich auch danach gehalten und daher zumindest ihre frühen Meisterwerke stets gepflegt und bewahrt (vgl. Friedrich Schlegel: Vom Wesen der Kritik. In: KFSA 3, S. 54). Ebd., S. 54 f. Friedrich Schlegel: Geschichte der europäischen Literatur. In: KFSA 11, S. 140.
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4. Epostheorie im Epos Welche Form aber gewinnt diese Reflexion in der konkreten Dichtung? Dies lässt sich im Umgang mit der Vorlage auf mehreren Ebenen zeigen.52 So verdichtet Schlegel die 33 Kapitel der Chronik zu 15 Romanzen und ändert ihre Anordnung. Die episodischen und berichtenden Partien des Pseudo-Turpin, die Exempel und Exkurse, integriert er in eine durchlaufende Handlung. Während die Chronik Material zusammenträgt, das die Heiligkeit Karls belegt, formt Schlegel aus ihr ein Heldenlied, das von den Schlachten gegen die Heiden berichtet und in dessen Zentrum nun Roland steht. Der Einheit des ganzen Liedes steht bei Schlegel aber ein anderes Gliederungsmoment entgegen. Das Heldenlied entsteht erst durch die Kette seiner 15 Romanzen. Diese aber sind jeweils in sich geschlossen. Sie besitzen einen je eigenen Handlungskern, ihre je eigene Pointe. Der Sinn dieser Struktur eines Ganzen, das aus in sich geschlossenen Einzelteilen zusammengesetzt ist, erschließt sich durch einen erneuten Rückgriff auf Schlegels literaturhistorische Überlegungen. Als historischen Reflexionsraum für sein Heldengedicht wählt er die spanische Dichtung, wie sie seit dem 15. Jahrhundert entstanden ist. Zwar ist hier eine Reihe von Romanzen zu Karl und Roland überliefert; doch bleiben diese vereinzelt, bilden keine zusammenhängende Handlung. Schlegel bezeichnet diese Romanzen in seinen Vorlesungen als im höchsten Sinne romantisch,53 dabei aber „ganz kunstlos“. Sie sind moderne Naturpoesie im höchsten Sinne. Dieses Modell der spanischen Romanze dann unterzieht der Roland einer kunstvollen, künstlichen Bearbeitung. Die Verse werden einer einheitlichen metrischen Gestaltung unterworfen; die einzelnen Taten gliedern sich zu einzelnen Liedern, die sich wiederum zu einem Ganzen zusammen-setzen. Diese Struktur deckt sich mit der Theorie einer kollektiven Entstehung des Epos, wie sie Friedrich August Wolf entworfen hatte. Der Roland simuliert die Entstehung einer epischen Dichtung, zu der der Stoff sich seiner Auffassung nach gerade nicht verdichtet hat.54 Er versucht, spanische Naturpoesie in die Kunstpoesie einer reflektierten Moderne zu transformieren und so beide zu vereinigen.55 52 53 54
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Eine eingehende Deutung des Gedichtes bei Dehrmann: Studierte Dichter (s. Anm. 1), Abschnitt „Imagination einer Tradition – Das Roland-Epos“. Vgl. Friedrich Schlegel: Geschichte der europäischen Literatur. In: KFSA 11, S. 156. Der eigentliche Begriff des ‚Epos‘ ginge vielleicht für den Roland zu weit. Schlegel unterscheidet in seinen Vorlesungen die „kleinere>@ epische Form“, die einzelne „Romanze“, vom großen Epos, das „die heroischen Traditionen einer Nation allumfassend behandeln soll“ und daher „ein Werk“ sein muss, „ein Ganzes […], damit alles im Mittelpunkte konzentriert werden könne.“ Das moderne Modell dafür sieht er in den Lusiaden des Camões (vgl. alles Friedrich Schlegel: Geschichte der europäischen Literatur. Ebd., S. 158 f.). Der Roland verleiht seinem Stoff nun die geforderte Einheit, aber er ist nicht allumfassend. Er tendiert daher gleichsam nur zum Epos. Das Programm des Roland klingt damit an die beiden berühmten Fragmente des Athenaeum
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5. Schlegels nicht-naive Moderne Mit seinem Interesse für Volkspoesie und für die Mündlichkeit früher Dichtung steht Schlegel in einer breiten Bewegung. Sie verbindet ihn mit früheren Kritikern wie Herder oder Bürger. Und sie verbindet ihn vor allem mit den modernen philologischhistorischen Wissenschaften, die in dieser Zeit zu entstehen beginnen und zu deren Konstitution beide Schlegels entscheidend mit beigetragen haben. Die Rolle, die die Entdeckung oder – wenn man so will – radikale Umwertung mündlicher Dichtung für diese Wissenschaften spielte, kann kaum überschätzt werden. Schließlich sind es genau diese Überlieferung bzw. deren Spuren, die Philologen wie Friedrich August Wolf, die Brüder Grimm, Friedrich Heinrich von der Hagen und viele andere besonders interessieren. In einer philologisch fundierten Poesie – und nichts anderes sind auf die eine oder andere Weise bedeutende Teile der Dichtung ab 1800 – spielen diese Überlieferungen gleichfalls eine eminente Rolle. Die Volks- und Naturpoesie schwillt – um sich nur auf die Lyrik zu beschränken – im 19. Jahrhundert zu einer mächtigen Woge von volksliedhafter Dichtung, Romanzen oder Balladen an. Man denke nur an Des Knaben Wunderhorn von Arnim und Brentano, an Ludwig Uhland und seinen gigantischen Erfolg, an den Wolf-Schüler Wilhelm Müller mit seinen Gedichten aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten (1821–1824), an Heine oder die äußerst erfolgreichen Lieder des Mirza Schaffy (1851), die Friedrich Bodenstedt angeblich im Namen eines aserbaidschanischen Volkssängers herausgab, de facto aber selber schrieb. Diese Reihe könnte nach Belieben weitergeführt werden. Alle diese Lieder inszenieren eine Volkspoesie, von der sie selbst konstitutiv abgeschnitten sind, denn schließlich schreiben hier gelehrte Dichter in der Rollenfiktion von mündlichen Sängern. Alle diese Lieder sind moderne, gelehrte Variationen eines Phantasmas, das erst aus der philologischen Reflexion hervorgegangen ist. Es entsteht auf der Grundlage der Sammlung, Hypostasierung, Analyse, geschichtsphilosophischen Einordnung und auratischen Aufladung von mündlichen Dichtungen. Auf sie ließe sich übertragen, was Friedrich August Wolf hellsichtig zum Topos des Musenanrufs in der Dichtung der Neuzeit und Gegenwart bemerkt hat. Der Musenanruf besitzt für ihn seinen legitimen Ort in einer kulturellen Umgebung, in der man erstens an die Musen glaubt und der zweitens von der medialen Situation mündlicher Dichtung und ihrer an. In Nr. 116 hieß es zur progressiven Universalpoesie, sie wolle unter anderem „Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen“ (ebd., S. 182). Das Fragment 252 entwarf eine „Kunstlehre der Poesie“, die mit der „absoluten Verschiedenheit“ von „Kunst und rohe[r] Schönheit“ beginne, dann ihren Kampf darstelle, um schließlich „mit der vollkommnen Harmonie der Kunstpoesie und Naturpoesie [zu] endigen“ (ebd., S. 207).
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spezifischen Produktionsweise geprägt ist. Musen vermitteln Wissen, das eben nicht selbstverständlich über schriftliche Dokumente verfügbar ist, wie sie späteren, gelehrten Dichtern vorliegen. Daran anschließend erklärt Wolf auch die Bezeichnung von Dichtung als ‚Gesang‘ in der Gegenwart für eine schlechte Metapher. Die Bedingungen des Dichters seien hier andere, nämlich solche der Schriftlichkeit: Es „‚singen‘ jetzt auch diejenigen Dichterlinge, welche nicht einmal einen richtigen Satz aussprechen können, und hoffen auf Zuhörer für ihre Verse, welche meistens nur für den Drucker geschrieben sind und von ihm wenigstens Silbe für Silbe gelesen werden.“56 Wolf überlässt es dabei anderen, die spezifischen Produktionsbedingungen von gegenwärtiger Dichtung zu reflektieren und sie in ein adäquates modernes Selbstverständnis einzufügen: „wodurch die Tendenz und Kunst unsrer Dichterwelt sich von der antiken Vornehmheit deutlich abhebt, muß man von andern Lehrern erfahren.“57 Eine besondere Ironie liegt darin, dass nicht zuletzt Wolf mit seiner Homer-Hypothese maßgeblich mit dazu beigetragen hat, dass der Begriff von Lyrik als ‚Gesang‘, als ‚Volkslied‘ etc. in den folgenden Jahrzehnten eine neue, emphatische Füllung erhalten hat. Blickt man auf die oben zusammengestellte Reihe von populären und bekannten Beispielen für Volkslied-Dichtung zurück, so darf man feststellen, dass sie alle auf ihre Weise volksliedhafte Dichtung simulieren, ihnen aber dabei nicht durchgehend in gleicher Weise Naivität vorgeworfen werden kann. Ganz sicher gilt dies nicht für Heines Schweben zwischen virtuoser Behandlung der Formen und Gesten bei ihrer gleichzeitigen Ironisierung. Es gilt zumindest auch nicht uneingeschränkt für Uhland, dessen volksliedhafte Dichtung sehr oft gleichzeitig eine Reflexion über deren Möglichkeiten und Bedingungen ist.58 Das Wunderhorn ist durch Arnims Aufsatz Von Volksliedern (1806) an Reichhardt explizit in eine geschichtsphilosophische Reflexion eingestellt. Wilhelm Müller schließlich zieht in seine Gedichtzyklen mehrfache Reflexionsebenen ein. Friedrich Schlegel, um zu ihm zurückzukommen, mag ein schlechter Dichter sein. Aber höchst beachtlich ist die Intensität der philologisch-kritischen Reflexion in seinen Dichtungen. Schon programmatisch ist er sich darüber im Klaren, dass Volkspoesie in der Gegenwart weder wiederholbar noch der Zeit angemessen oder auch nur wünschenswert wäre. Moderne Dichtung, das betonten etwa die Pariser und Kölner Vorlesungen, gehe zwar von Volksliedern aus, aber die Aufgabe der Moderne 56 57 58
Vgl. F. A. Wolf: Prolegomena zu Homer (1795). Hg. und übers. von Hermann Muchau. Leipzig [1908], S. 126. Ebd. Vgl. Mark-Georg Dehrmann: „Des Sängers Fluch. Dichtung und Philologie bei Ludwig Uhland“. In: ders./Alexander Nebrig (Hg.): Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert. Bern u. a. 2010, S. 83–100.
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sei es, sie durch Witz, Kritik und Reflexion von der Natur zur Kunst zu erheben. Noch in seiner 1808 erschienenen Rezension von Goethes Werken polemisiert er gegen den „Abweg der alles Studium verwerfenden, ja verabscheuenden, ihr Heil in der rohen Formlosigkeit suchenden, seinwollenden Volks- und Naturdichter.“59 Aus diesem Vorbehalt entstehen seine eigenen Dichtungen als programmatische Poesien der Moderne. Schlegel hat wie kaum ein anderer Wolfs zitierte Aufforderung ernst genommen, zu studieren, „wodurch die Tendenz und Kunst unsrer Dichterwelt sich von der antiken Vornehmheit“ – und auch von der Volkspoesie der anderen Völker – „deutlich abhebt“.60 „Der vollkommne Poet muß auch ein ƶƫ[ Philolog] sein“61 – so notierte Schlegel 1797. Wenige Jahre später, nun selbst Dichter geworden, versucht er zu demonstrieren, wie die Dichtung eines solchen Poeten aussehen würde. Das Studium wird zur Ratio seiner eigenen Versuche. Dies gilt nicht zuletzt für die Romanzen, aus denen das Heldengedicht Roland zusammengesetzt ist. Dichtung und Kritik bzw. Philologie gehen auch hier eine Symbiose ein. Das Heldenlied reflektiert bewusst ex post über die poetischen Traditionen, in die Schlegel es stellt. Es erschließt sich in seiner Bedeutung und seinem Sinn erst, wenn man die in es eingelegte philologisch-kritische Reflexion ausfaltet. Schlegels Dichtungen sind integraler Teil seines Projektes und seines Werkes. Auch wenn sie keine Chance haben, in den gegenwärtigen Kanon lesenswerter Dichtungen aufgenommen zu werden – sie entfalten ihr beachtliches Potential, wenn man dem nachgeht, was sie selbst sich auf die Fahnen geschrieben haben. Sie sind philologischkritische Dichtungen für eine reflektierte Moderne, deren Weg in die Zukunft nicht zuletzt von einer spezifisch modernen Zueignung der Vergangenheit abhängt. Dem Phantasma alter, schriftloser, vermeintlich glücklicher Zeiten nachzustreben, ist Schlegels Sache nicht. Und genau deshalb verdient es auch der Dichter Schlegel, ernst genommen zu werden.
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Friedrich Schlegel: [Rez.:] Goethes Werke. In: KFSA 3, S. 140. Vgl. Wolf: Prolegomena (s. Anm. 56), S. 126. Vgl. die Notiz in: KFSA 16/1, S. 108 (V [285]); vgl. das Athenaeum-Fragment 255. In: KFSA 2, S. 208 f.
Disziplin
Nikolaus Wegmann
Philologie – etwas mit Medien? Eine Aktualisierung Mein Vortrag1 ist als Keynote-Vortrag angezeigt. Er soll ein grundsätzliches Thema anschlagen, einen Rahmen vorgeben für weitere Diskussionen. So steht es jedenfalls im Handbuch für Vorträge. Bei unserem Thema ist diese Vorgabe besonders vermessen. Man kann zweifeln, ob das Genre des Keynote-Vortrags hier überhaupt greift. Schließlich geht es um die Philologie, und wenn es um Philologie geht, ist der ordnende Überblick ein frommer Wunsch. Wo ist denn hier der Feldherren-Hügel, von wo aus sich alles ordnet? Wo es Innovation und Fortschritt gibt? Neu und alt klar geschieden sind? Wer auf klaren Linien besteht, wird enttäuscht sein. Die Lage der Philologie, wenn es denn überhaupt zu einer Lagebeschreibung reicht, ist unübersichtlich.
I. So war es eigentlich schon immer. Und das mit Gründen. Über die lange Zeit, in der es die Philologie schon gibt, von der Antike bis in die Gegenwart, hat sie sich mit immer anderen und zusätzlichen Formen und Praktiken des Wissens zu einem epistemologischen Komplex angereichert. Die für die Philologie reklamierten Kompetenzen und Arbeitsfelder wurden immer zahlreicher, die Definitionen entsprechend umfangreicher und komplexer. Das alles einmal im Originalton: Dieser hier ist von 1578, der Autor – Caspar Hofmanus – eher zweite Reihe. Ausgewählt ist er nicht aufgrund einer besonders interessanten Formulierung, sondern mit Blick auf den schieren Umfang der Definition:
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Die erste Idee zu diesem Text geht zurück auf eine Einladung der Doktoranden des German Departments an der Columbia Universität in New York zu ihrer Jahrestagung: The Future of Philology. 11th Annual Columbia University German Graduate Conference 24.02.2012. Die Vortragsform wurde beibehalten.
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Nikolaus Wegmann
Philologie ist also jene Erforschung und Betrachtung der Wörter sowie denk- und wissenswürdiger Sachen bei den Autoren sowie besonders die Kenntnis des Altertums. Außerdem die Erläuterung von Sentenzen, die Kommentierung von Gedichten, Apophtegmata, Sprichwörtern, Fabeln, Historien, Exempeln, die Befassung mit der Chronologie, der Geschichte, den berühmten Kriegen, bedeutenden Menschen, der Natur der Lebewesen, mit dem Münzwesen und dergleichen mehr, was nicht jedem sofort auf der Hand liegt. Dann auch die Beschreibung von Sachen, Flüssen Bergen, Landschaften, Städten und was dort in jeder rühmlichen Kunde überantwortet ist. Darauf beziehen sich auch die Einrichtungen, die Sitten, die Kultur der Völker und Stämme, die Gewohnheiten des Altertums, die Behörden, die Gerichtsformen, religiösen Rituale, die Dinge des Landbaues, der Stadt, des Hauses, des öffentlichen Lebens
– genug, endlich der Sprung zum Schlusstopos: „dies alles aus den guten Autoren zu vermerken ist Aufgabe des Philologen.“2 Solche Kataloge und Listen sind in ihrer simplen Aufaddierung weithin Standard. Kaum etwas, das nicht auch noch Gegenstand der Philologie sein kann. Und doch lässt sich selbst diese uferlose Unübersichtlichkeit weiter steigern. Friedrich Nietzsche, selber vom Fach, sah die Philologie seiner Zeit als ein vielspältiges Gebilde, das allein, „durch den Namen ‚Philologie‘ zusammengebunden“ wird.3 Nietzsche benutzt einen Neologismus – ‚vielspältig‘ –, um anzuzeigen, dass die überkommene Heterogenität sogar Unvereinbares zusammenstellt. Eine stringente oder gar systematische Definition ihrer Disziplinarität ist so unmöglich. Ungeordnete Vielfalt kann man als Relikt vormoderner Wissenschaft gering schätzen und, wie Nietzsche mit Blick auf eine eigene Vorstellung von Philologie, scharf kritisieren. Aber sie ist von der Philologie nicht zu trennen. Sie ist – als schwache Formbestimmung – eine Konstante. Denn unübersichtlich ist die Lage nicht nur, weil die Philologie eine so weit zurück reichende Tradition hat. Die irritierende Komplexität der Philologie hat auch mit ihrem außerordentlichen Erfolg zu tun, genauer: der Erfolg ist oft von der Art, dass man ihn nicht als eine Leistung der Philologie erkennt. Selbst neue Trends in unserem Fach sind auf den zweiten Blick oft Wiederaufnahmen philologischer Arbeitsweisen. Nur ein Beispiel: Ausgerechnet die Dekonstruktion, gemeinhin als Triumph der Theorie
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Caspar Hofmanus: De barbarie imminente [...]. Frankfurt a. M. 1578. Zitiert nach Nikolaus Wegmann: „Was heißt einen ‚klassischen Text‘ lesen?“ In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, S. 334–450, hier: S. 349. Friedrich Nietzsche: „Homer und die klassische Philologie. Ein Vortrag“. In: ders.: Schriften der letzten Leipziger und Ersten Basler Zeit. 1868–1869. Hg. von Carl Koch und Karl Schlechta. München 1994, S. 283–305, hier: S. 285.
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gefeiert oder kritisiert, hat Paul de Man im Times Literary Supplement von 1982 – ein Jahr vor seinem Tod – als Return to Philology schon mit der Überschrift seines Beitrags annonciert.4 Bis dahin war das Verhältnis von Philologie und Theorie in traditionsreicher Ausschluss-Polemik festgelegt: „Wer von der Sache nichts versteht, macht Theorie“. Das war und ist vielleicht noch immer die Unvereinbarkeitsparole schon seit dem 19. Jahrhundert.5 Die Theoriefraktion ihrerseits war und ist sich sicher, dass der klügere Kopf der Theoretiker ist, während der Philologe, weil unfähig zur Abstraktion, sich in seiner Pedanterie nur verzettelt – und im Übrigen auch in der Politik immer nur zum Überkommenen und Bewährten neigt. Die Zukunft gehörte seit den späten 60ern des 20. Jahrhunderts der Theorie. Doch angesichts de Mans öffentlicher Volte drängt sich das Märchen Der Hase und der Igel auf: Der Wettlauf zwischen Hase und Igel ist dann eine Fabel über die Konkurrenz von selbstsicherer Theorie und unterschätzter Philologie. Am Anfang steht der Spott: Der Hase macht sich über die schiefen Beine des Igels lustig, woraufhin ihn dieser zu einem Wettrennen herausfordert. So kommt es dann auch; allerdings läuft der Igel nur beim Start ein paar Schritte, hat aber am Ende der Ackerfurche seine ihm zum Verwechseln ähnlich sehende Frau platziert. Als der siegesgewisse Hase heranstürmt, zeigt sie sich und ruft ihm zu: „Ich bin schon da!“ Dem Hasen ist das unbegreiflich, er verlangt Revanche. Doch auch die nächsten 73 Läufe enden stets mit demselben Ergebnis. Beim 74ten bricht der Hase erschöpft zusammen und stirbt. Soweit die Geschichte,6 und selbstredend wird die Theoriefraktion diesem Narrativ nicht zustimmen wollen. Doch es ist unstreitig, dass ‚Theorie‘ heute ungleich weniger zieht als noch in den 70ern und 80ern des vergangenen Jahrhunderts. Richtig ist aber auch: Sie hat sich, anders als in der Fabel, nicht totgelaufen, vielmehr ist inzwischen auch die Theorie fester Bestandteil der Philologie. Allerdings ist ihr Stellenwert ungesichert und daher schwankend. Dass die Philologie in ihrer grundsätzlichen Nähe zu den Sachen durch die abstrahierende Theorie gänzlich überrannt wird, scheint daher ausgeschlossen.7 In ihrem geradezu universalen Erfolg ist die Philologie vielleicht mehr 4 5
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Paul de Man: „The Return to Philology“. In: ders.: The Resistance to Theory. Minneapolis/ London 1986, S. 21–26. Mehr dazu: Nikolaus Wegmann: „Wer von der Sache nichts versteht, macht Theorie. Zur Curiositas der Literaturwissenschaft“. In: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998. Hg. von Jörg Schönert. Stuttgart/Weimar 2000, S. 509–552. Die Geschichte wurde 1843 von den Brüdern Grimm als Nr. 187 in die 5. Auflage der Kinderund Hausmärchen aufgenommen. Mehr dazu: Wikipedia, Stichwort „Der Hase und der Igel“. http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Hase_und_der_Igel (21.08.2013). Man kann sich eine Geschichte der Philologie als eine Abfolge solcher Übernahmeversuche vorstellen. Allerdings wäre das nicht eine Geschichte des heroischen Behauptungswillens, sondern eine der Einverleibung und Transformation – bis hin zu einer Philologie als Einheit der Unterscheidung von Sachwissen und Theorie.
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denn je eine allgegenwärtige Zweitfassung der Germanistik bzw. Literaturwissenschaft. Sie übergreift gewohnte Einzelbezeichnungen und Teildefinitionen, spezielle Schulen und Methoden. Ob Literaturgeschichte oder Textkritik, ob Medienkulturgeschichte oder Literaturkritik, fast alles geht auf die Philologie zurück. Philologie, so lässt sich salopp formulieren, ist auch dort drin, wo es nicht draufsteht. Einen letzten Grund für die unübersichtliche Situation hat die Philologie nicht zu verantworten. Denn die Vielgestaltigkeit, die das wildeste Ineinander noch toleriert, ist heute ein genereller Trend in vielen Disziplinen. Die soziologische Wissenschaftsgeschichte spricht von ‚Pluralisierung‘ und bezeichnet damit die unkontrollierte, ja unkontrollierbare Auffächerung einer Disziplin in kaum noch überschaubare Spezialisierungen. Auch in der Germanistik ist das Selbstverständnis des Faches inzwischen seinerseits ‚pluralistisch‘ geworden. Jedem ist es erlaubt, seine Begriffe auf seine Erkenntnisintentionen abzustimmen, aber nur um den Preis, dass er auch den anderen zugesteht, ebenfalls nur wieder ihren eigenen Intentionen zu folgen. Je mehr Wissenschaftler nur dem je eigenen Verständnis von Forschung und Wissenschaft nachgehen, desto stärker wird das Fach inflationiert. Es kursieren mehr Methoden, Theorien und Praktiken, als Originalität und Leistung – der Goldstandard der Disziplin – noch decken können.8 Gilt das, wird man fragen müssen, auch für die Philologie? Ist auch das gegenwärtige Interesse an der Philologie – diese Tagung ist nur eine unter anderen zum Thema Philologie – nur ein Effekt dieser inflationierten Aktualität? Der Einwand zielt weniger auf Selbstkritik als auf die Frage nach dem für die Philologie eigentümlichen Erfolg. Das typische Auf und Ab der Themen und Methoden, das Schema von Boom und Bust, passt hier nicht. Charakteristisch für die Philologie ist ihre besondere, weil andauernde Konjunktur. Für Rudolf Pfeiffer und seine zuerst 1968 publizierte Geschichte der klassischen Philologie war das so selbstverständlich, dass er von der „immerwährenden“ Philologie, der philologia perennis sprach. Philologie sah er als „one continuous untertaking“9, seit Kalimachos von Generation auf Generation weitergegeben. Das
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Gilt die These von der unkontrollierbaren Pluralisierung nur für die ‚weite‘ Form der Philologie oder auch für die Textkritik? Richtig ist, dass sich die Editionsphilologie als strenge Wissenschaft lange Zeit mit dem Anspruch auf objektive Verbesserungen und Fortschritte organisiert hat. Doch inzwischen wird auch hier jede Dogmatik kritisch gesehen. Ausgaben sind nicht mehr nur Leistungen einer auf Perfektion verpflichteten Wissenschaft, sondern Beiträge zur Literaturvermittlung. Editionen werden nicht länger für andere Editoren gemacht, sondern für den Leser, den Laien. Rudolf Pfeiffer: History of Classical Scholarship. From the Beginnings to the End of the Hellenistic Age. Oxford 1968. Zit. nach Ingo Gildenhard: „Philologia Perennis? Classical Scholarship and Functional Differentiation“. In: Bulletin of the Institute of Classical Studies 46 (2003), S. 161–203, hier: S. 161.
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ist, wie oft gesagt wurde, attraktiv, auch nicht ohne jede Evidenz.10 Aber man spürt vor allem die Selbstbegeisterung eines klassischen Philologen, der die gern geglaubte prinzipielle Unverlierbarkeit der Klassik und des Klassischen auf das philologische Wissen überträgt. Für Pfeiffer war eine Alternative, gar ein Ende der Philologie, schlechterdings nicht denkbar. Philologie war immer schon präsent, immer ‚lebendig‘11, und auch er als Philologe macht nur dort weiter, wo seine Vorgänger schon waren. Kurz: philologia perennis war für ihn eher eine Formel der Laudatio als ein Problem der Wissensgeschichte. Anders dagegen Roland Barthes. Für ihn gibt es in der Geschichte des Wissens und der Künste Phänomene, die sich dem Schema einer auf- und absteigenden Konjunktur entziehen und dennoch Erfolg haben. Sein Beispiel für eine solche besondere Form des Erfolgs ist der romantische Gesang eines Franz Schubert – es hätte aber auch, so die These für das Folgende, die Philologie sein können. Solche Phänomene sind in ihrem Erfolg spektakulär unspektakulär. Für sie „braucht man [...] nicht zu kämpfen“, schließlich handelt es sich nicht um eine „verkannte Kunst, für deren Wiederaufleben wir streiten müßten“.12 Das gewohnte Drama von Neuheit, Durchbruch und Vergänglichkeit fehlt gänzlich. In ihrem Erfolg sind diese besonderen Erscheinungen „weder in Mode, noch wirklich unmodern: man wird sie einfach inaktuell nennen müssen [...] inaktuell ohne unterdrückt, marginal oder exzentrisch zu sein.“13 Inaktualität, Barthes lässt keinen Zweifel, ist keine einfach zu verstehende Eigenschaft. Schließlich gibt es nach dieser Beobachtung in der Geschichte Phänomene, die ‚stets anachronistisch‘ sind ohne passé zu sein. Überdies, als wäre diese Irritation noch nicht genug, zählt zu dieser Inaktualität auch eine ungewöhnlich breite Akzeptanz in der Gesellschaft. Der romantische Gesang ist keineswegs nur Bestandteil einer Hoch- oder Expertenkultur. Und auch das gilt für die Philologie. Auch sie überbrückt die üblichen Wissensunterschiede und Zugangsschwellen zwischen Experten und Nicht-Experten.14 Philologische Verfahren gibt es auch in der Alltagskultur, etwa bei
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Gildenhard: „Philologia Perennis?“ (s. Anm. 9). Philologia perennis ist für Pfeiffer der „lebendige Zusammenhang des Wissens“. Rudolf Pfeiffer: Geschichte der klassischen Philologie. Reinbek 1970, S. 10. Ebd. Weiter heißt es: „Niemand wird der Philologie [...] ihr Recht streitig machen. Und so lange man die tägliche Arbeit der Interpretation, der Textkritik, der historischen Rekonstruktion fortführt, darf man auf Zustimmung hoffen.“ Barthes, Roland: Was singt mir, der ich höre, in meinem Köper das Lied. Berlin 1979. S. 7 (Der Band enthält die hier relevanten Texte: „Le chant romantique“ (1976) und „Schubert, musicien populaire“ (1979)). Siehe Thomas Steinfeld: Der leidenschaftliche Buchhalter. Philologie als Lebensform. München 2004.
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den Pop-Fans und ihrer Leidenschaft für das Listenmachen, das Sammeln, oder das Bewundern und Verehren. Philologie ist auch bei denen im Gebrauch, die nicht über „schwierige und subtile Lektürekriterien verfügen.“15
II. Die Lagebestimmung ist das eine. Doch wie soll man an diese unübersichtlichen Verhältnisse anknüpfen? Wie kann aus der Inaktualität eine ‚neue Aktualität‘ im Sinne von Roland Barthes werden? Man könnte, so die erste Idee, es mit Ordnung versuchen. Im Vertrauen auf die Leistung der Wissenschaftsgeschichte setzt man auf Intervention, d. h. man sichtet, was es unter dem Label Philologie alles gibt, lässt nur das gelten, was dem Maßstab der Wissenschaftlichkeit genügt und schreibt so die Geschichte der Philologie als eine Geschichte der Verwissenschaftlichung. Doch die Zeiten, in denen man aus der Philologie eine Literatur-Wissenschaft machen wollte, eine Disziplin, die sich grundsätzlich nicht von Physik oder Psychologie unterscheiden soll, sind vorbei. Das hat mindestens zwei Gründe: Zum einen ist die harte, auf die Universalität des Wissenschaftssystems ausgelegte Wissenschaftstheorie nur noch ein Randphänomen. Zum anderen ist die Vorstellung, die akademisch-universitäre Beschäftigung mit Literatur solle eine Wissenschaft sein, ein deutscher Sonderweg. In den USA ist das schon immer anders gewesen; die Disziplinarität der philologischen Fächer wird dort gerade nicht wissenschaftsförmig definiert. Es dominieren gegenläufige Bezeichnungen wie Literary Criticism oder Literary Scholarship. Noch deutlicher: Man spricht nur von Literature und verzichtet so auf jede Ausformulierung der Differenz zwischen dem Gegenstand und der akademischen Beschäftigung mit ihm. Heute ist die Wissenschaftshistorie weniger dogmatisch, sie hat auch am Fall ‚Philologie‘ gelernt. Der Gedanke, dass die Philologie einen epistemologischen Eigensinn hat, ist nicht mehr Tabu. Die Philologie lässt sich so beschreiben als die – eigentlich unmögliche – Einheit der Differenz von Wissenschaft und Bildung. ‚Wissenschaftliche‘ Forschung und ‚bildende‘ Literaturvermittlung, zwei konträre Zielsetzungen, soll die Philologie, und nur die Philologie, zusammenbringen können. Hier kann man anschließen. Die überkommene Heterogenität ist dann nicht länger ein Defizit, sondern der Philologie eigentümlich. Sie ist keine neue oder moderne Wissenschaft, sondern eine alte Form des Wissens, die sich bis in unsere Gegenwart gehalten hat. Heinz Schlaffer hat dafür die Formulierung gebraucht, dass die Philologie heute ‚so‘ nicht mehr erfunden 15
Barthes: Was singt mir, der ich höre, in meinem Köper das Lied (s. Anm. 13), S. 70.
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werden könnte.16 Allerdings ist das kein Argument dafür, sie jetzt aufzugeben und durch etwas zu ersetzen, dass ihr vermeintlich überlegen ist. Vielmehr interessiert, wie eine alte Epistemologie des Wissens überdauern kann und, das vor allem, wie man heute noch von ihr lernen kann.17
III. Dass alte Formen des Wissens überdauern, dass das, was einmal erfunden wurde, noch immer gilt, ist zunächst einmal unwahrscheinlich. Schließlich gibt es eine Wechselwirkung zwischen Sozialstruktur und Formenkanon des Wissens. Die Philologie hat ihren eigentlichen Ort eher in der Frühen Neuzeit als im 20. Jahrhundert oder in der Gegenwart. In der Forschung wird dieses Phänomen – die Philologie ist da nur ein prominentes Beispiel – als nachschleppende Vergangenheit oder kulturelle Rekurrenz thematisiert.18 Das Vergangene ist eben nicht vergangen, sondern wird weiter mitgeführt, über die Grenze einer historisch gewordenen Gesellschaftsstruktur hinaus. Für unsere Frage ist ein Hinweis von Umberto Eco besonders aufschlussreich. Auch Eco sieht, dass es dieses Phänomen einer nicht endenden Vergangenheit gibt: Ein paradoxer Aspekt unseres Zeitgeschmacks besteht darin, daß unsere Zeit eine Zeit rapiden Verbrauchs von Formen zu sein scheint [...], in Wirklichkeit aber eine der Geschichtsperioden ist, in welcher die Formen mit größter Schnelligkeit wieder aufgegriffen werden und ihren scheinbaren Verfall überdauern.19
Das ist, so mein Vorschlag, eine brauchbare Beschreibung auch für das Fortleben der Philologie. Doch wie ist dieses Aufgreifen alter Formen zu denken? Was ist das für eine Operation? Auch hier gibt Eco die Richtung vor. Für ihn steht im Zentrum die Lektüre. Er spricht von „Lesecodes“, die es braucht, um die alten Formen zu 16 17 18
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Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt a. M. 1990, S. 185. Über die Realität der Philologie wird, so die These, dort entschieden, wo sie gebraucht bzw. angewandt wird. Anwendung und Innovation müssen sich dabei nicht ausschließen. Udo H. A. Schwarz: Das Modische. Zur Struktur sozialen Wandels der Moderne. Berlin 1982, S. 8. Den Begriff ‚nachschleppende Vergangenheit‘ übernimmt Schwarz dort von Dieter Claessens, für den Begriff der Rekurrenz greift er auf Karlheinz Stierle zurück. Umberto Eco: Einführung in die Semiotik. 8., unveränd. Aufl. München 1994 (zuerst 1972), S. 318. Ein erster Hinweis auf Ecos philologische Überlegungen zur Zeit der Dauer findet sich bei Schwarz: Das Modische (s. Anm. 18), S. 9.
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erhalten. Zwei Lesecodes werden unterschieden. Eco spricht einmal von „exakten Schlüssel[n]“, mit denen eine Art originalgetreue Wiederingebrauchnahme des Alten gelingen soll. Nach diesem Muster geht zum Beispiel eine Forschung vor, die einen Klassiker der Philologie buchstabengenau rekonstruiert, um dann mit diesem wieder ausgegrabenen Originalgedanken selber philologisch zu arbeiten. Eco unterscheidet davon eine zweite Lektüre alter Formen. Es gebe nämlich auch Botschaften des Vergangenen, die uns heute nicht mehr betreffen, und die seien, „mit freien oder abwegigen Schlüsseln zu lesen.“20 Diese zweite Lektüre, also eine Leseweise, bei der man unkonventionell, frei und damit auch auf Überraschung und Innovation lesen darf, scheint zunächst die interessantere. Doch nach meinem Verständnis kommt es auf die gekonnte Kombination beider Verfahren an. Mehr noch: diese doppelte Lektüre ist in der Philologie seit langem eingeführt. Klassische Werke, so der Common Sense der Philologie, werden zweimal gelesen: Einmal auf Redundanz, so dass in der Lektüre deutlich wird, dass es sich um ein je spezifisches Werk handelt, das jetzt wiederholt gelesen wird. Zum anderen bleibt das klassische Werk aber nur dann lebendig und aktuell, wenn es variiert wird. Aber diese Lizenz zur Variation erlaubt Abweichung nur soweit, wie sichergestellt ist, dass es sich bei jeder Wiederholungslektüre um jenes je besondere Werk handelt. Genau diese philologische Operation lässt sich auch auf die Philologie selbst anwenden. Nur dass nicht einzelne klassische Werke gelesen werden, sondern ein klassisches Wissen. Indem wir die Philologie als Klassiker lesen, bestätigen wir einmal ihr Herkommen aus der Vergangenheit – und aktualisieren sie zum anderen ‚mit freien und abwegigen‘ Lektüren auf unsere Gegenwart hin. Demnach wäre dann auch nicht die Philologie als Ganzes zu aktualisieren. Angesichts ihrer heterogenen Einheit wäre das auch gar nicht möglich oder auch nur sinnvoll. Eine ‚klassifizierende‘21 Lektüre beginnt vielmehr bereits mit der Selektion dessen, was aus dem riesigen philologischen Wissensbestand gelesen werden soll. Meine Auswahl – dass jetzt eine Lektüre folgt, versteht sich von selbst – setzt bei Friedrich Schlegel an. Thema ist nicht gleich der ganze Schlegel, sondern nur eine ihm zugeschriebene Idiosynkrasie.
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Eco: Einführung in die Semiotik (s. Anm. 19), S. 318. Vgl. [Friedrich Schlegel u. a.:] „Fragmente“. In: KFSA 2, S. 165–255, hier: S. 173 [55].
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IV. Geht es um das Lesen selbst, gibt es keine allgemeinen Regeln. Lesen ist immer gebunden an eine je konkrete Lektüre. Als Operation ist das Lesen nicht theoriefähig. Das vorausgeschickt, ist das Folgende eine Miszelle, eine knappe, eine kleine Lektüre. Und sie macht Gebrauch von der zweiten Lizenz, die das Genre der Miszelle bereitstellt. Es ist eine Lektüre, die absichtsvoll mischt: Dinge, Themen, Autoren, Zeiten, was immer. Meine Miszelle ist zugleich eine weitere Referenz auf Rudolf Pfeiffer. „Die bloße Existenz der Philologie“, so Pfeiffer in seiner Geschichte der klassischen Philologie, „hängt vom Buche ab.“22 Das ist eine starke Behauptung, selbst in Zeiten einer medienhistorisch interessierten Philologieforschung. Doch das Folgende ist nicht an allgemeinen Definitionen interessiert. Pfeiffers Satz ist zunächst einmal nur eine Maxime, eine aphoristische Sentenz. Alles Weitere hängt vom konkreten Kontext ab, in dem sich der Aphorismus erst entfalten kann. Es braucht ein Beispiel. Wie sieht denn nun – und das ist mein Ausgangspunkt – dieses angeblich so grundlegende Verhältnis von Buch und Philologie bei einem Philologen wie Friedrich Schlegel aus? Schlegel ist hier ausgewählt, weil er medienhistorisch versiert ist. Novalis’ Maxime: „Alles, was von Büchern handelt, ist philologisch“,23 könnte auch von ihm sein. Schlegel ist jedenfalls an den medialen Verfahren der philologischen Praxis, am Lesen und Schreiben selbst interessiert. Spricht er vom Buch, dann ist fast immer das Buch-Schreiben und Buch-Lesen gemeint – und nicht das Buch als ein gleichsam natürliches Objekt, als simpler Aufbewahrungscontainer. Die eigentliche Realität des Buches steckt in den medientechnischen und kommunikativen Operationen, in denen es hergestellt und benutzt wird.
V. Denkt man an Friedrich Schlegel, denkt man nicht an den Autor von dicken Büchern, von vollständigen Werken und Theoriegebäuden.24 Trotz seiner Lucinde, trotz der ‚progressiven Universalpoesie‘. Friedrich Schlegel ist als Autor kein Buchschreiber. Er hat sich vielmehr für Umschriften des klassischen Buchformats interessiert und 22 23 24
Pfeiffer: Geschichte der klassischen Philologie (s. Anm. 11), S. 34. Novalis: „Teplitzer Fragmente“. In: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel. Bd. 2. München/Wien 1978, S. 385–412, hier: S. 388 [342]. Das Folgende ist eine erweiterte Fassung des gemeinsam mit Ulrich Breuer verfassten Editorials zum Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel Gesellschaft von 2011; vgl. Ulrich Breuer/ Nikolaus Wegmann: „Editorial“. In: Athenäum 21 (2011), S. 9–15.
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daher in Zeitschriften publiziert und selber welche gegründet und redigiert. Er hat Vorlesungen geschrieben und gehalten und er hat eine am Modell des Salons und der Tischgesellschaften modellierte geschriebene Konversation organisiert. Vor allem aber hat er Notizbücher geführt. Mehr als einhundert dieser Hefte soll es gegeben haben, die einzelnen Notate gehen in die Abertausende. Schlegel war ein Dauerschreiber, einer, der mit dem Notizbuch in der Hand gedacht hat. Dieser mediale Kontext seiner Arbeit macht neugierig. Lange hat man Schlegels Schreibpraxis unter biographischen Vorzeichen gesehen. Schlegel habe gar nicht anders gekonnt, heißt es. Das Notizbuch als Charakterfrage, fast schon als Charakterschwäche. Bereits Friedrich August Wolf hält nach seiner ersten Begegnung mit Schlegel fest, dass dies einer sei, der über den „sichern Erfolg“ hinausgehen wolle.25 Ist das der Vorbehalt der älteren Generation gegenüber der nachdrängenden Kohorte? Doch zwischen Wolf (geb. 1759) und Schlegel (geb. 1772) liegen nur 13 Jahre. Das macht noch keinen Generationenabstand. Worum geht es hier? Wolfs erste Einschätzung hat sich bis in die Gegenwart gehalten. Was bei ihm nach einer psychischen Disposition klingt, wird heute aus den Verhältnissen abgeleitet, in denen Schlegel gelebt hat. Schlegel, weil ohne feste Professur, musste schauen, wo er blieb. Im Lebenslauf stehen daher unstete Wanderverhältnisse, von Leipzig, Dresden, Jena, Berlin über Paris und Köln bis nach Wien. Unter solchen Umständen scheint der Griff zum Notizbuch einfach nur praktisch, etwa so wie eine Reiseschreibmaschine oder ein Erinnerungsbehelfsmittel. Doch Notizen und Notizbücher sind mehr. „Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“, schreibt Nietzsche über die Verwendung seiner Schreibmaschine in einem Brief an Peter Gast von 1882.26 Was unmittelbarer Ausdruck und Gedanke scheint, ist nur als mediengestützte Praktik gegeben. Notizen und Notizbuch sind dann – einmal in diese Formel eingesetzt – ein primäres Schreibverfahren für Friedrich Schlegel. Sie sind keine ersten Gedanken zu einem später dann endlich ausgeschriebenen Werk. Und sie sind auch nicht, etwa weil ihr Autor an der weiteren Ausarbeitung scheiterte, ‚bloße‘ Notizen. Das Notizbuch ist vielmehr eine mediale Praxis mit Eigensinn. Doch wie motiviert Schlegel seine Entscheidung für das Notizbuch? Arbeiten auch unsere Genres, unsere Medienformate mit an unseren Gedanken?
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Siegfried Reiter: „F. A. Wolf und Fr. Schlegel. Mit einem ungedruckten Brief“. In: Euphorion 23 (1921), S. 226–233, hier: S. 230. Hier zit. nach Friedrich Kittler: Grammophon Film Typewriter. Berlin 1986, S. 293.
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VI. Diese Frage entzieht sich einer schnellen Antwort. Schon die textkritische Empirie zeigt enorme Schwierigkeiten an. So gibt es nicht nur unüberschaubar viele Eintragungen. Die Notate selbst sind in sich vielfältig. Exzerpte, Ideen, Listen, Skizzen, Einfälle, Kurz-Essays, Improvisationen, Fragmente oder Aphorismen, all das findet sich in den Notizheften. Sämtliche Genres scheinen gleichmöglich. Sie kommen in ungeordneter Reihenfolge und ohne Ansage. Zudem kann die einzelne Eintragung mehrere Formen zugleich abrufen. Aus dem Exzerpt wird umstandslos eine Ideen-Skizze, und an die kann direkt ein aphoristischer Einsatz anschließen. Aber was heißt hier, wo die feste Gliederung mit Absicht fehlt, überhaupt ‚anschließen‘? Die nicht-systematisierte Komplexität ist typisch für Schlegels Art ein Notizbuch zu führen. Und er steht damit nicht allein. Das Notizbuch ist keine Idiosynkrasie Schlegels. Schopenhauer hatte eines, auch Fontane, Kafka und Gernhardt, sie alle – und viele mehr – haben Notizbuch geführt. Angesichts der Prominenz der Autoren, dem schieren Umfang der Einträge sowie der Intensität, mit der Notizbuch geführt wurde und wird, ist es erstaunlich, dass dieses Schreibformat so lange ein Randphänomen geblieben ist. Umso mehr interessiert, warum sich das jetzt ändert. Zunächst wird man vermuten, dass einmal auch die Notizbücher einfach an die Reihe kommen mussten. Bei den Großen und Bedeutenden zählt inzwischen alles zum (erweiterten) Werk. Auch das angeblich nur Ephemere und Flüchtige, also die Notiz, die Skizze, selbst noch das Exzerpt. Ein zweites Motiv ist die gegenwärtige Konjunktur für medienwissenschaftliche Fragestellungen. Davon profitiert auch das Notizbuch. Was lange nur als Hilfsmittel galt, wird in Analogie zu Manuskript oder Inkunabel zu einem eigenen Trägermedium aufgewertet. Es gibt aber noch einen weiteren Grund für das neue Interesse: Das Buch ist nicht mehr unbestritten die Richtgröße schlechthin für die aktuellen Lese- und Schreibverhältnisse. Die Sonderstellung des Buches schwindet. In der digitalen Welt sind inzwischen flüchtigere und offenere Schreibweisen alltäglich. Selbst in Wissenschaft und Gelehrsamkeit ist hier Bewegung. Wer liest noch ganze Bücher! Und der durchschnittliche Aufsatz hat laut Statistik eigentlich gar keine Leser mehr. Das klingt nach einem radikalen Bruch, aber vielleicht werden nur altvertraute Vorstellungen als Illusionen erkennbar. So hat schon um 1800, jedenfalls in den Intellektuellen-Zirkeln um Schlegel und Novalis, das schöne Bild vom guten Buch und seinen treuen Lesern nicht (mehr) überzeugt. Maximale Expertise, allgemeine Gültigkeit und lange Dauer, alles Prädikate des Buchs, waren hier gerade nicht die Losung für den eigenen Ehrgeiz. Für Friedrich Schlegel scheint der Gedanke, dass man eine Sache
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vollständig abhandeln könne, weniger reizvoll als vielmehr eine Schreckensvorstellung gewesen zu sein: „Ueberhaupt müßte ich ein Buch schreiben wenn ich Alles erschöpfen wollte“, so Schlegel doppeldeutig über das Format der Monographie.27 Zudem kommt kein Autor am Leser vorbei. „Der Leser“, so Novalis mit scharfem Blick auf die medialen Verhältnisse, „sezt den Accent willkührlich – er macht eigentlich aus einem Buche, was er will.“28 Das hehre Buch, das souverän über seine Gegenstände wie über seine Leser verfügt, ist demnach nur eine Fiktion. Doch wo sind die Alternativen? Schlegel hat als Autor seinen Akzent auf das unablässige Weitergehen gesetzt, auf ein Schreiben, das die Schreib- und Denkbewegung – nicht das definitive Resultat – in den Mittelpunkt stellt. Aus der unausgesetzten Bewegung heraus sollen neue Gedanken und überraschende Einfälle entstehen, zahlreich und mit hoher Erwartungssicherheit. Aus dieser Schreibpoetik heraus avanciert das Notizbuch zu dem Schreibformat für Innovation. Hier darf auf Lücke und in Skizzen geschrieben werden, hier kann man austesten, was geht. Man kann den Schreibstift laufen lassen: Das mediale Format Notizbuch liefert das passende Gebrauchsszenario gleich mit. Die Schreibanstrengung zielt auf die Operation des Anschließens selbst. Sie sucht nicht nach dem allein richtigen, weil in ein Schema passenden oder allgemein verständlichen Anschluss. Die eigentliche Kunst des Anschließens hält vielmehr das Schreiben offen für immer weitere und stets andere Fortsetzungen. Schlegels Notizbücher sind als permanente Selbst-Aufforderung zum experimentellen Weiterschreiben eine Absage an die pedantischen Routinen eines Sicherheitstexts. Für Schlegel ist der sichere Erfolg eigentlich gar kein Erfolg.
VII. Das Notizbuch gewinnt sein mediales Profil aus der Gegenstellung zu einem Schreiben, das um eines vorhersehbaren Erfolgs willen Risiken vermeidet, dafür aber Einbußen an Originalität und Intensität in Kauf nimmt. Schlegel ist so Teil einer nachgerade klassischen Kontroverse. Auch Wolfs Wort über ihn nimmt das Pro und Contra wieder auf. Wolf hat es bei der weitsichtigen Andeutung belassen. Andere haben diese Unterscheidung zwischen einem risikolosen und einem risikoaffinen Schreiben zum
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Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, 31. Oktober 1797. In: KFSA 24, S. 29–35, hier: S. 30. Novalis: „Teplitzer Fragmente“ (s. Anm. 23), S. 399 [398].
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Entweder-Oder zugespitzt. So nachzulesen bei Rolf Dieter Brinkmann. In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hat er den Akademismus und seine Neigung zum Sicherheitstext heftig attackiert. Texte, die sich, so Brinkmann, dem „Wahnsinn und Terror des sachgemäßen Verzettelns“ anpassen, sind steril und stumpf.29 Sie bringen nichts. Brinkmann fordert daher konsequent und zugleich vorhersehbar das direkte Gegenteil: „das Gesicherte aufgeben“.30 Für ihn ist das kein simpler Vorsatz, keine Idee, die man erst hat und dann plakativ wiederholt. Dieser Imperativ kann selbst wieder nur in der unablässigen Fortbewegung über das nur Offensichtliche hinaus erschrieben werden: „Warum hier haltmachen? Warum irgendwo haltmachen?“31 Ist der Blick erst einmal für diese Kontroverse geschärft, findet sich leicht mehr. „Vorsicht vor zu schnellem Verstehen!“ heißt Luhmanns hierzu passende Parole. Auch er optiert für die Selbstbeunruhigung, für das Offenhalten und Weitergehen als der ersten Verfahrensmaxime.32 Und Steve Jobs verlangt in einer Kürzestfassung dieser Risiko-Poetik: „[B]leibt tollkühn“.33 Doch wie kann man auf Dauer tollkühn bleiben, wenn Tollkühnheit nur im Moment, nie als Routine herzustellen ist? Ist die Paradoxie unvermeidlich? Das Lob des Risikos fällt leicht. Für den kühnen Schlegel, und gegen den langweiligen Betrieb. Abweichen kann man jedoch nur von etwas, das schon da ist und das als (durch)gesetzt akzeptiert wird. Man kann dann z. B. sich Schlegels Notizen zur Philologie als Vorbild nehmen, und wie Werner Hamacher selber 95 Thesen zur Philologie aufstellen. Hamacher hat seine Einfälle und Aphorismen – und dies ist ein zweiter Punkt – zunächst direkt ins Internet gestellt und dann auch als roughbook außerhalb des normalen wissenschaftlichen Betriebs publiziert. Dadurch hat er seinen Text an eine andere Leserschaft adressiert.34 Mit dieser sichtbar anderen Publikationsstrategie stellt sich die Frage des Publikums als wirkungsmächtige Begrenzung des Schreibens. Ist nicht 29
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Rolf Dieter Brinkmann: „Der Film in Worten“. In: ders./Ralf Rainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. 15. Aufl. Frankfurt a. M. 1981 (zuerst 1969), S. 390. Vgl. dazu Georg Stanitzek: Essay – BRD. Berlin 2011, S. 170-172. Brinkmann: „Der Film in Worten“ (s. Anm. 29), S. 383. Ebd., S. 395. Ausführlich und beeindruckend zum Theoriebau der Systemtheorie Maren Lehmann: Theorie in Skizzen. Berlin 2011. Steve Jobs: „‚You’ve got to find what you love‘. Commencement-address, Stanford, June 12, 2005“. http://news.stanford.edu/news/2005/june15/jobs-061505.html (21.08.2013). Die Formulierung „Stay hungry. Stay foolish“ ist in den deutschen Medien treffend mit „tollkühn“ übersetzt worden. Werner Hamacher: 95 Thesen zur Philologie. Zuerst als Fortsetzung im roughblog erschienen, jetzt in stark veränderter Fassung als roughbook 008, Holderbank 2010.
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das Publikum die letztendliche Bezugs- und Kontrollgröße für das Schreiben? Beim Schreiben, so diese weit verbreitete Vorstellung, muss man geradezu an ein Publikum denken – und indem man auf das Publikum schielt, ist die Operation des Anschließens auch endlich diszipliniert. Nur das kommt als Fortsetzung des Schreibgedankens in Betracht, was ein Publikum auch zu akzeptieren bereit ist. Diese offensichtliche Lösung kannte natürlich auch Friedrich Schlegel. Schließlich ist er Herausgeber und Redakteur des Athenaeum, also einer Zeitschrift, und Zeitschriften, zumal wenn sie von stellenlosen Intellektuellen herausgegeben werden, brauchen Käufer, brauchen Absatz. Doch Schlegel wehrt diese gängige Erwartung als Zumutung, als naives Verständnis von Schreiben und Medien ab: „Mancher redet so vom Publikum, als ob es jemand wäre, mit dem er auf der Leipziger Messe im Hotel de Saxe zu Mittag gespeist hätte. Wer ist dieser Publikum? Publikum ist gar keine Sache, sondern ein Gedanke, ein Postulat, wie Kirche.“35 Auch wenn man nur für einen kleinen Kreis, nur für sich untereinander schreibt, das Schreiben selbst hat für Schlegel Vorrang. Das Publikum ist erst eine Funktion des Schreibens: „Und unterdessen“, so Schlegel und sein Plädoyer für das Schreiben als unablässiges Fort-Schreiben, „kann vielleicht ein Publikum entstehen.“36 Und der Leser? Soll er sich auf diese Texte einlassen, obwohl – oder gerade weil – sie nicht umstandslos an die wissenschaftliche Kommunikation anschließen? Wie viel Aufmerksamkeit muss er investieren? Verfängt er sich am Ende in der Idiosynkrasie eines überehrgeizigen Autors? Der Leser wird selbst entscheiden, wo er in seiner Lektüre seinen Akzent setzt, schließlich sind nicht alle Formen des Anschließens gleich. Man muss austesten, was geht und wie der Aufwand sich rechnet. Und selbstredend führen nicht alle Anschlüsse in die Wissenschaft. Jetzt sind wir endgültig auf einem schwierigen Feld. Allgemeine Regeln sind nicht in Sicht. Vielleicht kann man nur jeweils neu die Differenz zwischen einem Sicherheitstext und einem auf Risiko setzenden Text ausmessen. Wie viel Sicherheit und wie viel Risiko? Dann ließe sich auch ein Urteil fällen über das Wo und Wie des Anschließens. Das ist demnach gerade kein Plädoyer für die eine oder die andere Seite. Nur die Empfehlung, die Unterscheidung zwischen Sicherheitstext und Risikotext als vollständige, zweiwertige Differenz zu gebrauchen. Das macht es leichter, von der einen zur anderen Seite und wieder zurückzugehen, je nach Gelegenheit, und ganz gleich 35
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Friedrich Schlegel: „Kritische Fragmente“. In: KFSA 2, S. 147–163, hier: S. 150 [35]. Vgl. Alfred Schlagdenhauffen: „Die Grundzüge des Athenäum“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 88 (1969), Sonderheft: Friedrich Schlegel und die Romantik, S. 19–41, hier: S. 26. [Friedrich Schlegel u. a.:] „Fragmente“ (s. Anm.21), S. 212 [275]. Vgl. Schlagdenhauffen: „Die Grundzüge des Athenäum“ (s. Anm. 35), S. 26.
Philologie – etwas mit Medien?
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ob als Autor oder als Leser. Statt der dogmatischen Parteinahme könnte man es mit Schlegel und seiner Medien-Philologie halten und offen bleiben für das, was kommt, was passen könnte und was nicht.
VIII. Kann man das zurückwenden auf das Fach? Einen Vorschlag machen, der sich an dieser Schlegel-Miszelle orientiert? Gesucht ist eine Form wissenschaftlicher Kommunikation, die die Differenz von Sicherheit und Risiko aufnimmt und in die ‚Gemeinschaft der Forscher‘ hineinträgt. Die Topoi liegen bereit: Gegen den bloßen Mainstream, für die intelligente Abweichung, gegen rundgeschliffene Antragsprosa und für selbständiges Urteilen. Aber das bleibt beim simplen Entweder-Oder, solange diese Differenz nicht in ein kommunikatives Verfahren übertragen wird. Es müsste für potentiell viele Teilnehmer offen sein und als Operation die Differenz von Sicherheit und Risiko zuverlässig wirksam werden lassen. Genau das kann der wissenschaftliche Streit.37 Im Streit weichen zwei oder mehr Parteien deutlich und entschieden voneinander ab, aber die jeweiligen Positionen schließen trotz der abweichenden Standpunkte aneinander an, entweder als Widerspruch oder als Zustimmung. Einmal angefangen, provoziert der Streit Beiträge, die über das, was sich der je einzelne Wissenschaftler denkt, hinausgehen. Die Spannung in der Einheit von Risiko und Sicherheit setzt sich um in eine Intensität des Denkens – und die ist der Sache unbedingt förderlich.
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Ich greife hier einen Diskussionsbeitrag von Christian Benne auf.
Hans-Christian Riechers
„eine Art Kritik der gattungspoetischen Vernunft“ Peter Szondi liest Friedrich Schlegel Der Reichtum, den diese Fragmente bergen, […] ist mit wenigen Worten nicht anzudeuten, und ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich in ihnen nicht nur einen der interessantesten Forschungsgegenstände der Literaturwissenschaft für die nächsten Jahrzehnte erblicke, sondern zugleich die Gewähr dafür, daß der durch die Feindschaft Goethes und Schillers, dann wohl auch Hegels lange verkannte, sei’s wegen seiner respektlosen Jugendschriften, sei’s umgekehrt wegen seiner späteren Wendung zum Katholizismus und zur Restauration oft immer noch scheel angesehene Friedrich Schlegel endlich in seinem ihm zukommenden Rang, als der neben Hegel wohl genialste Denker jener Jahrhundertwende, erkannt wird.1
Dieser längere Eingangssatz stammt aus der Vorlesung Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik, die Peter Szondi erstmals 1966, erneut dann 1970/71 in Berlin vor Studierenden gehalten hat. Es geht darin um die erst durch die Publikationen der Literary Notebooks und der Philosophischen Lehrjahre in größerem Umfang bekannt gewordenen Fragmente Friedrich Schlegels. Die hohe Wertschätzung, die Szondi Schlegel entgegenbringt, entstammt seiner in diesen Jahren intensivierten Bemühung um die historischen Wurzeln und philosophischen Prämissen der modernen Gattungspoetik. Wenn er außerdem zu diesem Zeitpunkt die Zukunft der Schlegel-Forschung antizipiert, so verdankt sich dies einem aufmerksamen Blick auf die sich mehrenden Publikationen, nicht zuletzt auf die ersten Bände der Kritischen Friedrich-SchlegelAusgabe (KFSA). Szondi entnimmt seine Prognose aber auch dem Nachholbedarf, den er in der Literaturwissenschaft vor allem hinsichtlich der Reflexion auf ihre eigenen hermeneutischen Grundfragen ausmacht. Der Rekurs auf Schlegel scheint ihm in diesem Zusammenhang unausweichlich.
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Peter Szondi: „Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik“. In: ders.: Poetik und Geschichtsphilosophie II. Hg. von Wolfgang Fietkau. Frankfurt a. M. 1974, S. 7–183, hier: S. 95.
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Hans-Christian Riechers
Für Peter Szondi bedeutet die Auseinandersetzung mit Friedrich Schlegel von seinen frühesten akademischen Veröffentlichungen bis zu seinen letzten in Berlin gehaltenen Vorlesungen eine permanente Reflexion auf die Bedingungen der eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Auch wenn er das Vorhaben, einen Band mit Schlegel-Studien ähnlich den Hölderlin-Studien zu publizieren, wieder verwirft, ist diese Auseinandersetzung doch intensiv genug, um besonderes Augenmerk zu verdienen. Es geht in diesem Beitrag daher gerade nicht darum, sie in ihrem Zusammenhang z. B. mit Szondis Hölderlin-, Lukács- oder Benjamin-Rezeption zu betrachten. Im Folgenden wird dazu einführend Szondis Interpretation und Beurteilung der gattungstheoretischen Texte des frühen Schlegel nachvollzogen (1). Von dort aus rückt die Aneignung Schlegels durch Szondi in den Mittelpunkt, sind doch Szondis Bemühungen um eine grundlegende literaturwissenschaftliche Methodenbesinnung ohne Schlegel schwer vorstellbar (2). Im Anschluss widmet sich dieser Beitrag der Aufgabe, diese Aneignung in ihren biographischen und disziplingeschichtlichen Kontext zu rücken (3). Dazu dient ein exemplarischer Konflikt zwischen Peter Szondi und Emil Staiger aus dem Jahr 1967, in dem unterschiedliche zeitgenössische Positionen in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft anhand einer Debatte um Schlegel und Schiller zutage treten.
1. Schlegel: der erste Theoretiker der Moderne Der genauere Blick auf Szondis Schlegel-Lektüre bedeutet einen Blick zurück in die Anfangsphase der neueren Schlegel-Forschung. Dementsprechend ist sie vor allem von den frühromantischen ‚Klassikern‘ in Schlegels Werk geprägt, den genannten Fragmentsammlungen und den frühen Aufsätzen, vor allem Über das Studium der griechischen Poesie.2 Der Nachvollzug dieser interpretierenden Lektüre verhilft zu einem besseren Verständnis des Aneignungsprozesses, der in Szondis Überlegungen zur Literaturwissenschaft an seine Schlegel-Interpretationen anknüpft. Szondis Arbeiten verraten oft eine intensive Auseinandersetzung mit Schlegel, nicht immer nennt er Schlegel allerdings beim Namen. Die Orte, an denen Szondis Schlegel-Lektüre jedoch explizit nachzuverfolgen ist und an die sich auch diese 2
Friedrich Schlegel: „Die Griechen und Römer. Historische und kritische Versuche über das klassische Altertum“. In: KFSA 1, S. 203–367. Szondis Schlegel-Lektüre ist auch durch die Publikationssituation bedingt. Szondi zitiert in seinen Texten neben den Literary Notebooks (1957), auch aus den Bänden 2: Charakteristiken und Kritiken (1967) und 18/I: Philosophische Lehrjahre (1963) der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KFSA) und den Studium-Aufsatz aus den Jugendschriften.
„eine Art Kritik der gattungspoetischen Vernunft“
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erste Annäherung halten wird, sind die Vorlesungen über Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit (1965/70)3 und Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik (1966)4 sowie die Aufsätze Friedrich Schlegel und die romantische Ironie (1954),5 Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten (1968/70)6 und Das Naive ist das Sentimentalische (1970).7 Im thematischen Mittelpunkt von Szondis Arbeiten über Schlegel steht vom ersten Satz des Aufsatzes Friedrich Schlegel und die romantische Ironie an die Geschichtsphilosophie. Die „Gedankenwelt des jungen Friedrich Schlegel“ sei, so steht da, „ein Ganzes kraft ihres geschichtsphilosophischen Wesens.“8 Dieser früh entstandene Aufsatz beginnt somit schon mit einem der beiden Schwerpunkte, die Szondis Arbeiten zu Schlegel auch zehn Jahre später ausmachen, der Geschichtsauffassung des jungen Friedrich Schlegel. In der 1966er Vorlesung wird er von der „geschichtsphilosophische[n] Poetik“9 des frühen Schlegel sprechen, womit der andere Schwerpunkt bezeichnet ist, der in den 1960er Jahren hinzukommt, die Gattungspoetik, und mit ihr ein Feld, das die Arbeiten Schlegels mit denen des Literaturwissenschaftlers Szondi verschränkt. Anhand der Gattungspoetik lässt sich also nicht nur Szondis Schlegel-Lesart, sondern auch Szondis eigene Affinität zu Schlegels Denken exemplarisch nachverfolgen. Eine Schlüsselfunktion hat dabei der Begriff „Kritik der gattungspoetischen Vernunft“,10 auf den Szondi wieder und wieder zurückkommt, wie um ihn den Zuhörenden (bzw. Lesenden) einzuprägen. Wenn sich hier sogleich die Frage stellt, ob es eine gattungspoetische Vernunft geben kann und wie ihre Kritik aussehen möchte, hilft ein Blick auf die Definition, die Szondi dem Begriff beigibt. Er spricht von der „kritizistischen Rückbesinnung auf die Bedingungen der Möglichkeit gattungspoetischer Systematik“.11 Diese Formulierung nimmt er teilweise zurück; es 3 4 5 6
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In: Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Hg. von Senta Metz u. Hans-Hagen Hildebrandt. Frankfurt a. M. 1974, S. 11–265, bes. S. 99–148. In: Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II (s. Anm. 1), S. 7–183, bes. S. 94–151. In: Peter Szondi: Schriften II. Hg. von Jean Bollack u. a. Frankfurt a. M. 1978, S. 11–31. In: ebd., S. 32–58. Der Aufsatz wurde zunächst in einer französischen Fassung in Critique veröffentlicht, erst 1970 dann auf Deutsch im Euphorion. Er entsteht aus der Vorlesung Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik und ist durch eine Vielzahl wörtlicher Übernahmen gekennzeichnet. In: ebd., S. 59–105. Ebd., S. 11. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II (s. Anm. 1), S. 110. Ebd., S. 131 (u. ö.). Ebd. Im Wortlaut des aus der Vorlesung hervorgehenden Aufsatzes „Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten“ geht es um die „Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit poetischer
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handele sich keinesfalls um eine „ausgeführte[] Kritik im kantischen Sinn“,12 auch nicht um ein vollständiges, „kritizistisch geprägte[s] System der Poetik“. Szondi spricht daher vorsichtiger von einer „Art Kritik der gattungspoetischen Vernunft“13 (bzw. von „Gedanken zu“14 einer solchen oder von Schlegels „skizzierter“, 15 „nur in Ansätzen vorhandener Kritik der gattungspoetischen Vernunft“,16 die lediglich „entworfen wird“).17 Szondi relativiert den Begriff also mehrfach, kaum dass er ihn einmal ins Spiel gebracht hat. Es geht ihm offenbar nicht darum, den Begriff mit philosophischer Strenge beim Wort zu nehmen, sondern um die formelhafte Zusammenfassung eines Gedankens. Gemeint ist die Übernahme der kritizistischen Methode in den poetologischen Arbeiten des jungen Friedrich Schlegel. Schlegels Gattungspoetik zeichnet sich für Szondi dadurch aus, dass in ihr die Dichtarten erstmals ganz unter geschichtsphilosophischem Gesichtspunkt betrachtet werden und dieser die entscheidende Rolle bei ihrer Bestimmung spielt. Er vollzieht dies vor allem anhand des Studium-Aufsatzes nach. Indem Schlegel die Unterscheidung zwischen Antike und Moderne als zwei verschiedenen Kunstepochen voraussetze und diese mit den Attributen Natur und Kunst (als den jeweiligen Bildungsprinzipien) belege, gehe er zunächst von einer klassizistischen Position aus. „Wäre Schlegel auf diesem Standpunkt verharrt“, so Szondi, „wir könnten uns nun den ersten systematischen Ästhetikern des Deutschen Idealismus, Hölderlin und Schelling, zuwenden.“18 Diesen Standpunkt modifiziere er dann aber derart, dass seine Arbeiten zu einer „Überwindung des Klassizismus“19 gerieten: Nicht mehr sei die moderne Epoche zur Nachahmung der Antike aufgerufen, sondern die Formen entwickelten sich, sie wandelten sich von der Antike zur Moderne. Allerdings sei der exakte Punkt, an dem Schlegels klassizistische Intention in die „antiklassizistische
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Gattungsbegriffe und gattungspoetischer Systeme“. Szondi: Schriften II (s. Anm. 5), S. 32. Vgl. zu Szondis Begriff „Kritik der gattungspoetischen Vernunft“ auch die Modifikation „Kritik der gattungspoetischen Urteilskraft“ bei Friederike Reents: „‚Styl‘, ‚Stimmung‘, ‚Uebergang‘: Schlegelsche Kriterien zur Epochenbildung“. In: Christian Benne/Ulrich Breuer (Hg.): Antike – Philologie – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte. Paderborn u. a. 2011, S. 251–262, hier: S. 251. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II (s. Anm. 1), S. 116. Ebd., S. 113 (Hervorhebung d. Verf.). Ebd., S. 115. Ebd., S. 122. Ebd., S. 125. Ebd., S. 131. Ebd., S. 112. Ebd.
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Position der Moderne“ überschlägt,20 also die eigentlich romantische Position der späteren Vorrede zum Studium-Aufsatz, nicht belegbar, sondern bleibe ein „missing link“; sie finde „gleichsam hinter dem Rücken des Verfassers“ statt.21 Denn auch Schlegel verfahre, so Szondi, in seiner Poetik letztlich nicht typologisch klassifizierend, sondern er gebe anstelle von Typologien Deduktionen von Dichtarten.22 Er unterscheide die Dichtarten, indem er sie historischen Epochen – der Antike das Epos, der Moderne den Roman – zuweise. Es könne in der Moderne nicht mehr um die Nachahmung der Antike gehen; diese antiklassizistische Position Schlegels ist bekannt. Daneben findet aber für Szondi eine weitere wichtige Modifikation der klassizistischen Ästhetik bei den anderen Dichtarten statt. Schlegel sehe nämlich außer den einer bestimmten Epoche zugehörigen Dichtarten auch die „ganz gültigen Dichtarten“: „Lyrik und Dramatik“.23 „Ganz gültig“ heißt, dass sie von epochalen Zuordnungen unabhängig sind. Auch sie seien aber nicht als unhistorisch, also die Zeiten unwandelbar überdauernd zu denken, sondern „ihre Historizität“ habe „einen Wandel innerhalb der Gattung zur Folge“.24 Für Szondis eigenes Interesse an Schlegel ist eine Konsequenz, die sich aus diesen gemischten historischen Valenzen der Gattungen ergibt, von weiterführender Bedeutung. Denn die bestehenden Gattungen – der empirische Ausgangspunkt seiner Überlegungen – könnten formal quasi mutieren, indem ihnen Aspekte anderer Gattungen zukämen. Eine Voraussetzung dessen sei, dass Schlegel das Gattungssystem mittels der Adjektivierung der Gattungsbegriffe modifiziere (und letztlich aufgebe). Hierin vollziehe sich die Überwindung der Gattungspoetik vermittels der Entgrenzung der Dichtarten, die in Töne umgewandelt werden, wie ihre einst substantivischen Begriffe in Adjektive, das Substantiv Epos in das Adjektiv episch.25
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Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II (s. Anm. 1), S. 110. Vgl. zur Abgrenzung Schlegels gegen Winckelmann und Herder Poetik und Geschichtsphilosophie I (s. Anm. 3), S. 99–113. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II (s. Anm. 1), S. 112. In der Wortwahl „missing link“ klingt an, dass es sich dabei um ein Postulat des beobachtenden Wissenschaftlers (und keinen empirischen Befund) handelt, der eine notwendige Entwicklung deduziert. Szondi setzt hier, wie sich zeigen wird, in seiner eigenen Methode schon diejenige Schlegels voraus. Vgl. ebd., S. 118 f. und Szondi: Schriften II (s. Anm. 5), S. 62: Schlegels Bestimmungen gingen „über die traditionelle Gattungspoetik hinaus, indem sie […] die einzelnen genera nicht auf Grund ihrer Elemente deskriptiv bestimmen, sondern aus einem Begriff deduzieren […]“. Vgl. ferner KFSA 2, S. 181 [113] und S. 207 f. [252]. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II (s. Anm. 1), S. 120. Ebd. Szondi: Schriften II (s. Anm. 5), S. 49 (vgl. KFSA 2, S. 188 [146]; KFSA 18, S. 23 [55] und S. 197 [10]).
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An dieser Stelle ist es Szondi erneut wichtig zu betonen, dass es ihm nicht um gänzlich unhistorische Strukturmerkmale geht. Der konzeptionelle Umbau von Gattungen, die historischen Epochen zuzuordnen sind, zu „Momenten am Kunstwerk“ bedeute nicht „eine geschichtsfremde Lehre von den dichterischen Formen“, sondern die Momente hätten „durch ihre Konkretisierung am einzelnen Kunstwerk an dessen Geschichtlichkeit“ teil.26 Während also die Gattungsbegriffe durch ihre Übersetzung in Momente ihrer geschichtlichen Determination entledigt erscheinen, betrachtet Szondi sie andererseits wieder als historisiert, indem sie Momente am Kunstwerk sind und er dieses als historisch begreift.27 Wenn er diese neuen historischen und die strukturellen Bestimmungen als vermittelbar denkt, kann man allerdings nicht mehr von den Gattungen im alten Sinn reden. Schlegel ersetze, indem er die Gattungen von ihrer Geschichtlichkeit löse, um sie dann durch ihr Vorkommen als Moment an bestimmten historischen Kunstwerken wieder in die Geschichte eingehen zu lassen, letztlich nicht nur das ältere Gattungsschema28 durch ein dialektisches und stelle in der Folge eine genuine Romanpoetik auf, die auf die Vermittlung klassischer und moderner Dichtung aus ist. Er führe darüber hinaus auch eine Literaturbetrachtung ein, die immer in begriffliche Vorleistung treten muss, will sie Gattungsbestimmungen treffen, eine Vorleistung, die die geschichtsphilosophische Reflexion auf die eigene Position einschließt. Auf diesem Weg werde aus der klassizistisch begonnenen Poetik des Studium-Aufsatzes der Auftakt zur modernen Hermeneutik. Gerade in diesem Sinn erklärt Szondi Friedrich Schlegel, „von dem der früheste […] Entwurf einer deduktiven Gattungspoetik stammt“,29 zum „ersten Theoretiker der Moderne“.30 Die gänzliche deduktive Umwälzung der vormals empirischen Bestandsaufnahme ist es auch, worin Szondi eine ganz grundsätzliche Abhebung der Poetik Schlegels von der Aufklärungspoetik erkennt. Sie sei „reflektiert, kritizistisch begründet“.31 Schlegel wird für ihn auf diese Weise ein Aufklärer der Aufklärungspoetik – oder eben ein ‚Kritiker‘ der gattungspoetischen Vernunft. Wenn Szondi Geschichtsphilosophie bei Schlegel als
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Szondi: Schriften II (s. Anm. 5), S. 50. Vgl. ebd., S. 38: „Interdependenz von Empirie und spekulativer Theorie“. Jedoch ist die empirische Gegebenheit nicht als Voraussetzung der Deduktion zu denken – vgl. Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II (s. Anm. 1), S. 124 f. –, sondern erst die deduktiven Begriffe finden, indem sie „am Kunstwerk“ vorkommen, ihren historischen Ort. Vgl. ebd., S. 56 f. Ferner KFSA 2, S. 182 f. [116] und KFSA 18, S. 24 [65]. Peter Szondi: „Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie. Mit einem Exkurs über Schiller, Schlegel und Hölderlin“. In: ders.: Schriften I. Hg. von Jean Bollack u. a. Frankfurt a. M. 1978, S. 367–412, hier: S. 169. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II (s. Anm. 1), S. 112. Ebd., S. 35.
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„begriffene Geschichte“32 bezeichnet, heißt es ebendies, dass nämlich historische Begriffe von ihrer empirischen Gegebenheit gelöst und als deduzierbar erkannt werden. Auf die Gattungsbegriffe bezogen und aktualisiert bedeutet dies, dass deren Geschichtlichkeit anzuerkennen, ohne sie aber als kontingent zu begreifen, eine Voraussetzung für kritisch verstandene Begriffe einer (theorie-)geschichtlich reflektierenden Literaturwissenschaft ist, wie Szondi sie einfordert.33
2. Reflexion: die Signatur der Moderne Dass eine Kritik der literaturwissenschaftlichen Praxis an der Zeit wäre, hat Szondi immer wieder betont: Die Literaturwissenschaft habe sich zu lange der Verantwortung für eine spezifisch „literarische Hermeneutik“34 entzogen. Szondi versucht mit diesem Begriff, die hermeneutische Tradition entgegen der zu seiner Zeit dominierenden philosophischen Hermeneutik für eine materiale Neuorientierung fruchtbar zu machen. Sprach Dilthey noch von der Analyse des Verstehens als dem sicheren Ausgangspunkt für die Regelgebung, so wurde es in seiner Nachfolge immer mehr Brauch, vom Höhenflug einer Philosophie des Verstehens zur irdischen Praxis der Auslegung und ihrer Methodenlehre nicht mehr zurückzukehren.35
Szondi versucht also den Weg zwischen einer methodisch unreflektierten Literaturinterpretation und der literarisch gegenstandslosen Verstehensreflexion der philosophischen Hermeneutik zu gehen. Dazu knüpft er an die hermeneutische Tradition vor Dilthey an. In seinem späten Vortrag Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik 32 33
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In der Vorlesung „Schellings Gattungspoetik“. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II (s. Anm. 1), S. 241. Zum Beispiel Siegfried Unseld gegenüber: „Die Kritik müßte hier nicht so sehr dem Gegenstand der Literaturwissenschaft gelten, als ihrer bisherigen Praxis.“ Peter Szondi: Briefe. Hg. von Christoph König u. Thomas Sparr. Frankfurt a. M. 1993, S. 256 (Brief an Unseld vom 7. Oktober 1968). Es soll nicht übergangen werden, dass Szondi an dieser Stelle das Adjektiv „kritisch“ auf die Literaturwissenschaft anzuwenden auch aus sprachlogischen Erwägungen ablehnt: nicht sei die Wissenschaft kritisch zu nennen, denn sie verhalte sich nicht kritisch zu ihrem Gegenstand, sondern sie selbst werde kritisch betrachtet. So in den „Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik“. Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Hg. von Jean Bollack u. Helen Stierlin. Frankfurt a. M. 1975, S. 404–408, und in „Schleiermachers Hermeneutik heute“. Szondi: Schriften II (s. Anm. 5), S. 106–130, hier: S. 108. Ebd.
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wählt er für dieses Desiderat der Literaturwissenschaft die Formulierung „Kritik der literarischen Vernunft“.36 Mit diesem Titel, der an die für Schlegel geprägte Formulierung anklingt, stellt er das Projekt einer literarischen Hermeneutik als „Methodenlehre der Philologie“37 bewusst in den Kontext seiner ‚Schlegel-Studien‘. Die Aufwertung des Methodenbegriffs hat eine Schlüsselstellung in der SchlegelLektüre Szondis wie auch in seiner eigenen hermeneutischen Arbeit. Die Methode, der wissenschaftlich reflektierte Weg, hat gegenüber der Vollendung den Vorzug, immer aktualisierbar zu bleiben. Sie weist keine feststehenden Ergebnisse vor, sondern fordert immer wieder auf, sich mit dem Gegenstand auseinanderzusetzen. Regeln für diese Vorgehensweise zu finden ist ein nach Szondis Überzeugung zu Unrecht in Misskredit geratenes Unternehmen der Philologie des 18. und 19. Jahrhunderts. Schlegels kritizistische Methode zu beobachten sei daher von Bedeutung für eine theoriegeschichtliche Selbstreflexion der Literaturwissenschaft, auf deren Grundlage sich ihr spezifischer wissenschaftlicher Status erst behaupten ließe. Szondi spricht, wie schon erwähnt, in seinem Rekurs auf Schlegel von einer „kritizistischen Rückbesinnung auf die Bedingungen der Möglichkeit gattungspoetischer Systematik“. Ein eher unauffälliges Wort in dieser Definition verdient in diesem Zusammenhang noch genauere Betrachtung, nämlich „Rückbesinnung“. Szondi legt Schlegels Arbeiten zur Gattungspoetik damit im Unterschied zur systematischen Ausführung von Hegels Vorlesungen über Ästhetik einen prozessualen Charakter bei: Mit „Rückbesinnung“ ist eine Vorgehensweise bezeichnet und eben nicht das endliche systematische Ziel einer idealistischen Ästhetik. Dass nicht Schlegel, sondern Hegel dieses Ziel erreichen wird, was traditionell als Mangel der Schlegel’schen Überlegungen wahrgenommen worden sei, wertet die Arbeiten des frühen Schlegel für Szondi auf, da sie zu einer produktiven Anknüpfung einladen. Hegels „Vollendung“ der idealistischen Ästhetik sei „zugleich ein Ende, und zwar in dem Sinn, daß über sie nur hinausgegangen werden kann, indem man hinter sie zurückgeht“38 – also sich die methodischen Fragen erneut stelle, mit denen die ästhetische Diskussion der Moderne anfängt. Daher werde Schlegels im Zeichen der Rückbesinnung stehende produktiv-unvollendete Grundlagenarbeit zu einem Anfangspunkt für die eigene Rückbesinnung: „der Rekurs auf ihn ist der Schritt zurück, den man, einmal festgefahren tut, um weiterzukommen.“39 Rückbesinnung und Rekurs sind hier als Handlungsanweisungen der Reflexionsfähigkeit zu verstehen. 36 37 38 39
In den „Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik“. Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik (s. Anm. 34), S. 404. Ebd., S. 405. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II (s. Anm. 1), S. 126. Ebd.
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Dass er die Reflexion als Signatur der Moderne anerkennt, ist für Szondi ein Vorzug des frühen Schlegel besonders gegenüber der zeitgleichen klassizistischen Einstellung Goethes und Schillers. Bei dem auch für Schlegel so einflussreichen Schiller sei die Reflexion, insoweit sie als Epochensignatur fungiere, mit negativen Vorzeichen versehen. Szondi fasst Schillers Haltung zur Formel vom „‚Kulturübel‘ Reflexion“ zusammen.40 Sie sei das unausweichliche Verhältnis des Menschen zur Welt in der gegenwärtigen (modernen) Epoche. Wenn Szondi in seinem Aufsatz Das Naive ist das Sentimentalische an Schillers klassizistischen Thesen den Punkt ausmacht, an dem die absoluten Trennungen der beiden Dichtarten in Bewegung geraten und vermittelbar werden,41 so kommt dies einer Vermittlung der Theorie Schillers mit der modernen Position gleich. Schiller habe gleichsam einen internen Konflikt zwischen seinen geschichtsphilosophischen Ideen, an die Schlegel anknüpft, und dem mit Goethe entwickelten klassizistischen Programm nicht aufgelöst. So gibt es in den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen und der Abhandlung Ueber naive und sentimentalische Dichtung nach Szondis Lesart paralell eine progressive und eine klassizistische Tendenz in Schillers Poetik. Der Klassizismus Weimarer Prägung hingegen, so gibt Szondi zu verstehen, ist für ihn Teil einer fatalen moderneskeptischen Haltung, die unmittelbar die Entwicklung der ästhetischen Debatte und die Kunstproduktion vor 1800 hemme. Diese Haltung, zumal in der sie affirmierenden Germanistik, behauptet für Szondi die klassizistische Position trotz ihrer theoretischen Überwindbarkeit und aus einem Ressentiment gegen die Moderne.42
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Szondi: Schriften II (s. Anm. 5), S. 77. Das Wort „Kulturübel“ ist bei Szondi allerdings kein Schiller-Zitat, sondern eine Zuschreibung, die aus Schillers kurz zuvor zitierter Formulierung von den „Übeln der Kultur“ hervorgeht. Vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Weimar 1962, S. 428. Vgl. auch Szondi: Schriften II (s. Anm. 5), S. 89 f., wo Szondi Schillers Brief an Goethe vom 23. August 1794 zitiert. Die Reflexion steht hier der künstlerischen Produktion hemmend entgegen. Auch in der Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ wird der Reflexion als Epochensignatur ein negatives Vorzeichen gegeben. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20, S. 473, vgl. Szondi: Schriften II (s. Anm. 5), S. 96. „Die sentimentalische Stimmung, schreibt Schiller, ist das Resultat des Bestrebens, auch unter den Bedingungen der Reflexion die naive Empfindung, dem Inhalt nach, wieder herzustellen.“ Ebd., S. 96. Vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20 (s. Anm. 40), S. 473. Für Szondis deutliche Vorbehalte gegen „Goethes und Schillers in mehr als einem Sinn geschichtsfremden Klassizismus“ vgl. Szondi: Schriften II (s. Anm. 5), S. 69. Vgl. außerdem den vor kurzem erschienenen Beitrag von Andreas Isenschmid: „Peter Szondi: Philologie und jüdische Erfahrung“. In: Monika Boll/Raphael Gross: „Ich staune, daß Sie in dieser Luft atmen können“. Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945. Frankfurt a. M. 2013, S. 62–86, bes. S. 66 (über die unter jüdischen Remigranten diskutierte „Mitschuld der deutschen Klassik am Nationalsozialismus“).
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Diese auffällige Parteinahme Szondis hängt mit einer persönlichen Erfahrung zusammen, die zugleich eine generationelle ist. In ihr zeichnet sich die Abkehr von der klassizistischen Ästhetik als Stichwortgeberin einer Literaturwissenschaft ab, die nach dem Krieg das Humanitätserbe des Abendlands zu verwalten meinte. Szondis Parteinahme gegen die Weimarer Klassik entspricht der größeren Korrespondenz der eigenen Lebenserfahrung mit offenen, fragmentarischen, auch essayistischen Formen. Für Szondi persönlich stellt sie sich zudem als Auseinandersetzung mit seinem akademischen Lehrer Emil Staiger dar. Gegenüber Staigers Interpretationsmethode, die darauf zielt, die Vollkommenheit des interpretierten Werks durch den interpretierenden Text zu erweisen – eine Vorstellung, die man als klassizistisch bezeichnen kann –,43 bemerkt Szondi in seiner Programmschrift Über philologische Erkenntnis (erstmals 1962 unter dem Titel Zur Erkenntnisproblematik in der Literaturwissenschaft) gewissermaßen das Gegenteil. Sie ist ein nicht zuletzt an Schlegel orientiertes Plädoyer für die Unverständlichkeit des Unverständlichen. Szondi verwickelt die mit dem Verstehen befasste Hermeneutik hier in eine Auseinandersetzung ausgerechnet mit hermetischer Dichtung. Die Beziehung, in die Szondi Hermeneutik und Hermetik setzt, fungiert als Modell für eine Interpretation, deren Maßstab der immer wieder neu herzustellende Moment der Erkenntnis ist. Das philologische Wissen könne „nur in der fortwährenden Konfrontation mit dem Text bestehen“, es sei „perpetuierte Erkenntnis“.44 Schon hier benutzt er für das vorgestellte Verfahren hermeneutischer Selbstvergewisserung das Wort „Rückbesinnung“45 – und knüpft daran die Wissenschaftlichkeit der Disziplin, sei doch „der Stand der Unreflektiertheit der Wissenschaft inadäquat“.46 43
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Vgl. Ursula Amrein: „Diskurs der Mitte. Antimoderne Dichtungstheorien in der Schweizer Germanistik vor und nach 1945“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 26/I (2001), S. 36–57, hier: S. 51. Szondi: Schriften I (s. Anm. 29), S. 265. Vgl. den letzten Satz des Aufsatzes über „Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten“: „Was er von der romantische[n] Dichtart […] gesagt hat: daß sie noch im Werden ist, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann, gilt nicht minder für deren Theorie.“ Szondi: Schriften II (s. Anm. 5), S. 58. Szondi: Schriften I (s. Anm. 29), S. 265. Ebd., S. 264. Diesen Komplex zusammenfassend bemerkt Michael Hays: „Such understanding, Szondi was certain, could only emerge if the critical inquiry posed questions about itself, its method, and assumptions. This process, the development of this ‘hermeneutical consciousness’, is essential to criticism since without reflection there can be no ‘science’ of criticism at all and, thus, no valid means of making generalizations about literature. Szondi’s reference to a ‘science’ of criticism indicates a further link between his interest in the romantics, especially Schleiermacher and Schlegel, and his experience of critical practice in the German university of the postwar era.“ Michael Hays: „Foreword“. In: Peter Szondi: On Textual Understanding and Other Essays. Transl. by Harvey Mendelsohn. Manchester 1986, S. vii-xxi, hier: S. xvi.
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Szondi schreibt Schiller in dem 1970er Aufsatz über das Naive und das Sentimentalische also zu, die Reflexion in seinem klassizistischen Programm als ‚Kulturübel‘ zu betrachten, wohingegen Schlegel durch seine Romanpoetik der Theoretiker sei, der die Reflexion – und mit ihr die Moderne – positiv zu integrieren verstanden habe. Damit schreibt Szondi die beiden Autoren zugleich in eine Diskussion ein, die er selbst wenige Jahre zuvor mit Staiger geführt hat und die beide schon damals hinter den Identifikationsfiguren Schiller und Schlegel ausgetragen haben. Für die Differenzierung zwischen klassizistischen und progressiven Elementen in Schillers Poetik, die Szondi andernorts gerade hervorhebt, ist in dieser polaren Konstellation kein Platz.47
3. Schlegel: eine Chiffre für die Moderne Anhand des Briefwechsels zwischen Emil Staiger und Peter Szondi, den die beiden im Sommer 1967 führen, lässt sich die Funktion nachvollziehen, die Schlegel in einer entscheidenden Phase der Selbstbestimmung der Disziplin in dieser prägnanten Personenkonstellation innehat.48 Emil Staiger steht zu diesem Zeitpunkt öffentlich in der Kritik. Er hat durch seine provokative Rede über Literatur und Öffentlichkeit vom 17. Dezember 1966 den sogenannten ‚Zürcher Literaturstreit‘ ausgelöst, der über Monate publizistisch ausgetragen wird. In diesem Zusammenhang ist auch ein Aufsatz wieder ans Licht gekommen, den Staiger 1933 unter dem Titel Dichtung und Nationmit dem Untertitel Eine Besinnung auf Schiller49 veröffentlicht hatte und der die nationalsozialistische 47 48
49
Für den Hinweis, dass Szondi die von Staiger angebotene Opposition Schiller/Schlegel so nicht übernimmt, danke ich Christoph König. Über diesen kurzen Briefwechsel ist bereits mehrfach geschrieben worden, s. dazu v. a. den Kommentar in der von Christoph König und Thomas Sparr besorgten Ausgabe Szondi: Briefe (s. Anm. 33), S. 222–224 u. S. 229–232; Gerhard Kaiser: „‚Ein männliches, aus tiefer Not gesungenes Kirchenlied…‘: Emil Staiger und der Zürcher Literaturstreit“. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 47/IV (2000), S. 382–394; Amrein: „Diskurs der Mitte“ (s. Anm. 43), bes. S. 50–57; und nicht zuletzt Andreas Isenschmid: „Emil Staiger und Peter Szondi“. In: Joachim Rickes/Volker Ladenthin/Michael Baum (Hg.): 1955–2005: Emil Staiger und die Kunst der Interpretation heute, Bern u. a. 2007, S. 173–188. Emil Staiger: „Dichtung und Nation. Eine Besinnung auf Schiller“. In: Neue Schweizer Rundschau 1/III (1933), S. 157–168. Staiger war 1933 Mitglied der Nationalen Front, die zu diesem Zeitpunkt eine von Deutschland unabhängige Schweizer Variante des Faschismus propagierte. Zu Staigers politischen und wissenschaftlichen Positionen s. Klaus Weimar: „Literaturwissenschaftliche Konzeption und politisches Engagement. Eine Fallstudie über Emil Ermatinger und Emil Staiger“. In: Holger Dainat/Lutz Danneberg (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus. Tübingen 2003, S. 271–286.
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(‚Kultur‘-)Politik in Deutschland unter den Vorzeichen eines entschieden antimodernen Weltbilds zwar nicht ohne Vorbehalt, aber doch positiv in ihrer gleichfalls antimodernen Motivation beurteilte. Am 12. Juni 1967 schreibt er seinem ehemaligen Doktoranden Szondi – dieser hat ihm zuvor ein Exemplar der neu erschienenen Hölderlin-Studien zukommen lassen –, um sich seines Rückhalts zu versichern. Szondi aber kann diesem Wunsch nicht entsprechen und fordert seinerseits Staiger zu Erklärungen auf. Zwischen Szondi und Staiger entwickelt sich nun in wenigen, sehr dichten Briefen ein die öffentliche Debatte um Staiger begleitender und vertiefender Diskurs. Szondi konfrontiert Staiger mit Zitaten aus dessen Schiller-Buch,50 worin Staiger Schiller als den Wahrer des „Gültigen“ gegenüber Schlegel als dem Vertreter des „Interessanten“ favorisiert.51 Szondi bringt es auf die Formel vom „Postulat der Gültigkeit gegenüber der Interessantheit“52 und bezeichnet sich selbst später als „in den eigenen Augen durchaus zur Schlegel-Nachfolge gehörig“.53 Die Konfrontation, die Szondi Staiger zumutet, bezieht sich auf den fachgeschichtlichen und politischen Zusammenhang, in dem Staigers aktuelle ablehnende Stellungnahmen zur Gegenwartsliteratur mit der Einschätzung des Verhältnisses zwischen Schiller und Schlegel stehen. Schlegel, der das „Interessante“ favorisiere, sei nämlich nach Staiger zum Favoriten der bloß Interessanten geworden, als dem dominierenden Typus des modernen – und gegenwärtigen – Schriftstellers.54 Anders als in Szondis eingangs zitierter Vorlesung ist es bei Staiger also nicht Schlegel, sondern der Klassiker Schiller, den es gegen die Unbilden der Rezeptionsgeschichte in einer das Klassische verachtenden Moderne zu verteidigen gelte. Nicht zuletzt begründet er diese Verteidigung mit dem Humanitätsgedanken, der sich mit dem „Gültigen“ der Klassik verbinde. Dagegen berge die andere Seite, die des „Interessanten“, ein immenses Risiko. Der Sieg des „Schlegelschen Menschen“,55 der dem „Kult der unbedingten Subjektivität verfallen“ sei, zeichne verantwortlich für die „Unterwerfung“ unter den „rohesten Willen zur Macht im Staat und der wildesten Brutalität in der Kunst“.56
50 51 52 53 54 55 56
Emil Staiger: Friedrich Schiller. Zürich 1967. Vgl. v. a. das Schlusskapitel „Schiller und das Schicksal der Dichtung“. Ebd., S. 413–427. Brief an Emil Staiger vom 24. Juni 1967. Szondi: Briefe (s. Anm. 33), S. 221. Brief an Emil Staiger vom 18. Juli 1967. Ebd., S. 226. Staiger: Friedrich Schiller (s. Anm. 50), S. 422 ff. So paraphrasiert Szondi Staigers These von den dem Interessanten ‚verfallenen‘ Schriftstellern der Moderne. Szondi: Briefe (s. Anm. 33), S. 220. Staiger: Friedrich Schiller (s. Anm. 50), S. 422 f. Paraphrasiert in Szondis Brief an Emil Staiger vom 24. Juni 1967. Szondi: Briefe (s. Anm. 33), S. 220.
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Szondi weist Staiger aber auf einen Widerspruch in seiner Argumentation hin. Denn, wenn, wie Staiger es nahelegt, Schlegel in einer dualen Konzeption der Geistesgeschichte auf der Seite stehe, die den Weg in den Faschismus nehme, dagegen Schiller auf derjenigen, die Maß und Humanität bewahre, wie erkläre Staiger dann seinen 1933er Aufsatz, dessen profaschistische Tendenz sich ausgerechnet auf Schiller bezieht?57 Auf diese subversive Frage geht Staiger nicht direkt ein. Stattdessen verteidigt und verharmlost er seinen Text von 1933. Dass die NS-Vergangenheit der Germanistik ihn betreffe, ist er auch Szondi gegenüber nicht einzugestehen bereit. Dass auf dem Münchner Germanistentag von 1966 der Problembestand, den die NS-Vergangenheit in der Germanistik darstellt, erst kurz zuvor öffentlich thematisiert worden war, rückt diese spezifische Auseinandersetzung um Schlegel und die an ihm sich entzündenden unterschiedlichen Interpretationsmethoden in einen (disziplin-)geschichtlichen Horizont, in dem es um die Überwindung von mehr als bloß gattungspoetischen Differenzen geht. Szondi weist Staiger auf diese Verbindung hin; Staiger steht Szondis Hinweisen mit bemerkenswertem Unverständnis gegenüber. Desto lebendiger nimmt er die Diskussion über seine Thesen zu Schiller und Schlegel an. Staiger zeichnet in dem sich entwickelnden Briefwechsel Schlegel noch einmal unbeirrbar als geistigen Vater eines Subjektivitätsgedankens, von dem aus „das Uebel über uns hereinbrechen“58 werde. Er denkt dabei unter anderem an die Berliner Studenten, auf deren Seite sich Szondi gleichzeitig stellt.59 Szondi, der 1944 als Verfolgter aus dem sogenannten ‚Ungarnlager‘ von Bergen-Belsen in die Schweiz gekommen ist, dürfte der nicht unbegründeten Ansicht sein, dass das Übel schon hereingebrochen ist.60 Er ist außerdem der ebenfalls nicht unbegründeten Ansicht, dass Staigers Stellungnahmen zu einem gesellschaftlichen wie auch disziplinären Verdrängungs- und vor allem Umdeutungsmuster gehören, das eben das Gegenteil seiner eigenen Vorstellung von einer reflektierenden, das heißt sich zurückbesinnenden Literaturwissenschaft ist. Schon vorher hatte Szondi ja sehr allgemein erklärt, dass „der Stand der Unreflektiertheit der Wissenschaft inadäquat“ sei. Diese Überlegung stimmt nicht nur in Bezug auf das methodische Handwerkszeug der Wissenschaft, sondern auch auf ihre eigene Vergangenheit. Beide sind, so zeigt es sich in der Auseinandersetzung zwischen Szondi und Staiger, nicht voneinander zu trennen. 57 58 59 60
Vgl. den Brief an Emil Staiger vom 24. Juni 1967. Szondi: Briefe (s. Anm. 33), S. 220. Brief an Peter Szondi vom 29. Juni 1967. Ebd., S. 230. Vgl. Peter Szondi: Über eine „Freie (d. h. freie) Universität“. Stellungnahmen eines Philologen. Hg. von Jean Bollack u. a. Frankfurt a. M. 1973, S. 29–54. Zum Kasztner-Transport und zur Verfolgungsgeschichte Szondis s. die Berichte von Ladislaus Löb: Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Resző Kasztner. Bericht eines Überlebenden. Köln/Weimar/Wien 2010, und Szondis Mutter Lili Szondi-Radványi: „Ein Tag in Bergen-Belsen“. In: Leopold Szondi. Zum 100. Geburtstag. Szondiana Sonderheft 2 (1993), S. 43–60.
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Der Konflikt, den Staiger und Szondi im Sommer 1967 austragen, lässt mit Staiger, Schiller und dem „Gültigen“ auf der einen und Szondi, Schlegel und dem „Interessanten“ auf der anderen Seite eine (pro-)klassizistische und eine antiklassizistische Position hervortreten. Beide Literaturwissenschaftler benutzen darin ihre Antipoden als Chiffren, wie Staiger sie vorgeschlagen hat. Sie stehen für Varianten, sich gegenüber der modernen Epoche zu positionieren: Schiller für die Klassizität, Schlegel für die Progressivität. Szondi adaptiert diese von Staiger vorgeschlagene Opposition, wertet sie allerdings anders. Er begreift Schillers Klassizismus als hemmendes Moment; andernorts schätzt er Schillers Poetik aber differenzierter ein als von Staiger vorgeschlagen. Schlegels Progressivität hingegen erscheint bei Szondi als die theoretisch zukunftsweisende Position, an die anzuknüpfen sich lohnte. Der ästhetischen Theorie der 1790er Jahre wird so eine symbolische, aber auch eine sachliche Aktualität zugesprochen. Damit werden auch die Aussagen, die Szondi in seinen literaturwissenschaftlichen Texten zum Zusammenhang von Poetik und Geschichtsphilosophie getroffen hat, noch einmal in die gegenwärtige literaturwissenschaftliche Diskussion einbezogen. Denn Szondi projiziert nicht etwa ihm gerade vor Augen stehende Probleme aus seiner Beschäftigung mit Schlegel auf den Konflikt, der mit Staiger ansteht. Zum einen ist Szondis erster Schlegel-Aufsatz aus einer bei Staiger geschriebenen Hausarbeit hervorgegangen; es gibt also schon eine gemeinsame Vorgeschichte. Zum anderen hängt Szondis bereits frühe Aufmerksamkeit für gattungspoetische Fragen nicht zuletzt mit den Interessen seines damaligen Doktorvaters Emil Staiger zusammen. Staiger blendet in seiner Studie Grundbegriffe der Poetik (1946), die Historizität ihrer Begriffe programmatisch zugunsten von nicht weiter begründeten Konstanten des menschlichen ‚Daseins‘ aus61 und gibt dem Kind den vielsagenden, aber eben wenig begründenden Namen „Fundamentalpoetik“.62 Schon in der Einleitung zur Theorie des modernen Dramas von 1956, der Buchfassung seiner Dissertation, distanziert sich Szondi gerade im Hinblick auf die Gattungsbegriffe von Staiger. Er spricht dort von der „Bestrebung, sich vom historisierten Grund der Poetik […] auf Zeitloses zurückzuziehen“ in der „Poetik E. Staigers, welche die Gattungsbegriffe in verschiedenen Seinsweisen des Menschen verankert“.63 Wenn er daraufhin seine eigene Position darstellt, so tut er dies unter anderem mit Verweis auf Georg Lukács und Walter Benjamin, zwei ihrerseits also in entscheidendem Maß von 61
62 63
„Die Begriffe lyrisch, episch, dramatisch sind literaturwissenschaftliche Namen für fundamentale Möglichkeiten des menschlichen Daseins überhaupt […].“ Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. 4. Aufl. Zürich 1959, S. 209. Ebd., S. 12. Szondi: Schriften I (s. Anm. 29), S. 12 f.
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Schlegel geprägte Autoren. (Gerade Lukács wird Szondi zugunsten Schlegels in den folgenden Jahren immer seltener zitieren.) Nicht die Abkehr ins Essentialistische, in anthropologische Konstanten, sondern das „Ausharren auf historisiertem Boden“64 ist schon für den jungen Szondi das Gebot der Stunde, das heißt, mit einem Begriff aus der hier zitierten Dissertation, der Moderne. Unmittelbar nach dem Briefwechsel mit Staiger erklärt Szondi in seiner 1967er Vorlesung über „Schellings Gattungspoetik“, dass die Gattungspoetik der Goethezeit – und mit ihr Schlegel – „vor der Staigerschen Poetik freilich das Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der Gattungen voraushat“.65 Und ein paar Jahre später sagt er dies wiederum deutlich in seinem knappen Beitrag Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik, den er übrigens für eine Tagung in Zürich schreibt (hier vermeidet er es aber, Staigers Namen zu nennen): Die verschiedenen Schulen der immanenten Interpretation bemühten sich um den Nachweis, daß das einzelne Sprachkunstwerk adäquat nur aus sich selber verstanden werden kann: die Frage, wie ein solches Verstehen entsteht, hätte die Emphase dieses Bestrebens nur gestört.66
Schlegel hat Staigers Grundbegriffen demnach eine spezifische Leistung der Reflexion voraus. Denn ein wesentlicher Bestandteil seiner „kritizistischen Rückbesinnung auf die Bedingungen der Möglichkeit gattungspoetischer Systematik“ ist, dass Gattungsbegriffe in ihr geschichtsphilosophisch deduziert werden. Diese Rückbesinnung zu verweigern sei, so Szondi, gerade Teil des Programms der textimmanenten Interpretationslehre Staigers: Emil Staiger hat in den Grundbegriffen der Poetik nicht nur auf die Synthese von Geschichte und System, sondern auch auf die von Geschichte und Kunstphilosophie, von Geschichte und Theorie, verzichten zu müssen gemeint.67
Szondi dagegen vollzieht die von Schlegel vorgezeichnete methodische Reflexion nach, indem er die theoriegeschichtlichen Voraussetzungen seiner eigenen philologischen Erkenntniswerkzeuge, nicht zuletzt im Rückgang auf Schlegel, klärt.
64 65 66 67
Szondi: Schriften I (s. Anm. 29), S. 13. In der Vorlesung „Schellings Gattungspoetik“. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II (s. Anm. 1), S. 289. In den „Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik“. Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik (s. Anm. 34), S. 404. In der Vorlesung „Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik“. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II (s. Anm. 1), S. 11.
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4. Fazit Szondis Schlegel-Lektüre ist zunächst auf dessen frühromantische Gattungstheorie und dort besonders auf die Einführung spekulativer Gattungsbegriffe fokussiert, die zur Auflösung des Gattungssystems führen. Die romantische Position stellt Szondi, indem er ihre geschichtsphilosophischen Prämissen betont, besonders der klassizistischen gegenüber. Gerade anhand der Brüche in Schillers Gattungstheorie erkennt er aber auch deren Nähe zu der antiklassizistischen Position an, die der junge Schlegel entwickelt und mit der er selbst sympathisiert. Die ästhetische Debatte der 1790er Jahre vollzieht Szondi also nicht allein nach, sondern aktualisiert ihre Positionen: Er stellt sich mit seiner an Schlegel orientierten Präferenz für (Methoden-)Reflexion und Unabgeschlossenheit des Interpretierens dem klassizistischen Vollendungs-Konzept von Emil Staigers immanenter Interpretation entgegen. Somit sind Szondis Analysen zur Poetik der Goethezeit gewissermaßen doppelt belichtet: Sie zeigen zum einen die historische Debatte, zum anderen die offenen Methodenfragen der Gegenwart. Eine andere Variante dieser doppelten Lektüre stellt die Auseinandersetzung mit Emil Staiger von 1967 dar. In diesem Briefwechsel verhandeln die Briefpartner hinter den Masken von Schiller und Schlegel Thesen über die Angemessenheit ihrer hermeneutischen Prämissen und auch über die Ursachen des Nationalsozialismus, vor allem aber die Ablösung der Literaturwissenschaft von ihrer immanenten Klausur nach 1945. Staiger schließt diesen Briefwechsel bemüht versöhnlich – mit einer heiklen Volte, die demjenigen, der um Entschuldigung zu bitten hätte, die Autorität über das Gespräch in die Hand legt: „Aber genug davon!“68 Er fügt die Versicherung hinzu, auch künftig „Ihretwegen“69 streng mit sich ins Gericht gehen zu wollen. Diese Versicherung gilt Szondi persönlich; sie gilt jedoch offenbar nicht der Sache, um die es Szondi geht. Noch in seinem Heidelberger Vortrag vom 13. Dezember 1980 jedenfalls trägt Staiger unter dem Titel Friedrich Schlegels Sieg über Schiller70 die gleichen kulturpessimistischen Thesen vor, die Szondi bereits Mitte der 1960er Jahre vehement in Frage gestellt hatte.
68 69 70
Peter Szondi: Briefe (s. Anm. 33), S. 231. Ebd. Emil Staiger: Friedrich Schlegels Sieg über Schiller. Heidelberg 1981. Er nimmt mit dem Vortragstitel eine Formulierung von 1967 auf: „Nun ist zu sagen, daß Friedrich Schlegel im neunzehnten und im zwanzigsten Jahrhundert über Schiller gesiegt hat.“ Staiger: Friedrich Schiller (s. Anm. 50), S. 420.
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