Lektüre als Form: Das absolute Buch bei Friedrich Schlegel, Walter Benjamin und Niklas Luhmann 9783839455791

Innerhalb der aktuellen Buchmaterialitätsforschung kommt die Betrachtung der Lektüre oft zu kurz. Dies verkennt die intr

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German Pages 376 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Siglenverzeichnis
1. Einleitung: Absolute Bücher und ihre Lektüren
2. Lektüre als Form
2.1. Lektüre
2.2. Form
2.3. Arabeske und Ornament
3. »Lesewut und Bücherflut«1: Drei Varianten
3.1. Bibliophilie
3.2. Bibliographie
3.3. Zettelkasten
4. Arabeske: Reden/Schweigen
4.1. Paratext
4.2. Buch
4.3. Paratext/Metatext: Der Weg zum System
4.4. Die Prozessualisierung der Form
5. Reflexion: Form gegen Lektüre
5.1. Lektüre und Buch: Schlegel- und Goethetranskriptionen
5.2. Der »Doppelsinn« des Reflexionsmediums
5.3. Paradigmenwechsel: Von der Arabeske zum Ornament
6. Ornament: Signal/Rauschen
6.1. Rauschen und Rauschen: Das Interview als Metatext
6.2. Prozessuale Begriffe
6.3. Genealogien der Form
6.4. »Buch im Buch«: Soziale Systeme und Die Kunst der Gesellschaft
6.5. Die reine Form – Dirk Baecker und die Haken
7. Fazit: Die Ornamentalisierung der Arabeske
8. Bibliographie
Abbildungsverzeichnis
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Lektüre als Form: Das absolute Buch bei Friedrich Schlegel, Walter Benjamin und Niklas Luhmann
 9783839455791

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Charlotte Coch Lektüre als Form

Literatur – Medien – Ästhetik  | Band 3

Editorial Die Buchreihe ist ein Forum für Arbeiten, die sich der Theorie und Ästhetik des Buches im Kontext der Frage nach der spezifischen Funktion und Medialität der Literatur widmen. Sie richtet sich an VerfasserInnen von Untersuchungen, die die ›Eigenmedialität‹ literarischer Texte und damit auch die Funktionen in den Blick nehmen, die Gestaltung, Typographie, Illustrationen, Einbänden und Paratexten sowie dem materiellen Format der Texte zukommen; gefragt wird nach dem Zusammenspiel von Aisthesis, (Medien-)Ästhetik und Poetik. Die Reihe soll ein Publikationsort für Forschung sein, die Literatur medien- bzw. formoder materialästhetisch als spezifisch ›buchförmige‹ Kommunikation versteht und hieraus die Konjunktur einer materialorientierten Formensprache ableitet. Die Reihe wird herausgegeben von Torsten Hahn und Nicolas Pethes.

Charlotte Coch, geb. 1989, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln. Sie arbeitet zu den Schwerpunkten Ästhetik der Form, Medialität sowie Literatur und Gesellschaftstheorie.

Charlotte Coch

Lektüre als Form Das absolute Buch bei Friedrich Schlegel, Walter Benjamin und Niklas Luhmann

Zugl.: Dissertation Universität zu Köln, Philosophische Fakultät 2020

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5579-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5579-1 https://doi.org/10.14361/9783839455791 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung .................................................................................... 7 Siglenverzeichnis ............................................................................. 9 1.

Einleitung: Absolute Bücher und ihre Lektüren........................................... 13

2. 2.1. 2.2. 2.3.

Lektüre als Form......................................................................... 31 Lektüre ................................................................................. 33 Form .................................................................................... 44 Arabeske und Ornament .................................................................. 51

3. 3.1. 3.2. 3.3.

»Lesewut und Bücherflut«: Drei Varianten .............................................. Bibliophilie .............................................................................. Bibliographie ............................................................................ Zettelkasten.............................................................................

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4. Arabeske: Reden/Schweigen ............................................................ 81 4.1. Paratext................................................................................. 83 4.1.1. Kunst und Magie: Lektüre zwischen Öffnung und Schließung ....................... 85 4.1.2. »Helle und lebhafte Gegensätze« ................................................. 99 4.1.3. Rede/Schrift: von der Symmetrie zur Asymmetrie..................................105 4.1.4. Organisation und Konstruktion ....................................................109 4.1.5. Grenze ........................................................................... 116 4.1.6. Zwischenfazit I: Ironie ............................................................ 118 4.2. Buch .................................................................................... 127 4.2.1. Konkretisierte Symmetrie: Die Arabeske.......................................... 134 4.2.2. Konstruktion: Der Witz ............................................................150 4.2.3. Organisation: Die Liebe ...........................................................155 4.2.4. Arabeske II: (Hand-)Schrift ........................................................164 4.2.5. Reden und Schweigen ............................................................ 175 4.3. Paratext/Metatext: Der Weg zum System .................................................184

4.3.1. Von der Schwierigkeit des Anfangs ............................................... 188 4.3.2. Streit............................................................................. 191 4.3.3. Enthusiasmus/Skepsis ............................................................ 194 4.3.4. Philosophie und Kritik ............................................................ 197 4.3.5. Die ›cyklische Methode‹ ......................................................... 204 4.4. Die Prozessualisierung der Form ........................................................ 207 5. Reflexion: Form gegen Lektüre ......................................................... 217 5.1. Lektüre und Buch: Schlegel- und Goethetranskriptionen .................................. 218 5.2. Der »Doppelsinn« des Reflexionsmediums .............................................. 226 5.2.1. Form/Medium – Die Transformation des Formbegriffs ............................ 228 5.2.2. Form als Widerstand von ›Reflexion‹ ............................................. 238 5.3. Paradigmenwechsel: Von der Arabeske zum Ornament................................... 244 6. Ornament: Signal/Rauschen ........................................................... 259 6.1. Rauschen und Rauschen: Das Interview als Metatext..................................... 260 6.2. Prozessuale Begriffe.................................................................... 270 6.2.1. Sinn ............................................................................. 272 6.2.2. Organisation und Konstruktion ................................................... 279 6.2.3. Grenze .......................................................................... 283 6.2.4. Zwischenfazit II: Ironie........................................................... 287 6.3. Genealogien der Form .................................................................. 295 6.3.1. Form und Organisation........................................................... 295 6.3.2. Form und System ................................................................ 298 6.3.3. Form/Medium.................................................................... 301 6.3.4. Form und Code .................................................................. 305 6.4. »Buch im Buch«: Soziale Systeme und Die Kunst der Gesellschaft........................ 308 6.4.1. Der Anfang der Theorie ........................................................... 310 6.4.2. Signal und Rauschen.............................................................. 315 6.4.3. Ornament und Asymmetrie ....................................................... 321 6.5. Die reine Form – Dirk Baecker und die Haken ............................................ 329 7.

Fazit: Die Ornamentalisierung der Arabeske ........................................... 335

8.

Bibliographie .......................................................................... 347

Abbildungsverzeichnis .................................................................... 373

Danksagung

Bedanken möchte ich mich zuallererst bei meinem Doktorvater Prof. Torsten Hahn für das in mich gesetzte Vertrauen, den großen Freiraum und die unermüdliche Unterstützung in thematischen, theoretischen, organisatorischen und überhaupt allen möglichen Fragen und Problemen. Ihm verdanke ich den Löwenanteil der großen und kleinen Inspirationen, welche diese Arbeit vorangebracht und allererst ermöglicht haben. Meinem Zweitbetreuer Nicolas Pethes bin ich ebenso dankbar für die punktgenauen Anmerkungen zur richtigen Zeit und für die wertvollen Anregungen insbesondere zum Benjamin-Kapitel. Ein großer Dank geht auch an meine Korrekturleserinnen und Korrekturleser: Sarah Heinrigs, Lena Hintze, Charlotte Jaekel, Julia Ossen, Leonie Pohlmann, Ronald Röttel und Moritz von Stetten, bei dem ich mich auch für die stete LuhmannDiskussionsbereitschaft und den produktiven Lektürevorsprung bedanken möchte.

Siglenverzeichnis

Häufig zitierte Bände werden im laufenden Text unter Angabe von Siglen mit Seitenzahlen in Klammern zitiert. Zu diesen gehören: Dial I: Friedrich Schleiermacher: Dialektik. Hg. und eingeleitet von Manfred Frank. Band 1. Frankfurt a.M. 2001. FuFfO: Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin 1964. GdG: Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997. HuK: Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Hg. und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt a.M. 1977. KdG: Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995. KFSA I: Friedrich Schlegel: Studien des klassischen Altertums. Hg. und eingeleitetvon Ernst Behler. (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. 1, Bd. 1). Darmstadt 1979. KFSA II: Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hg. und eingeleitet von Hans Eichner. (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. 1, Bd. 2). München u.a. 1967. KFSA III: Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken II (1802-1829). Hg. und eingeleitet von Hans Eichner. (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. 1, Bd. 3). München u.a. 1975. KFSA V: Friedrich Schlegel: Dichtungen. Hg. und eingeleitet von Hans Eichner. (Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Abt. 1, Bd. 5). München u.a., 1962. KFSA VIII: Friedrich Schlegel: Studien zur Philosophie und Theologie. Hg. und eingeleitet von Ernst Behler und Ursula Struc-Oppenberg. (Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Abt. 1, Bd. 8). München u.a. 1975. KFSA IX: Friedrich Schlegel: Philosophie der Geschichte. In achtzehn Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1828. (Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Abt. 1, Bd. 9). Hg. und eingeleitet von Jean-Jacques Anstett. München u.a. 1971. KFSA XI: Friedrich Schlegel. Wissenschaft der europäischen Literatur. Vorlesungen, Aufsätze und Fragmente aus der Zeit von 1795-1804. Mit Einleitung und Kommentar hg. von Ernst Behler. (Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Abt. 1, Bd. 11). München u.a. 1958.

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Lektüre als Form

KFSA XII: Friedrich Schlegel: Philosophische Vorlesungen (1800-1807). Erster Teil. Mit Einleitung und Kommentar hg. von Jean-Jacques Anstett. (Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Abt. 1, Bd. 12). München u.a. 1964. KFSA XIII: Friedrich Schlegel: Philosophische Vorlesungen (1800-1807). Zweiter Teil. Mit Einleitung und Kommentar hg. von Jean-Jacques Anstett. (Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, Abt. 1, Bd. 13). München u.a. 1964. KFSA XV: Friedrich Schlegel: Über deutsche Sprache und Literatur 1807. Hg. von Hans Dierkes, Hans Eichner und Ernst Behler. (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. 2, Bd. 15). Paderborn u.a. 2006. KFSA XVI: Friedrich Schlegel: Fragmente zur Poesie und Literatur. Erster Teil. Mit Einleitung und Kommentar hg. von Hans Eichner. (Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, Abt. 2, Bd. 16). Paderborn u.a. 1981. KFSA XVIII: Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre: 1796-1806; nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796 – 1828. Band 1. Hg. und eingeleitet von Ernst Behler. (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. 2, Bd. 18). Paderborn u.a. 1963. KFSA XIX: Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre: 1796-1806; nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796 – 1828 II. Bd. 2. Hg. und eingeleitet von Ernst Behler. (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. 2, Bd. 19). Paderborn u.a. 1971. KFSA XXIII: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bis zur Begründung der romantischen Schule (15. September 1788 – 15. Juli 1798). Hg. und eingeleitet von Ernst Behler. (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. 3, Bd. 23). Paderborn u.a. 1988. KFSA XXIV: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Die Periode des Athenäums (25. Juli 1797 – Ende August 1799). Hg. und eingeleitet von Raymond Immerwahr. (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. 3, Bd. 24). Paderborn u.a. 1986. LaP: Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M. 1982. NS I: Novalis: Das dichterische Werk. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. (Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1). Stuttgart 1960. NS II: Novalis: Das philosophische Werk I. Hg. von Richard Samuel. (Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2). Stuttgart 1965. NS III: Novalis: Das philosophische Werk II. Hg. von Richard Samuel. (Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 3). Stuttgart 1968. NS IV: Novalis: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Hg. von Richard Samuel. (Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 3). Stuttgart 1975. SoSy: Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 1984. SydG: Niklas Luhmann. Systemtheorie der Gesellschaft. Hg. von Johannes F. K. Schmidt und André Kieserling. Berlin 2017. ÜdR: F. D. E. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Mit einem Nachwort von Carl Heinz Ratschow. Stuttgart 2003.

Siglenverzeichnis

VB: Friedrich Schleiermacher: Vertraute Briefe über die Lucinde. In: Friedrich Schlegel: Lucinde. Friedrich Schleiermacher: Vertraute Briefe. Hg., mit Dokumenten, Anhang und Nachwort von Eike Middell. Leipzig 1970, S. 113-192. WBGB III: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Band 3: 1925-1930. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt a.M. 1997. WBGB IV: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Band 4: 1931-1934. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt a.M. 1998. WBGS I.1: Walter Benjamin: Abhandlungen. 1. Teilband. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. (Gesammelte Schriften, Bd. 1., Teilb. 1). Frankfurt a.M. 1974. WBGS I.2: Walter Benjamin: Abhandlungen. 2. Teilband. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. (Gesammelte Schriften, Bd. 1, Teilb. 2). Frankfurt a.M. 1974. WBGS I.3: Walter Benjamin: Abhandlungen. 3. Teilband. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. (Gesammelte Schriften, Bd. 1, Teilb. 3). Frankfurt a.M. 1974. WBGS II.2: Walter Benjamin: Aufsätze, Essays, Vorträge. 2. Teilband. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. (Gesammelte Schriften, Bd. 2, Teilb. 2). Frankfurt a.M. 1977. WBGS III: Walter Benjamin: Kritiken und Rezensionen. Hg. von Hella TiedemannBartels. (Gesammelte Schriften, Bd. 3). Frankfurt a.M. 1991. WBGS IV.1: Walter Benjamin: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. 1. Teilband. Hg. von Tillman Rexroth. (Gesammelte Schriften, Bd. 4., Teilb. 1). Frankfurt a.M. 1972. WBGS V.1: Das Passagen-Werk. 1. Teilband. Hg. von Rolf Tiedemann. (Gesammelte Schriften, Bd. 5., Teilb. 1). Frankfurt a.M. 1991. WBKA 3: Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Hg. von Uwe Steiner. (Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3). Frankfurt a.M. 2008. WBKA 7: Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Tableaux Parisiens. Hg. von Antonia Birnbaum und Michel Métayer. (Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7). Frankfurt a.M. 2017. WBKA 8: Walter Benjamin: Einbahnstraße. Hg. von Detlev Schöttker. (Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8). Frankfurt a.M. 2009. WBKA 13.1: Walter Benjamin: Kritiken und Rezensionen. Hg. von Heinrich Kaulen. Bd. 1. (Werke und Nachlaß: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 13, 1. Teilb.). Frankfurt a.M. 2011.

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1. Einleitung: Absolute Bücher und ihre Lektüren Als Bibel wird das neue ewige Evangelium erscheinen, von dem Lessing geweissagt hat: aber nicht als einzelnes Buch im gewöhnlichen Sinne. Selbst was wir Bibel nennen, ist ja ein System von Büchern. […] Gibt es ein andres Wort, um die Idee eines unendlichen Buchs von der gemeinen zu unterscheiden als Bibel, Buch schlechthin, absolutes Buch? KFSA II, S. 265, Fragment 95.

Am 9. September 1898 stirbt der französische Lyriker Stéphane Mallarmé 56-jährig in Valvins nahe Fontainebleau. Seine Bedeutung für die französische Literatur verdankt sich unter anderem einem nie abgeschlossenen Projekt: dem absoluten Buch. In einem Brief an seinen Freund Théodore Aubanel kündigt Mallarmé im Juli 1866 den Beginn der Arbeit an einem »œuvre magnifique«1 an, für welches er sich die nächsten zwanzig Jahre in sich selbst einschließen (»clôturer en moi«2 ) werde. Immer wieder spricht Mallarmé in den darauffolgenden Jahren seines Lebens auf unterschiedlichste Weise von »le Livre«3 mit großem L, von dem Buch schlechthin, ohne je ein entsprechendes Werk vorzulegen. Auch nach seinem Tod geht die Spekulation über dieses Buch weiter.4 Mallarmés Projekt inspiriert zahlreiche französische Theoretiker, unter anderem Maurice Blanchot, der seinen Essay L’Absence de Livre (1969) der Lektüre und Transkription dieses nie geschriebenen Buchs widmet. Die Mallarmés ›absolutem Buch‹ innewohnende Paradoxie besteht in kommunikativ erzeugter Gegenständlichkeit5 , die einen tatsächlichen materiellen Gegenstand

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Mallarmé: Correspondance 1862-1871, S. 222. Ebd. So auch der Titel der ersten großangelegten Studie zu »le Livre« von Jaques Scherer, welcher sich den »Premières recherches sur les documents inédits« (so der Untertitel) verschreibt, vgl. Scherer: Le Livre. Vgl. dazu zuletzt Schneider: Die verwehrte Ankunft. Vgl. La Charité: Mallarmé’s Livre, S. 249: »I know of no other unwritten, non-existent text accepted by one and all as is Mallarmés Livre. Every reader-critic has an awareness of it in some way […].«

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Lektüre als Form

nicht mehr benötigt. Die buchstäbliche Schließung verdankt sich gerade der Unmöglichkeit, das Buch tatsächlich zu lesen. So macht Mallarmés Livre auf die Allmacht des Buchs als reine Konzeption und damit auf die »Funktion eines insistierenden Buchimaginären«6 aufmerksam: »Das Buch ist nicht nur das Buch der Bibliotheken, dieses Labyrinth, in dem in Buchbänden alle Kombinationen von Formen, Worten und Buchstaben abgespult werden. Das Buch ist das BUCH. Zu lesen, zu schreiben, immer schon geschrieben, immer schon durch die Lektüre erstarrt, bildet das Buch die Bedingung für jede Möglichkeit von Lektüre und Schrift.«7 Die vorliegende Arbeit nimmt diese Allgegenwart des Buchs, welches die Bedingung für jede Lektüre ist und sich doch in dieser behaupten muss, aus der entgegengesetzten Perspektive in den Blick. Die folgenden Überlegungen entfalten sich nicht ausgehend von einer Abwesenheit des Buchs, sondern gerade aus dessen Anwesenheit. Sie werden, soviel sei hier vorausgeschickt, Bücher betreffen, die sich selbst in ihrem materiellen Vorhandensein, in der tatsächlich vollziehbaren Lektüre, als BÜCHER im Sinne Blanchots präsentieren. Es geht also um »selbstbewusste Bücher«8 im doppelten Sinne. Gegenüber der einseitigen Konzentration auf das Buch wird die vorliegende Arbeit das Zusammenspiel von Lektüre und Buch in den Blick nehmen, und hier das Zusammenspiel spezifischer Konzeptionen und Konstruktionen von Buchförmigkeit beleuchten. Das Buch ist dabei nicht einfach Medium, Form9 oder Format10 , sondern vielmehr der 6

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Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 23. Spoerhase kritisiert diese Verwendung des Terminus Buch in einem metaphorischen oder metonymischen Sinne: »Interessant ist das Buch als Trope, nicht aber als materielles Artefakt« (S. 25) schreibt Spoerhase und stellt dem »›großgeschriebene[n]‹ Buch« »die vielen ›kleingeschriebenen‹ Bücher« gegenüber, die »den hypertrophen Ansprüchen […] nie wirklich gerecht zu werden vermochten.« (S. 27) Mir geht es in meiner Untersuchung genau um das Wechselspiel zwischen großgeschriebenem und kleingeschriebenem Buch, insofern ich die Idealvorstellung Buch als in das kleingeschriebene Buch immer schon eingeschrieben verstehe. Blanchot: Die Buchabwesenheit, S. 8. Schmitz-Emans: Buchliteratur, S. 43. Zur Unterscheidung des Buchs in Form und Medium vgl. Stanitzek: Buch: Medium und Form, S. 186: »Das Medium Buch wäre also zu unterscheiden vom [sic!] jeweils einzelnen in dieses Medium eingeprägten und so im Medium realisierten Buchform.« Stanitzek bezieht sich hier auf das materielle Buch; für diese Adressierung der Buchmaterialität habe ich allerdings den bei Spoerhase verwendeten Begriff des Formats (siehe unten) reserviert. Mir geht es in der Unterscheidung Medium/Form um Buchförmigkeit im abstrakten Sinne als Vermittlung von Öffnung und Schließung. Das Buch als Medium wäre dann die nichtreflektiert mitlaufende Ermöglichung des biblionomen Lesens (siehe auch die später thematisierte Unterscheidung von Sehen und Lesen), das Buch als Form dagegen die reflektierte Gesamtheit des Gelesenen als Geschlossenes. Wie der Untertitel seines Buchs verrät, definiert Spoerhase den Begriff des Formats als Praxis »materieller Textualität« und grenzt es so vom Buch als Form ab. Das Buch als Form ist für Spoerhase, folgt man den nicht explizit aber implizit in den Argumenten im Kapitel Buchformen hergestellten Zusammenhängen, das großgeschriebene Buch, also die Verwendung des Terminus Buch »in einem metaphorischen oder metonymischen Sinne« und eben nicht »als materielles Artefakt« (S. 25). Dass sich diese beiden Aspekte des Buchs allerdings nicht trennen lassen, wird bei Spoerhase selbst implizit deutlich, wenn er etwa das Kapitel zu den Buchformaten mit der Frage einleitet: »Warum das Format des Buches benutzen?« (S. 38) In dieser Frage schwingt das Buch nicht nur als materielles Objekt mit einer spezifischen Seitenstärke etc. mit, sondern auch als großgeschriebenes ›Buch‹ und insofern eben doch als emphatisch adressierbare ›Geistesleistung‹. Dies wird von

1. Einleitung: Absolute Bücher und ihre Lektüren

Ort der Kreuzung dieser drei Modalitäten. Gegenüber der Buchmaterialitätsforschung, die sich insbesondere auf selbstbewusste Bücher im Sinne der Buchgestaltung, also etwa in Bezug auf typographische Besonderheiten, konzentriert11 , geht es mir um Buchkonzeptionen, die sich – auf je spezifische Weise – immateriell konstituieren und von dieser Immaterialität aus die Materialität des spezifischen Formats regeln. Mit dem an Mallarmé angelehnten Terminus des absoluten Buchs ist hier eine sich im Text vollziehende Schließungsbewegung gemeint, die als konzeptuelles Buch12 mit dem materiellen Buch in einem Verhältnis steht, das jedoch – wie zu zeigen sein wird – historischen Wandlungen unterliegt. Ich werde also zeigen, dass der Wandel des Blicks weg vom ›großgeschriebenen‹ hin auf das ›kleingeschriebene‹ Buch und seine Materialität selbst schon Bestandteil einer spezifischen Imagination von Buchförmigkeit ist. Insofern das konzeptuelle Buch ein Produkt der Lektüre ist, geht es darum, diese Schließungsbewegungen als »Leseanweisungen«13 zu identifizieren. Gegenstand der folgenden Untersuchung sind also tatsächlich vorhandene Bücher, die auf historisch und systematisch unterschiedliche Weise gleichzeitig eine konzeptuelle Buchförmigkeit realisieren14 : Friedrich Schlegels Lucinde (1799), Walter Benjamins Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920) und Niklas Luhmanns Soziale Systeme (1984). Die zum Zweck des Aufweises von parallellaufenden wie gegenstrebigen Leseanweisungen in der Arbeit vorgenommene Engführung der Texte Schlegels, Benjamins und Luhmanns wird von zwei Seiten gleichzeitig zusammengehalten und begrenzt: von einer Annahme, die sich auf den Begriff der Form bezieht, und einer intensiven begrifflichen Analyse. Die Annahme besteht darin, dass es zwischen den Schriften

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Spoerhase selbst betont, etwa wenn er schreibt: »Das Format kann eine poetisch formbildende Kraft sein.« (S. 46) Ich verwende den Begriff Format, wenn es um die tatsächliche materielle Gestaltung des einzelnen Buchs geht. Wenn es um die Buchförmigkeit als mediale oder konzeptuelle Imagination geht, verwende ich die Begriffe Medium und Form. Schmitz-Emans spricht unter dem Stichwort Buch-Literatur etwa Sterne, Jean Paul, Hoffmann und Mallarmé an, vgl. Schmitz-Emans: Buch-Literatur, S. 45. Im Gegensatz zu Spoerhase, der durchgehend von konzeptuellen Büchern spricht, egal ob er sich auf den Gegenstand oder die mediale Umsetzung desselben bezieht, verwende ich den Terminus ›konzeptuell‹, wenn ich mich auf die Betrachtung des Gegenstands als geschlossenen, fertigen beziehe, also innerhalb der Unterscheidung Lektüre/Buch den Pol des Buchs adressiere – den Terminus ›konzeptionell‹ dagegen, wenn ich die performative Ebene anspreche, innerhalb der Unterscheidung Lektüre/Buch also den Pol der Lektüre. Damit orientiere ich mich an der von Koch und Österreicher für die Sprachwissenschaft vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen der tatsächlichen medialen Realisierung einer Kommunikation und ihrer Konzeption in Hinblick auf eine soziale Medialität der Umsetzung (vgl. Koch, Österreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz). Schlieben-Lange: Einleitung, S. 9. Zur Kennzeichnung einer solchen auf Buchförmigkeit angelegten Literatur wird in der medienwissenschaftlich operierenden Forschung auch der Begriff der Biblionomie verwendet, vgl. etwa Penke, Werber: Medien der Literatur. Ich werde diesen Begriff nicht prominent verwenden, insofern es mir nicht um die literatursystemischen Auswirkungen einer solchen Orientierung auf das Buch geht, sondern eher um konkrete Verhältnisse zwischen tatsächlicher Buchförmigkeit, konzeptueller Buchförmigkeit und Lektüreprogrammierung, die sich aber selbstverständlich vor dem Hintergrund eines sich formierenden biblionomen Literaturbetriebs situieren lassen.

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Lektüre als Form

Friedrich Schlegels und der Systemtheorie Niklas Luhmanns einen über Walter Benjamins Dissertation zur frühromantischen Kunstkritik vermittelten Zusammenhang gibt, der über den Begriff der Form, genauer über seine moderne Neukonzeption als »weltbezogene[r] Formbegriff«15 verläuft. Dieser Zusammenhang wird gedeckt von Luhmanns eigenen historischen Analysen16 sowie von einem breiten Konsens der literaturgeschichtlichen Forschung. In der Frühromantik findet sich, so die einschlägige Lesart, die »Gründungsszene des modernen Formbegriffs«17 wie er die heutigen Formdebatten prägt. Wegbereiter für diese Einschätzung der Frühromantik ist Walter Benjamin18 , der mit seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Ro-

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Luhmann: Weltkunst, S. 203. Luhmann sieht den Übergang vom dingbezogenen zum weltbezogenen Formbegriff eben in der Frühromantik, vgl. ebd.: »Die Romantik — wie immer fehlgeleitet durch die Subjektphilosophie und insofern ein Opfer der Kritik Hegels — entzieht den Objekten ihre Glaubwürdigkeit, deutet an, was unsichtbar zu bleiben hat, und vollzieht damit den Übergang von der Objektkunst zur Weltkunst.« Dieser Einschätzung ist natürlich teilweise zuzustimmen, in der vorliegenden Arbeit wird allerdings der Fokus auf der ›Fehlleitung‹ liegen, die sich in einer andersgearteten Vorstellung von Buchförmigkeit und damit von Lektüre lokalisieren lässt, und die insofern den Zuschnitt des Formbegriffs selbst betrifft. Geulen: Aus dem Leben der Form, S. 129. Geulen bezieht sich hier auf die Gründungsszene, »wie sie Rüdiger Campe anhand von Schlegel rekonstruiert hat«. Campe führt dies anhand des Gesprächs über die Poesie aus: »Schlegels vier Teilprojekte stellen in ihrem Verbund die Entscheidung für die Form in der Literatur und ihrer Wissenschaft dar.« (Campe: Das Argument der Form, S. 115.) Benjamins Dissertation ist etwa laut Karlheinz Bohrer wesentlich für die Romantik-Rezeption im 20. Jahrhundert. Bohrer macht dies an zwei entscheidenden Punkten fest: »Erstens: Ästhetische Kritik wird in ihrem Eigenrecht gegenüber philosophischer Methodologie anerkannt. Zweitens: Die Frühromantik erhält nunmehr das emphatische Momentum einer aktuellen Anwendbarkeit für eine Theorie der Moderne. Dabei findet eine prinzipielle Rehabilitation von Friedrich Schlegel als Theoretiker statt […].« (Bohrer: Die Kritik der Romantik, S. 25-26) Und, im Folgenden: »Mit Benjamins Schrift schlug noch nicht die Stunde der theoretisch-ästhetischen Entdeckung der Frühromantik für die Moderne. Aber sie war möglich geworden. Nicht bloß wegen der von Benjamin entdeckten Bewußtseinsleistung der Ästhetik Friedrich Schlegels und Novalisʼ, sondern vor allem wegen Benjamins eigener Rolle in diesem Prozeß. Entscheidend bleibt die Potenzierung des frühromantischen Impulses durch das erste Werk des neben Adorno wichtigsten Ästhetikers der deutschen klassischen Moderne. Nur über den Impuls, den die Frühromantik Benjamin gab, gelang ihm eine Ausdifferenzierung formaler Kunstkriterien, die es an Präzision aufnehmen können mit den gleichzeitigen Theoriebildungen des frühen russischen Formalismus und des amerikanischen New Criticism […].« (Ebd., S. 37-38) Inwiefern die Frühromantik wegweisend für die ›Moderne‹ ist, ist bereits vielfach diskutiert worden und wird hier nicht Thema sein. Niklas Luhmann etwa postuliert in den Beobachtungen der Moderne die Romantik als Startpunkt der modernen Gesellschaft: »Die moderne Gesellschaft des uns vertrauten Typs verdankt ihre Eigendynamik der Form ihrer Eigenwerte. […] Die unvermeidliche Folge ist, daß man, wie die Romantik gelehrt hat, der Weltkulisse nicht mehr trauen kann. […] Und dies alles weiß man, ohne daß die Soziologie es weiß, seit zweihundert Jahren. ›Wir sind‹, liest man bei Novalis ›aus der Zeit der allgemein geltenden Formen heraus‹.« (Luhmann: Beobachtungen der Moderne, S. 48-49) Daran anschließend erklärt Plumpe für die europäische Literaturgeschichte die Romantik zum »wahrhaft epochemachenden Einschnitt«, in der die Möglichkeit einer ›modernen‹ Literatur allererst geschaffen wird (vgl. Plumpe: Epochen moderner Literatur, S. 66). Die These der Modernität der Romantik ist hier nur insofern von Belang, als sie diese an das Auftauchen eines medialen Problems, nämlich des Verhältnisses von Lektüre und Buchförmigkeit, knüpft.

1. Einleitung: Absolute Bücher und ihre Lektüren

mantik nach Einschätzung seines Freundes Florens Christian Rang das verlassene Feld der Frühromantik wieder begehbar gemacht hat19 , indem er ihre Kunstkritik auf einen Nenner brachte – den der Form.20 Die Wirkmächtigkeit von Benjamins systematischer Rekonstruktion der frühromantischen Texte im Zeichen der Form ist kaum zu überschätzen. Bezeichnend dafür ist etwa die Einordnung von Norbert Bolz: »Um 1800 wird man wieder auf die Ordnung des Diskurses und die Eigenmacht der Signifikanten aufmerksam. Von nun an objektiviert sich jede ästhetische Rede kraft ihrer literarischen Form.«21 Der Formbegriff prägt auch und insbesondere die neuere Auseinandersetzung mit der Frühromantik. Hier ist etwa von der »agierende[n] Form«22 , von der »Kontinuität der Form«23 , von der »Poetik der komplexen Form«24 und von der »Form romantischer Kommunikation«25 die Rede. Demgegenüber möchte ich die Annahme, die Frühromantiker und allen voran Schlegel bereiteten einem modernen Formbegriff allererst den Boden, zwar nicht aufgeben, aber dennoch entscheidend modifizieren. Der in den Texten Friedrich Schlegels vorgefundene Begriff der Form lässt sich nicht oder nur mit großen Übersetzungsanstrengungen auf die systemtheoretische Konzeption von Form überblenden. Anstelle eines bei Walter Benjamin auftauchenden und in der Systemtheorie dauerpräsenten, die Theoriekonstruktion entscheidend prägenden prozessualen Formbegriffs26 herrscht in den Texten der Frühromantik ein symmetrischer Formbegriff vor, der überdies nicht von besonderer Wichtigkeit zu sein scheint. Er ist vielmehr anderen Begrifflichkeiten, etwa den in Kapitel 4.1 skizzierten Begriffen von Kunst und Magie, Organisation oder Konstruktion, neben- wenn nicht sogar untergeordnet.27 Die besondere Bedeutung, die Walter Benjamin (und im Anschluss an ihn die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung zur Frühromantik) dem Formbegriff für die Frühromantik verleiht, wirft also Fragen auf. Sie lässt sich weder quantitativ, über eine Häufung des Formbegriffs in den Texten Schlegels, noch qualitativ, über eine prominente funktionale Stellung des Formbegriffs erklären. Wie ich zeigen werde, praktiziert Walter Benjamin im Zeichen des Begriffs der Form eine Ornamentalisierung der grundlegend arabesk-symmetrisch formierten buchförmigen Kommunikation bei Friedrich Schlegel, insofern er 19 20

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Vgl. Florens Christian Rang an Walter Benjamin. Grünau, 10.10.1920. In: WBKA 3, S. 342. Vgl. etwa WBKA 3, S. 32: »Jenes ›Form der Form als ihres Gehalts‹-Werden des Geistes findet nach der romantischen Anschauung unaufhörlich statt und konstituiert vorerst nicht den Gegenstand, sondern die Form, den unendlichen und rein methodischen Charakter des wahren Denkens.« Bolz: Der Geist und die Buchstaben, S. 79. So der Titel eines Aufsatzes von Florian Fuchs: Agierende Form. So der Titel eines Aufsatzes von Christopher Busch: Kontinuität der Form. Theisen: Chaos, S. 23. So wiederum der Titel eines Aufsatzes von Peter Fuchs: Die Form romantischer Kommunikation. Die Idee der Prozessualität selbst ist durchaus relevant in der Frühromantik. Sie bildet etwa bei Novalis eine zentrale »Gelenkstelle [und wird] in der Folge zum zentralen Topos einer Wissenschaftsrhetorik« der Elastizität (Pethes: Der Topos ›Prozessualität‹, S. 142). Allerdings wird dieser Topos der Prozessualität nicht rein begrifflich ausagiert, sondern vielmehr metaphorisch ausgestaltet; eben im Sinne einer symmetrischen Prozessualität, nicht etwa einer asymmetrischen Prozessualität, wie sie für den prozessualen Formbegriff zu konstatieren ist. Die diese Unterscheidung vorbereitenden historisch ausgelegten Studien etwa von Ingo Stöckmann oder David Wellberry werden in Kapitel 2.2, welches explizit dem Formbegriff gewidmet ist, skizziert und für die Argumentation der Arbeit fruchtbar gemacht.

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die eigentümliche und vielfältige Begriffsvariation Schlegels in Richtung prozessualer, systematischer Begrifflichkeiten vereinseitigt. Der Begriff der Form wird von Benjamin als Paradigma einer anderen – mit Blick auf die folgende Diskussion als ornamental zu bezeichnenden – Technik der prozessualen Begriffsbildung ins Zentrum gerückt. In dieser Funktion bildet der Formbegriff dann auch einen Knotenpunkt von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Als Grundlage für die ausführlich auszufaltende historische Rekonstruktion des Formbegriffs und seiner Funktionalisierung für das Verhältnis von Buch und Lektüre werde ich im zweiten Kapitel die zentralen Begrifflichkeiten der Lektüre (Kap. 2.1), der Form (Kap. 2.2) sowie der Unterscheidung von Arabeske und Ornament (Kap. 2.3) in Bezug auf ihre Bedeutung für die historische Analyse skizzieren. Anschließend an dieses theoretische Grundlagenkapitel werde ich in Kapitel 3 als Einstimmung auf die folgenden abstrakten Begriffsuntersuchungen die konkreten »Lektürepraktiken«28 der drei Autoren beschreiben. Hier deutet sich bereits die jeweilige Konfiguration von Lektüreprogrammen als soziale wie mediale Konzeption von Buchförmigkeit an. Lesen bedeutet, das ideale Buch zu konstruieren. Für Schlegel wird dabei die in den Briefwechseln thematisierte Codierung des Lesens als Gespräch im Vordergrund stehen (Kap. 3.1). In Bezug auf Benjamin skizziere ich das ambivalente Verhältnis zum Buch als emphatisch wertzuschätzendes materielles Objekt und gleichzeitig überkommene Kommunikationsform (Kap. 3.2). Bei Niklas Luhmann schließlich wird insbesondere die bekannte Apparatur des Zettelkastens im Vordergrund stehen, die ich als Transformationsmaschine zwischen materieller und innerer Buchförmigkeit betrachte (Kap. 3.3). Die am Ende des tatsächlichen Buchs Soziale Systeme stehende Evokation eines nur in der Lektüre konstruierbaren »Buch[s] im Buch« (SoSy, S. 661) resultiert, wie zu zeigen sein wird, direkt aus der »Kommunikation«29 mit dem Zettelkasten. Auf der Basis dieser abstrakt wie konkret verfahrenden Einführungskapitels folgt dann die historische Analyse des Formbegriffs in seinen Transformationen zwischen Schlegel, Benjamin und Luhmann. Für Schlegel wird gezeigt, dass die symmetrische Konzeption des Formbegriffs aus einer emphatischen Übercodierung30 von buchför-

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Matthias Bickenbach unterscheidet in seiner Studie zu den Möglichkeiten einer ›inneren‹ Geschichte des Lesens Lektürepraktiken von den Lektüretechniken. Lektürepraktiken fasst Bickenbach dabei als »Konzeptualisierung« von Lektüretechniken »unter Flankierung von und Kopplung mit kulturellen Wertvorstellungen« (S. XI). Auch hier verweist der Begriff der Lektürepraktiken nicht auf eine von außen beobachtete Praxis, sondern vielmehr auf die Selbstkonzeptualisierungen des Lesens bei Schlegel, Benjamin und Luhmann, insofern diese bereits entscheidende Hinweise auf die jeweiligen Lektüreprogramme enthalten. Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen. Den Terminus der Übercodierung (orig. surcodage) verwenden Deleuze und Guattari im AntiÖdipus, um die Überlagerung verschiedener »Gesellschaftsmaschinen« und das in ihnen stattfindende Aufzeichnen und Lesbarmachen von »Wunschströme[n]« (S. 43) zu bezeichnen. Im Rahmen des Anti-Ödipus handelt es sich dabei um die Übercodierung der »primitiven territorialen Codierung« (S. 196) durch eine imperiale, etatistische Ordnung. Hier lehne ich mich insofern an die Begriffsverwendung von Deleuze und Guattari an, als die Übercodierung auch hier die primäre Codierung (als schriftlich) intakt lässt und fruchtbar macht, diese jedoch zusätzlich ideologisch überformt, insofern sie versucht, die Eigenart dieser primären Codierung metaphorisch zu durchkreuzen.

1. Einleitung: Absolute Bücher und ihre Lektüren

miger Kommunikation als idealem Gespräch zwischen Liebenden resultiert. Die Symmetrie der Liebenden spiegelt sich in einer umfassenden arabesken Symmetrisierung von tatsächlicher Materialität des Buchs und innerer Gestaltung (Kapitel 4). Demgegenüber geht die Prominenz des markierten, prozessualen Formbegriffs bei Luhmann mit einer ornamentalen Verschiebung von Buchförmigkeit ins rein Immaterielle einher (Kapitel 6). Als zentrale Mittlerfigur wird Walter Benjamin und seine Dissertation zur Kunstkritik in der Frühromantik eingeschaltet, die deren begrifflichen Kern im Zusammenhang von Form und Reflexion lokalisiert (Kapitel 5). Das abschließende Kapitel 7 fasst zentrale Aspekte der Untersuchung noch einmal zusammen und weist auf mögliche Implikationen etwa für die Frage der Unterscheidung von Theorie und Literatur hin. Die Schlegelschen Texte sind, wie zu zeigen sein wird, gegenüber ihrer abstrahierten Transkription bei Benjamin und später bei Luhmann von einem weitaus uneindeutigeren Verhältnis zum Begriff der Form geprägt, welches sich in einem Nebeneinander von symmetrischen und prozessualen Begrifflichkeiten im Allgemeinen sowie symmetrischem und prozessualem Formbegriff31 im Besonderen ausdrückt. Der Formbegriff selbst steht nicht im Zentrum der Schlegelschen und Schleiermacherschen Texte, sondern wird vielmehr begleitet von einer Vielzahl anderer Begriffe, die sich ebenfalls als entweder symmetrische oder prozessuale Begriffe definieren lassen. Diese Uneindeutigkeit gegenüber dem Formbegriff und gegenüber Techniken der Begriffsbildung insgesamt ist begründet in der um 180032 erstmalig systematisch betriebenen Reflexion von Lektüre als entscheidendes Moment des eigenen Schreibens. Ab der Frühromantik, und so auch bei Friedrich Schlegel, gilt, »daß literarische Texte grundsätzlich, wenn auch mehr oder weniger explizit, als Thematisierung der Lektüre betrachtet werden können«33 . Die Konsequenzen schlagen sich etwa im veränderten Gebrauch von Begriffen, so auch des Formbegriffs, nieder. Die Gleichzeitigkeit von prozessualen, also selbstbezüglichen Begrifflichkeiten und eine symmetrische Einheit evozierenden Gegensatzpaaren34 spiegelt – so die These – 31

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Wie ich in Kap. 2.2 noch weiter ausführe, stelle ich damit den diversen Binnendifferenzierungen des Formbegriffs (etwa substanziell/prozessual bei Ingo Stöckmann oder eidetisch/endogen/konstruktivistisch bei Wellberry) eine weitere Möglichkeit gegenüber. Ich habe mich hier für die Gegenüberstellung symmetrisch/prozessual entschieden, weil es mir nicht um die konkrete Weiterführung philosophischer Debatten oder Semantiken geht, sondern vielmehr um die strukturelle Beschaffenheit des Begriffs, insofern sich diese in der Struktur der jeweiligen Bücher als Arabeske oder Ornament (vgl. Kap. 2.3) und der in ihnen verhandelten Lektüreprogramme widerspiegelt. Medienhistorisch ist anzumerken, dass zwei wichtige Innovationen der Drucktechnik genau ins Jahr 1799 fallen: zum einen die Einführung des Flach- und Steindrucks durch Senefelder, zum anderen die Erfindung der Langsiebpapiermaschine, die für die »Mechanisierung der Papierproduktion« sorgte, vgl. dazu Hörisch: Der Sinn und die Sinne, S. 150. Roloff: Von der Leserpsychologie des Fin de siècle zum Lektüreroman, S. 187. Tommaso Pierini zeichnet in einem Aufsatz die Ablösung von symmetrischen (in seiner Begrifflichkeit substanziellen) durch prozessuale (in seiner Begrifflichkeit genetische) Begriffe, die er insbesondere in Schlegels Kölner Logik-Vorlesungen lokalisiert, nach. Pierini spricht hier von einer »Konstruktion als dem Übergang von einer substantiellen Betrachtung zu einer genetisch-dynamischen Betrachtung der Welt. Die Idee des Unendlichen bestimmt sowohl die Gesetzlichkeit als auch die Mannigfaltigkeit der Prozesse in einem unabschließbaren Fortschreiten.« (Pierini: Der Übergang von der Substanz zum Prozess, S. 126)

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eine spezifische Haltung gegenüber der Frage nach dem Status von Lektüre und damit gleichzeitig eine »spezifische Buchförmigkeit«35 wider (vgl. auch Kap. 2.1). Diese spezifische Haltung drückt sich paradigmatisch in Schlegels Lucinde aus, ein Roman im emphatischen Sinne, welcher den Versuch darstellt, die konkrete soziale Einbettung des Buchs im durch die Lektüre vermittelten Kommunikationszusammenhang in das Buch einzuschließen. Schlegels Lucinde will insofern gleichzeitig »Handlung« und »Werk«36 sein, und die beiden Pole – die ich hier als Lektüre und Buch reformulieren möchte37 – aufeinander beziehen und miteinander vermitteln. Diese Konzeption von Buchförmigkeit werde ich am frühromantischen Begriff der Arabeske festmachen. Der Arabeske kommt somit die Funktion zu, emphatische (und damit auch materielle, konkrete) Buchförmigkeit in der Lektüre zu repräsentieren und die Lektüre damit zu schließen. Die Arabeske steht ein für eine symmetrische Verschmelzung von Lektüre und Buch im Buch, und damit für ein solcherart spezifiziertes Verhältnis von Öffnung und Schließung. Die Arabeske bringt also eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Materialität des Buchs hervor und betont gleichzeitig die soziale Praxis der Lektüre, die als symmetrisches Gespräch konzipiert wird. Das Spannungsverhältnis zwischen der konkreten Materialität des Buchs und der Konzeption der Lektüre als Gespräch wird – versuchsweise – mit Hilfe der Arabeske zu einer symmetrischen wechselseitigen Bedingung geformt. Walter Benjamin privilegiert in seiner Lektüre der Texte Schlegels die insbesondere in den Fragmenten und philosophischen Vorlesungen, also gerade in den ›nicht-buchförmigen‹38 Schriften Schlegels, auftauchenden Prozessbegriffe. Diese aber verweisen innerhalb der Unterscheidung Lektüre/Buch auf die Seite der Lektüre, die ihrerseits – paratextuell, wie zu zeigen sein wird – auf die andere Seite, das Buch, bezogen ist. Dabei vernachlässigt er diese Beziehung der nicht buchförmigen Texte auf das Buch als »Rahmen«39 jeglicher »Principien der Schriftstellerei« (KFSA XXIV, S. 205). In seiner 35 36

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Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 16. So eine zentrale Unterscheidung der Texttheorie der 1980er Jahre, vgl. dazu etwa Stierle: Text als Handlung und Text als Werk. Den Pol der Handlung beschreibt Stierle dabei als »Konstitution eines gemeinsamen Handlungshorizonts« (S. 538), was in etwa dem Konzept der neuen Mythologie bei Schlegel et al. entspricht. Anstelle des Begriffs ›Werk‹, der auch in der neueren Forschung, etwa zur »Geschichte der Theorie und der Praxis des Werks« (Martus: Werkpolitik, S. 4) genutzt wird, verwende ich den Begriff ›Buch‹ um explizit auf die materielle und mediale Komponente der Realisation und Konzeption hinzuweisen. Vgl. dazu auch die weiteren Ausführungen der Einleitung, in der ich an einigen Stellen auf den Unterschied zwischen Werkbegriff und Buchbegriff zurückkommen werde, etwa in Bezug auf die systemtheoretische Rekonstruktion des Kunstsystems und die hierin enthaltenen Möglichkeiten der Selbstbeschreibung von Theorie sowie in Bezug auf die Abgrenzung der hier vorgestellten Methoden von verwandten Forschungsrichtungen, etwa der Intertextualität oder der Leseforschung. Zum Begriff der nicht-buchförmigen Textualität vgl. auch Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 14. Derrida: Dissemination, S. 333. Im Kapitel Die Vorrichtung und der Rahmen beschreibt Derrida das Buch als Rahmen, welcher die »Totalität des Textes« (S. 334) und damit »die als Viereck formierte Horizontalität der Blattseite, des ›die Zeit verbildlichenden Schachbretts‹, dieses ›unsichtbaren Schachspielers‹, im theatralischen Volumen eines bestimmten Kubus machtvoll« (S. 335) wiederherstellt. Die Idee des Rahmens übernimmt Derrida von seinen Überlegungen zur bildenden

1. Einleitung: Absolute Bücher und ihre Lektüren

einseitigen Lektüre der nicht buchförmigen Texte verliert Benjamin die beschriebenen arabesken Schließungsfiguren in Schlegels Lucinde, also auch allgemein die Form des Buchs, aus dem Blick. Diese Nicht-Berücksichtigung der Buchförmigkeit schlägt sich auf der begrifflichen Seite in einer Marginalisierung oder Übersetzung der auf Konkretion bezogenen symmetrischen Gegensatzpaare nieder. Demgegenüber stelle ich durch den Zusammenhang von Formbegriff und Buchförmigkeit die Schlegelschen Fragmente unter den Oberbegriff des Paratexts40 und betrachte sie also gerade in ihrer Bezogenheit auf die Schließungsfiguren des Buchs. Im Gegensatz zu weiten Teilen der literaturwissenschaftlichen Forschung kehre ich also die Aufmerksamkeitsproportionen um.41 Meines Erachtens wird die emphatische Be-

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Kunst, vgl. ders.: Die Wahrheit in der Malerei. Er wendet sich hier gerade dem Beiwerk der bildenden Kunst, also dem Rahmen, den Verzierungen etc. zu, um an ihnen zu zeigen, wie diese als notwendige Bedingungen einen Raum und das Recht für die Malerei konstituieren. Sein Text ist damit »weder Werk (ergon) noch Beiwerk (hors d’oeuvre), weder innen noch außen, weder unten noch oben«. Er bringt »alle Gegensätze aus der Fassung, ohne doch unbestimmt zu bleiben und schafft Raum für das Werk.« Was das erste Kapitel »aufstellt – die Instanzen des Rahmens, des Titels, der Signatur, der Bildunterschrift (Bildbeschriftung), und soweiter – hört nicht mehr auf, die interne Ordnung des Diskurses über die Malerei, ihre Werke, ihren Handel, ihre Aufwertungen, ihren Mehrwert, ihre Spekulation, ihr Recht und ihre Hierarchien durcheinanderzubringen.« Auch hier ist also die Idee entscheidend, dass ›Inhalt‹ des Bildes, also die tatsächliche Malerei, und ihr Rahmen wechselseitig miteinander verschränkt sind, und die Frage, die gestellt wird, ist diejenige nach der Möglichkeit eines unabhängigen Berichts über ebenjene Verschränkung. Mit dem Begriff des Paratexts adressiere ich ihren Status, die Schließung des Buchs anzukündigen, vorzubereiten und damit zu verstärken – auf einer Ebene der symmetrischen Nebenordnung. Vgl. Genette: Paratexte, S. 9: »Sie [die Paratexte] umgeben und verlängern ihn [den Text] jedenfalls, um ihn im üblichen, aber auch im vollsten Sinn des Wortes zu präsentieren: ihn präsent zu machen, und damit seine ›Rezeption‹ und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buchs zu ermöglichen.« Der Begriff des Paratexts bei Genette ist umstritten und wird immer wieder als wenig definiert herausgestellt, so etwa bei Stanitzek: Buch: Medium und Form sowie bei Dembeck: Texte rahmen, etwa S. 10: »Wirklich definiert ist der Paratext bei Genette nicht, vielmehr kommt es zu einer Bewegung des definitorischen Aufschubs.« Für mich ist der Paratext als Begriff vor allem insofern interessant, als er die Abgrenzung zu anderen Formen der Rahmungen ermöglicht. Für diese andere Form der Schließung des Buchs, die nicht in seiner materiellen und damit auch sozialen Präsentierung zu lokalisieren ist, werde ich später den Begriff des Metatexts einführen. Vgl. dazu auch Kap. 4.1 sowie Kap. 4.3. Im Gegensatz zu Genette verstehe ich den Metatext nicht als Unterform des Paratexts, sondern als Gegenentwurf. Während der Paratext neben dem Text des Buchs steht und diesen in seiner Geschlossenheit gerade bestärkt, löst der Metatext den Text des Buchs genauso wie sich selbst zu einer nur immateriell möglichen Schließungsfigur auf. Der Paratext ist also mit der Arabeske verbunden, der Metatext mit dem Ornament. Diese konzentrieren sich stark auf die nicht buchförmigen Texte, wie die Fragmente und Aufsätze, und sehr wenig auf Schlegels Buch Lucinde, das, wenn auch nicht mehr als misslungener Roman, so doch eher als historisches Dokument eingeschätzt wird. Von den bisher insgesamt zwölf erschienenen Bänden der seit 2009 herausgegebenen Schlegel-Studien beschäftigt sich kein Band ausdrücklich mit der Lucinde, dafür aber insgesamt neun ausschließlich mit Fragmenten Schlegels, so etwa Böhm: Dialektik bei Friedrich Schlegel, Faul: Friedrich Schlegels Ideen, Breuer, TabasariHoffmann (Hg.): Der Begriff der Kritik in der Romantik, Møller: Der lebensphilosophische Frühromantiker, Bunia, Breuer, Erlinghagen (Hg.): Friedrich Schlegel und die Philologie, Mergenthaler: Zwischen Eros und Mitteilung, Erlinghagen (Hg.): Das Universum der Poesie, Bauer: Schlegel und Schleiermacher, Viehweg (Hg.): Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche). Unabhängig von den

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tonung von Buchförmigkeit in der Frühromantik bei aller berechtigten Aufmerksamkeit auf Offenheit, Progressivität und Fragmentarizität42 unterschlagen. Ich verfolge demgegenüber das Ziel, die Buchförmigkeit als Grundlage für die Affinität zu fragmentarischer Theorie herauszustellen, auf der sonst der Fokus der Forschung liegt. Ich werde also in der folgenden Untersuchung den Unterschied zwischen Fragment und Buch dramatisieren. Wie in den Ausführungen zu Benjamins Dissertation deutlich werden wird, geht es mir dabei nicht um eine bloße Korrektur der Benjaminschen Frühromantik-Lektüre. Vielmehr möchte ich der besonderen Wirksamkeit nachspüren, die in der Transformation des frühromantischen Formbegriffs begründet liegt. Die Benjaminsche Inanspruchnahme der Frühromantik, in der die sozial überformte Buchförmigkeit und das damit verbundene Beharren auf Symmetrie eine im Sinne von Benjamins Interesse an einer umfassenden Problemstellung notwendige Leerstelle bilden, bevorzugt für die Frühromantik einseitig die Prozessualität43 , die reine Begrifflichkeit. Sie kombiniert dies mit einer andersgearteten Schließung, welche die konkrete Medialität des Verhältnisses von Öffnung und Schließung als Lektüre und Buch, ergo als gedruckte Schriftlichkeit, nicht (wie in der Frühromantik) zu betonen, sondern gerade zu invisibilisieren sucht. Benjamin liest die Begriffe und macht diese stark, aber ohne ihre »theatralische Organisation«44 zu beachten. Als ebensolche theatralische Organisation fungiert bei Schlegel die Form Buch als Arabeske, welche auf komplexe Weise die inklusive Materialität des Buchs mit der exklusiven Sozialität des Liebesgesprächs koppelt. Die Benjaminsche Enttheatralisierung benötigt den Formbegriff, der damit die

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Schlegel-Studien erschienen unter anderem Zovko: Friedrich Schlegel als Philosoph sowie Messlin: Antike und Moderne, die ebenfalls nicht, oder höchstens kursorisch auf die Lucinde eingehen; so etwa Zovko im Kontext des Verhältnisses von Mann und Frau als Problem der Sittlichkeit (vgl. Zovko: Friedrich Schlegel als Philosoph, S. 102-103). In der umfassenden Publikationstätigkeit zu Schlegel lassen sich für die letzten zehn Jahre insgesamt vier Monographien identifizieren, die explizit Schlegels Lucinde zum Thema haben: Pirholt: Metamimesis, Steputat: Frauenbilder im Roman der Frühromantik, Hoche: Utopische Liebesentwürfe und Samwer: Symbole der Erkenntnis. Zum weiteren Forschungsstand vgl. die jeweils thematisch erfolgenden Anmerkungen in Kap. 4. Bezeichnenderweise wird in der großangelegten Studie von Catherine Dedié, die sich unter dem Titel der Mythischen Motivierung den »narrativen Strukturen in Prosatexten der Frühromantik« (so der Untertitel) zuwendet, Schlegels Lucinde explizit nicht thematisiert, insofern der Roman »die typische ›mythische‹ Motivierung, die sich am Schicksalsthema abarbeitet, sowie die mythos-analogen Motive und Strukturen nicht im gleichen Maße auf[weist] wie die anderen hier untersuchten Texte.« (Dedié: Mythische Motivierung, S. 19) Vgl. etwa auch die Einschätzung der Frühromantik-Forschung bei Arndt: Perspektiven frühromantischer Dialektik, S. 53: »Verlockender erschien es wohl, das Fragmentarische und Paradoxale des Schlegelschen Philosophierens als Vorform poststrukturalistischer Differenzphilosophien zu deuten und ihm (und vor allem den Interpreten) damit modische Aktualität zu sichern.« Mit ihm auch die Forschung, vgl. stellvertretend Oesterreich, der in seiner Studie zu Spielarten der Selbsterfindung die »infinite Ironie des frühen Schlegels« hervorhebt, welche das »dynamische Ideal eines unabschließbaren Selbsterfindungsprozesses« (S. 8) verkörpert (und damit die Öffnung vor der Schließung privilegiert) sowie Busch und seine Monographie zur notwendigen Arabeske. Hier schreibt er: »Der Entwertung der Gegenstände im allegorischen Prozeß zu Fragmenten korrespondiert die Aufwertung des Prozessualen selbst.« (Busch: Die notwendige Arabeske, S. 43) Hier wird erkennbar, dass die Bevorzugung des Prozessualen mit einer Bevorzugung der Fragmente einhergeht. Derrida: Dissemination, S. 333.

1. Einleitung: Absolute Bücher und ihre Lektüren

Verbindung zwischen einem sozial verhandelten Verhältnis von Öffnung und Schließung und einem abstrakteren, begrifflich vermittelten Verhältnis bildet. In der spezifischen Benjaminschen Konzeption des ›frühromantischen‹ Formbegriffs bleibt die von ihm ignorierte Dopplung der medialen Konkretisierung von Öffnung und Schließung, nämlich Lektüre und Buch, also implizit erhalten, wird aber überführt in eine andere begriffliche und systematische Konzeption. Ich werde aufzeigen, dass die strukturellen Eigenheiten der Schlegelschen Terminologie, die von Walter Benjamin auf den Begriff der Form gebracht werden, im Begriff der Form selbst weiterwirken; und zwar als Gleichzeitigkeit von Öffnungs- und Schließungsbewegungen, und damit von Lektüre und Buch. Die Schlegelsche Problemstellung des Verhältnisses von Lektüre und Buch als Verhältnis von Öffnung und Schließung lässt sich, vermittelt über ihre Übersetzung bei Benjamin, als Präfiguration des Luhmannschen Formbegriffs verstehen, der die Problematik dann aber auf vollständig andere Weise löst. An Luhmanns Einschätzung der Relevanz seines eigenen Buchs Soziale Systeme werde ich zeigen, dass für Luhmann ideale Buchförmigkeit ein Ereignis darstellt, welches das vortheoretische Rauschen in ein nachtheoretisches, asymmetrisches Verhältnis von Signal und Rauschen überführt. Die damit eingerichtete Signalförmigkeit des Buchs verdankt sich seiner Konzeption als inneres Ornament, also als rein immateriell konzipierte Schließungsfigur. Für diese Verschiebung bezieht sich Luhmann sowohl explizit wie auch implizit auf den von Walter Benjamin extrahierten Formbegriff der Frühromantik, der insofern eigentlich ein Benjaminscher ist. Um diesen Zusammenhang plausibel zu machen, werde ich auf die spezifische Konstellation von Buch und Lektüre bei Schlegel, Benjamin und Luhmann eingehen und die Frage nach dieser spezifischen Konstellation mit einer Frage nach der jeweiligen Funktionalität des Formbegriffs zwischen Prozessualität und Symmetrie (vgl. Kap. 2.2) verbinden. An der Struktur des Formbegriffs nämlich, das soll die folgende Untersuchung zeigen, lässt sich jeweils das Verhältnis von Buch und Lektüre ablesen – sowohl was die Lektüre fremder Bücher als auch was die Imagination von Lektüre des eigenen Buchs angeht. Der Formbegriff ist der Ort der »Trans-Skription« im Sinne einer »Unterscheidbarkeit wie [dem] ›Übergang‹ zwischen lesbar/schreibbar, zwischen lesen/schreiben«45 . Im Begriff der Form berühren sich also die beide Pole – eigene Fremdlektüre und Imagination von/Schließung gegenüber fremder Lektüre des eigenen Texts –, die das Schreiben im Zeitalter des Buchdrucks ausmachen. Novalis hat diese neue Qualität des lesenden Schreibens46 in den Teplitzer Fragmenten (1798) treffend zusammengefasst:

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Schabacher: Lesbar/Schreibbar, S. 85. Das im Übrigen natürlich nicht nur für die Literatur, sondern auch etwa für die ›Wissenschaft‹ gilt, vgl. Luhmann: Unverständliche Wissenschaft, S. 195: »Für das 18. Jahrhundert ist die Wissenschaft ein bereits etabliertes Faktum. Man muß jetzt Wissenschaft, bei aller Zukunftsoffenheit, auch im nachhinein begreifen. Alle Forschungsplanung schreibt immer auch an den Memoiren des Systems. Jetzt beginnt eine Forschung ihren Weg, die sich nur mit Bezug auf bereits vorliegende Ergebnisse und Begriffsentscheidungen artikulieren kann, die sich aber auch nicht darauf beschränken darf, das Bekannte nur zu reproduzieren. Man muß auf schon konstellierte Sachverhalte hin – umformulieren.«

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Die meisten Schriftsteller sind zugleich ihre Leser – indem sie schreiben – und daher entstehn in den Werken so viele Spuren des Lesers – so viele kritische Rücksichten – so manches, was dem Leser zukömmt und nicht dem Schriftsteller. […] Der Leser sezt den Accent willkührlich – er macht eigentlich aus einem Buche, was er will. (Schleg[els] Behandl[ung] Meisters). (NS II, S. 609) Die oben ausgeführten Unterschiede zwischen dem tatsächlichen Auftauchen des Formbegriffs bei Schlegel und bei Luhmann lassen sich auf diese Reflexion von fremder Lektüre zurückführen. Dem Bewusstsein der Willkür des Lesens entspringt der Versuch einer Schließung des Buchs in der fremden Lektüre. Was die Erfahrung der Lektüre in Bezug auf den eigenen Text vermittelt ist, dass dessen »Einheit […] zustandegebracht werden muß« (SoSy, S. 58). Um diese Unterschiede sichtbar zu machen und begrifflich adressieren zu können, müssen neben der basalen Leitunterscheidung von Lektüre und Buch, sowie dem Formbegriff als Einheit dieser Unterscheidung noch andere Differenzierungen eingeführt werden. Lektüre ist, wie zu zeigen sein wird, in der Frühromantik im Spannungsfeld der Unterscheidung von Reden und Schweigen47 angesiedelt, welches ich als Gesprächsparadigma bezeichne, für Niklas Luhmann jedoch im Spannungsfeld von Signal und Rauschen, welches ich als Informationsparadigma bezeichne. Für Luhmann, so werde ich in Kapitel 6 zeigen, stellt sich die optimale Buchförmigkeit nicht – wie bei Schlegel – als Gleichzeitigkeit von Handlung und Werk, also als Inklusion der sozialen Einbettung in die abstrakte Schriftlichkeit des Buchs dar. Die ideale Buchförmigkeit richtet vielmehr eine Asymmetrie zwischen Signal und Rauschen ein, wobei das Rauschen hier sowohl als soziale Einbettung wie auch als materiell-mediale Präsentationsform des Buchs verstanden werden kann. Für diese Asymmetrisierung wird die Figur des Ornaments beansprucht, das in der Luhmannschen Version gerade nicht als äußeres, sondern, wie Luhmann es am Gegenstand der Kunst in der Kunst der Gesellschaft (1995) beschreibt, als »inneres Ornament« auftaucht, nämlich insofern »man nur darauf achtet, – wie Unterscheidung mit Unterscheidung

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Reden und Schweigen ist auch der Titel eines von Niklas Luhmann und Peter Fuchs gemeinsam herausgegebenen Buchs, in welchem die »Form der Form« (S. I) einer »Form, die zwei Seiten hat« (S. 1) zur Debatte steht: »Immer geht es um die Einheit dieser Form.« (S. I) Dieses Vorwort macht schon deutlich, dass es nicht eigentlich um den Gegenstand, nämlich um Reden und Schweigen geht, sondern eben um abstrakte Formprobleme, die gegenüber dem konkreten »Thema«, das »mit Absicht aus einer Fülle von Möglichkeiten sehr heterogene ›Vertiefungsgebiete‹« (S. I) fokussiert, immer Vorrang haben. Insofern verstehen die Autoren »diese Studien nicht in erster Linie als Erweiterung des Wissens über die Sachthemen, die wir behandeln, sondern als einen Beitrag zur Gesellschaftstheorie« (S. II). Die ›Theorie‹, die in der Selbstreferentialität des Formbegriffs als Frage nach dem »Fortgang einer Operation« (S. I) kulminiert, verantwortet die eigentliche Schließung. Insofern besitzt das »Vorwort« als Rahmen des Buchs einen meta- und nicht mehr paratextuellen Status (zur Unterscheidung von Para- und Metatext vgl. auch Kap. 4.1 sowie Kap. 6.1). Die mit der Asymmetrie zwischen Gegenstand und Operativität seiner Beobachtung eingerichtete Asymmetrie zwischen der Semantik des Redens und Schweigens und der Formsemantik selbst wird in den folgenden Ausführungen resymmetrisiert, insofern die im Vorwort adressierte Verschiebung als Element eines Lektüreprogramms verstanden wird, welches dem mit Reden/Schweigen benannten Lektüreprogramm horizontal und gerade nicht vertikal als ein Anderes gegenübersteht.

1. Einleitung: Absolute Bücher und ihre Lektüren

zusammenhängt« (KdG, S. 367). Das Buch als Schließung ist bei Luhmann kein konkretes materielles, genauso wie die Lektüre keine konkrete soziale ist – vielmehr erscheint das Buch als immer wieder nach innen verschobener Fluchtpunkt. Die auf die Schließung bezogene Imagination einer idealen Lektüre des eigenen Buchs ist bei Schlegel anhand der Opposition von Reden und Schweigen konstruiert, wobei hier in der Lektüre gerade das Schweigen zu einer idealisierten, nämlich symmetrischen und damit gleichzeitig unendlichen, Rede hinführen soll. Ein ähnlich paradoxer Versuch der Schließung in der Lektüre lässt sich bei Luhmann erkennen. Hier ist dem Schreiben die ideale Lektüre als rauschfreie Signalübermittlung eingeschrieben, die paradoxerweise durch immer mehr Rauschen, nämlich unter anderem durch Wechsel der Medienformen angestrebt wird. Innerhalb des Gesprächsparadigmas ist Lektüre also als sozial, innerhalb des Informationsparadigmas als technisch konzipiert. So lässt sich in den frühromantischen Texten, gemäß des Gesprächsparadigmas, eine Vision von Symmetrie und Dialogizität ausmachen, während Luhmann in seinen Texten jegliche Form von Asymmetrisierung ausdrücklich bejaht und qua Ebenenunterscheidung etwa zwischen ›allgemeiner Theorie‹, gegenstandsbezogener Beschreibung und Anwendungsfällen48 zu stabilisieren sucht. Diesem Paradigmenwechsel folgt nun auch der Formbegriff, der sich aus der fundamentalen Gleichrangigkeit mit anderen Begriffen innerhalb der symmetrischen Gesprächssituation hin zur Markiertheit innerhalb der asymmetrischen Informationssituation aufschwingt. Als ›Begriffsperson‹ im Sinne von Deleuze und Guattari49 oder auch als ›preadaptive advance‹ im Sinne der Evolutionstheorie50 vermag es der Form-

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So etwa im einführenden Kapitel von Soziale Systeme zum »Paradigmawechsel in der Systemtheorie«, in welchem Luhmann anhand des Begriffs System »drei Analyseebenen« (SoSy, S. 15) unterscheidet und diese auch graphisch darstellt. Auf der ersten Ebene befindet sich dabei der abstrakte Begriff System im Plural: Systeme, auf der zweiten Ebene nennt Luhmann Maschinen, Organismen, soziale Systeme und psychische Systeme, auf der dritten Ebene unterteilt er die sozialen Systeme in Interaktionen, Organisationen und Gesellschaften. Er situiert dann seine Ausführungen auf der »Ebene einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme«, wobei allerdings auch Aufmerksamkeit auf die allgemeine Systemtheorie vonnöten ist, denn Luhmanns »Leitidee ist die Frage, wie ein Paradigmawechsel, der sich auf der Ebene der allgemeinen Systemtheorie abzeichnet, sich auf die Theorie sozialer Systeme auswirkt« (SoSy, S. 18). Das Konzept der Begriffsperson entwickeln Deleuze und Guattari in ihrem Buch Was ist Philosophie. Die paradigmatische Begriffsperson ist hier der im Begriff der Philosophie selbst wohnende ›Freund‹. Er bezeichnet eine »innere Gegenwart im Denken, eine Möglichkeitsbedingung des Denkens selbst, eine lebendige Kategorie, ein transzendentales Erleben.« (Deleuze, Guattari: Was ist Philosophie, S. 7) Dieser Begriff wird von Luhmann in den evolutionstheoretisch ausgerichteten Anteilen seiner Texte verwendet. Er reserviert ihn für »Errungenschaften, die im Rahmen eines älteren Ordnungstypus entwickelt und stabilisiert werden können, die aber erst nach weiteren strukturellen Änderungen des Systems in ihre endgültige Funktion eintreten. Preadaptive advances sind sozusagen Lösungen für Probleme, die noch gar nicht existieren. Sie entlasten den Strukturwandel trotz bestehender Interdependenzen vom Erfordernis der Simultaneität. Sie können strukturelle Veränderungen vorbereiten, ohne sie schon voraussetzen zu müssen.« (Luhmann: Geschichte als Prozeß, S. 219-220.) Luhmann übernimmt diesen Begriff von Robert Mc. Adamsʼ Buch The evolution of urban society und der dort angestellten Beschreibung von »technologischen Voraussetzungen der beginnenden regulären Landwirtschaft« (Luhmann: Geschichte als Prozeß, S. 226, Anm. 28).

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begriff aber auch gerade, den Wechsel des Paradigmas zu organisieren und damit zu ermöglichen. Als Reflexionswert der jeweiligen Lektürereflexion und den damit verbundenen Imaginationen idealer Lektüre organisiert er, um eine Formulierung aus Luhmanns Soziale Systeme aufzugreifen, den Kontakt mit der Realität der Theorie – genauso wie mit der Realität des Kunstwerks – als buchförmige, gedruckte, und damit künftig zu lesende Differenzerfahrung (vgl. SoSy, S. 12). Damit eignet sich der Formbegriff nicht nur zur Beobachtung von unterschiedlichen Lektürereflexionen und damit verbundenen Strategien der Schließung von Lektüre zwischen der historisch situierten Textproduktion Schlegels und Luhmanns, sondern auch zur Beobachtung von Verschiebungen innerhalb des jeweiligen Gesamtwerks. Je markierter der Formbegriff hier jeweils auftritt, desto stärker verschiebt sich das symmetrisch konzipierte Gesprächsparadigma hin zum asymmetrisch konzipierten Informationsparadigma. Dieses im Formbegriff als struktureller Keim51 aktive transformatorische Potential verfolge ich insbesondere in der Lektüre von Benjamins Dissertation. Benjamin bereitet in seiner problemgeschichtlichen52 Gegenüberstellung von buchförmiger (Goethe) und nicht buchförmiger (Schlegel) Kunstkommunikation53 die Verschiebung der konzeptuellen Buchförmigkeit weg vom Gesprächsparadigma Reden/Schweigen hin zum Informationsparadigma Signal/Rauschen vor, insofern er sich in der Lektüre Schlegels stark auf die vom Medium Vorlesung geprägten Texte bezieht. Die Vernachlässigung der spezifisch Schlegelschen Buchförmigkeit wird in der Entgegensetzung von Goethe als Vertreter der »Unkritisierbarkeit der Werke« (WBKA 8, S. 121) und Schlegel als »Auflösung des Werkes« (WBKA 8, S. 126) systematisch plausibilisiert und in eine neue Schließung transformiert, in welcher Schlegel auf den Pol der Öffnung und damit auf die Seite der Form festgelegt wird. In Benjamins Text vollzieht sich also auch die graduelle Verschiebung des Formbegriffs von einem symmetrisch an seinen Gegenbegriff gebundenen Formbegriff zu einem prozessual konzipierten Formbegriff, wie er in den Vorlesungen Schlegels bereits aufscheint (vgl. Kap. 2.2 und Kap. 4.4). 51 52 53

Vgl. Simondon: Form, Information, Potentiale. Die Semantik von Problem und Lösung eignet sich besonders zur Abstraktion von der konkreten Materialität des Buchs und der Lektüre. Diese Gegenüberstellung setzt sich bis heute fort. So finden sich in Carlos Spoerhases Studie zum Format der Literatur ausführliche Bemerkungen zu Goethe als Experten verschiedener Versionen von Buchförmigkeit (siehe etwa S. 145-162); Schlegel dagegen erscheint nur in Bezug auf das systemförmige Buch und den Plan (vgl. S. 467-478). Konsequenterweise muss Spoerhase dann auch die Prozessualisierung des Formbegriffs für Schlegel annehmen, vgl. S. 484-485: »[Schlegel] versucht, die gesamte Problemstellung durch den Rekurs auf eine innere Form zu lösen. Das hat aber zur Konsequenz, dass eine Immanentisierung des Systems stattfindet. Insoweit das System durch ein Verfahren der Endogenisierung der Form zu einer Größe wird, der nichts Äußerliches mehr entspricht, ist das System auf Kritik angewiesen, d.h. auf ein Verfahren, das in der Lage ist, die endogene Form überhaupt erst zu entwickeln bzw. auszufalten. Die Endogenisierung des Systems, das für Schlegel auch ein Grenzbegriff fragmentarischer Schreibarbeit ist, wird nachdrücklich betrieben: Auch wenn Schlegel stellenweise in Aussicht stellt, dass das System als ›Form‹ des Wissens sowohl Genre als auch ›Geist‹ ist, so wird bei ihm mit der ›Form‹ des Systems doch weniger die konkrete äußere (generische) Form als vielmehr eine abstrakte innere (geistige) Form angesprochen.« Der Roman Lucinde spielt für diese Argumentation keine Rolle und wird auch insgesamt von Spoerhase nicht erwähnt, obwohl er eingehend auf das Bibelprojekt zu sprechen kommt (vgl. S. 502-510).

1. Einleitung: Absolute Bücher und ihre Lektüren

Dass dieser prozessuale Formbegriff die Abstraktion befördert, lässt sich auch im Kontext dieser Einleitung selbst nachvollziehen. Die begriffliche Distanzierung ergibt sich aus den Untersuchungsgegenständen selbst. Einerseits zwingen diese, insofern sie in ihren begrifflichen Strukturen die Lektüre zu schließen versuchen, jeweils jegliche Beschreibung ihrer selbst zur Abstraktion; und das in besonderem Maße, wenn man, wie hier, diese Schließungsbewegung gleichzeitig mitvollzuziehen und selbst sichtbar zu machen sucht. Andererseits ist eine Untersuchung, die Homologien zwischen literarischen und philosophischen Texten des 18. Jahrhunderts und soziologischen Texten des 20. Jahrhunderts aufzuweisen sucht, schon aufgrund dieser historischen und diskursiven Differenzen dazu gezwungen, in der Wahl der Begriffe möglichst allgemein und distanziert vorzugehen. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich also, im Lichte der folgenden Diskussion, um einen Meta- und nicht etwa um einen Paratext.54 Die beschriebenen Lektürereflexionen und Schließungsbewegungen sowie ihr Zusammenhang mit dem Formbegriff werden sichtbar durch eine Transkription, die ihrerseits selbstverständlich auf einer Lektüre beruht, und zwar einer, die sich darum bemüht, »das Lesen andrer zu lesen« (KFSA XVI, S. 309, Fragment 669). Gegenstand dieser Lektüre sind, wie eingangs angekündigt, ›absolute Bücher‹55 . In den Blick geraten außerdem die diese Bücher jeweils betreffenden Epi- und Peritexte, nicht nur als Kommentare und damit Interpretationshilfen, sondern vielmehr in ihrem Status als jeweils das Buch stabilisierende oder destabilisierende rahmende Elemente, die somit zu den zu beschreibenden Schließungs- und Öffnungsbewegungen beitragen. Die Lektüre folgt also dem Prinzip einer ›buchimmanenten‹ Lektüre, insofern all jene textuellen Elemente in den Blick genommen werden, welche zum jeweiligen Verhältnis von konzeptuellem Buch und konzeptioneller Lektüre (als Konstruktion des idealen Buchs) beitragen. Die Materialität des Buchs kommt also genau dort und genau so in den Blick, wie ihre Beachtung vom jeweiligen Lektüreprogramm gefordert wird. Gegenüber einer textimmanenten Lektüre sieht sich diese ›buchimmanente Lektüre‹, wie ich sie nennen möchte, in der Tradition der französischen Intertextualitätstheorie etwa nach Julia Kristeva oder eben Gérard Genette. Bei Genette findet sich der entscheidende Hinweis auf die Rolle von Paratexten zur Stabilisierung und Destabilisierung der Unterscheidung Lektüre/Buch56 sowie die Perspektive auf die »Architextualität des Textes«57 , die eben in seinem Verhältnis zur Unterscheidung von Buch und Lektüre besteht. Julia Kristeva weist in ihrer Lektüre Bachtins auf die Ambivalenz von Texten, die im Schwanken zwischen einer eigenen Schreibweise und der Lektüre des gesamten literarischen Korpus

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Dies ist Vorgaben für den wissenschaftlichen Diskurs, aber auch und mehr noch den stilistischen Unzulänglichkeiten der Verfasserin zuzuschreiben. Zur Unterscheidung Metatext/Paratext vgl. Kap. 4.1 sowie Kap. 4.3 und Kap. 6.1. Dabei handelt es sich um Bücher, die in einer emphatischen Weise ihre eigene Geschlossenheit ausstellen, wie in Kapitel 2.1 erläutert und dann im Verlauf der Argumentation nachgewiesen wird. Vgl. die vorherigen Ausführungen zum Paratext. Genette: Palimpseste, S. 9.

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Lektüre als Form

besteht, hin.58 Mit der Intertextualität sind die folgenden Ausführungen also insofern verbunden, als ihnen ein Literaturkonzept zugrunde liegt, für welches das »Machen von Literatur […] in erster Linie Machen aus Literatur«59 bedeutet. Mir geht es dabei dann allerdings nicht um den Antwortcharakter der Texte auf konkrete andere Texte, sondern darum, die je spezifische Konstellation aus Schreibweise und Lektüre als Verhältnis zur imaginierten Buchförmigkeit des eigenen Texts in der Lektüre herauszustellen. In der deutschen literaturwissenschaftlichen Tradition sind insbesondere die Arbeiten Wolfgang Isers für den von mir gewählten Zugang zu den Texten Schlegels, Benjamins und Luhmanns wegweisend. Wie auch die Arbeiten der französischen Intertexualitätstheorie sind sie weniger als konkrete methodische Quellen relevant, als vielmehr als Vorarbeiten in Bezug auf die Perspektive, die sie auf literarische Texte einnehmen. Wolfgang Iser geht es, wie er im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung Der implizite Leser deutlich macht, um eine »Theorie literarischer Wirkung«, die auf den impliziten Leser als »im Text vorgezeichnete[n] Aktcharakter des Lesens«60 abstellt. Anders als Iser, der als Gegenstand des Lesens stets den Text betrachtet, wird als Gegenpol des Lesens im vorliegenden Kontext allerdings das Buch gewählt, da sich nur im Zusammenspiel von Buch und Lektüre die Gleichzeitigkeit von Öffnung und Schließung als Problematik stellt.61 Den hier bestehenden Unterschied zwischen Text und Buch betont auch Karlheinz Stierle, allerdings am emphatisch aufgeladenen und medial und historisch ebenfalls nicht kontextualisierten Begriff des Werks: Die ›Selbstversorgtheit‹ des Textes projiziert zugleich das Prinzip der Loslösung von der Unmittelbarkeit der Situation durch die Mittelbarkeit des ›selbstversorgten‹ Satzes auf die höhere Einheit, die die Abfolge der Sätze in einer freilich nicht mehr formal gesicherten Ordnung organisiert. Dies gilt aber insbesondere für jene Texte, die wir kraft ihrer Selbstbezüglichkeit und inneren Verweisungsdichte im eigentlichen Sinne als Werke bezeichnen. Das Werk erfüllt die Bestimmung des Texts zur Schrift, indem es so angelegt ist, daß es sich erst in wiederholten Lektüren eines Lesers wie in wiederholten Lektüren einer Folge von Lesern erschließt.62 Wie Stierle hier betont, ist das ›Werk‹ so angelegt, dass es sich durch die Öffnung in der Lektüre erst realisiert, insofern es dieser Öffnung eigene Schließungsfiguren entgegensetzt, in denen wiederum die Selbstbezüglichkeit und ›innere Verweisungsdichte‹ zum Tragen kommt. Diese ist, wie zu zeigen sein wird, auf das Medium der Druckschrift und die diesem eigentümliche Möglichkeit der Oszillation zwischen Lesen und Sehen63 58

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Vgl. Kristeva: Σημειοτικη, S. 149: »Le terme dʼ ambivalence implique l’insertion de l’histoire (de la société) dans le texte, et du texte dans l’histoire; pour l’écrivain ils sont une seule et même chose. Parlant de ›deux voies quie se joignent dans le récit‹, Bakthine a en vue l’écriture comme lecture du corpus littéraire antérieur, le texte comme absorption de et réplique à un autre texte […].« Lachmann: Intertextualität als Sinnkonstitution, S. 66. Iser: Der implizite Leser, S. 8-9. Zur Unmöglichkeit, das Buch einfach durch den Text zu ersetzen vgl. auch Möllers: Disziplinbegrenzung zwischen Historismus und Relevanzbedürfnis, S. 485-486. Stierle: Werk und Intertextualität, S. 140. Vgl. Valéry: Die beiden Tugenden eines Buchs, S. 467: »Wenn ich ein Buch aufschlage, so bietet es meinen Augen zwei sehr verschiedene Möglichkeiten, ihm etwas abzugewinnen. Das Buch kann sie anregen, sich einer regelmäßigen Bewegung zu bequemen, die eine Zeile entlang von Wort zu

1. Einleitung: Absolute Bücher und ihre Lektüren

angewiesen. Somit wird die emphatische Thematisierung der schriftlich induzierten Schließungsformen als ›Werk‹ medial und historisch konkretisiert und als abhängig vom biblionomen Zeitalter erkennbar. Dies zeichnet den Begriff des Buchs gegenüber dem Begriff des Werks aus, der – wie bereits gezeigt – gerade in der Adressierung des Kunstwerks als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium im Rahmen der systemtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft dazu neigt, die Materialität und Medialität dieser Schließungen zu verdecken.64 Ein weiterer Grund, das Buch anstelle des Iserschen Texts als Grundbegriff und Gegenbegriff zur Lektüre zu wählen, liegt in seiner Neutralität gegenüber der Vorstellung von Kommunikation. Anders als Iser, der den »literarischen Text […] unter der Vorentscheidung betrachtet, Kommunikation zu sein«65 geht es gerade auch um dasjenige,

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Wort weiterleitet, bei der nächsten Zeile, nach einem Sprung, der nicht zählt, von Neuem anhebt und derart fortschreitend eine Folge geistiger Verhaltensweisen auslöst, die alle darauf hinauslaufen, die sinnlich wahrgenommenen Zeichen jeweils aufzuheben zugunsten von Gedächtnisinhalten und deren Kombinationen. […] Das heißt man Lesen.« Valéry macht einerseits deutlich, dass diese Praxis des Lesens von der Druckschrift bedingt ist: »Die Lesbarkeit eines Textes beruht auf seiner Deutlichkeit für das Auge.« Andererseits verweist er darauf, dass gerade diese Deutlichkeit auch zur Wahrnehmung der ihr eigenen ästhetischen Qualität einlädt: »Neben der Lektüre selbst und unabhängig von ihr gibt es noch den bleibenden Gesamtaspekt alles Geschriebenen und Gedruckten. Eine Seite ist ein Bild. Sie liefert dem Auge einen Totaleindruck, bietet dem Auge ein Gefüge von schwarzen Flächen und weißen Leerräumen, einen Fleck von mehr oder minder glücklicher Gestalt und Überzeugungskraft. Diese zweite Art zu sehen, nicht mehr sukzessiv und linear fortschreitend wie bei der Lektüre, sondern als eine Zusammenschau auf den ersten Blick, gestattet uns, die Typographie in die Nähe der Architektur zu rücken, wie man vorher bei der Lektüre darauf verfallen konnte, sie mit der melodischen Musik zu vergleichen, und überhaupt mit allen Künsten, die sich in der Zeit vollziehen.« (S. 468) Torsten Hahn liest in seinem Aufsatz Schwarze Flächen und weiße Leerräume diesen Text von Valéry als Ausweis für »hochgradig literarische Formen der Literatur« (Manuskr., S. 1.). Schlegels Lucinde lässt sich als Versuch einer symmetrischen Verschaltung dieser beiden durch die Druckschrift eröffneten Modi der Literaturrezeption verstehen, welcher die Symmetrie dieser Modi darüber hinaus für die Sozialität von Literatur im Sinne des konzeptionell ›dialogischen‹ Lektüreprogramms in den Dienst nimmt. Vgl. dazu auch Binczek: Im Medium der Schrift, S. 7: »Im Kunst-Buch wird dem einzelnen Kunstwerk, der ›Entfaltung der Paradoxie‹, wie es dort heißt, eine herausragende Bedeutung zugewiesen. Nicht mehr die Codierleistung, sondern das einzelne, objekthaft verdichtete und wahrnehmbare Kunstwerk rückt nun ins funktionale Systemzentrum und sorgt für den kommunikativen Systemerhalt. Doch handelt sich Luhmann mit dieser Akzentverschiebung, die, wie noch herauszuarbeiten sein wird, systemtheoretischen Voraussetzungen radikal widerspricht und in eine ›gefährliche‹ Nähe zur Dekonstruktion tritt, kaum zu kontrollierende Folgeprobleme ein.« Iser: Der Akt des Lesens, S. 7.

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was dezidiert nicht Kommunikation66 ist oder sein will67 und damit die Geschlossenheit des Buchs gegenüber der Öffnung in der Lektüre gerade in der und durch die Lektüre bewahrt.

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Vgl. auch Luhmann, Fuchs: Reden und Schweigen, S. 9: »Die Thematisierung von Inkommunikabilität in der Kommunikation kann dann auch aufgefaßt werden als Indikator dafür, daß die Welt mitgeführt wird. Die andere Möglichkeit ist: das sich nicht mehr als Kommunikation verstanden wissen wollende (und doch immer wieder so verstandene und nur so verstehbare) Schweigen.« Den Unterschied zwischen (Buch-)Text und Kommunikation betont auch Dembeck; allerdings situiert er den Begriff Text auf der Seite des Werks und gerade nicht auf der Seite der Kommunikation und markiert so eine Differenz zu Iser. Vgl. Dembeck: Texte rahmen, S. 5-6: »Ein Buch, insofern es Text ist, entspricht nicht dem Gebrauch, den Kommunikation von ihm macht.« Das etwa visuelle Surplus des Texts gegenüber dem, was er kommuniziert, wird im Folgenden gerade, wenn auch in seiner Wechselwirkung zum tatsächlich kommunizierten Inhalt, zum Thema gemacht.

2. Lektüre als Form Daher mag es sich lohnen, mit so viel begrifflicher Strenge wie möglich zu erforschen, was passiert, wenn die Schrift zu einer Form der Kommunikation wird. Welches ist der Raum, der von dieser Form verletzt wird? Was wird unsichtbar, wenn man sie einführt? Und was sind ihre zwei Seiten? Luhmann: Die Form der Schrift, S. 407.

Wie oben angesprochen, bewegen sich die folgenden historischen Ausführungen auf einer sowohl der Qualität der Gegenstände wie auch ihrem Vergleich geschuldeten abstrakten Ebene. Die für den Vergleich zwischen historisch und systematisch so disparaten Büchern wie Schlegels Lucinde, Benjamins Über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik und Luhmanns Soziale Systeme notwendige Allgemeinheit und Distanz bieten der Begriff der Lektüre und der Begriff der Form sowie die beiden auf den Zusammenhang von Form und Lektüre bezogenen historisch situierbaren Begriffe der Arabeske und des Ornaments. Im Folgenden charakterisiere ich zunächst die Pole von Lektüre und Form in ihrem Changieren zwischen Analyse- und Gegenstandsbegriff und gehe dann auf die unterschiedlichen Konzepte von Arabeske und Ornament ein, die – so meine These – die jeweilige historische Konfiguration von Lektüre als Form versinnbildlichen können. In Bezug auf die Pole Form und Lektüre werde ich insbesondere ihr Verhältnis zur oben eingeführten Differenzierung zwischen Gesprächs- und Informationsparadigma und damit ihre Situierung innerhalb der Oppositionspaare Reden/Schweigen und Signal/Rauschen klären. Die Pole Lektüre und Form stehen insofern quer zu diesen paradigmatischen Oppositionspaaren, als sie nicht dem einen oder anderen zuzuordnen sind, sondern verschiedene Manifestationen oder Übersetzungsstadien darstellen. Während die Kategorie der ›Lektüre‹ als textexternes Beschreibungsinstrument dazu dient, die Rede von der »Selbstreferenz des Textes«1 medial und materiell zu konkre-

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Nassehi: Kommunikation verstehen, S. 151.

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Lektüre als Form

tisieren2 , ist ›Form‹ der Begriff, der in den hier analysierten Texten selbst vorkommt. Im Begriff der Form kondensieren sowohl implizite Lektüreprogramme als auch deren Reflexion und daran anschließend der Versuch der Schließung künftiger Lektüren des eigenen Texts in Form einer Imagination idealer Lektüren, die zugleich unbegrifflich und begrifflich abläuft. Der Titel Lektüre als Form steht also ein für die Verbindung zweier theoretischer Perspektiven. Mit der Seite der Form ist eine begriffliche Herangehensweise adressiert, insofern es mir hier um den Formbegriff, seinen Gegenstandsbereich und seinen Funktionswandel innerhalb der Texte selbst geht. Mit dem Pol Lektüre bzw. mit der Unterscheidung von Lektüre und Buch ist eine mediengeschichtliche Problemstellung angesprochen. Hier interessiert die konkrete, am Buch materialisierte Lektürepraxis, bis hin zu ihren Hilfsapparaturen (vgl. Kap. 3). Zwischen diesen beiden methodischen Richtungen existiert keine Hierarchie. Vielmehr werden beide Perspektiven miteinander verschaltet und so die Zusammenhänge zwischen den (Form)begriffen und der konkreten Lektürepraxis und -imagination in ihrem Bezug zur Buchförmigkeit aufgewiesen. Die jeweiligen Lektüreimaginationen konkretisieren die Reflexion und Performanz von Buchförmigkeit und manifestieren sich als Lektüreprogramme im Text. Es gilt insofern am Formbegriff zu zeigen, wie die Praxis und Reflexion von Lektüre die Erscheinung von Texten und ihre Begrifflichkeiten prägt, und umgekehrt. Damit geht es mir auch darum, die in der post-Luhmannschen Medientheorie oder Soziologie üblichen begrifflichen Anleihen, etwa an naturwissenschaftlichen Theoriebildungen wie der Kybernetik und der Informationstheorie, nicht unkritisch in ihrer Vormachtstellung als Großparadigmen zu belassen3 , sondern vielmehr Analogien mit einer unter dem Etikett der Hermeneutik oft vorschnell als überkommen und altmodisch gebrandmarkten Reflexion von Lektüre und Buchförmigkeit herauszustellen. Gerade abstrakte, der Kybernetik oder Informationstheorie entnommene, Begrifflichkeiten wie der Begriff der Form und 2

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Ein anderer Versuch, die Selbstreferenz des Texts zu konkretisieren, findet sich etwa bei Sylvia Sasse in ihrem Aufsatz zum »theoretischen Akt«, welcher modernen Kunstwerken eigen sei. Hier heißt es: »Nur so – möchte ich vorschlagen – lässt sich die Rede von der Selbstreferentialität künstlerischer Werke weiterdenken. Die Werke verweisen dann nicht mehr bloß auf sich selbst als Gemachte, als Kunstwerke, sondern der Akt dieses Verweisens rückt als Teil der künstlerischen Tätigkeit deutlicher in den Mittelpunkt, da er gerade die theoretische Tätigkeit kennzeichnet. Es reicht dann nicht mehr, wie das so oft passiert, von einer bloßen Selbstreferentialität zu sprechen, denn diese sagt ja nichts als sich selbst aus, verkommt mitunter sogar zur Pose. Vielmehr muss man den Akt des Auf-sich-selbst-als Kunst-Verweisens als Praxis bzw. als Verfahren, als eine implizite theoretische Leistung von Kunst begreifen und analysieren.« (Sasse: Der theoretische Akt, S. 123). In diesem Akt des Auf-sich-selbst-als Kunst-Verweisens erkenne ich die Lektüre, die der Unterscheidung Theorie/Literatur, wie zu zeigen sein wird, immer schon vorgängig ist. So etwa am Beginn der Diskussion der Fruchtbarkeit von systemtheoretischen Überlegungen für die Hermeneutik, wo die »Anwendbarkeit systemtheoretischer Positionen auf die Textinterpretation« (de Berg, Prangel: Vorbemerkung, S. 7.) im Vordergrund stand, und nicht etwa die selbst auf Interpretation basierende Vorgehensweise der Systemtheorie. Diese wird von Sutter (in Sutter [Hg.]: Beobachtung verstehen, Verstehen beobachten) von einigen Beiträgerinnen und Beiträgern diskutiert, allerdings dann immer unter dem Paradigma des ›Verstehens‹ oder eben des ›Beobachtens‹, nie des ›Lesens‹ – selbst dort, wo offen eingestanden wird, dass der einzige Gegenstand des systemtheoretischen Beobachtens/Verstehens schriftliche Texte sein können (vgl. Nassehi: Kommunikation verstehen).

2. Lektüre als Form

dessen Funktionsweise in den Texten sind meines Erachtens nicht unabhängig von Lektüre und Buchförmigkeit zu betrachten. Wenn zunächst die Implikationen des Begriffs der Lektüre, anschließend diejenigen des Formbegriffs explizit gemacht werden, so ergibt sich hier eine eigentümliche Dopplung, die gerade der Intention der Untersuchung entspricht. Ziel der Analyse, die durch die beiden Pole und damit gekoppelten Begriffe geleistet wird, ist es, eine grundlegende Homologie zwischen spezifischer Praxis der Lektüre, der textinternen Imagination von idealer Lektüre und jeweiliger Konfiguration des Formbegriffs aufzuweisen. Insofern streben die beiden folgenden Unterkapitel danach, auf der abstrakten Ebene ebenjene Homologie nachzubilden, welche die folgende Analyse für das Wirken von Lektüre und Buchförmigkeit sowie das Wirken des Formbegriffs in den Texten Schlegels, Benjamins und Luhmanns aufspürt. Wenn die folgenden Bemerkungen zur Lektüre und zur Form sich also teilweise überlappen oder ähnliche Sachverhalte noch einmal aufnehmen, so ist das dem Umstand geschuldet, dass es sich bei den beiden Begriffen um unterschiedliche Perspektiven handelt, deren Gleichförmigkeit aber gerade erwiesen werden soll. Auch die Argumentation dieser Arbeit verläuft nicht linear fortschreitend, sondern vielmehr – um einen zentralen Begriff Schlegels aufzugreifen – ›cyklisch‹.

2.1.

Lektüre

In Niklas Luhmanns Buch Die Kunst der Gesellschaft findet sich der Gedanke, Kunst sei eine Art von Parallelkommunikation, die neben Sprache und Schrift existiere – auch und gerade, wenn es um Literatur geht: Auch Kunst ist ein funktionales Äquivalent zu Sprache; und dies auch dann, wie hier nur provisorisch schon angemerkt werden soll, wenn sie Sprachtexte als Medium für Kunstwerke verwendet. Sie funktioniert als Kommunikation, obwohl, ja weil sie durch Worte (von Begriffen ganz zu schweigen), nicht adäquat wiedergegeben werden kann. (KdG, S. 36) Für diese Einschätzung von Literatur als eigenständige Kommunikationsform reklamiert Luhmann Friedrich Schlegel als Gewährsmann: »Auch Poesie solle man als Kunst behandeln, meint Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie […]; aber offenbar ist diese Ansicht so wenig selbstverständlich, daß eigens dazu aufgefordert werden muss.« (KdG, S. 45, Anm. 48) Die Versuche, das zu definieren, was hier in Bezug auf Literatur mit ›Kunst‹ apostrophiert ist, sind so alt wie die Literatur selbst. Ich werde einen Weg erproben, der die Annahme einer zu Sprache und Schrift parallelen Kommunikationsform gerade in deren Materialität lokalisiert: in einer Buchförmigkeit, die die Schriftlichkeit als Nichtschriftlichkeit in jeweils unterschiedlicher Weise überformt, und die sich in der Lektüre beweisen muss. Das Beharren auf dem Buch dient dazu, den Begriff der Lektüre einzuschränken, insofern er historisch und medial kontextualisiert wird. Lesen bedeutet

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Lektüre als Form

immer Lesen »›in‹ Medien«4 , und das »Medium der Lektüre«5 um das es gehen soll, ist das gedruckte Buch. Lesen heißt »nicht mehr, lexikalisch-syntaktisch-semantische Entzifferungsarbeit leisten, sondern die Genese [der] Texte nachvollziehen«6 . Der Begriff Lektüre verweist also immer schon auf das Oppositionspaar Lektüre/Buch7 : »Im Akt des Lesens nimmt der Leser eine persönliche Beziehung zum Buch auf.«8 Was hier als Lektüre bezeichnet wird, ist das Sich-ins-Verhältnis-Setzen zum Buch als Form innerhalb einer Begegnung mit dem Buch als Medium.9 Auch und gerade in der Ablehnung der Form des Buchs tritt es als Medium in die Lektüre ein, insofern es sie in ihrer spezifischen Ausprägung erst ermöglicht. Dies zeigt das eingangs geschilderte materiell inexistente Livre Mallarmés, das dennoch zahlreiche Lektüren als Buch inspiriert hat. Derrida trägt dieser Insistenz des Buchs mit der bewusst paradoxen Formulierung »Dies hier (also) wird kein Buch gewesen sein«10 Rechnung. So leitet er sein eigenes, in Bezug auf das Buch als Rahmen bereits zitiertes, Buch über Dissemination ein. Derridas Formulierung bringt die implizite Konzeption von Buchförmigkeit auf den Punkt. Die Form Buch und die Lektüre, welche diese ermöglicht, ist auch und gerade in der bewussten Ablehnung derselben, zunächst als Medium, in der Reflexion dann aber wiederum als Form omnipräsent. Jegliche Selbstreflexion des eigenen buchförmigen Schreibens hat als Schließungsfigur »strategische Funktion«11 . Sie konstituiert ein spezifisches Lektüreprogramm und ist so direkt auf die den Text strukturierenden zentralen Begrifflichkeiten bezogen. Die Bücher Schlegels, Benjamins und Luhmanns sind insofern in einem emphatischen Sinne Gegenstand der Lektüre, als ihre Buchförmigkeit nicht als kontingenter Umstand angesehen wird, sondern die in ihnen explizit und implizit verhandelten Imaginationen von Buchförmigkeit und Lektüre als spezifische Formen von Öffnung und Schließung in den Blick genommen werden. Im Zeitalter des Buchdrucks ist die Buchförmigkeit nicht als materiell fassbare Autorität einer auratischen Quelle, sondern vielmehr als abstrakte Konzeption zu rekonstruieren, die sich gerade in der (allgegenwärtigen) Lektüre behaupten muss.12 Frühromantische 4 5 6

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Stanitzek: Transkribieren. Medien/Lektüre, S. 7. Ebd. Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 111. Kristeva bezieht sich hier eher auf Mallarmé als auf die deutsche Frühromantik, allerdings passt ihr Konzept des Lesens gut zu dem in der Frühromantik entwickelten. Die Verbindung zwischen konzeptueller Buchform, materiellem Buchformat und dem jeweiligen Adressaten ist insofern sehr viel enger als etwa die zwischen Buchform, Buchformat und Autor, vgl. Rautenberg, Wetzel: Buch, S. 6: »Während der Autor in der Buchkommunikation abwesend ist, vollzieht sich die Aneignung durch den Adressaten in enger Beziehung zum medialen Träger. […]«. Rautenberg, Wetzel: Buch, S. 7. Vgl. zum Buch als Medium und Form Stanitzek: Buch: Medium und Form. Anders als Stanitzek verwende ich die Unterscheidung nicht für die Paratexte, also das materielle Buch, sondern für die Konzeption des Buchs als Schließung von Lektüre. Siehe außerdem die Ausführungen in der Einleitung und die hier bereits erfolgte Differenzierung der verschiedenen Buchbegriffe Medium, Form und Format. Derrida: Dissemination, S. 11. Ebd., S. 12. Das Wissen um die »Konstituierung des Textes durch den Leser« (Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ›inneren Geschichte‹ des Lesens, S. 6) lässt sich also als Wissen um die Konstituierung

2. Lektüre als Form

Texte und somit auch frühromantische Bücher sind ebensolche expliziten Dokumente und Performanzen einer umfassenden Reflexion von Lektüre im Zeitalter des Buchdrucks.13 Gleichermaßen reflektiert Luhmanns Entwurf einer Gesellschaftstheorie in hohem Maße auf die Vermittlung von Öffnung und Schließung, verdeckt jedoch in der offiziellen Theoriearchitektur den dieser Vermittlung eingeschriebenen medialen und materiellen Aspekt einer Kommunikation mit Büchern. Schlegel, Benjamin und Luhmann sind außerdem in besonderem Maße lesende Autoren, zum einen quantitativ, insofern alle drei ein ungewöhnlich hohes Lesepensum aufweisen, das in biographischen Rekonstruktionen immer wieder zum Thema gemacht wird (vgl. Kap. 3), zum anderen qualitativ, insofern die Reflexion auf das eigene und fremde Lesen der Text- und insbesondere der Begriffsarbeit eingeschrieben ist. Lesen bedeutet für die hier behandelten Autoren immer ein »aktives Aneignen des Textes, als ein In-Besitz-Nehmen, das […] in ein Ab- und Weiterschreiben mündet«14 . Die in den Texten der Autoren präsenten Begriffe speisen sich aus Lektüre und referieren insofern auf die Welt der Bücher, sind aber gleichzeitig formiert als prospektive Schließungsfiguren von zukünftiger Lektüre. Alle maßgeblichen Begriffe Schlegels wie auch Luhmanns sind auf jeweils spezifische Art und Weise gelesene und zu lesende Begriffe, und der paradigmatische Begriff, der diese beiden Seiten der Begriffsarbeit zusammenfasst und gleichzeitig den Wechsel zwischen ihnen erlaubt, ist der Begriff der Form, wie er in seiner Ambivalenz zwischen symmetrischer und prozessualer Fassung bei Walter Benjamin in der Lektüre der Frühromantik aufscheint. Die Reflexion von eigener und fremder Lektüre beeinflusst das Schreiben, insofern diesem die Antizipation der Fremdlektüre des eigenen Texts als gedrucktes Buch eingeschrieben ist:

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des Buchs durch den Leser reformulieren. Dieses wiederum resultiert in einer buchbewussten »Leserlenkung« (S. 6), nicht nur durch den Text, sondern durch das Buch. Steffen Martus bezeichnet diese literaturgeschichtliche Periode als »Geschichte des Schreibens unter Bedingungen der Kritik als Vorgabe für den Umgang mit Werken« (Werkpolitik, S. 5). Martus führt dies weiter aus (vgl. S. 5-6): »Zum einen meint kritische Kommunikation, daß Werke u.a. im Blick auf ihre Kritik geschrieben werden und daß diese Kritik selbst wiederum unter Bedingungen Kritik höherer Stufe steht; zum anderen meint ›kritische Kommunikation‹, daß sich mit dem Problem des Schreibens unter Bedingungen von Kritik für Teilnehmer oder Beobachter bisweilen der Eindruck einer krisenhaften und in diesem Sinn ›kritischen‹ Situation einstellt.« Im Verlauf der folgenden Argumentation ist insbesondere der erste Aspekt von Belang, insofern er ebenfalls auf die Programmierung von Lektüre hindeutet. Paefgen: Schreiben und Lesen, S. 11. Bei dieser Arbeit handelt es sich meines Erachtens um die einzige Arbeit, die konsequent die Verknüpfung von literarischem Lesen und Schreiben in den Blick nimmt, allerdings aus einer didaktisch orientierten Perspektive, die sich daher von der hier gewählten Perspektive deutlich unterscheidet. Vgl. S. 10: »Die hier vorgelegte Arbeit ist eine didaktische, die sich – theoretisch und praktisch – mit dem Lehren und Lernen literarischer Schreibformen auseinandersetzt und die Frage verfolgt, wie das Lesen ästhetischer Texte in ein ästhetisches Schreiben überführt werden und ob diese schreibende Fortsetzung eine begründete Funktion innerhalb des Literaturunterrichts gewinnen kann.« Als weitere Arbeit, die sich allerdings nicht systematischen Aspekten, sondern allein dem Werk Marcel Prousts widmet, soll Roloff: Werk und Lektüre genannt werden, der das Verhältnis von »Werk und Lektüre« (S. 7) für Proust in den Blick nimmt und aufweist, dass eine »Ästhetik der Lektüre, die Erzählweise, Komposition und Stil des Romans in einer grundlegenden Weise beeinflußt« (S. 9).

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Überall, wo es ein Bezugssystem gibt, das Ordnung stiftet, wo es ein Gedächtnis gibt, das überliefert, wo die Schrift sich in der Substanz einer Spur sammelt, die die Lektüre im Licht eines Sinns betrachtet (sie auf einen Ursprung beziehend, dessen Anzeichen die Spur wäre), wenn die Leere selbst zu einer Struktur gehört und sich einpassen läßt, dann gibt es das Buch: das Gesetz des Buches.15 Anders als etwa Roger Chartier behauptet, schreiben Autoren also durchaus Bücher16 – wenn nicht im materiellen, so doch im konzeptuellen Sinn – insofern sie dieses Gesetz des Buchs17 befolgen. Das Vorwort zu Luhmanns Soziale Systeme reflektiert über Abstraktion als »Problem beim Schreiben von Büchern« (SoSy, S. 13); Schlegels Lucinde soll, wie in den Ideen des Athenäums festgehalten, nichts weniger als die »Idee eines unendlichen Buchs« realisieren und damit »Bibel, Buch schlechthin, absolutes Buch« sein (KFSA II, S. 265, Fragment 95). Im Zeitalter des reflektierten Buchdrucks – also seit der Zeit Schlegels, in der »aus vielen Stellen […] ein einheitliches Werk, aus vielen Figuren ein einheitlicher Stil«18 wurde – schreiben Autoren »an der Grenze des Buchs«19 . Die prospektive Lektüre des eigenen Texts, und damit die Form des Buchs und der Umgang mit ihr, schreibt sich in den Text ein und manifestiert sich in Schließungbewegungen eben jener prospektiv imaginierten zukünftigen Lektüre20 : »Der Geist des Schriftstellers betrachtet sich in dem Spiegel, den die Druckerpresse ihm liefert.«21 Die »Wunschbilder ›richtigen‹ Umgangs mit Literatur«22 sind Teil dieser Schließungsbewegungen; die vorliegende Analyse erschöpft sich aber nicht im Aufweis ihres Vorhandenseins, sondern will vielmehr den Zusammenhang zwischen diesen explizit entworfenen Ideallektüren und den implizit und insbesondere begrifflich ablaufenden Schließungsbewegungen, insbesondere am Formbegriff, in den Blick nehmen. Der hier medienhistorisch situierte Zusammenhang Buch/Lektüre dient für die folgende Untersuchung des Formbegriffs zwischen Frühromantik und Systemtheorie als Leitunterscheidung23 , die diverse andere Unterscheidungen unterläuft. In Bezug auf den Pol Buch sind diese anderen Unterscheidungen diejenigen der ›Genres‹ Theorie und

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Blanchot: Die Buchabwesenheit, S. 14. Vgl. Chartier: Lesewelten, S. 12: »Autoren schreiben keine Bücher – nein, sie schreiben Texte, die zu gedruckten Objekten werden.« Genau das ist mit dem Begriff des biblionomen Zeitalters gemeint, vgl. Penke, Werber: Medien der Literatur. Die Autoren sprechen für die Literatur der Moderne von einem »für die Literatur nach wie vor zentralen Raum biblionomer Medialität«, den es historisch und systematisch zu ermessen gelte (vgl. S. 371). Kittler: Ein Höhlengleichnis der Moderne, S. 206. Blanchot: Die Buchabwesenheit, S. 17. Es ist üblich, solche prospektiven Imaginationen der Lektüre eigener Texte verallgemeinernd als selbstreferentiell zu qualifizieren. Insofern lässt sich diese Arbeit auch als verkomplizierender Kommentar zur allgemeinen Weisheit verstehen, ›moderne‹ (literarische) Texte seien ›selbstreferentiell‹. Valéry: Die beiden Tugenden des Buchs, S. 461. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 319. Eine ähnliche Konzeption von Lektüre scheint auch Rita M. Lennartzʼ Studie zur Inszenierung der Lektüre in Brentanos Godwi zugrunde zu liegen, insofern sie Lektüre als »Verbleiben der Leser innerhalb des anziehend rot umfaßten Buchraums« (S. 302) begreift. Dieses Verhältnis wird dort aber nicht expliziert.

2. Lektüre als Form

Literatur, in Bezug auf den Pol Lektüre die Unterscheidung zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion.24 Die im Weiteren angestellte Analyse ist also nicht dazu geeignet, zu entscheiden, ob etwa Luhmann oder Schlegel nun Theorieautoren oder literarische Autoren sind25 , oder ob in ihren Texten eine eher hermeneutische oder eher dekonstruktive Lesart von anderen und eigenen Texten gepflegt wird.26 Es geht darum, in der Funktionalität der Begrifflichkeiten die Reflexion von Lektüre und damit die Reflexion des eigenen Texts als Buch zu entdecken. Die Buchförmigkeit des eigenen Schreibens und der Versuch eines bewussten Umgangs mit dieser Buchförmigkeit als Schließung wird als prägend für die Begriffe, insbesondere für den Formbegriff, erwiesen. Es geht mir also jeweils um die in den Texten präsente Imagination des Wie der Lektüre (als Öffnung) bzw. des Wie des Buchs (als Schließung). Darin lässt sich die von Wellberry beschriebene literarische Intentionalität wiedererkennen, die in diesem Sinne literarische Sätze als »binnengesättigt mit Intentionalität«27 begreift, und gerade darin ihre Form lokalisiert.28 Diese spezifischen Intentionalitäten werden in der vorliegenden Arbeit als Konzeptionen von Buchförmigkeit begriffen, die sich in den Sätzen wie auch in den Begriffen manifestieren und insbesondere in der jeweiligen Figuration des Formbegriffs sichtbar werden. Anders als etwa Roland Barthes will ich dabei nicht das eine

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Vgl. in Bezug auf die Frühromantik den Sammelband Krisen des Verstehens um 1800. In der Einleitung von Harald Nehr mit dem Titel Ein schweigender Hermes heißt es: »Neben den spezifischen Wissenschaftstheorien des Verstehens, die sich ›Hermeneutik‹ nennen, existieren zeitgleich nicht wenige implizite Verstehenstheorien. In den Schriften der deutschen Romantiker offenbart sich ein bis heute nicht systematisch erfaßter Nexus von Fragestellungen das Verstehen betreffend, den es gälte, auf die philosophische Hermeneutik zu beziehen (und umgekehrt).« Siehe dazu etwa Sloterdijk: Luhmann, Anwalt des Teufels, S. 92: »Luhmann ist darum – wie immer seine Einwände gegen die Idee der Autorschaft gelautet haben mögen – ein Autor im präzisen Sinn des Wortes, weil er sich einen Namen gemacht hat als ein Vermehrer des vor ihm erreichten Bestands der Kunst.« Damit ist die Sinnhaftigkeit dieser Zuschreibungen keineswegs in Frage gestellt. Vielmehr kann mit der Opposition von Lektüre und Buch eine Vergleichsmöglichkeit eröffnet werden, die unterhalb dieser Großunterscheidungen verläuft und daher andere Aspekte des Schreibens in den Blick nimmt. Schlegels Text Über die Unverständlichkeit, der von Vertretern wie Gegnern des DekonstruktionsVerdachts immer wieder angeführt wird, werde ich also – parallel zu Luhmanns Aufsatz Unverständliche Wissenschaft, der bis hin zu einzelnen Formulierungen verblüffend ähnlich gebaut ist – als umfassende Reflexion von fremder Lektüre der eigenen Texte und darauf aufbauend von Lektüre als Prozess überhaupt beschreiben. Insofern steht die Wahl der Operation ›Lesen‹ auch quer zur »Unterscheidung von Verstehen und Beobachten« (Sutter: Einleitung. Beobachtung verstehen, S. 12), die im Kontext der Diskussion um die Verbindung von hermeneutischen und soziologischen Fragestellungen eine Rolle gespielt hat. Wellberry: Selbstbezüglichkeit und Ursprünglichkeit der Form, S. 187. Wellberry weist darauf hin, dass alle literarischen Sätze primär ›sich selbst sagen wollen‹, und dass die Reduktion dieser Selbstbezüglichkeit der Literatur keineswegs auf die Thematisierung von Sprache eingegrenzt werden kann, noch auf die Festlegung eines einheitlichen Sinns. Vielmehr ließe sich darin eine, so Wellberry, Thematisierung der »Vollzugsform literarischer Erfahrung« erkennen. Mit dieser Vollzugsform literarischer Erfahrung identifiziere ich die Doppelung von Buch und Lektüre – Wellberry bezieht diese im Aufsatz zunächst ausschließlich auf den Formbegriff. (Vgl. dazu ausführlicher die Ausführungen bei Wellberry: Selbstbezüglichkeit und Ursprünglichkeit der Form, S. 186-189.)

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Buch als geschlossenes (nur lesbares), das andere hingegen als offenes (schreibbares)29 entlarven, sondern vielmehr die jeweiligen Modi des Verhältnisses von Öffnung und Schließung in ihrer Analogie und Differenz bestimmen.30 Wie zu zeigen sein wird, ist sowohl für Schlegels als auch für Luhmanns Schreiben ebenjener von Mallarmé ex negativo realisierte Traum eines ›Superbuchs‹31 , also eines Buchs der Bücher, bestimmend. Die frühromantische ›Bibel‹, als »Ideal jedweden Buchs« (NS IV, S. 262-263) gemeinsames Projekt Novalisʼ und Schlegels32 , zeigt sich dabei gemäß einem zirkulären Muster gleichzeitig als »Keim aller Bücher« (NS III, S. 363) und als »vollständige – gutgeordnete Bibliothek – Das Schema der Bibel ist zugleich das Schema der Bibliothek« (NS III, S. 365), steht also am Anfang und am Ende jeglicher Buchproduktion. Alle klassischen Gedichte der Alten hängen zusammen, unzertrennlich, bilden ein organisches Ganzes, sind richtig angesehen nur Ein Gedicht, das einzige in welchem die Dichtkunst selbst vollkommen erscheint. Auf eine ähnliche Weise sollen in der vollkommnen Literatur alle Bücher nur Ein Buch sein, und in einem solchen ewig werdenden Buche wird das Evangelium der Menschheit und der Bildung offenbart werden. (KFSA II, S. 265, Fragment 95) Gegenüber dieser religiös codierten Verabsolutierung der Bibel als »Geist des Buches«33 nimmt sich das Vorwort zu Luhmanns Buch Soziale Systeme deutlich bescheidener aus. Luhmann spricht hier davon, sein Buch könne auch »in anderen Sequenzen dargestellt werden« und sogar »die Auswahl der Begriffe, die als Themen für Kapitel hervorgehoben werden« (SoSy, 14) sei kontingent. Die Differenz zwischen Novalisʼ und Schlegels Ausdrucksweise und Luhmanns Formulierung ist allerdings nicht im Grad der Selbstüberschätzung zu suchen. Während das Schema in Novalisʼ Formulierung ein »reales und ideales Muster« (NS III, S. 363) darstellt, damit die »Äquivalenz von Buch und Welt«34 hervorbringt und somit die ganze Welt lesbar macht, ist bei Luhmann das absolute Buch gerade nicht dasjenige, welches die Fülle der Welt enthält, sondern dasjenige, welches die nur ungeschrieben zu wahrende Struktur aller möglichen Bücher darstellt, und damit entweder – wie bei Mallarmé – am besten gar nicht mehr geschrieben werden sollte, oder zu einem Buch wird, »das sich selbst jeden Tag neu schreibt«35 . Für

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Vgl. dazu Barthes: S/Z. Ebenfalls anders als Barthes ordne ich nicht dem Lesen die Schließung zu, sondern zunächst einmal die Öffnung, die dann aber im Sinne der Lektüreprogramme eine erneute Schließung leisten muss. Dies ist darin begründet, dass sich meine Opposition nicht auf die Gegenüberstellung von lesbar und schreibbar, sondern vielmehr von Lektüre und Buch konzentriert, die quer zur Unterscheidung von Lesen und Schreiben steht. Ich verstehe daher das Lesen als das Prozessuale, das Buch dagegen als das Gegenständliche. Die Formulierung des ›Superbuchs‹ habe ich in bewusster Analogie zu Luhmanns Definition von seiner Theorie als ›Supertheorie‹ gewählt, vgl. etwa SoSy, S. 17. Wie auch in Bezug auf Schlegel, wo ich den Begriff des Romans durch das Buch ersetze, ersetze ich bei Luhmann den Genrebegriff der ›Theorie‹ durch sein gleichermaßen materielles wie konzeptionelles Medium. Zum weiteren Kreis gehören zumindest in Novalisʼ Einschätzung noch Tieck und Schleiermacher. Vgl. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 240. Blanchot: Die Buchabwesenheit, S. 17. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 254. De Giorgi: Niklas Luhmann. Die Zukunft des Gedächtnisses, S. 33.

2. Lektüre als Form

Schlegel lässt sich von einer Emphase der sozial eingebetteten Medialität und Materialität von Öffnung und Schließung sprechen, welche das Verhältnis von Lektüre und Buch als stellvertretend für ein produktives Verhältnis zur Welt insgesamt und im Sinne von Religiosität als paradigmatische soziale Praxis begreift. Bei Luhmann ist die konkrete Materialität von Lektüre und Buch ein zwar notwendiger36 , aber gleichzeitig problematischer Aspekt der eigentlich reinen Theoriearbeit. Die Crux für Luhmann besteht darin, die »polyzentrische Theorie« einer »azentrisch konzipierten Gesellschaft« (SoSy, S. 14) dennoch als Buch schreiben zu müssen und damit der Öffnungsbewegung der Lektüre auszusetzen: »Das Buch muß zwar in der Kapitelsequenz gelesen werden, aber nur, weil es so geschrieben ist.« Die Lösung für das Problem ist die Trennung von »Theorieform und Darstellungsform« (SoSy, S. 14), also die Erfindung eines imaginären Buchs vor und hinter dem tatsächlich geschriebenen Buch. Der implizite Anspruch an den Leser ist bei Schlegel wie Luhmann klar: er wird zum integralen Bestandteil der Schließungsbewegung gemacht. In der Lektüre vollzieht sich erst die Schließung der konzeptuellen Buchförmigkeit. Die jeweiligen Imaginationen der idealen Lektüre für das eigene Buch sind als solche Spiegelung des Buchs im Buch und damit als Strategien der Schließung zu verstehen. Die hier entfalteten Unterschiede in der Konzeption von Buchförmigkeit finden sich bereits in einem Essay von Jeffrey Schnapp und Adam Michaels angedeutet. Diese stellen für den Beginn des 20. Jahrhunderts zwei konträre Konzeptionen des Buchs einander gegenüber: The twentieth century was launched under the aegis of two total concepts of the book. The first is distant from the noisy, news-edged world of INVENTORY BOOKS. It was articulated by the symbolist poet Stéphane Mallarmé in his essay ›The Book, A spiritual instrument.‹ It dreamed of the entire universe flowing into a single total book: a book both material and metaphysical, in time and outside time, that would fulfill and transcend the revolution inaugurated by Johannes Gutenberg. The second brings us closer to the world of electric information age books. It was embraced by early avant-gardes such as futurism and dreamed of an exploded, porous book whose every page could become an all-comprehending theater of the future and a staging ground for ever-surprising futures. László Moholy-Nagy is but one early Theorist of this Book of the Now.37 Schnapp und Michaels postulieren diese zwei sich gegenüberstehenden Versionen von Buchförmigkeit für das 20. Jahrhundert. Sie konzentrieren sich in dieser Gegenüberstellung auf Texte, die explizit das (ideale) Buch zum Thema haben, dieses aber selbst 36

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Vgl. auch Zanetti: Auratische Theorie, S. 75: »Das Erklärungspotenzial einer Theorie ergibt sich nie nur aus dem, was in oder mit ihr gedacht wird, sondern immer auch daraus, wie dies geschieht. Im Falle von Theorien ist dieses Wie wiederum notwendig auf zeichenhafte Vermittlung angewiesen. Das aber heißt, dass Theorien immer zugleich eine sinnlich wahrnehmbare (medial-materielle) Seite und eine mit ihr oder durch sie hindurch zur Darstellung gebrachte immaterielle Seite aufweisen.« Auch für Luhmann ist die Perspektive des Wie zentral; allerdings wendet er sich ihr im Begriff der Beobachtung zweiter Ordnung gerade nicht aus der Perspektive von Medialität, sondern aus der Perspektive von ›reiner‹ Begrifflichkeit, nämlich in Bezug auf Unterscheidungen, zu. Schnapp, Michaels: The Electric Information Age Book, S. 30.

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nicht performativ einlösen. Die Einlösung der zweiten Art von Buchförmigkeit, die mit Moholy-Nagy und den Surrealisten assoziiert wird, finden Schnapp und Michaels in einer Serie aus »small, inexpensive paperbacks [that] brought the ideas of contemporary thinkers to the masses and established a distinctive new graphics-rich, montage-based genre of bookmaking«38 , die ihren Ausgangspunkt in der 1967 veröffentlichten, von Jerome Angel und Quentin Fiore herausgegebenen Ausgabe von McLuhans Buch The Medium is the Massage hat. Das Gegenbild zum Book of the Now, das Buch, welches bei Mallarmé die gesamte Welt umfassen soll, wird in der weiteren Studie, die sich insbesondere dem materiellen Aspekt von Büchern, ihrer (typo)graphische Gestaltung, widmet, nicht weiter beachtet. Im Folgenden geht es allerdings genau um die von Schnapp und Michaels nur angerissene Gegenüberstellung dieser beiden Konzeptionen von Buchförmigkeit als ideale Konzeption von Büchern in Bezug auf die in ihnen imaginierten Öffnungs- und Schließungsmodi. In der Betrachtung der Bücher Schlegels, Benjamins und Luhmanns konzentriere ich mich zwar auch auf die tatsächliche graphische und materielle Gestalt der Bücher, weise das Interesse hierfür aber als Aspekt eines übergreifenden Gegensatzes von abstrakten Buchkonzeptionen39 als jeweils besonderen Schließungsfiguren aus. Der Unterschied zwischen einem ›welthaltigen‹ gegenüber einem informationstheoretischen Buch betrifft also nicht nur die jeweilige Materialität, sondern die spezifischen Lektüreprogramme, die dann erst das Interesse oder Nichtinteresse für die Materialität des Buchs vorgeben. So enthüllt sich die ›Transkriptivität‹40 in Schlegels und Luhmanns Schreiben als Bezugnahme auf die Lektüre anderer Bücher, aber mehr noch als prospektive Imagination von idealer Lektüre; als deren Programmierung41 . Diese Pro38 39

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Ebd., Rückenumschlag. Dass es unabhängig von allen historisch konkreten Materialisierungen des Buchs einen abstrakten Kern in der Konzeptionierung des Buchs gibt, betont auch Sussmann: Around the Book, S. 1-2: »Yet there is some persistent core (or binding) to the book, and its storied history holds on. Might this tenacious trunk or tree-line of the book be material? Perceptual? Cognitive? Textual? Whatever its exact nature, the book persists, through all the medium’s technological updatings, through all the theologico-political regimes in which it appears, each with a distinctive ideology of representation, information, communication, and archiving.« Die Konzeption des Buchs verändert sich aber im Zusammenhang mit der ›Ideologie‹ der Information und Kommunikation. Mit dem Begriff der ›Transkriptivität‹ weist Ludwig Jäger darauf hin, dass sich jeder ›Text‹ immer nur in Bezug sowohl auf die ihm zugrundeliegende Lektüre als auch auf zukünftige Lektüren verstehen lässt und die »transkriptive Semiose« somit unabschließbar ist, vgl. Jäger: Transkriptivität, S. 40. Pierre Bourdieu beschreibt in den Regeln der Kunst die von ihm beobachtete Präfiguration von Lektüre in Faulkners Eine Rose für Emily als Programm, vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 506: »Eine Rose für Emily ist nämlich ein reflexiver, ja reflektierender Text, dessen Struktur das Programm (im Sinne der Informatik) einer Reflexion über den narrativen Text und seine naive Lektüre enthält. Wie ein Text oder eine Versuchsanordnung fordert er zu wiederholter, aber auch verstärkter Lektüre auf, weil nur so die Eindrücke der ersten, naiven Lektüre mit den bei der zweiten Lektüre aufgetauchten Erkenntnissen zu vereinigen sind, Ereignissen, die ihrerseits aus dem am Ende der ersten Lektüre erlangten Wissen vom Ausgang hervorgingen, das auf den Text und vor allem auf die Voraussetzungen der naiv ›romanhaften‹ Lektüre im Rückblick ein Licht wirft.« In gleicher Weise verwendet Luhmann den Begriff des Programms, wenn auch nicht explizit auf Lektüre bezogen. In seinem Aufsatz Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst bezeichnet er das Kunstwerk als »Programm für zahllose Kommunikationen über das Kunstwerk« (S. 627). Auf die bei Luhmann und Bourdieu angesprochene Konzeption von interner Prästrukturierung von Lektüre schon im

2. Lektüre als Form

grammierung ist, wie zu zeigen sein wird, bezogen auf die Erhaltung der Buchförmigkeit in der Lektüre. Diese geht über die materielle Schließung als Gegenstand hinaus42 (wobei sie auf diese bezogen bleibt) und wird zu einer strukturellen Schließung gerade in der Lektüre. Hierfür sind die in Kapitel 2.3 zu beschreibenden Figuren der Arabeske und des Ornaments ausschlaggebend, da diese jeweils zwei verschiedene Modi abstrakter Schließungsfiguren darstellen und als solche die gegensätzliche Buchförmigkeit bei Schlegel und Luhmann organisieren. In Bezug auf Schlegels Texte ist diese Perspektive nicht unbedingt ungewöhnlich – ist doch die Markierung Schlegels als ›literarischer‹ Autor bereits dazu geeignet, in seinen Texten Reflexionen auf das Literale aufzusuchen. Für Luhmanns Texte gilt dies nicht im gleichen Umfang, ist doch die Markierung als ›Wissenschaft‹ oder ›Theorie‹ eher dazu geeignet, die Stichhaltigkeit der inhaltlichen Aussagen an konkreten empirischen Phänomenen zu beurteilen, als sie auf ihre Imaginationen der eigenen (Un-)Lesbarkeit hin zu befragen. Genau diese Herangehensweise wird von der Lektüreprogrammierung in den Büchern selbst gefordert. Mit dem Begriff ›Lektüre‹ soll hier angezeigt sein, dass es mir auch bei der Analyse von Luhmanns Texten nicht um die Referenz der Aussagen, sondern vielmehr um die expliziten und impliziten Selbstimaginationen als zukünftig auf eine bestimmte Art und Weise zu lesendes Buch und die darauf bezogenen begrifflichen Schließungsbewegungen geht. Denn wie etwa Roland Reuß in seiner Studie Die perfekte Lesemaschine herausstellt, ist es gerade die Wissenschaft, und insbesondere anspruchsvolle Theoriearbeit, die auf »lesephysiologisch unterstützende typographische Einrichtung«43 , also auf das spezifische Format des Buchs, angewiesen ist. Dies ist schon Novalis bewusst, wenn er das Buch als den »Körper« (NS IV, S. 262) der Wissenschaft begreift. Das Medium Buch und die Lektüre als bewusster Umgang mit der Form Buch sind hier wie dort keine ›äußeren‹ Begleiterscheinungen des Umgangs mit Begriffen, Ideen, Theorien oder Konzepten44 , sondern verändern sich

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Buchtext selbst greife ich hier in meiner Formulierung zurück. Die Engführung von Reflexion und Lektüre bei Bourdieu weist überdies schon darauf hin, dass auch einer medial nicht kontextualisierten Vorstellung von Reflexion, wie sie in der Philosophie und im hier aufgerufenen Zusammenhang bei Walter Benjamin zur Anwendung kommt, eine Vorstellung der Prozessualität von Lektüre zugrunde liegt, die außerdem auf Buchförmigkeit bezogen ist. Spoerhases Kritik an der Gegenüberstellung von Schnapp und Michaels greift so meines Erachtens zu kurz, weil sie sich ausschließlich auf die Materialität des Buchs und nicht auf die konzeptuelle Buchförmigkeit bezieht, vgl. ders.: Linie, Fläche, Raum, S. 7. Reuß: Die perfekte Lesemaschine, S. 9. Darauf haben unter anderem Deleuze/Guattari und Derrida aufmerksam gemacht, vgl. Deleuze, Guattari: Rhizom; Derrida: Dissemination. Luhmann dagegen fasst das Schreiben als (leider) unumgänglichen aber eben nur äußerlichen Begleitprozess des Theoretisierens, etwa in seinem kurzen Text zum Zettelkasten, der im Folgenden noch ausführlicher thematisiert wird, vgl. Kommunikation mit Zettelkästen, S. 53: »Dass Zettelkästen als Kommunikationspartner empfohlen werden können, hat zunächst einen einfachen Grund in technisch-ökonomischen Problemen wissenschaftlichen Arbeitens. Ohne zu schreiben, kann man nicht denken; jedenfalls nicht in anspruchsvoller, anschlussfähiger Weise. Irgendwie muss man Differenzen markieren, Distinktionen entweder explizit oder in Begriffen impliziert festhalten; nur die so gesicherte Konstanz des Schemas, das Informationen erzeugt, garantiert den Zusammenhalt der anschließenden Informationsverarbeitungsprozesse. Wenn man aber sowieso schreiben muss, ist es zweckmäßig, diese Aktivität

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vielmehr parallel und in vielfacher Verschlingung mit ebenjenen. Bücher und der lesende Umgang mit Büchern lassen sich so als materialisierte Ideologie verstehen. Damit sind Mediengeschichte und die zu leistende Untersuchung des Formbegriffs im Wandel zwischen 1800 und der Gegenwart ebenfalls nicht zu trennen. Es ist das Anliegen dieser Arbeit, die Gleichzeitigkeit von Lektürereflexion und Formbegriff am Verhältnis der Texte Schlegels, Benjamins und Luhmanns deutlich zu machen. Die Nähe zwischen dem Verhältnis von Lektüre und Buch und dem Formbegriff lässt sich an einem prominenten Theoretiker des Buchs und dessen Wortwahl umkreisen. Paul Valéry skizziert die dem Buch als ›Objekt‹ und ›Medium‹ eingeschriebene Ambivalenz: So ist das Buch einerseits imstande, durch seine Deutlichkeit eine Bewegung auszulösen und fortzuleiten – eine Bewegung, die diskontinuierliche intellektuelle Wirkungen hervorbringt und die nach und nach die Zeile entlang in Gedanken aufgeht; andererseits ist es ein Gegenstand, eine Gesamtheit bleibender Eindrücke, mit unmittelbaren, von keiner Übereinkunft festgelegten Eigentümlichkeiten ausgestattet, die geeignet ist, unser sinnliches Wohlgefallen oder Mißfallen zu erregen.45 Die ›Bewegung‹ nennt Valéry Lesen, das Wahrnehmen der Gegenständlichkeit des Buchs Sehen. Das gedruckte Buch als relativ gleichförmiger Gegenstand, als Medium, erleichtert also qua Erscheinungsbild eben das Vergessen dieses Erscheinungsbildes, bzw. seiner materiellen Grundlage, und ermöglicht somit das Lesen in unserem Sinne, als Auflösung des Buchs im Sinne einer »fortfressende[n] Flamme«46 . Gleichzeitig richtet aber eben jenes Lesen des Buchs nicht erst an seinem Ende die Gesamtheit des Buchs, als Form, wieder ein, insofern es die Erfahrung der Grenzen und inneren Bezüge bezeichnet. Valéry weist hier darauf hin, dass es im Verhältnis von Lektüre und Buch um »das Ganze und die Einzelheiten« geht und insofern »alle Form aus der Drucktype hervorgehen«47 muss. Das Verhältnis von Teil und Ganzem ist nicht nur ein grundlegendes Thema der Philosophie, sondern von ihrem Beginn an auch Thema der Hermeneutik und insofern der

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zugleich auszunutzen, um sich im System der Notizen einen kompetenten Kommunikationspartner zu schaffen.« Valéry: Die beiden Tugenden eines Buchs, S. 468. Für Valéry ist das perfekte Buch jenes, welches den Übergang zwischen der einen Auffassungsmodalität des Buchs und der anderen am einfachsten ermöglicht, vgl. S. 469: »Das Buch ist der Sache nach vollkommen, wenn es angenehm zu lesen, köstlich anzuschauen ist; kurz, wenn der Übergang von der Lektüre zur Betrachtung, und wiederum von der Betrachtung zur Lektüre, ohne große Hindernisse erfolgt und es nur unmerklicher Umstellungen des leicht sich anpassenden Auges bedarf.« Valéry: Die beiden Tugenden eines Buchs, S. 467. Ebd., S. 470.

2. Lektüre als Form

Reflexion von Lektüre48 . Dies wird deutlich in der Konstruktion des hermeneutischen Zirkels, der einer Vorrangstellung des einen gegenüber dem anderen vorbeugen soll und damit das Wechselverhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen zu fassen sucht. Eine andere begriffliche und theoretische Option für das Erfassen dieses Wechselverhältnisses bietet der Begriff des Systems49 , genauer die Differenz zwischen System und Umwelt, und mit ihr die Systemtheorie. In der Einleitung zu Soziale Systeme empfiehlt Luhmann seine Unterscheidung als begrifflichen Ersatz für den Gegensatz von Ganzem und Teilen und erörtert, inwiefern »die dafür [für das Allgemeine im Besonderen] zuständige Systemtheorie sich vom Paradigma des Ganzen und seiner Teile gelöst hat« (SoSy, S. 22). Anstelle des Gegensatzes von Ganzem und Teilen installiert Luhmann den – wiederum auch für die Lektüre maßgeblichen50 – Gegensatz von Identität und Differenz. Und als allgemeinstes begriffliches Komplement dieser Fassung taucht nun der Begriff und die Theorie der Form auf, »die nur mit Hilfe eines Differenzbegriffs definiert« (SoSy, S. 35, Anm. 5). Der Formbegriff erweist sich in dieser assoziativen Verkettung verschiedener begrifflicher Problemformationen als Fluchtpunkt der Theoretisierung einer Lektürepraxis im Sinne eines Sich-Verhaltens zur Zwiespältigkeit des Buchs als Medium und Form, als Allgemeines und Besonderes gleichermaßen. Die Art und Weise seines Auftauchens

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Folgerichtig beginnt etwa die Monographie zu Spinoza von Francis Amann unter dem Titel Ganzes und Teil mit einer eingehenden Rekapitulation von »Interpretationsprinzipien«, in denen das Verhältnis von Ganzem und Teilen nicht nur bei Spinoza, sondern vielmehr für die Lektüre von Spinoza im Gesamtzusammenhang der Philosophie problematisiert wird, vgl. S. 11-28. Die Verbindung zwischen Systembegriff und Formbegriff verläuft bei Kant in der Kritik der reinen Vernunft im dritten Hauptstück der »transzendentalen Methodenlehre« ebenfalls über das Paradigma der Unterscheidung von Ganzem und Teilen. Im Abschnitt über die »Architektonik der reinen Vernunft« heißt es: »Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. Weil die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d.i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist Architektonik die Lehre des Szientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt, und sie gehört also notwendig zur Methodenlehre. Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können. Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander a priori bestimmt wird. Der szientifische Vernunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert.« (S. 557) Für eine historische Phase, die schon ab etwa 1600 einsetzt, begründen sich der Systembegriff und die Form Buch geradezu gegenseitig, vgl. dazu etwa Spoerhase: Der Plan. Über die literarische Form komplexer Systeme um 1800, S. 181: »Das erste Auftreten eines Systems als Publikationsgenre (nicht notwendigerweise als eines logischen Sachverhalts) datiert auf die Zeit um 1600. Seit dieser Zeit erscheinen Bücher gehäuft als Systeme.« Eine gleichlautende Formulierung findet sich in Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 459. Aber eine Lektüre, die sich dann als Dekonstruktion beschreibt. Während die als ›Hermeneutik‹ apostrophierte Lektürepraxis in die Rekonstitution des Buchs mündet und damit im Gegensatzpaar Lektüre/Buch letzteres betont, bevorzugt Dekonstruktion die Lektüre (so zumindest die explizite Inanspruchnahme des Gegensatzes). Die Buchförmigkeit der dekonstruktiven Lektüren selbst bleibt damit außen vor.

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Lektüre als Form

in den Texten verrät die jeweilige Strategie der Schließung der Lektüre, wie sie andererseits von ebenjener geprägt ist (vgl. auch Kap. 2.2). Zur Unterscheidung der jeweiligen Formen von Schließung, die sich bei Schlegel und Luhmann jeweils auffinden lassen, und deren Vermittlung bei Benjamin zu lokalisieren ist, verwende ich zwei Paradigmen, die jeweils durch ein Gegensatzpaar gekennzeichnet sind. Auf der einen Seite steht das Gesprächsparadigma, gekennzeichnet durch die Differenz von Reden und Schweigen, auf der anderen Seite das Informationsparadigma, gekennzeichnet durch die Opposition von Signal und Rauschen. Wie gezeigt werden kann, vollzieht sich die Reflexion und Imagination von Lektüre innerhalb dieser Paradigmen, und ebenfalls innerhalb dieser Paradigmen fungiert der Formbegriff als Einheit von Lektüre und Buch, von Lektüre und eigenem Schreiben, von Öffnung und Schließung.

2.2.

Form

Die grundlegende Diskussion des »lange diskreditierten Formbegriff[s]«51 erfreut sich gerade in den Literaturwissenschaften einer wieder steigenden Beachtung.52 Die aktuellen Diskussionen stehen in einem interdisziplinären Zusammenhang, der bis zu den Anfängen der Philosophie zurückreicht. So betont etwa der französische Philosoph Gilbert Simondon die fundamentale Bedeutung des Formbegriffs für seine Disziplin: »Dieser Begriff ist wahrscheinlich einer der ältesten, der überhaupt von Philosophen formuliert worden ist, die sich für das Studium menschlicher Probleme interessiert haben.«53 Bemüht man sich um das Auffinden einer begrifflichen Kernidentität, scheitert man in Bezug auf den Begriff der Form in besonderem Maße. Dies lässt sich schon für den Anfang der Begriffsgeschichte, für das lateinische forma feststellen, welches zwei griechische Termini ersetzt: Auf der einen Seite den Terminus morphé, der sich auf die Sichtbarkeit bezieht, auf der anderen Seite den Terminus eidos, der dem Begriff zugeordnet werden kann.54 Diese Dopplung ist von Anfang an zentral für den Begriff der Form – mit ihr lässt sich seine Wirkungskraft und Produktivität fassen. Gegenüber den zahlreichen begrifflichen Untersuchungen des Formbegriffs ist es für die folgende Untersuchung also fruchtbarer, nicht nach einer umfassenden Definition des Formbegriffs, sondern vielmehr nach seiner Produktivität, und damit nach seiner Funktion zu 51 52

53 54

Geulen: Aus dem Leben der Form, S. 15. In Münster bestand etwa in den Jahren 2013-2018 das Graduiertenkolleg Literarische Form. Geschichte und Kultur ästhetischer Modellbildungen; 2015 erschien das Buch Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network von Caroline Levine und im Jahre 2019 fand an der Universität zu Köln die Tagung Form. Perspektiven einer literaturwissenschaftlichen Theorie statt, die sich insbesondere mit der Fruchtbarkeit eines systemtheoretisch informierten Formbegriffs für die Literaturwissenschaft beschäftigte. Vgl. dazu den in dieser Reihe im September 2020 erschienenen Tagunsband mit dem Titel Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität – Ornament – Codierung, hg. von Torsten Hahn und Nicolas Pethes, der die so diversen wie produktiven Annäherungen an den Formbegriff eindrucksvoll dokumentiert. Simondon: Form, Information, Potentiale, S. 225. Vgl. dazu etwa die Studie zu Ästhetischen Grundbegriffen als Teil einer umfassenden Geschichte der Ästhetik des polnischen Philosophen und Kunsthistorikers Władysław Tatarkiewicz, S. 317.

2. Lektüre als Form

fragen. Mit dem Begriff der Form ist im Kontext der vorliegenden Arbeit kein Gegenstandsbereich adressiert, sondern vielmehr eine funktionale Perspektive. Diese besteht, so könnte eine vorläufige Umschreibung lauten, in der Möglichkeit des Adressierens von etwas Konkretem. Der Formbegriff bietet die Möglichkeit, diese Konkreta unabhängig von ihren gegenständlichen Qualitäten »auf ihre Genese«55 hin zu befragen. Im Zeichen dieser durch den Formbegriff eingenommenen Perspektive lassen sich immer wieder neue theoretische Abgrenzungsbewegungen vollziehen, um den Formbegriff vor Instrumentalisierung oder Vereinnahmung zu retten. Armen Avanessian performiert diese Abgrenzungsbewegungen in seinem Einleitungsbeitrag zum Sammelband Form – Singularität, Dynamik, Politik: Ein erster Anspruch besteht darin, der Auffassung von Form als ›erstarrter‹ zu widersprechen. Jede Theoretisierung von Kunst, die sich für den temporalen Vollzugsmodus ihrer rezeptiven Erfahrung interessiert, gewärtigt noch in den am strengsten formalisierten Kunstwerken eine diesen eigene dynamische Disposition. Schon allein die durch sie ausgelöste Erfahrungsdimension macht singuläre Kunstwerke immer auch zu dynamischen.56 Die von Avanessian geforderte theoretische Neuvermessung ist, auch über den hier aufscheinenden Innovationszwang des wissenschaftlichen Normalbetriebs hinaus, für die folgende Untersuchung interessant. Sie unterscheidet zwei grundlegend unterschiedliche Auffassungen von ›Form‹, die anhand des Aspekts Statik vs. Dynamik unterschieden werden. Die von Avanessian herausgestellte, von ihm als problematisch markierte, Dualität von Formbegriffen wird auch an anderer Stelle bemerkt. Im Eintrag ›Form‹ in den Ästhetischen Grundbegriffen findet sich etwa folgende Formulierung: »Form ist also einerseits ein universaler ›Abstraktionsbegriff‹, bezieht sich aber zum anderen auch auf konkrete Eigenschaften und Merkmale.«57 Gleich im nächsten Absatz werden diese zunächst als unterschiedliche Formbegriffe interpretierbaren Bestimmungen auf die paradoxe Formulierung einer Einheit gebracht. Form ist, so könnte man sagen, eine abstrakte Kategorie für das Besondere. In diesem Sinne bedeutet Form in der Regel eine Unterscheidung: des Besonderen vom Allgemeinen, des konkret und sichtbar Erscheinenden von (s)einem unsichtbaren Wesen (= Form vs. Idee, Inhalt, Begriff), des Geformten von der Formlosigkeit (= Form vs. Materie, Stoff).58 In der Rede davon, dass Form in der Regel eine Unterscheidung bedeutet, scheint die grundlegende Ambivalenz des Formbegriffs auf: der Begriff der Form ist Resultat einer Unterscheidungsoperation und findet sich dann auf einer Seite der Unterscheidung wieder. Gleichzeitig erbringt er die Legitimation der Unterscheidung selbst, insofern die Funktion des Begriffs Form sich darin erschöpft, anzuzeigen, dass es noch etwas

55 56 57 58

Klammer: Werkform und Subjektform, S. 245. Avanessian: Form – Singularität, Dynamik, Politik, S. 10. Städtke: Form, S. 463. Ebd., S. 463.

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Lektüre als Form

anderes gibt – einen ›Grund‹59 der Form im doppelten Sinne, also etwas, von dem sich die Form abhebt, sowie etwas sie veranlassendes. Insofern ist der Begriff ›Form‹ nicht nur Resultat einer Unterscheidung, sondern verweist immer auch auf den Akt der Unterscheidung selbst, wie es Dirk Baecker in der Einleitung zum 1993 erschienenen Sammelband Probleme der Form formuliert: »Immer wenn eine Bezeichnung vorgenommen wird, wird eine Unterscheidung getroffen: und diese Unterscheidung hat oder ist eine Form.«60 Somit handelt es sich beim – in der offiziellen Selbstbeschreibung von dem britischen Mathematiker George Spencer Brown übernommenen – systemtheoretischen Konzept der Form gerade nicht einfach um ein »materielose[s] Formkonzept«61 , sondern vielmehr um das Fokussieren der in ihm auch schon in seiner symmetrischen Version angelegten »Selbstbezüglichkeit und Selbstreflexivität«62 . Diese ist darin zu suchen, dass der Formbegriff nie nur eine Seite der mit ihm vollzogenen Unterscheidung63 , sondern immer auch die Begründung für die Notwendigkeit der Unterscheidung selbst darstellt. Der Formbegriff hält den Übergang von der einen Seite der Unterscheidung zur Einheit der Unterscheidung selbst verfügbar. Somit ist der Formbegriff potentiell immer schon gleichzeitig symmetrisch und prozessual, insofern er etwas klar Bestimmtes (als dann symmetrische Unterscheidung) definiert, aber auch den Prozess der Bestimmung selbst bezeichnet. Formen bezeichnen damit die »performative Seite von Begriffen, die eine kulturelle Praxis ex post zusammenfassen und zugleich für die Zukunft auf Erwartbarkeiten einstellen«64 . Der Formbegriff ist dabei ein paradigmatischer moderner, nämlich prozessualer, Begriff, der »kraft seiner Systematizität den Prozeß der begrifflichen Reflexion und des durch sie explizierten Objektbereichs engführt, genauer: indem er seine Systematizität im Modus eines synchronen Vollzugs auf beide Seiten des reflexiven Geschehens übertreten läßt«65 . Gleichzeitig bewahrt er in dieser Selbstbezüglichkeit, die zur Abstraktion tendiert, jedoch den Hinweis auf Konkretion. Wie etwa Ralf Simon ausführt, ist es die Gemeinsamkeit der unterschiedlichsten Formbegriffe, eine »zu Anschaulichkeit tendierende Gestalthaftigkeit«66 zu bezeichnen.

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Vgl. zur Unterscheidung Grund/Form etwa den bereits zitierten französischen Philosophen Gilbert Simondon und sein Buch über Die Existenzweise technischer Objekte, S. 54: »Denn der Grund ist das System der Virtualitäten, der Potentiale, der Kräfte, die sich langsam ihren Weg bahnen, während die Formen das System der Aktualität sind.« Baecker: Einleitung, S. 10. Gumbrecht: Form ohne Materie, S. 34. Avanessian: Form – Singularität, Dynamik, Politik, S. 10. Bekanntermaßen gibt es derer zahlreiche, vgl. etwa Tatarkiewicz: Geschichte der sechs Begriffe, S. 317: »Gemeinhin erwähnt man vier Gegensätze der Form: Inhalt, Stoff, dargestellte Sache, Thema. Gewiß hat die Form so viele Gegensätze, ja sogar noch mehr. Die Vielheit der Gegensätze deutet auf die Vielheit der Bedeutungen des Ausdrucks hin.« Das Historische Wörterbuch der Philosophie löst dieses Problem, insofern es nicht einen Formbegriff definiert, sondern vielmehr verschiedene Unterscheidungen, etwa Form/Materie und Form/Stoff. Möllers: Formalisierung und Form. Einführung, S. 173. Vgl. Stöckmann: Unbegrifflichkeit bei Schleiermacher und Luhmann, S. 53. Stöckmann bezieht sich hier allerdings nicht auf den Formbegriff, sondern auf den Systembegriff, der bei Schleiermacher und Luhmann wichtig ist. Simon: Form und Formbegriff bei Jean Paul, S. 19, Anm. 28.

2. Lektüre als Form

In dieser dualen Konstellation ist die Konzentration auf den Formbegriff in seiner grundlegenden »Asymmetrie«67 anstatt auf die symmetrische Unterscheidung etwa von Form/Materie als strategisch zu begreifen. Die Asymmetrisierung des Begriffs verdankt sich und vollzieht gleichzeitig konkrete Schließungsoperationen in Bezug auf die Unterscheidung von Lektüre und Buch, die sich von den Schließungsoperationen, die mit einer Symmetrisierung der Unterscheidung einhergehen, unterscheiden. Diejenige Schließungsoperation, welche den prozessualen und damit asymmetrischen Formbegriff in Anspruch nimmt, werde ich als Schließungsfigur innerhalb des Informationsparadigmas Signal/Rauschen für die Texte Niklas Luhmanns beschreiben. Der symmetrische (und folgerichtig unmarkierte) Formbegriff wird dagegen innerhalb der in den Texten Schlegels vom Gesprächsparadigmas Reden/Schweigen induzierten Schließung lokalisiert. In den Vorlesungen Schlegels und noch mehr in der Transkription der frühromantischen Texte durch Walter Benjamin kann dann aber auch gezeigt werden, dass dem Formbegriff selbst die ihm eigentümliche Tendenz zur selbstreferentiellen Schließung innewohnt. Die Schließungsfiguren, die sich im und mit dem Formbegriff vollziehen, sind – wie in Kap. 2.1. beschrieben – als textuelle Manifestationen der prospektiven Lektüreimagination und der darauf bezogenen Erhaltung der Buchförmigkeit zu verstehen. Der Begriff der Form verhält sich wie das Buch, das zirkulär die Lektüre gleichzeitig begründet und begrenzt. So lassen sich auch die verschiedenen Strategien der Einbettung des Formbegriffs in die Schließungsbewegungen jeweils mit verschiedenen Konzeptionen des Buchs engführen: mit der Arabeske einerseits und dem Ornament andererseits (vgl. Kap. 2.3). Die besondere Funktion des Formbegriffs für die Evolution theoretischer Paradigma wurde bereits vielfach betont. Erwähnen möchte ich insbesondere die Arbeiten Ingo Stöckmanns zur Vorgeschichte des Strukturalismus in Deutschland, die er in den Schriften Johann Friedrich Herbarts und der an ihn anschließenden Ästhetiktradition lokalisiert. Stöckmann weist dabei dem Formbegriff eine entscheidende Rolle zu: Historisch gesehen, stellt die formale Ästhetik den Versuch dar, den Formbegriff in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Formalismus Kants als theoretischen Grundlagenbegriff zu bewahren, ›die‹ Form aber unter Tilgung jeder Inhaltlichkeit in einem relational-differentiellen Paradigma zu verankern. Damit werden die substantialistischen, hylemorphen und eidetischen Traditionen des Formbegriffs zurückgedrängt, gleichwohl bleibt dessen theoretischer Grundlagenanspruch unangetastet. In diesem Umbau der theoretischen Fundamente konvergiert die formale Ästhetik mit einer epistemischen Grundtendenz der Moderne, die man im allgemeinsten Sinne als ›formalistisch‹ bezeichnen kann. Unter ›formalistisch‹ ist das Primat von Strukturen, Relationen, Verfahren und Funktionen gegenüber Inhalten, Stoffen und Substanzen zu verstehen.68 Die von Stöckmann angesprochenen eidetischen Traditionen des Formbegriffs beziehen sich auf die metaphysische Tradition. Diese versteht – in der terminologischen 67 68

Baecker: Einleitung, S. 12. Stöckmann: Überhaupt stammt der Strukturalismus, S. 96-97.

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Lektüre als Form

Ausprägung als eidos und hyle – seit Aristoteles Form und Materie/Stoff69 als Antwort auf die Vermittlung von wahrer Erkenntnis, welche es »nur vom Notwendigen, Unveränderlichen, Allgemeinen geben könne«70 . Die Begriffe Form und Stoff sind für Aristoteles dabei »die realen, konstitutiven – wenn auch unselbstständigen (d.h. nicht dinglichen) Prinzipien der körperlichen Substanzen«71 . Demgegenüber tritt, wie in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts explizit reflektiert wird, eine »Gleichsetzung von Verhältnis und Form«72 , also eine Verwendung des Formbegriffs zur Bezeichnung von »VerhältnisFormen, in denen funktionale Elementbeziehungen sichtbar werden«73 . Die von Stöckmann aufgerufene Gegenüberstellung werde ich für meine Untersuchung der Formbegriffe bei Schlegel und Luhmann übernehmen. Ich spreche von einem symmetrischen Formbegriff dann, wenn ich mich auf den Formbegriff der metaphysischen Tradition beziehe, der Form als symmetrischen Gegenbegriff insbesondere zum Stoff oder zur Materie begreift, und damit die Unterscheidung als gegebene Unterscheidung perspektiviert. Von einem prozessualen Formbegriff74 spreche ich, wenn ich mich auf den Formbegriff zur Bezeichnung von Verhältnissen und damit zur Bezeichnung des Unterscheidungsprozesses selbst beziehe. Stöckmann weist in seiner Untersuchung nach, dass erst ein solcherart prozessual formierter Formbegriff sich zur Beobachtung der »Organisationsweise«75 eines Kunstwerks eignet: »Eine spezielle ästhetische Bedeutung kann Form erst annehmen, nachdem im 18. Jahrhundert die metaphysische Ideenlehre der Antike endgültig abgearbei69 70 71

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Zur Begriffsdifferenzierung zwischen Materie und Stoff als konkurrierenden Gegenbegriffen zur Form vgl. Franzen: Form und Materie (Stoff), Sp. 980-982. Ebd., Sp. 979. Ebd., Sp. 984. Diese Anbindung der Unterscheidung an die »reale Konstitution der Dinge selbst« wird erst bei Kant aufgelöst, wo die Unterscheidung nun konsequent als Begriff reflektiert wird, die den »Gegenstand der Erfahrung« (Ebd., Sp. 1022) bezeichnet. Die Bestimmung der Form als »a piori im Erkenntnisvermögen bereitliegend[...]« (Sp. 1023) weist bereits auf die Asymmetrie hin, die den Begriff der Form priorisiert. Sie bereitet außerdem den Weg zu einem funktionalen Verständnis von Form, das wiederum den Formbegriff auf Kommunikation beziehbar macht. Kant führt den Beobachter in das Gebiet der Ästhetik ein. Siehe dazu ebenfalls Baecker: Form, ästhetisch. Im Unterschied zum Formbegriff der Frühromantik, der den abstrakten Formbegriff auf einer Ebene zweiter Ordnung verwendet, belässt Kant den Formbegriff jedoch als Unterscheidung zur Materie und seine Formästhetik präferiert eindeutig das Naturschöne gegenüber dem Kunstschönen und hier insbesondere gegen dasjenige, welches einem klassischen Ideal gehorcht. Denn dieses Ideal, als Begriff der Vollkommenheit etwa des Menschen oder auch der Kirche, stört bereits die unmittelbare Wahrnehmung des Schönen in seiner Zweckfreiheit. Flügel: Über den formalen Charakter der Ästhetik, S. 350. Stöckmann: Überhaupt stammt der Strukturalismus, S. 104. Vgl. dazu auch Geulen: Aus dem Leben der Form, S. 12: »Form wird nun dynamisiert und funktional gedacht. Sie ist nicht länger fixierte oder fixierende Gestalt, sondern bezieht sich auf Prozesse, auf Formprozesse und, unter dem Einfluss der Lebensphilosophie, der Biologie und der beginnenden Soziologie, auch auf Lebensprozesse. In der Systemtheorie Niklas Luhmanns wurde diese Umstellung radikalisiert. Form wird dort im Anschluss an Spencer-Browns Formkalkül als Resultat einer Setzung und einer Unterscheidung begriffen.« Geulen bindet diese Neukonzeption der Form an den Beginn des 20. Jahrhunderts und Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff, deutet aber an, dass »dies [Luhmanns Radikalisierung] noch in den Horizont der Neuerungen der Form im 18. Jahrhundert gehören könnte« (S. 12-13). Stöckmann: Überhaupt stammt der Strukturalismus, S. 105.

2. Lektüre als Form

tet wurde.«76 Damit wird der Formbegriff frei für die Beobachtung des Verfahrens auch literarischer Texte.77 Eine weitere pointierte These zur historischen Entwicklung des Formbegriffs findet sich in David Wellberrys Aufsatz Form und Idee, der sich mit der Morphologie bei Goethe beschäftigt. Hier stellt er »idealtypisch[...]«78 drei Stadien des Formbegriffs einander gegenüber: das, wie bei Stöckmann auch, eidetisch genannte Formkonzept, welches die »Form als Objektidentität gewährleistende[n] Umriss«79 fasst, »der bis hin zum zeitlosen Wesen oder zur konzeptuellen Konfiguration theoretisch sublimiert wird« und eine »starke Akzentuierung des Gegensatzbezugs zu den Bereichen der Materialität und der Zeitlichkeit« aufweist. In der dreigliedrigen Wandlung dieses Formkonzepts steht an zweiter Stufe ein sich um 1800 herausbildendes »endogenes Formkonzept«, welches Form als »Prozess des Sich-Herausbildens im Zusammenspiel von Varianz und 76 77

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Städtke: Form, S. 464. Die Verwendung des Kantischen Formbegriffs für die Lektüre (mit und gegen Kant) strebt auch schon Schiller an. Bei ihm findet sich die Verschiebung des Schwerpunkts einer formästhetischen Würdigung des Naturschönen hin zum Kunstschönen (und damit zur Literatur) und die – damit einhergehende – Verdopplung des Formbegriffs hin zur Form zweiter Ordnung. So heißt es in den Kallias-Briefen: »Kant will diesen Knoten dadurch zerhauen, daß er eine pulchritudo vaga und fixa, eine freie und intellektuierte Schönheit annimmt; und er behauptet, etwas sonderbar, daß jede Schönheit, die unter dem Begriffe eines Zweckes stehe, keine reine Schönheit sei: daß also eine Arabeske und was ihr ähnlich ist, als Schönheit betrachtet, reiner sei als die höchste Schönheit des Menschen. Ich finde, daß seine Bemerkung den großen Nutzen haben kann, das Logische von dem Ästhetischen zu scheiden, aber eigentlich scheint sie mir doch den Begriff der Schönheit völlig zu verfehlen. Denn eben darin zeigt sich die Schönheit in ihrem höchsten Glanze, wenn sie die logische Natur ihres Objektes überwindet; und wie kann sie überwinden, wo kein Widerstand ist? Wie kann sie dem völlig farblosen Stoff ihre Form erteilen? Ich bin wenigstens überzeugt, daß die Schönheit nur die Form einer Form ist, und daß das, was man ihren Stoff nennt, schlechterdings ein geformter Stoff sein muß.« (Schiller an Körner, Jena den 25. Januar 93) Schönheit – als »Freiheit in der Erscheinung« – kann sich für Schiller nur in der Überwindung eines Widerstands vollziehen, der in der Erscheinung selbst noch präsent sein muss. Es genügt also nicht, die Form wahrzunehmen – etwa in ihrer Harmonie oder Proportionalität, um diese als schöne Darbietung eines Stoffes betrachten zu können – die Form wird vielmehr nicht im Gegensatz zum Stoff wahrgenommen, dem sie die äußere Kontur verleiht, sondern im Gegensatz zu dem Widerstand, den sie überwindet. Form tritt auf dieser Ebene in Erscheinung als Gegensatz zur Unform, zur Unmöglichkeit der Form – die Wahrnehmung der Form und gleichzeitig ihrer Grenze bedingt erst die Beobachtung von etwas als schön. Gegenüber einer einfachen Unterscheidung von Stoff und Form, welche Schiller selbst in den Briefen zur ästhetischen Erziehung aufgrund einer nicht vollzogenen Unterscheidung von Vollkommenheit und Schönheit teilweise begrifflich noch zu vertreten scheint, entwirft Schiller hier also ganz explizit zwei Ebenen des Begriffs ›Form‹ und betrachtet die Schönheit so schon als Form zweiter Ordnung, als »Form einer Form«. Die erste Ebene der Form wäre ihr einfaches Verhältnis zum Stoff – dies nennt Schiller die Vollkommenheit, also etwa die harmonische, proportionale Gestaltung, die »Verbindung dieser Bestandteile [dem Mannigfaltigen] zu einem Ganzen (Einheit)«. Schönheit entsteht für ihn hingegen erst auf der zweiten Ebene des Formverhältnisses, nämlich als Form der Vollkommenheit, und damit als Form der Form – eine für die weitere Entwicklung der literaturtheoretischen Formästhetik in ihrer Wichtigkeit nicht zu unterschätzende begriffliche Tautologie. Wellberry: Form und Idee, S. 19. Ebd. Die folgenden Ausführungen finden sich alle im selben Absatz und werden so nicht eigens belegt.

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Lektüre als Form

Invarianz« versteht: »Das Verhältnis von Form und Materie wird nicht als Opposition, sondern als Durchdringung konzipiert; Gegensatzwerte sind nunmehr die verfestigte, tote, äußerliche Form sowie die Abstraktion; Reproduktion wird als Hervorbringung/Zeugung/Bildung« begriffen. Als dritte Stufe in der historischen Wandlung des Formkonzepts benennt David Wellberry schließlich das sich um 1900 herausbildende und bei Luhmann prägende konstruktivistische Formkonzept, welches »Form als Grenzziehung« fasst und damit die »Kontingenz des formgebenden Schnitts« sowie den »Differenzcharakter der Form« betont. Wie Wellberry ebenfalls betont, sind die »drei Formmodelle, wie sie in der hier beschriebenen Typik differenziert werden, […] vielfach miteinander verschränkt, und ihre historische Abfolge ist von Reprisen und Gleichzeitigkeiten geprägt«80 . Dem Modell Wellberrys folgend ließe sich bei Schlegel ein Schwanken zunächst zwischen dem eidetischen und dem endogenen Formkonzept beobachten, das sich in den philosophischen Schriften bereits hin zu einem Schwanken zwischen endogenem und konstruktivistischem Formkonzept verschiebt. Demgegenüber wäre der Benjaminsche Zugriff auf Schlegel von einer Radikalisierung dieser Verschiebung hin zum konstruktivistischen Formkonzept geprägt, die allerdings in der Gegenüberstellung Schlegel-Goethe zurückgenommen und auf das endogene Formkonzept zurückprojiziert würde. Bei Luhmann schließlich wird das konstruktivistische Formkonzept voll ausgefaltet und für die diskursive Arbeit an einem Theoriegebäude fruchtbar gemacht. An die Stelle der sowohl bei Stöckmann wie auch bei Wellberry in den Blick genommenen Parallelentwicklung von Formbegriff und Ästhetik ab 1800 setze ich die Verbindung von Form und Lektüre. Die beginnende Ablösung des symmetrischen Formbegriffs, die sich in Schlegels Texten zunächst in einem – strategisch motivierten – Beharren auf ebenjenem manifestiert, ist, wie ich zeigen werde, gekoppelt an eine um 1800 einsetzende umfassende Reflexion von Lektüre, die einhergeht mit der Bemühung um Schließung des eigenen Texts gegenüber fremder Lektüre. Bei Schlegel manifestieren sich diese Schließungsfiguren innerhalb des zu beschreibenden Gesprächsparadigmas gerade ex negativo im Zeichen der Form, bei Luhmann wird dagegen der Formbegriff selbst zur zentralen Schließungsfigur. Diesen Zusammenhang zwischen Lektüre in ihrer doppelten Bedeutung als Umgang mit fremden Büchern sowie Selbstlektüre im Sinne einer Schließung des eigenen Buchs und dem Formbegriff sucht der folgende historische Vergleich sichtbar zu machen. Um diesen historischen Vergleich als Nebeneinander der Entwicklung des Formbegriffs und der Imagination und Schließung von Lektüre im Buch begrifflich präzise zu organisieren, bieten sich zwei Konzepte an, die als jeweils historisch relevante Zentren der Kunstdiskussion und damit der Diskussion um (emphatische) Buchförmigkeit gelten können: der Begriff der Arabeske für Schlegel und der Begriff des Ornaments für Luhmann. Diese beiden in der Forschung oft synonym verwendeten Begriffe werden im folgenden Abschnitt gegeneinander abgegrenzt und ihre Spezifika für die Gegenüberstellung der verschiedenen Visionen von Buchförmigkeit in der Lektüre – als Formzusammenhang – fruchtbar gemacht.

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Ebd., S. 20.

2. Lektüre als Form

2.3.

Arabeske und Ornament

Bei den Begriffen ›Arabeske‹ und ›Ornament‹ handelt es sich um Überführungen des »Bildes in die Schrift«81 . Diese Überführungen sind begründet in einer »Affinität zwischen Arabeske und Schrift«, die in deren »primär graphische[r] Gestalt« besteht: »Für beide ist die Linie, in gerader, geometrischer, gewundener oder spiraliger Form auf ebener Fläche«82 konstituierend. Die Begriffe sind im literaturwissenschaftlichen Kontext insofern paradox, als sie versuchen, den Raum der Schrift zu transzendieren, dabei aber immer wieder auf ihn zurückgeworfen werden. So stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Ort von Ornament oder Arabeske. Ich gebe darauf eine simple Antwort: der Ort des Ornaments wie der Arabeske ist die Schließung der Schrift im Buch – beide stehen damit ein für jeweils spezifische »›Poetologie[n]‹ der literarischen Buchform«83 . Genau wie das Buch selbst84 stellen Arabeske und Ornament jeweils Versuche der Vermittlung von Öffnung und Schließung dar, insofern sie »den Umgang mit den Grenzen regulieren«85 . Genau wie das Buch, das »über Sprachkommunikation hinaus[geht], da das spezifische Zeichensystem des Buchs nicht nur Sprach- und Zahlzeichen umfassen kann, sondern auch Musiknoten und Bilder«86 , richten sie einen Raum des Sichtbaren ein87 , der gegenüber dem sprachlichen, kommunikativen Aspekt der Schrift ihre Visualität betont.88

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Neumann, Oesterle: Einleitung, S. 11. Behnke: Romantische Arabesken, S. 108. Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 16. Hier wird nicht nur ein »weiter Begriff von Poetologie verwendet« (S. 16), sondern auch ein weiter Begriff dessen, was mit ›literarisch‹ adressiert ist – nämlich im Wortsinne schriftförmiges, insofern etwa die Bücher Benjamins und Luhmanns ebenso auf ihre Buchförmigkeit hin befragt werden. Vgl. ebd., S. 22: »Papiermacher, Setzer, Drucker, Buchbinder, Verleger, Buchhändler, Autoren, Kritiker und Leser: Sie alle nehmen in ihren Reflexionen nur ausgewählte Aspekte des Buches wahr. Das Buch stellt sich deshalb, genau besehen, nicht als ein gemeinsames Objekt dieser unterschiedlichen Personengruppen dar, sondern vielmehr als ein Grenzobjekt, das zwar erlaubt, zwischen diesen unterschiedlichen Akteursgruppen enge kommunikative Beziehungen herzustellen, aber in allen genannten sozialen Kontexten unterschiedlich situiert ist und funktionalisiert wird.« Spoerhase bezieht sich hier auf die Definition des boundary object von Susan Leigh Star et al., vgl. etwa Star: This is Not a Boundary Object, S. 602-603: »Here, however, it is used to mean a shared space, where exactly that sense of here and there are confounded. These common objects form the boundaries between groups through flexibility and shared structure – they are the stuff of action.« Diese Definition passt sehr gut zur Überformung des Buchs bei Schlegel, als Knotenpunkt eines unendlichen Gesprächs. Dembeck: Texte rahmen, S. 3. Rautenberg, Wetzel: Buch, S. 4. Dieser Raum des Sichtbaren folgt wiederum Konventionen, vgl. ebd., S. 5: »Im Prozeß der Aufzeichnung wird zwangsläufig eine Entscheidung über die Anordnung materieller Repräsentationen von Zeichen auf der Fläche gefordert, die Ausdruck skriptographischer oder typographischer Konventionen (Regeln) ist.« Wie Rautenberg und Wetzel nämlich ebenfalls betonen, gibt es zwar durchaus verschiedene Formen von Bildlichkeit im Buch, die von »Bildzeichen und Abgebildete[m] ohne willkürlich festgesetzte oder symbolische Differenz über Ähnlichkeitsbeziehungen (ikonische Zeichen)« bis hin zu selbstreferentiellen Diagrammen reichen können, allerdings verweist das Buch insgesamt auf »eine Dominanz der sprachlichen Zeichen, auf die die Ökonomie der Buchformen in Textpräsentation

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Lektüre als Form

Der Begriff der Arabeske stammt von der italienischen Bezeichnung arabo ab, was auf arabisch referiert und wurde mittels der französischen Form arabe, arabeque dann im Rahmen einer sich Ende des 18. Jahrhunderts intensivierenden theoretischen Auseinandersetzung mit dieser Kunstform ins Deutsche übernommen.89 Die theoretische Auseinandersetzung mit der Arabeske findet sich nicht nur bei Friedrich Schlegel, sondern auch schon zuvor bei Goethe90 , Stieglitz91 und Kant. Der Übertrag des Begriffs auf literarische Phänomene und damit auf den Raum der Schrift ist jedoch klar Schlegel zuzuweisen, der ihm ab 1797 eine »poetisch-philosophische Dimension«92 abgewinnt und insofern den Wandel von der »Ikonographie zur Allegorie«93 vollzieht. Allerdings vollzieht er ihn nicht vollständig. Vielmehr versucht Schlegel im Begriff der Arabeske ihre konkrete bildliche Gestalt als Pflanze mit ihrem Potential für allegorische Strukturbildung symmetrisch zu vereinigen – und genau das unterscheidet den Begriff der Arabeske nach Schlegel vom Begriff des Ornaments bei Luhmann. Immer wieder ist versucht worden, den Begriff der Arabeske einzugrenzen94 und ihn klar vom Ornamentbegriff zu differenzieren – oft jedoch mit mäßigem Erfolg.95 Üblicherweise wird, wo Ornament und Arabeske nicht schlichtweg als identisch behandelt werden96 , die Arabeske als Unterform des Ornaments bestimmt, wahlweise aufgrund ihrer medialen97 ,

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und Textorganisation ausgerichtet ist. In der Buchkommunikation findet verschriftete Sprache die ihr gemäße Ausdrucks- und Überlieferungsform«. (Ebd., S. 4-5) Vgl. Secker: Arabeske, Sp. 847-848. Die Auseinandersetzung findet sich in Goethes Text Von Arabesken, die im Teutschen Merkur im Februar 1789 veröffentlicht wurde. Goethe definiert die Arabeske als »eine willkürliche und geschmackvolle malerische Zusammenstellung der mannigfaltigsten Gegenstände, um die inneren Wände eines Gebäudes zu verzieren.« (Goethe: Von Arabesken, S. 74) Stieglitz: Über den Gebrauch des Grotesken und Arabesken. Secker: Arabeske, Sp. 848. Busch: Die notwendige Arabeske, S. 13. Zur Begriffsgeschichte der Arabeske vgl. die zahlreichen Arbeiten von Oesterle: Arabeske; Arabeske und Roman; Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente; Das Faszinosum der Arabeske um 1800. Vgl. etwa Schäfer: Ohne Anfang – ohne Ende. Schäfer kündigt zwar eine Abgrenzung von Ornament und Arabeske an (vgl. S. 22), löst diese aber in der folgenden Begriffsgeschichte der Arabeske nicht ein, sondern verwendet vielmehr Arabeske und Ornament synonym (vgl. S. 22-35). So etwa Theisen: Chaos, S. 33. Theisen schließt hier kurzerhand die Arabeske »als Ornament« mit Luhmanns Ausführungen zum Ornament kurz. Ich betone im Folgenden jedoch gerade die Unterschiede zwischen Arabeske und Ornament. Vgl. etwa von Graevenitz: Das Ornament des Blicks. In der Graevenitzschen Verschaltung von Blick und Text wird das Ornament dem allgemein Visuellen zugeordnet, die Arabeske dagegen dem konkret Textlichen bzw. Poetischen. Auf einer ähnlichen Linie bewegen sich auch die Beiträge im Sammelband Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Hier heißt es einleitend: »Im Namen des Ornamentbegriffs ›Arabeske‹ werden Remotivierungs- und Renaturalisierungsstrategien im Hinblick auf eine ›arabeske Semantik‹ verfolgt, die Semiosen aller Art immer wieder infrage stellt und energetisch ›überschießt‹.« (Kotzinger, Rippl: Einleitung, S. 6) Die Arabeske wird dabei als Figur zwischen Bild und Text gesehen, die das Schriftliche auf seine Verfasstheit hin betrachten kann.

2. Lektüre als Form

historischen98 , thematischen99 oder religiös-kulturellen100 Einhegung: »Als solche ist die Arabeske ein Grenzphänomen der Ornamentästhetik, das mit verschiedenen ›Bildlogiken‹ (z.B. der Fläche und der Tiefe, ornamentalem Rand und plastischem Zentrum) artistisch-anmutig spielt.«101 Die Arabeske ist in der Tat als Grenzphänomen der Ornamentästhetik zu begreifen, allerdings in einem spezifisch medialen Sinne. Bei Schlegel kommt ihr die Funktion zu, das Übergewicht des Bildlich-Abstrakten, welches der Linienkunst eigen ist, durch die Bindung an ihre konkrete bildliche Gestalt, die Pflanze und damit den Verweis auf Natürlichkeit aufzuheben. Die technische Reproduzierbarkeit der Schrift wird in der Arabeske übercodiert als Ausweis einer individuellen Natürlichkeit im Sinne der »von den Künstlern mit ihren eigenen Händen hergestellten Formen«102 . Diese Übercodierung wird sich in der Lucinde in der doppelten Verweisung der Arabeske auf die Druckschrift einerseits, auf die Handschrift andererseits manifestieren. Die verschiedenen Bildlogiken verweisen direkt auf die jeweilige Imagination des Verhältnisses von Buch und Lektüre. Sowohl die Arabeske als auch das Ornament beziehen die Lektüre in die Buchförmigkeit mit ein: Das Ornament jedoch als notwendige Asymmetrisierung zwischen Signal und Rauschen im Sinne der Informationstheorie, die Arabeske dagegen als gleichschwebende Aufmerksamkeit für alle konkreten Aspekte einer Gesprächssituation und gleichzeitig der auch visuellen Einzigartigkeit des betrachteten Gegenstands Buch. Gegenüber der ornamentalen Asymmetrie von Signal und Rauschen steht die Arabeske für die symmetrische Vermittlung von Reden und Schweigen. Diese im Zeichen der Arabeske imaginierte Dialogizität des Buchs lässt sich als »medienimmanente Lösung[...] für die Krisenerfahrung der Arbitrarität«103 und Technizität der Druckschrift begreifen. Für die vorliegende Arbeit verwende ich die beiden Begriffe Arabeske und Ornament also nicht einfach synonym, und auch nicht im Sinne eines Verhältnisses von Über- oder Unterordnung, sondern als jeweilige konkrete Versinnbildlichungen zweier sich zwar in manchen Punkten berührender, in anderen aber auch gegenseitig ausschließender Konzeptionen von Buchförmigkeit. Arabeske einerseits und Ornament

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Vgl. etwa das wechselseitige Begründungsverhältnis zwischen Postmoderne und Arabeske, welches aus dem Titel des von Peter Burtscher et al. herausgegebenen Sammelbands: Postmoderne – Philosophem und Arabeske spricht. 99 Siehe insbes. Busch: Die Arabeske – Ornament als Bedeutungsträger, S. 15: »Es handelt sich dabei um ein nicht-gegenständliches Ornament, das der Verzierung einer Fülle von Gegenständen dienen kann.« 100 Siehe etwa Kühnel: Die Arabeske. Sinn und Wandlung eines Ornaments. Er lokalisiert die Anfänge der Arabeske im »spätantiken Blattrankenornament« und beschreibt die davon ausgehende Verbreitung im orientalischen Raum. Die Arabeske ist für ihn das Kunstmittel »in der die islamische Weltanschauung ihren ausdrucksvollen, künstlerischen Niederschlag gefunden hat.« (S. 5) 101 Oesterle: Arabeske, S. 272. 102 Klammer: Werkform und Subjektform, S. 246. Für eine Entgegensetzung der verschiedenen Imaginationen künstlerischer Tätigkeit als »hochgradig individuelle Gestaltung von Formen durch handwerkliche Arbeit« einerseits und durch »maschinell vermittelte industrielle Produktion standardisierte Formen« andererseits vgl. auch insgesamt die Ausführungen bei Klammer: Werkform und Subjektform. 103 Pethes: In jenem elastischen Medium, S. 139.

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Lektüre als Form

andererseits sind Lektüreprogramme, insofern sie installiert werden, um im Vollzug der Lektüre diese wiederum – als konzeptuelles Buch – zu schließen. Die expliziten Begriffe Arabeske und Ornament, genauso wie die mit ihnen verbundenen impliziten Strukturierungsprinzipien, bilden – so die These – die Brücke zwischen dem expliziten Formbegriff und den impliziten Versuchen einer Programmierung des Leseverhaltens. Ich werde die Arabeske als »entscheidendes, ja einzig mögliches Strukturprinzip des Romans«104 , insbesondere von Friedrich Schlegels einzigem Roman Lucinde, ausstellen. Insofern beziehe ich mich innerhalb der vielfältigen Verwendung des Begriffs ›Arabeske‹ bei Schlegel insbesondere auf die Arabeske als »eine Struktur im weitesten Sinn«105 . Den Beleg, dass es sich beim Begriff der Arabeske um einen Schlüsselbegriff der frühromantischen Poetologie und damit Theorie der Textproduktion handelt, hat Karl Konrad Polheim mit seinen diversen Arbeiten zum Begriff bereits erbracht.106 Mir kommt es insbesondere darauf an, die Arabeske als Vignette einer symmetrischen Textproduktion zu verstehen, welche die Schrift als persönliches Gespräch übercodiert. Mit ihren »körperlich-figürliche[n] aber auch tektonischen Elemente[n]«107 verbindet sie Abstraktion und Naturförmigkeit, genauso wie Schrift und Nichtschrift108 , und überspannt diese beiden Sphären in eine Bewegung der gegenseitigen Anreicherung, die im Lukács’schen Sinne »Gesinnung zur Totalität«109 aufweist. Die Symmetrie manifestiert sich bildlich in der »klassischen Form«: Die »als Gabelblattranke ausgebildete Arabeske [steigt] an einem Baum auf oder [entfaltet] sich frei auf der Fläche«110 . Die der Arabeske eigene symmetrische Verbindung von Figürlichkeit

104 Vgl. Busch: Die notwendige Arabeske, S. 44. So auch schon Polheim: Die Arabeske. Die Studie bietet einen umfassenden Bericht über den Begriff der Arabeske in Friedrich Schlegels poetischer und poetologischer Arbeit, der das hier nur kurz Auszufaltende entscheidend vorbereitet hat. Davon ausgehend wurde die Arabeske auch als Metapher für andere Poetologien verwendet; zu einem Übertrag vgl. etwa Schäfer: Ohne Anfang – ohne Ende, die E.T.A. Hoffmanns Roman LebensAnsichten des Katers Murr unter dem Zeichen der Arabeske analysiert sowie Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 160: »Das Erzählen verräumlicht sich. Es wird zum Akt des Schreibens. Vergleichbar eines dreidimensionalen Bildes, kristallisiert sich aus den auf Papier geschriebenen Sätzen ein Labyrinth heraus, das auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Und die Struktur dieses Labyrinthes ist die Arabeske.« Auch Andres betont dabei also, dass das Strukturprinzip der Arabeske den Prozess der Textentstehung, des Schreibens in den Vordergrund rückt. 105 Polheim: Die Arabeske, S. 24. Polheim unterscheidet insgesamt fünf Verwendungsweisen der Arabeske, von denen mich die beiden letzten interessieren, neben der genannten Struktur auch noch die romantische Idealform, Vereinigung und Potenzierung der Gattungen. Die drei ersten sind: Arabeske als Terminus der Malerei, Arabeske als eine poetische Gattung, parallel gestellt dem Roman sowie Arabesken als ein von Schlegel geplantes Werk (vgl. S. 23). 106 Vgl. ebd.; siehe auch ders.: Studien zu Friedrich Schlegels poetischen Begriffen; ders.: Repertorium F. Schlegelscher Begriffe zur Lucinde. 107 Oesterle: Arabeske, S. 272. 108 Behnke zufolge ist die Arabeske aufgrund ihrer Situierung im islamischen Kontext und ihrer Genese aus dem Bilderverbot der »Einbeziehung von Schrift in die Ornamententwicklung förderlich« (Romantische Arabesken, S. 107). Die Arabeske ist für Behnke insofern ein Stil, der »Blumen, Laubwerk, Früchte, geometrische und gelegentlich stilisierte tierische Figuren und kalligraphische Schrift zu einem komplizierten Muster ineinandergeschlungener Linien webt« (ebd.). 109 Lukács: Die Theorie des Romans, S. 47. 110 Secker: Arabeske, Sp. 848.

2. Lektüre als Form

und Abstraktion grenzt diese gegenüber einer ornamentalen und damit dezidiert asymmetrischen, offen zur abstrakten Bildlichkeit tendierenden, Textproduktion ab.111 Das Ornament versinnbildlicht dagegen die abstrakte, asymmetrische Selbstbezüglichkeit und damit die ›Entleerung‹. Luhmanns Explikation des Ornaments findet sich in Die Kunst der Gesellschaft. Hier geht es um das Entwickeln »von Formen aus Formen« (KdG, S. 193), um die fruchtbare Entfaltung von Paradoxien im Kunstwerk und folglich um Asymmetrisierung. Gegenüber der Arabeske, die eine umfassende Symmetrie realisieren soll, steht das Ornament also für die Organisation von Asymmetrie. Das »Paradox« (KdG, S. 191) des Kunstwerks, das lediglich die »Unbeobachtbarkeit der Welt« (KdG, S. 192) symbolisiert, wird für Luhmann durch das ornamentale Formenspiel entparadoxiert. So entsteht die Dynamik der Kunstkommunikation: Die reine (symmetrische) Oszillation wird aufgelöst in eine durch die Asymmetrie ermöglichte Beobachtungsabfolge. Am Ende entsteht ein »Referenzsystem […], das sich selbst schließt.« (KdG, S. 191) Diese Schließung des Kunstwerks durch »Wiederinanspruchnahme des schon Bestimmten als andere Seite anderer Unterscheidungen« führt zu einer »zirkulären Sinnanreicherung, dessen, was schon festliegt« (KdG, S. 193). Jede Form eines Kunstwerks ist also »multifunktional und damit unauswechselbar« (KdG, S. 193). In diesem Sinne ist auch die ›unwahrscheinliche Evidenz‹ des Kunstwerks zu verstehen, die sich dem Ornament verdankt. Die Symmetrie der Unterscheidungen im Kunstwerk (vgl. Kapitel 5), das anfängliche Paradox, wird also, ausgehend von einem ersten Symmetriebruch, in eine ornamentale »Projektierung von Asymmetrie« (KdG, S. 194) aufgelöst. Das Ornament ist damit für Luhmann die zentrale Organisation von Kunstwerken überhaupt. Ornamente lassen »die Einheit von Redundanz und Varietät erscheinen« (KdG, S. 195), da sie die gleichen (redundanten) Stellen abweichend (variierend) besetzen: »Jede Stelle im Ornament ist zugleich die andere einer anderen.« (KdG, S. 195) Das Ornament stiftet so die innere Einheit, die »innere Schönheitslinie« (KdG, S. 196)112 des 111

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Der Unterschied zwischen Arabeske und Ornament ließe sich auch als Unterschied zwischen dem »synthetischen Charakter der islamischen Weltsicht […] im Gegensatz zur analytischen Praxis des Westens« begreifen, wie Behnke es andeutet (vgl. Romantische Arabesken, S. 112). Luhmann bezieht sich hier auf die Formulierung bei Karl Philipp Moritz in dessen Text Die metaphysische Schönheitslinie (1793). Moritz schreibt hier: »Wir wollen uns also einen unermeßlichen Zirkel in lauter aneinander gränzenden Linien denken, und in demselben eine krumme Linie, die im Kleinen einen Theil des großen Zirkels darstellt, indem sie eine Anzahl der eigentlichen Linien des großen Zirkels durchschneidet. So wie nun hier die aneinander gränzenden grossen Linien durch ihren allmäligen Mangel oder durch ihre stuffenweisen Abschnitte, eine krumme Linie bilden, wodurch sie selbst durchkreutzt werden, diese krumme Linie aber nur etwas Anscheinendes und Negatives ist; so bekommen auch in den schönen Kunstwerken die abzweckenden Mittel, die wir mit den gerade-scheinenden aneinander gränzenden Linien verglichen haben, immer mehr innre anscheinende Zweckmäßigkeit, je mehr sie äußere wahre Zweckmäßigkeit verlieren, und zuletzt kömmt ein Punkt, wo die äußere Zweckmäßigkeit gänzlich ausgeschlossen, und irgendein Gegenstand, der in der Natur auch nur Mittel war, selbst zum Zweck gemacht wird, auf welchen sich nun alle die zusammengestellten Mittel wegen des allmäligen Abschnitts ihrer äußern Zweckmäßigkeit zu beziehen scheinen. Je allmäliger und je sanfter nun der Übergang dieser Mittel von ihrer äussern Zweckmäßigkeit, zu der anscheinenden innern ist, desto gerundeter wird die anscheinende krumme Linie, und ein desto getreuerer Schattenriß der höchsten Schönheit wird sie seyn. […] Diese krummen Linien wollen wir also die Schönheitslinien […] nennen. Die Schön-

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Lektüre als Form

Kunstwerks, es »erzeugt seinen eigenen imaginären Raum durch eine laufende Verwandlung von Formgrenzen in mehrdeutige Übergänge« (KdG, S. 195) und hält damit das Kunstwerk zusammen, »verdichtet« (KdG, S. 196) es. Das Ornament radikalisiert die der Schrift innewohnende Tendenz zur Selbstbezüglichkeit hin zur geometrischen Struktur – zum Diagramm. An Arabeske und Ornament schließen sich die unterschiedlichen Formbegriffe an: der frühromantische, symmetrisch konzipierte Formbegriff und der systemtheoretische, prozessual konzipierte Formbegriff. Gleichzeitig manifestieren sich in den beiden gegensätzlichen Schließungsfiguren die divergierenden Imaginationen von Lektüre: bei Schlegel als sozial eingebettete ideale Praxis (Reden/Schweigen), bei Luhmann als technisches Problem der Optimierung des asymmetrischen Verhältnisses von Signal und Rauschen. Während die Arabeske für Schlegel unbegrenzte Welthaltigkeit und damit »unendliche Fülle«113 garantiert, steht das Ornament bei Luhmann für eine Form der Abdichtung, für Beschränkung und Negativität. Diese unterschiedlichen Vermittlungsversuche von Öffnung und Schließung spiegeln sich auch in der Konzeption von Begrifflichkeit überhaupt. Während Schlegel den Versuch verfolgt, Begriffe hin zur Vollständigkeit zu transzendieren und sie somit immer als gegenüber dem Bereich des Nichtbegrifflichen gleichrangig und vervollständigbar ansieht, setzt Luhmann auf die extreme Redundanz und damit Selbstbezüglichkeit von Begriffen. Der im Zeichen der Arabeske von Schlegel immer wieder proklamierten ›Vereinigung‹ steht die im Zeichen des Ornaments vollzogene ›Reinigung‹ Luhmanns114 gegenüber. Die damit verbundene Abdichtung nach innen programmiert die Lektüre als Konstruktion eines immateriellen, inneren Buchs.

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heit wäre also die Wahrheit im verjüngten Maaßstabe. […] Die einzelnen Theile in einem schönen Kunstwerke müssen alle aus der Natur genommen, und also wahr seyn, aber ihre Zusammensetzung ist die Schönheit, diese ist also nur eine einzige, da hingegen die Wahrheit mehrfach ist. Je mehrfacher die Wahrheitslinien, welche durch ihre Abstufung die Schönheitslinien bilden, bis auf einen gewissen Punkt, sind, je näher sie aneinander gränzen, desto grössere Ähnlichkeit wird diese mit der unermeßlichen wirklichen Schönheitslinie haben.« (S. 155-157) In diesen Moritz’schen Ausführungen, genauso wie in Schillers Kallias-Briefen, die sich ebenfalls mit der Schönheitslinie auseinandersetzen (vgl. dazu sowie zur Herkunft dieser Debatte bei William Hogarth auch Kap. 4.2) findet sich schon die Tendenz zur asymmetrischen Bevorzugung der Zusammenstellung vor der Beschaffenheit der Teile, also der Form vor dem Inhalt und damit die Tendenz zur Asymmetrie und Immaterialität, die sich auch hier aus dem begrifflich verfahrenden Ansatz ergibt. Allerdings ist gegenüber der Luhmannschen Adaption der Schönheitslinie bei Moritz noch mehr das Bemühen um eine begriffliche symmetrische Vermittlung, etwa von Schönheit und Natur oder Schönheit und Wahrheit zu erkennen. Nichtsdestotrotz wird der Schönheitslinie in Schlegels Lucinde eine Absage erteilt, insofern die »Welle« als Bild gegenüber der Arabeske zur Einseitigkeit neigt (vgl. dazu auch Kap. 4.2). Polheim: Studien zu Friedrich Schlegels poetischen Begriffen, S. 287. Albrecht Koschorke spricht etwa vom »Reinheitsbegehren«, das eine Differenz zwischen Luhmanns Theoriegestus und dem Gestus Derridas einrichtet, vgl. Koschorke: Die Grenzen des Systems, S. 49.

3. »Lesewut und Bücherflut«1: Drei Varianten Es giebt kein allgemeingeltendes Lesen, im gewöhnlichen Sinn. Lesen ist eine freye Operation. Wie ich und was ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben. NS II, S. 609.

In Vorbereitung für die folgenden begriffssystematischen Ausführungen beschreibe ich hier die jeweiligen konkreten Lektürepraktiken Schlegels, Benjamins und Luhmanns und ihre Reflexion anhand von Briefen und Selbstzeugnissen. Wie gezeigt werden kann, sind diese Zeugnisse über Lektürepraktiken sowie die in ihnen aufscheinenden Imaginationen von Lektüre instruktiv für die anschließend herauszuarbeitenden Lektüreprogramme Arabeske und Ornament. Die Reflexion des eigenen Lektüreverfahrens und der dabei zum Einsatz kommenden Hilfsmittel bereitet die jeweilige Konfiguration von idealer Buchförmigkeit vor, die nur in der Lektüre konstruiert werden kann. Ich verwende dabei den medienhistorischen Begriff der Lesewut in einem bewusst anachronistischen Sinne für die zu rekonstruierenden Modi der Lektüre. Grundlage dafür ist die Annahme, dass sich die um 1800 unter diesem Begriff verhandelte Problemstellung in verschobenen Konstellationen auch im 19. und 20. Jahrhundert beobachten lässt. Mit dem Begriff der »Lesewut« oder »Lesesucht«2 wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die sich vollziehende, in der Forschung bereits ausführlich dokumentierte3 , Veränderung der Kulturtechnik Lesen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bezeichnet (und kritisiert). Diese wurde etwa typisierend als Ablösung einer »memorierenden intensiven Lesehaltung« von einer »extensive[n] Lektüre«4 und einer daraus

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Vgl. den Titel eines Kapitels aus der Studie zum Büchernachdruck von Ulrike Andersch: Die Diskussion über den Büchernachdruck, S. 159. Siehe stellvertretend für die Verwendung dieses Begriffs Kreuzer: Gefährliche Lesesucht. Siehe etwa Engelsing: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten; ders.: Analphabetentum und Lektüre; Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit; Faulstich: Die bürgerliche Mediengesellschaft. Luserke-Jaqui: Deutsche Literaturgeschichte in 10 Schritten, S. 105.

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resultierenden »Intimisierung der Lektüre«5 beschrieben.6 Es geht hier nicht um eine umfassende Darstellung des Leseverhaltens im 18. Jahrhundert, sondern vielmehr darum, ausgewählte Aspekte der Veränderung von Buchkultur um 1800 herauszugreifen und von ihnen ausgehend zentrale Elemente der Lektürereflexion auszuarbeiten. Diese bilden dann wiederum die Grundlage, drei Varianten der Lesewut zu unterscheiden, die ich jeweils als spezifische Form der Bewältigung einer immensen Datenmenge, der ›Bücherflut‹, perspektiviere. Die neugeschaffenen Institutionen der Leihbibliotheken7 einerseits und der Lesegesellschaften andererseits disziplinieren und befördern im 18. Jahrhundert gleichermaßen das rapide ansteigende Interesse an Gedrucktem. Beide dienen sowohl der einfachen, privaten und stillen Lektüre als auch des gemeinschaftlichen Lesens und der Diskussion über die Werke und kommen so dem »offensichtlich weitverbreitete[n] Bedürfnis nach solchen Räumen lektürevermittelnder und lektürevermittelter Kommunikation«8 entgegen. Dieses institutionell-mediale Umfeld ist prägend für die literarische und wissenschaftliche Buchproduktion nicht nur um 1800, sondern bis heute. In der Zeit Schlegels wird der Grundstein der Buchkultur gelegt, deren Verfall man zu Beginn des 21. Jahrhunderts beklagt.9 Entscheidend ist ab dem 18. Jahrhundert die Frage nach 5 6

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Martino: Die deutsche Leihbibliothek, S. 10. Diese Typisierung hat innerhalb der historischen Leseforschung selbst schon viel Kritik erfahren, vgl. etwa Schön: Geschichte des Lesens. Erich Schön ersetzt die Gegenüberstellung von Engelsing durch die Polarisierung von einmaliger Lektüre und Wiederholungslektüre, vgl. S. 23-24: »Zwei Merkmale waren den verschiedenen – nicht-professionellen – Formen des ›alten‹ Lesens gemeinsam: Diese Lektüre war Wiederholungslektüre: dieselben wenigen Bücher, die eine Familie besaß und die oft über Generationen vererbt wurden, las man im Laufe eines Leben immer wieder. […] Wiederholungslektüre war deshalb auch nicht per se ›intensive‹ Lektüre, – wie Engelsings (1970) Gegenüberstellung von ›intensiver‹ und ›extensiver‹ Lektüre fälschlich nahelegte – alleine schon, weil sich ihre Bedeutung für den Leser gar nicht aus dem Leseakt selbst herstellte. Entsprechend sollte man deshalb auch die neue, moderne Form des Lesens neutraler als ›einmalige Lektüre‹ bezeichnen.« Ivan Illich schlägt eine dritte Gegenüberstellung vor: das monastische gegenüber dem scholastischen Lesen. Das monastische Lesen definiert Illich unter anderem als »meditative[s] Lesen« (Illich: Im Weinberg des Textes, S. 56), das scholastische dagegen als Resultat der »Doktrin einer universalen Lesepflicht« (S. 80). Ausführliche Dokumentation der Leihbibliotheken um 1800 bieten etwa Martino: Die deutsche Leihbibliothek; Jäger, Schönert (Hg.): Die Leihbibliothek als Institution des literarischen Lebens. Exemplarische Kataloge der Zeit zwischen 1790 und 1830 versammeln Jäger et al. (Hg.): Die Leihbibliothek der Goethezeit. Bödeker: Die bürgerliche Literatur- und Mediengesellschaft, S. 510. Wie zuletzt Carlos Spoerhase argumentiert, ist die Verkündigung, wir seien im Zeitalter nach dem Buch angelangt, einer Konzentration auf die Biblionomie als Zeitalter des großgeschriebenen Buchs geschuldet, welches die kleingeschriebenen, also konkreten, Bücher ignoriert, vgl. Das Format der Literatur, S. 25: »Die These von dem ›Ende‹ des Buches ist verträglich mit der breiten Präsenz von Büchern und Buchkonsum, weil es auch hier nicht um die ›kleingeschriebenen‹ Bücher geht, sondern abermals um das ›großgeschriebene‹ Buch als Symbol für eine menschheitshistorische Makroepoche. Wie in weiten Teilen der poststrukturalistischen Literaturtheorie wird auch in der Medientheorie der Ausdruck ›Buch‹ in der Regel in einem metaphorischen oder metonymischen Sinne gebraucht: Interessant ist das Buch als Trope, nicht aber als materielles Artefakt.« Wie ich zeigen werde, ist das Buch als materielles Artefakt immer schon verbunden mit der uneigentlichen, metaphorischen Präsenz des Buchs – insofern die Bücher nicht nur materielle Artefakte sind, sondern eben Text enthalten, der auf eine spezifische Art und Weise gelesen oder eben in

3. »Lesewut und Bücherflut«: Drei Varianten

Möglichkeiten der Orientierung in der Bücherflut. Kittler beschreibt das Problem, welches sich für das Lesen und den Umgang mit gedruckten Büchern stellt, als Problem der Datenverarbeitung und -filterung: Nachdem die Pädagogik der Zeit eine allgemeine Schulpflicht oder Alphabetisierung orderte und die Papierfabrikation ab 1797 vom Schöpfen größenkonstanter Bögen zu Endlosrollen, dieser Voraussetzung moderner Rotationsdrucke, schwenkte, blieb auch keine andere Wahl, als Wissensmengen technisch zu filtern. Der Anachronismus zwischen alteuropäisch-akademischer Mündlichkeit einerseits, Massenbuchwesen andererseits erzwang Reformen auf dem ganzen Feld zwischen schöner Literatur und Wissenschaftsorganisation.10 Kittlers Terminologie der Filterung und Datenverarbeitung impliziert, dass es das informationstheoretische Modell der Lektüre ist, welches seit dem 18. Jahrhundert den Umgang mit Büchern bestimmt. Demgegenüber setze ich auf eine stärkere Differenzierung zwischen verschiedenen Unterformen dieser großen Epoche der Buchkultur. Die Imaginationen von Lektüre und damit des Buchs stellen sich auch und gerade innerhalb der Großepoche der buchförmigen Literatur- und Wissensorganisation historisch und diskursiv jeweils unterschiedlich dar. Das Bedürfnis nach Orientierung innerhalb der Bücherflut findet seinen Ausdruck in jeweils spezifischen Lektüreprogrammen, die sich in einer genaueren Perspektivierung der jeweiligen Imaginationen von Buchförmigkeit nachweisen lassen. Diesen die Großepoche des Buchs binnendifferenzierenden Unterschieden wird zunächst anhand von brieflichen und anderen schriftlichen Selbstzeugnissen nachgegangen. Eingangs wurden die drei Autoren, von denen die folgende Studie handelt, als in besonderem Maße ›lesend‹ charakterisiert. Dies bedeutet, dass man an ihren Texten jeweils paradigmatisch eine spezifische Form der Programmierung von Lektüre und der Imagination von Buchförmigkeit ablesen kann. Bevor die Spuren der Lektüreprogramme in diesen paradigmatischen Büchern selbst verfolgt werden, werde ich eine Rekonstruktion der jeweiligen Lektürepraxis anhand von biographischen, brieflichen und wissenschaftlichen Selbstzeugnissen anstellen. Diese Rekonstruktion bildet den Rahmen für die nachfolgenden begrifflichen Untersuchungen und verleiht ihnen mehr Plastizität. Unter den Stichworten Bibliophilie (Schlegel), Bibliographie (Benjamin) und Zettelkasten (Luhmann) werden drei Formen der Organisation des Zusammenhangs von Buch und Lektüre beschrieben, für welche die jeweiligen Autoren idealtypisch einstehen.

3.1.

Bibliophilie

Das Stichwort der Bibliophilie deutet bereits an, dass Friedrich Schlegel die eingangs aufgerufene Unterscheidung von extensiver und intensiver Lektüre nach Engelsing genauso wie die Gegenüberstellung von einmaliger und wiederholender Lektüre nach

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seiner materiellen Rahmung betrachtet werden will. Diese spezifische Art und Weise nenne ich das Lektüreprogramm. Kittler: Über romantische Datenverarbeitung, S. 128.

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Lektüre als Form

Schön unterläuft. Friedrich Schlegel entwickelt eine Lektüretechnik, die beide in der Rückschau als distinkt markierte historische Versionen miteinander verbindet und in einer Imagination von Lektüre als idealer zwischenmenschlicher Beziehung verschränkt. Das Lesen erhält damit einen unübertroffenen Stellenwert für das soziale Leben. Dieser Umstand zeigt sich auch darin, dass um 1800 die grundlegende Reflexion auf das Lesen als romantische Hermeneutik einsetzt, deren wichtigster Vertreter Friedrich Schleiermacher ist. Die folgenden Ausführungen verweisen schon begrifflich auf Schleiermachers Überlegungen zur Hermeneutik, etwa wenn es um die Transformation der gelesenen Bücher in ›Geister‹ geht, mit denen dann ein ›mündliches‹ Gespräch geführt werden kann. Die Implikationen der Schleiermacherschen und Schlegelschen Hermeneutik werden in Kapitel 4.1 noch ausführlich thematisiert. Briefliche Lektürereflexionen Schlegels können die Kontinuität zwischen persönlicher Lektürepraxis, daraus resultierender Buchimagination und theoretischer Bearbeitungen der Problematik aufweisen. In seinem einführenden Standardwerk zur Frühromantik charakterisiert Lothar Pikulik die Autoren dieser Zeit als primär Lesende.11 Für Friedrich Schlegel gilt dies in besonderem Ausmaß. In einem Brief an seinen Bruder August Wilhelm Schlegel schreibt er am 21. Juli 1791: »Wir bleiben bey unsrer Gewohnheit; Du indem Du viel schreibst und ich da ich viel lese.« (KFSA XXIII, S. 15) Wie Ernst Behler es in seiner Biographie Schlegels nachzeichnet, befriedigt dieser seine »Lesewut mit der Zufuhr immer neuer Büchermassen«12 , etwa aus »Moral, Theologie, Physiologie, kantische[r] Philosophie, Politik«, wie Schlegel in einem Brief an seinen Bruder schreibt, um ihn ausnahmsweise nicht »mit dem Namen der vielen Schriften [zu] behelligen, die ich gelesen« (KFSA XXIII, S. 88). In einem früheren Brief charakterisiert er seine unersättliche Lektüre als Lesen ohne Zweck: Im Anfang laß ich einige aesthetische Sachen besonders Heydenreichs Aesth[etik] zweymal mit Intereße: doch bin ich nicht befriedigt. Nachher habe ich mich in deutscher Litteratur im allgemeinen umgesehen, in der Absicht einen feinen Tact in der Muttersprache zu erlangen. Und wenn ich ohne Zweck lese, so werde ich dieß auch fortsetzen. Es ist zuviel als daß ich davon schreiben könnte. (KFSA XXIII, S. 15) Ungeachtet dieser Einschränkung folgt eine Liste an Lektüren, die Thümmel, das »Bouterweckschste von Bouterweck« (KFSA XXIII, S. 16), Donamar, Klinger, Flemming, Schiller, Voltaire sowie die Geschichte des Untergangs der römischen Republik versammelt (vgl. KFSA XXIII, S. 16-17). Diese breite Streuung des Leseinteresses, die »flüchtige[...] Lesung einer ungeheuren Anzahl Bücher« (KFSA XXIII, S. 101), wird begleitet von einem intensiven persönlichen und brieflichen Austausch über ebenjene Lektüre mit Vertrauten, allen voran mit seinem Bruder August Wilhelm Schlegel. Er kündigt diesem gar an, ihm »fortfahrend […] von litterarischen Neuigkeiten Nachricht zu geben; ich thue es sehr gern, und will künftig ein eignes Blatt dazu bestimmen. Ich werde auf dem-

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Vgl. Pikulik: Frühromantik: Epoche – Werke – Wirkung, S. 15: »Die Romantiker waren Leser, bevor sie Autoren wurden, und Lernende, ehe sie eigene Lehren entwickelten.« Behler: Friedrich Schlegel in Selbstzeugnissen, S. 22.

3. »Lesewut und Bücherflut«: Drei Varianten

selben Blatte auch mein Urtheil über alte Werke wovon ich weiß daß sie in Deinem Intereße liegen, anfügen.« (KFSA XXIII, S. 25)13 Das derart breit gestreute Interesse an unterschiedlichen Lesestoffen, die heterogenen Auflistungen und das schiere Ausmaß der Lektüre scheinen Friedrich Schlegel als paradigmatischen ›extensiven‹ und ›einmaligen‹ Leser auszuzeichnen. Diese Zuschreibung aber wird seiner Lektürepraxis nicht gerecht. In einem weiteren Brief an seinen Bruder grenzt er sein Lesen gerade gegenüber dem flüchtigen Lesen ab: Was du vom Lesen im allgemeinen sagst, ist sehr wahr: Ohne bestimmte Richtung die ganze Welt zu durchlesen, in freudenloser Abgezogenheit, und zu rezensiren ›das gibt sauren Humor‹ nach dem Ausdruck eines sehr klugen Mannes – man wird da leicht zum Schuhu […]. Allein was mich betrifft, so bedenke nur die entsetzliche Zeit, die ich dem Umgange gewidmet habe, wo ich doch wirklich selbstthätig war, wie ich es nur je seyn kann: und dann habe ich auch oft, sehr oft studirt, nicht bloß gelesen; ich habe den Geist einiger großen Männer, vielleicht nicht ganz ohne Erfolg, zu ergründen gesucht als Kant, Klopstock, Göthe, Hemsterhuys, Spinosa, Schiller; anderer von weniger Bedeutung nicht zu erwähnen, Herder, Plattner pp. (KFSA XXIII, S. 100-101). Das ›Studieren des Geistes‹ wird hier als Fluchtpunkt der Lesetätigkeit markiert. So fühlt sich Schlegel nicht passiv, sondern vielmehr ›selbsttätig‹, wie in keiner anderen Tätigkeit. Ein weiterer Brief vom 4. Juni 1791 erwähnt die Lektüre »eins Deiner Lieblingsbücher. Herders Plastik – ich glaube seinen Charakter itzt mehr zu verstehen wie in Göttingen – es hat mich vergnügt mich in sein Wesen zu versetzen – und gewiß ist es das seineste seiner Werke um mich eines Ausdrucks von ihm zu bedienen.« (KFSA XXIII, S. 12) Das ›Studium‹, also die intensive Lektüre dieser anderen Schriften, dient nicht nur zum vertieften Wissens-, oder Spracherwerb, sondern ist ein Erkunden der individuellen Persönlichkeit anderer schreibender Zeitgenossen (im tatsächlichen und uneigentlichen Sinn). Dies bildet, wie bereits vielfach thematisiert, den Kern der romantischen Hermeneutik (vgl. auch Kap. 4.1). Die Erkundung der Persönlichkeit verläuft direkt über das Medium Buch, wie Novalis es in seinen Dialogen treffend formuliert: »Übung macht den Meister, und auch im Bücherlesen. Du lernst dich bald auf deine Leute verstehn – Man hat oft nicht 2 Seiten dem Autor zugehört, so weiß man schon, wen man vor sich hat.« (NS II, S. 663) Die Verschaltung von Lektüre und intimem Gespräch14 äußert sich in diesem Novalis-Zitat auch, wie für das frühromantische

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Es folgt im selben Brief eine Auflistung von insgesamt sieben Büchern samt Rezensionen von unterschiedlicher Länge, etwa über die »Neuen Göttergespräche von Wieland. Gar kein Dialog, viel Geschwätz, einige witzige Einfälle und intereßante Charakter.« (KFSA XXIII, S. 25) Eine ähnliche Liste findet sich im Brief vom 11. Februar 1792, die unter anderem Klingers Fausts Leben, Schillers Übersetzung des Virgil und einen Roman von Hermann und Ulrike von Wezel rezensiert (vgl. KFSA XXIII, S. 44-45). Diese Verschaltung weist zurück auch auf die Zeit der Empfindsamkeit und die hier im Zeichen einer Abwehr von Künstlichkeit und Rhetorik propagierte ›Vermündlichung‹ des Briefs als lebhaftes Gespräch, insbesondere bei Gellert. Vgl. dazu ebenfalls Kap. 4.2. Im Gegensatz zu Gellert geht es hier aber gerade nicht um briefliche Kommunikation, sondern um die Lektüre von Büchern. Die Paradoxie wird durch das Zusammenbringen von noch deutlich weiter entfernten Polen (Liebesgespräch und Roman) also verstärkt und gerade nicht invisibilisiert.

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Lektüre als Form

Lektüreprogramm typisch (vgl. dazu Kap. 4), in der Überblendung des Lesens mit der Stimme.15 Lesen ist hier keine Sache des Auges, sondern eine der Ohren. Die Bibliophilie ist also sowohl eine Liebe zum – im Sinne Spoerhases großgeschriebenen – Buch als auch eine Liebe zu jeweils ganz konkreten Bücherpersönlichkeiten, die dann umfassend als Gesprächspartner wahrgenommen werden. Als Friedrich Schlegel etwa im Januar 1792 Novalis kennenlernt, berichtet er seinem Bruder nicht nur vom Gespräch mit diesem über konkrete Bücherpersönlichkeiten (nämlich Plato und Hemsterhuys), sondern auch von der Lektüre von NovalisʼWerken selbst: Ich habe seine Werke durchgesehn: die äußerste Unreife der Sprache und Versification, ständige unruhige Abschweifungen von dem eigentlichen Gegenstand, zu großes Maaß der Länge, und ›üppiger‹ Ueberfluß an halbvollendeten Bildern […] verhindern mich nicht das in ihm zu wittern, was den guten vielleicht den großen lyrischen Dichter machen kann – eine originelle und schöne Empfindungsweise, und Empfänglichkeit für alle Töne der Empfindung. (KFSA XXIII, S. 40-41) Die Lektüre der gedruckten Bücher ist die ausgezeichnete Möglichkeit, mit diesen literarischen Zeitgenossen in ein tatsächliches, nämlich eigentümliches, Gespräch zu kommen – und in der Tat erscheint der schriftliche ›Stil‹ gar als Vorbild für bestimmte Redestile. Die Individualität des Gegenüber beweist sich nicht trotz, sondern gerade in der buchförmigen Lektüre: »Buchdruck, Alphabetisierung und Lesekultur zählen zu den machtvollsten unter den bisherigen Anthropotechniken.«16 So berichtet Schlegel am 8. Juni 1791 wiederum an seinen Bruder von einem »Nachmittag bei Oesern«, bei dem es ihm vorkam »als ob ich Winckelmann als Greiß reden höre. – Er kann nichts als erzählen, zu raisonnieren ist er nicht fähig: erzählen – oder mahlen hätte ich sagen sollen. Sein Gespräch ist so bestimmt so energisch so fest und so anmaßungslos wie Winckelmanns Styl.« (KFSA XXIII, S. 12) Ausdrücklich beschreibt Schlegel seine »Art der Lectüre« gegenüber dem Bruder im Jahre 1791 als Prozess, »die Schriften und das Leben eines großen Mannes zusammen zu vergleichen, und mir ein Ganzes daraus bilden« (KFSA XXIII, S. 22). Es kann zu vielen Gedanken Anlaß geben – indem man Alles Bemerkte zusammennimmt, so gut als möglich auf etwas gemeinschaftliches zurückführt, indem man dieß weiter ausführt, wie es in der höchsten Vollkommenheit gewesen seyn wurde, indem man sich zu erklären sucht wie es wurde, und wie es sich nach der jedesmaligen äußern Welt modificirte und an sie anschloß, indem man auf die Uebergänge und Aen15

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Zur prosopographischen Lektüre vgl. insbesondere die Studie von Bettine Menke, die deren Ursprung in der antiken Bibelauslegung lokalisiert: »Als die Figur für die Frage ›wer spricht?‹ war die Prosopopoiia im Rückgriff auf antike Auslegungspraxis in den patristischen Bibel-Lektüren eine Strategie der Sicherung einstimmiger Bedeutung in ›prosopographischer‹ Exegese. Sie sicherte Bedeutung dadurch, daß eines oder mehrere Gesichter der Rede gedacht, dem Text zugeschrieben wurden (d.i. prosoponpoein) und der Text als ganzer oder in seinen Teilen als ›Stimmen‹ aus diesen ›Personen‹ gelesen wurde. Erst die Zuschreibung an denjenigen, ›der spricht‹, ermöglicht den Schluß auf die Bedeutung; das wußten schon die antiken Ausleger der paganen Texte. Deren Tradition der grammatischen (oder Literal-)Exegese prägte die Fragemodi, ›wer spricht? (quis dicit?)‹ aus.« (Menke: Prosopopoiia, S. 139) Hörisch: Der Sinn und die Sinne, S. 165.

3. »Lesewut und Bücherflut«: Drei Varianten

derungen achtet, oder die Anomalien zu entdecken sucht u.s.w. – Je nach dem es die Eigenthümlichkeit oder die Stimmung des Betrachters mit sich bringt. (KFSA XXIII, S. 22) Die Lektüre, welche Schlegel hier als ideale vorschwebt, nimmt bereits zentrale Aspekte vorweg, die von Friedrich Schleiermacher in den Vorlesungen zur Hermeneutik eingehend reflektiert werden (vgl. dazu Kap. 4.1). Es geht darum, in der Lektüre zu rekonstruieren, wie das gelesene Buch zum Buch wurde. Diese Rekursion auf die Genese von Büchern ist wiederum Inspiration für das eigene Schreiben. In einem weiteren Brief an den Bruder aus dem Jahr 1794 berichtet Schlegel von der Einteilung seines Tages: »Im Wechsel des Schreibens, Denkens, Lesens, Exzerpierens habe ich keine feste Regel«. (KFSA XXIII, S. 195) Das Lesen geht direkt in das Schreiben, oder zumindest in die Konzeption eines eigenen Buchs über, wobei es jedoch häufig bei ebenjener Konzeption bleibt. Behler beschreibt aus brieflichen Zeugnissen, wie »fast jedes Buch, in das sich Schlegel vertieft, mindestens die Idee zu einer neuen Abhandlung veranlaßt und sich die Werkpläne bald in verwirrender Anzahl multiplizieren«17 . Fluchtpunkt dieser ersten Werkpläne bleibt die Lektüre, insofern Schlegel zunächst den »charakteristischen Standpunkt als Literarhistoriker«18 einnimmt. Wie er es auch seinem Bruder empfiehlt, ist die Lektüre insofern gleichzeitig Vorstufe zur und Entspannung von der eigenen produktiven Tätigkeit: Wenn Du itzt zu weiter nichts fähig bist, so wünsche ich doch daß Du nach einem Plane die besten historischen Werke, ferner die besten Werke über Gesetzgebung, Politik, Theorie der Finanzwissenschaft, Geschichte der Menschheit u.s.w. durchläsest. Ich warne Dich dabey vor dem Lesen zur Nahrung ohne Beziehung auf Deine wichtigsten Zwecke: ich rechne hiezu auch das Recensiren. (KFSA XXIII, S. 43) Während Friedrich Schlegel ein Jahr zuvor noch vom Lesen ohne Zweck gesprochen hat, ist ihm hier offenbar die Gefahr der reinen Rezeption als ›Nahrung‹ und das aus der Masse an Büchern folgende Desiderat eines planvollen Lesens bewusst geworden. Dieses Lesen »aus Pflicht« wiederum erzeugt zwischendurch, im Jahr 1792, bei Schlegel einen regelrechten »Büchereckel, daß ich vielleicht den ganzen Sommer nichts lesen werde«. (KFSA XXIII, S. 50) Die Bibliophilie schlägt kurzfristig in eine Bibliophobie um, als Schlegel bewusst wird, dass das Lesen nicht nur produktive Selbsttätigkeit bedeuten kann, sondern eben auch passive Rezeptivität. Schlegels Vorsatz der Bücherabstinenz hat allerdings nicht lange Bestand. Schon im Juli desselben Jahres folgt eine weitere »Auswahl junger Geister der neugebohrnen Bücher« (KFSA XXIII, S. 55), die unter anderem Jacobis Briefe und Schillers Thalia enthalten, welche ganz offenbar Schlegels zeitweiligen Bücherekel besiegen und ihm »unbeschreibliches Vergnügen« (KFSA XXIII, S. 55) bereiten konnten. Die Rede von den ›neugeborenen Büchern‹, deren ›Geister‹ es zu entdecken gilt, zeigt bereits die spezifische Konzeption des Buchs, die zur Grundlage der Rede von der Bibliophilie wird. Sie 17 18

Behler: Friedrich Schlegel in Selbstzeugnissen, S. 31-33. Vgl. ebd., S. 33. Wie Behler ebenfalls betont, geht dieses Interesse an der Literaturgeschichte mit dem Interesse an einer Literaturtheorie bzw. Ästhetik einher, so wie sich bei Schlegel Theorie immer aus der Geschichte ergibt, vgl. S. 36-37.

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Lektüre als Form

ist nur gültig auf der Grundlage einer Doppelcodierung des Buchs als Gespräch. Dieser Doppelcodierung und den mit ihr einhergehenden Paradoxien ist das Kapitel 4.2 gewidmet. Diese wenigen biographischen Hinweise aus der frühen Zeit der literarischen Bildung Friedrich Schlegels, die noch vor der eigentlichen produktiven Zeit liegt, können schon genügen, um anzudeuten, inwiefern Schlegel von einer zwiespältigen Haltung zur zeitgenössischen medialen und sozialen Situation geprägt ist, die ihn mit vielen anderen literarisch und philosophisch tätigen Zeitgenossen verbindet. Einerseits profitieren all diese Akteure von einer literarischen Kommunikation, die »erstmals potentiell unbegrenzt möglich«19 ist. Die »Expansion« des Buchhandels auch und gerade im Bereich ›Schöne Künste und Wissenschaften‹, die quantitative Entwicklung der Literatur schafft Freiräume der Lektüre und des eigenen Schreibens, ohne die alle literarischen Figuren der Zeit nicht denkbar sind. Mit dieser quantitativen Aufwertung der literarischen Kommunikation geht aber auch eine (zumindest vermeintliche) qualitative Abwertung derselben einher. Das »Buch wurde sowohl zur Kulturware als auch zum Gebrauchsgegenstand«20 , die literarische Kommunikation muss sich den Gesetzen des Marktes und damit den Bedarfen, welche die öffentliche Lektüre erzeugt, fügen, um überhaupt sichtbar zu sein. Eine naheliegende Reaktion auf dieses Unbehagen angesichts der zeitgenössischen Lektürepraktiken stellt der Versuch dar, mittels eigener Publikationen auf ebenjene Praktiken einzuwirken: also im Schreiben ebenjene Schließung der Lektüre vorzunehmen, die mangels gesellschaftlicher Verpflichtungen im sozialen Umfeld nicht mehr gegeben ist.

3.2.

Bibliographie

Wie Friedrich Schlegel ist auch Walter Benjamin von einer ambivalenten Haltung gegenüber dem Medium Buch geprägt. Die Ambivalenz besteht allerdings nicht mehr in einem Zwiespalt zwischen der Wertschätzung druckschriftlicher Seelenkommunikation bei gleichzeitiger Furcht vor den negativen Seiten der nicht mehr kontrollierbaren Bücherflut. Vielmehr bezieht sie sich auf die Wertschätzung des Buchs als tatsächlich materielles Objekt, die allerdings gerade mit dem Bewusstsein des vergänglichen Status von Büchern als hauptsächlichen Medien der literarischen und wissenschaftlichen Kommunikation einhergeht. Diese Spaltung in ein materielles Objekt einerseits und in ein Kommunikationsmedium andererseits wird hier beleuchtet. Walter Benjamin ist als passionierter Sammler bekannt. Seine Sammelleidenschaft bezieht sich insbesondere auf Bücher. Der Artikel Auf Die Minute verrät, die »Bücherkunde« sei Benjamins »Spezialgebiet« (WBGS IV.2, S. 761). In einem Beitrag für die Literarische Welt vom Juni 1931 mit dem Titel Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln, in dem Benjamin zwar über das Sammeln, aber mehr noch über Bücher

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Hier und im Folgenden Bödeker: Entstehung und Struktur der bürgerlichen Literatur- und Mediengesellschaft, S. 500. Ebd.

3. »Lesewut und Bücherflut«: Drei Varianten

spricht21 , nimmt er den Leser mit »in die Unordnung aufgebrochener Kisten, in die von Holzstaub erfüllte Luft, auf den von zerrissenen Papieren bedeckten Boden, unter die Stapel eben nach zweijähriger Dunkelheit wieder ans Tageslicht beförderte[r] Bände« (WBGS IV.1, S. 388). Wie dieser Einstieg, den Henry Sussmann als »purest possible Benjaminian experience«22 bezeichnet, bereits nahelegt, geht es Benjamin in seinen Ausführungen gerade nicht um den Inhalt, die »scheinbare Objektivität und Sachlichkeit« (WBGS IV.1, S. 388) der Bücher oder Büchergruppen, sondern vielmehr um die Bücher als Objekte. Das Sammeln, so beschreibt es Benjamin, ist ein »Verhältnis zu den Dingen, das in ihnen nicht den Funktionswert, also ihren Nutzen, ihre Brauchbarkeit in den Vordergrund rückt, sondern sie als den Schauplatz, das Theater ihres Schicksals studiert und liebt.« (WBGS IV.1, S. 389) In Bezug auf die Bücher geht es also, erneut der Terminologie Valérys folgend, nicht um das Lesen, sondern um das Sehen. Die schicklichste Art und Weise, Bücher zu sammeln, besteht laut Benjamin im »Ausleihen mit anschließendem Nichtzurückgeben« (WBGS IV.1, S. 390), und schicklich ist diese Art des Bucherwerbs insbesondere dadurch, »dass auch er die Bücher nicht liest« (WBGS IV.1, S. 390). Gegenüber dem Lesen geht um etwas sehr viel »Handgreiflicheres« (WBGS IV.1, S. 388): Die objektive Ordnung der Bibliothek resultiert, wie Benjamin mit einem Zitat von Anatole France ausdrückt, aus dem »Wissen um das Erscheinungsjahr und das Format der Bücher.« (WBGS IV.1, S. 389) Diese beiden Informationen machen aus einer Sammlung eine Bibliothek. Die notwendige Reduktion auf diese Daten wiederum resultiert aus der schieren Menge an Büchern: Jahrelang – gut während des ersten Drittels ihres bisherigen Daseins – hat meine Bibliothek aus nicht mehr als zwei bis drei Reihen bestanden, die jährlich nur um Zentimeter wuchsen. Das war ihr martialisches Zeitalter, da kein Buch in sie eintreten durfte, dem ich nicht die Parole abgenommen, das ich nicht gelesen hatte. Und so wäre ich vielleicht nie zu etwas, was dem Umfang nach eine Bibliothek genannt werden kann, gekommen ohne die Inflation, die mit einem mal den Akzent auf den Dingen umschlagen, die Bücher zu Sachwerten, mindestens schwer erhältlich werden ließ. (WBGS IV.1, S. 391) Als Reaktion auf die Bücherflut, die Schlegel in der Imagination eines intimem Gesprächs bewältigte, wird Benjamin zum »Physiognomiker der Dingwelt« (WBGS IV.1, S. 389), also zum Freund des Peritexts. Für ihn zählt die Wertschätzung dessen, was ein Buch zum Objekt Buch macht: »Jahreszahlen, Ortsnamen, Formate, Vorbesitzer, Einbände usw., all dieses muß ihm etwas sagen und nicht nur so im dürren Anundfürsich, sondern diese Dinge müssen zusammenklingen und nach der Harmonie und Schärfe des Zusammenhangs muß er erkennen können, ob so ein Buch zu ihm gehört oder

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Vgl. dazu auch Spoerhase: Linie, Fläche, Raum, S. 25: »Benjamin muss hier nachdrücklicher in den umfangreichen bibliophilen Diskurs der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eingebettet werden, als es bisher der Fall war. Was nicht heißen soll, dass Benjamin als Bibliophiler nicht auch die Perspektive des ›Sammlers‹ einnehmen würde, sondern nur, dass es nicht ausreicht, Benjamins wiederkehrende Bemerkungen über das Buch im Sinne einer allgemeinen Kulturgeschichte des Sammelns zu rekonstruieren.« Sussman: Around the book, S. 114.

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Lektüre als Form

nicht.« (WBGS IV.1, S. 392) Immer wieder äußert sich Benjamins besondere Wertschätzung für bestimmte Ausgaben von Büchern. Über den »Drucker, Verleger und Autor« (WBGS IV.2, S. 545) François Bernouard heißt es etwa, dieser habe »einen neuen Typus von Buch« (WBGS IV.2, S. 548) geschaffen. Falls es überhaupt ein Gespräch mit den Büchern gibt, so gerade nicht mit ihrem Inneren, sondern mit ihrem Äußeren, dem Peritext. Folgerichtig ist die Bibliothek eine Sammlung und gerade kein »Arbeitsinstrument zur Produktion von Texten«23 . Auch für Benjamin sind Bücher »Buchgeschöpfe« (WBGS IV.1, S. 395), und doch ist die Rede davon eine ganz andere als die der »neugebohrnen Bücher« (KFSA XXIII, S. 55) für Schlegel. Während es Schlegel um die innere Persönlichkeit des Buchs in der hier nachverfolgbaren Entfaltung und Gestaltung von eigentümlichen Gedanken zu tun ist, interessiert sich Benjamin für das tatsächlich materielle Leben des Buchs als Objekt. Von Interesse sind Bücher nicht in Hinblick auf ihre Kommunikativität, die auch den Inhalt mit einbeziehen müsste, sondern bezüglich ihrer singulären materiellen Gestaltung.24 Als Begleiter sind sie bestimmt, »mit zerfetzten Seiten, Eselsohren, Unterstreichungen, Tintenflecken den Lebensweg ihrer vielgeplagten Besitzer zu teilen« (WBGS III, S. 300), wie es in Benjamins Text Wie erklären sich große Bucherfolge (1931) heißt. Benjamins »Bücher-Physiognomik richtet sich nicht auf das Buch als Ausgabe (d.h. als Massenartikel), sondern auf das ebenso individuelle wie persönliche Buch als unverwechselbares Exemplar (d.h. als Einzelding).«25 Einem solchen lebendigen Buchgeschöpf entspricht eine »lebendige Bibliothek« (WBGS IV.1, S. 395), die sich ebenfalls einer Eigentümlichkeit versichert weiß – aber diese Eigentümlichkeit liegt nun gerade nicht mehr im einzelnen Buch, sondern in der Sammlung. Auch an anderen Sammlern lobt Benjamin die Aufmerksamkeit für den Peritext, so etwa in seiner Abhandlung zu Eduard Fuchs im Auftrag von Horkheimer.26 Dort heißt es über Fuchs, seine Arbeit biete »Bestandteile einer jeden künftigen materialistischen Betrachtung von Kunstwerken« (WBGS II.2, S. 480). Die Fokussierung auf die Materialität der Bücher27 trägt den Index des Nostalgischen. Sie lässt sich als Ersatz für die verlorengegangene Materialität des Lesens beschreiben, welche Benjamin in Erinnerung an den Lesekasten aufleben lässt: Für jeden gibt es Dinge, die dauerhaftere Gewohnheiten in ihm entfalteten als alle anderen. An ihnen formten sich die Fähigkeiten, die für sein Dasein mitbestimmend wurden. Und weil das, was mein eigenes angeht, Lesen und Schreiben waren, weckt von allem, was mir in früheren Jahren unterkam, nichts größere Sehnsucht als der Lesekasten. Er enthielt auf kleinen Täfelchen die Lettern, einzeln, in deutscher Schrift, in der sie jünger und auch mädchenhafter schienen als im Druck. Sie betteten sich schlank aufs schräge Lager, jede einzelne vollendet und in ihrer Reihenfolge gebunden durch die Regel ihres Ordens, das Wort, dem sie als Schwestern angehörten. […] 23 24 25 26 27

Lindner: Zu Traditionskrise, Technik, Medien, S. 452. Vgl. Reuter: Nur Buchtitel, S. 27: »Benjamins großes Interesse an Fragen der Buchgestaltung und generell an der Physiognomie von Büchern ist bekannt.« Spoerhase: Linie, Fläche, Raum, S. 27. Außerdem ist Benjamin ein großer Bewunderer des Büchersammlers Karl Wolfskehl, vgl. Spoerhase: Linie, Fläche, Raum, S. 25-26. Siehe etwa auch Sussmann: Around the Book, S. 110: »Benjamin was, before all else, a citizen, habitué, cognoscente, and transgressor of the history and tradition of the book.«

3. »Lesewut und Bücherflut«: Drei Varianten

Die Sehnsucht, die er mir erweckt, beweist, wie sehr er eins mit meiner Kindheit gewesen ist. Was ich in Wahrheit in ihm suche, ist sie selbst: die ganze Kindheit, wie sie in dem Griff gelegen hat, mit der die Hand die Lettern in die Leiste schob, in der sie sich zu Wörtern reihen sollten. Die Hand kann diesen Griff noch träumen, aber nie mehr erwachen, um ihn wirklich zu vollziehen. (WBGS IV.1, S. 267) Die Sensibilität für die Eigenarten des Lesens als noch nicht automatisierte, körperlich spürbare Tätigkeit in der materiellen Interaktion mit dem Lesekasten lässt sich nicht wiederherstellen. Diejenige für das Buch dagegen schon, eben in Hinblick auf den Peritext. Lektüre und Buch werden bei Benjamin nicht, wie noch bei Schlegel, als symmetrische, wechselseitig aufeinander bezogene, Einheit gedacht, sondern spalten sich auf. An die Stelle der Interaktion mit dem Buch in der Lektüre tritt die Interaktion mit dem Buch als Objekt des Sammelns. Die professionelle Perspektive dieses Sammelns ist die Bibliographie, also das Verzeichnis von Büchern, genauer das Verzeichnis von Paratexten. So beschreibt Benjamin etwa den Glücksfund eines Märchenbuchs mit Arbeiten des »großen deutschen Illustrators Lyser […] das allen seinen Bibliographen unbekannt geblieben ist« (WBGS IV.1, S. 392). Das Kräuterbuch des Pfaffers Künzle ist für Benjamin »ein Buch, unter dem die Meisterwerke der Literatur so winzig in der Tiefe liegen wie Festungen und Städte, Dome und Paläste unter den harten Gräsern der höchsten Almen«, und das, weil es »eine bibliographische Figur für sich macht« (WBGS III, S. 295). Der eigene »Einzug in den bibliographischen Teil der Fackel« (WBGB III, S. 393) wird in einem Brief an Gershom Sholem im Jahr 1928 extra erwähnt. Im selben Jahr beginnt Benjamin mit der Arbeit an einer Bibliographie zu Lichtenberg, wie er in einem 1940 verfassten Lebenslauf schreibt: »Im Auftrage verfaßte ich eine vollständige Bibliographie des Schrifttums von und über G. Chr. Lichtenberg, die nicht mehr im Druck erschienen ist.« (WBGS IV.3, S. 1072) An seinen Freund Gershom Scholem berichtet er darüber am 3. Oktober 1931: Unergründliche bibliographische Studien haben mich auf folgende Angabe geführt: A. Scholem: Allerlei für Deutschlands Turner Berlin 1885. Da wüßte ich denn doch gern, ob es sich um eine posthume Begegnung mit Deinem Vater handelt?28 Und, da wir beim Bibliographischen sind, zum Schluß noch eine erfreuliche, aber mit äußerster Diskretion zu behandelnde Tatsache: der größte deutsche Lichtenbergsammler hat mich, gegen ein monatliches Entgelt, mit der Durchführung einer von ihm begonnenen, aber nicht abgeschlossenen Lichtenberg-Bibliographie betraut. Zweimal wöchentlich arbeite ich ein paar Stunden in seiner Bibliothek. Den von mir angelegten Zettelkatalog müßtest Du sehen. Da ist denn wenigstens eine meiner 28

Hier scheint zunächst die Verlebendigung des Autors im Sinne Schlegels und der frühromantischen Hermeneutik wieder aufzuscheinen. Allerdings geht es Benjamin ja gerade nicht um die Lektüre des Buchs, die – im Sinne der frühromantischen Hermeneutik – erst die Begegnung mit dem Geist möglich machen könnte, sondern Benjamin adressiert hier die Erfahrung des Sehens eines gedruckten Namens als posthume Begegnung. Interessant ist also nicht, wie für das frühromantische Lektüreprogramm zu zeigen sein wird – die Materialität des Buchs gemeinsam mit seinem Inhalt, also Sehen und Lesen, sondern nur noch Sehen; nur noch der Peritext, nur noch das Äußere des Buchs.

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Lektüre als Form

jüdischen Passionen – leider die belangloseste – zu ihrem Recht gekommen und, wie Du zugeben wirst, am würdigsten Gegenstande. Ich glaube, der Katalog wird ein Wunderwerk, das man unter den Juden öffentlich zeigen kann, etwa wie eine Synagoge aus Strohhalmen. (WBGB IV, S. 59) Bei dem größten deutschen Lichtenbergsammler handelt es sich um den Juristen Martin Domke, mit dem Benjamin seit Studienzeiten bekannt ist und mit dem er Kontakt hält bis in die Exilzeit.29 Domkes Sammlung von Lichtenbergs Schriften scheint in der Tat äußerst umfangreich gewesen zu sein.30 Benjamin übernimmt die von Domke angefangene Bibliographie, ergänzt sie und arbeitet sie um – ganz offenbar mit hohen Ansprüchen, wie aus der nur halb ironischen Briefstelle an Scholem hervorgeht, in der er sein ›Wunderwerk‹ ankündigt. Die Ansprüche an die eigene bibliographische Arbeit lassen sich nicht nur in diesem Brief erkennen, sondern leiten sich auch ab aus der Wertschätzung, welche Benjamin der bibliographischen Wissenschaft insgesamt entgegenbringt. Er selbst verfügt über ein Bibliographisches Notizbuch, in dem er akribisch die Peritexte gelesener Bücher notiert.31 In einer Rezension für die Frankfurter Zeitung aus dem Jahr 1928 über eine Dissertation von Eva Fiesel zur Sprachphilosophie der Deutschen Romantik32 richtet sich Benjamin auf ebenjene bibliographischen Qualitäten, und damit auf den Peritext, nicht etwa auf das inhaltliche oder argumentative Vorgehen der Verfasserin: Die gleiche Frostigkeit regiert im Bibliographischen.33 Die Arbeit zitiert ausschließlich Quellenschriften. Sie tut es auf die ungewohnteste Art, ohne genaue Angabe der Edition, vor allem ohne Hinweis auf den Fundort der Stelle. Sei’s. Interessanter ist, daß offenbar bewußt alle Literaturangaben über dieses Gebiet beiseite gelassen wurden. Wissenschaftliche Nacktkultur: Wege zur Kraft und Schönheit. Die ›Quellen‹ als Gottes freie Natur, Literatur darüber als trostlose Rohrleistung, die das Quellwasser in die sündigen Städte leitet. Wenn je, so ist hier Anlaß es auszusprechen, daß Wissenschaft nicht Ermittelung von Informationen über Gewesenes (und sei es auch gewesenes Denken) ist, sondern in einem Traditionsraum steht, dessen Gesetze sie, wenn nicht zu

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Vgl. Tiedemann, Schweppenhäuser: Editorischer Bericht, S. 759. So beschreibt Domke diese selbst: »Um Lichtenberg und sein Wirken aus seiner Zeit heraus zu begreifen, wird alles nur Erreichbare von und über ihn gesammelt. Es enthält daher die Sammlung nicht nur alle Einzeldrucke, Auswahlbände, Veröffentlichungen in Zeitschriften und Almanachen, sondern auch zahlreiche Neudrucke, Lichtenberg Zugeschriebenes und die große Menge von Literatur über ihn und sein Werk, Übersetzungen in fremde Sprachen, von Lichtenberg herausgegebene Werke, Portraits, Autographen, Bücher aus seiner Bibliothek und als Krönung ein umfangreiches Manuskript, das ›Tagebuch seiner zweiten Reise nach England 1774-75‹, das zum großen Teil noch unveröffentlichtes Material enthält.« (Domke: Meine Lichtenberg-Sammlung, S. 325) Vgl. etwa Steiner: Kommentar, S. 173, 179, 211-212. Benjamin warnt zwar vor Missverständnissen, qualifiziert die Arbeit dann aber unmissverständlich als »typische Frauenarbeit« ab, was für ihn bedeutet, dass »die Schulung, das Niveau, die Sorgfalt [….] außer Verhältnis zu dem geringen Maß von innerer Souveränität und wahrem Anteil an der Sache [stehen]« (WBKA 13.1, S. 104). Diese Zitate sollen zur kritischen Rahmung der im Text eher unkritisch zitierten Rezension genügen. Im Original im Sperrdruck.

3. »Lesewut und Bücherflut«: Drei Varianten

achten, so zu kennen hat. Die Bibliographie als Wissenschaft ist das Zeremonial dieses Raumes und hat wie jedes andere seinen guten Grund. Jede geistesgeschichtliche Wahrheit ist zugleich Erkenntnis von ihrem Werden: das Literaturverzeichnis ist ein Beitrag zu dessen Geschichte. (WBKA 13.1, S. 105) Die besondere Sensibilität für die Gesetze des Traditionsraums beweist Benjamin, wenn er für die Lichtenberg-Bibliographie nicht nur die basalen bibliographischen Daten, sondern umfangreich alle Einträge auf den Titelblätter vermerkt. Die Angaben in der Lichtenberg-Bibliographie erweisen sich als »ungewöhnlich genau und übertreffen die bibliothekarischen Regelwerke teilweise beträchtlich«34 . Wie schon in der Rede über das Sammeln deutlich wird, geht die Aufmerksamkeit für die materielle Gestaltung des Buchs mit einem Bewusstsein für die Vergänglichkeit von dessen Funktionalität einher: »Wer eine Bibliographie macht, muss von der Überzeugung ausgehen, dass Buchtitel wichtiger sind als Bücher«35 , notiert Benjamin denn auch auf einer Karte, die sich unmittelbar an eine Reihe von Maximen anschließt, welche das Bibliographieren an sich betreffen. Benjamins Aufmerksamkeit für Bücher speist sich aus einem Bewusstsein für die Fragilität der Buchkultur. Der Sammler ist bei Benjamin denn auch eine ambivalente Figur zwischen Nostalgie und Zukunftsgewandtheit.36 In der Einbahnstraße, im Abschnitt mit dem Titel Vereidigter Bücherrevisor heißt es: »Nun deutet alles darauf hin, daß das Buch in dieser überkommenen Gestalt seinem Ende entgegengeht.« (WBKA 8, S. 29) Das Asyl der Schrift im gedruckten Buch (vgl. WBKA 8, S. 30) ist vorbei, und sie findet neue Heimaten: auf der einen Seite die Kartothek, den Zettelkasten, auf der anderen Seite das Diagramm, die »exzentrische[...] Bildlichkeit« (WBKA 8, S. 31): Die Kartothek bringt die Eroberung der dreidimensionalen Schrift, also einen überraschenden Kontrapunkt zur Dreidimensionalität der Schrift in ihrem Ursprung als Rune oder Knotenschrift. (Und heute schon ist das Buch, wie die aktuelle wissenschaftliche Produktionsweise lehrt, eine veraltete Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Kartothekssystemen. Denn alles Wesentliche findet sich im Zettelkasten des Forschers, der’s verfaßte, und der Gelehrte, der darin studiert, assimiliert es seiner eigenen Kartothek.) (WBKA 8, S. 30)

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Reuter: Nur Buchtitel, S. 23. Reuter vermutet hinter der Verzeichnung von Besonderheiten wie etwa »Anschrift und Rechtsform von Verlagen« sowie Hinweise wie ›Aufgeschnittene und verschmutzte Exemplare werden nicht zurückgenommen‹ ein »genuines, ikonografisch oder rezeptionsgeschichtlich motiviertes Erkenntnisinteresse Benjamins, das auch Paratexte und die formale und ästhetische Erscheinung des Buches umfasst« (S. 23-24). Zitiert nach ebd., S. 23. Davon zeugt auch seine an anderer Stelle eher skeptisch wirkende Haltung gegenüber der sich selbst attestierten Büchersammelleidenschaft, vgl. WBKA 13.1, S. 18: »›Warum sammeln Sie Bücher?‹ – Hat man jemals die Bibliophilen mit einer solchen Umfrage zur Selbstbesinnung aufgefordert? Wie interessant wären die Antworten, zumindest die aufrichtigen. Denn nur der Uneingeweihte kann glauben, es gäbe nicht auch hier zu verhehlen und zu beschönigen. Hochmut, Einsamkeit, Verbitterung, das ist die Nachtseite so mancher hochgebildeten und glückhaften Sammlernatur.« Zur Ambivalenz aber auch zur Kritik an diesem Konzept vgl. auch Lindner: Zu Traditionskrise, Technik, Medien, S. 451.

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Lektüre als Form

Auch in Bezug auf die »literarische Wirksamkeit« (WBKA 8, S. 11) in der Öffentlichkeit scheint für Benjamin die Zeit des Buchs vorbei: »Sie [die Wirksamkeit] muß die unschreibbaren Formen, die ihrem Einfluß in tätigen Gemeinschaften besser entsprechen als die anspruchsvolle universale Geste des Buches in Flugblättern, Broschüren, Zeitschriftartikeln und Plakaten ausbilden.« (WBKA 8, S. 11) Mit dieser Einschätzung befindet sich Benjamin in Einklang mit der buchtheoretischen Diskussion seiner Zeit. Auch der französische Philosoph Paul Claudel etwa macht »darauf aufmerksam, dass das literarische Buch nunmehr in einem Medienverbund situiert werden müsse«37 und somit seine herausgehobene Stellung verliere. Die verschiedenen aphoristischen Sammlungen Benjamins, etwa die Einbahnstraße, die späte Passagen-Arbeit aber auch die ganz frühen Passagen-Texte folgen dieser neuen ästhetischen Logik des Zettelkastens und gerade nicht der Biblionomie. Die besondere Aufmerksamkeit auf das Objekt Buch geht also einher mit dessen Marginalisierung als tatsächliches Kommunikationsmedium. Die Abwertung des Buchs als Medium lässt es als (dreidimensionales) Format erscheinen. Wie in Kapitel 5 gezeigt wird, führt diese gegenüber Schlegel verschobene Einstellung zum Buch zu einer spezifischen verschiebenden Lektüre von Schlegels Texten, insofern das großgeschriebene Buch als Lektüreprogramm ausgeblendet wird. Die nostalgische Bibliographie verdrängt die Bibliophilie und richtet das Buch für den Zettelkasten ein.

3.3.

Zettelkasten38

Auch in Bezug auf Niklas Luhmann wird in Interviews und journalistischen Einschätzungen immer wieder der enorme Umfang seiner Lektüre hervorgehoben. Dieser lässt sich an den die eigentlichen Zettelkästen flankierenden bibliographischen Kästen ablesen. Für den Zettelkasten der ersten Periode (1951-1962) verzeichnen diese etwa 2.000, für den der zweiten Periode (1963-1996) ca. 15.000 Titel, wobei dieser zweite Teil der bibliographischen Auflistung nicht vollständig ist.39 Luhmann bezieht das Material für seine Gesellschaftstheorie, sei es in Bezug auf die Theorietechnik selbst oder sei es in Bezug auf die Gegenstände, ausschließlich aus Büchern.40 Nach seinem Referendariat im Jahr 1953 lebt Luhmann ein Jahr lang buchstäblich in Bibliotheken.41 Die Bibliothek ist, zumindest in den früheren Phasen von Luhmanns Schaffen, tags und nachts42 der 37 38 39 40

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Spoerhase: Linie, Fläche, Raum, S. 15. Die Ausführungen in diesem Abschnitt schließen inhaltlich an einen von mir bereits publizierten Aufsatz an, vgl. Coch: Combination of Order and Disorder. Vgl. dazu Schmidt: Der Zettelkasten Niklas Luhmanns als Überraschungsgenerator, S. 155. Nassehi begründet dies mit der theorieeigenen Methodologie: Es gehe »aus methodologischen Gründen nicht mehr um das Verstehen von Kommunikanden, von Autoren und Sprechern […], sondern ausschließlich um das Verstehen von in Texten geronnener Kommunikation« (Kommunikation verstehen, S. 145). Gefragt, wie er zu Husserl gekommen sei, antwortet Luhmann etwa: »Ja, also das habe ich so entdeckt, in Büchern. Irgendwas interessierte mich, und dann habe ich angefangen zu lesen.« (Luhmann: Es gibt keine Biografie, S. 29) Vgl. Luhmann: Vorsicht vor zu raschem Verstehen, S. 51. Legendär sind die »nächtlichen Exkursionen in die Zentralbibliothek«, vgl. Asal, Schlak: Einleitung. Was war Bielefeld, S. 9.

3. »Lesewut und Bücherflut«: Drei Varianten

bevorzugte Ort des ›Gesellschaftskontakts‹. Genauso wie zu Büchern hat Luhmann ein sehr intimes Verhältnis zur Kulturtechnik des Lesens. Bekanntermaßen besitzt er keinen Fernseher: Nein, ich meine, was nachteilig ist, ist, dass es alles sequentiell läuft. Wenn man also irgendwo in eine Sequenz einsteigt und irgendwann wieder abschaltet, während man bei Zeitungen ja sich raussuchen kann: Ich lese jetzt nur noch die Börsennachrichten […] Das ist eine sehr persönliche Teilnahme an Kommunikation entgegen allem, was man von Massenmedien hört. Man wählt sehr persönlich aus, den Zeitpunkt, den Ausschnitt und so weiter, und das ist nicht vorgegeben durch die Drucktechnik.43 Der Fernseher, das optische Medium, so zumindest gestaltet sich Luhmanns Vorstellung44 , verläuft sequentiell, während die Druckschrift die Freiheit des Aussuchens und damit eine persönliche Teilnahme an der Kommunikation ermöglicht. Schon in der Wortwahl Luhmanns fällt es schwer, persönliche Interaktion und Lektüre voneinander zu unterscheiden. Das intime Verhältnis, welches Luhmann mit der Druckschrift unterhält, wird insbesondere in der Kontrastierung der Kommunikation mit Büchern gegenüber der Kommunikation mit eigentlichen Gesprächssituationen deutlich. Aus verstreuten Bemerkungen in den Interviews kann man heraushören, dass persönliche, insbesondere alltägliche und eben nicht wissenschaftliche, also durch die Lektüre von Büchern bereits vorgesteuerte, Gesprächssituationen für Luhmann oft eine Belastung darstellen. So erklärt er seine Abneigung gegenüber der Position als Anwalt mit der Abneigung gegenüber Gesprächen mit Vorgesetzten: »Besonders hat mich daran gestört, daß man nicht nur einen, sondern sehr viele Vorgesetzte hat, die immer mit ihren unmöglichen Bedürfnissen in die Praxis kommen, und die man dann nicht abweisen kann. Deshalb bin ich in die Verwaltung gegangen, weil mir dies – entgegen dem ersten Anschein – mehr Freiheit zu geben schien.«45 Im Kontext von Luhmanns Vorliebe für das Lesen wird sichtbar, was die Verwaltung bietet: Die Freiheit, sich ohne störende Gespräche dem Lieblingsmedium, der Lektüre, zu widmen. Die einsame Büroexistenz verspricht sogar eine Freiheit im doppelten Sinne, einmal als Abwesenheit von störenden und zeitraubenden Interaktionen, andererseits als selbst steuerbare Wahlmöglichkeit, die das Medium der Druckschrift eröffnet. Diese Freiheit gesteht Luhmann selbstverständlich auch den Lesern der eigenen Texte zu, wie in einem Interview nahegelegt: »Es irritiert mich gar nicht, wenn mit einem andersartigen Interesse an das Buch oder an irgendwelche Bücher herangegangen wird.«46 Im Lichte der folgenden Überlegungen (vgl. Kap. 6) wird sich die spezifische

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Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Radiogespräch mit Wolfgang Hagen, S. 85. In der medienwissenschaftlichen Forschung zum Medium Fernsehen wird stattdessen von einer sich gegenseitig überlagernden Korrelation zwischen sequentiellen und nichtsequentiellen Ordnungsmustern ausgegangen, etwa in Bezug auf Programme, die sequentiell angeordnet sind, über Gitterstrukturen aber, etwa feste Gattungsmuster, auch horizontale Verknüpfungen eingehen. So entsteht ein »individuelles und unkontrollierbares Netz« des Fernsehens. Vgl. Holly: Fernsehen, S. 9-10. Luhmann: Biographie, Attitüden, Zettelkasten, S. 130. Luhmann: Ein trojanisches Pferd, S. 116.

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Lektüre als Form

Lektüreprogrammierung als Mittel erweisen, solche andersartigen Interessen gerade auszuschließen. In diesem Kontext ist auch der Umstand relevant, dass Luhmann keine ›klassische‹ universitäre Laufbahn47 eingeschlagen hat, sondern sich das wissenschaftliche Arbeiten, »die Grundlagen seiner Theorie in eigensinnigem Privatgelehrtentum«48 und damit ohne direkte Einbindung in den universitären Kontext angeeignet hat. Diese erfolgte erst über den Zwischenschritt des Aufenthalts im »fröhliche[n] Wissenschaftskloster«49 in der ›alten Sozialforschungsstelle‹ Dortmund als »›An-Institut‹ der Universität Münster«50 . Nur so ist eine Arbeitsweise möglich und zu erklären, der »die Einsicht zugrunde [lag], dass zum Zeitpunkt der Lektüre noch gar nicht feststehen muss, wozu sie einmal führen mag«51 – außer, natürlich, in den Zettelkasten unter dem Schreibtisch. Die Vorliebe für die Lektüre im einsamen Büro und die damit einhergehende Abneigung gegenüber Gesprächen, die unverhältnismäßig viel Zeit kosten52 , wird so auch in Luhmanns Beschreibung seiner Universitätstätigkeit deutlich. Er wehrt sich über weite Strecken gegen eigenes wissenschaftliches Personal, da die mündliche Interaktion und Unterweisung von Mitarbeitern sehr viel aufwändiger und insofern weniger lohnend ist als etwa das Schaffen eines technischen Kommunikationspartners, des Zettelkastens. Ich habe alle Pläne, die eine Beschäftigung von Mitarbeitern voraussetzen, sehr rasch aufgegeben, und der Ertrag meiner wissenschaftlichen Arbeit ist nach Umfang, Abstraktionsgrad und thematischer Fluktuation im wesentlichen daraus zu erklären, daß ich im wissenschaftlichen Bereich keinerlei Hilfe in Anspruch nehme. Neben dieser negativen gibt es eine positive Voraussetzung: einen gut funktionierenden Zettelkasten, der nicht nur als ein Hilfsgedächtnis arbeitet, sondern auf Grund einer nichtlinearen, rekursiven, verweisungsreichen Innenstruktur auch selbstständige kombinatorische Leistungen erbringen kann. […] Einen Stab an Mitarbeitern würde man bei jeder Wendung hinter sich lassen.53 Nach eigenen Angaben besitzt Luhmann »eine Art Augenmaß, was mich, nebenbei gesagt, für immer für Selbstverwaltung in Universitäten verdorben hat«54 . Fruchtbare Interaktion ist für Luhmann immer schon schriftlich, in Form von Büchern geführte ›Interaktion‹. Die Anregungen für die eigene Theoriearbeit gewinnt er aus der Literatur:

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Und selbst als er schließlich die universitäre Laufbahn als Quereinsteiger betritt, geschieht dies nicht an einer ›klassischen Universität‹, sondern einer diesem Modell gerade entgegengesetzten ›Reformuniversität‹, eben in Bielefeld, die sich zumindest konzeptionell viel stärker auf »akademische[...] Freiheit« verpflichtet. Vgl. dazu und insgesamt Asal, Schlak: Einleitung. Was war Bielefeld, S. 9. Schwanitz: Tanz auf dem Seil – Erinnerungen an Luhmann (ohne Seitenangabe). Kaufmann: Ein Wittgenstein’sches Schweigen, S. 11. Ebd. Kaube: Luhmanns Zettelkasten oder Wie ist gedankliche Ordnung möglich, S. 126. So beschreibt etwa Peter Fuchs die höflichen und sehr dezenten Hinweise Luhmanns auf eine baldige Beendigung von Gesprächen, wenn die Zeit fortgeschritten war, vgl. Fuchs, Luhmann: Notizen zu Reden und Schweigen, S. 214-215. Luhmann: Interdisziplinäre Theoriebildung in den Sozialwissenschaften, S. 66-67. Luhmann: Biographie, Attitüden, Zettelkasten, S. 134.

3. »Lesewut und Bücherflut«: Drei Varianten

»Ich kann, durchaus persönlich, darstellen, daß ich fasziniert bin durch Möglichkeiten, durch die offensichtlich niemand anders fasziniert ist, also durch theoretische, kombinatorische Möglichkeiten, die – in der Literatur, auf dem Stand der Forschung, interdisziplinär – auf der Hand liegen und die nicht genutzt werden.«55 Ein wichtiges Kennzeichen von Luhmanns Lektürepraxis ist die schiere Masse. Anders als bei Benjamin bewirkt die ›Inflation‹ für Luhmann allerdings kein Kippen der Aufmerksamkeit auf die materielle Seite des Buchs. Auch wenn sich Luhmann etwa als Hölderlin-Leser zu erkennen gibt56 , geht es seiner Lektüre um hyperextensives Lesen: »Ich meine überhaupt, ein wiederholtes Lesen kommt selten vor«57 bekennt Luhmann im Radiointerview. Aufgrund des generellen Zeitmangels58 sei sein Lesen »problemorientiert«59 . Gegenüber der Konzeption von Lektüre als Gespräch bei Schlegel und der an die Stelle von Lektüre getretenen Aufmerksamkeit für das Buch als materielles Objekt bei Benjamin, stellt Luhmann die Lektüre als Training für Reduktion dar. In seinem kurzen Text Lesen lernen gibt er eine Anleitung zum »hochselektiv[en] [L]esen«60 . Dafür brauche man, so Luhmann, ein »Langzeitgedächtnis […], um Bezugspunkte für die Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen und des Neuen vom bloß Wiederholten zu gewinnen«61 . Dieses Langzeitgedächtnis bildet für Luhmann der Zettelkasten. Er ist das Zentrum der gelehrten Infrastruktur, eine Maschine der Generierung von Büchern aus Büchern. Ich habe den Zettelkasten aus der simplen Überlegung heraus angefangen, daß ich ein schlechtes Gedächtnis habe. Zunächst einmal hatte ich Zettel in Bücher gelegt, auf die ich mir Notizen machte, auf diese Weise gingen die Einbände der Bücher kaputt. Dann habe ich mir mit Mappen geholfen, als die jedoch dicker wurden, fand ich nichts mehr in ihnen. Ab 1952 oder 1953 begann ich dann mit meinem Zettelkasten, weil mir klar wurde, daß ich für ein Leben planen müsse und nicht für ein Buch.62 Die enge Verknüpfung von Zettelkasten und Büchern, aber auch die damit einhergehende Auflösung von Büchern in den Zettelkasten, wird hier deutlich. Der Zettelkasten ist einerseits als Ersatz und damit zur Schonung der Bücher entworfen, andererseits als ewige Transzendenz des Buchs. Insofern ist er einerseits Ergebnis der Lektüretätigkeit, präformiert diese aber gleichzeitig: »Ich lese also immer mit einem Blick auf die

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Luhmann: Ich nehme mal Karl Marx, S. 20. Vgl. Luhmann: Biographie, Attitüden, Zettelkasten, S. 132. Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Radiogespräch mit Wolfgang Hagen, S. 106. Als einzigen Wunsch, der ihm einfällt, nennt Luhmann etwa auch die Vision, selbst 30 Stunden am Tag Zeit zu haben, während alle anderen nur 24 Stunden hätten, vgl. ders.: Biographie, Attitüden, Zettelkasten, S. 139: »Das einzige, was mir wirklich ein Ärgernis ist, das ist dieser Mangel an Zeit. Ich weiß nicht, ob es eine Utopie ist, unbegrenzt Zeit zu haben. Ich könnte mir also vorstellen, daß für mich der Tag 30 Stunden hat, für die anderen dagegen nur 24. Die anderen müßten dann immer schon schlafen, wenn ich noch alles mögliche tue.«. Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Radiogespräch mit Wolfgang Hagen, S. 106. Luhmann: Lesen lernen, S. 11. Ebd. Luhmann: Biographie, Attitüden, Zettelkasten S. 149.

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Verzettelungsfähigkeit von Büchern.«63 Luhmanns »Produktivität64 ist im wesentlichen aus dem Zettelkasten-System zu erklären,«65 betont dieser und kokettiert einerseits mit der Vorstellung, seine Bücher wären eigentlich ein Erzeugnis des Zettelkastens66 , andererseits mit der Betonung der »nach nunmehr 26 Jahren erfolgreicher, nur gelegentlich schwieriger Zusammenarbeit«67 entstandenen Solidarität und Intimität zwischen »uns (mir und meinem Zettelkasten)«68 . Wie Markus Krajewski in seinem Buch zur Zettelwirtschaft ausführt, wurden Zettelkästen als Ensemble der »Grundoperationen einer Universalen Diskreten Maschine«69 zunächst für den privaten und öffentlichen Gebrauch als wichtiges Instrument entwickelt, Titel und Inhalt von Büchern mit ihren jeweiligen Standorten in Bibliotheken zu verbinden. Ursprünglich als Vorarbeit zu einem gebundenen Repertorium geplant, wird die Mutter der bibliothekarischen Zettelkästen, der sogenannte Josephinische Zettelkatalog, der 1780 in Wien seinen Anfang nimmt, zum zentralen Instrument in der Bibliotheksordnung.70 Von der Bibliothek wandert der Zettelkasten zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert im Prozess der Ausdifferenzierung zwischen »Bibliothekar und Gelehrtem«71 in das Privatbüro, und dort auf – bzw. in Luhmanns Fall unter – den Schreibtisch. Die historische Genese des Zettelkastens zeigt aber hier schon, dass die Masse an Büchern in Bibliotheken und das Bestreben, dieser mit einem andersgearteten Medium der Textverarbeitung zu begegnen, eng miteinander verknüpft sind.72 Insofern sind Luhmanns Leidenschaft für Bibliotheken, seine Lesetechnik der Quantität und die Organisationsform der Lektüreexzerpte in Zettelkästen im Regime der Drucktechnik eng aufeinander bezogen. Der Zettelkasten ist nicht nur insofern das »Forschungsprinzip Luhmanns« als er eine »Haltung den Ereignissen gegenüber [verkörpert], die von der Offenheit geprägt ist, Zufälle zuzulassen«73 , sondern er ist es insofern, als er in der Nachfolge der bibliothekarischen Zettelkästen eine hochtechnisierte 63 64

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Ebd., S. 150. Luhmanns Produktivität ist von Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit an enorm, vgl. etwa Kaufmann: Ein Wittgenstein’sches Schweigen, S. 12: »Doch da schon damals die Produktivität Luhmanns bei mehreren hundert Seiten pro Jahr lag, war es ihm ein Leichtes, ein zweites Buch als Dissertation beizubringen, so daß er 1966 im gleichen Jahr promoviert und habilitiert wurde.« In einer im Folgenden ausführlich zitierten filmischen Dokumentation aus dem Jahr 1989 wird der Zettelkasten als Geheimnis für diese Produktivität in Szene gesetzt (vgl. Kap. 6.1). Luhmann: Biographie, Attitüden, Zettelkasten, S. 142: »Ich denke ja nicht alles allein, sondern das geschieht weitgehend im Zettelkasten.« Luhmann: Biographie, Attitüden Zettelkasten, S. 142. Ebd., S. 54. Ebd., S. 53. Krajewski: Zettelwirtschaft, S. 10. Vgl. ebd., S. 57: »Erst das Fehlen eines gebundenen Repertoriums ermächtigt das Aggregat aus Zetteln seit 1781, auf alle Anfragen, wo ein Buch steht, eine Antwort zu geben. Das gescheiterte Unternehmen wird stillschweigend zum Erfolg.« Ebd., S. 65. Neben Krajewski widmet sich auch Hektor Haarkötter der Geschichte des Zettelkastens. Vgl. ders.: Fäden und Verzettelungen. Haarkötter stellt ebenfalls eine enge Verbindung zwischen den insbesondere im Nachgang der Erfindung des Buchdrucks ansteigenden Büchermassen und der Entwicklung des Zettelkastens her, vgl. S. 32-34. Meschede: Vom Glück des Findens, S. 62. Die entmedialisierte Rede vom ›Ereignis‹ erstaunt auch insofern, als Meschede selbst darauf hinweist, dass Serendipity im englischen Sprachgebrauch eng

3. »Lesewut und Bücherflut«: Drei Varianten

Form der Verwandlung von Lektüre zunächst in Adressen74 , dann in Relationen und schließlich in eigenes Schreiben darstellt. Die Ereignisse, die durch den Zettelkasten ermöglicht werden, sind nicht irgendwelche Ereignisse, sondern (transformierte) Lektüreereignisse. Bei Luhmanns Zettelkasten75 handelt es sich nicht um ein für die Öffentlichkeit zugängliches und allgemein verwendbares Register, sondern vielmehr – und hier ganz besonders – um eine »idiosynkratische Maschine« ohne jede »Vermittlungsnotwendigkeit, so daß sich das interne System der Verzeichnung durchaus unverständlich für alle Einsichtnehmenden ausnehmen darf«76 . Die Bezeichnung als Maschine ist insofern wörtlich zu nehmen, als – wie immer wieder betont – die »Verschlagwortungsstrategie seines Zettelkastens […] Verfahren vorweg[nimmt], die heute Computer leisten«77 . Das Verdikt der Idiosynkrasie und Unverständlichkeit begleitet zuverlässig die vor einigen Jahren aufgenommene Arbeit an der Erschließung und Aufbereitung des Zettelkastens78 : »Der Zettelkasten, auch nach Ansicht vieler Luhmann-Schüler für Dritte völlig unbenutzbar, ist kein Baukasten für kommende Großtheorien. Er ist so etwas wie eine hölzerne Witwe. Alle Versuch, ihr Niklas Luhmanns Geheimnis zu entreißen, dürften vergeblich bleiben«, prophezeit etwa Andreas Rosenfelder anlässlich des Kaufs des Zettelkastens durch die Uni Bielefeld im Jahr 2011 in der Welt.79 Die Bezeichnung des Zettelkastens als ›hölzerne Witwe‹ spielt wohl einerseits auf dessen früh verstorbene Frau, andererseits auf die Intimität an, die Luhmann selbst für die Beziehung zu seinem Zettelkasten beansprucht. In einem Aufsatz mit dem Titel Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht beschreibt und empfiehlt er den Zettelkasten als Partner für schriftliche Kommunikation. Dass Zettelkästen als Kommunikationspartner empfohlen werden können, hat zunächst einen einfachen Grund in technisch-ökonomischen Problemen wissenschaftlichen Arbeitens. Ohne zu schreiben, kann man nicht denken; jedenfalls nicht in anspruchsvoller, anschlussfähiger Weise. Irgendwie muss man Differenzen markieren, Distinktionen entweder explizit oder in Begriffen impliziert festhalten; nur die so gesicherte Konstanz des Schemas, das Informationen erzeugt, garantiert den Zusammenhalt der anschließenden Informationsverarbeitungsprozesse. Wenn man aber sowieso schreiben muss, ist es zweckmäßig, diese Aktivität zugleich auszunutzen, um sich im System der Notizen einen kompetenten Kommunikationspartner zu schaffen. Der Zettelkasten ist für Luhmann, wie hier deutlich wird, interessanterweise nicht mit der Tätigkeit des Lesens, sondern direkt mit der Tätigkeit des Schreibens verbunden. Es

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mit der Beschreibung von Antiquariaten verknüpft ist. Auch hier ist das Glück des Findens also auf Bücher bezogen, vgl. S. 62. Vgl. Krajewski: Kommunikation mit Papiermaschinen, S. 289. Eine genaue Beschreibung des materiellen Aufbaus findet sich bei Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen, sowie (kommentierend) bei Krajewski: Kommunikation mit Papiermaschinen. Krajewski: Zettelwirtschaft, S. 11. Meschede: Vom Glück des Findens, S. 62. Ein Einblick in die Erschließung des Zettelkastens gibt etwa das vom Suhrkamp Verlag im Jahr 2017 veröffentlichte filmische Interview mit André Kieserling, Johannes K. Schmidt und Eva Gilmer, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=y0bsPawJEDo, abgerufen am 25.09.2019. Rosenfelder: Karteileichen pflastern seinen Weg.

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Lektüre als Form

ist primär nicht das Lesen, sondern das Schreiben, welches für das wissenschaftliche Arbeiten, ja für das Denken schlechthin, unumgänglich ist und damit den Zettelkasten als technisch-ökonomische Problemlösung für wissenschaftliches Arbeiten geeignet macht. Der Zettelkasten ist gleichzeitig Resultat wie auch Operator und Medium der notwendigen Schreib-Aktivität. Er erscheint als besserer, oder gar als einzig realer, Kommunikationspartner. »Für Kommunikation ist eine der elementaren Voraussetzungen, daß die Partner sich wechselseitig überraschen können«80 , schreibt Luhmann, und gerade diese Überraschung bleibt auf der Ebene der mündlichen Interaktionen81 – zumindest so wie Luhmann sie in Bezug auf universitäre Selbstverwaltungen oder Interaktionen mit Vorgesetzten in der Anwaltskanzlei beschreibt – aus. Der Zettelkasten präformiert nicht nur die Arbeit an der Theorie ›von außen‹, sondern wandert insofern ins Innere der Theorie, als die Interaktion mit demselben zum idealen Anschauungsfall für gelingende Kommunikation wird. Die Paradoxie des Luhmannschen Kommunikationsbegriffs lässt sich zurückführen auf den Zettelkasten als idealen Kommunikationspartner. Luhmanns Aufsatz zur Kommunikation mit Zettelkästen verrät insofern nicht nur einiges über den Zettelkasten, sondern auch über Luhmanns Konzeption von Kommunikation.82 Ein solchermaßen idealer Kommunikationspartner kann der Zettelkasten nur werden, wenn er die »entsprechende kommunikative Kompetenz«83 besitzt, und die wiederum ist maßgeblich von der »technischen Ausstattung«84 und dem Aufbau des Zettelkastens abhängig. Für das Innere des Zettelkastens, für das Arrangement der Notizen, für sein geistiges Leben ist entscheidend, daß man sich gegen eine systematische Ordnung nach Themen und Unterthemen und statt dessen für eine feste Stellordnung entscheidet. Ein inhaltliches System (nach Art einer Buchgliederung) würde bedeuten, daß man sich ein für allemal (für Jahrzehnte im voraus!) auf eine bestimmte Sequenz festlegt. Das muß, wenn man das Kommunikationssystem und sich selbst als entwicklungsfähig einschätzt, sehr rasch zu unlösbaren Einordnungsproblemen führen. Die feste Stellordnung braucht kein System. Es genügt für sie, daß man jedem Zettel eine Nummer gibt, sie gut sichtbar (bei uns links oben) anbringt und diese Nummer und damit den Standort niemals ändert. Diese Strukturentscheidung ist diejenige Reduktion der Komplexität möglicher Arrangements, die den Aufbau hoher Komplexität im Zettelkasten und damit seine Kommunikationsfähigkeit erst ermöglicht.85 Luhmann entscheidet sich gegen eine thematische Gliederung des Zettelkastens und übernimmt stattdessen das bibliothekarische Prinzip des numerus currens.86 Anders als 80 81

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Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen, S. 53. Damit soll nicht gesagt sein, dass Luhmann ein unbeholfener Gesprächspartner war. Dieser Einschätzung widerspricht etwa Kieserling: Wer kennt Luhmann, S. 122. Wie oben bereits betont, hat wissenschaftliche Kommunikation aber insofern auch den Vorteil gegenüber anderer Kommunikation, dass sie bereits durch Bücher und damit durch Lektüre präformiert ist. Dies deutet auch Krajewski an, vgl. ders.: Kommunikation mit Papiermaschinen, S. 294-295. Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen, S. 54. Ebd., S. 55. Ebd. Vgl. zum Prinzip der festen Stellordnung in Bibliotheken und seine Geschichte ausführlich Lorenz: Systematische Aufstellung in Vergangenheit und Gegenwart.

3. »Lesewut und Bücherflut«: Drei Varianten

der bibliothekarische Zettelkasten, bei dem die Zettel beweglich sind, die Bücher aber feststehen, transformiert Luhmanns Zettelkasten die Bücher und ihre Stellordnung in die Systematik des Zettelkastens, der damit die gesamte technische Infrastruktur der Bibliothek mit ihrer Kombination von festen Adressen und beweglichen Anzeigern in sich vereint. Dieser Absatz macht deutlich, für wie wichtig Luhmann die Anordnung der Zettel nach einer festen Stellordnung und gerade nicht nach einer thematischen Ordnung hält. Nur so lässt sich, wie in einer Bibliothek, die ›Entwicklungsfähigkeit‹ und damit die kommunikative »Selbständigkeit«87 des Zettelkastens sicherstellen. Gegenüber dem Buch ist der Zettelkasten insofern – so Luhmann – nichtlinear strukturiert: »Es gibt also keine Linearität, sondern ein spinnenförmiges System, das überall ansetzen kann.«88 Die feste Reihenfolge der Zettel, die formal einem Buch gleicht, wird überlagert durch eine Verweisstruktur auf den Zetteln, die wiederum an die angesprochene Freiheit appelliert, seine Reihenfolge selbst anhand beliebiger Kriterien zu wählen. Diese zusätzliche, abstrakte, Verweisstruktur weist auch auf das paradoxe Verhältnis zwischen Zettelkasten und Schrift hin. Der Zettelkasten verdankt seine besondere Informativität, seine Fähigkeit zur Überraschung einem ›Lese-Effekt‹: Indem die gesammelten Notizen an die einst gedachten Gedanken durch die Dauer der Schrift zu erinnern vermögen, und die Schrift neben dem aufgezeichneten Gedankengang auch seine Verweisungen (und Verbindlichkeiten) gegenüber dem komplexen Restinhalt anzeigt und auflistet, liest der Benutzer nicht nur seine Erinnerung, sondern mehr noch seinen durch die Zeit verschobenen Vergleichshorizont mit.89 Die Schrift ist, wie hier noch einmal deutlich wird, Voraussetzung für die Kommunikation mit dem Zettelkasten. Erst sie ermöglicht es, die Dauer von Verknüpfungen zu realisieren und damit die angesprochene Komplexität zu erreichen. Wie Luhmann immer wieder betont, lässt sich eben nicht denken, ohne zu schreiben. Bei der Kommunikation mit dem Zettelkasten handelt es sich also immer schon um eine schriftlich formierte Kommunikation. Andererseits ist das jeweils konkret Geschriebene der Systematik des Zettelkastens unterlegen, wird von ihr gewissermaßen absorbiert: Gegenüber dieser Struktur, die aktualisierbare Verknüpfungsmöglichkeiten bereithält, tritt die Bedeutung des konkret Notierten zurück. Vieles davon wird rasch unbrauchbar oder bleibt bei gegebenem Anlaß unbenutzbar. Das gilt sowohl für Exzerpte, die ohnehin nur bei besonders prägnanter Formulierung lohnen, als auch für eigene Überlegungen. Wissenschaftliche Publikationen entstehen denn auch nicht, so jedenfalls meine Erfahrung, durch Abschreibung dessen, was für diesen Zweck im Zettelkasten schon niedergelegt ist. Die Kommunikation mit dem Zettelkasten wird erst auf höher generalisierten Ebenen fruchtbar, nämlich auf der Ebene der kommunikativen Relationierung von Relationen.90

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Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen, S. 60. Ebd., S. 61. Krajewski: Kommunikation mit Papiermaschinen, S. 301. Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen, S. 60.

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Lektüre als Form

Gegenüber der Verweisstruktur des Zettelkastens, die in referenzlosen Buchstabenfolgen, den Siglen auf den Zetteln, also den Adressen, festgehalten ist, tritt die einzelne Notiz selbst in den Hintergrund. Die referentielle Schrift wird überlagert und verdrängt von einer rein selbstreferentiellen Notation, welche die Relationen innerhalb des Zettelkastens organisiert und so von Luhmann als ›kommunikative Relationierung von Relationen‹ beschrieben wird. Diese Notation bezeichnet nur mehr die »Position, die Stellung und Ortung von den Versatzstücken des Diskurses […] aber nicht mit Blick auf den Inhalt, sondern das abstrakte oder: formale Netzwerk der Verweise«91 . So beschreibt Luhmann auch den Vorgang der eigentlichen Arbeit mit dem Zettelkasten in Bezug auf das Schreiben eines neuen Texts oder eines neuen Vortrags: »Die neuen Ideen ergeben sich dann aus den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten der Zettel zu den einzelnen Begriffen«, erklärt Luhmann.»Diese Technik, so glaube ich, erklärt auch, warum ich überhaupt nicht linear denke und beim Bücherschreiben Mühe habe die richtige Kapitelfolge zu finden, weil eigentlich ja jedes Kapitel in jedem anderen Kapitel wieder vorkommen müßte.«92 Es ist die Form des Buchs, welche die Differenz der Theorie erfahrbar macht, insofern sie zur Linearität zwingt und damit etwa die Erkenntnis erlaubt, dass eigentlich jedes Kapitel in jedem wieder vorkommen müsste. Wie hier deutlich geworden ist, ist es aber der Zettelkasten, der die zentrale Reflexionsfigur des Theoretisierens darstellt. Er ist wichtigster Akteur in einem Netzwerk aus Lektüre, Bibliothek, anderen Büchern, eigenem Schreiben und Theoriearchitektur, insofern er in einer mehrstufigen Übersetzungskette93 »Lektüren« in »Beobachtungen«94 transformiert. Zunächst gibt es einen »bibliografischen Kasten«95 , bestehend aus »zwei frei stehende[n] Karteikästen aus Karton«96 , in den Zettel mit den bibliographischen Angaben und wichtigen Seitenzahlen einsortiert werden. Dieser bibliographische Kasten ist allerdings nicht Bestandteil des tatsächlichen Zettelkastens als Kommunikationspartner. Er ist vielmehr eher Archiv, insofern er Zettel versammelt, die noch genauer auf die Stellen der Lektüreeindrücke verweisen und so einer Nachverfolgbarkeit dienen. Diese Zettel, welche eigentliche Exzerpte von Büchern enthalten, werden wiederum noch einmal übersetzt auf weitere Zettel, die nun bereits von allen bibliographischen Angaben, also von tatsächlichen Spuren des Umgangs mit Büchern, bereinigt sind. Stattdessen finden sich hier, wie Kaube es formuliert, »Gedanken aufgrund von 91 92 93

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Hahn: Schwarze Flächen und weiße Leerräume [Manuskr.], S. 2. Luhmann: Biographie, Attitüden, Zettelkasten, S. 144-145. Vgl. zur Idee einer Übersetzung bzw. zum Verhältnis von Welt und Sprache anstatt eines ›Grabens der Korrespondenz‹ als Verkettung von technischen Übersetzungsschritten Latour: Zirkulierende Referenz, S. 83-90. Interessanterweise verwendet Latour zur Beschreibung dieser Übersetzungsketten ebenfalls die Unterscheidung von Form und Materie, vgl. S. 85. Im kurzen Text von Jürgen Kaube (Luhmanns Zettelkasten oder Wie ist gedankliche Ordnung möglich) werden unversehens die Begriffe Lektüre und Beobachtung gegeneinander ausgetauscht und so ununterscheidbar, vgl. etwa S. 127: »Zettel sind hier also Träger von Beobachtungen mit noch unbestimmter und jedenfalls möglicherweise vielfältiger Verwendungsabsicht. Sie dienen also nicht nur dazu, die menschliche Schwäche mangelnder Gedächtniskraft zu überwinden. Die Zettel dokumentieren auch, dass Lektüren und Gedanken aufgrund von Lektüren neben ihren intentionalen Aspekten stets auch eine gewisse Zufälligkeit haben, die genutzt werden soll.« Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Radiogespräch mit Wolfgang Hagen, S. 105. Vgl. dazu auch Schmidt: Der Zettelkasten Niklas Luhmanns als Überraschungsgenerator, S. 155.

3. »Lesewut und Bücherflut«: Drei Varianten

Lektüren«97 , oder, wie Johannes K. Schmidt es fasst, »Lektüreergebnisse, eigene Thesen und Konzepte«98 , also gerade keine Paraphrasen, sondern assoziative Ideen, die während der Lektüre der ersten Zettel, die ja selbst schon Lektüreeindrücke enthalten, entstehen. Die erstellten Notizen gingen deshalb nicht 1:1 in den Zettelkasten ein. Vielmehr nahm Luhmann erst im Anschluss an die Lektüre in einem zweiten, zeitnahen Arbeitsschritt eine Verzettelung der beim Lesen erstellten Notizen vor, die sich an den bereits vorliegenden Zetteln der Sammlung orientierte. Dabei war nicht eine letzte Durchdachtheit eines Gedanken von Bedeutung, sondern die Annahme, dass über die Sinnhaftigkeit der jeweiligen Notiz erst durch die Relationierung mit anderen Notizen – und deshalb unter Umständen erst zukünftig – entschieden werden kann.99 Die Übersetzung der anhand konkreter Lektüren erstellten Notizen in die eigentlichen Zettel, die dann wiederum nur noch die ›Essenz‹ der Lektürenotizen enthalten, bezeichnet Luhmann auf einem dieser Zettel selbst als ›Wiederkäuen‹ und den Zettelkasten damit als ›Wiederkäuer‹.100 Die bereits durch die internen Maßstäbe des Zettelkastens formierten Zettel wiederum erhalten pro Zettel eine Ordnungsnummer, die aus Buchstaben und Zahlen zusammengesetzt ist, und die die eigentliche Information bildet. Dieses so entstehende informative Begriffsnetz bildet wiederum die Struktur der eigenen Texte vor. Insofern lässt sich der Zettelkasten als große Transformationsmaschine von Lektüre ins Buch betrachten, der allerdings die Lektüre selbst zunächst einmal in abstrakte Beobachtungen, im Sinne der weiteren Argumentation also in ›Formen‹ verwandelt, aus denen jede Spur eines Umgangs mit Büchern getilgt ist. Die hier beschriebene Praxis des Umgangs mit Büchern ist sicherlich in vielen Aspekten typisch für das wissenschaftliche Arbeiten und nicht idiosynkratisch für Luhmann. Allerdings tritt sie hier, in der Maschinerie des Zettelkastens, der den materielltechnischen Knotenpunkt der geschilderten Übersetzungsprozesse von Lektüre in die Konstruktion einer ›Theorie‹, also von einem reinen Rauschen in das asymmetrische Verhältnis Signal und Rauschen (vgl. dazu bes. Kap. 6.1 sowie 6.4) bildet, besonders deutlich zum Vorschein. Der Zettelkasten bildet somit die zentrale materielle Architektur einer Theoriearbeit, in der Buchförmigkeit ornamental ins Innere verschoben wird. Die drei verschiedenen Szenen des Umgangs mit Büchern deuten in ihrer beschränkten, da auf biographische Selbst- und Fremdzeugnisse reduzierten, Reichweite schon grundlegende Differenzen in Bezug auf die jeweiligen Verhältnisse von Buch und Lektüre an. Unter dem Stichwort der Bibliophilie habe ich für Schlegel beschrieben, inwiefern sein Umgang mit Büchern ein als eigentliches Gespräch übercodiertes Erkunden eines ›Wesens‹ darstellt. Die Bibliophilie bezieht sich auf das Buch als ideale Interaktionsform, die sich im Lichte der folgenden Diskussion als komplexes Wechselspiel aus Reden und Schweigen einstellt, und die dazu spezifischer Öffnungsund Schließungsfiguren bedarf. Bei Benjamin ließ sich eine Aufmerksamkeit für den

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Kaube: Luhmanns Zettelkasten Oder Wie ist gedankliche Ordnung möglich, S. 127. Schmidt: Der Zettelkasten Niklas Luhmanns als Überraschungsgenerator, S. 155. Ebd., S. 156. Zit. nach ebd., S. 156.

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Lektüre als Form

Peritext feststellen, die das Buch von der Lektüre trennt. In Bezug auf die tatsächliche Kommunikation ist das Buch längst von anderen Medien abgelöst worden. Was anschlussfähig bleibt, wenn auch auf nostalgische Weise, ist die Materialität, die Objekthaftigkeit eines Buchs. Die Bibliophilie wandelt sich insofern zur Bibliographie, als es dieser gerade um das adäquate Erfassen dieser äußeren Buchförmigkeit an sich geht, die damit auf einer übergeordneten Ebene zum konkreten Buch steht. Luhmanns Zettelkasten wiederum konzentriert sich auf die Lektüre und transformiert diese zu einem Netzwerk aus Adressen. Fluchtpunkt dieses Netzwerks ist ihre Schließung im Sinne einer inneren, verschobenen, virtuellen Buchförmigkeit.

4. Arabeske: Reden/Schweigen Die π [Poesie] muß mit der Bibel (als Buchform) anfangen, φ [Philosophie] damit endigen. KFSA XVI, S. 205, Fragment 10.

Ein wesentliches Thema im Austausch der beiden Freunde Friedrich Schlegel und Novalis bildet das gemeinsame ›Bibelprojekt‹. Am 7. November 1798 schreibt Novalis an Schlegel, dieses sei »eins von den auffallenden Beyspielen unserer inneren Symorganisation und Symevolution«. Genauso wie Schlegel ist auch Novalis auf »die Idee der Bibel gerathen – der Bibel – als des Ideals jedweden Buchs.« Die »Theorie der Bibel«, könnte, wie Novalis ausführt, »die Theorie der Schriftstellerey oder der Wortbildnerey überhaupt« bilden und damit zugleich die »symbolische, indirecte, Constructionslehre des schaffenden Geistes« (NS IV, S. 262-263). Gerade in dieser Bestimmung der Bibel im Sinne einer Theorie der Schrifstellerei liegt aber, wie Schlegel postwendend seinem Freund mitteilt, nicht nur die besondere Gemeinsamkeit zwischen den Briefpartnern, sondern auch eine Quelle des Missverständnisses. Dies wird im Antwortbrief Schlegels an Novalis deutlich, der hier auszugsweise wiedergegeben wird, um die Differenz zwischen Novalisʼ Bestimmung der Bibel und derjenigen Schlegels gemäß der Auffassung des letzteren deutlich zu machen: Allerdings ist das absichtslose Zusammentreffen unsrer biblischen Projekte eines der auffallendsten Zeichen und Wunder unsres Einverständnisses und unsrer Mißverständnisse. Ich bin eins darin mit Dir, daß Bibel die litterair.[ische] Centralform und also das Ideal jedes Buchs sei – aber mit mannichfachen ganz bestimmten Bedingungen und Unterschied. Auch das Journal, der Roman, das Compendium, der Brief, das Drama pp. sollen in einem gewissen Sinne Bibel seyn, und doch das bleiben, was ihr Name und sein Geist bezeichnet und umfaßt. Nun habe ich aber eine Bibel im Sinne, die nicht in gewissem Sinne, nicht gleichsam sondern ganz buchstäblich und in jedem Geist und Sinne Bibel wäre, das erste Kunstwerk dieser Art, da die bisherigen nur Produkte der Natur sind. Soviel ich ahnde, hat Dein Werk mehr Analogie mit einem idealen Buch von mir über die Principien der Schriftstellerei, wodurch ich den fehlenden Mittelpunkt der Lektüre und der Universitäten zu constituiren denke. […] Mein biblisches Projekt

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aber ist kein litterairisches, sondern – ein biblisches, ein durchaus religiöses. Ich denke eine neue Religion zu stiften oder vielmehr sie verkündigen zu helfen: denn kommen und siegen wird sie auch ohne mich. (KFSA XXIV, S. 204-205) Schlegel geht es im Unterschied zu Novalis um die Bibel nicht nur als Quelle des Literarischen. Die mediale und sozialsystemische Einschränkung auf das Literarische, auf die »Textbezogenheit«1 , reicht ihm nicht aus. Schlegel schwebt das Buch der Bücher nicht nur im materiellen, nämlich druckschriftlichen, Sinne, sondern gleichzeitig als Stifter einer neuen, verbindlichen Form des sozialen Zusammenhalts, als »das neue ewige Evangelium« (KFSA II, S. 265, Fragment 95) vor.2 Das Buchstäbliche der Bibel besteht also – paradoxerweise – gerade darin, dass sie nicht nur buchstäblich wahrgenommen wird, sondern viel umfassender als Gründungsdokument eines neuen sozialen Bundes, und in genau diesem Sinne als religionsstiftend fungiert. Das folgende Kapitel wird sich der Ausgestaltung des Bibelprojekts von zwei Seiten nähern. Ich werde zunächst anhand von zentralen Paratexten3 Schlegels und Schleiermachers, insbesondere Schleiermachers Vorlesung zu Hermeneutik und Kritik und Schlegels Rezension Über Goethes Meister (1798) als »erste[s] und wichtigste[s] Dokument einer neuen und zugleich philologischen Behandlung zeitgenössischer Literatur«4 , die begriffliche Ausgestaltung einer neuartigen Lektüretechnik aufzeigen. Anschließend werde ich an Schlegels Roman Lucinde die buchförmige Umsetzung einer umfassenden Symmetrie nachzeichnen. Im Anschluss an diese Rekonstruktion der ›biblischen‹ Konstellation von Lektüre und Buch wird die Explizierung der das Gesprächsparadigma organisierenden Unterscheidung von Reden und Schweigen sowie dessen mediale Paradoxien in Schleiermachers Vertrauten Briefen über die Lucinde zum Thema. Schließlich lese ich Schlegels Vorlesung über Transcendentalphilosophie als Vorbereitung eines prozessualen Formbegriffs, und damit als ersten Schritt in die Richtung von Benjamins systematisierender Lektüre.

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Novak: Schleiermacher und die Frühromantik, S. 136. Inwiefern Novalis von diesem Gedanken des materiellen Buchs als Durchgangsstadium zu einem erneuerten sozialen Bund abweicht, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Interessant ist jedoch, dass Novalis in seinem Antwortbrief an Schlegel einen Plan als »Hauptgeschäft meines Lebens« ankündigt: »Er betrifft Die Errichtung eines litterairischen, republicanischen Ordens – der durchaus mercantilisch politisch ist – einer ächten Cosmopoliten Loge. Eine Buchdruckerey – ein Buchhandel muß das erste Stamen seyn. […] Wer weiß, ob Dein Project nicht in das Meinige eingreift – und eben so den Himmel in Bewegung sezt, wie meines den irdischen Sphäroid. Man hat lange genug von solchen Projecten gesprochen. Warum sollen wir nicht etwas ähnliches auszuführen suchen. Man muß in der Welt seyn, was man auf dem Papier ist – Ideenschöpfer. Auf deine Gedancken von Religion und Bibel gehe ich jetzt nicht ein – kann auch nicht eingehn, weil mir das Meiste davon cimmerisch dunkel ist – einige treffliche Einfälle – besonders die Fühlhörner – ausgenommen. Mündlich einmal mehr davon – oder schriftlich, wenn lesbare Bruchstücke fertig und gedruckt sind.« (KFSA XXIV, S. 209-210) Die Gemeinsamkeiten genauso wie die Abweichungen zwischen Schlegel und Novalis lassen sich hier nur spekulativ entnehmen; sie scheinen aber in der stärkeren Hinwendung Novalisʼ zur tatsächlichen Materialität des Buchs, etwa was die bildlichen Qualitäten der Druckschrift angeht, zu liegen. Die Klassifikation als ›Paratexte‹ ergibt sich daraus, dass sich diese Texte explizit mit dem Gegenüber von Buch und Lektüre befassen, ohne selbst konzeptionell buchförmig zu sein. Benne: Kunst der Organisation, S. 105.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

4.1.

Paratext

Am Ende des 18. Jahrhunderts entfaltet sich in der Frühromantik eine Reflexion auf den Umgang mit schriftlichen Texten, die bis heute die modernen Philologien prägt.5 Unter den disziplinären Stichworten der Philologie, der Hermeneutik und der Kritik aber auch unter Gattungsbegriffen wie der Charakteristik und wiederum der Kritik6 wird grundlegend diskutiert, was es bedeutet, wenn man »mit einem Buch ernstlich anbindet« (HuK, S. 332). Die Lektüre wird dabei als paradigmatische soziale Kommunikation angesehen. Gegenüber einem mündlichen Gespräch hat man nämlich hier den Vorteil einer Vorrede, einer Überschrift, Übersicht und Inhaltsanzeige als »Anschauung […] von der Gliederung eines Werkes« – und selbst, wenn diese ganzen Bestandteile der Form Buch fehlen, »hat man nur das Buch vor sich: so kann selbst die sonst eher verdammlich erscheinende Neigung […] darin zu blättern, dem, der Glück hat oder Geschick, von bedeutendem Nutzen sein« (HuK, S. 332). Gleichzeitig erscheint sie jedoch auch problematisch, insofern die Bücherflut eine ernsthafte Auseinandersetzung tendenziell gerade verhindert. Diesem Problem wird mithilfe einer Lektüreprogrammierung begegnet: Die Lektüre wird als Gespräch übercodiert und somit geschlossen. So werden die Fragmente bei Schlegel im Sinne des Dialogs bestimmt: »Ein Dialog ist eine Kette, oder ein Kranz von Fragmenten.« (KFSA II, S. 176, Fragment 77) Der Erfahrung von Öffnung in der Lektüre steht der mit der Produktion eines Buchs verbundene Wunsch nach Schließung und damit Manipulation künftiger Lektüren gegenüber, der sich besonders deutlich in Schlegels Lucinde beobachten lässt, und der mit dem Projekt eines sozial verbindlichen Buchs der Bücher, der Bibel, verbunden ist. Die in den Zeitschriften Athenäum und Lyceum veröffentlichten Fragmente und kurzen Texte behandle ich hier als Paratexte, da sie in ihrer begrifflichen Konzeption von Lektüre die Schließung von Buchförmigkeit gegenüber der Lektüre vorbereiten und

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Zu diesen Anfängen der »philologischen Selbstreflexion« vor und um 1800 vgl. insgesamt Wegmann: Philologische Selbstreflexion. Die Abgrenzung zwischen Charakteristik und Kritik, die von diversen Romantikforschern immer wieder versucht worden ist, gestaltet sich schwierig. Hans Dierkes identifiziert in seiner Studie zu Schlegels Kritikbegriff zunächst die Charakteristik als Gattung und die Kritik als Praxis bzw. Kunst, nur um beide Begriffe anschließend dennoch als identisch zu setzen, vgl. ders.: Literaturgeschichte als Kritik, S. 89. Walter Benjamin versteht die Kritik als poetisch und die Charakteristik als eher prosaisch, Hans Eichner unterscheidet verschiedene Formen der Charakteristiken und versteht etwa die Wilhelm-Meister-Rezension gerade als exemplarisches Beispiel einer vollendeten Charakteristik (zu einer Diskussion dieser beiden Positionen vgl. Oesterle: Kunstwerk der Kritik). Oesterle selbst bezeichnet die Charakteristik als ›Mischform‹ aus poetischen und nichtpoetischen Elementen und möchte sie so als fluide Gattung zwischen Theorie und Praxis verstehen (vgl. S. 66). Für die vorliegende Analyse ist dieses Ergebnis insofern interessant, als es auf die netzwerkartige Organisation der Schlegelschen Begrifflichkeiten hinweist. Wie sich an Oesterles Ausführungen sehr gut zeigen lässt, erweist sich jeweils der vom Interpreten ausgesuchte Begriff als Knotenpunkt des begrifflichen Netzwerks, der alle anderen Formen unter sich versammeln kann: »Neben die Verbindung dreier Weltsichten – der ästhetisch-philosophischen (›Darstellung des notwendigen Eindrucks‹), der analytisch urteilenden und der hermeneutisch rekonstruierenden – tritt die Kreuzung zweier Gattungen: des Essays und der systematischen Abhandlung.« (S. 67)

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mitgestalten, ohne selbst konzeptuell buchförmig zu sein.7 In ihnen besteht der Freiraum, eine Reflexion über notwendige Eigenschaften eines idealen Buchs anzustellen, ohne dies performativ einlösen zu müssen. Dies äußert sich in einem berühmten Brief Schlegels an seinen Freund Novalis vom 2. Dezember 1798 aus dem Kontext des bereits angesprochenen gemeinsamen Bibelprojekts: Die Fragmente von mir und die Charakteristiken betrachte als Seitenflügel oder Pole jenes Werkes, durch das sie erst ihr volles Licht erhalten werden. Es sind klassische Materialien und klassische Studien oder Experimente eines Schriftstellers, der die Schriftstellerei als Kunst und als Wissenschaft treibt oder zu treiben strebt: denn erreicht und getan hat dies bis jetzt so wenig ein Autor, daß ich vielleicht der erste bin, der es so ernstlich will. (KFSA XXIV, S. 205) Diese Ausführungen zeigen, dass sowohl die Fragmente als auch die Charakteristiken und Kritiken als Vorbereitung zum eigentlichen ›Werk‹, also zur Bibel als Buch der Bücher dienen, die insofern den Fluchtpunkt aller schriftstellerischen Tätigkeiten bildet. Die Vorstellung von konzeptueller Buchförmigkeit dient als Folie, vor der sich alle anderen literarischen Kunstformen, insbesondere das Fragment, behaupten müssen. Genau in diesem Sinne ist meine Einordnung der Fragmente als Paratexte zu verstehen: Sie funktionieren insofern paratextuell, als sie den Raum für eine Auseinandersetzung mit Lektüre und Buchförmigkeit gleichermaßen eröffnen. Im Rahmen der Fragmente vollzieht sich diese Auseinandersetzung auf rein begriffliche Weise, bleibt jedoch gerade in ihrer Begrifflichkeit auf das Buch bezogen, insofern sie die hier erfolgende Inklusion von Lektüre als soziales Gespräch gleichzeitig vorbereitet und voraussetzt.8 Zunächst greife ich zentrale Begrifflichkeiten heraus, um welche die Schlegelsche und Schleiermachersche Reflexion von Lektüre immer wieder kreist (Kap. 4.1.1). Dabei handelt es sich um die beiden Prozessbegriffe Kunst und Magie, an denen grundsätzlich das Schwanken zwischen Prozessualität und Gegenständlichkeit und den beiden damit verbundenen symmetrischen und asymmetrischen Begriffslogiken in der Konzeption von Lektüre deutlich gemacht wird. Anschließend zeichne ich nach, dass die Technik der Verwendung symmetrisch konzipierter Gegensatzpaare als »helle und lebhafte Gegensätze« (Kap. 4.1.2) nicht nur die Transkription der Lektüre des Wilhelm Meister betrifft, sondern auch andere Paratexte, also Fragmente und Notizen Schlegels, kennzeichnet. Stellvertretend beschreibe ich an den Begriffspaaren Individuum und Universum den

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Die Nicht-Buchförmigkeit hat dabei unter anderem den Grund, dass – wie Spoerhase noch für die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zeigt – »das Wissen über die materiale und ästhetische Form des Buches um 1900 noch keinen festen Ort gefunden hat, weder intellektuell noch disziplinär oder hinsichtlich der Publikationsformate« (Linie, Fläche, Raum, S. 33-35). Auch Mergenthaler begreift den »Anspruch an den Leser« als Zentrum der Schlegelschen Fragmente, setzt diesen Anspruch allerdings nicht ins Verhältnis zum Buch Lucinde (vgl. Mergenthaler: Zwischen Eros und Mitteilung, S. 19) Abschließend definiert sie das romantische Lektüreprogramm der Fragmente als »Teilnahme eines jeden Lesers an ihrer Sehnsucht nach einem schwer benennbaren Ganzen des Absoluten […], das hier, auf Friedrich Schlegels Schriften aufbauend, als vollendete Mitteilung charakterisiert wurde.« (S. 314) Ebenjenes vollendete Ganze werde ich als das Buch Lucinde bestimmen, welches insofern auch die vollendete Mitteilung einlöst.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Versuch, mithilfe von symmetrisch konzipierten, sich aber gegenseitig widersprechenden Begriffen eine ›konkrete Abstraktion‹ zu verwirklichen, insofern die Entgegensetzung in ein gegenseitiges Steigerungsverhältnis überführt wird. Hier zeigt sich schon die immer angelegte Möglichkeit der Verschiebung von Gegensatzbegriffen zu Prozessbegriffen, die im darauffolgenden Kapitel noch weiter ausgeführt wird. Kapitel 4.1.3 nimmt die Thematisierung des Verhältnisses von Rede und Schrift, etwa an den Gegenüberstellungen Buchstabe/Geist und Begriff/Sinn in den Blick. Hier wird sich zeigen, dass der Versuch, Rede und Schrift symmetrisch aufeinander zu beziehen und aneinander zu steigern schon die Problematik des Umschlagens in Asymmetrie vorbereitet. Bei der Doppelung von Organisation und Konstruktion (Kap. 4.1.4) handelt es sich um eine Entgegensetzung, die sich nicht auf gegenständliche Begriffe, sondern auf Prozessbegriffe bezieht und hier verschiedene Perspektiven bezeichnet. Den Abschluss des Kapitels bilden die beiden Begriffe der Grenze (Kap. 4.1.5) und der Ironie (Kap. 4.1.6), die noch einmal das Verhältnis von Öffnung und Schließung aufgreifen und problematisieren. Das Kapitel zur Ironie kann so als Zwischenfazit das in den Paratexten aufscheinende Lektüreprogramm zusammenfassen.

4.1.1.

Kunst und Magie9 : Lektüre zwischen Öffnung und Schließung

Eine klare begriffliche Hierarchie zwischen den für die Theoretisierung von Lektüre verwendeten konkurrierenden Etiketten Philologie, Hermeneutik, Kritik und Charakteristik oder eine Zuordnung derselben zu einzelnen Texten ist kaum zu leisten. Für Schlegel bezeichnen diese Begriffe immer wieder lediglich verschiedene Aspekte desselben Beobachtungsverfahrens, die eigentlich in der Tätigkeit zusammenfallen10 , so etwa Kritik und Philologie, wie es in den Philosophischen Lehrjahren (1796-1806) heißt : »κρ [Kritik] der φδ [Philosophie] = φλ [Philologie] der φδ [Philosophie], das ist Eins.« (KFSA XVIII, S. 40, Fragment 228) und ebenso Hermeneutik und Kritik: »Hermeneutik und Kritik sind absolut unzertrennlich dem Wesen nach; ob sie gleich Ausübung, Darstellung getrennt werden können, und die Tendenz jeder φλ [Philologie] auf einer Seite gewöhnlich überwiegt.« (KFSA XVI, S. 50, Fragment 178)11 Für diese Begriffe gilt, dass sie sich, wie Christoph König es treffend beschreibt, in ihrer gegenseitigen Annäherung 9 10

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Vgl. zum Zusammenhang von Magie und Rhetorik/Materialität insgesamt auch die Untersuchung von Schnyder: Die Magie der Rhetorik. Diese aspektbezogene Privilegierung eines Begriffs wiederholt sich in der Forschung. So betonen die Herausgeber des Sammelbands Friedrich Schlegel und die Philologie, dass »Friedrich Schlegels Schriften nicht nur vielfach Philologisches zum Thema haben, sondern sein Denken und Schreiben […], sofern sie beständig das Verhältnis von Geist und Buchstaben erforschen, den Zusammenhang von Grammatik, Kritik, und Hermeneutik reflektieren, in ihrer Substanz philologisch sind.« (Breuer, Bunia, Erlinghagen: Einleitung. Friedrich Schlegel und die Philologie, S. 9) Vgl. dazu auch Weimar: Historische Einleitung zur literaturwissenschaftlichen Hermeneutik, S. 95.: »Um dieser Konsequenz [einer Zweiteilung des höchsten Wissens, CC] zu entgehen, unternimmt Schlegel die Zusammenlegung von Kritik und ›Hermeneutik‹ als verschiedenen Aspekten oder Tendenzen einer und derselben Philologie.« Weimar betont hier allerdings, dass Schlegel den Begriff der Hermeneutik für die Kunst des Verstehens reserviert und damit den historischen Begriff abwandelt. Mir geht es für die folgende Darstellung eher um die Struktur der Beobachtungsoperationen selbst als deren disziplinäre oder gattungsmäßige Einteilung.

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annihilieren, insofern jeder »für sich das Ganze verkörpern muss«12 . Damit wird »der Sinn der Begriffe unaussprechbar. Sie treten nur mehr als ein Name auf«13 . Im Folgenden nehme ich zwei weitere solcher Namen in den Blick, die bisher weniger beachtet wurden: Kunst und Magie. Die Frage ist dabei weniger, wie sich die frühromantische Lektürepraxis performativ vollzieht und welche Begriffe dafür aus heutiger Sicht angemessen wären, sondern vielmehr, welche Begriffe von Schlegel selbst verwendet werden, um sie als Programm zu etablieren. Dabei geht es mir darum, wie genau diese Begriffe funktionieren. Für die Rekonstruktion der spezifisch frühromantischen Lektüretechnik sehe ich also von den zahlreichen Versuchen einer inhaltlichen Unterscheidung der zeitgenössischen Begriffe genauso wie von Versuchen ihrer Projektion auf moderne Unterscheidungen, wie etwa Hermeneutik/Dekonstruktion14 ab, und konzentriere mich stattdessen auf die begriffliche Logik der Thematisierung von Lektüre zwischen prozessualen Einheitsbegriffen und symmetrischen Gegensatzbegriffen. Ich werde hier die Einlassungen Schlegels und Schleiermachers gemeinsam behandeln, da es mir darum geht, aus den frühromantischen Texten eine abstrakte begriffliche Modellierung von Lektüre zu destillieren, die den modernen Formbegriff wie geschildert wahrscheinlich, aber gleichzeitig notwendig abwesend macht. Diese Wahrscheinlichkeit bei notwendiger Abwesenheit begründet sich in der Gleichzeitigkeit einer Tendenz zur abstrakten Systematisierung und einem Insistieren auf dem irreduziblen Konkreten, die der Begriffsarbeit Schlegels insgesamt innewohnt, und die sich anhand von zwei verschiedenen Modi der Begriffsbildung zeigen lässt. Auf der einen Seite stehen symmetrisch konzipierte Gegensatzpaare (etwa Individuum und Universum oder Begriff und Sinn), die sich wechselseitig legitimieren und insofern symmetrisch angelegt sind. Auf der anderen Seite stehen prozessuale Einheitsbegriffe wie Organisation oder Konstruktion, die keine sachbezogenen Aspekte, sondern vielmehr ›reine Methoden‹, also ›reine Performanzen‹ bezeichnen. Hier sind die Begriffe insofern asymmetrisch gedacht, als sie sich in dem Moment, in dem sie festgehalten werden, gleichsam selbst verraten und eigentlich immer auf ihre Auflö-

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König: Grenzen der Cyklisation, S. 26. Ebd., S. 27. Die Analyse der Lektüreprogramme in Bezug auf ihre begrifflichen Dispositionen kann eine andere Diskussion ersetzen, welche sich etwa seit den späten 1980er Jahren in Bezug auf Schleiermachers Hermeneutik und Kritik sowie Schlegels verstreute Schriften zu Kritik und Philologie entwickelt hat. In der Schlegel-Forschung wurde immer wieder versucht, Schlegels und/oder Schleiermachers Lektürereflexionen zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion und damit zwischen Verstehen und Nichtverstehen zu situieren. Diese Opposition scheint mir für den hier anvisierten Zusammenhang aus mehreren Gründen wenig fruchtbar zu sein. Zunächst geht es mir nicht um eine abschließende Bewertung des Ziels von hermeneutischen oder kritischen Operationen, sondern vielmehr um das Wie der Beschreibung dieser Operationen und um die hier zu beobachtende Konvergenz mit dem Wie der in der Frühromantik entstehenden Bücher und ihrer konzeptuellen Buchförmigkeit. Für die Reflexionen der Lektüre ist also nicht der Begriff des Verstehens zentral, sondern vielmehr die in der Frühromantik viel dominanter verwendeten Begrifflichkeiten, wie etwa Organisation oder (Nach-)Konstruktion, die direkt auf die Frage der Schließung im Sinne der Herstellung eines einheitlichen Gegenstands abzielen.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

sung hin arbeiten.15 Das grundlegende Schwanken zwischen diesen beiden Formen der Begriffsbildung spiegelt das Schwanken zwischen Öffnung und Schließung16 , zwischen Lektüre und Buch sowie zwischen Reden und Schweigen. Für das Schwanken zwischen Öffnung und Schließung von Lektüre, welches sich in der Gleichzeitigkeit symmetrischer und prozessualer Begrifflichkeiten niederschlägt, sind zwei übergeordnete Konzeptionen paradigmatisch: auf der einen Seite die Perspektivierung von Lektüre als Gespräch, auf der anderen Seite die Einbeziehung der ›Lektüregestimmtheit‹, also der Atmosphäre von Lektüre, welche mit einem Wort als Liebe charakterisiert werden kann. Novalis fasst diese beiden Aspekte im Allgemeinen Brouillon nicht nur in Bezug auf die Lektüre eines Buchs, sondern in Bezug auf die Lektüre des ganzen Universums zusammen: »Auch das Universum spricht – alles spricht – unendliche Sprachen« (NS III, S. 267-268) heißt es dort. Wie Schlegel in seiner Vorlesung zur Philosophie der Geschichte deutlich macht, kann dieses Sprechen allerdings nicht gehört, sondern vielmehr gelesen werden: »Auch die Natur redet in ihrer stummen Bilderschrift eine Sprache; allein sie bedarf eines erkennenden Geistes, der den Schlüssel hat und zu brauchen weiß, der das Wort des Rätsels in dem Geheimnis der Natur zu finden versteht, und statt ihrer, das in ihr verhüllte innere Wort laut auszusprechen vermag, damit die Fülle ihrer Herrlichkeit offenbar werde.« (KFSA IX, S. 30) Offenbaren kann sich diese Sprache aber nur dem »ächten Liebhaber«, »je harmonischer seine Constitution mit ihr [der Natur] ist« (NS III, S. 256). Die Isomorphie des Lesens und des gelesenen Gegenstands und damit die »Symmetrie der Sprachwelten«17 zwischen Prozess und Gegenständlichkeit wird nur durch die Liebe gestiftet. Sie ermöglicht außerdem den Übergang zwischen stummer Lektüre und beredtem Gespräch sowie auf der begrifflichen Ebene den Übergang zwischen prozessualen und symmetrischen Begriffen. Hier zeigt sich eine Begriffsdynamik, in der jeder Begriff gleichzeitig einen spezifischen Aspekt, und damit etwas höchst Individuelles, und dennoch gerade die Transgression des individuellen Bereichs hin zum Absoluten bezeichnet. Diese Oszillation zwischen Symmetrie und Prozessualität werde ich in der Reflexion von Lektüre bei Schlegel und Schleiermacher verfolgen. Alle disziplinären und gattungstheoretischen Begriffe, welche für die Theorie der Lektüre und die Adressierung ihrer Performanz verwendet werden, haben die Eigenschaft »absolut und zugleich konkret – tendenziös zu sein«18 . Sie vermitteln insofern 15 16

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König verwendet, wie schon erwähnt, in seinem Aufsatz zu den »Grenzen der Cyklisation« daher statt ›Begriff‹ die Bezeichnung ›Name‹, vgl. König: Grenzen der Cyklisation, S. 27. May Mergenthaler beschreibt in ihrer Monographie Zwischen Eros und Mitteilung das Nebeneinander von Öffnung und Schließung in Bezug auch auf die Forschung zur Frühromantik als »zwiespältig«. Einerseits führt es »zu einem potentiell destruktiven Streben nach Totalität, andererseits zu einer erhöhten kritischen Reflexivität und Einsicht in die Grenzen des menschlichen Vermögens« (S. 15) Auch hier wird die Reflexion (im Sinne Benjamins) auf die Seite der Öffnung, die Totalität dagegen auf die Seite der Schließung verwiesen und als potentiell (politisch) gefährlich markiert – diese Sichtweise unterschlägt meines Erachtens die Verwobenheit von Öffnung und Schließung und die mit dem Begriff der Reflexion ebenfalls verbundenen anderen Schließungsbewegungen (vgl. Kap. 5). Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 241. Blumenberg bezieht sich hier eigentlich auf die Symmetrie der Sprachwelten zwischen Novalis und Schlegel. König: Grenzen der Cyklisation, S. 27.

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zwischen dem abstrakt-systematischen Bestreben nach einer Enzyklopädie und dem Interesse an konkreten Behandlungsweisen von konkreten Texten und den damit verbundenen persönlichen Lektüreerfahrungen. Die Notwendigkeit einer innovativen Lektürereflexion bezieht sich so zunächst auf den Gegenstandsbereich. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war der einzige Gegenstand der Philologie in den Schriften des Altertums zu finden. Bedeutsam für die Neugestaltung der Philologie in der Frühromantik ist nicht nur die Methodik, sondern auch die »hermeneutische[...] Objektkonstitution«19 . Friedrich Schlegel und Schleiermacher versuchen, die Philologie vom exklusiven Gegenstand der Schriften des Altertums zu trennen und als allgemeingültiges Verfahren, genauer als ›Kunst‹20 zu definieren.Für die frühromantische Lektürereflexion ist es nicht mehr möglich, a priori grundsätzlich geeignete Gegenstände für die Lektüre zu identifizieren. Die Universalität des Verfahrens und seine Gegenstandslosigkeit bedingen sich gegenseitig. Die abstrakte Definition eines Gegenstandsbereichs wird abgelöst durch die Identifikation konkreter, lohnender Gegenstände21 : »An eine Definition des absolut Dichterischen war nicht mehr zu denken; nur das Erkennen, das Identifizieren und Beschreiben eines Dichtwerks war noch möglich. An dieser Neuorientierung hatte keiner größeren Anteil als der junge Friedrich Schlegel.«22 Auch Friedrich Schleiermacher betont in seiner Vorlesung Hermeneutik und Kritik die subjektive Wertschätzung, die man dem auszulegenden Gegenstand entgegenbringen, bzw. die der auszulegende Gegenstand in seinem Leser erregen müsse: »Daher ist auch diese Kunst [die Hermeneutik] ebenfalls einer Begeisterung fähig wie jede andere. In dem Maße, als eine Schrift diese Begeisterung nicht erregt, ist sie unbedeutend.« (HuK, S. 94)23 Hierin ist nun die Schließungsbewegung zu erkennen: anstelle eines von vorneherein gültigen Rahmens, der geeignete Texte identifiziert, ist es die Liebe selbst, hier als Begeisterung, also die Symmetrie zwischen Gegenstand und Lektüre, die das Ausschlusskriterium bildet. Der ausgezeichnete lohnende Gegenstand ist für die Frühromantiker immer wieder Johann Wolfgang Goethe: »Goethes rein poetische Poesie ist die vollständigste Poesie

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Limpinsel: Diaskeuasen des Geistes. Der Begriff ›Kunst‹ ist bei Schlegel und auch bei Schleiermacher mehr oder weniger gleichbedeutend mit dem Begriff ›Technik‹ und bezeichnet also ein reflektiertes oder theoriefähiges Verfahren, vgl. dazu Weimar: Historische Einleitung, S. 116-117, Anm. 39. Die besondere Stellung, die einzelne Texte für die Methodik des Verstehens haben, zeigt sich auch für die Disziplin der Literaturgeschichte, vgl. dazu Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S. 275: »Daß Schlegel das alles, vom subjektiven Vermögen vor aller Betätigung über die Tätigkeit selbst bis hin zum Produkt, mit der einen terminologischen Klammer ›Literatur‹ umspannt, ist der Reflex eines Problems, das sich ihm wohl als erstem in dieser Weise gestellt hat. Dieses Problem ist der Sonderstatus, den literarische Texte für jedwedes Interesse an so etwas wie Literaturgeschichte haben, seit die Poesie aus dem Kreise der Wissenschaften ausgeschieden ist. Wen oder was man auch als Subjekt dieser Geschichte ansetzt, – die literarischen Texte sind sowohl Quellen für die Kenntnis dieser Geschichte als auch Ereignisse […].« Henel: Schlegel und die Grundlagen der modernen literarischen Kritik, S. 96. Schlegel nennt diese Gegenstände auch klassisch, Schleiermacher entwickelt als Überbegriff für das klassische (die Sprache neu schöpfende) und originelle (aus dem Individuum neu hervorgehende) den Begriff des genialischen Werks, vgl. HuK, S. 83.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

der Poesie« (KFSA II, 206, Nr. 247).24 Schlegels Rezension von Goethes Roman Wilhelm Meister, zum ersten Mal 1798 im Athenäum in ihrer bis heute bekannten fragmentarischen Form erschienen und dann später mit leichten Änderungen unter dem neuen Titel Charakteristik des Wilhelm Meister in die Sammlung der Schlegelschen Charakteristiken und Kritiken aufgenommen25 , bildet daher auch die Grundlage für eine Untersuchung der begrifflichen Formation der frühromantischen Lektüretechnik, welche wiederum erst bestimmt, »welche Fragen überhaupt sinnvoll an einen Text gestellt werden können«26 . Die eingehende begriffliche Analyse der in dieser Rezension verhandelten Lektüretheorie wird ergänzt durch passende Stellen aus den Fragmenten und Notizen aus dem Athenäum, Lyceum und aus den Nachlassschriften Schlegels sowie kontrastiert und erweitert durch Schleiermachers Vorlesung Hermeneutik und Kritik. Eine methodisch verfahrende systematische Reflexion von Lektürepraxis ist für die Frühromantiker offensichtlich ein Desiderat: »Die Hermeneutik als Kunst des Verstehens existiert noch nicht allgemein, sondern nur mehrere spezielle Hermeneutiken« (HuK, S. 75), urteilt Schleiermacher ganz zu Beginn seiner Vorlesung. Spezielle Hermeneutiken unterscheiden sich also je nach ihrem Gegenstand – Schleiermacher macht, wie Schlegel zuvor für die Philologie, den Versuch, vom Gegenstand zu abstrahieren, um eine allgemeine methodisch reflektierte Verstehenslehre als Hermeneutik zu entwerfen. Denn »spezielle Hermeneutik sowohl der Gattung als der Sprache nach ist immer nur Aggregat von Observationen und genügt keiner wissenschaftlichen Forderung« (HuK, S. 75-76). Schleiermacher strebt jedoch, wie aus seiner ersten Akademierede mit dem Titel Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F.A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch (1829) deutlich wird, eine Hermeneutik an, die »in würdiger wissenschaftlicher Gestalt den ganzen Umfang und die Gründe des Verfahrens auseinandersetzte« (HuK, S. 310). Während Schleiermacher den Begriff der Hermeneutik für eine allgemeine Reflexion der Lektüre favorisiert, scheint für Schlegel genau für denselben Zweck der Begriff der Kritik27 zentral zu sein: »In der Kritik ist die Hochzeit der Philologie und Philosophie zur Konstitution der Wahrheit.« (KFSA XVIII, S. 272, Fragment 925) Der Begriff der Kritik scheint also auch den der Hermeneutik für Schlegel mehr und mehr obsolet zu machen, indem er die anderen Disziplinen, wie auch die Hermeneutik, unter sich

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Zur frühromantischen Orientierung an Goethe und auch zur späteren Kritik an ihm vgl. zuletzt Messlin: Klassizismus und Weimarer Klassik, S. 42-44. Nach wie vor äußerst instruktiv ist der Aufsatz von Behler: Goethes Wilhelm Meister und die Romantheorie der Frühromantik. Vgl. Endres: Über Goethes Meister, S. 117. Limpinsel: Diaskeuasen des Geistes, S. 147. Für Schleiermacher meint der Begriff der Kritik lediglich philologische Textkritik im engeren Sinne, vgl. HuK, S. 239-305. Dies wird, trotz des eingehenden Begriffsgefechts zwischen historischer, doktrinaler und philologischer Kritik an folgendem Satz deutlich: »Wir können noch weiter zurückgehen und sagen, dasjenige, wodurch alle Operation der Kritik bedingt ist, ist die Entstehung des Verdachts, daß etwas ist was nicht sein soll. Wo ein solcher Verdacht nicht ist, kann auch kein kritisches Verfahren eingeleitet werden.« (HuK, S. 255). Diesen Satz würde Schlegel für seinen Kritikbegriff vermutlich nicht, oder nur mit begrifflichem Aufwand unterschreiben. Zur zentralen Stellung des Verdachts auch für die Schleiermachersche Hermeneutik vgl. Bolz: F.D.E. Schleiermacher.

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zu versammeln vermag:28 »Kritische Ideen sind prakt[ische] Mathematik/ 0 [absolute . Analyse] und Hermeneut [absolute Hermeneutik].« (KFSA XVI, S. 132, Fragment 568) o Die Gründe für diesen Unterschied sind sicherlich vielfältig29 , mir kommt es allerdings auf einen Grund besonders an. Während Schleiermacher explizit die »Kunst des Verstehens« von der »Darlegung des Verständnisses« trennt, welche für ihn nur »ein spezieller Teil von der Kunst zu reden und zu schreiben« wäre, der »von den allgemeinen Prinzipien abhängen könnte« (HuK, S. 75), sind für Schlegel Lektüre, Darlegung dieser Lektüre in Form von Kritiken und Charakteristiken und über diesen Zwischenschritt schließlich sogar eigene Schreibpraxis immer schon miteinander verbunden: »Kritik ist, auf einem Umweg, immer auch Aussage und Selbstaussage des Künstlers.«30 Es besteht also keine klare Trennung zwischen Lesen und Schreiben, wie dies Schleiermacher nahegelegt hatte. »Im Vorgang des Lesens sind Kritik und Hermeneutik bereits implicite enthalten.«31 Die Doppelung aus Hermeneutik und Kritik bezeichnet also auch schon das Spektrum, innerhalb dessen sich die Frage nach der Methode bewegt. Von der Reflexion der Lektüre zur Reflexion der eigenen Schreibpraxis und von dort wiederum zur Praxis der Lektüre und des Schreibens selbst besteht ein fließender Übergang: »Es zeichnet sich die Konsequenz ab, daß jedes Verstehen selbst ein Schaffen ist.«32 So ist auch für Schleiermacher die Hermeneutik »sowohl die Fähigkeit des Auslegens wie dessen Theorie; und beides greift eng ineinander«33 . Hier deutet sich schon an, dass die Lektüre zum zentralen Bestandteil der Konstruktion von Büchern gemacht wird. So heißt es in der Einleitung zu Schleiermachers Vorlesung Hermeneutik und Kritik: »Das volle Geschäft der Hermeneutik ist als Kunstwerk zu betrachten, aber nicht, als ob die Ausführung in einem Kunstwerk endigte, sondern so, daß die Tätigkeit nur den Charakter der Kunst an sich trägt, weil mit den Regeln nicht auch die Anwendung gegeben ist, d.i. nicht mechanisiert werden kann.« (HuK, S. 81) Sowohl die Produktion eines Kunstwerks wie auch die Produktion einer Auslegung sind als Kunst bestimmt, insofern sie eine nicht vorhersehbare Plausibilität erzeugen müssen – die, wie es im Begriff des Kunstwerks adressiert ist, in einer Schließung besteht, die in einem nicht schließbaren Medium, der Druckschrift, erreicht werden muss. Die Gleichförmigkeit von Lektüre und Produktion hat jeweils eine Einheit zum Ziel und als Voraussetzung, die sich als Buchförmigkeit im Sinne einer Schließung von Druckschrift betrachten lässt. Die Semantik des Kunstwerks adressiert bereits das Nebeneinander von Öffnungs- und Schließungsbewegung, das für die frühromantische Neukonzeption von Lektüre insgesamt typisch ist. Der Begriff des Werks beinhaltet die Vorstellung einer Abschließbarkeit, auf der erst die Anschlussfähigkeit der hermeneutischen Operation beruht.

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Vgl. hierzu Weimar: Historische Einleitung, S. 97, Anm. 69: »Nachdem es Schlegel so gelungen ist, Verstehen (›Hermeneutik‹) in philologischer Kritik aufgehen zu lassen, verschwindet das Stichwort ›Hermeneutik‹ aus der Aufzählung der Bestandteile der Philologie.« Eine ausführliche Untersuchung bietet etwa Bauer: Frühromantische Hermeneutik und Kunstkritik. Magen: Praktische Kritik und ihre theoretische Begründung, S. 58. Santoli: Philologie, Geschichte und Philosophie im Denken Friedrich Schlegels (1930/1971), S. 46. Frank: Das individuelle Allgemeine, S. 351. Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 96.

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Diese Abschließbarkeit wird allerdings durch die nicht gegebene Mechanisierbarkeit, die im Begriff der Kunst betont wird34 , wie auch von der Ubiquität von hermeneutischen Operationen in Frage gestellt. Wie Schleiermacher wieder und wieder in Abgrenzung zur hermeneutischen Tradition betont, sind hermeneutische Operationen insofern universell, als sie nicht nur bei besonders komplexen Textabschnitten, sondern bei jeder Lektüre, ja sogar in Gesprächen gefordert sind. Selbst Wettergespräche haben einen hermeneutischen Nullwert nicht im Sinne eines absoluten Nichts, sondern nur im Sinne eines Minimums (vgl. HuK, S. 82-83). Schleiermacher plädiert also für die vielzitierte ›strengere Praxis‹, die »davon aus[geht], daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jeden Punkt hin muß gewollt und gesucht werden« (HuK, S. 92). Diese Arbeit des Suchens kann, wie bereits am Begriff der Kunst betont wurde, zwar reflektiert und auf ihre Bedingungen hin befragt, aber nicht formalisiert und mechanisiert werden. Die einzelne Lektüre ist also genau wie ihr Gegenstand individuell.35 Der jeweils individuellen Lektüre entspricht sowohl ihr Status als ›Kunstwerk‹ als auch ihre prinzipielle Unabgeschlossenheit im Sinne einer immer möglichen Ergänzung. Die hermeneutische Aufgabe ist »so gestellt, eine unendliche, weil es ein Unendliches der Vergangenheit und Zukunft ist, was wir in dem Moment der Rede sehen wollen« (HuK, S. 94). Schleiermachers Hermeneutik entspricht einer »Anweisung, das Unerreichbare zu erreichen und den Qualitätsunterschied zwischen Gleich und Ungleich im Bewußtsein der Unmöglichkeit doch durch Annäherung zu überwinden.«36 In der hermeneutischen Auslegung, wie Schleiermacher sie versteht, »wird der Text ›besser‹ verstanden, insofern jede Erweiterung seines bisherigen Bedeutungshorizonts als ein ›Zuwachs‹ im Hinblick auf die uneinholbare Sinnfülle des Reflexionsmediums gewertet werden darf«37 . Diese Sinnfülle besteht auf jeder Ebene, im konkreten Text selbst, der durch die Kritik als klassischer Text (wie oben bereits beschrieben) nie ausgeschöpft werden kann, wie auch in der Menge der Texte, als Imaginäres, wie Foucault in seinem als Nachwort zu Flauberts Die Versuchung des heiligen Antonius geschriebenen, 1967 unter dem Titel Un ›fantastique‹ de bibliotheque wieder veröffentlichten, Essay beschreibt: »Das Imaginäre konstituiert sich nicht mehr im Gegensatz zum Realen, um es abzuleugnen oder zu kompensieren; es dehnt sich von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen

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Mit der Einschätzung der Hermeneutik als nicht mechanisierbar und das heißt mit der Einschätzung jeder Lektüreoperation als singulär und nicht wiederholbar entzieht sich die Hermeneutik von vorneherein den (eigentlich von Schleiermacher angestrebten) Maßgaben der Wissenschaften. Damit treten Kunst und Wissenschaft, wie oben schon angedeutet, in ein paradoxes Verhältnis. Schlegels Begriff der »Wissenschaftskunst« (KFSA XVI, S. 66, Fragment 65) ist insofern doppeldeutig zu lesen: einerseits als »Kunst der Wissenschaft«, insofern die Kunst die Wissenschaft überwindet und die als wissenschaftlich geltende Mechanisierbarkeit durchkreuzt, andererseits als ›Wissenschaft der Kunst‹, insofern die Kunst dennoch auf Regeln beruhen muss um als Methode beobachtbar zu sein. Vgl. auch Frank: Das individuelle Allgemeine, S. 351: »Die individuelle Anwendung der allgemeinen Sprachregel ist eine inventorische, eine freie, eine produktive, eine methodisch nur negativ antizipierbare Handlung.« Weimar: Historische Einleitung, S. 131. Frank: Das individuelle Allgemeine, S. 363.

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aus, im Spielraum des Nocheinmal-Gesagten und der Kommentare; es entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte. Es ist ein Bibliotheksphänomen.«38 Für die Frühromantik drängt sich immer wieder der Eindruck auf, dass die ganze Welt ein Text ist, den es zu lesen und zu verstehen gilt.39 Das ›Verstehen‹ ist an die Schrift gekoppelt, aus deren Unendlichkeit es sich speist, zielt aber auf etwas dieser Schrift Äußerliches: auf die soziale Verbindlichkeit des Gesprächs als ›vollendete Mitteilung‹ einerseits, auf den Abschluss des Verstehens im Kunstwerk als arabeskes Buch andererseits. Der »tote[...] Buchstabe«40 muss in der Lektüre in »lebendigen Geist[...]«41 verwandelt werden. Daraus resultiert eine doppelte Paradoxierung der Schrift zwischen Stimme und Bild.42 Diese doppelte Paradoxierung lässt sich wiederum als Bearbeitung der erfahrenen Ubiquität von Druckschrift auffassen. Nicht nur die Lektüre wird ubiquitär, mit ihr auch der Gegenstand, der schriftliche Text. Unter Hermeneutik verstehen die Frühromantiker also schließlich »die Kunst des Lesens sowohl von Geschriebenem wie Nie-Geschriebenem. Alles ist den Frühromantikern eine große Schrift, in die das Leben eingeschrieben wird. In diesem Sinne ist Leben eigentlich Schreiben43 , und Lesen ist seine Erfahrung«44 . Ergebnis ist ein ambivalentes Verhältnis zur (gedruckten) Schrift, die gleichzeitig als Möglichkeitsbedingung für ein intensiviertes Erleben der Widersprüchlichkeit und als Hemmnis auf dem Weg zum Absoluten, Unbedingten begriffen wird. Die Unendlichkeit des Prozesses ist gleichzeitig Programm wie Problem von Lektüre. Sie begleitet als Begriff von Beginn an die Lektüreerfahrung Schlegels, der sie bei seiner frühen Lektüre Platons entdeckt: »Der griechische Philosoph hatte für das ziellose Streben, das den jungen Studenten bislang wie einen Mangel gekennzeichnet hatte, einen Begriff zu bieten, den Friederich Schlegel begierig aufgriff und als Sehnsucht nach dem Unendlichen von nun an nicht nur zur Bestimmung seiner eigenen Seelenlage verwandte, sondern später auch der romantischen Bewegung einprägte.«45 In Bezug auf die mediale Situation des späten 18. Jahrhunderts wird sie, insbesondere in Bezug auf die Masse an Büchern, wodurch diese von einem »Gegenstand ehemals quasisakraler

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Foucault: Nachwort, S. 403. Diesem Umstand der medial und materiell geprägten Weltauffassung der Frühromantiker widmet Hans Blumenberg ein ganzes Buch, vgl. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Schleiermacher: Über die Religion, S. 9. Ebd., S. 170. Jochen Hörisch konstatiert gar lakonisch: »ohne das Prädikat ›tot‹ ist das Wort ›Buchstabe‹ bei Schleiermacher kaum je zu lesen. (Hörisch: Der Mittler und die »Wut des Verstehens«, S. 27) Vgl. auch Breuer, Tabasari-Hoffmann: Einleitung, S. 13: »Einem gattungsübergreifend literarisierten Bewusstsein, das literaturexterne Gesichtspunkte und Vorgaben aus Rhetorik, Moral, Theologie und Nützlichkeitsforderungen aller Art nicht mehr zwingend als verbindliche Voraussetzung und Ziel der Gestaltung ansieht, entspricht einerseits ein Gefühl der total Verfügbarkeit literarischer Verfahren, andererseits aber auch der Eindruck einer Unverfügbarkeit der Sprache, der bis zur Sprachskepsis gehen kann. Beides ließe sich als Effekt der intellektuellen Entdeckung und freien Handhabung der Werkmedien Buch und Zeitschrift verstehen. Der romantische Kritikbegriff ist zugleich Ursache dieser Lage und Reaktion auf sie.« So die Formulierung Schlegels in Über die Philosophie. An Dorothea. 1799 (vgl. KFSA VIII, S. 42). Bolz: Der Geist und die Buchstaben, S. 89. Behler: Friedrich Schlegel in Selbstzeugnissen, S. 21-22.

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Verehrung zum Konsumartikel«46 werden, zum Problem, insbesondere für einen angehenden Schriftsteller, der sich nicht nach einem unendlichen Verzehr von Büchern, sondern vielmehr nach einem unendlichen Buch sehnt: Du fragst mich ob ich nicht Lust zur Schriftstellerey bekäme? – Allerdings habe ich sehr viel Plane dazu, und ich glaube ich werde die meisten ausführen; nicht sowohl aus Liebe zum Werke als aus einem Triebe, der mich von früh an schon beseßen, dem verzehrenden Triebe nach Thätigkeit, oder wie ich ihn noch lieber nennen möchte die Sehnsucht nach dem unendlichen. (KFSA XXIII, S. 24) Nur in Bezug auf eine Schließung in Form des Buch kann es eine produktive unendliche Lektüre geben, die sich von der unendlichen Lektüre als blindem, repetierenden Konsum unterscheidet. Die Wertschätzung des Buchs ist wiederum an die Lektüre: genauer, an den hier auserwählten ›Gesprächspartner‹ geknüpft. Aus der Kunstmäßigkeit der Lektüre, die aufgrund ihrer Nichtwiederholbarkeit prinzipiell individuell und relativ bleibt, entspringt nicht nur das doppelte Verhältnis von Öffnung und Schließung in Bezug auf den Text, sondern auch die unbegrenzbaren Ansprüche an den Lesenden, der in seiner Lektüre des Texts immer noch mehr Wissen zutage fördern könnte. Auch in Bezug auf die soziale Dimension ergibt sich ein Verhältnis von Öffnung und Schließung. Individualität des begrenzten Gegenstands und Universalität des Lesenden treten in ein gegenseitiges Steigerungsverhältnis. Der Hermeneut, der Kritiker muss zum Universalgelehrten werden:47 Der gute Kritiker und Charakteristiker muß treu, gewissenhaft, vielseitig beobachten wie ein Physiker, scharf messen wie ein Mathematiker, sorgfältig rubriciren wie der Botaniker, zergliedern wie der Anatom, scheiden wie der Chemiker, empfinden wie der Musiker, nachahmen wie der Schauspieler, praktisch umfassen wie ein Liebender, überschauen wie ein Philosoph, cyclisch studiren wie ein Bildner, strenge wie ein Richter, religiös wie ein Antiquar, den Moment verstehn wie ein Politiker pp. (KFSA XVI, S. 138, Fragment 635) Auch Schleiermacher geht länger auf die Anforderungen an den Hermeneuten ein, die aufgrund ihrer »Zwiefachheit«48 schlechthin unerreichbar sind: »Die glückliche Ausübung der Kunst beruht auf dem Sprachtalent und dem Talent der einzelnen Menschenkenntnis.« (HuK, S. 81) Diese beiden Talente treten nie gemeinsam in einem Menschen auf, sie sind »selten verbunden, müssen sich also gegenseitig ergänzen« (HuK,

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Stollberg-Rilinger: Politische und soziale Physiognomie, S. 24. Vgl. auch Breuer, Tabarasi-Hoffmann: Einleitung, S. 13: »Zu den wichtigsten Aspekten des ästhetischen Kritikbegriffs und seiner kulturpolitischen Funktionalisierung gehört es, dass auf eine Theorie der Kritik im methodologischen Sinne weitgehend verzichtet wird. An die Stelle dieser Theorie rückt das Ingenium des Kritikers.« Die Zwiefachheit prägt insgesamt den Hermeneutikentwurf Schleiermachers. Zuerst fällt der Begriff adjektivisch in der Einleitung in Paragraph 5. Hier heißt es: »Wie jede Rede eine zwiefache Beziehung hat, auf die Gesamtheit der Sprache und auf das gesamte Denken ihres Urhebers: so besteht auch alles Verstehen aus den zwei Momenten, die Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache, und sie zu verstehen als Tatsache im Denkenden.« (HuK, S. 77)

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S. 82). Diese notwendige Ergänzung führt konsequenterweise auf die Idee einer gemeinschaftlichen Lektüre. Aus dem paradoxalen Anspruch einer Vermittlung von Öffnung und Schließung, von Lektüre und Buchförmigkeit entspringt die Konzeption von Lektüre als eine symmetrische Gemeinschaft der Seelenverwandten. Die Konzeption der Lektüre als unabschließbar führt direkt auf diese Idee einer gemeinschaftlichen Auslegung, in der die Unabgeschlossenheit doch noch in eine atmosphärisch zu verstehende Geschlossenheit überführt wird. So schreibt Schlegel etwa: »Das künstliche Lesen besteht darin, daß man mit andern ließt, nämlich auch das Lesen andrer zu lesen sucht.« (KFSA XVI, S. 309, Fragment 669) Der Interpret wird als »ein Geist, der gleichsam eine Mehrheit von Geistern, und ein ganzes System von Personen in sich enthält« (KFSA II, S. 185, Fragment 121) begriffen. In einem Brief an seinen Bruder äußert Schlegel schon zu Beginn des Jahres 1793 den Vorschlag einer Publikation von solchen gemeinschaftlichen ›Lektüren‹: »Wie wäre es, wenn wir einmal versuchten gemeinschaftlich unsere Gedanken über die Dichtkunst zu entwickeln, die wir vielleicht künftig einmal in der Form von Briefen oder Gesprächen bekannt machen könnten.« (KFSA XXIII, S. 81) Das Gespräch übercodiert die Lektüre. Ausgedrückt wird dies etwa in einem Brief von Schlegel an Schleiermacher aus dem Juli 1798. Hier schreibt Schlegel: Nun muß ich Dir noch das Räthsel lösen, daß Du mich befruchten sollst. Was für mich so unerschöpflich fruchtbar ist, ist, daß Du existirst. Als Object würdest Du mir für die Menschheit sein, was mir Goethe und Fichte für die Poesie und die Philosophie waren. Da ich aber in diesen nur auf Reisen bin, und auch die Ehre habe im Mittelpunkt zu Hause zu seyn, so bist du Mir niemals nur Object, sondern Landsmann und Hausgenosse. (KFSA XXIV, S. 148-149) Die Metaphorik des Befruchtens weist auf eine Problematik der begrifflichen Erfassung des Verhältnisses von Lektüre und Buch in Bezug auf die Symmetrie der Gesprächspartner hin. Die im Zeichen der Arabeske stehende Bilderwelt der Pflanzen und des ›Organischen‹ versucht die Vision der umfassenden Symmetrie plastisch zu machen. In der scherzhaften ›Degradierung‹ (man könnte genausogut von einer Nobilitierung sprechen) Schleiermachers zum ›Objekt‹ wird außerdem bereits deutlich, dass das Buch der ideale Gesprächspartner ist. Die neue Lektürepraxis besteht nicht nur in einer gemeinschaftlichen Lektüre, sondern auch in einem unbedingt freundschaftlichen, ja liebenden Verhältnis zum Buch.49 »Man könnte in dieser Rücksicht auch sagen, Liebe sei Sinn schlechthin für alles, unendlicher Sinn« (KFSA XII, S. 369) formuliert Schlegel in Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern (1804 und 1805). Das liebevolle Gespräch muss die Lektüre immer konzeptionell begleiten: »Aber Mitteilung durch Schrift allein ohne lebendige Dialogik wird immer Tod.«50 Diese Gemeinschaft zwischen Text und

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Im Kontext der empfindsamen Lektüre seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist dies keine Besonderheit. So heißt es bekanntermaßen in Goethes Die Leiden des jungen Werthers: »[L]aß das Büchlein deinen Freund seyn, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannst.« (S. 3/4) Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, S. 386.

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seinem Leser ist direkt durch die Konzeption der Lektüre als Nachkonstruktion bedingt. Nachkonstruieren ist ein höchst intimer Vorgang und so wird das Verhältnis von Autor und Leser, oder von Text und Leser, zu einem Band der gegenseitigen Anziehung, zu einem heiligen Verhältnis: Der synthetische Schriftsteller konstruiert und schafft sich einen Leser, wie er sein soll; er denkt sich denselben nicht ruhend und tot, sondern lebendig und entgegenwirkend. Er läßt das, was er erfunden hat, vor seinen Augen stufenweise werden, oder er lockt ihn es selbst zu erfinden. Er will keine bestimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heilige Verhältnis der innigsten Symphilosophie oder Sympoesie. (KFSA II, S. 161, Fragment 112) Hier wird deutlich, dass die Überformung der Lektüre durch das symmetrische, intime Gespräch als Lektüreprogrammierung betrachtet werden kann, welche die Schließung des Buchs insofern aufhebt, als sie einen aktiven Leser in das Innere des Buchs integriert, dieses aber gleichzeitig in der somit ins Buch integrierten sozialen Situation wiederum schließt. Das Verhältnis zwischen Buch und solcherart konstruiertem Leser macht aus dem einzelnen Buch ein absolutes Buch. Wie Friedrich Schlegel schon im Jahre 1791 an seinen Bruder schreibt, ist der ideale Leser als symphilosophierender oder sympoetisierender Leser geradezu diametral der Öffentlichkeit51 entgegengesetzt: »Ich nehme auch eine geheime Dichtkunst an. Je inniger diese mit der Eigenthümlichkeit der wenigen, von denen und für die sie ward, verkettet ist; je mehr erfüllt sie ihre Bestimmung und je mehr ist sie vielleicht dem Volke ungenießbar.« (KFSA XXIII, S. 23) Auch Schleiermacher sorgt sich in Bezug auf sein Buch Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, das im Jahre 1799 erscheint, »ob man die ›Reden‹ verstehen könne, ohne den Autor persönlich zu kennen«52 . Als selbst gegebene Verneinung dieser Frage lässt sich die Privilegierung des Urteils der Freunde Schlegel und Novalis verstehen.53 Die Singularität und Individualität sowohl des Werks als auch der Lektüre, die keine abstrahierbaren Maßstäbe als Kriterien für eine gelungene Lektüre mehr zulässt, verlagert den Ausweis der gelungenen Lektüre auf die einzelne Kritik, welche jeweils zu beweisen hat, dass sie das ihr zugrundeliegende Werk adäquat gelesen hat. Zwischen Werk und Kritik besteht eine »esoterische hermeneutische Gleichzeitigkeit, deren Kriterium die stringente geistige Verkettung und deren Medium die Homogeneität von Interpretament und Interpretandum ist«54 .

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Der Begriff der Öffentlichkeit ist selbst natürlich ein Produkt der medienhistorischen Gegebenheiten nach der Erfindung des Buchdrucks. Er lässt sich als Verschränkung der »älteren Begriffe von Einsamkeit und Geselligkeit« fassen. Darauf hat unter anderem Aleida Assmann in ihrem Aufsatz zu Aspekten einer Materialgeschichte des Lesens aufmerksam (Zitat S. 10). In Bezug auf Schlegels Lucinde lässt sich dann gerade von einem Versuch der Symmetrisierung von Einsamkeit und Geselligkeit (Reden und Schweigen) im ›Medium‹ der Öffentlichkeit sprechen. Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik, S. 144. Nowak zitiert hier ausführlich aus Schleiermachers Korrespondenz mit Henriette Herz. Vgl. ebd., S. 144. Bolz: Der Geist und die Buchstaben, S. 82.

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Die Neudefinition der Lektüre als Kunst ist also facettenreich. Sie vereinigt das Bewusstsein um die Individualität und Singularität der einzelnen Lektüreoperationen und -ergebnisse mit dem Bewusstsein um die Unabschließbarkeit des Auslegens. Somit ist der Begriff der Kunst primär ein negativer Begriff, der gegenüber einem LektüreErgebnis die Performanz der Lektüre selbst betont, gleichzeitig aber auf die Notwendigkeit einer sowohl medialen wie sozialen Schließung hinweist. Zur ›positiven‹ Methode der Lektüre im eigentlichen Sinne ist damit allerdings noch nicht viel gesagt – vielmehr bereitet die Adressierung von Lektüre als Kunst den Boden für eine neuartige methodische Imagination. Lesen als Kunst bedeutet für Schlegel zuallererst einmal Dynamisierung. Diese Dynamisierung darf aber nicht in leeren Konsum, in ein Lesen um des Lesens willen umschlagen, sondern sie muss gehalten sein durch einen konkreten Gegenstand. Die Dynamisierung des Gegenstands im Lesevorgang beschreibt Schlegel dann auch gerne in den Begrifflichkeiten der Magie: »Lesen heißt, gebundenen Geist frei machen, also eine magische Handlung.« (KFSA, XVIII, S. 297, Fragment 1229) Als Ziel der magischen Handlung wird immer wieder der Begriff des Lebens und der Lebendigkeit verwendet. Lesen ist insofern also kein Übersetzen, kein Erreichen eines feststehenden Sinns, sondern vielmehr ein dynamischer Akt der Befruchtung, also des Lebens, sogar der Schöpfung. »Daß ein Mensch den andren versteht, ist philosophisch unbegreiflich, wohl aber magisch. Es ist das Geheimniß der Gottwerdung; die Blüthe des Einen wird Saame für den andern.« (KFSA XVIII, S. 253, Fragment 713) Ähnlich wird der Gedanke in der einleitenden Sequenz zum Gespräch über die Poesie (1800) gefasst. Die Vernunft ist nur eine und in allen dieselbe: wie aber jeder Mensch seine eigne Natur hat und seine eigne Liebe, so trägt auch jeder seine eigne Poesie in sich. Die muß ihm bleiben und soll ihm bleiben, so gewiß er der ist, der er ist, so gewiß nur irgend etwas Ursprüngliches in ihm war; und keine Kritik kann und darf ihm sein eigenstes Wesen, seine innerste Kraft rauben, um ihn zu einem allgemeinen Bilde ohne Geist und ohne Sinn zu läutern und zu reinigen, wie die Toren sich bemühen, die nicht wissen was sie wollen. Aber lehren soll ihn die hohe Wissenschaft echter Kritik, wie er sich selbst bilden muß in sich selbst, und vor allem soll sie ihn lehren, auch jede andre selbständige Gestalt der Poesie in ihrer klassischen Kraft und Fülle zu fassen, daß die Blüte und der Kern fremder Geister Nahrung und Same werde für seine eigne Fantasie. (KFSA II, S. 284) Diese Formulierungen machen deutlich, worum es in der Praxis der ›echten Kritik‹ geht: um eine Technik der Lektüre von Büchern, die deren Öffnung und Schließung miteinander verbindet. Lektüre ist so eingebunden in einen sehr viel größeren Zusammenhang, welchen Schlegel hier als Bildung beschreibt. Im Zeichen der Bildung als gleichzeitiger Intensivierung von Öffnung und Schließung imaginiert Schlegel einen energetischen Zusammenhang zwischen den diversen ›selbstständigen Gestalten der Poesie‹: Der Stellenwert der in diesem Sinne adäquaten Lektüre ist also kaum zu überschätzen. Erst in dieser Lektüre vollzieht sich die Schließung des Buchs. Medium dieser Bildung ist der Buchstabe, der in der Lektüre wieder in Leben, Energie und Gespräch überführt wird. Darin besteht die »Magie des Buchstabens« (KFSA XVIII, S. 338 Fragment 184). Diese ist ein »wechselseitiger Galvanism des Autors und des Lesers und auch ein innerer für jeden allein« (KFSA XVIII, S. 221 Fragment 318). Die

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Magie des Buchstabens ist auch das Thema der Allegorie von der Frechheit in Schlegels Lucinde. Eine Figur, die sich Julius als »der Witz« (KFSA V, S. 16) vorstellt, spricht zu Julius vom Buchstaben als dem eigentlichen Zauberstab: »Verhülle und binde den Geist im Buchstaben. Der echte Buchstabe ist allmächtig und der eigentliche Zauberstab. Er ist es, mit dem die unwiderstehliche Willkür der hohen Zauberin Fantasie das erhabene Chaos der vollen Natur berührt, und das unendliche Wort ans Licht ruft, welches ein Ebenbild und Spiegel des göttlichen Geistes ist, und welches die Sterblichen Universum nennen.« (KFSA V, S. 20) Es ist, so fasst es der Witz hier, der ›echte Buchstabe‹, dessen Allmacht den göttlichen Geist und damit das Universum hervorrufen kann. Sowohl der Vorgang des Bindens von chaotischem Geist in Buchstaben wie auch das Wiedererwecken desselben im Vorgang der Lektüre können als Magie bezeichnet werden. Es handelt sich bei der Lektüre also um die spiegelbildliche Umkehrung des Schreibens: »Der hermeneutische Eingriff ruft im endlichen Wort eines Textes als dessen Geist das unendliche wach.«55 Gleichzeitig ist es jedoch auch eine Wiederholung des Schreibvorgangs, da beide Tätigkeiten eine Öffnung und Schließung gleichermaßen vollziehen müssen. Das Schreiben lässt sich also nicht einseitig als Schließung, die Lektüre dagegen als Öffnung betrachten – vielmehr muss letztere die Schließung, das Buch, erst konstruieren. Dies äußert Julius in einem Brief an Lucinde: »Ich begreife, wie das freie Gebildete sich in der Blüte aller Kräfte nach seiner Auflösung und Freiheit mit stiller Liebe sehnen und den Gedanken der Rückkehr freudig anschauen kann wie eine Morgensonne der Hoffnung« (KFSA V, S. 71), schreibt Julius hier. Der Status dieser Auflösung als Fantasie eines Briefs zeigt, dass sich diese Auflösung nur vollzieht, um sich in einer umfassenderen Schließung, als Gespräch der Liebenden, wiederum zu behaupten. Vor diesem Hintergrund ist die Lektüre einer Stelle aus Über Goethes Meister interessant, wo es um den Dichter oder Kritiker bzw. um den Gegensatz zwischen beiden geht. Der Gegensatz, welcher hier aufgemacht wird, ist derjenige zwischen einer »Kritik« (KFSA II, S. 140) und einer »Darstellung von neuem« (KFSA II, S. 140). Goethes Buch enthält, wie Schlegel feststellt, selbst schon eine Kritik von Shakespeares Hamlet und ist insofern gleichzeitig »Kritik als hohe Poesie«. Genau diese Doppelung ist laut Schlegel immer das Resultat, »wenn ein Dichter als solcher ein Werk der Dichtkunst anschaut und darstellt« (KFSA II, S. 140). Anschauung und Darstellung sind also zwei verschiedene Aspekte des resultierenden Texts, die dennoch unzertrennlich miteinander verwoben sind und sich nicht als verschiedene Textbestandteile voneinander separieren lassen. In ihrer teils pejorativ anmutenden Zuordnung von poetischer Kritik und gewöhnlicher Kritik zu den Polen von Leben und Tod wurde die folgende Passage bereits ganz verschiedentlich gedeutet.56 Jene poetische Kritik will gar nicht wie eine bloße Inschrift nur sagen, was die Sache eigentlich sei, wo sie in der Welt stehe und stehn solle: dazu bedarf es nur eines voll55 56

Bolz: Der Geist und die Buchstaben, S. 87. So geht Henel: Friedrich Schlegel und die Grundlagen der modernen literarischen Kritik davon aus, dass Schlegel beide Seelen in seiner Brust trüge und daher nicht konsequent eine der beiden Zugänge ablehnen könne, dass sie jedoch trotzdem als zwei getrennte Zugänge betrachtet werden müssten und nicht miteinander verschmolzen werden können (vgl. S. 105-107).

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ständigen ungeteilten Menschen, der das Werk so lange als nötig ist, zum Mittelpunkt seiner Tätigkeit mache; wenn ein solcher mündliche oder schriftliche Mitteilung liebt, kann es ihm Vergnügen gewähren, eine Wahrnehmung, die im Grunde nur eine und unteilbar ist, weitläufig zu entwickeln, und so entsteht eine eigentliche Charakteristik. Der Dichter und Künstler hingegen wird die Darstellung von neuem darstellen, das schon Gebildete noch einmal bilden wollen; er wird das Werk ergänzen, verjüngern, neu gestalten. Er wird das Ganze nur in Glieder und Massen und Stücke teilen, nie in seine ursprünglichen Bestandteile zerlegen, die in Beziehung auf das Werk tot sind, weil sie nicht mehr Einheiten derselben Art wie das Ganze enthalten, in Beziehung auf das Weltall aber allerdings lebendig und Glieder oder Massen desselben sein könnten. Auf solche bezieht der gewöhnliche Kritiker den Gegenstand seiner Kunst und muß daher seine lebendige Einheit unvermeidlich zerstören, ihn bald in seine Elemente zersetzen, bald selbst nur als ein Atom einer größern Masse betrachten. (KFSA II, S. 140-141) Schlegel unterscheidet hier zwischen einer Kritik, bei der die Niederschrift nicht wesentlich ist und welche dazu da ist, zu »sagen, was die Sache eigentlich sei, wo sie in der Welt stehe und stehn solle« (KFSA II, S. 140), und einer poetischen Kritik, welche das Werk noch einmal bilden, verjüngen und gestalten möchte. Erstere Form der Kritik wird zunächst begrifflich mit dem Tod verbunden, letztere Form der Kritik mit dem Leben. Diese binäre Zuordnung des gewöhnlichen Kritikers zum Tod und des poetischen Kritikers zum Leben wird allerdings gleich darauf aufgehoben und als Ebenendifferenz markiert. Wenn nämlich der gewöhnliche Kritiker seine Beobachtungen anstellt, zerlegt er das Buch in tote Bestandteile. In Beziehung auf das Weltall sind diese allerdings ›lebendig‹. Bei der poetischen Kritik wird das Buch ebenfalls in Glieder, Massen und Stücke geteilt, die allerdings auch in Buchform weiterleben, also weiter kommunikativ bleiben können. Hier wird deutlich, dass mit dem ›Leben‹ des Werks sein Fortbestand in Buchform gemeint ist.57 Die Magie der Lektüre unterscheidet zwischen Leben und Tod eines Buchs. Diese Entscheidung wiederum fällt der Leser bzw. der Kritiker, wie Schlegel in den mit dem Titel Eisenfeile58 versehenen Fragmenten zum Abschluß des Lessing-Aufsatzes notiert: »Die Kritik ist die Kunst, die Scheinlebendigen in der Literatur zu töten.« (KFSA II, S. 404, Fragment 59) Wenn der ›richtige‹ Leser sich dem Werk nähert, wird es auf magische Art und Weise lebendig, insofern seine Buchform zum Leben erweckt wird. Wenn der ›gewöhnliche Kritiker‹ es bespricht, mag es zwar 57

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Vgl. wiederum Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 19: »Ist jene letzte Wesenheit, die da die reine Sprache selbst ist, in den Sprachen nur an Sprachliches und dessen Wandlungen gebunden, so ist sie in den Gebilden behaftet mit dem schweren und fremden Sinn. Von diesem sie zu entbinden, das Symbolisierende zum Symbolisierten selbst zu machen, die reine Sprache gestaltet der Sprachbewegung zurückzugewinnen, ist das gewaltige und einzige Vermögen der Übersetzung.« Den Namen begründet Schlegel wie folgt: »Laßt auch mich der Sitte folgen, die immer allgemeiner wird, allegorische Namen zu lieben, und wenn andre Euch Blüten oder Früchte in köstlichen Gefäßen reichen, diese fragmentarische Universalität ganz einfach Eisenfeile nennen, um so durch Ein Symbol noch an das Zerstückelte der, wie es scheinen möchte, formlosen Form zu erinnern und doch zugleich die innere Natur des Stoffs treffend genug zu bezeichnen.« (KSA II, S. 398) Auch hier verwendet Schlegel die noch zu beschreibende symmetrische Gegenüberstellung von Form und Stoff.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

als Zerstückeltes für bestimmte Aspekte des Weltalls noch weiterleben, als Buch ist es aber dem Tode geweiht. Der Begriff der Magie macht – noch viel deutlicher als der Kunstbegriff – darauf aufmerksam, dass der Zauber, welcher der Lektüre in Schlegels Konzeption innewohnt, auf medialen Voraussetzungen beruht. Nur, insofern in die Öffnung, welche die Lektüre darstellt, auch eine Schließung in Buchform mit inbegriffen ist, stellt die Lektüre eine magische Verlebendigung des Buchs dar. Die Theorie der Lektüre um 1800 erweist sich also im emphatischen Sinne als Bejahung von Buchförmigkeit59 und insbesondere gegenüber der Hermeneutik der Aufklärung gleichzeitig als »Theorie eines potentiell unbegrenzten Gesprächs«60 . Die medialen Übergänge zwischen der »ebenso intime[n] wie individuelle[n] Form der persönlichen schriftlichen Äußerung«61 , etwa als Brief oder Manuskript, und dem gedruckten Buch, welches einer anonymen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, werden bei Schlegel und Schleiermacher auf paradoxe Weise miteinander verschränkt und aneinander gesteigert. Gespräch und Buchform bilden in der arabesken Verschränkung beider wechselseitig den Rahmen füreinander und treten insofern in ein paratextuelles Verhältnis. Das konzeptuelle Gespräch beglaubigt die Schließung des materiellen Buchs, die Materialität des Buchs wiederum erlaubt die Öffnung in der Lektüre. Insofern wird der Text »mit einer (variablen) Umgebung«62 ausgestattet. Die grundlegende ›Duplicität‹ von Öffnung und Schließung zeigt sich bei den hier skizzierten Prozessbegriffen wie Kunst und Magie in deren innerer Gespaltenheit etwa zwischen Unendlichkeit und Werk im Falle der Kunst oder zwischen Leben und Tod bzw. Buchstabe und Geist im Falle der Magie. Anhand einiger Beispiele werde ich weiter auf die Struktur der, die Gespaltenheit von Kunst und Magie jeweils ausdrückenden, symmetrischen Gegensatzbegriffe und die mit ihnen verbundenen Implikationen eingehen. Ich werde außerdem zeigen, inwiefern Schlegels Lektüre und Transkription des Wilhelm Meister ihre eigene Begrifflichkeit begründet – nämlich als Nachahmung der Organisation des Buchs selbst.

4.1.2.

»Helle und lebhafte Gegensätze«

Schlegels Lektüre von Goethes Wilhelm Meister findet ihren Niederschlag in dem oben bereits zitierten Text Schlegels mit dem Titel Über Goethes Meister (1798). Bereits von den Zeitgenossen, aber auch von den Nachfahren, wurde dieser Text als eines der »grossartigsten Dokumente[...] deutschen kritischen Geistes«63 gefeiert. Neben dem Aufbau des Buchs konzentriert sich Schlegel in der Darlegung seiner Lektüreeindrücke auf einen dem Buch eigenen besonderen Modus, der sich durch die Kopräsenz von »helle[n] und

59

60 61 62 63

Vgl. Breuer, Tabasari-Hoffmann: Einleitung, S. 12: »Da das Kunstwerk, auf das sich die romantische Einheitssehnsucht von Kritik und Praxis richtete, vor allem als gedrucktes Buch zirkulierte, kann die Hauptleistung des romantischen Kritikbegriffs in einer Integration der Kritik in das literarische Leben gesehen werden. Dieses ist die durch Werkmedien gesteuerte Praxis, auf die sich Kritik nun vorrangig bezieht.« Frank: Einverständnis und Vielsinnigkeit, S. 92. Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 154. Genette: Palimpseste, S. 12. Steiner: Aether der Fröhlichkeit, S. 64.

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lebhafte[n] Gegensätzen« (KFSA II, S. 126) und damit als »gleichschwebende Aufmerksamkeit«64 für die beiden Seiten einer Unterscheidung fassen lässt. Dieser Modus der Kopräsenz in Goethes Buch erfordert wiederum einen besonderen begrifflichen Modus der beschreibenden Annäherung durch den ›Kritiker‹, wie anhand der Schlegelschen Beschreibung der ›Gattung‹ des Wilhelm Meister deutlich wird. Obgleich es also den Anschein haben möchte, als sei das Ganze ebenso sehr eine historische Philosophie der Kunst als ein Kunstwerk oder Gedicht, und als sei alles, was der Dichter mit solcher Liebe ausführt, als wäre es sein letzter Zweck, am Ende doch nur Mittel: so ist doch auch alles Poesie, reine, hohe Poesie. Alles ist so gedacht und so gesagt, wie von einem der zugleich ein göttlicher Dichter und ein vollendeter Künstler wäre; und selbst der feinste Zug der Nebenausbildung scheint für sich zu existieren und sich eines eignen selbständigen Daseins zu erfreuen. Sogar gegen die Gesetze einer kleinlichen unechten Wahrscheinlichkeit. Was fehlt Werners und Wilhelms Lobe des Handelns und der Dichtkunst als das Metrum, um von jedermann für erhabne Poesie anerkannt zu werden? Überall werden uns goldene Früchte in silbernen Schalen gereicht. Diese wunderbare Prosa ist Prosa und doch Poesie. Ihre Fülle ist zierlich, ihre Einfachheit bedeutend und vielsagend und ihre hohe und zarte Ausbildung ist ohne eigensinnige Strenge. (KFSA II, S. 132-133) Hier werden zwei immer wieder angeführte Kriterien für die Definition von Poesie bzw. die Abgrenzung von Poesie und Prosa aufgerufen und für den Roman als ungültig erklärt. Die erste Möglichkeit einer Unterscheidung bietet sich über die Differenz von gebundener und ungebundener Rede: dem Vorhandensein eines Metrums oder eben genau dessen Fehlen. Dieses Kriterium wird von Schlegel zwar genannt, aber als ›eigensinnige Strenge‹ vollständig entwertet. Das Abstellen auf das Metrum ist eine oberflächliche, äußere Betrachtung, die dem hier in Frage stehenden Werk nicht gerecht wird. Die zweite Möglichkeit der Unterscheidung lässt sich mit dem Kriterium der inneren Logik umschreiben. Die Wortwahl Schlegels zeigt schon, dass auch das Kriterium der ›Wahrscheinlichkeit‹ – für Aristoteles die Grenze zwischen Drama und Geschichtsschreibung – für ihn keine Relevanz hat. Das Problem der herkömmlichen Gattungsbezeichnungen von Poesie und Prosa ist, dass sie sich gegenseitig ausschließen. In Bezug auf Goethes Wilhelm Meister-Roman stellt sich das Verhältnis von Poesie und Prosa aber nicht als ein ›entweder oder‹ dar, sondern ist, wie auch alle anderen Gegensätze des Romans, gerade als gegensätzliches Verhältnis Teil der Organisation. Die eigene Lösung Schlegels weist Goethes Roman Poesie und Prosa gleichermaßen zu, und kopiert damit das beobachtete Vorgehen des Romans. Dies zeigt sich in den Formulierungen am Ende des Absatzes, welche dem Roman die Gleichzeitigkeit von Gegensätzen in einer Reihe von Oxymora bescheinigen. Was den Roman zu Poesie und Prosa gleichermaßen macht, ist seine zierliche Fülle und seine vielsagende Einfachheit. Zu einem späteren Zeitpunkt wird der Gegensatz zwischen Prosa und Poesie noch einmal aufgenommen. Schlegel rühmt gegen Ende der ›Rezension‹ das »höchst Prosaische mitten in der poetischen Stimmung des dargestellten oder komödierten Subjekts,

64

Behler, Hörisch: Vorwort, S. 8.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

de[n] absichtliche[n] Anhauch von poetischer Pedanterie, bei sehr prosaischen Veranlassungen« (KFSA II, S. 138). Auch hier geht es also um die Art der Gleichzeitigkeit des Gegensatzes von Poesie und Prosa, welche beide intakt lässt und doch jeweils als Begrenztes ausstellt. Formal besteht die Besonderheit des Romans also, so wie Schlegel ihn beschreibt, in der Art und Weise seines Umgangs mit Gegensätzen, nämlich insofern er die entgegengesetzten Pole zu einer dynamischen Einheit verbindet, sie aber in ihrer Verschiedenheit belässt. Diese Methodik des Romans lässt sich mit Ernst Behlers treffender Formulierung als »differentielle Einheit«65 beschreiben. Für die Formulierung dieser differentiellen Einheit ist das Setzen von symmetrisch angelegten Gegensatzbegriffen kennzeichnend. Diese Gegensatzbegriffe sind Bestandteil einer Lektüretechnik, die »das Gleichzeitige im Ungleichzeitigen zu lesen versteht und in einem Satz auf die Schwingungen des Gegensinns hört, die die Fragmente zusammensetzt und den roten Faden im Labyrinth der Assoziationen nicht verliert«66 . Hier besteht ein Verhältnis der Kongruenz zwischen frühromantischem Gegenstand der Lektüre und frühromantischer Lektüretechnik. Immer wieder betont Schleiermacher in Hermeneutik und Kritik, dass die Kunst des Auslegens in einem »Ineinandersein« (HuK, S. 79) zweier sich entgegengesetzter Momente (des grammatischen und psychologischen) läge. Das begriffliche Arsenal, welches in der Frühromantik zur Beschreibung dieser Kopräsenz von Gegensätzlichem liegt, ist schier unerschöpflich. Schleiermacher verwendet sehr gerne den Begriff der Oszillation67 , Schlegel bekannterweise etwa den des Schwebens.68 In Bezug auf die Philosophie spricht Schlegel von ›Wechselsättigung‹: »Universalität ist Wechselsättigung aller Formen und Stoffe« (KFSA II, S. 255, Fragment 451) heißt es in den Schlegelschen Fragmenten. Diese Wechselsättigung ist ein zentraler Begriff für die Idee von Ganzheit und Einheit, welche die 65 66

67 68

Behler: Goethes Wilhelm Meister, S. 163. Assmann: Die Domestikation des Lesens, S. 109. Die Formulierung des Gleichzeitigen im Ungleichzeitigen stammt ursprünglich von Koselleck, vgl. Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, S. 278. Sie wird etwa auch bei Heinz Brüggemann auf die Romantik bezogen, der unter dem Banner der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« von deren »Universalität und Differenz, Synkretismen und Surrogat-Tempel« spricht, vgl. Brüggemann: Romantik und Moderne, S. 265. Vgl. dazu Hamacher: Hermeneutische Ellipsen, S. 131. Beim ›Schweben‹ handelt es sich um eine Zentralmetapher der frühromantischen Poetik, die in der Forschungsliteratur breite Beachtung gefunden hat. Als wichtigster Beleg gilt das AthenäumsFragment 116 zur Universalpoesie, vgl. KFSA II, S. 182-183: »Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. […] Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. […]« Zur Forschung vgl. etwa Hühn: Das Schweben der Einbildungskraft. Siehe auch das Kapitel »Grundfiguren der romantischen Poetik« von Kremer und Kilcher in dies.: Romantik. Lehrbuch Germanistik, S. 89-113.

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Frühromantiker vertreten. Das höchste, was für die Frühromantik denkbar ist, ist eine gegenseitige Aufhebung der Gegensätze in der gemeinsamen Bewegung, also eine symmetrische Anordnung derselben, die in ein Schweben, in eine Indifferenz hinausläuft. »Die Lösung der in der Reflexion erfahrenen Gegensätze besteht für Schlegel nicht in einer bloßen Synthese oder harmonischen Sättigung, sondern liegt in der Bewegung selbst, in einem vollen Ausschöpfen der polaren Spannung, in einem ›Schweben‹ zwischen den Antinomien, in einem ständigen Wechsel zwischen den Antithesen, wobei sich das geistige Leben entfaltet und reicher wird.«69 Der Prozess der Kritik vollzieht also die spannungsvolle Bewegung von Gegensätzen mit, die einander maximal zu einer Indifferenz angenähert werden können. Im Begriff der Indifferenz ist allerdings auch schon die Problematik der Kongruenz von Gegenstand und Lektüre angelegt. So wie die Gegensätze maximal zur Indifferenz gebracht werden können, kann auch die Kongruenz von Gegenstand und Lektüre maximal zur Indifferenz gebracht werden: »Transzendentalpoesie, poetische Charakteristik und allgemeine Poetisierung aller Texte führen schließlich zur progressiven Universalpoesie, in der Poesie, Kommentar sowie alle anderen schriftlichen Äußerungen zu einer Schreibweise verschmelzen, in der dann alle Differenzen aufgehoben sind.«70 Ist eine solche Indifferenz erreicht, verwandeln sich die symmetrischen Gegensatzpaare, im obigen Beispiel etwa Poesie und Prosa, in reine Prozessbegriffe, wie etwa den Benjaminschen Begriff der Reflexion. Die Spannung von gegensätzlich angelegten Begriffslogiken prägt insgesamt die Dokumente frühromantischer Lektürereflexion. Zeigen lässt sich dies etwa an den Gegensatzpaaren Individualität/Universalität, Buchstabe/Geist und Begriff/Sinn, die jeweils in ein sich gegenseitig steigerndes Entsprechungsverhältnis gebracht werden. Der Begriff der Individualität taucht in den literaturtheoretischen Texten Schlegels und so auch in Über Goethes Meister immer wieder auf. So heißt es über den Roman: Wer aber echten systematischen Instinkt, Sinn für das Universum, jene Vorempfindung der ganzen Welt hat, die Wilhelmen so interessant macht, fühlt gleichsam überall die Persönlichkeit und lebendige Individualität des Werks, und je tiefer er forscht, je mehr innere Beziehungen und Verwandtschaften, je mehr geistigen Zusammenhang entdeckt er in demselben. Hat irgendein Buch einen Genius, so ist es dieses. (KFSA II, S. 134) Schon in dieser Charakterisierung desjenigen, welcher die ›Persönlichkeit und lebendige Individualität des Werks‹ fühlen kann, wird deutlich, dass das Individuum nicht ohne seinen Gegenpol, das Universum, zu haben ist – es kann nur mit ›Sinn für das Universum‹ empfunden werden: »›Charakteristik‹ konstruiert und versteht ein Individuum in seinem Werden, d.h. in seiner Tendenz auf das Allgemeine hin.«71 Individualität ist auch ein Schlüsselbegriff der Schleiermacherschen Philosophie.72 So heißt es etwa über die sich gegenseitig ergänzenden Methoden des Divinatorischen und Komparativen: 69 70 71 72

Behler: Die Kunst der Reflexion, S. 134. Bäuerle: Kommunikation mit Texten, S. 189. Dehrmann: Was ist Kritik, S. 88. Siehe etwa Dierken: Individualität und Identität; vgl. auch Lee: Der Begriff der Individualität beim frühen Schleiermacher.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

»Die divinatorische ist die, welche, indem man sich selbst gleichsam in den andern verwandelt, das Individuelle unmittelbar aufzufassen sucht. Die komparative setzt erst den zu Verstehenden als ein Allgemeines und findet dann das Eigentümliche, indem mit andern unter demselben Allgemeinen Befaßten verglichen wird.« (HuK, S. 169) Auch hier ist das Individuelle auf das nüchterner gefasste ›Allgemeine‹ bezogen. Manfred Frank identifiziert das Ineinander von Individualität und Universalität, des Besonderen und Allgemeinen, gar als Kern der Schleiermacherschen Philosophie und zuvorderst der Hermeneutik: »Wir meinen das streng beachtete ›Ineinander‹ von Allgemeinem und Einzelnem, den durchgängigen Gesichtspunkt, von dem her die Singularität des Allgemeinen und die Universalität des Einzelnen als untrennbare Momente eines einigen Ganzen gewahrt werden.«73 In dieser Lesart Franks wird die Besonderheit der frühromantischen Gegensatzpaare noch einmal deutlich: Sie liegt darin, dass es bei den Gegensatzpaaren weder auf ihre Vermittlung im Sinne einer Auflösung, noch um eine Alternative geht, sondern vielmehr um die Qualität der Gegensatzpaare als solche, die in ihrer auch temporal gedachten Symmetrie besteht – nämlich in der Möglichkeit, mit der Unterscheidung ›Individuum/Universum‹ gleichzeitig das Singuläre des Allgemeinen und die Universalität des Einzelnen zu beschreiben. Die Individualität betrifft nicht etwa den Verfasser, sondern das Buch. »Die meist[en] Romane sind nur Compendien der Individualität« (KFSA XVI, S. 93, Fragment 103) schreibt Schlegel etwa. Nur so ist die Symmetrie zwischen Individualität und Universalität gewährleistet: »Die Frage, was d[er] Verfasser will, läßt s.[ich] beendigen, die was das Werk sei, nicht.« (KFSA XVIII, S. 318, Fragment 1515) Die Gleichzeitigkeit von Individualität und Universalität ist also eine, die im Verhältnis von Buch und Lektüre erzeugt wird: »Jeder progressive Mensch trägt einen nothwendigen Roman a priori in s.[einem] Innern, welcher nichts als der vollständigste Ausdruck seines ganzen Wesens [ist]. Also eine nothwendige Organisazion, nicht eine zufällige Crystallisazion.« (KFSA XVI, S. 133, Fragment 576) In der Lektüre wird das »eigene Leben zu einem Text«74 . Dies beobachtet Schlegel am Protagonisten des Wilhelm Meister: Sein ganzes Tun und Wesen besteht fast im Streben, Wollen und Empfinden, und obgleich wir voraussehen, daß er erst spät oder nie als Mann handeln wird, so verspricht doch seine grenzenlose Bildsamkeit, daß Männer und Frauen sich seine Erziehung zum Geschäft und zum Vergnügen machen und dadurch, vielleicht ohne es zu wollen oder zu wissen, die leise und vielseitige Empfänglichkeit, welche seinem Geiste einen so hohen Zauber gibt, vielfach anregen und die Vorempfindung der ganzen Welt in ihm zu einem schönen Bilde entfalten werden. (KFSA II, S. 129) Der Protagonist ist hier nicht durch seinen besonderen Charakter definiert, sondern gerade durch seine ›Empfänglichkeit‹ und ›grenzenlose Bildsamkeit‹. Individualität ist also keine statische Bestimmung, sondern vielmehr ein Knotenpunkt potentieller Universalität. Im Buch, in der Lektüre, sind Individualität und Universalität als gleichzeitiger Gegensatz möglich, und somit auch jeweils für sich. Nur im Buch, in der Schilderung des Meisterschen Werdegangs, lässt sich die Welt immer wieder aufs Neue zu 73 74

Frank: Das individuelle Allgemeine, S. 156-157. Assmann: Die Domestikation des Lesens, S. 109.

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einem ›schönen Bilde‹ entfalten. Hierin liegt auch ein Schlüssel zur (späteren) Kritik der Frühromantiker am Schluss des Romans.75 Das Problem ist nicht nur, dass die Kunst in der konkreten Handlung des Romans aufgegeben wird, insofern Wilhelm sich nicht etwa mit den Künstlerpersönlichkeiten verbindet, welche beide den Tod finden. Das Problem liegt vielmehr darin begründet, dass Wilhelm mit seiner Verbindung zu Nathalie und der Zeugung eines Kindes nun doch seine Männlichkeit erfüllt und damit seine Potentialität bzw. die Potentialität des Romans aufgibt.76 So formuliert Schlegel über das Ende des Romans: »Nach einigen leichten Krämpfen von Angst, Trotz und Reue verschwindet seine Selbstständigkeit aus der Gesellschaft der Lebendigen. Er resigniert förmlich darauf, einen eigenen Willen zu haben; und nun sind seine Lehrjahre wirklich vollendet, und Nathalie wird Supplement des Romans.« (KFSA II, S. 144) Mit der Verbindung zu Nathalie geht Wilhelm für das Buch also als Individuum im Sinne eines Knotenpunkts für Potentialität verloren, und er wird zu einem Anhängsel Nathalies.77 Insofern wird das Individuum schließlich einseitig festgelegt und damit seiner Verknüpfung mit Universalität beraubt. Lucinde lässt sich insofern als ein Gegenbuch zu Wilhelm Meister verstehen, das die Problematik der symmetrischen Vermittlung von Individualität und Universalität gerade in der Liebesbeziehung noch einmal anders löst (vgl. Kap. 4.2). Die Schließungsfigur des Buchs liegt für Schlegel also gerade nicht, wie es die Romanpoetik des Bildungsromans78 nahelegen würde, darin, dass sich etwa ein Schicksal – hier das des Wilhelm Meister – erfüllt, sondern vielmehr in der symmetrischen Bezogenheit der Gegensätze Individualität und Universalität aufeinander. Das Buch ist nicht der geeignete Ausdruck von Individualität an sich, sondern vielmehr gleichermaßen Ausdruck von Individualität und Universalität, die sich – wie Manfred Frank es für Schleiermachers Hermeneutik schon formuliert hat – in ihm verschränken und symmetrisch einander gegenüberstehen. Es geht um »die Vereinigung zweier Absoluten, der absoluten Individualität, und d[er] absoluten Universalität« (KFSA XVI, S. 121, Fragment 436). So formuliert dies die Figur Antonio in einem Beitrag zum Gespräch über die Poesie (1800) mit dem Titel Versuch über den verschiedenen Styl in Goethes früheren und späteren Werken wiederum in Bezug auf den Wilhelm Meister: »Das Werk ist zweimal gemacht, in zwei schöpferischen Momenten, aus zwei Ideen. Die erste war bloß 75

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Auch die Meister-Rezension selbst lässt sich durchaus schon kritisch lesen, vgl. etwa Maack: Ironie und Autorschaft, S. 233. Diese Lesart wird etwa durch Schlegels Brief an Schleiermacher (Dresden, Mitte Juli 1798) unterstützt: »Gott sey Dank, Du findest Ironie um Uebermeister.« (KFSA XXIV, S. 148) Nämlich, wie Kittler gezeigt hat, indem Wilhelm zum Vater (ernannt) wird, und der Roman als Sozialisationsspiel im Generationenwechsel sein Ende findet, vgl. Kittler: Über die Sozialisation Wilhelm Meisters, S. 90-99. Kittler liest Novalisʼ Urteil, der Roman stelle eine »Wallfahrt nach dem Adelsdiplom« (Schriften III. Fragmente und Studien 1799-1800, S. 646, Nr. 536) dar ebenfalls auf Natalie hin. Vgl. Kittler: Über die Sozialisation Wilhelm Meisters, S. 98: »Die Bilder der Herrin und der Mutter kommen zur Deckung in einem Bild ohnegleichen (es hat keinen Körper).« Zur Thematisierung der mythischen und gleichzeitig narrativen Motivierung von frühromantischen Romanen, die sich als ›Schicksal‹ apostrophieren lässt, siehe vor allem Dedié: Mythische Motivierung. Wie oben schon angesprochen, behandelt Dedié in diesem Kontext explizit nicht Schlegels Lucinde, da sich in diesem Buch keine derartige mythische Motivierung erkennen lasse (vgl. S. 19).

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die eines Künstlerromans; nun aber ward das Werk, überrascht von der Tendenz seiner Gattung, plötzlich viel größer als seine erste Absicht, und es kam die Bildungslehre der Lebenskunst hinzu und war der Genius des Ganzen.« (KFSA II, S. 346) Es ist also der Roman als Bibel und damit als »paradigmatisches Buch«79 , welches die ›Bildung‹ im Sinne einer Vermittlung von Gegensätzen als ›Lebenskunst‹ ermöglicht. Was hier Genius genannt wird, wird an vielen anderen Stellen auch als Geist bezeichnet. So heißt es etwa einmal »Geist ist absolute Individualität.« (KFSA XVI, S. 122, Fragment 441) Geist erscheint also als ein »Abgrund von Individualität, immer höher potenzirt«. (KFSA XVIII, S. 317, Fragment 1149). Der Begriff des Geistes bildet das Mittelglied zwischen Individuellem und Universellem: »Das Leben des universellen Geistes ist eine ununterbrochne Kette innerer Revolutionen; alle Individuen, die ursprünglichen, ewigen nämlich leben in ihm. Er ist echter Polytheist und trägt den ganzen Olymp in sich.« (KFSA II, S. 255, Fragment 451) Der Geist rückt damit in die Nähe der als symmetrisches Gespräch apostrophierten Lektüre. Für diese Lektüre gilt es, die Individualität eines Texts gerade in ihrer Besonderheit und damit Begrenztheit zu erfassen. Diese besteht aber, insofern sie ›Geist‹ oder ›Genius‹ ist, in der Symmetrie von Universalität und Individualität. So formuliert Schlegel in seinem Essay Über die Philosophie. An Dorothea. 1799: »Du siehst, ich halte es mit dem antiken Onkel im Wilhelm Meister, der da glaubt, das Gleichgewicht im menschlichen Leben könne nur durch Gegensätze erhalten werden.« (KFSA VIII, S. 44) Diese Symmetrie von Gegensätzen, welche – nach Schlegels Auffassung oder Rekonstruktion – das Buch charakterisiert, lässt sich auch an vielen anderen Gegensatzpaaren beobachten. Von besonderer Relevanz für die vorliegende Arbeit ist der Gegensatz zwischen Rede und Schrift, der sich im Kern des frühromantischen Lektüreprogramms wiederfindet und von diesem in die – dem Gespräch nachempfundene – Opposition von Reden und Schweigen übersetzt wird (vgl. Kap. 4.3). Mit der damit adressierten paradoxen Verschaltung von Rede und Schrift geht ein Übergang von der hier beschriebenen symmetrischen zur prozessualen Begriffslogik einher.

4.1.3.

Rede/Schrift: von der Symmetrie zur Asymmetrie

Wie eben gezeigt, vereinigt der Begriff des Geistes die auseinanderstrebenden und in der Gattung des Romans als Buchförmigkeit schlechthin doch eng miteinander verbundenen Begriffe Individualität und Universalität und steht damit für die Lektüre. Er hat allerdings selbst einen Gegenbegriff, nämlich den des Buchstabens. So notiert Schlegel etwa einmal zum Begriff des Geistes: »Ohne Buchstabe kein Geist; der Buchst[abe]

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Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 510. Der Roman ist insgesamt so auch als das »Leitmedium« der Literatur zu betrachten, insofern man sie medial als paradigmatisch druckschriftliche Kommunikation und somit als einzige Technik, die Literatur produziert beziehungsweise aus der sie hervorgeht« (Hahn: Schwarze Flächen und weiße Leerräume [Manuskr.], S. 1) betrachtet. Dass die Bibel als paradigmatisches Buch angesehen wird, lässt sich selbstverständlich auch medienhistorisch bzw. an der Geschichte des Buchdrucks begründen. Bekanntermaßen war das erste gedruckte Buch die Gutenberg-Bibel von 1454, die darüber hinaus mit einer reichen Pflanzen-Verzierung, also mit Arabesken, aufwartet. Vgl. dazu etwa Hörisch: Der Sinn und die Sinne, S. 134-138.

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nur dadurch zu überwinden, daß er fließend gemacht wird.«80 (KFSA XVIII, S. 344, Fragment 274) Eine ähnliche Opposition wird dann in Über Goethes Meister eröffnet, allerdings mit leicht verschobener Akzentuierung. Hier heißt es über den Prozess der Lektüre: »Mancher, dem man den Sinn nicht absprechen kann, wird sich in vieles lange nicht finden können: denn bei fortschreitenden Naturen erweitern, schärfen und bilden sich Begriff und Sinn gegenseitig.« (KFSA II, S. 135) Die in diesen Gegensatzpaaren aufscheinende Opposition von Sprache und Referenz spiegelt sich in Schleiermachers zweiter Gegenüberstellung von grammatischer und psychologischer Auslegung (vgl. HuK, S. 79 sowie S. 101-238), wobei die grammatische Auslegung auf das Auszulegende im Verhältnis zum gesamten Sprachsystem, die psychologische Auslegung dabei auf das Verhältnis des Auszulegenden in Bezug auf seinen Referenzraum, etwa das Leben des Verfassers, bezogen ist. Zunächst einmal ist die Gleichrangigkeit dieser Gegensätze bzw. gegensätzlichen Methoden beachtenswert: »Beide stehen einander völlig gleich, und mit Unrecht würde man die grammatische Interpretation die niedere und die psychologische die höhere nennen« (HuK, S. 79), betont Schleiermacher gleich in der Einleitung seiner Vorlesung zu Hermeneutik und Kritik. Die Materialität jedes Sinnes, also die sprachliche Konstitution jeder Bedeutung, wird bei Schlegel und Schleiermacher zum unhintergehbaren Faktum. Die Lektüre sieht sich mit der »unauflösbare[n] Materialität des Signifikanten« und seiner »sowohl individuelle[n] wie historische[n] Fracht«81 konfrontiert. In der Frühromantik wird der Gegenstand der Hermeneutik also erstmalig als ein schriftlicher gefasst. Dies mag zunächst verwundern, sind doch gerade die frühromantischen Texte von einer Metaphorik des Mündlichen geprägt, wie sie sich in Titeln wie Gespräch über den Roman und in der unermüdlichen Verbindung Schleiermachers zwischen ›Rede‹ und ›Denken‹82 zeigt. Diese Metaphorik des Mündlichen ist elementarer Bestandteil des frühromantischen Lektüreprogramms, welches die ideale Lektüre als symmetrisches Gespräch zwischen Freunden oder Liebenden imaginiert – und damit die materiell zu befürchtende (und gleichzeitig affirmierte) Offenheit und Unabschließbarkeit der Schrift sozial zu schließen sucht. »Die kritische Lektüre ist insofern Teil des Spiels der Mitteilung gegenüber anderen, wobei Mitteilung nicht die Kommunikation eines bereits erfassten Gehalts ist, sondern, wie Schlegel deutlich macht, ein Sich-InsGespräch-Einlassen, ein Treffen in und mit der Sprache vermittelst der Schrift.«83 Wie etwa Werner Hamacher zeigen kann, unterläuft die Schleiermachersche Hermeneutik die solcherart vorgegebene Vorrangigkeit des Mündlichen allerdings und zeigt das Objekt des Hermeneutischen als immer schon schriftlich gedachtes. Erst in der Schrift besteht überhaupt die Möglichkeit, etwa das Problem des (hermeneutischen) Zirkels als ebenjene Vermittlung von Öffnung und Schließung zu beschreiben und zu erfahren: »Erst auf diese Weise kann die Sprache des Ich […] ihm selbst und anderen als ein relativ

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Diese Notiz stellt wie zahlreiche andere Fragmente und Notizen eine Auseinandersetzung mit dem Bibelwort »Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig« des Apostels Paulus dar. Vgl. Einheitsübersetzung 2016, 2. Korinther, 3,6. Frank: Das individuelle Allgemeine, S. 165. Siehe etwa HuK, S. 78: »Jede Rede beruht auf einem früheren Denken.« Leventhal: Gattungen und System der Kritik beim jungen Friedrich Schlegel, S. 132.

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Ganzes entgegentreten: ihre Besonderheit behaupten und zugleich Gegenstand von Beobachtung nach Regeln sein.«84 Bei der Übercodierung des Buchs als Gespräch handelt es sich also nicht, wie eventuell noch bei Gellert, um eine schlichte Medienverwechslung – vielmehr beruht die Möglichkeit der Vision des symmetrischen Gesprächs gerade auf den medialen Besonderheiten der Druckschrift und des Buchs. Das von Schleiermacher explizit beschriebene Verhältnis einer Nachrangigkeit der Schrift gegenüber der Rede, deren verlustfreie Transformation und Übersetzung sie eigentlich darstellen soll, kehrt sich in der Beschwörung der lebendigen Dialogizität gleichsam um: »Dialogik wird zum schriftentsprungenen Supplement eines Defizits an der Schrift, die doch ihrerseits bloß Supplement der Rede sein sollte.«85 Die Imaginierung der Dialogsituationen ist also Resultat einer Ubiquität von Schrift, die den philosophischen wie literarischen Diskurs prägt.86 Das Idealbild eines gleichberechtigten Dialogs, das »unendliche Gespräch«87 , ist das Idealbild eines symmetrischen Verhältnisses zwischen zwei Kommunikationspartnern und die Modellierung des Verhältnisses von Text und Interpretation anhand der Vorstellung eines Dialogs weist darauf hin, wie sich Schlegel und Schleiermacher das Verhältnis zwischen Buch und Lektüre vorstellen: als symmetrisches, bei dem sich die Schließung des Buchs und dessen Öffnung in der Lektüre gegenseitig die Waage halten und keines in die Selbstständigkeit entlassen wird. Vielmehr besteht zwischen Öffnung und Schließung ein gegenseitiges Steigerungs- und damit Konvergenzverhältnis. Die Übercodierung des Buchs und der Druckschrift im Sinne des Gesprächs und damit auch im Sinne der bereits skizzierten Symmetrie begrifflicher Gegensätze stößt allerdings an ihre Grenzen. Die Vision einer umfassenden Symmetrie wird von der Selbstbezüglichkeit der Schrift unterlaufen. Für Schlegel und die Frühromantiker ist es gerade, wie Schlegel in seinem Studium-Aufsatz schreibt, die Existenzform der Poesie als »willkürliche Zeichensprache, Menschenwerk« (KFSA I, S. 294), die es ihr ermöglicht, »die Verknüpfung zu einem unbedingt vollständigen Ganzen zu vollenden.« (KFSA I, S. 295) Schlegel geht es also gerade nicht um die Auflösung der Materialität von Text und Werk, sondern vielmehr um die Wertschätzung ebenjenes materiellen Substrats. Immer wieder tritt Schlegel für eine »Apologie d[es] Buchstabens [ein], der als einziges ächtes Vehikel d[er] Mittheilung sehr ehrwürdig ist« (KFSA XVIII, S. 5). Dies zeigt sich auch in Schlegels Bestimmung des Begriffs in der Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern: Für die Philosophie ist nur ein Begriff bestimmt zu nennen, der, wenn man so sagen soll, im Innern gegliedert ist; er muß im Innern in sich selbst bestimmt sein, muß ein organisch konstruierter Begriff sein, d.h. ein Begriff, in dem selbst die entgegengesetzten Glieder, die gemeinschaftliche Quelle des Ursprungs, die Stufen der Entwicklung und Ausbildung aufgezeigt werden; nur der Begriff ist bestimmt, der Erkenntnis gibt des Gegenstandes, d.h. seines innern Entstehens und Werdens, seines innern Wesens

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Hamacher: Hermeneutische Ellipsen, S. 131. Ebd., S. 132. Vgl. dazu ausführlich Messlin: Antike und Moderne, S. 286-306. So lautet die Kritik Carl Schmitts, der in Politische Romantik die diese Haltung implizite Gesellschaftsvorstellung als »individualistisch aufgelöst« kritisierte, vgl. S. 70.

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und Gliederbaues, also, wie gesagt, nur der genetische, der organische Begriff ist in philosophischer Rücksicht bestimmt zu nennen. (KFSA XII, S. 315) Erst ein solchermaßen organisch konstruierter Begriff wird zu einem Gedanken, »worin man die Welt in eins zusammenfassen und den man wieder zu einer Welt erweitern kann, worin sich also mit der Einheit die größte Mannigfaltigkeit und unendliche Fülle zusammenfindet« (KFSA XII, S. 361). Hier zeigt sich allerdings, dass die Unterscheidung etwa zwischen Begriff und Sinn asymmetrisch konstruiert ist. Es ist die Seite des Begriffs, die den ›Übergang‹ zum Sinn als selbst schon diesen Gegensatz enthaltend ermöglicht. Die eigentlich symmetrisch konzipierten Gegensatzpaare entlarven sich also im begrifflichen Netzwerk als immer wieder auf die andere, prozessuale Begriffsbildungsmethode bezogen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Begriff der Allegorie. Gegenüber dem idealistischklassizistischen Symbolbegriff kann der Allegoriebegriff der Frühromantik als Ausweis einer eigenständigen philosophischen und theoretischen Denk- und Lektüreoption angesehen werden.88 In Bezug auf Lucinde schreibt Schlegel: »Das Allegor[ische] des Werks darin daß die Theile ihm gleich, alle Bedeutung Sache wird und alle Sache Bedeutung.« (KFSA XVI, S. 238, Fragment 78) Vom Begriff der Allegorie als prozessuale Brücke des ›Werdens‹ zwischen den jeweiligen gegensätzlichen Polen ist es nicht mehr weit bis zu einem Begriff der absoluten Allegorie, wie er sich etwa in der Bestimmung »Allegorie ist Musik von architektonisierten Plasmen« (KFSA XVI, S. 213, Fragment 118) äußert. In der Bestimmung der Allegorie als Musik wird diese vollständig entmaterialisiert und erscheint als rein formale, prozesshafte Größe. Diesem Eindruck der Verabsolutierung wirkt Schlegel in den Fragmenten immer wieder durch neue Gegensätze entgegen, in Bezug auf die Allegorie etwa so: »Alle π [poetischen] oder ρ [rhetorischen] Figuren müssen entweder synthetisch (Metapher, Gleichniß, Allegorie, Bild, Personification) oder analytisch sein (Antithesen, Parisosen pp)/Der Personification liegt der Imperativ zum Grunde: Alles Sinnliche zu vergeistigen. D[er] Allegorie der: Alles Geistige zu versinnlichen//.« (KFSA XVI, S. 103, Fragment 221) Hier wird die in der Tendenz zur Verabsolutierung begriffene Allegorie wiederum in symmetrische Gegensatzverhältnisse gebracht, im obigen Beispiel das Verhältnis zur Personifikation. Dem Eindruck einer sich verabsolutierenden Prozessualität, welche die grundsätzliche Substantialität der Gegensatzpaare unterläuft, wirken solche Wiedereinsetzungen von Gegensätzlichkeiten aber nur bedingt entgegen. Dasselbe gilt für den Gegensatz von Organisation und Konstruktion.

88

Vgl. Behler: Symbol und Allegorie in der frühromantischen Theorie, S. 251: »Es scheint also, daß die Begriffe Allegorie und Symbol bei den Frühromantikern eine andere Richtung nehmen als die in der deutschen Klassik und der idealistischen Philosophie vorherrschende, ja, daß es sich hier wahrscheinlich nicht nur um terminologische Nuancen, sondern um tiefergehende theoretische und philosophische Unterschiede in der Bestimmung des Symbolbegriffs und des damit verbundenen Poetischen handelt.«

4. Arabeske: Reden/Schweigen

4.1.4.

Organisation und Konstruktion

Einer der zentralen und in der Forschungsliteratur immer wieder zitierten Sätze aus Über Goethes Meister lautet: »Der angeborne Trieb des durchaus organisierten und organisierenden Werks, sich zu einem Ganzen zu bilden, äußert sich in den größeren wie in den kleineren Massen.« (KFSA II, S. 131) In der Beschreibung des Romans als gleichermaßen organisiert wie organisierend scheint bereits die für die prozessualen Begriffe typische Tendenz zur Verdopplung und damit zur Selbstlegitimierung auf. Zunächst einmal bezieht sich der Begriff der Organisation auf die Frage der »Ganzheit oder Totalität des Werks«89 . Landläufig hermeneutisch operierend begreift man das Hervorbringen dieser Ganzheit als Leistung des Verfassers, der insofern die Organisation stiftet. Schlegel stellt den Sachverhalt hier, wie im eingangs zitierten Satz schon deutlich wird, komplizierter dar. Einerseits heißt es direkt vor der hier zitierten Stelle, die das Werk als organisiert und organisierend beschreibt, über den ›Dichter‹: So mögen wir uns gern dem Zauber des Dichters entreißen, nachdem wir uns gutwillig haben von ihm fesseln lassen, mögen am liebsten dem nachspähn, was er unserm Blick entziehen oder doch nicht zuerst zeigen wollte, und was ihn doch am meisten zum Künstler macht: die geheimen Absichten, die er im stillen verfolgt, und deren wir beim Genius dessen Instinkt zur Willkür geworden ist, nie zu viele voraussetzen können. (KFSA II, S. 131) Hier wird der Autor als allmächtig imaginiert, als Herr über ein Blickregime, das er still und im Verborgenen kontrolliert. Andererseits führt die tatsächlich vollzogene Beobachtung der Organisation in der Lektüre und Transkription des Buchs gerade nicht nach ›außen‹, zu den Kompetenzen des Autors Goethe oder zu einem Vergleich mit anderen seiner Werke, sei es aufgrund thematischer, zeitlicher oder persönlicher Kongruenzen. Schlegel verfolgt die Organisation des Buchs vielmehr nach innen, hin zum »heilige[n] Kind, mit dessen Erscheinung die innerste Springfeder des sonderbaren Werks plötzlich frei zu werden scheint« (KFSA II, S. 130). Als Mittelpunkt des Buchs erscheint aus der Sicht Schlegels Mignon. Die gegensätzlichen Antworten auf die Frage nach dem Woher der Form werden in der Formel des organisierten und organisierenden Werks zusammengespannt und in der Unentschiedenheit belassen. Einerseits erscheint der ›Dichter‹ als übermächtiger Schöpfer, welcher sein ›Werk‹ vollständig kontrolliert; andererseits besitzt das Werk selbst, folgt man Schlegels Formulierungen, einen ›angebornen Trieb sich zu einem Ganzen‹ zu bilden; führt also wie die kindliche Mignon ein Eigenleben. Die Unentschiedenheit dieser sich widersprechenden Optionen findet ihre Entsprechung in dem, was Schlegel in Bezug auf das Werk als organisiert beschreibt: »Der kleinste Zug ist bedeutsam, jeder Strich ist ein leiser Wink und alles ist durch helle und lebhafte Gegensätze gehoben.« (KFSA II, S. 126) Es scheinen also gerade, wie oben bereits beschrieben, die Gegensätze zu sein, welche eine organisierende Wirkung entfalten. Dadurch erst wird das Werk zu einem Ganzen. »Alle Vorstellungen, die in einem Complexus durch Gegensätze verbunden sind, bilden ein Ganzes« (HuK, S. 145) heißt es bei Schleiermacher 89

Leventhal: Gattungen und System der Kritik beim jungen Friedrich Schlegel, S. 107.

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Lektüre als Form

zur grammatischen Auslegung. Somit ist der »allgemeine Organismus ein Buch« (KFSA XVI, S. 372, Fragment 70) – das Buch selbst ist Urheber der Organisation, die Organisation somit die vom Buch indizierte Schließungsform. Dies bestätigt sich, wenn man den konkreten Nachvollzug der textuellen Organisation in der Schlegelschen Lektüre weiterverfolgt. So heißt es etwa über das Verhältnis des Fremden zum Protagonisten Wilhelm: Der reife Verstand dieses Mannes ist wie durch eine große Kluft von der blühenden Einbildung des liebenden Jüngling geschieden. Aber auch von Wilhelms Serenade zu Norbergs Brief ist der Übergang nicht milde, und der Kontrast zwischen seiner Poesie und Marianens prosaischer ja niedriger Umgebung ist stark genug. Als vorbereitender Teil des ganzen Werks ist das erste Buch eine Reihe von veränderten Stellungen und malerischen Gegensätzen in deren jedem Wilhelms Charakter von einer andern merkwürdigen Seite, in einem neuen helleren Lichte gezeigt wird. (KFSA II, S. 128-129) Es sind also gerade die Kontraste, sei es zwischen Figuren, sei es zwischen poetischen oder prosaischen Gattungen, sei es zwischen Stimmungen und Atmosphären, die die »Organisation des Werks« (KFSA II, S. 135) für die Schlegelsche Lektüre belegen können. In dieser Organisation der Gegensätze gelingt es dem Buch »absolute Liberalität mit absolutem Rigorismus« (KFSA II, S. 163, Fragment 123) zu verbinden. »Das beste im W.[ilhelm] M.[eister] ist d.[ie] Methode, wie in d.[er] W[issenschaftsl[ehre] und im Grund auch in der Revoluz[ion]. – Sie ist leicht und bequem (doch kann sie aber leicht zu bequem und dadurch seicht und oberflächlich werden.)« (KFSA XVI, S. 475, Fragment 195), notiert Schlegel. Um diese Methode, den »eigentümlichen Modus der Verknüpfung in Goethes Erzählweise«90 und damit den »Genius« des Buchs erkennen zu können, benötigt der Leser »echten systematischen Instinkt« (KFSA II, S. 134). Die Systematik91 des Buchs entfaltet sich erst in der adäquaten Lektüre. Dies zeigt sich auch in der zeitlichen Indizierung des Modus der Goetheschen Verknüpfung. Die oben angesprochenen Gegensätze sind innerhalb einer ›Methode der Fortbildung‹ miteinander verknüpft. Diese bleibt bei aller Differenz der Gegensätze selbst mit sich identisch und stiftet so den Zusammenhang. Die Mittel der Verknüpfung und der Fortschreitung sind ungefähr überall dieselben. Auch im zweiten Bande locken Jarno und die Erscheinung der Amazone, wie der Fremde und Mignon im ersten Bande, unsre Erwartung und unser Interesse in die dunkle Ferne, und deuten auf eine noch nicht sichtbare Höhe der Bildung; auch hier öffnet sich mit jedem Buch eine neue Szene und eine neue Welt; auch hier kommen die alten Gestalten verjüngt wieder; auch hier enthält jedes Buch die Keime des künftigen und

90 91

Behler: Goethes Wilhelm Meister, S. 165. »Durch jene Fortbildung ist der Zusammenhang, durch diese Einfassung ist die Verschiedenheit der einzelnen Massen gesichert und bestätigt; und so wird jeder Teil des einen und unteilbaren Romans ein System für sich.« (KFSA II, S. 135) Vgl. etwa folgende Definition eines Systems aus den Philosophischen Lehrjahren: »System ist eine durchgängig gegliederte Allheit von wissenschaftlichem Stoff, in durchgehender Wechselwirkung und organischem Zusammenhang – Allheit eine in sich selbst vollendete und vereinigte Vielheit.« (KFSA XVIII, S. 12)

4. Arabeske: Reden/Schweigen

verarbeitet den reinen Ertrag des vorigen mit lebendiger Kraft in sein eigentümliches Wesen. (KFSA II, S. 135) Der organisierte Zusammenhang des Buchs erhält hier also einen zeitlichen Index, eine Bewegung – genau das bezeichnet die Integration der Lektüre ins Buch. Schlegel beschreibt für Wilhelm Meister eine »genetisch[...] fließende[...] Einheit im Sinne der Fortschreitung«92 . Als metaphorisches Reservoir für die Beschreibung dieser Lektüreeindrücke im Sinne der abstrakten Bewegung hält Schlegel die Musik bereit.93 »Durch Musikalität von Sprache und Konstruktion erreicht die romantische Poesie ihre höchste Bestimmung«94 . Das zweite Buch etwa beginnt für Schlegel »damit, die Resultate des ersten musikalisch zu wiederholen, sie in wenige Punkte zusammenzudrängen und gleichsam auf die äußerste Spitze zu treiben.« (KFSA II, S. 129) Insbesondere die Enden der verschiedenen Bücher werden immer wieder in musikalischen Metaphern beschrieben.95 Über das Finale schließlich heißt es: »Das Lustige und das Ergreifende, das Geheime und das Lockende sind im Finale wunderbar verwebt, und die streitenden Stimmen tönen grell nebeneinander. Diese Harmonie von Dissonanzen ist noch schöner als die Musik, mit der das erste Buch endigte; sie ist entzückender und doch zerreißender, sie überwältigt mehr und sie läßt doch besonnener.« (KFSA II, S. 130) Hier wird noch einmal darauf hingewiesen, dass es gerade das Dissonante, das sich Widersprechende ist, das in der Musik auf wundersame Weise zusammenklingt und eine ›Harmonie von Dissonanzen‹ formt, die die Gegensätzlichkeit nicht aufhebt, sondern sie vielmehr erst zum Ausdruck bringen kann. Im Falle von Über Goethes Meister liegt in ebenjenem dynamischen Fortbilden die Antwort auf die zentrale Frage nach Schließung. So entsteht eine neue Einheit96 des poetischen Werks. Diese dem Buch innewohnende Schließungsfigur besteht in einer Art und Weise der Verknüpfung, die sich allerdings nur in einem Fortschreiten zeigen kann und insofern einen zeitlichen Index trägt: »Das Mannigfaltige muß zu innerer Einheit notwendig verknüpft sein. Zu Einem muß alles hinwirken, und aus diesem Einen, jedes Andren Dasein, Stelle und Bedeutung notwendig folgen. Das, wo alle Teile sich vereinigen, was das Ganze belebt und zusammenhält, das Herz des Gedichtes liegt oft tief verborgen.« (KFSA XXIII, S. 97) Als ebenjenes Fortschreiten ist die Lektüre selbst zu erkennen. Die Vorstellung einer solcherart verfassten zeitlichen Organisation von Entgegengesetztem, das diesen einzelnen Entgegensetzungen allerdings – so zumindest die Auffassung Schlegels – gerade nicht ihre Individualität raubt, sondern diese erst 92 93 94

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Behler: Goethes Wilhelm Meister, S. 165. Zur Poetik der Musik in der Romantik vgl. auch den von Barbara Naumann herausgegebenen Band: Die Sehnsucht der Sprache nach der Musik. Schanze: Friedrich Schlegels Theorie des Romans (1968/1974), S. 389. Siehe auch KFSA XVI, S. 208, Fragment 40: »Die Methode des Romans ist die der Instrumentalmusik – Im Roman dürfen selbst die Charaktere so willkührlich behandelt werden, wie die Musik ihr Thema behandelt. –« »Mit diesem so harten Mißlaut schließt das erste Buch, dessen Ende einer geistigen Musik gleicht, wo die verschiedensten Stimmen, wie ebensoviele einladende Anklänge aus der neuen Welt, deren Wunder sich vor uns entfalten sollen, rasch und heftig wechseln […]« (KFSA II, S. 128). Vgl. dazu Behler: Goethes Wilhelm Meister, S. 161: »Die Frage nach der poetischen Einheit – aber unabhängig von Normen, Regeln, Traditionen usw., wie auch von gattungsmäßigen Vorschriften – steht von Anfang an im Zentrum ihrer [der frühromantischen] Überlegungen.«

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Lektüre als Form

hervorbringt, ist zentral für die Schlegelsche Neukonzeption des Buchs als Gegenstand von Lektüre. Dem Begriff der Organisation kommt es zu, als Prozessbegriff die Vermittlung zwischen den sich asymmetrisch gegenüberstehenden Polen von Endlichem und Unendlichem zu übernehmen, insofern er auf das Wie und nicht auf das Was abzielt. Hier trifft sich nun der Begriff der Organisation mit dem für die Diskussion der Hermeneutik zentralen Begriff der Konstruktion. Schleiermacher begreift die Hermeneutik als »fortschreitende Anweisung zum Verfahren« der Auslegung von Texten (HuK, S. 84). Auch hier zeigt sich in der Terminologie der zeitliche Index der Unumkehrbarkeit97 . Es braucht also eine besondere, progressiv verfahrende Technik des Umgangs mit Texten, um diesen in ihrer Organisiertheit adäquat zu begegnen. Diese Technik beschreibt Schleiermacher als »das geschichtliche und divinatorische (profetische) objektive und subjektive Nachkonstruieren der gegebenen Rede« (HuK, S. 93)98 . Der Begriff des Nachkonstruierens wird gleich vierfach bestimmt. Im Verhältnis von geschichtlich und divinatorisch äußert sich die doppelte zeitliche Relation, die dem Auslegevorgang eigen ist, und die zuvor schon als »ein Unendliches der Vergangenheit und Zukunft […] was wir in dem Moment der Rede sehen wollen« (HuK, S. 94) bestimmt wurde. Schleiermacher fährt fort, die beiden Oppositionen zu verbinden: 1. Objektiv geschichtlich heißt einsehen, wie sich die Rede in der Gesamtheit der Sprache und das in ihr eingeschlossene Wissen als ein Erzeugnis der Sprache verhält. Objektiv divinatorisch heißt ahnden, wie die Rede selbst ein Entwicklungspunkt für die Sprache werden wird. […] 2. Subjektiv geschichtlich heißt wissen, wie die Rede als Tatsache im Gemüt gegeben ist, subjektiv divinatorisch heißt ahnden, wie die darin enthaltenen Gedanken noch weiter in dem Redenden und auf ihn fortwirken werden. (HuK, S. 94) Wie Schleiermachers Hermeneutikkonzeption insgesamt ist auch der Begriff des Nachkonstruierens nicht nur zeitlich doppelt bestimmt, sondern auch in seiner Richtung. Der gegebene Text kann auf die konkreten Erlebnisse, Gedanken oder Gefühle des Autors hin gelesen werden, aber auch auf die Gesamtheit der sprachlichen Regeln, deren Einzelfall er ist. In beiden Fällen wird jedoch das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen nicht einfach als Teil-Ganzes-Verhältnis konstruiert. Vielmehr wird durch die zusätzliche zeitliche Kodierung deutlich gemacht, dass sowohl das psychologische wie auch das grammatische Ganze nicht statisch zu denken ist, sondern vielmehr im Einzelnen Veränderungen erfährt. Das berühmte Problem des hermeneutischen Zirkels ist also nicht nur ein konkretes praktisches im Umgang mit einem zeitlich verfassten Text, sondern ein ganz grundlegendes Problem der Zirkularität jeder Kommunikation von Erkenntnis: »Überall ist das vollkommene Wissen in diesem scheinbaren Kreise, daß jedes Besondere nur aus dem Allgemeinen, dessen Teil es ist, verstanden werden kann und umgekehrt.« (HuK, S. 95)

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Wie bereits Schleiermacher hervorhebt, eignet diese doppelte zeitliche Kodierung bereits der Struktur der Sprache. So heißt es bei Schleiermacher: »Daraus erhellt aber auch positiv, daß die Sprache das Fortschreiten des Einzelnen im Denken bedingt.« (HuK, S. 78) Hier ergibt sich außerdem eine Parallelität im Medium von Text und seiner Auslegung. Hervorhebung CC.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Aus der unendlichen Aufgabe, die im Umgang mit diesem Zirkel erwächst, ergibt sich auch die ebenso berühmte Formel des ›Besserverstehens‹99 : »Die Aufgabe ist auch so auszudrücken, die Rede zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber. Denn weil wir keine unmittelbare Kenntnis dessen haben, was in ihm ist, so müssen wir vieles zum Bewußtsein zu bringen suchen, was ihm unbewußt bleiben kann, außer sofern er selbst reflektierend sein eigener Leser wird. Auf der objektiven Seite hat er auch hier keine andere Data als wir.« (HuK, S. 94) Was hier deutlich wird, ist dass das Lesen eine Erkenntnis produziert, die auf keinem anderen Wege gewusst werden kann, auch nicht vom Urheber des Texts selbst. Auch dieser muss erst zu seinem eigenen Leser werden, um diese Form der Reflexion vollziehen zu können. Mit Reflexion ist hier die Konfrontation des gewordenen Texts mit den nicht realisierten, aber dennoch vorhandenen anderen Möglichkeiten gemeint. Die Nachkonstruktion eines Texts kann also, dies folgt daraus, für Schleiermacher keine reine Auflösung desselben in einen immer schon gegebenen, aus dem Geist des Urhebers entspringenden Sinn sein, sondern muss etwas anderes ›zu Bewußtsein‹ bringen: die Genese der Schließung des Texts im Buch, also eine ›Performanz‹, die durch den gewordenen Text unweigerlich verdeckt wird. Renate Lachmann bezeichnet diese Aufmerksamkeit auf die Konstruktion als »zentralen Aspekt[...] formalistischer Literaturbetrachtung«, welcher den Text als »Auswahl- und Kombinationsprozeß«100 ansieht. Dieses »Gemachtsein«101 des Buchs ist keineswegs nur auf den Autor bezogen. Dies macht Schleiermacher deutlich, wenn er die subjektive, psychologische von der objektiven, grammatischen Seite unterscheidet, auf die der Autor nicht nur keinen Einfluss hat, sondern über die er nicht einmal mehr Wissen hat als der Auslegende. Der Auslegende konstruiert also das Buch nach, um es vor dem Hintergrund der ausgeschlossenen Möglichkeiten als individuell Gewordenes nachvollziehen zu können. Das Ziel der hermeneutischen Anstrengung ist dabei immer die Annäherung an das Besondere, nicht etwa an das Allgemeine.102 Dies betont auch Manfred Frank, der im Versuch der nie ganz gelingenden Annäherung an die Individualität den Kernpunkt der Schleiermacherschen Hermeneutik sieht: »Es geht ganz einfach um die Tatsache, daß der ›individuelle Beisatz‹, der jedem sprachlichen Ausdruck durch seine bloße Verwendung widerfährt, nicht von der Struktur oder der Gattung des Werks (die immer einen Index der Vergangenheit tragen) sich erreichen läßt.«103 Diese Unerreichbarkeit motiviert immer wieder aufs Neue die Frage nach dem Wie, also nach dem spezifischen Prozess der Buchwerdung.104

99 100 101 102 103 104

Eine in ihrem Schematismuswillen geradezu unfreiwillig komische Abhandlung über diese »Formel« findet sich bei Strube: Über verschiedene Arten, den Autor besser zu verstehen. Lachmann: Intertextualität als Sinnkonstitution, S. 66. Ebd. Vgl. Weimar: Historische Einleitung, S. 122-123. Frank: Was heißt einen Text verstehen, S. 76. Vgl. ebd., S. 77: »Einen Text verstehen heißt, jenseits der Entschlüsselung seiner universellen Bedeutungen, Intentionen und Referenzen, eine von der Komposition des Werks zwar motivierte, aber nicht ableitbare Hypothese über die Art und Weise zu entwickeln, wie der Autor […] einen individuellen Sinn entwarf.«

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Lektüre als Form

Das Ziel ist es also, den Prozess hinter dem gewordenen Buch so vollständig wie möglich zu erfassen, »den Prozeß des Autors nachzubilden« (HuK, S. 98). Nur so kann für Schleiermacher die Individualität des Buchs hervortreten, welche es, »erst im Zusammenhang« (HuK, 101) erhält. Insofern leistet die Lektüre »Konstruktion eines endlichen Bestimmten aus dem unendlichen Unbestimmten« (HuK, S. 80). Mit der Nachkonstruktion ist also nicht nur das als ›scheinbarer‹105 hermeneutischer Zirkel bekannte Wechselverhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen eines Buchs gemeint, sondern vielmehr der Zusammenhang zwischen einem Buch und den unendlichen Bedingungen, die seine Schließung begleitet haben. Die eigentliche Erfassung der Individualität eines Buchs erfordert gleichzeitig die Erfassung einer unendlichen Totalität, nämlich des Zusammenhangs mit allen diese Schließung begleitenden Momenten. Dieses Wechselverhältnis macht die Auslegung, wie beschrieben, zur unendlichen Aufgabe. Schlegel trifft sich mit Schleiermacher in der Begrifflichkeit der Nachkonstruktion. Auch für ihn ist das Lesen eines Texts notwendig mit einem doppelten zeitlichen Index versehen und verfährt somit zyklisch106 : »Studium ist wie Theorie (absichtsloses faßliches Betrachten) ein absichtsloses Lesen, welches nothwendig cyklisch wird.« (KFSA XVI, S. 139, Fragment 644) Hier entfaltet sich bereits Schlegels Formierung einer cyklischen Methode, die ich als Charakteristikum der Vorlesung zur Transcendentalphilosophie noch eingehend beschreibe (vgl. Kap. 4.3.5). Der Begriff der Nachkonstruktion erfährt bei Schlegel allerdings eine andere funktionale Einbindung als bei Schleiermacher. Viel mehr als dort geht es Schlegel immer schon um die Verbindung von Lektüre und eigener Textproduktion. So heißt es etwa in Lessings Gedanken und Meinungen (1804), man könne »das Denken nicht lehren, außer durch die Tat und das Beispiel, indem man vor jemanden denkt, nicht etwa Gedachtes mitteilt, sondern das Denken in seinem Werden und Entstehen ihm darstellt« (KFSA III, S. 48). Diesen Prozess imaginiert Schlegel als ein dialogisch verfahrendes Schauspiel, in welchem dem ›Faden des Denkens‹ die Hauptrolle zukommt: Dann geht der Faden des Denkens in stetiger Verknüpfung unmerklich fort, bis der überraschte Zuschauer, nachdem jener Faden mit einem Male abreißt, oder sich selbst in ihm auflöste, plötzlich vor einem Ziele sich findet, das er gar nicht erwartet hatte; vor sich eine grenzenlose weite Aussicht, und sieht er zurück auf die zurückgelegte Bahn, auf die deutlich vor ihm liegende Windung des Gesprächs, so wird er inne, daß es nur ein Bruchstück war aus einer unendlichen Laufbahn. (KFSA III, S. 50) Metaphorisch sind hier noch einmal die beiden zeitlichen Richtungen, das Zurücksehen und das Ahnden, angesprochen. Die doppelte zeitliche Hinsicht verschränkt Ahnen und Zurücksehen und sorgt so immer wieder für die Momente der Überraschung, die das bisher Verfolgte nur als ›Bruchstück einer unendlichen Laufbahn‹ entlarven und so für neue ›Begeisterung‹ und Energie sorgen, das Projekt der nachkonstruierenden Lektüre wieder aufzunehmen. Sowohl für Schlegel als auch für Schleiermacher geht

105 Zum Begriff des scheinbaren Zirkels und seiner Implikationen vgl. Hamacher: Hermeneutische Ellipsen. 106 Zum Begriff des zyklischen Lesens vgl. auch Bäuerle: Kommunikation mit Texten, bes. Kap. 4.1 Theorie des Lesens.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

es in der Lektüre gerade nicht um Übersetzung107 , sondern vielmehr um eine Repräsentierung (im eigentlichen Sinne des Wortes, also eine erneute Präsenzmachung) der Schließung des Texts im Buch; selbst wenn diese Umwege genommen hat. »Es ist nicht genug daß man den eigentlichen Sinn eines confusen Werks besser versteht, als der Autor es verstanden hat. Man muß auch die Confusion selbst bis auf die Principien kennen, charakterisiren und selbst construiren können.« (KFSA XVIII, S. 63, Fragment 434) Das Ziel ist dabei jeweils die Erfassung der besonderen Individualität des jeweiligen Buchs, im Sinne der Nachkonstruktion seiner – im Medium der Schrift – unwahrscheinlichen Schließung. So heißt es bei Schlegel, die Kritik solle »die Werke nicht nach einem allgemeinen Ideal beurtheilen, sondern das individuelle Ideal jedes Werkes aufsuchen« (KFSA XVI, S. 270, Fragment 197). Der Vorgang der Konstruktion ist dabei symmetrisch zum Vorgang der Produktion angelegt, Konstruktion ist »Wiederholung der Produktion«108 , allerdings im Sinne einer differenten Wiederholung, die gleichzeitig eine Verschiebung ist. Dies ist für Klaus Weimar das radikal Neue an Schlegels Konzeption des Verstehens: »Eben darin besteht der Unterschied zwischen der Schlegelschen und der Signifikationshermeneutik, daß jetzt das Verstehen begriffen wird als durchaus gegenwärtige Wiederholung der früheren Entstehung, nicht mehr als deren Umkehrung.«109 Die doppelte zeitliche Richtung der Nachkonstruktion erhält dabei die aus dem Nebeneinander von Öffnung und Schließung resultierende ›Energie‹ des Texts und so wird er in der Nachkonstruktion, in der Konfrontation mit seinen nicht realisierten Möglichkeiten, wieder zu einem ›lebendigen‹ Entwurf.110 In der Formulierung der Wiederholung einer früheren Entstehung, die der Umkehrung gerade entgegengesetzt ist, treffen sich Konstruktion und Organisation, insofern sie als sich entsprechende Prozesse verstanden werden. Die Konstruktion in der Lektüre ist also keinesfalls einseitig als Öffnung gegenüber einer Schließung in der Organisation zu verstehen; vielmehr handelt es sich bei Organisation und Konstruktion gleichermaßen um eine Gleichzeitigkeit von Öffnungs- und Schließungsbewegungen. 107 Hier möchte ich etwa Manuel Bauer widersprechen, der ebenjenen Prozess der Nachkonstruktion als Übersetzung fasst, vgl. ders.: Schlegel und Schleiermacher, S. 122: »Durch eine Rekonstruktion der Entstehung der unverständlichen sprachlichen Botschaft soll es zu einer ›Vermittlung‹ kommen und das Unverständliche in Verständlichkeit überführt werden. Der Leser soll nicht ›lesen lernen‹, sondern den produktiven, aber Unverständlichkeit generierenden Akt des Schreibens nachkonstruieren. Das Unverständliche soll nicht anerkannt, sondern übersetzt werden.« Der hier proklamierte Zusammenhang zwischen Nachkonstruktion und erklärender Übersetzung, welche das Unverständnis aufheben soll, erschließt sich mir nicht. Vielmehr ist gerade in der Nachkonstruktion die Möglichkeit zur Anerkennung des individuellen Texts gegeben. Insofern ließe sich, wenn schon von Übersetzung gesprochen wird, vielmehr an eine Konzeption von Übersetzung denken, wie sie etwa Walter Benjamin entwirft, vgl. Die Aufgabe des Übersetzers in WBGS IV.1, S. 9-21. Dazu passt auch die Formulierung Schlegels: »Jede Uebersetzung ist eine unbestimmte, unendliche Aufgabe.« (KFSA XVI, S. 60, Fragment 18) 108 Weimar: Historische Einleitung, S. 105. 109 Ebd., S. 107. 110 Vgl. Bolz: Der Geist und die Buchstaben, S. 108: »Statt sie fortzuschreiben, diskontinuiert der Romantiker die Wirkungsgeschichte eines Werks durch Korrektur und Kritik und bezieht es perspektivisch auf zukünftige Möglichkeiten. Die Auslegung schreibt dem Interpretandum einen Entwurf ein.«

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Lektüre als Form

Ein Buch ist nur dann angemessen erfasst, wenn nicht nur seine Öffnungs-, sondern auch seine Schließungsbewegungen nachkonstruiert worden sind. Die sich in der Lektüre vollziehende Öffnung des gewordenen Buchs auf seine anderen Möglichkeiten hin macht erst die Schließungsfiguren sichtbar, die schließlich wiederum die Einheit des Buchs und damit die Einheit der Lektüre garantieren. Mit der Gegenüberstellung der Prozessbegriffe Organisation und Konstruktion nähert sich Schlegel dem Problem der Vermittlung von Öffnungs- und Schließungsfiguren von der, vom Gegensatz Individuum/Universum aus gesehen, anderen Seite: von der Seite der Prozessualität. Er löst die Frage nach dem Verbleib der Symmetrie und Gegenständlichkeit auf zweierlei Arten: einmal, indem er ein Gegenüber von verschiedenen Prozessualitäten – eben Organisation und Konstruktion – annimmt und damit den starren Gegensatz von Buch und Lektüre in einen prozessualen, immer schon vermittelten, auflöst, und andererseits, indem er die prozessualen Begriffe, wie in der Formulierung des organisierten und organisierenden Werks deutlich wird, selbst wieder verdoppelt und in symmetrisierte Perspektiven einteilt. Die beiden Modi der prozessualen und symmetrischen Begriffsbildung und die daraus entstehenden Begriffe sind also, wie hier am Gegenüber von Organisation und Konstruktion erkennbar, wechselseitig aufeinander bezogen. Einen abstrakten Begriff für die Notwendigkeit der Gegenüberstellung, die sowohl die Prozess- als auch die Gegenstandsbegriffe betrifft, findet Schlegel im Begriff der Grenze.

4.1.5.

Grenze

In den Fragmenten zu Literatur und Poesie äußert sich Schlegel über das Kriterium der Begrenztheit für den Gegenstand seiner Lektüre: »Gebildet ist ein Werk, wenn es überall scharf begrenzt, innerhalb der Grenze aber grenzenlos und unerschöpflich ist, wenn es sich selbst ganz treu, überall gleich, und doch über sich selbst erhaben ist.« (KFSA II, S. 215, Fragment 297) Die Grenze verspricht Identität im Sinne von Wiedererkennbarkeit und gleichzeitig die Möglichkeit der Transzendenz im Sinne einer innerhalb des Begrenzten, an der Grenze, stattfindenden Reflexion. Der Bildungsbegriff, der hier auftaucht, ist insofern eng mit dem Begriff der Organisation, der oben bereits diskutiert wurde, verbunden. Nur ein solches Werk kann als klassisch gelten und somit zum Gegenstand von produktiver Lektüre werden, deren Kennzeichen es gerade ist, nie endgültig zu sein: »Alle class.[ischen] Schriften werden nie ganz verstanden, müssen daher ewig wieder kritisirt und interpretirt werden.« (KFSA XVI, S. 141, Fragment 671) Es ist daher gerade diese begrenzte Grenzenlosigkeit, das Klassische, welches aus sich heraus eine nicht mechanisierbare Kunst des Lesens legitimieren kann: »Die Klassizität ist die Qualität großer Kunst und die Grundlage philologischen Lesens«111 . Auch für Über Goethes Meister ist bei Schlegel daher das Kriterium der Begrenztheit bedeutsam. Diese Begrenzung bietet für Schlegels Lektüre zunächst die Figur des Fremden: »Damit aber nicht bloß das Gefühl in ein leeres Unendliches hinausstrebe, sondern auch das Auge nach einem großen Gesichtspunkt die Entfernung sinnlich berechnen, und die weite Aussicht einigermaßen umgrenzen könne, steht der Fremde da, 111

König: Grenzen der Cyklisation, S. 31.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

der mit so vielem Rechte der Fremde heißt.« (KFSA II, S. 128) Der Umgrenzung, die das Buch solcherart bietet, steht die unendliche Potentialität der Welt gegenüber, die gerade in den einzelnen beschränkten, selbstständigen Wesen aufzuscheinen vermag: »Die Art der Darstellung ist es, wodurch auch das Beschränkteste zugleich ein ganz eignes selbständiges Wesen für sich, und dennoch nur eine andre Seite, eine neue Veränderung der allgemeinen und unter allen Verwandlungen einigen menschlichen Natur, ein kleiner Teil der unendlichen Welt zu sein scheint.« (KFSA II, S. 127) Durch die Art der Darstellung des Romans treten das Begrenzte und das Grenzenlose in ein paradoxes Steigerungsverhältnis. Das einzelne selbstständige Wesen (und mit Wesen kann ein Kapitel, kann aber auch eine Figur gemeint sein) weist eine doppelte Gerichtetheit auf. Einerseits ist es in sich als Ganzes organisiert und ist andererseits doch gerade in seiner Eigenständigkeit und Begrenztheit immer bezogen auf etwas anderes. Auch Schleiermacher betätigt sich als Theoretiker der Grenze. In seinem Versuch über die Theorie des geselligen Betragens ist die Grenze bei Schleiermacher gleichzeitig Begründung und Modus für ebenjenes: Es muß also einen Zustand geben, der diese beiden [das häusliche Leben und die sittliche Ökonomie] ergänzt, der die Sphäre eines Individui in die Lage bringt, daß sie von den Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich durchschnitten werde, und jeder seiner eignen Grenzpunkte ihm die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre, so daß alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüther und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden können. Diese Aufgabe wird durch den freien Umgang vernünftiger sich unter einander bildender Menschen gelöst.112 Hier erhält die Grenze eine doppelte Bestimmung: einerseits als Begrenzung des Individuums und insofern als dessen Schließung, andererseits aber als notwendige Bedingung für die Öffnung und die Aussicht auf andere, fremde Welten. Was Schleiermacher hier über die Menschen sagt, gilt in gleichem Maße für Schlegels Konzeption des Buchs. Dem begrenzten Buch steht eine Idee des Unbegrenzten gegenüber, die als Lektüre sein eigentliches Element darstellt. Gerade in der Selbstbegrenzung offenbart sich die Tendenz zum Absoluten. Die Grenze rahmt ganz im Sinne Derridas »nicht von außerhalb die ganzen Potenzen des Textes […], sondern [bedingt] im Gegenteil durch eine gewisse Übereinanderfaltung oder einen inneren Winkel der Oberflächen deren Einwicklung und Entwicklung in der endlichen/unendlichen Struktur der Vorrichtung«113 . So ist Beschränkung »das Notwendigste: denn überall, wo man sich nicht selbst beschränkt, beschränkt einen die Welt« und gleichzeitig »das Höchste: denn man kann sich nur in den Punkten und an den Seiten selbst beschränken, wo man unendliche Kraft hat, Selbstschöpfung und Selbstvernichtung« (KFSA II, S. 151, Fragment 37). Schlegel beschreibt dies am paradigmatischen Buch, dem Roman: »Im Ro [absoluten Roman] muß alles verschmolzen werden, und was nicht verschmolz[en] werden kann, muß wegbleiben.« (KFSA XVI, S. 153, Fragment 798) Diese Verschmelzung soll im Sinne 112 113

Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, S. 48. Derrida: Dissemination, S. 336.

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Lektüre als Form

des »poetische[n] Imperativs« erfolgen durch »unbedingte Poetisazion, Technisazion, Idealisazion, Naturalisazion, Realisazion (Philosophazion)« (KFSA XVI, S. 113, Fragment 113). Die Lektüre eines konkreten Buchs hat also zum Ziel, diesen Dynamisierungen Vorschub zu leisten und ihnen in der Lektüre Raum zu Entfaltung zu bieten. Die Lektüre bringt damit die Grenze des Texts und seine Grenzenlosigkeit wiederum in Berührung, insofern sie sie als gleichberechtigt anerkennt. Sie vollzieht damit aber wiederum gleichzeitig eine Öffnungs- und eine Schließungsbewegung, insofern auch die Zielvorstellung ein geschlossenes, im Sinne des bereits skizzierten Bibelprojekts absolutes, Buch darstellt, und nicht etwa die reine, unbegrenzte Dynamizität des Lesens. Genauer: gerade die vermeintlich freie Operation des Lesens bringt die Grenze hervor. Damit ist die Operation des Lesens eine nur »scheinbare Öffnung«114 , die immer auf Schließung und Rahmung bezogen bleibt. Der Grenzbegriff markiert bei Schlegel einen problematischen Punkt. Als Programm macht er auf die Notwendigkeit der Konkretion und der Gegenständlichkeit im Sinne der symmetrischen Begriffspaare aufmerksam. Als Begriff funktioniert er aber paradigmatisch prozessual, insofern er die eigene Überwindbarkeit als Differenz zu sich selbst mit sich führt. Im Begriff der Grenze ist die Schließungsfigur gegenüber der Öffnungsfigur und damit das Buch gegenüber der Lektüre privilegiert – gleichzeitig macht der Begriff auf die Fragilität des Gegenstands Buch aufmerksam, gerade insofern er die Wichtigkeit des Rahmens betont. Demgegenüber steht spiegelbildlich ein anderer Prozessbegriff, derjenige der Ironie. Dieser betont nun seinerseits die Lektüre, und macht aber auch hier auf die Problematik der zunehmend leerlaufenden Selbstbezüglichkeit aufmerksam.

4.1.6.

Zwischenfazit I: Ironie

Der Begriff der Ironie ist nicht nur ein zentraler Begriff für die Frühromantik selbst, sondern auch für die Medientheorie. Wie kein anderer ästhetischer Begriff wird der Ironiebegriff mit dem medialen Wandel und damit der Vormachtstellung von gedruckter Schrift ab dem 18. Jahrhundert verbunden: »Writing and print show their divisive character in one way by making feasible and attractive the multiple layers of irony in creative writing and the resulting critical fascination with irony in literature and critical discussion today.«115 Ich werde aufbauend auf den vorherigen Kapiteln die Ironie als Kern des Schlegelschen Lektüreprogramms betrachten. Die mit dem Begriff der Ironie gewöhnlich assoziierte Selbstreflexion des Kritikers und Hermeneuten, die etwa für Florens Christian Rang, den Freund Walter Benjamins, genau das Entscheidende an der frühromantischen Konzeption der Kunstkritik ausmacht,116 lässt sich als ebenjene Lektüreprogrammierung fassen. Insofern das Buch über sich reflektiert, gibt es gleichzeitig die möglichen Lektüreanschlüsse vor. Am Beispiel von Goethes Roman Wilhelm 114 115 116

Ebd., S. 337. Ong: From Mimesis to Irony, S. 13. . In einem Brief, den Rand nach der Lektüre von Benjamins Dissertation begeistert an ebenjenen schreibt, formuliert er dies wie folgt: »Um überhaupt wieder zu einer Kunstkritik zu kommen, die des Kritischen gegen sich selb nicht vergist, brauchen wir nur auf das Feld zurückzutreten, das die Romantiker abgesteckt haben.« (WBKA 3, S. 343)

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Meister betont Schlegel dies ausdrücklich. Für Schlegel ist es das Buch selbst, das eine neue Art und Weise der Lektüre einfordert. Man lasse sich also dadurch, daß der Dichter selbst die Personen und die Begebenheiten so leicht und so launig zu nehmen, den Helden fast nie ohne Ironie zu erwähnen, und auf sein Meisterwerk selbst von der Höhe seines Geistes herabzulächeln scheint, nicht täuschen, als sei es ihm nicht der heiligste Ernst. Man darf es nur auf die höchsten Begriffe beziehn und es nicht bloß so nehmen, wie es gewöhnlich auf dem Standpunkt des gesellschaftlichen Lebens genommen wird: als einen Roman, wo Personen und Begebenheiten der letzte Endzweck sind. Denn dieses schlechthin neue und einzige Buch, welches man nur aus sich selbst verstehen lernen kann, nach einem aus Gewohnheit und Glauben, aus zufälligen Erfahrungen und willkürlichen Foderungen zusammengesetzten und entstandnen Gattungsbegriff beurteilen; das ist, als wenn ein Kind Mond und Gestirne mit der Hand greifen und in sein Schächtelchen packen will. (KFSA II, S. 133) Ein Text, der bereits bewusst mit seinen eigenen Möglichkeiten und Einschränkungen spielt, der ›Personen und Begebenheiten‹ nicht als ›Endzweck‹ versteht, sondern als Töne einer Symphonie voller Dissonanzen, einen solchen Text kann man nur ›aus sich selbst verstehen lernen‹ – nämlich indem man in der Lektüre die Schließungsfiguren des Buchs nachkonstruiert. Die Begriffe von Gattung, Metrum etc., die die ›wissenschaftlichen‹ oder ›kritischen‹ Anschlussmöglichkeiten an Texte bestimmen, nehmen sich zur Beschreibung dieser Schließungsfiguren inadäquat und kindisch aus, eben als würde man ›Mond und Gestirne mit der Hand greifen und in sein Schächtelchen packen.‹ Es ist das ›schlechthin neue und einzige Buch‹, das die adäquate Lektüre vorgibt und zuallererst die Reflexion über die richtige Art und Weise des Kritisierens und Auslegens eröffnet – also im wörtlichen Sinne Kritik, nämlich als Scheidung117 , übt. Das Buch »beurteilt sich nicht nur selbst, es stellt sich auch selbst dar« (KFSA II, S. 133-134), es weist also den Weg zu seiner Nachkonstruktion in der Lektüre. Diese ist lediglich dazu da, die im Buch bereits angelegte Lektüre noch einmal nachzuvollziehen, das Gebildete noch einmal zu bilden, wie es an anderer Stelle heißt, und damit die Gleichzeitigkeit von Öffnung und Schließung zu aktualisieren. Die Singularität des Gegenstands und die Singularität seiner Lektüre bedingt eine besondere Nähe zwischen Gegenstand und Methode, ein gegenseitiges Legitimationsverhältnis: »Denn der Verständige läßt jedes Gebildete in seiner Sphäre, und beurteilt es nur nach seinem eignen Ideale« (KFSA II, S. 295), formuliert die Figur Andrea in einem Beitrag zum Gespräch über die Poesie (1800), der mit dem Titel Epochen der Dichtkunst überschrieben ist. Für die Lektüre selbst gilt, dass ihre Qualität nur über das Verhältnis zum interpretierten Text bestimmt werden kann. Insofern muss sich die Lektüre an ihrem Gegenstand orientieren. Hier nun entfaltet sich das Lektüreprogramm im Zeichen der Ironie. Diese dient innerhalb der druckschriftlichen Kommunikation dem Aufrechterhalten eines symmetrischen Gesprächs. Dieses wiederum vollzieht sich als

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Vgl. zur etymologischen Herkunft des Wortes Kritik auch Breuer, Tabarasi-Hoffmann: Einleitung, S. 10.

119

120

Lektüre als Form

Wachhalten der symmetrischen Gegensätzlichkeit: »Romantische Ironie ist beständige Selbstdifferenzierung, die ein Bewusstsein dieser Differenz aufrechterhält.«118 Der Begriff der Ironie speist sich zunächst aus einer Auseinandersetzung mit der ›sokratischen Ironie‹119 , über die Schlegel in den Lyceum-Fragmenten etwa Folgendes schreibt: Die Sokratische Ironie ist die einzige durchaus unwillkürliche, und doch durchaus besonnene Verstellung. Es ist gleich unmöglich sie zu erkünsteln, und sie zu verraten. Wer sie nicht hat, dem bleibt sie auch nach dem offensten Geständnis ein Rätsel. Sie soll niemanden täuschen, als die, welche sie für Täuschung halten, und entweder ihre Freude haben an der herrlichen Schalkheit, alle Welt zum besten zu haben, oder böse werden, wenn sie ahnden, sie wären wohl auch mit gemeint. In ihr soll alles Scherz und alles Ernst sein, alles treuherzig offen, und alles tief verstellt. Sie entspricht aus der Vereinigung von Lebenskunstsinn und wissenschaftlichem Geist, aus dem Zusammentreffen vollendeter Naturphilosophie und vollendeter Kunstphilosophie. Sie enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung. Sie ist die freiste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg; und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist unbedingt notwendig. Es ist ein sehr gutes Zeichen, wen die harmonisch Platten gar nicht wissen, wie sie diese stete Selbstparodie zu nehmen haben, immer wieder von neuem glauben und mißglauben, bis sie schwindlicht werden, den Scherz grade für ernst und den Ernst für Scherz halten. (KSA II, S 160, Fragment 108) In dieser Bestimmung der Ironie wird deutlich, dass sie konzeptionell nicht auf Schrift, sondern auf das Gespräch, auf die Mitteilung, bezogen ist. Insofern ist auch der Begriff der Ironie Teil der Überformung des Buchs durch das Gespräch. Die Ironie erweist sich als Kern des Lektüreprogramms; sie stellt die Exklusivität des Gesprächs sicher. Sie zeigt sich gerade dann am wirkungsvollsten, wenn wirklich nur die Eingeweihten die Mitteilung erhalten. Das Verhältnis von privater und öffentlicher Kommunikation, welches sich in seiner Dopplung für das Lektüreprogramm der Lucinde als kennzeichnend erweisen wird (vgl. Kap. 4.2), wird hier schon adressiert. Die Ironie verbindet damit die beiden sich gegensätzlich gegenüberstehenden Pole von Begriff und Sinn, insofern sie die unpersönlichen Begriffe in das unendliche Gespräch mit einbezieht: »Eine Idee ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stete sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken.« (KFSA II, S. 184, Fragment 121)

118 119

Multhammer: Von der Methodus Polemica zur romantischen Ironie, S. 52. Dass die sokratische Ironie, in ihrer Rekonstruktion durch Platon als Gesprächsform, tatsächlich wegweisend für Schlegels Ironiekonzeption und darüber hinaus für seine Konzeption der Philosophie ist, zeigt auch Vieweg: Philosophie des Remis, S. 188: »Aus der Sicht Schlegels repräsentiert Platon musterhaft das Ironische – den ›unaufhörlichen Widerstreit des Bedingten und Unbedingten‹. Die sokratisch-platonische Ironie zeichne sich aus als wechselnder Strom der Rede und Gegenrede, des Denkens und Gegendenkens.«

4. Arabeske: Reden/Schweigen

In seinem Text Über die Unverständlichkeit 120 aus dem Jahre 1800, welcher nach nur zwei Jahren das Ende des Athenäums besiegelte, faltet Schlegel die Implikationen der Ironie als exklusives Gesprächsspiel zwischen »Scherz und Ernst«, zwischen Sinn und Begriff, auf differenzierte Weise aus. Hier führt Schlegel die Rezeptionsgeschichte des Athenäum-Fragments 216 (»Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.« [KFSA II, S. 198, Fragment 216]) exemplarisch für das Problem der Unverständlichkeit an. Bevor er sich anschickt, sein eigenes Fragment auszulegen, beginnt er damit, die Rezeptionsgeschichte des Fragments aufzurufen, welche er als Missverständnis charakterisiert. Diesem Missverständnis stellt er eine Selbstlektüre entgegen, die er als Deduktion eines andern neuen Lesers ausflaggt: »Daher hatte ich schon vor langer Zeit den Entschluß gefaßt, mich mit dem Leser in ein Gespräch über diese Materie zu versetzen, und vor seinen eignen Augen, gleichsam ihm ins Gesicht, einen andern neuen Leser nach meinem Sinne zu konstruieren, ja, wenn ich es nötig finden sollte, denselben sogar zu deduzieren.« (KFSA II, S. 363) Der noch genauer zu beleuchtende Zusammenhang zwischen Lektüreprogrammierung im Sinne der Konstruktion eines idealen Lesers in Schlegels Sinne, Gespräch und Selbstreflexion wird hier deutlich benannt. Die ironische Selbstauslegung entfaltet sich als Gespräch mit einem prospektiven Leser, welches wiederum als unverhohlene Anweisung an empirische Leser verstanden werden kann. Das Problem in der Rezeption des Fragments über die drei Tendenzen liegt für Schlegel, so stellt er es in dem Essay dar, nicht etwa darin, dass er missverstanden wurde – ganz im Gegenteil ist die »reinste und gediegenste Unverständlichkeit« (KFSA II, S. 364) für Schlegel geradezu »das Köstlichste was der Mensch hat« (KFSA II, S. 370) – sondern vielmehr, wie er missverstanden wurde: »Dieses Fragment schrieb ich in der redlichsten Absicht und fast ohne alle Ironie. Die Art, wie es mißverstanden worden, hat mich unaussprechlich überrascht, weil ich das Mißverständnis von einer ganz andern Seite erwartet hatte.« (KFSA II, S. 366) Offenbar liegt hier also die Annahme zugrunde, dass es qualitativ unterschiedliche Möglichkeiten des Anschlusses an Texte geben kann, von denen einige produktiv und andere weniger produktiv sind. Schlegel fühlt sich insofern missverstanden, als sich die Rezipienten von der für ihn falschen Seite aus seinem Text zuwandten. Diese falsche Seite hat offenbar mit der Ironie zu tun: Etwas andres freilich ist noch in dem Fragment, welches allerdings mißverstanden werden konnte. Es liegt in dem Wort Tendenzen, und da fängt nun auch schon die Ironie an. Es kann dieses nemlich so verstanden werden, als hielte ich die Wissenschaftslehre zum Beispiel auch nur für eine Tendenz, für einen vorläufigen Versuch wie Kants Kritik

120 Höchstwahrscheinlich hat Niklas Luhmann auch genau diesen Text im Hinterkopf, wenn er in seinem Aufsatz Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung schreibt: »Die Entdeckung der Inkommunikabilitäten des Kommunikationsprozesses ist nur literarisch, nicht theoretisch verarbeitet worden.« (S. 374). Hier zeigt sich, dass auch Luhmann selbst den evolutionären Zusammenhang zwischen seiner eigenen Beobachtungstechnik und der frühromantischen anerkennt; allerdings trennt er diese säuberlich in ›Literatur‹ und ›Theorie‹ und weist der Frühromantik die Literatur, sich selbst dafür natürlich die Theorie zu.

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Lektüre als Form

der reinen Vernunft, den ich selbst etwa besser auszuführen und endlich zu beendigen gesonnen sei […] Warum soll ich Mißverständnisse darbieten, wenn niemand sie ergreifen will? Ich lasse demnach die Ironie fahren und erkläre gerade heraus, das Wort bedeute in dem Dialekt der Fragmente, alles sei nur noch Tendenz, das Zeitalter sei das Zeitalter der Tendenzen. (KFSA II, S. 366-367) Die Ironie121 bezieht sich also ganz offenbar nicht auf die Grundstimmung, in der sich Schlegel bei der Verfassung des Fragments befindet. Diese beschreibt er als ›redliche Absicht fast ohne alle Ironie‹ und fährt fort, die Aussage des Fragments erneut zu bestätigen und als trivial zu deklarieren. Die Ironie und mit ihr das mögliche produktive Missverständnis, dessen Ausbleiben Schlegel in Bezug auf die Rezeptionsgeschichte beklagt, bezieht sich also auch nicht (zumindest laut Aussage Schlegels) auf die Aussage des Fragments, die Zusammenstellung von Goethes Wilhelm Meister, Fichtes Wissenschaftslehre und der französischen Revolution. Vielmehr bezieht sich die Ironie auf den begrifflichen Ausdruck dessen, nämlich auf den Begriff der Tendenzen, den man nur aus dem ›Dialekt‹ der Fragmente verstehen kann. Aufgerufen ist hier erneut die Unterscheidung von Begriff und Sinn, und ganz offenbar weist Schlegel hier der Begriffsseite die Ironie zu. Bei der Ironie handelt es sich also, und das macht dieses Kapitel zum Fazit der vorherigen, um eine Programmierung der Lektüre von Begriffen. Eine Ironisierung versetzt diese in das unendliche Gespräch, in dem sich ihre Stillstellung gerade verhindern lässt. Eine Lektüre im Zeichen der Ironie bedeutet für Schlegel, die Begriffe ernst zu nehmen; sie aber als Dialekt ernst zu nehmen und sie insofern in ein Gespräch einzurücken, in dem sie nicht nur auf ihren Inhalt, sondern auch auf ihre Form befragt werden. Dies passt zum vorherigen Verlauf der Schlegelschen Argumentation, in der es über die »höchsten Wahrheiten« (KFSA II, S. 366) heißt, es sei nötig, »sie immer neu, und wo möglich immer paradoxer auszudrücken, damit es nicht vergessen wird, daß sie noch da sind, und daß sie nie eigentlich ganz ausgesprochen werden können« (KFSA II, S. 366). Die Aufgabe der Ironie ist es, als Lektüreprogrammierung das unendliche Gespräch in Gang zu halten und damit – bezogen auf den Text – die extensive (einmalige, scholastische) Lektüre in eine intensive (wiederholende, monastische) Lektüre zu transformieren; natürlich auf der Grundlage der durch die mediale Vorherrschaft der Druckschrift errichteten Biblionomie. Diese Funktion der Ironie macht den Ironiebegriff selbst zu einem problematischen. Auch der Begriff der Ironie darf nicht zu einem statischen, wiederholbaren werden, sonst entsteht die leere Ironie der Ironie: Endlich die Ironie der Ironie. Im allgemeinen ist das wohl die gründlichste Ironie der Ironie, daß man ihr doch eben auch überdrüssig wird, wenn sie uns überall und immer wieder geboten wird. Was wir aber hier zunächst unter Ironie der Ironie verstanden 121

Ich verwende hier absichtlich nicht die Formulierung ›romantische Ironie‹, die eine Zeitlang die Schlegel-Forschung bestimmte. So beschäftigen sich in dem von Helmut Schanze herausgegebenen Kompendium der einschlägigen Aufsätze zu Schlegel immerhin gleich drei der Beiträge mit der romantischen Ironie, vgl. Helmut Schanze (Hg.): Friedrich Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit. Mittlerweile wurde erkannt, dass die ›sokratische Ironie‹ für Schlegel schon größeren Stellenwert hat, und dass sich die Wendung der ›romantischen Ironie‹ insbesondere auf den Verbund von Tieck und Solger bezieht. Im Rahmen der vorliegenden Analysen ist der Begriff des Witzes relevanter, da er die Selbstbeschreibung der Lucinde ganz entscheidend prägt.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

wissen wollen, das entsteht auf mehr als einem Wege. Wenn man ohne Ironie von der Ironie redet, wie es soeben der Fall war; wenn man mit Ironie von einer Ironie redet, ohne zu merken, daß man sich zu eben der Zeit in einer andren viel auffallenderen Ironie befindet; wenn man nicht wieder aus der Ironie herauskommen kann, wie es in diesem Versuch über die Unverständlichkeit zu sein scheint; wenn die Ironie Manier wird, und so den Dichter gleichsam wieder ironisiert; wenn man Ironie zu einem überflüssigen Taschenbuche versprochen hat, ohne seinen Vorrat vorher zu überschlagen und nun wider Willen Ironie machen muß, wie ein Schauspielkünstler der Leibschmerzen hat; wenn die Ironie wild wird, und sich gar nicht mehr regieren läßt. (KFSA II, S. 369) In der Formulierung der ›Ironie der Ironie‹ deutet sich bereits an, dass es sich nicht nur um ein inhaltliches Problem des Leerlaufens der Ironie handelt, sondern auch um ein begriffliches Problem des Ironiebegriffs, auf den sich die Ironie ebenfalls richten kann. Die grundsätzlich immer mögliche Selbstbezüglichkeit der Begriffe, die im prozessualen Formbegriff ihren deutlichsten Ausdruck findet, führt, wie Schlegel hier problematisiert, schnell zum Überdruss oder zur reinen Manier. Wichtig sind dagegen die »verschiednen Manieren« (KFSA II, S. 366), in denen Wahrheiten immer ausgedrückt werden müssen, um sie am Leben zu erhalten. Genau hierin besteht die Ironie gegenüber dem Begriff der ›Tendenzen‹, aber insgesamt gegenüber allen Begrifflichkeiten, die versuchen, das Schweben der gleichberechtigten Gegensätze für einen Moment aufzuheben und eine Wahrheit zu kondensieren (und damit: zu trivialisieren): »Jeder Mitteilungsversuch muß also seine eigene Unmöglichkeit mit darstellen, dh. ›sich die Sphäre der Unverständlichkeit‹ selbst setzen, was die Form des Paradoxons dadurch leistet, daß sie den Buchstaben der Darstellung als prinzipiell unvollendet (und darin unendlich) setzt.«122 Die Sphäre der Unverständlichkeit, die selbst gesetzt werden muss, lässt sich als Lektüreprogramm des Gesprächs und gleichzeitig als dynamische Grenze bestimmen. Die Schließung des Buchs ergibt sich in der Symmetrie des dieses überformenden Gesprächs. Jede Mitteilung ist also bestimmt von einer in dieser sozialen Symmetrie der Lektüre als Möglichkeit erscheinenden begrifflichen Symmetrie, etwa von Ironie und Ernst, von Begriff und Sinn. So heißt es bei Schlegel auch: »Die vollendete absolute Ironie hört auf Ironie zu seyn und wird ernsthaft.« (KFSA XVI, S. 144, Fragment 700) Diese vollendete absolute Ironie ist also gerade nicht die Ironie der Ironie, sondern eben die symmetrische Vereinigung von Ironie und Ernst. Diese ideale Kopräsenz von Gegensätzen wird temporal jedoch immer wieder anders gelöst. In der Druckschrift, in der Form des Buchs, ist Ironie immer schon Selbstironie123 , insofern sie die Selbstlektüre im Sinne einer Lektüreprogrammierung verlangt. »Was der Romantiker Ironie nennt, und was wir heute Fiktionalität nennen, ist die Verriegelung zwischen Buch und Welt«124 , die allerdings eine spezifische Welt, nämlich das Liebesgespräch, in

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Bolz: Der Geist und die Buchstaben, S. 107. Vgl. Frischmann: Was ist ironistische Philosophie, S. 83: »Zugleich ist für Schlegel eine gebildete Persönlichkeit dadurch ausgezeichnet, dass sie die Fähigkeit zur Ironie und Selbstironie entwickelt hat, d.h. die Fähigkeit, innerhalb der Widersprüche, Paradoxien und Antinomien des eigenen Weltverständnisses und auch Selbstbildes zu leben, sie auszuhalten und produktiv zu verarbeiten.« 124 Assmann: Die Domestikation des Lesens, S. 110.

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Lektüre als Form

das Buch miteinschließt. Diese Inklusion leistet die Ironie durch Vervielfältigung des Buchs innerhalb der Grenzen des Buchs. Die Konzeptionen der Spiegelung und des Schwebens, welche im Kontext des berühmten Athenäums-Fragments 116 eng mit der Ironie verbunden sind, deuten auf ebenjene Vervielfältigung des Buchs im Buch hin. Ironie bezeichnet bei Schlegel also auch einen Modus der Vervielfältigung von Begriffen und ihren Bedeutungsdimensionen, eine Methode der oben bereits beschriebenen symmetrischen Vermittlung von Gegensätzen als »Schweben zwischen den Polen her […], die damit nicht auf ein Resultat hin orientiert ist, sondern die unauflösliche Spannung und Bewegung betont.«125 Dies bedingt auch die eingangs bereits erwähnte Begriffsvielfalt Schlegels. Begriffe werden »immer als Relationen aufgefasst […], in denen zwei Seiten wechselseitig aufeinander bezogen sind«126 . Immer wieder wird etwa auf die Inkongruenz von theoretischen Prämissen und dem praktischen Verfahren hingewiesen. Dies erwähnt auch Klaus Weimar in Bezug auf die Verstehensmethodik: »Da die theoretischen Darlegungen sich so verstricken, daß sie nur praktisch durch unerklärbares Genie eingelöst werden können, dürfen sie nicht wohl als Anweisungen zu richtigem Verstehen und schon gar nicht als Analyse alltäglichen Verstehens gelten.«127 Für die Begrifflichkeiten in Bezug auf eine Theorie der Philologie konstatiert auch noch Manfred Bäuerle: Die Untersuchungen des zweiten Kapitels haben ergeben, dass es Friedrich Schlegel nicht gelungen war, ein System von Unterscheidungen und Bezeichnungen aus seinen Beobachtungen zur Literatur abzuleiten, das als Grundlage für eine Theorie der Poesie ausgereicht hätte. Begriffe werden in die Diskussion geworfen und wieder aufgegeben. […] Philosophie und Philologie konnten in der Schlegelschen Form nicht zusammengebracht werden, weil der Vorschlag Schlegels einerseits die Grenze der Disziplinen im Wissenschaftssystem, andererseits die Grenze des Wissenschaftssystems zur Gesellschaft missachtete.128 Im Allgemeinen werden die theoretischen Inkonsistenzen als persönliche oder historisch-systemische Mängel beschrieben, und insofern als Schwäche der Schlegelschen Texte ausgelegt. Sie ließen sich aber auch als konsequente Umsetzung des eigenen Lektüreprogramms verstehen, das im Sinne des unendlichen Gesprächs die Kopräsenz von gegensätzlichen, symmetrischen Begriffen auch in Bezug auf zur Asymmetrie neigende Prozessbegriffe sicherzustellen versucht. Der Begriff der Ironie ist also für Schlegel

125 126 127 128

Frischmann: Was ist ironistische Philosophie, S. 83. Ebd., S. 81. Weimar: Historische Einleitung, S. 95-96. Bäuerle: Kommunikation mit Texten, S. 190. Ich würde Bäuerle insofern zustimmen, als ich die Begriffsvielfalt und die fehlende Systematizität in der Schlegelschen Textproduktion ebenfalls mit seinem Gesellschaftsentwurf in Verbindung bringe. Bei Bäuerle fehlt allerdings eine positive Beschreibung des Gesellschaftsentwurfs Schlegels – er betrachtet seine Inkonsistenzen streng aus der Warte einer systemtheoretisch informierten Vorstellung von gesellschaftlicher Differenzierung. Mir geht es gerade darum, zu zeigen, wie eine solche Theorie der modernen Gesellschaft trotz ihrer Differenzen zum frühromantischen Gesellschaftsentwurf in ihrer Möglichkeit sich gerade der frühromantischen Überlegungen verdankt.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

einer, der gleichzeitig auf der Vorherrschaft der Druckschrift basiert, diese aber als soziales Gespräch zu überformen versucht. Die angestrebte Gleichzeitigkeit der beiden prozessualen und symmetrischen Begriffsbildungsmodi selbst zeigt sich also hier als Teil des ›Gegensatz-Programms‹, und damit als Schließungsfigur. Dass die Performanz insofern die Systematik der Begrifflichkeiten unterläuft oder überbietet, ist kein Ausweis von Inkonsistenz, sondern vielmehr Methode, eben Lektüreprogramm. In diesem Sinne ist Ironie für Schlegel und in Anlehnung an ihn »Mittel, die Bedeutung von kulturellen Konstrukten und Sinngebilden offen zu halten, Eindeutigkeiten als nicht wünschenswert oder gar unmöglich vorzuführen.«129 Sobald das Verfahren selbst zum begrifflich kondensierbaren Gegenstand wird, ist es nicht mehr absolut, sondern relativ. Das »Paradoxon als Mitteilungsform«130 bedingt also für Schlegel eine nie stillzustellende Weiterentwicklung und Wandlung der Begrifflichkeiten. So stehen alle in diesem ersten Kapitel zur Lektürereflexion genannten Begrifflichkeiten in Bezug auf ihren Verweischarakter »in einem paradoxen Verhältnis zur Einheit des Begriffs, auf den [sie] gebracht [werden]«131 , insofern diese Einheit gleichzeitig schon wieder die Dynamik des Begrifflichen gefährdet und insofern überwunden werden muss. An dieser Stelle tritt die alle Ausführungen leitende Frage nach der Markiertheit, Absenz und Funktion des Formbegriffs in den Vordergrund. Auch bei ihm handelt es sich um einen Begriff, der die Dynamik des Begrifflichen gefährdet, insofern er etwa die Methodik der Lektüre und ihren Gegenstand auf eine feststehende Perspektive verpflichtet. Wie in Kap. 2.2 angedeutet, erfüllt der abstrakte Formbegriff als Prozessbegriff andererseits genau die Funktion der gleichzeitigen Paradoxierung und Paradoxieentfaltung und damit der grundlegenden Präzisierung der begrifflichen Dynamik. Dies wird insbesondere in den Vorlesungen zur Philosophie deutlich, in denen die Herausbildung eines prozessualen Formbegriffs bereits vonstatten geht. Hier, in den ästhetischen Schriften, bleibt der Formbegriff vollständig in der Gegensätzlichkeit von Form und Gehalt bzw. Form und Stoff und damit in der Bezogenheit auf einen konkreten Sachaspekt verhaftet. So heißt es etwa in dem 1800 im Zuge der Drucklegung der Charakteristiken und Kritiken angefertigten Abschluß des Lessing-Aufsatzes: Wenn Ihr versuchen wollt, Autoren oder Werke zu verstehen, d.h. sie in Beziehung auf jenen großen Organismus aller Kunst und Wissenschaft genetisch zu konstruieren; so werdet Ihr bemerken, daß es vier Kategorien gibt, in die sich alles scheidet, was Ihr bei einer solchen Konstruktion Charakteristisches in dem Phänomen der Kunstwelt findet; vier Begriffe, unter die sich alles fügt: Form und Gehalt, Absicht und Tendenz. (KFSA II, S. 412-413)132 129 130 131 132

Frischmann: Was ist ironistische Philosophie, S. 80. Bolz: Der Geist und die Buchstaben, S. 99. Bolz: Die Welt als Chaos und Simulation, S. 49. Bolz zeigt dies insbesondere am Begriff des Chaos. Dieser Abschluss ist in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Vorlesungen über die Transcendentalphilosophie verfasst worden. In unmittelbarer Übereinstimmung mit dem dort vorgestellten heißt es denn auch im Abschluß des Lessing-Aufsatzes über Spinoza und Fichte: »Alle Gedanken eines Spinosa, eines Fichte könnt Ihr auf einen einzigen Zentralgedanken reduzieren, und diese über die allgepriesne Konsequenz ebenso weit erhabne als ganz von ihr verschiedne Identität des ganzen Stoffs kann Euch lehren, daß dieser hier die Hauptsache sei, wenn Ihr die Bemerkung hinzunehmt, daß die Form selbst bei jedem dieser beiden kühnsten und vollendetsten Denker nur ein Ausdruck,

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Lektüre als Form

Neben den Kategorien von Form und ihren jeweiligen Gegenbegriffen finden sich außerdem auch gleichrangig andere Begrifflichkeiten wie ›Ton‹ oder ›Styl‹ sowie allen voran ›Geist‹, welche ein Kunstwerk auszeichnen: »Charakter ist Geist, Ton, Form, Stoff, Styl und Tendenz zusammengenommen.« (KFSA XVI, S. 122, Fragment 445) Oftmals wird Form darüber hinaus einfach mit Gattung identifiziert: »Das Wesentlichste sind die bestimmten Zwecke, die Absonderung wodurch allein das Kunstwerk Umriß erhält und in sich selbst vollendet wird. Die Fantasie des Dichters soll sich nicht in eine chaotische Überhauptpoesie ergießen, sondern jedes Werk soll der Form und der Gattung nach einen durchaus bestimmten Charakter haben« (KFSA II, S. 306), äußert die Figur Marcus im Gespräch über die Poesie (1800). Dabei werden die beiden Pole der Gegensätze jeweils, wie auch in Über Goethes Meister gezeigt, symmetrisch gedacht, der Formbegriff ist also ›gefangen‹ in Symmetrie. In Schlegels Aufsatz Über die Homerische Poesie (1796) heißt es: »Das vollendete Gedicht erregt keine Erwartung, die es nicht befriedigt; Erfindung und Ausführung, schaffende Einbildungskraft und ordnende Urteilskraft, Stoff und Form sind in demselben im Gleichgewicht.« (KFSA I, S. 130) Dies macht sich auch in der widersprüchlichen Bewertung von Form bemerkbar. So rühmt Schlegel im Aufsatz zu Lessings Gedanken und Meinungen (1804) gerade die Formlosigkeit als eigentliches Kennzeichen von moderner Kunst und fordert zu ihrer Erringung neue literarische Mittel: Es sind also eigne literarische Mittel oder Schriften notwendig, die ganz bestimmt nur diesen Zweck haben, die produzierende Kraft zu erregen, zu prüfen, zu nähren. Universalität muß die Grundeigenschaft solcher Schriften sein. Je größer der Reichtum und je größer selbst die Verschiedenartigkeit ihres Inhalts, desto erregender, desto nährender wirken sie. Der höchste Reichtum und Mannigfaltigkeit des Stoffs wird um so deutlicher konstituiert, und als der Zweck des Ganzen gedacht und gefühlt werden, je weniger darin auf eine künstliche Form gesehen wird, je mehr darin die gediegene Materie allein herrscht. Also wird nicht eine verfehlte Unform, wohl aber eine absichtliche Formlosigkeit hier ganz an ihrer Stelle, und das Fragmentarische bei solchen Mitteilungen nicht nur verzeihlich, sondern auch löblich und sehr zweckmäßig sein. (KFSA III, S. 83-84). Ganz offensichtlich ist der Begriff der Form für Schlegel und die Frühromantiker also gerade keine Lösung für das skizzierte Streben nach einem Schweben der Gegensätze. Vielmehr besteht die Lösung darin, jedem Begriff mit Ironie zu begegnen und so in ›zyklischer Progression‹133 immer wieder auf die zentralen Ideen und Gedanken zurückzukommen. Bei vielen der von Schlegel zentral verwendeten Begriffe, etwa Witz, Kunst, Magie, Chaos, Poesie, Mythologie etc. lässt sich eine inhärente Ambiguität feststellen.

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Symbol und Widerschein des Inhalts ist, nämlich des Wesentlichen, des einen und unteilbaren Mittelpunkts des Ganzen. Darum ist die Form des Einen die der Substanz und Permanenz, Gediegenheit, Ruhe und Einheit, die des andern Tätigkeit, Agilität, rastlose Progression, kurz der diametrale Gegensatz des ersten.« (KFSA II, S. 413) Aus diesem kurzen Absatz wird bereits ersichtlich, dass das Medium Aufsatz hier noch einmal eine größere Komplexität und damit Symmetrie erlaubt, als das Medium Vorlesung, in der Fichte und Spinoza tatsächlich zu geometrischen Figuren abstrahiert werden (vgl. Kap. 4.3). Behler: Hegel und Friedrich Schlegel, S. 26.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Es handelt sich hier jeweils um Begriffe, die gleichzeitig höchst Singuläres und höchst Abstraktes zu bezeichnen versuchen. In dieser Hinsicht funktionieren die Begriffe also genau wie in Kapitel 2.2 für den Formbegriff herausgestellt. Die paradigmatische Stellung des Formbegriffs ist aber gerade der Grund dafür, dass er bei Schlegel nicht, oder nur sehr sporadisch, verwendet wird. Wenn er vorkommt, handelt es sich um einen symmetrisch konfigurierten Formbegriff, der konsequent etwa dem Stoff gegenübergestellt wird. Als ein Beispiel kann eine Einschätzung Schlegels in seinem Essay Über die Philosophie. An Dorothea. 1799 herangezogen werden. Hier schreibt Schlegel: »Überhaupt kommt in der Philosophie wenig oder nichts auf die Form an, ja auch der Stoff und der Gegenstand macht es nicht.« (KFSA VIII, S. 59) Der Begriff der Form wird hier klar als Gegensatz zum Stoff aufgefasst, und überdies der gesamte Gegensatz Form/Stoff als irrelevant für eine ›höhere‹ Bestimmung der Philosophie abgetan. Das Lektüreprogramm der Symmetrie blockiert sowohl das Herausarbeiten eines kohärenten philosophischen Systems134 als auch das Herausbilden eines prozessualen Formbegriffs. Gerade das Fehlen eines abstrakten prozessualen Formbegriffs macht aber, und darauf kommt es mir an, dessen Fundierung in der Praxis des lesend-kommentierenden Umgangs mit Texten sichtbar und legt damit den schrift- und lektürebasierten Kern des prozessualen Formbegriffs frei.135 Der Grund dafür, dass der Formbegriff für Schlegel diese Funktion nicht erfüllen kann, liegt in seiner hier als unaufhebbar gedachten Symmetrie begründet. Für die Frühromantiker soll sich die Form gar nicht – zumindest nicht im ästhetischen Bereich – von ihrer anderen Seite, etwa dem Stoff, lösen. Die Symmetrie aus Form und Stoff findet ihre Parallele in einer Vision der Symmetrie, die sich nicht nur auf die begrifflichen Gegensätze, sondern mit ihnen auch auf die Gesellschaft und die Beziehung der Menschen untereinander erstreckt.

4.2.

Buch

Schlegels Konzeption der Bibel als tatsächlich soziales Projekt schlägt sich auch nieder in seinem Interesse an F.D.E. Schleiermachers Überlegungen zur Religion, die in dem 1799 erscheinenden Buch Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern versammelt sind. Schleiermacher geht hier von einer grundsätzlichen Zweiheit »entgegengesetzter Kräfte« (ÜdR, S. 6) aus, welche Welt und Menschen, sowohl individuell

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Dieses Fehlen ist in der Forschungsliteratur immer wieder, etwa im Zeichen der Poetologie des Fragments, konstatiert worden und ist auch schon in Benjamins Dissertation als Anreiz für seinen Versuch der Systematisierung benannt. So betont Benjamin etwa die »verwirrende[...] Vielgestaltigkeit seines [Schlegels] Denken« (WBKA 3, S. 48). Insofern verstehen sich die hier vorgestellten Thesen durchaus als Einschränkung des etwa in Levine: Forms vorgestellten sehr breiten Formbegriffs, der »all shapes and configurations, all ordering principles, all patterns of repetition and difference« in der Gesellschaft bezeichnen soll, insofern sie die historischen und medialen Bedingungen desselben als miteinander verschränkt und damit nicht nur die Analyse von spezifischen Formen, sondern die formale Analyse selbst als kontingente ›Methode‹ (vgl. Levine: Forms, S. XIII) betrachten.

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als kollektiv, kennzeichnet. So beschreibt Schleiermacher zunächst zwei Triebe im Einzelnen: »Der eine ist das Bestreben, alles, was sie umgibt, an sich zu ziehen, in ihr eigenes Leben zu verstrikken und, wo möglich, in ihr innerstes Wesen ganz einzusaugen. Der andere ist die Sehnsucht, ihr eigenes inneres Selbst von innen heraus immer weiter auszudehnen, alles damit zu durchdringen, allen davon mitzuteilen und selbst nie erschöpft zu werden.« (ÜdR, S. 6) Diese beiden Triebe, die im Einzelnen in entgegengesetzte Richtungen drängen, charakterisieren auch die Menschheit im Ganzen (vgl. ÜdR, S. 7-8). Die Fähigkeit, »diese äußerten Entfernungen« zusammenzubringen und die »lange Reihe in jenen geschlossenen Ring zu gestalten, der das Sinnbild der Ewigkeit und der Vollendung ist« (ÜdR, S. 8), lokalisiert Schleiermacher in einzelnen Individuen, »in denen beides auf eine fruchtbarere Weise verbunden ist«, die also als »Dolmetscher[...] ihres Willens und ihrer Werke« (ÜdR, S. 8) zu »Mittler[n] zwischen dem eingeschränkten Menschen und der unendlichen Menschheit« (ÜdR, S. 9) werden können, insofern bei ihnen »der Sinn, in ein stetes Hin- und Herschweben zwischen beiden versetzt, nur in der unbedingten Annahme ihrer innigsten Vereinigung Ruhe findet; dies ist die Richtung auf das in sich Vollendete, auf die Kunst und ihre Werke.« (ÜdR, S. 110) Grundlegend dafür ist die »Überblendung von Religion und Liebe, Liebe ist Religion und Religion ist Liebe.«136 Bei aller auch ausgedrückter Kritik an Schleiermachers Religionskonzeption137 empfindet sich Friedrich Schlegel offenbar bereits vor Schleiermachers schriftlicher Niederlegung dieser Gedanken als ein solcher Mittler zwischen der »unendliche[n] Fülle des Lebens und [der] Idee der unendlichen Einheit«138 , und insofern als neuer Religionsstifter.139 Dies äußert sich etwa in dem als Brief verfassten Text Über die Philosophie. An Dorothea, welcher 1799 im Athenäum abgedruckt wurde. Schlegel schreibt hier: »Der Gedanke des Universums und seiner Harmonie ist mir Eins und Alles; in diesem Keime sehe ich eine Unendlichkeit guter Gedanken, welche ans Licht zu bringen und auszubilden ich als die eigentliche Bestimmung meines Lebens fühle.« (KFSA VIII, S. 49) Dies wird insbesondere in den Forderungen nach einer ›neuen Mythologie‹140 ausgedrückt. Schlegel 136 137

Thums: Religion – Kunst – Lebenskunst, S. 27. Vgl. etwa Schlegels Brief an Caroline Schlegel am 19. Februar 1799: »Religion ist übrigens nicht viel darin, außer daß jeder Mensch ein Ebenbild Gottes sey, und der Tod vernichtet werden soll. Indessen ists doch ein Buch wie mein Studium der alten Poesie, revoluzionär und der erste Blick in eine neue Welt.« (KFSA XXIV, S. 230) 138 Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik, S. 134. 139 Vgl. Schlegel an seinen Bruder August Wilhelm Schlegel am 7. Mai 1799: »Mit der Religion, lieber Freund, ist es uns keineswegs Scherz, sondern der bitterste Ernst, daß es an der Zeit ist, eine zu stiften.« (KFSA XXIV, S. 284). Vgl. auch Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik, S. 138: »Die Anregungen und Impulse des Jahres 1798, verbunden mit dem für F. Schlegel konstitutiven Streben nach Einheit, gipfelten in dem Plan einer neuen Religionsstiftung.« Nowak geht hier auch auf den Unterschied zwischen Schlegel und Novalis ein, und betont noch einmal, dass ersterer das Bibelprojekt als reines Buchprojekt verfolgt, letzterer aber als tatsächlich sozial wirksames, insofern die Buchförmigkeit weit übersteigendes, »Kunstwerk«. 140 So spricht Schlegel etwa davon, dass die Religion »notwendig als Mythologie oder als Bibel« (KFSA II, S. 259, Fragment 38) erscheinen müsse, nur um beide Erscheinungsweisen miteinander zu verschalten. Vgl. dazu auch Thums: Religion – Kunst – Lebenskunst, S. 33: »Die Transformation der Religion in eine neue Mythologie hängt unmittelbar mit dem Medialitätskonzept der projektierten neuen Bibel zusammen.« Die neue Mythologie wurde zunächst im Ältesten Systemprogramm des

4. Arabeske: Reden/Schweigen

strebt nach einer Wiederherstellung einer unter den medialen Bedingungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht mehr vorhandenen umfänglichen sozialen Integration und Schließung von Poesie141 – im Zeichen des Buchdrucks142 in der sogenannten »bürgerlichen Mediengesellschaft«143 . Die Religion als »Beziehung des Menschen aufs Unendliche […] nämlich des Menschen in der ganzen Fülle seiner Menschheit« (KFSA II, S. 263, Fragment 81) vollzieht sich, wie schon im Titel der Rede über die Mythologie, die einen Beitrag zum 1800 erscheinenden Gespräch über die Poesie darstellt, deutlich wird, in einer Verschaltung von Stimme und Schrift144 , die prägend ist für eine »Medienkrise ersten Ranges«145 . Das ideale Buch, die ideale Lektüre sind für Schlegel auf paradoxe Weise nach dem mittelalterlichen Vorbild, also nach dem Modell der Poesie als Redeutschen Idealismus propagiert. Beim Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus handelt es sich um eine fragmentarisch erhaltene Ko-Produktion von Schelling, Hegel und Hölderlin, wahrscheinlich aus dem Jahre 1797. Die Passage zur ›neuen Mythologie‹ lautet hier: »Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die so viel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müßen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß [ein]e Mythologie der Vernunft werden. Ehe wir die Ideen ästhetisch, d.h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse u[nd] umgek[ehrt] ehe d[ie] Mythol[ogie] vernünftig ist, muß sich d[e]r Philos[oph] ihrer schämen. So müssen endlich aufgeklärte u[nd] Unaufgeklärte sich d[ie] Hand reichen, die Myth[ologie] muß philosophisch werden, und das Volk vernünftig, u[nd] d[ie] Phil[osophie] muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dan herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blik, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen u[nd] Priestern, dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrükt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das lezte gröste Werk der Menschheit seyn.« (Jamme: Mythologie der Vernunft, S. 13-14) Für einen editorischen Bericht, Informationen zum Manuskript und seiner Überlieferung und schließlich für die Diskussion der Verfasserfrage vgl. ebenfalls diesen Band, S. 15-79. Zur Problematik der Benennung und Tradierung des Fragments unter dem Namen Ältestes Systemprogramm des Deutschen Idealismus vgl. Frank: Der kommende Gott, S. 153-155. Der Begriff der neueren Mythologie begegnet zum ersten Mal bei Johann Gottfried Herder, vgl. ders.: Vom neuern Gebrauch der Mythologie (1767). Zu den konkreten Einflüssen der neuen Mythologie auf Schlegels Konzeption im Gespräch über die Poesie vgl. etwa Enders: Die Mythologie ist ein Kunstwerk der Natur, S. 65-88. Enders unterstellt daher auch eine Bekanntschaft Schlegels mit dem Text des Ältesten Systemprogramms, vgl. S. 87: »Es legt sich daher die Vermutung äußerst nahe, daß beide, Schlegel und Schelling, das Systemprogramm zumindest gekannt und zustimmend aufgenommen oder gar, im Falle Schellings, selbst verfaßt haben.« In Kap. 4.2.1 wird Schlegels Version der neuen Mythologie näher bestimmt. 141 Die Engführung von Poesie und Religion sei hier, anders als etwa bei Bossinade: Die religiöse Sprache Friedrich Schlegels im Kontext seiner Poetologie, nicht pauschal als Evokation der Erhebung über die »banale Alltagswirklichkeit« (S. 71) verstanden, sondern im Sinne der hier vorgestellten Überlegungen als Schließung sowohl im sozialen, wie im medialen Sinne. 142 Vgl. Magen: Praktische Kritik und ihre theoretische Begründung, S. 58: »Kritik, so Schlegel, entsteht mit der Erfindung des Buchdrucks, quasi als dessen Komplementärerscheinung.« 143 Diese Kennzeichnung verwendeten zunächst Kiesel, Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Von dort aus entwickelte sie sich zur allgemeingültigen Charakterisierung der medial formierten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, vgl. etwa Bödeker: Bürgerliche Literatur- und Mediengesellschaft. 144 Vgl. auch Görner: Die Pluralektik der Romantik, S. 11. Görner betont, dass »romantische Dichter stets auch mit und für das Gehör geschrieben haben.« 145 Neumann, Oesterle: Einleitung, S. 9.

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de modelliert.146 Die Faszination der Romantik für das Mittelalter drückt sich bereits in der Kennzeichnung der Romantik selbst aus. Jede Mittelalterrezeption ist in ihrem Kern romantisch147 , Mittelalterbezug und (Selbst-)Kennzeichnung lassen sich – trotz der Emanzipation des ›Romantischen‹ im 18. Jahrhundert – nicht trennen. Auch die Beschäftigung der Brüder Schlegel mit »der mittelalterlichen Poesie als naturpoetische[m] und mythologische[m] Fundament der Geschichte der romantischen Literatur«148 ist gut dokumentiert. Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig. Hier wird es mir nur um einen Aspekt gehen: den medialen Aspekt von Poesie als Kommunikation in, wie Luhmann es formuliert, »Situationen mit hoher sozialer Unmittelbarkeit« (KdG, S. 33) und das sich hier eröffnende Verhältnis von Öffnung und Schließung. Wie insbesondere der Romanist und Mittelalterkenner Paul Zumthor in seinen zahlreichen Arbeiten gezeigt hat, ist mittelalterliche Poesie149 »durch das Phänomen der menschlichen Stimme als Dimension des poetischen Textes«150 geprägt. Mit der Stimme ist dabei nicht nur das Faktum der mündlichen Tradierung151 angesprochen, sondern vielmehr die umfassen146 Diese Konzeptionierung des Buchs als ›Rede‹ findet sich auch schon bei Kant. Kants Definition des Buchs lautet: »Ein Buch ist eine Schrift (ob mit der Feder oder durch Typen, auf wenig oder viel Blättern verzeichnet, ist hier gleichgültig), welche eine Rede vorstellt, die jemand durch sichtbare Sprachzeichen an das Publicum hält.« (Kant: Die Metaphysik der Sitten, S. 298) Allerdings spielt die Differenz zwischen Rede und Schrift hier insofern keine Rolle, als Kant keine besonders intime Gesprächssituation adressiert, sondern vielmehr eine anonyme Öffentlichkeit als Publikum im Blick hat. Insofern erinnert seine Konzeption des Buchs an die Form der Vorlesung (vgl. Kap. 4.4). Kants Blick auf das Buch ist insofern ein institutioneller Blick. Vgl. dazu auch Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 19: »Der Buchverleger kreiert für Kant eine spezifische, von dem Verfasser autorisierte rhetorische Situation, die nicht an die Spezifik des Buchartefakts geknüpft ist. Der Verleger könnte ebenso gut einen Festsaal mieten und die von dem Verfasser autorisierte Rede dort von einem professionellen Redner an ein ausgewähltes Publikum vortragen lassen.« Deutlich eher in die Richtung der frühromantischen Lektürekonzeption als intimes Gespräch geht Fichte, der betont, dass das Wesentliche, und damit Unveräußerliche, eines Buchs die »Form dieser Gedanken, die Ideenverbindung in der, und die Zeichen, mit denen sie vorgetragen werden« sind. Diese Form nämlich ist individuell: »Jeder hat seinen eigenen Ideengang, seine besondere Art sich Begriffe zu machen, und sie untereinander zu verbinden. […] Da nun reine Ideen ohne sinnliche Bilder sich nicht einmal denken, vielweniger Anderen darstellen lassen, so muß freilich jeder Schriftsteller seinen Gedanken eine gewisse Form geben, und kann ihnen keine andere geben als die seinige, weil er keine andere hat; aber er kann durch die Bekanntmachung seiner Gedanken gar nicht Willens sein, auch diese Form gemein zu machen; denn Niemand kann seine Gedanken sich zueignen, ohne dadurch daß er ihre Form verändere. Die letztere also bleibt auf immer sein Ausschliessendes Eigenthum.« (Fichte: Beweis der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks, S. 412) Hier wiederum findet sich ein zentraler Text für den Bedeutungswandel des Adjektivs ›eigenthümlich‹ weg von der juristisch-ökonomischen Dimension des materiellen Besitzes hin zur ästhetischen Würdigung des individuellen Genies. Vgl. dazu besonders Plumpe: Eigentum, Eigentümlichkeit. 147 Vgl. etwa Herweg, Keppler-Tasaki: Mittelalterrezeption. Gegenstände und Theorieansätze eines Forschungsgebiets. 148 Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel, S. 253. 149 Aus gutem Grund vermeide ich hier, diese »fälschlich die mittelalterliche ›Literatur‹« (Zumthor: Die Stimme und die Poesie, S. 13) zu nennen. 150 Ebd., S. 11. 151 Zur Forschungstradition und gleichzeitig Problematik der Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlichkeit vgl. Schüttpelz: Mündlichkeit/Schriftlichkeit. Schüttpelz betont etwa, dass der »Aufweis einer Mündlichkeit der Schrifttechniken« (S. 31) dazu führt, immer schon die Verschränkung

4. Arabeske: Reden/Schweigen

de »Integration«152 von Literatur in konkrete materiell-körperliche und soziale Zusammenhänge. Was Kunst gegenüber anderer Kommunikation auszeichnet, ist die ›performance‹: »Erst die Stimme [macht] in der performance den Text zum Œuvre.«153 Die Entscheidung darüber, ob etwas poetisch zu verstehen ist oder nicht, und damit gleichzeitig die Schließung und Identifikation einer Kommunikation als ›Werk‹ vollzieht sich also entlang der Opposition Reden/Schweigen.154 Da im Zeitalter des Buchdrucks und der stillen Lektüre keine tatsächliche soziale Einbettung und Schließung von Poesie vorhanden ist – »der in der Schrift festgehaltene Text ist ein Text ohne Situation«155 – muss diese im Buch miterzeugt werden. Der ›Privatisierung der Sinnfrage‹156 im Kontext eines zunehmend individualisierten Lesens, welche als Eröffnung von neuartigen Freiräumen zum Ausdruck und als Erlebnismöglichkeit von Individualität einerseits begrüßt wird, wird andererseits eine im Buch sich vollziehende Schließung des Möglichkeitsraums zukünftiger Lektüre in Form eines fortgesetzten ›Gesprächs‹ entgegengesetzt157 . Die Übercodierung der Lektüre als Gespräch beruht also auf einer umfassenden Reflexion von Lektüre und Buchförmigkeit, sucht diese aber zu programmieren. Wie Derrida bündig formuliert: »Das Buch ist ein Dialog oder eine Dialektik.«158 Das Gespräch ist dabei insbesondere von Bedeutung, als es durch »Mehrdimensionalität (sprachlich/außersprachlich), Mehrfunktionalität, ein relativ schwaches Institutionalisierungsniveau sowie situative und provisorische ›Gleichheit‹ gekennzeichnet ist«159 und insofern die Idealkonzeption einer umfassenden Symmetrie in Szene setzen kann. Fluchtpunkt dieser Konzeption des idealen Buchs als Bibel ist eine neue »Ehrfurcht vor dem Buch«160 als Lektüreprogrammierung. von Mündlichkeit und Schriftlichkeit annehmen zu müssen, was insofern das Postulat der Dichotomie oder der linearen Entwicklung auch kognitiver Prozesse zweifelhaft erscheinen lässt. 152 Zumthor: Die Stimme und die Poesie, S. 39. 153 Ebd., S. 38. 154 Explizit erwähnt Zumthor auch das Schweigen, vgl. ebd.: »Sie [die Stimme] nutzt selbst das Schweigen, das sie doch selbst hervorruft und bedeutungsvoll macht.« 155 Stierle: Text als Handlung und Text als Werk, S. 543. 156 Vgl. dazu und insgesamt zum »Mentalitätswandel um 1800« Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit. Interessanterweise geht Schön in seiner umfassenden Untersuchung kein einziges Mal auf Friedrich Schlegel, und ebenfalls nicht auf Schleiermacher ein. Das berechtigte Bemühen um eine empirische Lesergeschichte schein hier also die Wahrnehmung der Lesetheorien des späten 18. Jahrhunderts auszuschließen. Vgl. dazu auch Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer inneren Geschichte des Lesens, S. 2: »Bisherige Geschichten des Lesens sind Geschichten des Lesers.« 157 Siehe dazu auch Frank: Einverständnis und Vielsinnigkeit, S. 89: »Das um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erwachende Interesse am ›Gespräch‹ hat den Charakter eines Symptoms und ist schon zu seiner Zeit in diesem Sinne gedeutet worden. Es steht im Zusammenhang mit dem Niedergang eines über Jahrhunderte unangefochtenen Deutungsmodells, wonach die Welt – gleichgültig, ob man einen empiristischen oder einen rationalistischen Standpunkt bezieht – in Gedanken, Vorstellungen oder Zeichen so vergegenwärtigt werden kann, daß die Beziehungen, die zwischen dem Gegenstand und seinem Repräsentanten bestehen, analysiert, rekonstruiert, kurz: in vernünftiger Weise aufgeklärt werden können.« Der Niedergang dieses Deutungsmodells ist, wie ich argumentieren möchte, auf elementare Weise mit der Theoretisierung von Lektüre verbunden. 158 Derrida: Dissemination, S. 204. 159 Luckmann: Das Gespräch, S. 58. 160 So beschreibt Erich Schön in seinem Aufsatz zur Geschichte des Lesens die vormoderne, wiederholende Lektürepraxis, vgl. S. 23.

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Die Schließung des Buchs in der Lektüre, und damit die Steuerung von Lektüreanschlüssen, ist von einer umfassenden Vision der Symmetrie geprägt. Diese betrifft das Verhältnis der beiden buchinternen Gesprächs- und Liebespartner Julius und Lucinde, genauso wie das Verhältnis zwischen Begriffen, etwa Witz und Liebe, und schließlich das Verhältnis zwischen Lektüre und Buchförmigkeit selbst. Insofern lässt sich die Vision der Symmetrie nicht nur emphatisch als eine Feier der Gleichberechtigung lesen, sondern auch strategisch in ihrer Funktion der Immunisierung gegenüber ›falscher‹ Lektüren verstehen.161 Der Roman Lucinde enthält bereits eine vorausschickende162 Theorie seiner Lektüre, die versucht, deren Vollzug insofern festzulegen, als sie ihn von vorneherein auf eine liebende Rezeptionshandlung verpflichtet. Hier findet sich das eindrücklichste Dokument eines ›unendlichen Gesprächs‹, in dem sich die Gegensätze – wie schon in Über Goethes Meister gesehen – die Waage halten. Zentral für die symmetrische Konzeption im Roman ist der Begriff der Arabeske. »Lu[cinde] = Naturarabeske. Luc.[inde] ein Gedicht aus dem Nichts« (KFSA XVI, S. 247, Fragment 182), notiert Schlegel. Die Arabeske bildet, als Kristallisation der ›Neuen Mythologie‹, den »verborgenen Mittelpunkt des feinsten Daseins« (KFSA V, S. 9) des buchförmigen Romans, allerdings insofern sie im Roman selbst begrifflich abwesend ist, und nur in seinen Epitexten163

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Auch Spoerhase betont in seiner Studie zum Format der Literatur den Zusammenhang zwischen Kritik und Publikationsform. So weist er etwa nach, dass für das Format des Manuskriptdrucks, der unter Freunden zirkulieren sollte, explizit andere Richtlinien der Kritik gelten sollten, siehe S. 86: »Das ästhetische Urteil des Kenners und Kritikers darf grundsätzlich nur literarischen Texten gelten, die wenigstens dem Grundsatz nach allgemein käuflich sind. Bücher, die dagegen von einem Autor ›[s]einen Freunden zum Geschenke‹ übersendet werden, verpflichten diese auf eine wohlwollende oder doch wenigstens nachsichtige Rezeptionshaltung.« Insofern Schlegel seinen Roman Lucinde zu einer Zeit veröffentlicht, in der diese Praxis der freundschaftlichen Zirkulation gerade aufgrund ihrer durchsichtigen Immunisierungsstrategie bereits im Untergang begriffen ist, versucht er nicht, das Buch auf eine nur wohlwollende Rezeption zu verpflichten, sondern vielmehr öffentliche Kritik und intime Rezeption miteinander zu verschalten und aneinander zu steigern. Die intime Lektüre realisiert erst das öffentliche Buch. Die Metaphorik des Schickens, welche zwischen dem transitiven Verb schicken, dem reflexiven Verb sich schicken und dem Adjektiv des (un)schicklichen changiert, spielt im Roman eine große Rolle. Darauf gehe ich in Kap. 4.2.4 noch näher ein. Wie schon beim Begriff des Paratexts, beziehe ich mich auch beim Begriff des Epitexts zwar auf die Definition Genettes, akzentuiere sie aber in meinem Sinne. Als Epitexte bezeichne ich jene Fragmente und Notizen, die sich konkret auf die geplante oder vergangene Verfertigung des Romans beziehen und insofern die Rahmung des Romans als geschlossenes Buch vorbereiten und in der Lektüre unterstützen. Im Gegensatz zum Peritext, bei welchem die Kontinuität zum Text materiell durch das Buch begründet ist, verlangt der Epitext den Rekurs auf den Autor als einheitsstiftendes Element (vgl. Binczek: Epistolare Paratexte, S. 117-133) – genau dies ist auch hier der Fall. Allerdings kann ein Epitext auch in Bezug auf die Texte eines anderen Autors als einheitsstiftend und damit die Rahmung des Buchs befördernd betrachtet werden. Insofern lässt sich etwa Schlegels Über Willhelm Meister als Epitext betrachten. Vgl. dazu die Definition des Epitexts bei Dembeck et al.: Epitext. Als erster Punkt wird hier der Kommentar genannt, der einem Text »mehr oder weniger explizit [attestiert], es in seiner jeweiligen Form wert zu sein, bewahrt und wiederverwendet zu werden (rhetorischer Werkbegriff), oder die Form eines mehr oder weniger gelungenen Kunstwerks zu haben (ästhetischer Werkbegriff)« (S. 520).

4. Arabeske: Reden/Schweigen

aufgerufen wird. Diese in der begrifflichen Nichtpräsenz begründete strukturelle Wirkung der Arabeske wird in Kapitel 4.2.1 erläutert. Im Roman selbst finden sich an ihrer Stelle zwei figurative Übersetzungen bzw. Verschiebungen.164 Die visuell konkretisierte, begrifflich aber abwesende Figur der Arabeske wird also in eine nun tatsächlich auch begrifflich und inhaltlich im Roman präsente symmetrische Dualität von Liebe und Witz verschoben. Die in der Liebe verwirklichte und in der Ehe auf Dauer gestellte Symmetrie zwischen Mann und Frau spiegelt sich ihrerseits in der als ›passiv‹ und unbewusst apostrophierten strukturellen Organisation des Romans (Kap. 4.2.2). Die poetologische Zentralfigur des Witzes hingegen steht ein für die bewusste und künstliche symmetrische Konstruktion desselben (Kap. 4.2.3). Die angestrebte Symmetrie von bewusster witziger Konstruktion und natürlicher Organisation der Liebe verweist auf ihre eingeschlossene ausgeschlossene Einheit, die Arabeske, und darüber hinaus auf das Projekt der Religionsstiftung als neuer Mythologie. Wie Kerstin Behnke in ihrem Aufsatz zu romantischen Arabesken beschreibt, ist Form in islamischer Kunst »nicht so sehr funktionales Diktat als illusionäre Konstruktion einer Oberflächendekoration aus Mustern und Schrift«165 . Es wird sich zeigen, dass in der Lucinde ein Formbegriff auftaucht, der symmetrisch zu seinem Gegensatz, zum Stoff, konzipiert ist, mit dem er in einem »dynamische[n] Verhältnis«166 steht. Wichtig für die symmetrische Vermittlung der Gegensätze ist die Bewegung und damit das »Zusammenspiel von Varianz und Invarianz«167 , das in der Arabeske idealtypisch umgesetzt ist. Abschließend gehe ich auf die in der Arabeske manifest werdende doppelte Überblendung des Schriftlichen ein. Die Arabeske gewinnt ihre Wirksamkeit für die umfassende Symmetrie in der »Ausblendung bzw. Unterdrückung der Materialität ihres Mediums«168 . Der Versuch einer Überschreitung der Schrift hin zur symmetrischen Arabeske wie zum liebenden Gespräch kulminiert in der Handschrift, die das ideologische Zentrum des buchinternen Lektüreprogramms bildet und die Arabeske als Begriff in den Epitext verschiebt (Kap. 4.2.4). Abschließend zeige ich an Schleiermachers zunächst anonym publizierten Vertrauten Briefen über die Lucinde (1800) die Offenlegung der paradoxen Struktur des Gesprächsparadigmas und seiner Leitunterscheidung Reden und Schweigen. Schleiermachers Vertraute Briefe über die Lucinde besiegeln, indem sie diese Asymmetrie offen ausstellen und darüber hinaus auf die kulturpolitischen Hintergründe aufmerksam machen, bereits das Ende der in der Lucinde verwirklichten Symmetrie. Anders als der Roman Lucinde, der sich als ein Vexierspiel aus gedrucktem Roman und privaten Briefen darstellt, problematisieren sie offen den Vorgang des Druckens und legen die ihm eingeschriebene Asymmetrie frei. Dies wird in Kapitel 4.2.5 in Bezug auf die Unterscheidung von Reden und Schweigen aufgezeigt.

164 Vgl. auch Behnke: Romantische Arabesken, S. 106: »Indem den arabesken Figuren eigene Bedeutung untersagt wird, werden sie frei, anderweitig eine – aus einem Verschiebungsprozeß entstandene – suggerierte Bedeutung aufzunehmen.« Dies gelingt aber nur, insofern die erste Verschiebung den Begriff der Arabeske aus ihrem Wirkungskontext entfernt und in den Epitext verschiebt. 165 Ebd., S. 108. 166 Ebd. 167 Wellberry: Form und Idee, S. 19. 168 Behnke: Romantische Arabesken, S. 107.

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4.2.1.

Konkretisierte Symmetrie: Die Arabeske

Wie anhand der Schleiermacherschen und Schlegelschen Lektürereflexion bereits gezeigt werden konnte, vollzieht sich die ›transzendentale Wende‹ der Hermeneutik um 1800 als wechselseitige Konvergenz von Lektüre- und Schreibreflexion: »Schreiben und Lesen [sind] eng zusammengerückt«169 . Das Schlegelsche Schreiben praktiziert eine wechselseitige »Durchdringung von Reflexion und Darstellung, Philosophie und Poesie, Kritik und Schaffen«170 . Knotenpunkt der Konvergenz ist das Buch. Die in der Lektüre sich einstellende Erfahrung von eigener und fremder Buchförmigkeit ist zentral für die Produktion eigener Bücher171 . Es geht um »die ästhetische Erfahrung der Lektüre vor allem in ihrer Funktion für die Komposition des eigenen literarischen Werks«172 . Diese Nähe von Lektüre und eigener Buchproduktion wird von Friedrich Schlegel als der eigentliche Kern der frühromantischen Poetik explizit adressiert. Diesen Kern bildet »das ins Buch gefasste Reflexionsmedium des Romans«173 : »Der Zweck der κρ. [kritischen] Novelle ist, die π [Poesie] zu verjüngen und ins Leben einzuführen« (KFSA XVI, S. 208, Fragment 46) heißt es in den Ideen zu den Gedichten, und auf derselben Seite: »κρ [Kritik] und φδ [Philosophie] des R.[omans] sollte mit d[em] Roman ganz verbunden sein.« (KFSA XVI, S. 208, Fragment 54)174 Mit der Konzeption des Romans, das macht Schlegel an anderer Stelle klar, ist das Buch gemeint: »Der Roman ist offenbar [absolut systematisch], ein Buch im höchsten Sinne« (KFSA XVI, S. 265, Fragment 135), und somit »jeder Roman ein [absolutes Buch]« (KFSA XVI, S. 269, Fragment 186). Das absolute Buch befindet sich in einem paradoxen Verhältnis zum Medium der Druckschrift als »unendliche[m] Bibeltext«175 . Dieser wiederum besteht in einer konsequenten Begegnung aller schriftlichen Tätigkeiten, etwa Wissenschaft, Philosophie, Philologie und eben Poesie: Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Künstler von seinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenständen gründliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter über seine Kunst philosophieren. Soll er nicht bloß Erfinder und Arbeiter sondern auch Kenner in seinem Fache sein, und seine Mitbürger im Reiche der Kunst verstehn können, so muß er auch Philolog werden. (KFSA II, S. 208-209, Fragment 265)

169 Assmann: Die Domestikation des Lesens, S. 105. 170 Behler: Die Kunst der Reflexion, S. 127. 171 Anhand der Entwicklung der Literary Notebooks bemerkt dies schon Helmut Schanze, vgl. Friedrich Schlegels Theorie des Romans, S. 391: »Vor allem aber bedeutsam ist in den Notizheften die Verlagerung des Akzents von der Entwicklung kritischer Prinzipien zu einem ›Organon‹ der Romanpraxis.« Wie diese Verlagerung genau beschaffen ist, lässt sich ebenfalls bei Schanze nachlesen. 172 Roloff: Werk und Lektüre, S. 224. 173 Schanze: Erfindung der Romantik, S. 133. 174 Siehe auch: »Jedes Rom.[antische] Kunstwerk = π² [Poesie der Poesie] = πκ [kritische Poesie] verwandt mit d[er] Charakteristik.« (KFSA XVI, S. 134, Fragment 583) 175 Thums: Religion – Kunst – Lebenskunst, S. 32.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Die buchförmige Kommunikation wird allerdings metaphorisch als Gespräch zwischen Gleichgesinnten, als »Beziehungskommunikation«176 gefasst, und so die mit der Ubiquität von Schrift einhergehende soziale Öffnung konzeptuell zurückgenommen. Gegenüber der Lektüre als Gespräch gestaltet sich auch das Schreiben als »Produzieren im Gespräch«177 . So schreibt Schlegel etwa in der Vorrede zur neuen Zeitschrift Europa aus dem Jahr 1803: »Freilich redet man anders zu einem fast gleichgesinnten Freunde, anders zu einem Fremden, dem man sich nähern möchte. […] Mit denen aber, die sich für unsere Gegner halten, werden wir nie reden.« (KFSA III, S. 329) Die soziale Dimension, die gerade das Religiöse und damit Nichtschriftliche des Bibelprojekts betont und den Kern des Missverständnisses zwischen Schlegel und Novalis ausmacht, geht mit der formalen Realisation des Buchs als Bibel eine untrennbare Verbindung ein: »Jeder synthetische Roman muß mystisch schließen« (KFSA XVI, S. 113, Fragment 352), heißt es in den Fragmenten zur Litteratur und Poesie. Die soziale Schließung, die das im öffentlichen Medium der Druckschrift produzierte Buch übercodiert, spiegelt sich auch im Wandel der Kritikauffassung gegenüber derjenigen der Aufklärung.178 In der Aufklärung wird es zum Recht aller, Kritik zu üben.179 Erst die Kritik selbst erlaubt eine Scheidung zwischen wahr und falsch, schön und unschön.180 Für die veränderte Kritikkonzeption in der Frühromantik wird dieses Verhältnis umgekehrt. Um als produktiver Kritiker zugelassen zu werden, muss man seine Eignung zunächst beweisen: »Die berühmte Symphilosophie war nicht nur nach 176

Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 51. Während es bei Spoerhase aber vor allem um die Zirkulationskreise der tatsächlichen Bücher geht, beziehe ich den Begriff auf die Konzeption des Lektüreprogramms: Die wechselseitige Rahmung von materieller Buchform und intimem Gespräch der Liebenden. Die Vermittlung zwischen dem Buch als »unpersönlich zirkulierende[m] ›Massenprodukt‹« (Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 52) und der intimen Gesprächssituation wird nicht nur in der tatsächlichen, materiellen und paratextuellen Rahmung der von Spoerhase beschriebenen Manuskriptdrucke vorgenommen, sondern auch als konzeptuelle Verschaltung, die sich auf die Programmierung von adäquater Lektüre bezieht. Das »komplexe Ineinander von Hand- und Druckschriftlichkeit innerhalb des gedruckten Buchs« (S. 53) vollzieht sich also nicht nur materiell, sondern konzeptionell. 177 Samuel: Einleitung, S. 655. 178 Zur Verschiebung des Kritikbegriffs zwischen Aufklärung und Romantik vgl. auch Breuer, TabarasiHoffmann: Einleitung, S. 10-11 sowie die im Abschnitt Von der Aufklärung zur Romantik veröffentlichten Beiträge, insbesondere den von Magen: Praktische Kritik und ihre theoretische Begründung. 179 Wie Foucault in seinem Vortrag Was ist Kritik betont, sind Kritik und Aufklärung bei Kant also ›gegeneinander verschobene‹ Begriffe, insofern sie sich auf die gesamte Gesellschaft beziehen und parallel zu ihrer »Regierbarmachung« emergieren (vgl. S. 17-18). 180 Vgl.Koselleck: Kritik und Krise, S. 86-87: »Es liegt schon in dem Begriff der Kritik, daß durch die Kritik eine Scheidung vollzogen wird. Die Kritik ist eine Kunst des Urteils, ihre Tätigkeit besteht darin, einen vorgegebenen Sachverhalt auf seine Echtheit oder Wahrheit, seine Richtigkeit oder Schönheit hin zu befragen, um aus der gewonnenen Erkenntnis heraus ein Urteil zu fällen, das sich nach Ausweis des Wortgebrauchs auch auf Personen erstrecken kann. Im Zuge der Kritik scheidet sich also das Echte vom Unechten, das Wahre vom Falschen, das Schöne vom Häßlichen, das Rechte vom Unrechten. Die ›Kritik‹ steht als die Kunst des Urteilens und der damit verbundenen Scheidung offensichtlich schon auf Grund dieser ihrer allgemeinen Bedeutung, die sie auch im achtzehnten Jahrhundert gehabt hat, in einem ursprünglichen Zusammenhang mit dem damals herrschenden dualistischen Weltbild.«

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innen gerichtet, sondern auch nach außen, gegen die Öffentlichkeit und die ihr gemäße ›profane Form der Mitteilung‹ des Buchdrucks«.181 Insofern die Kritik sich von universellen Regeln emanzipiert und zur individuellen und damit stets unberechenbaren Kunst wird, kann sie nicht von allen ausgeübt werden. Das Buch selbst übernimmt die Rolle des ›Scheidens‹ und bestimmt so, welche Lektüre ihm angemessen ist.182 Im Medium des gedruckten Buchs erscheint die historisch überholte Möglichkeit der mündlichen Poesie als ästhetisches Stilmittel, das im Buch eingesetzt werden kann.183 Die Veränderung des Kritikbegriffs und damit der Konzeption von der Lektüre eines Buchs lässt sich als direkte Reaktion auf die in der Aufklärung erstmals reflektierte universelle Möglichkeit von Lektüre verstehen. Das Buch »rechnet damit, selbst philologisiert zu werden«184 . Die Öffnung des Buchs hin zur Lektüre erfordert für Schlegel eine prospektive Schließung von Lektüre, die in der »Emphatisierung des Buches als einer textuellen Totalität«185 als Übercodierung im Sinne des intimen Gesprächs wirksam ist. Diese Schließung manifestiert sich als Lektüreprogramm, das in der Überformung des Buchs als Arabeske angelegt ist. Die Arabeske programmiert das Buch im Sinne einer »ewig unwandelbare[n] Symmetrie« (KFSA V, S. 73): »Das Princip der romantischen Prosa ganz wie das d[er] Verse – Symmetrie und Chaos, ganz nach der alten ρ [Rhetorik]; im Bocc[az] diese beiden in δθ [Synthese] sehr deutlich.« (KFSA XVI, S. 298, Fragment 539)186

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Benne: Die Erfindung des Manuskripts, S. 463. Insofern ist die Aktivierung des Lesers, die immer wieder betont wurde (vgl. zuletzt Bauer: Schlegel und Schleiermacher), nicht als bruchlose Fortführung der Aufklärung im Geiste der ›Emanzipation‹ zu verstehen, da sie nur im Rahmen der Kontrolle durch den Text zugelassen wird, zu dem ein Liebesverhältnis bestehen muss. Anders fasst dies etwa Mennemeier: Friedrich Schlegels frühromantisches Literatur-Programm, S. 293: »Der Leser soll, symphilosophisch, sympoetisch, im Sinn von Lyceum-Fragment 112, stimuliert werden, sich selber Gedanken zu machen. Das ist, im Kern, eine kommunikationstheoretisch liberale und progressive, wesentlich aufklärerische Strategie.« Ungeachtet der Progressivität lässt sich, wie oben beschrieben, im Konzept der Symphilosophie gerade ein Gegenprogramm zur freien Verfügbarkeit von Lektüre und Kritik erkennen, das als letztes Aufbäumen der mündlichen Gemeinschaft gegenüber der schriftlichen Gesellschaft verstanden werden kann (zur Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft vgl. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft). 183 Dies betont insbesondere Walter J. Ong in seinen Texten und belegt den historischen Wandel mit den Begriffen von Mimesis und Ironie, vgl. etwa Ong: From Mimesis to Irony, S. 6: »After the invention of writing, and much more after the invention of print, the question of who is saying what to whom becomes confusingly and sometimes devastatingly complicated. The writer’s audience is al- ways a fiction, as I have undertaken to show elsewhere.« Das Adressieren des Lesers, die buchinterne Kommunikationssituation, wird zum »artificial, contrived, fictionalized arrangement« (S. 6). Ein eben solches komplexes Arrangement bietet Schlegels Roman Lucinde. 184 König: Grenzen der Cyklisation, S. 33. 185 Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 510. 186 So beschreibt Schlegel in den Kritischen Fragmenten des Lyceums wieder einmal anhand Goethes Wilhelm Meister den Roman als eines der »größten modernen Gedichte«, in dem »Reim, symmetrische Wiederkehr des Gleichen« ist, etwa »die Champagnerflasche und die drei Gläser, welche die alte Barbara in der Nacht vor Wilhelm auf den Tisch setzt« (KFSA II, S. 163, Fragment 124). Siehe auch KFSA XVI, S. 115, Fragment 369: »Der symmetrische Dialog gehört nur in das πΔρ [poetische Drama] nicht in ρΔρ [rhetorisches Drama].«

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Als paradigmatisches arabeskes Buch, das nicht nur alle poetischen Gattungen, sondern auch alle Künste und Wissenschaften vereinigt, gilt für Schlegel der Roman. Er ist damit die Weiterentwicklung der Enzyklopädie: »In d[er] nächsten Generation wird an die Stelle der Encyc[lopädie] ein Roman treten.« (KFSA XVIII, S. 364) So gestaltet sich die tatsächliche Umsetzung des Buchs Lucinde und damit der »Uebergang von Aesthetik zur Poesie« (KFSA XVI, S. 220, Fragment 219) als leidensvoller Weg der Auseinandersetzung, der bereits im Jahr 1794 seinen Anfang nimmt und sich bis zur Veröffentlichung des Romans im Jahr 1799 und darüber hinaus erstreckt187 : »Das ganze Werk ist ein steter Kampf, das Undarstellbare darzustellen« (KFSA XVI, S. 241, Fragment 115), notiert Schlegel in den Ideen zu den Gedichten. Begründet ist dieser Kampf in dem Anspruch, den Schlegel an sein Werk stellt. Der Roman Lucinde soll die Umsetzung des Bibelprojekts darstellen, in einem »ewig werdenden Buche […] das Evangelium der Menschheit und der Bildung« (KFSA II, S. 265, Fragment 95) offenbaren.188 Im Medium des Buchs soll das Medium selbst an ein Ende gebracht werden, insofern es in die Tat, nämlich in die Religionsstiftung übergeht. Im oben bereits zitierten Brief Schlegels an Novalis liest man: Man spricht und erzählt seit etwa hundert Jahren von der Allmacht der Schrift und was weiß ich sonst noch. Im Vergleich mit dem, was da ist und was geschieht, scheint mir das nur ein mißlungner Scherz zu seyn. Ich bin aber gesonnen, Ernst daraus zu machen und die Leute mit ihrer Allmacht beim Wort zu nehmen. Daß dies durch ein Buch geschehen soll, darf um so weniger befremden, da die großen Autoren der Religion – Moses, Christus, Mohammed, Luther – stufenweise immer weniger Politiker und mehr Lehrer und Schriftsteller werden. (KFSA XXIV, S. 205-206) Das Beim-Wort-nehmen der Allmacht der Schrift deutet genau auf den Versuch hin, die Vollständigkeit und Fülle dessen ›was da ist und was geschieht‹ gerade in dem dieser Fülle scheinbar am entgegengesetztesten Medium zu realisieren, eben dem Buchstaben des Buchs. Nur dieses bietet den Rahmen für den Anspruch, »die Verknüpfung zu einem unbedingt vollständigen Ganzen zu vollenden« (KFSA I, S. 295), wie Schlegel ihn bereits in seinem Studium-Aufsatz formuliert. Dieser Anspruch zeigt sich auch in der materiellen Gestaltung des Buchs Lucinde189 , das – obwohl die Arabeske im Zentrum steht – keinerlei tatsächliche Arabesken im Sinne von begleitendem, tatsächlich ›bildlichem‹ Schmuck aufweist.190 Vielmehr steht die Druckschrift in all ihrer materiellen Qualität im Vordergrund und bildet auch qua Materialität die Symmetrie der Arabeske nach. Das tatsächliche materielle Buch präsentiert sich damit gerade nicht als singuläres,

187 Vgl. Dehrmann: Lucinde. 188 Daher auch die Frage: »Könnte nicht Luc[inde] ins 10 [Unendliche] fortgesetzt werden wie der Faust? – (KFSA XVI, S. 224, Fragment 276). 189 Ich beziehe mich hier auf die Gestaltung der Erstausgabe, die vom Deutschen Textarchiv in digitalisierter Form zur Verfügung gestellt wird, vgl. www.deutschestextarchiv.de/book /view/schlegel_lucinde_1799. 190 Dies wäre eher zu beobachten in den um 1900 erscheinenden Publikationen des Ästhetizismus, etwa Leopold Andrians Der Garten der Erkenntnis (1895) oder Richard Beer-Hoffmanns Der Tod Georgs (1900).

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materielles Objekt, das sich von anderen etwa durch besonders reiche Gestaltung auszeichnet, wie es Kennzeichen sonstiger buchbewusster191 Publikationen ist. Vielmehr ist der Roman Lucinde als paradigmatisches, nämlich universelles Buch gestaltet. Die Reinheit und Simplizität der Druckschrift wird lediglich ergänzt durch wenige zusätzliche Gestaltungselemente, die im Wesentlichen aus die Schrift nachahmenden schwarzen Linien und Kreisstrukturen auf weißem Grund bestehen und insofern lediglich einer Minimaldefinition von Buchschmuck genügen. Dies wird etwa an der Gestaltung der ersten Seite des Prolog erkennbar ist, der als »Vorrede Wurzel und Quadrat des Buchs zugleich, und ich füge hinzu, mithin nichts anders, als die ächte Recension desselben« (NS II, S. 133) ist (vgl. Abb. 1). Der Prolog enthält, graphisch und textlich gleichermaßen, bereits das für die folgende Lektüre des Buchs maßgebliche Lektüreprogramm. Die angestrebte Symmetrie zwischen Schrift und Nichtschrift manifestiert sich in der angestrebten Medienbegegnung zwischen Schrift und ›Bild‹ (im Sinne von schwarzen Flächen und weißen Leerräumen192 ) als Arabeske wie auch von Schrift und Ton in der Evokation des mündlichen, privaten Gesprächs. Die Übercodierung der Schrift als konzeptionelle Handschrift erweist sich dabei als für beide Seiten zentral und insofern als heimlicher Fluchtpunkt der Arabeske (vgl. Kap. 4.2.4). Hier kann noch einmal zurück verwiesen werden auf das Kapitel zum Paratext, welches das Nebeneinander zweier verschiedener Begriffsmodi in den Schlegelschen Fragmenten sowie in Über Goethes Meister aufgezeigt hatte. In Bezug auf das Buch und die bereits erwähnten zwei Tugenden, welche Paul Valéry an diesem unterscheidet, lassen sich diese beiden Begriffsmodi auch mit den beiden Einstellungen gegenüber dem Buch assoziieren. Die sich symmetrisch gegenüberstehenden Gegensätze spiegeln dabei das Sehen, die Prozessbegriffe das Lesen, also die »Zerstörung durch den Geist«193 wider: So ist das Buch einerseits imstande, durch seine Deutlichkeit eine Bewegung auszulösen und fortzuleiten – eine Bewegung, die diskontinuierliche intellektuelle Wirkungen hervorbringt und die nach und nach die Zeile entlang in Gedanken aufgeht; andererseits ist es ein Gegenstand, eine Gesamtheit bleibender Eindrücke, mit unmittelbaren, von keiner Übereinkunft festgelegten Eigentümlichkeiten ausgestattet, die geeignet ist, unser sinnliches Wohlgefallen oder Mißfallen zu erregen.194 Die Besonderheit des Schlegelschen Buchs ist es, diese beiden Einstellungen gegenüber der Buchförmigkeit, die sich als verschiedene Vermittlungen von Öffnung und Schließung (einmal von der konkreten Materialität abstrahierend, einmal diese gerade wiederherstellend) gleichzeitig zu fordern und somit in ein symmetrisches Verhältnis zu bringen. Dies lässt sich in besonderem Maße an der inneren Gestaltung von Schlegels Lucinde ablesen. Schon Karl Gutzkow fällt in seiner Einleitung der Schleiermacherschen Vertrauten Briefe das Urteil, Lucinde sei »weniger Roman als Programm eines 191

Zur buchbewussten Publikationsweise vgl. insgesamt Schmitz-Emans: Buch-Literatur, hier das Kapitel A 2.1 Buchbewusste Literatur (S. 43-47). 192 Vgl. Hahn: Schwarze Flächen und weiße Leerräume. 193 Valéry: Die beiden Tugenden eines Buchs, S. 467. 194 Ebd., S. 468.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Abbildung 1: Erste Seite des Prologs

Quelle: Erstausgabe im Deutschen Textarchiv

ungeschriebenen«195 . Gegenüber Gutzkow müsste man hier spezifizieren: das Buch ist 195

Gutzkow: Vorrede, S. 162. Gutzkows Urteil nimmt sich ungleich differenzierter aus als etwa die Verdammungen der Lucinde als »Mißgeburt« (Körner: Neues vom Dichter der Lucinde, S. 10.) Die sich in dieser Polemik aussprechende Kritik Körners am Roman bezieht sich auf den autobiographischen Anteil, welcher scheinbar wenig zu den sonstigen abstrakten Schriften Schlegels passt. So betont Körner auch, als Ehrenrettung der Lucinde und insbesondere als Ehrenrettung des von ihm geschätzten geistigen Schlegels, dass »die eigentliche ›Lucinde‹ als eine philosophisch-poetische, nicht als eine autobiographisch-psychologische Arbeit gedacht« war (Körner: Neues vom Dichter der Lucinde, S. 10). Körner weist, philologisch geschult, nach, dass die Lehrjahre der Männlichkeit, das konventionell episch gehaltene Kernstück des Romans, Bestandteil eines älteren Romanplans

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genauso sehr Buch im materiellen Sinne, wie Programm eines ungeschriebenen. Das Buch Lucinde »erschwert nicht nur den Zugang, sondern erzwingt damit ein spezifisches Rezeptionsverhalten«196 . Das Buch Lucinde rekonstituiert sich gerade in der Öffnung der Lektüre als geschlossenes Bild (als Arabeske) wie auch als geschlossenes, privates Gespräch zwischen Liebenden. In dieser doppelten Erhaltung der Schließung liegt die zuletzt angestrebte Symmetrie zwischen Schrift und Nichtschrift – oder zwischen Poesie und Religion – begründet, die das Buch zur Bibel transformieren soll. »Die Lucinde ist der einzige positive Versuch der Brüder, das Leben selbst in die künstlerische Bewegung hineinzuziehen,«197 diagnostiziert schon Karl Gutzkow. Das Leben, das hier in den Roman hineingezogen werden soll, besteht für viele der zeitgenössischen und heutigen Interpreten in der Beziehung zwischen Mann und Frau und einem neuartigen, romantischen Konzept von Ehe.198 Diese Lesart wird in ihrer Relevanz nicht von der Hand gewiesen, sondern viel eher bestätigt, aber darüber hinaus als Ausweis einer umfassenden Vision der Symmetrie betrachtet, die das Buch umzusetzen versucht. Die Beziehung zwischen Mann und Frau und das romantische Konzept der Ehe sind dabei nicht primär Thema des Romans, sondern dessen (im Sinne der Bildhauerei materiell gedachter) Stoff, welcher eine Symmetrie nicht nur innerhalb des Romans selbst, sondern auch zwischen Schrift und Nichtschrift, Buch und Rezipient, garantiert. Der Begriff und das damit verbundene Konzept der Arabeske steht im Zentrum des Bibelprojekts. Schlegels Beschäftigung mit der Religion als umfassender Sozialität, sowohl was das Individuum, als auch was die Gesellschaft betrifft, als »zentripetale und zentrifugale Kraft im menschlichen Geist« (KFSA II, S. 259, Fragment 31) ebenso wie die Beschäftigung der dem Plan der Religionsstiftung beigestellten Idee der Bibel als absoluter Buchförmigkeit führt ihn zum Orient. Die Idee der neuen Bibel und die Orientierung am Orient199 sind eng miteinander verbunden, wie aus der Aphorismengrupaus dem Jahre 1794 war. Dies ist gewiss nicht zu bestreiten, aber dennoch würde ich Körner nicht darin zustimmen, in dieser älteren Datierung der ›Lehrjahre‹ den Beleg für ihre Unangemessenheit im eigentlich geplanten Roman Lucinde zu sehen. Ich betrachte den Roman vielmehr als die versuchte Umsetzung einer umfassenden Symmetrie gerade von autobiographisch-psychologischen und philosophisch-poetischen Arbeiten, von persönlichem Leben und abstraktem Theoretisieren, von Philosophie und Literatur also, oder auch von Form und Stoff. 196 Junges: Oszillation als Strategie romantischer Literatur, S. XVII. 197 Gutzkow: Vorrede, S. 164. 198 Vgl. zu einer solchen Interpretation der Lucinde etwa Eichner: Einleitung. Dichtungen, bes. XVIIXXXV. Siehe auch Hoche: Utopische Liebesentwürfe der Moderne. Hoche spiegelt die Schlegelsche Technik der Verschränkung von Form und Inhalt, insofern sie die parallelen Liebesentwürfe als Medium einer narratologischen Analyse nutzt. Eine soziokulturelle Studie speziell zur Liebessemantik legt etwa Julia Bobsin vor, vgl. dies.: Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe. Bobsin geht hier insbesondere auf die divergierenden Einschätzungen der in der Lucinde dargestellten Liebesbeziehung als entweder konservativ oder progressiv ein und gelangt vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Diskurses und der Einbeziehung Luhmannscher Terminologie zur Codierung von Intimität zu einem sowohl-als-auch (vgl. insbes. S. 190). 199 Zu einer »postkolonialen Perspektive« auf die Aneignung der Arabeske aus der Sphäre der arabischen Kunst vgl. Dunker: Die Poetik der Arabeske (Zitat S. 137). Dunker konstatiert abschließend, diese Aneignungen könnten »als Katalysatoren für Aufbrüche in etwas ganz Neues wirken« (S. 161).

4. Arabeske: Reden/Schweigen

pe der Ideen hervorgeht: »Die Ideen durchquert ein um die Chiffre ›Orient‹ gruppiertes Bildfeld, das der intensivierenden Legitimation der ›neuen Religion‹ dient.«200 Das Interesse an der Arabeske steht insofern im Kontext von Schlegels Interesse am Orient und seiner »Fixierung auf organologische Modelle und, vor allem, einen einheitlichen Urzustand«201 . Die Imagination eines einheitlichen Urzustands bildet den Kern des mit der ›neuen Mythologie‹ verbundenen Programms202 . Die Rede über die Mythologie beginnt mit einer Reihe von Fragen: Soll die Kraft der Begeisterung auch in der Poesie sich immerfort einzeln versplittern und wenn sie sich müde gekämpft hat gegen das widrige Element, endlich einsam verstummen? Soll das höchste Heilige immer namenlos und formlos bleiben, im Dunkeln dem Zufall überlassen? Ist die Liebe wirklich unüberwindlich, und gibt es wohl eine Kunst, die den Namen verdiente, wenn diese nicht die Gewalt hat, den Geist der Liebe durch ihr Zauberwort zu fesseln, daß er ihr folge und auf ihr Geheiß und nach ihrer notwendigen Willkür die schönen Bildungen beseelen muß? (KFSA II, S. 311-312) Die Forderung an die Kunst ist hier denkbar hoch gespannt. Diese verdient den Namen nicht, wenn sie nicht das ›höchste Heilige‹, welches gleich darauf mit der Liebe assoziiert wird, darstellen kann. Das zentrale Problem für die Poesie ist die Zersplitterung, die als einsames Verstummen charakterisiert wird. Der zeitgenössischen Literatur fehlt es, so Ludovico, »an einem mütterlichen Boden, einem Himmel, einer lebendigen Luft« (KFSA II, S. 312). Der Grund für dieses Fehlen ist laut Ludoviko ein historischer, denn er ist in der Differenz zwischen der Antike und der Moderne zu suchen: »Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie.« (KFSA II, S. 312) Die Differenz zwischen antiker und moderner Dichtung, Literatur, ist nicht erst seit dem Aufsatz über Das Studium der griechischen Poesie ein zentrales Thema für Friedrich Schlegel. Hier wird diese Differenz auf einen Nenner gebracht, den der fehlenden Mythologie. Von hier aus wird bereits deutlich, welche Relevanz die idealistische Forderung nach einer ›neuen Mythologie‹ auch für Schlegels Versuch der Begründung einer modernen Poesie zukommt. Der apodiktisch wirkenden Diagnose der fehlenden Mythologie wird ebenjene ›neue Mythologie‹ optimistisch entgegengesetzt: »Wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.« (KFSA II, S. 312) Bei der Rede über die Mythologie handelt es sich also um die Vision einer ›neuen Mythologie‹, die als noch nicht Verwirklichte, aber emphatisch Anrufbare gekennzeichnet ist, die der modernen Poesie als Literatur erst ihren inneren Zusammenhang verleihen kann. Anders als die alte Mythologie, welche sich »unmittelbar anschließend und anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt« (KFSA II, S. 312) darstellt, muss

200 Bosse: Zu Friedrich Schlegels Konzeptionalisierungen von ›Religion‹ und ›Orient‹, S. 229. 201 Ebd., S. 235. 202 Zur ›neuen Mythologie‹ als Programm vgl. auch Plumpe: Epochen moderner Literatur, S. 102: »Die Schlegel-Brüder haben dieses philosophische Totalitätsbegehren am entschiedensten zu einem literarischen Programm gemacht, das nicht ganz leicht zu beschreiben ist.«

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die neue Mythologie aus dem innersten Geiste entspringen und somit das »künstlichste aller Kunstwerke« (KFSA II, S. 312) sein. Mit dieser Formulierung ist nicht etwa eine Steigerungsformel gemeint, sondern vielmehr gleichzeitig ein mediales Verhältnis, insofern die neue Mythologie als Kunst alle anderen Kunstwerke in sich vereinigen kann: »[D]enn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt.« (KFSA II, S. 312) So entsteht ein alles umfassendes »mystische[s]« (KFSA II, S. 313) Gedicht, welches Ordnung und Chaos203 mittels der »Berührung der Liebe« (KFSA II, S. 313) zu einem »neuen, auf Komplexität abzielenden Ordnungsbegriff«204 verknüpft: das absolute Buch der Bücher, oder die Bibel. Insofern ist »die romant.[ische] Einheit […] nicht poetisch sondern mystisch; der Rom[an] ist ein mystisches Kunstwerk.« (KFSA XVI, S. 134, Fragment 584) Diese dem Roman als Bibel und als paradigmatisches Buch innewohnende Ordnung soll eben die Arabeske stiften, wie Ludoviko in Bezug auf die »absichtliche[...] Bildung« des Höchsten formuliert: Die Mythologie ist ein solches Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr innres Leben, ihre Methode, wenn ich so sagen darf. Da finde ich nun eine große Ähnlichkeit mit jenem großen Witz der romantischen Poesie, der nicht in einzelnen Einfällen, sondern in der Konstruktion des Ganzen sich zeigt, und den unser Freund uns schon so oft an den Werken des Cervantes und des Shakespeare entwickelt hat. Ja, diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir schon selbst eine indirekte Mythologie zu sein. Die Organisation ist dieselbe und gewiß ist die Arabeske die älteste und ursprüngliche Form der menschlichen Fantasie. Weder dieser Witz noch eine Mythologie können bestehn ohne ein erstes Ursprüngliches und Unnachahmliches, was schlechthin unauflöslich ist, was nach allen Umbildungen noch die alte Natur und Kraft durchschimmern läßt, wo der naive Tiefsinn den Schein des Verkehrten und Verrückten, oder des Einfältigen und Dummen durchschimmern läßt. Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft auszuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter. (KFSA II, S. 318-319) Die Arabeske wird hier, wie schon Polheim herausstellt205 , auf eine eigentümlich plötzliche Art in die Überlegungen zur Mythologie eingeführt, zu der sie – und auch nur vermittelt über den Zwischenbegriff des Witzes – eine Ähnlichkeit aufweist, die in der ›selben Organisation‹ besteht. Die Arabeske, so lässt sich diese Stelle deuten, verbindet jeweils das Ursprüngliche mit dem künstlich geordneten Kunstwerk, im Medium 203 Zur Begriffsgeschichte von ›Chaos‹ vgl. auch Theisen: Chaos-Ordnung. 204 Theisen: Chaos, S. 26. 205 Vgl. Polheim: Die Arabeske, S. 127-133. Polheim widmet der Stelle eine ausführliche und äußerst aufschlussreiche Auslegung.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

der Schrift als Witz und Konstruktion, im Medium des Sozialen als Organisation. Sie lässt in den Kunstwerken die ›alte Natur und Kraft‹ durchschimmern und verkörpert so die ›reizende Symmetrie von Widersprüchen‹. Die Arabeske bringt das empirische Buch mit einem absoluten Ur-Buch in Berührung (dafür steht die ›Konstruktion‹ ein) und gleichzeitig den empirischen Menschen mit einem absoluten Ur-Menschen (apostrophiert durch den Begriff der ›Organisation‹). Zwei Begriffe, die für die Rekonstruktion der frühromantischen Lektüretechnik schon wichtig waren, werden hier wieder aufgerufen und im Sinne von Behlers ›differentieller Einheit‹ als Beschreibung eines Verfahrens des ›inneren Lebens‹, welches in einer »fortgesetzten und sich fortsetzenden Progression von Variationen«206 besteht, miteinander verschaltet. Wie oben schon diskutiert (vgl. Kap. 4.1.4) rufen die Begriffe der Konstruktion und Organisation den Gegensatz von aktiv und passiv auf. Das, was in Über Goethes Meister noch in der tautologischen Formulierung des ›organisierten und organisierenden‹ Werks auftrat, ist hier entfaltet. Es geht hier nicht mehr um die Beschreibung eines einzelnen Buchs, sondern vielmehr um die Reflexion der sowohl medial wie sozial verlaufenden Vermittlung von Öffnung und Schließung in Form des ›absoluten‹, dynamischen Buchs. Die Arabeske verbindet beide Begriffslogiken: die in den Gegenstand projizierten symmetrischen Gegensätzlichkeiten wie Individualität und Universalität sowie die prozessualen Einheitsbegriffe Kunst, Konstruktion oder Magie, die immer asymmetrisch, da notwendig abstrakt und selbstbezüglich sind. Die Arabeske erhält in der Rede über die Mythologie eine schillernde Stellung zwischen (symmetrischer) Konkretion und (asymmetrischer) Abstraktion. Als Organon der ›neuen Mythologie‹ steht sie in Beziehung zu einem doppelt unerreichbaren, da in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegenden Unendlichen, das allerdings als positives ›Höchstes‹ »den Bestand und die Verfassung einer Gesellschaft […] zu beglaubigen«207 hat. Die neue Mythologie bezeichnet die »naturmystische[...] Integration jedes Individuums in den umgreifenden harmonischen Organisationsprozeß«208 , die für die moderne Gesellschaft nicht mehr und noch nicht zu realisieren ist. Diese Integration wird einerseits als Grundlage, andererseits als Ziel einer ›wahren‹ Kunst begriffen, die »mit dem Anspruch auf Allgemeinheit und Verbindlichkeit«209 rechnen kann.210 Gleichzeitig ist die Arabeske historisch als Organon naturwüchsiger Ordnung zu verstehen, die in der Moderne wiederholt wird. Das verloren Gegangene kann in ihr wieder in die Literatur eingefügt werden, insofern sie etwa in der bildenden Kunst als reine Erscheinung vor Augen steht. Sie lässt sich so nicht nur als zentraler Begriff, sondern vielmehr als Zentralfigur der romantischen Poesie

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Theisen: Chaos, S. 25. Frank: Der kommende Gott, S. 11. Brauers: Perspektiven des Unendlichen, S. 179. Frank: Der kommende Gott, S. 207. Hier lässt sich also bereits die zyklische Methode erkennen, die allerdings nur implizit performativ wirksam ist. Die Beschwörung einer ›neuen Mythologie‹ erschafft diese, als Legitimation des eigenen Sprechens, indem sie sie anruft. So performiert sie rekursiv die Konfirmation einer Setzung, vgl. dazu auch Barth: Der progressiv-zyklische Selbsterweis frühromantischer Poetologie, S. 78: »Die ganze Mythologie-Rede ist ein Hysteroproteron. Das, was sie als ausgemacht voraussetzt, wird in Wahrheit erst durch ihre Implikate begründet.«

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und des Schlegelschen Romans betrachten. Die Arabeske versinnbildlicht die analog zum Buch als Objekt und Medium funktionierende Doppelcodierung des schriftlichen Zeichens als referierendes und gleichzeitig materiell vorhandenes.211 An ihr richten sich andere wichtige Begriffe aus, etwa das Konzept des Chaotischen: »χα [Chaos] = Arab[eske]« notiert Schlegel und ergänzt: »Alle roman.[tische] π [Poesie] = χα [Chaos].« (KFSA XVI, S. 316, Fragment 746)212 Die Arabeske als Figur ist insofern mit dem Chaos gleichzusetzen, als sie dessen Wahrnehmbarkeit in der Symmetrie gewährleistet, das Chaos symmetrisch organisiert und so den Roman nicht nur zu einem willkürlich konstruierten, sondern auch zu einem natürlich-organischen macht. Die früheste greifbare Belegstelle für den Begriff ›arabesk‹ bei Friedrich Schlegel findet sich im Jahr 1797 im Notizheft Fragmente zu Litteratur und Poesie I, am Rande als Nota213 : »« (KFSA XVI, S. 119, Fragment 409)214 Hier wird die Bezeichnung des Arabesken als Adjektiv für den Witz verwendet, der im Roman Lucinde eine besondere, gar personifizierte, Rolle spielt. Die in der Lucinde sowohl begrifflich wie auch performativ wichtigen Elemente Liebe und Witz lassen sich als Übersetzungen der im Buch begrifflich nicht präsenten215 Arabeske fassen. Die begriffliche Abwesenheit der Arabeske ermöglicht die Belebung derselben »zu einem Bild […], das aus ihr hervorgeht«216 , und dieses Bild ist in der geschilderten Liebesbeziehung zu suchen, die im Buch nicht nur dargestellt, sondern auch formal – eben als Arabeske – repräsentiert wird. Die strukturelle Wirksamkeit der Arabeske als tatsächlich bildliches Ernstnehmen der formalen Qualitäten der Schrift löst das Programm ein, welches von Friedrich Schlegel in der Geschichte der europäischen Literatur in Bezug auf das »Romantische des Stils« (KFSA XI, S. 160) formuliert wird: »In keiner anderen Prosa ist die Stellung der Worte so ganz Symmetrie und Musik, keine andere betrachtet die Verschiedenheiten des Stils so ganz wie Massen von Farbe und Licht.« (KFSA XI, S. 160) Die Worte werden nicht in Bezug auf ihren Inhalt wahrgenommen, sondern tatsächlich in Bezug auf die sich in ihnen entfaltende Symmetrie von Form und Stoff, die sich nur auf der Buchseite zeigen kann.217 Die Arabeske bildet den Kern des in der Lucinde präsenten Lektüreprogramms – nämlich die Erforderung der Mitbeobachtung der Buchform in der Lektüre. Dieses ist allerdings im Falle Schlegels paradox formiert: Dem schriftlichen Buch steht immer 211 212

Vgl. dazu etwa auch Roland Barthes: Der Geist des Buchstabens. Siehe auch: »Das Wesentliche im Roman ist die chaotische Form – Arabeske, Mährchen.« (KFSA XVI, S. 276, Fragment 274) 213 Vgl. Polheim: Studien zu Friedrich Schlegels poetischen Begriffen, S. 285-286. 214 Eine ausführliche Auslegung der Stelle bietet wiederum Polheim: Die Arabeske, S. 57-58. 215 Polheim: Repertorium F. Schlegelscher Begriffe zur Lucinde, S. 131-211. 216 Behnke: Romantische Arabesken, S. 113. 217 Damit ist auch klar, dass sich die Aufmerksamkeit für die Materialität allerhöchstens auf die Zweidimensionalität der Buchseite, und gerade nicht auf das Format des Buchs selbst richtet (vgl. die Kritik bei Spoerhase: Linie, Fläche, Raum sowie Spoerhase: Das Format der Literatur). Die tatsächliche Dreidimensionalität des Buchs kann nicht berücksichtigt werden, da dieses ja gerade nicht als Objekt, sondern als Kommunikationsmedium und damit als Rahmen für ein unendliches Gespräch angesehen wird.

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eine unendliche Menge an ausgeschlossenen anderen Möglichkeiten der Verschriftlichung gegenüber, die sich in ihm ›ahndungsweise‹ – rein medial – manifestieren, aber nicht verwirklicht werden können. Die Arabeske ist in ihrer Nähe zur Schrift insofern allegorisch und asymmetrisch konzipiert, als ihr die Asymmetrie zwischen der eigenen Geschlossenheit und der unendlichen Menge an anderen Möglichkeiten eingeschrieben ist.218 Allerdings eignet der Arabeske in ihrer Bildlichkeit die Symmetrie. Der ubiquitären Relativität des geschlossenen Buchs wird eine spezifische Form der symmetrischen Lektüre gegenübergestellt, welche die unendliche Menge an Möglichkeiten auf kontrollierte Weise in das Buch integriert. Die angestrebte Symmetrie ist eine Strategie der Verabsolutierung des Buchs gerade in der Lektüre. Die Arabeske steht also ein als Figuration einer Symmetrie der Gegensätze, wie sie an Wilhem Meister bereits beobachtet wurde und wie sie jetzt in der Lucinde selbst umgesetzt werden soll. Dabei wird das Verhältnis, welches zwischen der performativen Lektüre eines Goethe-Romans, seiner kritischen und gleichzeitig sistierenden Nachkonstruktion als geschlossenes Buch in Schlegels Über Goethes Meister und schließlich der Arbeit an einem eigenen Buch besteht, selbst in das Konzept der Arabeske eingetragen. Die Arabeske steht also nicht nur für die Symmetrie von Gegensätzen wie Prosa/Poesie oder Individualität/Universalität, sondern sie bezeichnet auch die Symmetrie von Lektüre und Buch, wie aus den Epitexten erkennbar. Die arabeske Schreibweise erwächst aus dem ›mütterlichen Boden‹, also aus der Lektüre von Büchern und insofern ist sie »φλ [philologische] π [Poesie]« (KFSA XVI, S. 278, Fragment 294). Insofern bildet die Arabeske die im Roman in den Lehrjahren der Männlichkeit einmal angesprochene ›Mitte‹: Wie seine Kunst sich vollendete und ihm von selbst in ihr gelang, was er zuvor durch kein Streben und Arbeiten erringen konnte: so ward ihm auch sein Leben zum Kunstwerk, ohne daß er eigentlich wahrnahm, wie es geschah. Es ward Licht in seinem Innern, er sah und übersah alle Massen seines Lebens und den Gliederbau des Ganzen klar und richtig, weil er in der Mitte stand. Er fühlte, daß er diese Einheit nie verlieren könne, das Rätsel seines Daseins war gelöst, er hatte das Wort gefunden, und alles schien ihm dazu vorherbestimmt und von den frühsten Zeiten darauf angelegt, daß er es in der Liebe finden sollte, zu der er sich aus jugendlichem Unverstand ganz ungeschickt geglaubt hatte. (KFSA V, S. 57) Die Arabeske verwandelt das Leben in ein Kunstwerk und füllt gleichzeitig das Kunstwerk mit Leben. Insofern ist sie nicht nur das Licht im Inneren des Protagonisten, son218

Vgl. Frank: Allegorie, Witz, Fragment, Ironie, S. 132. Für Frank ist die Allegorie »ein künstlerisches Verfahren, welches das endlich Dargestellte als das nicht Gemeinte auslöscht und so den Blick auf das lenkt, was von dieser einzelnen Synthesis nicht erfaßt war.« Die Allegorie ist also notwendig asymmetrisch. Demgegenüber ist der Witz »das Gegenstück zur Allegorie im Bereich des Wirklichen selbst: punktuelles Aufblitzen der Einheit von Einheit und Unendlichkeit im Endlichen.« Diese Gegenüberstellung ignoriert etwa Emanuel Peter, wenn er gegen Manfred Frank die »Duplizität des Eros als körperliches und geistiges Zeugungsprinzip« im Sinne einer »gleichzeitigen Revolutionierung der Konventionen auf moralischer und ästhetischer Ebene« feiert. (Vgl. Peter: Geselligkeiten, S. 308.) Dies hätte Frank bestimmt nicht bestritten, steht der Roman doch auf dieser Ebene im Zeichen des Witzes und nicht der Allegorie.

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dern gleichzeitig auch das Licht des Romans.219 Der gesamte Roman, das Buch selbst ist die Arabeske, wie Schlegel später als Epitext notiert220 : »Der Grund der Luc[inde] ist [absolute Lyrik] + Rom[antisches] χα [Chaos]. Lu[cinde] = Naturarabeske. Luc.[inde] 0 ein Gedicht aus dem Nichts.« (KFSA XVI, S. 247, Fragment 182) Die Arabeske befindet sich also nicht auf der expliziten Ebene des Romans selbst, sondern vielmehr (als Rahmen) an seinen Rändern und gleichzeitig unsichtbar im Zentrum des Romans, in seiner Organisation oder eben Konstruktion. Über die außergewöhnliche Ordnungsstruktur des Romans hat sich die Forschung bereits ausführlich geäußert, sodass ich hier nur die wesentlichen arabesken Merkmale noch einmal herausstelle. Das auffälligste Merkmal des Aufbaus ist die Zentrierung der einzelnen Abschnitte um den Kern, die Lehrjahre der Männlichkeit. Darüber hinaus gibt es weitere kleinere Keime, die jeweils eine symmetrische Spiegelachse bilden. So verhält sich dies beispielsweise mit dem Kapitel Eine Reflexion, welches umrahmt wird von zwei doppelten Briefen, die beide auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Thema von Schrift und Schriftlichkeit befasst sind. In den Briefen an Lucinde geschieht dies eher entlang der Unterscheidung von Leben und Tod, insofern zunächst das Leben und seine inhaltliche Ausgestaltung so stark in den Vordergrund rückt, dass es das Schreiben verdrängt (durch die Ankündigung der Geburt des gemeinsamen Kindes von Julius und Lucinde) und anschließend komplementär dazu Lucindes Tod als Ursprung alles Schreibens imaginiert wird. In den auf die Reflexion folgenden Briefen an Antonio wiederum wird die Unterscheidung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit thematisiert, welche sich an die Darstellung unterschiedlicher Freundschaften koppelt.221 Insgesamt lässt sich so nicht von einer handlungsbezogenen Aneinanderreihung der verschiedenen Romanteile sprechen, sondern vielmehr, wie Eichner es formuliert, von einer »›musikalische[n] Wiederaufnahme und Weiterführung von Themen«222 . Die Sphäre der Musik erweist sich hier bereits als zentrales metaphorisches Mittel, um der Linearität der Schrift etwas vermeintlich Anderes entgegenzusetzen und damit die Schrift symmetrisch mit der Nichtschrift zu koppeln. Auch metaphorisch ist die Arabeske im expliziten Text des Romans präsent, und zwar in der Fülle an Blumenbildern, die sich auf die Gestaltung des Romans beziehen. Ganz deutlich erkennt man dies im Prolog, in dem sich bereits die arabeske Ausarbeitung des Romans ankündigt: »Hebt eine herrliche Pflanze aus 219

Die metaphorische Indienstnahme des Lichts – genau wie der Begriff des Äthers, der ebenfalls in der Lucinde sowie in der Transcendentalphilosophie fällt – verweist bereits auf die Diskussion des Medienbegriffs um 1800. Diese wird aber vorwiegend nicht von Schlegel selbst, sondern insbesondere von Novalis und Herder geführt. Zu den zwischen dem frühromantischen und dem Benjaminschen Medienbegriff stattfindenden Verschiebungen vgl. insbes. Kap. 5.2. Darüber hinaus bereitet die Lichtmetaphorik die auch visuell genießbare Ästhetik der Druckschrift als »Massen von Farbe und Licht« (KFSA XI, S. 160) vor. 220 In Bezug auf die Strategie der Immunisierung eignet den Epitexten Schlegels insofern ein ambivalentes Verhältnis zum Werk. Einerseits praktizieren sie genau das, was ausgeschlossen werden soll, nämlich eine kritisierende Lektüre, andererseits versuchen sie in der Zuschreibung als Arabeske die immunisierende Symmetrie zu verdoppeln und somit zu erhalten. 221 Eichner mag hier keine ausreichende Verknüpfung erkennen. So kommt er zu dem Schluss, hier scheine »wirklich ein Abschnitt vorzuliegen, den Schlegel nur aus Verlegenheit in sein Werk aufgenommen hat.« Siehe Eichner: Einleitung. Dichtungen, S. XLIV. 222 Eichner: Einleitung. Dichtungen, S. XL.

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dem fruchtbaren mütterlichen Boden, und es wird sich manches liebevoll daran hängen, was nur einem Kargen überflüssig scheinen kann.« (KFSA V, [S. 3])223 In der Tat ist die Pflanzenmetaphorik so präsent, dass sie auch noch für die Forschungslektüren der Lucinde ihre Geltung behaupten kann. So schreibt etwa Josef Körner anlässlich der gefundenen Notizen aus Schlegels Notizbüchern: »In ihnen kann man das allmähliche Werden, Wandeln, Wuchern und Welken des nahezu zwei Jahrzehnte lang festgehaltenen, je länger je mehr ins Grenzenlose, ins Unbetretene, Niezubetretende sich verlierenden Planes verfolgen.«224 Das Blumenbild rahmt das Buch insofern, als auch das letzte Stück, die Tändeleyen der Fantasie eine reiche Blumenmetaphorik entwerfen und mit folgenden Sätzen schließen: »Immer schöner umgiebt sie dieser Zauberkreis. Sie kann ihn nie verlassen und was sie bildet oder spricht, lautet wie eine wunderbare Romanze von den schönen Geheimnissen der kindlichen Götterwelt, begleitet von einer bezaubernden Musik der Gefühle und geschmückt mit den bedeutendsten Blüthen des lieblichen Lebens.« (KFSA V, S. 82) Neben den Blumenbildern findet sich außerdem das Bild der Welle, welches an die Diskussion um die Schönheitslinie und somit an ein zentrales formästhetisches Paradigma des ausgehenden 18. Jahrhundert erinnert.225

223 In der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe beginnt die Paginierung für die Lucinde erst auf S. 7, also nach dem Titelblatt der Bekenntnisse eines Ungeschickten. 224 Körner: Neues vom Dichter der Lucinde, S. 8. 225 Bei der Schönheitslinie handelt es sich um das graphische Symbol für die Formästhetik des 18. Jahrhunderts schlechthin. »The Line of Beauty and Grace«, wie William Hogarth die geschwungene Linie in seinem Text The Analysis of Beauty (1751) nennt, stammt nicht ursprünglich von Hogarth selbst, sondern stellt vielmehr eine Übernahme barocker Formvorstellungen, etwa des Michelangelo-Schülers Lomazzo dar (vgl. Bexte: Nachwort, S. 212-228). Neu ist aber, dass Hogarth sie zum Kernstück einer analytischen Beschäftigung mit der Schönheit, also einer ästhetischen Theorie macht. Von hier aus entfaltet die Schönheitslinie große Wirksamkeit auch für die deutschsprachigen Ästhetikdebatten, wie sich am Briefwechsel zwischen Schiller und Körner beispielhaft beobachten lässt. So schreibt etwa Körner in seinem Antwortbrief auf Schillers Erörterungen zur Kantischen Unterscheidung in pulchritudo vaga und fixa: »Ohne überwundenen Widerstand der einzelnen Elemente gibt es keine Anschauung der Realität eines Ganzen. Bei einer Bewegung in grader Linie ist kein Widerstand. Die wellenförmige Linie hat eine herrschende Richtung, aber mit der Spur überwundener entgegengesetzter Richtungen verbunden. Der Stoff eines Gedankens scheint jeder Verbindung zu widerstreben oder eine andere Zusammensetzung zu fodern; aber die Denkkraft überwältigt ihn.« (Körner an Schiller, Dresden den 4. Febr. 93, in: Kallias oder über die Schönheit, S. 9) Die zentrale Relevanz der Wellenlinie liegt also in der Überwindung des Stoffs durch die Form. Hierin liegt ihre Schönheit, nicht etwa in der Harmonie oder Gleichmäßigkeit ihrer Gestaltung und äußeren Erscheinung. Auch die Schönheitslinie bereitet so schon den abstrakten, prozessualen Formbegriff vor. Erst auf der Ebene zweiter Ordnung, auf der nicht nur die Form im Gegensatz zur Materie bzw. als äußerer Rand der Materie oder des Stoffes betrachtet wird, sondern die Form gleichsam im Moment ihrer möglichen Auflösung betrachtet und als »kaum errungener Sieg mit Gefahr überwältigt zu werden« genossen werden kann, kann Schönheit beobachtet werden (vgl. Körner an Schiller, Dresden den 4. Febr. 93, in: Kallias oder über die Schönheit, S. 9.) Schiller greift das Beispiel der Hogarthschen Schönheitslinie in einem späteren Brief, welcher eher einer umfassenden Abhandlung nahekommt, auf. Auch er betrachtet die Form als Siegerin über die ihr entgegenwirkenden, auseinanderstrebenden Kräfte der einzelnen Elemente. Beobachtbar wird an der Schönheitslinie also nicht Form als Ergebnis, als Entgegensetzung zum Stoff, sondern vielmehr als Prozess – hier als kämpferische Auseinandersetzung, als Anstren-

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Ich saß, da ich so in mir sprach, wie ein nachdenkliches Mädchen in einer gedankenlosen Romanze am Bach, sah den fliehenden Wellen nach. Aber die Wellen flohen und flossen so gelassen, ruhig und sentimental, als sollte sich ein Narcissus in der klaren Fläche bespiegeln und sich in schönem Egoismus berauschen. Auch mich hätten sie locken können, mich immer tiefer in die innere Perspektive meines Geistes zu verlieren […] Dankbar nahm ich das wahr und beschloß, was das hohe Glück mir diesmal gegeben, auch künftig durch eigne Erfindsamkeit für uns beide zu wiederholen und Dir dieses Gedicht der Wahrheit zu beginnen. (KFSA V, S. 25-26) In dieser Verknüpfung von introspektiver Beobachtungsszene – das müßige Betrachten der Wellen – und Schreibsituation zeigt sich die Verschaltung von (Selbst)Lektüre, die hier als stille Kontemplation gezeichnet ist, mit der Entäußerung von Schrift im Buch. Das formästhetische Paradigma der Welle226 wird hier gerade als Gefahr der Einseitigkeit und damit reinen Selbstbezüglichkeit dargestellt, dem über Entäußerung und die Suche nach ›Wahrheit‹ entgegengewirkt werden muss. Die ›klare Fläche‹ lädt ein zur Selbstbespiegelung und zu schönem Egoismus, zum Selbstverlust im Inneren. Glücklicherweise ist jedoch die Natur des sprechenden Ich, Julius, so ›praktisch‹, dass Julius nicht über sich, sondern über die Liebe als ›Möglichkeit einer dauernden Umarmung‹ nachdenkt. Den Gegenpol zur Selbstbespiegelung in der Form der Welle bildet die radikale Präsenz in der Liebe. Beides, die reflektive Verlorenheit im Ich und die ›naive‹227 Verlorenheit in der reinen Präsenz lässt sich schließlich vereinen in der »zarte[n] Musik der Fantasie«, welche »die Lücken der Sehnsucht auszufüllen« (KFSA V, S. 26) vermag und soviel Distanz ermöglicht, dass nun das Dichten ansetzen kann. Hier wird schon deutlich, dass es sich bei der Lucinde gerade nicht um eine Betonung der reinen Form im

gung, dem »Chaos der Elemente« Form zu verleihen. (Vgl. Schiller an Körner, Jena den 23. Febr. 93, in: Kallias oder über die Schönheit, S. 53) 226 Zur Diskussion auch des Begriffs der Arabeske als formtheoretischem Paradigma im Anschluss an Kants Definition der freien Schönheit, unter der er insbesondere ›Zeichnungen à la grecque‹ versteht vgl. Oesterle: Von der Peripherie ins Zentrum, S. 31-33. 227 Immer wieder wird der Roman Lucinde von Schlegel so auch im Register des Naiven beschrieben, welches überdies als das weibliche Prinzip gekennzeichnet wird. So bilden etwa die Begriffe naiv und grotesk zunächst einen Gegensatz, nur um anschließend ineinander übergeleitet zu werden, vgl. dazu auch Polheim: Die Arabeske, S. 150, Anm. 19. Siehe insgesamt zum in der Auseinandersetzung mit Schiller gewonnenen Gegensatzpaar des Naiven und Sentimentalischen die Kölner Vorlesung von 1807. Hier sagt Schlegel: »Man hat in der Einteilung der Dichtungsarten nach dem Ton das Sentimentale dem Naiven entgegensetzen wollen. Dies ist aber durchaus falsch, denn das Sentimentale, das Elegische, überhaupt das Gedicht des Gefühls, hat nur dann, wenn es ganz Gefühl, nichts als Gefühl, ganz rein und frisch vom Herzen und aus der Quelle kommt, ohne alle Affektation, Nachahmung und willkürliche Überspannung ist, Wert, und in diesem Sinn kann man es auch naiv nennen, da naiv das bezeichnet, was wir unter unverdorben, rein, ganz mit aller Affektation unbekannt, noch ganz in Unschuld, verstehen; also das Sentimentale, sobald es nicht naiv, gar nicht zur Poesie zu rechnen, nicht poetisch. Naiv kann aber nicht wie allerdings das Elegische eine eigene Gattung bezeichnen. Es kann in der Poesie gar keinen Gegensatz bilden, noch einen Gegensatz für sich finden. Hingegen führt uns die Regel des Gegensatzes durchaus auf das Fantastische.« (KSA XV, S. 33) Hier wird also deutlich, dass das Naive für Schlegel außerhalb der Literatur steht und erst die Synthese aus der Wollust, der reinen Körperlichkeit und der Form der Welle den Eingang in die Literatur, als Fantasie, ermöglicht.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Sinne der Schönheitslinie handelt, sondern vielmehr um den radikalen Versuch, Form und Stoff auf allen Ebenen symmetrisch zu gestalten. Symbolisch geht damit einher die Verwandlung der beobachteten Welle in das ›wundersame Gewächs‹, das sich von selbst entfaltet, aber dennoch willkürlich entstanden ist: »Das Wesentliche ist das Denken und Dichten, und das ist nur durch Passivität möglich. Freilich ist es eine absichtliche, willkürliche, einseitige, aber doch Passivität.« (KFSA V, S. 27) Für diese Gleichzeitigkeit von Passivität und Aktivität wählt Julius nun wiederum die Pflanze als Symbol: »Um alles in eins zu fassen: je göttlicher ein Mensch oder ein Werk des Menschen ist, je ähnlicher werden sie der Pflanze.« (KFSA V, S. 27) Die Arabeske stellt also in ihrer imaginären Dimension, im Bild der symmetrisch aufgebauten Pflanze, einen Gegenentwurf zum mit dem Wellenbild verknüpften, linearen Ornament dar. Letzteres verkörpert in seiner abstrakten Linearität die asymmetrische Selbstbezüglichkeit der Form, die sich allen Stoffs entledigt hat. Diese reine Form wird in der Traumerzählung Juliusʼ als Abweg der Verinnerlichung und Vereinzelung präsentiert. Die Arabeske steht als explizites Gegenmodell für die Symmetrie von Form und Stoff sowie von Lektüre und Buchförmigkeit. In ihrer Verbindung zur ›neuen Mythologie‹ und damit zur Religion steht sie außerdem für die soziale Dimension von Literatur, welche einer Verinnerlichung und Vereinzelung entgegenwirken soll. Die Charakterisierung des Romans als Arabeske spiegelt sich auch in der neuen Wahl der Vorbilder. War zunächst Goethe und sein Wilhelm Meister das bevorzugte Lektüreobjekt, gilt als poetisches Vorbild nun unter anderem Miguel de Cervantes. Cervantes steht bei Schlegel ein für einen Stil, der »ebenso reich, so künstlich verschlungen wie die Komposition des Ganzen es im großen ist« (KFSA XI, S. 160) – also für die Poetik der Arabeske als Zentralfigur des romantischen, prosaischen Stils228 . Dies reflektiert Schlegel ausdrücklich in den Überlegungen zu seinem Roman: »Für d[ie] Arabesken ist Cerv[antes] was Goethe für das Studium.« (KFSA XVI, S. 269, Fragment 182) Die Lucinde stellt also nicht einfach nur eine Neuschöpfung oder Wiederholung des Wilhelm Meister dar, sondern verhält sich in der Anlage auch gegensätzlich zu Goethes Roman. So formuliert Schlegel entschieden: »« (KFSA XVI, S. 350, Fragment 72) Hier wird der Gegensatz anhand der implizit präsenten Gegensatzpaare von Leben und Tod, sowie Ernst und Scherz deutlich gemacht. Dem Wilhelm Meister wird dabei Tod und Scherz zugewiesen, Schlegels eigenem Roman Lucinde Leben und Ernst. Als problematisch scheint also wieder einmal das Ende des Romans Wilhelm Meister, welches als Tod der Poesie zugunsten des (ökonomisch formierten) Lebens betrachtet wird. In Goethes Roman siegt also die Vernichtung der Poesie, der nichts Positives entgegengesetzt wird. Schlegel versteht daher seinen Roman Lucinde als ebenjene positive Entgegensetzung. Hier soll die Poesie ernsthaft zum Leben erweckt werden, als Symmetrie zwischen Form und Stoff, zwischen dem Leben und der Liebe und ihrer jeweiligen Verschriftlichung im Buch. Gerade auf der Seite des Gehalts229 greift Goethes Roman Wilhelm Meister für Schlegel ins Leere: »In G[oethe]‹s Meister ist nur d[ie] Form d[er] Bedeutsamkeit, aber keine wirkliche π [poetische] Bedeutung.« (KFSA XVI, S. 267, Fragment 159) Die Arabeske bildet als Konkretisierung der Symmetrie von Form und Stoff das Strukturprinzip des Romans. Sie ist gleichzeitig die unsichtbare Einheit von Organisation und Konstruktion. Im Sinne einer internen Rekonstruktion der Buchstruktur verwende ich hier den Begriff des Witzes, da er eine Brücke zwischen der Arabeske und dem Roman zu schlagen vermag, insofern er im Roman selbst in personifizierter Form anwesend ist. Die andere Seite der Anwesenheit der abwesenden Arabeske findet sich in der Anrufung, Thematisierung und Ausgestaltung der Liebe. Witz und Liebe230 sind daher die Zwischenglieder, die übersetzend zwischen Roman und Vision der Symmetrie als Arabeske vermitteln. Insofern der Witz eher den aktiven, die Liebe eher den passiven Anteil an der Romanstruktur zu bezeichnen vermag, ordne ich den Witz der (philosophisch-spekulativen) Konstruktion, die Liebe der (poetisch-natürlichen) Organisation zu. Wie es für die Unterscheidungen Schlegels typisch ist, lässt sich diese polare Zuordnung nicht dauerhaft aufrechterhalten. Sie zeigt sich vielmehr als nur vorläufige Trennung und Aufspaltung, die im Dienste einer Symmetrie der Gegensätze immer wieder chiastisch verschoben und überkreuzt wird.

4.2.2.

Konstruktion: Der Witz

In der oben ausgefalteten Situierung der Arabeske als Kernstück der ›neuen Mythologie‹ und damit als alle schriftlichen Diskurse, insbesondere Philosophie und Poesie, gleichermaßen umgreifende soziale Übercodierung wird dem Witz die Seite des Verstandes und der Künstlichkeit, ja Virtuosität zugewiesen. Der Witz ist so für Friedrich Schlegel insbesondere im Bereich der Philosophie eine zentrale Tugend. Im Athenäum äußert sich die Wertschätzung für den Witz mehr als deutlich: 229 Zum Verhältnis der jeweiligen Unterscheidungen Form/Stoff sowie Form/Gehalt vgl. auch Kap. 2.2 sowie Kap. 5.2.1. 230 Siehe zur Isomorphie von Liebe und Witz Polheim: Arabeske, S. 164-173, etwa S. 168: »Die beiden Reihen Sentimental und Fantastisch sind bis zu ihren Endpunkten Liebe und Witz verfolgt. Wenn auch, wie zu zeigen war, beide Reihen sich vermischen und ihre Begriffe, besonders Liebe und Fantasie, zu tauschen vermögen, so ist doch vor allem das Nebeneinander der Begriffe Liebe und Witz/Fantasie als der beiden Komponenten der romantischen Poesie wichtig und aufschlußreich.«

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Ist aller Witz Prinzip und Organ der Universalphilosophie und alle Philosophie nichts anderes als der Geist der Universalität, die Wissenschaft aller sich ewig mischenden und wieder trennenden Wissenschaften, eine logische Chemie: so ist der Wert und die Würde jenes absoluten, enthusiastischen, durch und durch materialen Witzes, worin Baco und Leibniz, die Häupter der scholastischen Prosa, jener einer der ersten, dieser einer der größten Virtuosen war, unendlich. Die wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen sind bonmots der Gattung. Das sind sie durch die überraschende Zufälligkeit ihrer Entstehung, durch das Kombinatorische des Gedankens, und durch das Barock des hingeworfenen Ausdrucks. (KFSA II, S. 200, Nr. 220) Der Witz ist gleichermaßen das Prinzip und das Organon der Universalphilosophie231 und insofern bereits doppelt, nämlich theoretisch-deskriptiv und praktisch-performativ, codiert: »Aller wahrhaft poetische Witz und dichterische Humor ist doch nur eine angewandte Fantasie« (KFSA II, S. 356), verkündet Lothario gegenüber seinen Freunden im Gespräch über die Poesie. Als Organon vollzieht sich in ihm das Philosophieren selbst performativ (und zwar für Buch und Lektüre gleichermaßen232 ), als Prinzip wird er reflektiertermaßen zum Leitbild des produktiven Philosophierens. Insofern bedient sich auch die Beschreibung des Witzes als Prinzip selbst schon seiner als Organon, insofern sie ihn als gegensätzlich charakterisiert. Auch der Witz, der als Bezeichnung die Symmetrie der Gegensätze anzeigen soll, ist in seiner eigenen Strukturiertheit als Begriff asymmetrisch, insofern er einen Prozessbegriff darstellt. Insofern bezeichnet der Witz das, so immer nur punktuelle, Erkenntnisvermögen des Individuellen und Universellen gleichermaßen: Dieses Kombinatorische ist es, was ich vorhin im Sinne hatte, und als wissenschaftlichen Witz bezeichnete. Er kann nicht entstehen ohne Universalität, denn nur wo eine Fülle verschiedenartiger Stoffe vereinigt ist, können neue chemische Verbindungen und Durchdringungen derselben vor sich gehen. Diese genialische Kraft aber ist es auch, was der Universalität erst ihren wahren Wert gibt. (KFSA 3, 83-84) Die Gabe des Witzes ist es auch, welche als »chaotische Synthesis«233 das Chaos zu beherrschen vermag, insofern sie in ihm Ordnung schaffen kann: »Im Witz bleibt der

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Schelling spricht dagegen von der Kunst als Organon der Philosophie, vgl. Schelling: System des transzendentalen Idealismus, S. 154. Für die Konzeption der neuen Mythologie bei Schlegel und Schelling ergibt sich hier ein Unterschied, insofern Schelling eine Vereinigung von Poesie und Philosophie fordert, die keinerlei Maßgaben für die Konstruktion oder Organisation des Kunstwerks selbst macht, sondern vielmehr die Betrachtung des Kunstwerks selbst als schon präsente Vereinigung des Endlichen und Unendlichen ansieht. Für Schlegel dagegen stehen die Fragen des Textverfahrens auch bei der ›neuen Mythologie‹ im Vordergrund. Diese gravierenden Unterschiede ignoriert Markus Enders, welcher annimmt, dass »sich beide Konzepte einer ›Neuen Mythologie‹ bis in ihre einzelnen Bestimmungen hinein gleichen« (Enders: Die Mythologie ist ein Kunstwerk der Natur, S. 82). 232 Vgl. Neumann: Ideenparadiese, S. 419: »›Witz‹ muss hier auf doppelte Weise verstanden werden: als Organ des Autors, der mit den zu ›definierenden‹ Begriffen experimentiert, als Organ des Lesers, der sich in dieses Denkspiel einführen läßt und sich ihm überläßt.« 233 Frank: Allegorie, Witz, Fragment, Ironie, S. 133.

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Geist der Fülle und dem Chaos überlegen und weiß in einem geistreichen Akt, erfindsam und weissagend, Verbindungslinien und Ähnlichkeiten zwischen den Elementen und Kraftäußerungen des zersplitterten Bewußtseins zu entdecken.«234 Diese Ordnung ist allerdings nie von systematischer, sondern immer von systematisch-chaotischer Natur, insofern sie als individuelle erkennbar bleibt. Der Witz konstruiert »eine Mannigfaltigkeit von partiellen Vereinigungen ohne systematisches Zentrum«235 . Insofern ist der Witz als »fragmentarische Genialität« (KFSA II, S. 148, Fragment 9) nicht nur im Bereich der Philosophie von höchster Relevanz, sondern bezeichnet auch die eigentliche Produktivkraft des Autors236 : »So verstanden ist der ›Witz‹ nicht weniger als das Vermögen des Autors, das sowohl Romaneinheit wie Romanfülle gewährleistet. Die ›Witzlehre‹ tritt als ursprünglich-poetisches Prinzip bei Schlegel durchaus an die Stelle der alten griechischen und römischen Mythologie.«237 Folgerichtig ist der Witz in der Lucinde in seiner doppelten Funktion zu finden: in der Operation und gleichzeitig als Mittel zur Beobachtung der eigenen Operation. Im fiktiven Dialog zwischen Julius und Lucinde, Treue und Scherz, der eine Apologie des »Scherz mit der Liebe und [der] Liebe zum Scherz« (KFSA V, S. 34) darstellt, erklärt Julius Lucinde »Es fragt sich ja gar nicht, warum man sie [die Zweideutigkeiten] sagen soll, sondern nur wie man sie sagen soll« (KFSA V, S. 34). Das Wie erweist sich hier und insgesamt als die Grundlage jedes gelungenen Witzes, nicht nur in der Kunst der Koketterie. Mit dem ›Wie‹ ist die Frage nach der »methodischen Verfahrensweise«238 des Witzes angesprochen, und diese soll – wie bereits mehrfach angesprochen – symmetrisch ausfallen: »Es gibt eine Art von Witz, den man wegen seiner Gediegenheit, Ausführlichkeit und Symmetrie den architektonischen nennen möchte.« (KFSA II, S. 236, Fragment 383) Diese Symmetrie bezieht sich nun nicht nur auf die Gestaltung des Texts selbst, sondern auch auf die soziale Dimension. So ist Witz »unbedingt geselliger Geist, oder fragmentarische Genialität« (KFSA II, S. 148, Fragment 9) oder auch »logische Geselligkeit« (KFSA II, S. 154, Fragment 56). Die dem Witz als Begriff inhärente Asymmetrie wird von einer Semantik der Freundschaft und Liebe verdeckt: »Manche witzigen Einfälle sind wie das überraschende Wiedersehen zwei befreundeter Gedanken nach einer langen Trennung.« (KFSA II, S. 171, Fragment 37) Hier bereits wird deutlich, dass Witz und Liebe oder Freundschaft in einem wechselseitigen allegorischen Verhältnis stehen, dass also Konstruktion und Organisation jeweils füreinander ›Letztgründe‹ und Legitimationen bilden, die das Defizit des jeweils anderen Pols, welches in der begrifflich inhärenten Asymmetrie besteht, ausgleichen sollen. Die soziale Dimension des Witzes wird in der Lucinde dadurch verstärkt, dass er selbst als Figur einer Gesellschaft seinen Auftritt hat und den träumenden Julius belehrt. So gibt der Witz in der Allegorie von der Frechheit Julius einen Rat:

234 Behler: Friedrich Schlegels Theorie der Universalpoesie, S. 218. 235 Frank: Allegorie, Witz, Fragment, Ironie, S. 134. 236 Der von Schlegel vorgenommene und hier nachgezeichnete Übertrag des Witzes von den Wissenschaften hin zur Kunst lässt sich auch in der Begriffsgeschichte selbst nachverfolgen. Eine kurze Darstellung der Begriffsgeschichte in Bezug auf den Witzbegriff bei Jean Paul findet sich bei Wiethölter: Witzige Illumination, S. 2-5. Zum Witzbegriff bei Schlegel vgl. außerdem Zovko: Witz, Ironie, S. 309-312. 237 Schanze: Friedrich Schlegels Theorie des Romans, S. 386-387. 238 Hotz-Steinmeyer: Schlegels Lucinde als Neue Mythologie, S. 58.

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»Du mußt das unsterbliche Feuer nicht rein und roh mitteilen wollen,« sprach die bekannte Stimme meines freundlichen Begleiters. »Bilde, erfinde, verwandle und erhalte die Welt und ihre ewigen Gestalten im steten Wechsel neuer Trennungen und Vermählungen. Verhülle und binde den Geist im Buchstaben. Der echte Buchstabe ist allmächtig und der eigentliche Zauberstab. Er ist es, mit dem die unwiderstehliche Willkür der hohen Zauberin Phantasie das erhabene Chaos der vollen Natur berührt und das unendliche Wort ans Licht ruft, welches ein Ebenbild und Spiegel des göttlichen Geistes ist und welches die Sterblichen Universum nennen.« (KFSA V, S. 20) Der Witz empfiehlt sich selbst als Methode. Er verweist dazu auf das ihm eigene Medium, die Schrift, bzw. den Buchstaben, welcher im Chaos der ›vollen Natur‹ das wahrnehmbare, also geordnete, Universum herstellen kann. Die Vision der umfassenden Symmetrie zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Organisation und Konstruktion, zwischen Gehalt und Form kann nur im Medium des (gedruckten) Buch(staben)s erfolgen. Gleichzeitig scheint der Witz jedoch auch das ausgezeichnete Medium für ein Gespräch zu sein. So heißt es über die Frau eines Freundes: Alles umgab sie mit Gefühl und mit Witz, sie hatte Sinn für alles, und alles kam veredelt aus ihrer bildenden Hand und von ihren süß redenden Lippen. […] Es war nicht möglich, Reden mit ihr zu halten; es wurden von selbst Gespräche und während dem steigenden Interesse spielte auf ihrem feinen Gesichte eine immer neue Musik von geistvollen Blicken und lieblichen Mienen. Diesselben glaubte man zu sehen, wie sie sich bei dieser oder bei jener Stelle veränderten, wenn man ihre Briefe las, so durchsichtig und seelenvoll schrieb sie, was sie als Gespräch gedacht hatte. (KFSA V, S. 48-49) Die paradox anmutende wechselseitige Konvergenz von Schrift und Gespräch, welche die wahre, nämlich geistreiche und nicht tote, Schrift und das wahre, nämlich unendliche, Gespräch aneinanderkoppelt, wird zentral im Witz figuriert. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichen lässt sich anhand des Abschnitts zur »kleinen Wilhelmine« (KFSA V, S. 17) verfolgen. So gibt der Erzähler in seiner Charakteristik die folgende Beschreibung von Wilhelmines Lieblingstätigkeiten: Die Blüten aller Dinge jeglicher Art flicht Poesie in einen leichten Kranz, und so nennt und reimt auch Wilhelmine Gegenden, Zeiten, Begebenheiten, Personen, Spielwerke und Speisen, alles durcheinander in romantischer Verwirrung, so viel Worte so viel Bilder: und das ohne alle Nebenbestimmungen und künstlichen Übergänge, die am Ende doch nur den Verstande frommen und jeden kühneren Schwung der Phantasie hemmen. (KFSA V, S. 14) Hier wird die kleine Wilhelmine in ihrer Witzigkeit als analog zur romantischen Poesie beschrieben. So wie Wilhelmine phantastisch kühn reimend ganz verschiedene Dinge ohne künstlichen Übergang zusammenbringt, kann dies nur die romantische Poesie. Die Metaphorik der Blüten weist dabei wieder auf das eingeschlossene Ausgeschlossene, auf die Arabeske hin. Wilhelmine wird damit nicht nur zum Analogon der romantischen Poesie insgesamt, sondern auch des konkreten Buchs (als Verjüngung des Goetheschen Wilhelm Meister). Die Engführung von Buch und Wilhelmine wird von Julius noch weiter ausgeführt. So schreibt er im zweiten, reflexiven Teil der Charakteris-

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tik: »Und sollte dir ja dieser kleine Roman meines Lebens zu wild scheinen: so denke Dir, daß er ein Kind sei, und ertrage seinen unschuldigen Mutwillen mit mütterlichem Langmut und laß Dich von ihm liebkosen.« (KFSA V, S. 15) Die kleine Wilhelmine performiert den Witz, genau wie es ihre Charakterisierung tut. An ihr lässt sich der Witz als Gegenstand und gleichzeitig in actu beobachten. Darüber hinaus verschränken sich in ihr figurativ die eigene Lektürepraxis anderer Bücher (die Lektüre des Wilhelm Meister) und die in das Buch eingetragene Lektüre des eigenen Buchs. Auch die prospektive Lektüre des Romans Lucinde wird in Form der Lektüre der das Buch konstituierenden Briefe durch die Figur Lucinde vergegenwärtigt. Sowohl für das Buch als auch für die Lektüre dient die kleine Wilhelmine als Ideal und Fluchtpunkt. Denn diese Charakteristik soll ja nichts darstellen als ein Ideal, welches ich mir stets vor Augen halten will, um in diesem kleinen Kunstwerke schöner und zierlicher Lebensweisheit nie von der zarten Linie des Schicklichen zu verirren, und Dir, damit Du alle die Freiheiten und Frechheiten, die ich mir noch zu nehmen denke, im voraus verzeihst oder doch von einem höhern Standpunkte beurteilen und würdigen kannst. (KFSA V, S. 15) Die ›Freiheiten und Frechheiten‹, von denen hier und auch schon in der Einleitung zur Charakteristik der kleinen Wilhelmine die Rede ist (»ich entschuldige daher meine Freiheit und Frechheit lieber bloß mit dem Beispiele der unschuldigen kleinen Wilhelmine« [KFSA V, S. 13]) beziehen sich gleichermaßen auf die Erlebnisse und Aktivitäten des Protagonisten Julius239 wie auch auf die strukturellen Besonderheiten des Buchs. Die kleine Wilhelmine ist somit auf verschiedenen Ebenen als Ideal der witzigen Konstruktion wirksam: zum einen in ihrer Charakterisierung als Kind in der Gleichzeitigkeit von männlich und weiblich240 sowie von sittlich und unkonventionell, zum anderen in ihrer expliziten Benennung als Wilhelmine in der Evokation von Buchförmigkeit zweiten Grades, die die Lektüre – des Wilhelm Meister – bereits einschließt. Im späteren Kapitel Eine Reflexion findet sich ein nicht explizit markierter, in der Wortwahl aber deutlich als solcher erkennbarer, Rückblick auf die Charakteristik der kleinen Wilhelmine. Diese erscheint hier als ›allgemeinste und einfachste Antithese‹: Auch in dieser Symmetrie [des Männlichen und Weiblichen] offenbart sich der unglaubliche Humor, mit dem die konsequente Natur ihre allgemeinste und einfachste Antithese durchführt. Selbst in der zierlichsten und künstlichsten Organisation zeigen sich diese komischen Spitzen des großen Ganzen mit schalkhafter Bedeutsamkeit wie ein verkleinertes Porträt und geben aller Individualität, die allein durch sie und den

239 Oder auch direkt des Verfassers – vor diesem Hintergrund wurde der Roman in der Öffentlichkeit insbesondere wahrgenommen und dementsprechend negativ beurteilt. Vgl. hierzu etwa Middell: Liebe, Revolution und Romantik, S. 265: »Die Kenntnis der Zeitgenossen und Nachfahren von den diffizilen und zuweilen wohl auch prekären privaten Umständen und Hintergründen, dem ›hohen Leichtsinn‹ dieser Verbindung, hat berechtigt und unberechtigt zunächst fast ausschließlich den Blick auf die ›Lucinde‹ bestimmt.« 240 Dafür muss nicht angenommen werden, dass Wilhelmine das gemeinsame Kind Juliusʼ und Lucindes ist (diese Annahme vertreten etwa Peter: Geselligkeiten, S. 310 sowie Braun: Divergentes Bewußtsein, S. 192).

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Ernst ihrer Spiele entsteht und bestehet, die letzte Rundung und Vollendung. Durch diese Individualität und jene Allegorie blüht das bunte Ideal witziger Sinnlichkeit hervor aus dem Streben nach dem Unbedingten. (KFSA V, S. 73) Hier wird deutlich, dass die Charakteristik der kleinen Wilhelmine auch die Gleichzeitigkeit von Konstruktion und Organisation ausstellt. Das Kind ist die Vereinigung von männlichem und weiblichem Prinzip, das als Resultat ein ›buntes Ideal witziger Sinnlichkeit‹ gebiert. In der kleinen Wilhelmine treffen sich also nicht nur die oben genannten Gegensätze auf symmetrische Art und Weise, sondern darüber hinaus auch Liebe und Witz sowie darin Konstruktion und Organisation als »Selbstorganisation«241 . Für den hoch konstruierten Roman Lucinde wird im Sinne der Religionsstiftung gleichzeitig Naturhaftigkeit beansprucht. Der Rückverweis auf die Charakteristik der kleinen Wilhelmine macht darüber hinaus noch einmal auf die für die Arabeske bereits ausgestellte doppelte Öffnung hin zum Konkreten, Individuellen, Symmetrischen und auf der anderen Seite hin zum absolut Unbedingten, das von keiner Individualität zu erschöpfen ist, aufmerksam. Der Witz ist also in seinem Blühen zwar konkret, sinnlich fassbar, präsentiert aber gleichzeitig sein ›Ideal‹, das durch den konkreten Witz niemals ausgeschöpft werden kann. Nicht nur die Arabeske, auch der Witz ist gekennzeichnet durch eine doppelte Relation hin zum Konkreten, Abgeschlossenen wie auch zum ewig Offenen. Der Witz bezeichnet also eine Symmetrie der Gegensätze, ist selbst als Begriff aber asymmetrisch konzipiert, insofern er gleichzeitig die stets nur individuelle Gültigkeit eines Gegensatzes betont und damit die Unabschließbarkeit der Methode sicherstellt, die sich in der Unabschließbarkeit der Schrift spiegelt. Gleiches gilt für die Liebe als Organisation des Romans.

4.2.3.

Organisation: Die Liebe

Neben dem Witz ist die Liebe das zweite Zentrum des Romans.242 Sie bezeichnet die »absolute Harmonie des Gefühls« und ist im Roman im Sinne »eine[r] Art des Re[alismus]« (KFSA XVI, S. 220-221, Fragment 228) als passiv-begründendes Strukturprinzip anwesend. Damit rückt sie in ein symmetrisches Verhältnis zum aktiv-konstruierenden Witz. Die Liebe ist nicht nur »Sujet des Romans«243 , sondern der tatsächliche Stoff des Romans im materiellen Sinne244 , gleich etwa dem Marmor, aus dem eine Staute gehauen wird. Passend zur Bestimmung des Geschlechterverhältnisses in seinem als Brief deklarierten Text Über die Philosophie. An Dorothea bestimmt er die Liebe als Vereinigung

241 Theisen: Chaos, S. 28. 242 Man erinnere sich an die Formulierung Schlegels, dass echte Romane wie die Ellipse »zwei Centra« erforderten, von denen eins aber im Unendlichen liegt (Vgl. Eicher: Charakteristiken und Kritiken. Einleitung, S. CIII-CIV). Hier wird diese Forderung insofern verkompliziert, als der Roman zwei doppelt codierte ›Centra‹ aufweist, die jeweils gleichzeitig als symmetrische und prozessuale Begriffe funktionieren. 243 König: Grenzen der Cyklisation, S. 34. 244 Mit Materialität meine ich hier also nicht die Schriftlichkeit, sondern die emotionale Gestimmtheit der Lektüre, die im Sinne des Lektüreprogramms Schlegels in das Buch, eben als Stoff, integriert wird.

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der Geschlechter und damit »Freundschaft und Liebe« als »Organe alles sittlichen Unterrichts« (KFSA VIII, S. 48-49): »Ich weiß nicht, ob ich das Universum von ganzer Seele anbeten könnte, wenn ich nie ein Weib geliebt hätte« (KFSA VIII, S. 48), schreibt Schlegel hier. Die Liebe fungiert gleichermaßen »als Lebensform und als Schreibhaltung«245 , bezieht sich also auf das Schreiben selbst wie auf seine Lektüre. So heißt es etwa in den Ideen zu Gedichten: »L.[ucinde] ist d.[ie] Morgenröthe der Poesie aus dem Meer der Liebe. – Der erste Ton aus tiefem Liebesgrund.« (KFSA XVI, S. 230, Fragment 5) Hier wird, rückblickend auf die Bewertung von Goethe als »Morgenröte echter Kunst und reiner Schönheit« (KFSA II, S. 206) noch einmal deutlich, inwiefern Goethe trotz dieser Einschätzung übertroffen und erweitert werden muss.246 Die Morgenröte braucht einen der absoluten Konstruktion des Romans angemessenen Grund, einen ebenso umfassenden Stoff, und den findet Friedrich Schlegel in der Liebe. Weil dieser Stoff in sich schon gegliedert ist, und insofern »unaufhaltsam progressiv und so unbiegsam systematisch ist« (KFSA V, S. 9) ist er allen anderen Stoffen, welche die ›Wirklichkeit‹ bereit hält, unendlich überlegen: »Und jene Gedanken der Liebe, die sich aus Funken vom Witze der Begeistrung im Schoße der ewigen Sehnsucht erzeugen, sind sie nicht lebendiger und wirklicher für Dich, als das gleichgültige Ding, was andre vorzugsweise Wirklichkeit nennen wollen, weil der Klumpen so breit und roh da liegt?« (KFSA VIII, S. 47).247 Das ›Meer‹ der Liebe ermöglicht als Grund das Aufsteigen des ersten Tones aus dem Liebesgrund und bleibt doch gleichzeitig das unergründliche Meer der Liebe. Die Liebe wirkt so gleichzeitig vereinzelnd (»Nicht der Haß sondern die Liebe sondert das Chaos« [KFSA XVI, S. 221, Fragment 241]) und doch verbindend (»Es ist alles in der Liebe: Freundschaft, schöner Umgang, Sinnlichkeit und auch Leidenschaft; und es muß alles darin sein, und eins das andre verstärken und lindern, beleben und erhöhen.« [KFSA V, S. 35]). Der Roman erweist sich so insgesamt als eine »Rhetorik der Liebe« (KFSA V, S. 20), wobei die Liebe selbst Urheberin der Rhetorik ist: »Der Beruf ein Liebesbuch zu schreiben ist wenn einer die ganze Liebe in sich fühlt.« (KFSA XVI, S. 234, Fragment 38) Erst der Stoff der Liebe macht den Roman »ganz dialogisch« (KFSA XXIV, S. 227), wie Friedrich Schlegel im Februar 1799 an seinen Bruder August Wilhelm schreibt. Mit dieser Liebe ist keineswegs eine platonisch geläuterte Liebe, sondern die körperliche Liebe als ›Wollust‹ gemeint. So heißt es etwa in den Fragmenten bei Schlegel auch: »Alles Genießen ist ein Essen und Begatten[,] es giebt aber auch ein vegetab.[ilisches] Athem und Blühen statt jener. – Alles läßt sich so nehmen und behandeln und d[ie] Kunst der Wollust besteht eben darin, und ist also weit mehr als Kunst. Sinn fürs Unendliche im Veget[abilischen] Animal[ischen]. « (KFSA XVI, S. 267, Fragment 158)

245 Luserke-Jaqui: Deutsche Literaturgeschichte in 10 Schritten, S. 131. 246 Goethe wiederum antwortet auf Schlegels Roman Lucinde mit den Wanderjahren, vgl. dazu KepplerTasaki: Die doppelte Lucinde. – Ute Maack möchte diese Kritik am Wilhelm Meister schon in Schlegels Rezension zu Goethes Meister erkennen, insofern Schlegel ihrer Ansicht nach das vierte Buch gerade in den Begrifflichkeiten des Heiligen und Göttlichen als »ausgehöhlt zur reinen Form« erkennt und damit kritisiert, vgl. Maack: Ironie und Autorschaft, S. 233. 247 Hier wiederholt sich außerdem noch einmal das Bild des Steinmetzes, der aus einem Stoff erst eine Form erschafft, indem er ›abträgt‹.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Die Kunst der Wollust, die im Blühen und Atem (hier klingt wiederum die Arabeske an) besteht, wird hier als die ›eigentliche Poesie des Lebens‹ bezeichnet. Die körperliche Liebe ist also die Antwort auf die Suche nach einem – materiell gedachten – und konsequent ›positiven‹ Stoff, welcher der Form angemessen ist und allen »Formen der Negativität«248 die Stirn bieten kann. So ist es nur konsequent, dass Schlegel diesen Stoff in all seinen Aggregatzuständen in den Roman integrieren will. Religion der Liebe für die Frauen. Ursprung der π [Poesie] aus der Liebe. – Religion q ist das einzige Princip der Treue. – Ein Reich d[er] Liebe zu gründen. – 0

Wollust ist 0 [reducirtes potenzirtes absolutes Chaos] der Natur. Leidenschaft ist χα [Chaos] von Welten, Gesellschaft ein Univ[ersum] von χα [Chaos], beide am meist[en] dualistisch und witzig. – Wollust und Liebe ein Moment ohne Dualismus. Ehe und Freundsch[aft] schon viel Dual[ismus]. – Ehe ist Harmonie der Geister, der Genialität. – Alles Leben ist männlich und weiblich. Die Wollust ist ehelicher/die Liebe freundschaftlicher. Weiblichkeit mehr zur Ehe, Männlichkeit mehr zur Freundschaft. Ehe ist wohl gar nicht denkbar ohne Kinder und Verwandte? (KFSA XVI, S. 224, Fragment 282) Hier zeigt sich noch einmal, inwiefern die Liebe das Chaos ordnet aber gleichzeitig ermöglicht und in seiner Fülle belässt. Die Liebe selbst tritt in verschiedenen, stets als natürlich-organisch gedachten, Formen auf – in der momenthaft alle Gegensätze verschmelzenden ›Wollust‹, aber auch in der auf Dauer gestellten und damit die Gegensätze gerade hervortreten lassenden Ehe und Freundschaft (als Basis für das ›unendliche Gespräch‹). Wie auch der im Roman anwesende Gegenpol zur Liebe, der Witz und wie das sie beide vereinigende, im Roman aber abwesende, Bild der Arabeske, kommt der Liebe also ein Doppelcharakter zu. Sie ist gleichzeitig konkret und abstrakt. So heißt es in Über die Philosophie: Liebst du wohl, wenn Du nicht die Welt in dem Geliebten findest? Um sie in ihm finden, und in ihn hineinlegen zu können, muß man sie schon besitzen, sie lieben, oder wenigstens Anlagen, Sinn und Liebesfähigkeit für sie haben. […] Aber freilich sind Freundschaft und Liebe die Organe alles sittlichen Unterrichts auch bei diesem Zweigen desselben unentbehrlich. Und gewiß werden zwei Liebende […] beide zusammen schnellere und weitere Fortschritte spüren, als wenn jeder für sich allein mit heißem Bemühen nach Religion gestrebt hätte. (KFSA VIII, S. 48-49) Die konkrete Liebe zu einem anderen Menschen und die Liebe zum Universum werden, wie es oben für die Unterscheidung Individualität/Universalität bereits gezeigt wurde, zirkulär ineinander verwoben. Die Liebe organisiert den »Wechsel zwischen Individualität und Universalität« als den »eigentliche[n] Pulsschlag des höheren Lebens« (KFSA VIII, S. 49). Sie ist, wie es oben hieß, die Vereinigung der gleichzeitig ›allgemeinsten‹ 248 Hoff: Das Poetische der Philosophie, S. 58. Dem abschließenden Urteil Hoffs, Schlegel bleibe »Poetologe, wo er seiner Theorie zufolge hätte poetisch werden müssen« (S. 59) ist daher keineswegs zuzustimmen. Der Roman Lucinde ist durchaus als ambitionierteste Umsetzung der Vision einer umfassenden Symmetrie zu würdigen, die von jeder Form der Theorie nur unterlaufen würde.

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und ›einfachsten‹ Antithese, welche die Natur zu bieten hat. Sie verbindet den abstrakten Unterschied von einzelnem Individuum und Universum mit dem konkreten Unterschied zweier (als männlich und weiblich gedachter) Individua. Sie ist darüber hinaus ›Wollust‹, Freundschaft, Ehe, Gemeinschaft, sie produziert Kinder und einen geselligen Kreis an Freunden. Darin lässt sich zum einen der ganz konkrete Gegensatz von weiblich und männlich erkennen, der in einem Liebespaar erneuert und punktuell, im Liebesakt, überwunden wird. Die der Liebe eingeschriebene Symmetrie und der Vorgang der Verschmelzung lassen sich nicht trennen, sondern sind vielmehr nur vereint und als solches nur momenthaft zu erlangen. So formuliert Julius: »Ich kann nicht mehr sagen, meine Liebe oder deine Liebe; beide sind sich gleich und vollkommen Eins, so viel Liebe als Gegenliebe. Es ist Ehe, ewige Einheit und Verbindung unsrer Geister, nicht bloß für das was wir diese oder jene Welt nennen, sondern für die eine wahre, unteilbare, namenlose, unendliche Welt, für unser ganzes ewiges Sein und Leben.« (KFSA V, S. 11) Die Symmetrie in der Liebe ist insofern paradox, als sie eine Vereinigung darstellt, in welcher die Gegensätze selbst als notwendige Voraussetzung für ihre Symmetrie verschwinden. Diese »Paradoxie von Einheit und Zweiheit«249 ist, hier zeitlich entparadoxiert, schon Teil des Platonischen Symposions, genauer des Mythosʼ von den Kugelmenschen, welchen Platon dem Dichter Aristophanes in den Mund legt.250 Hier wird die Trennung der Geschlechter als Strafe Gottes verstanden und das sexuelle Begehren als Sehnsucht nach Vereinigung und damit Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands. In diesem Mythos liegt die Verbindung der Liebe auch mit der Unendlichkeit begründet, und die Geschichte Aristophanesʼ verbindet so die Liebe gleichzeitig mit der ›neuen Mythologie‹. Noch in Schlegels später Vorlesung über die Philosophie der Sprache und des Wortes heißt es: »Die wahre Ironie […] ist die Ironie der Liebe. Sie entsteht aus dem Gefühl der Endlichkeit und der eignen Beschränkung, und dem scheinbaren Widerspruch dieses Gefühls mit der in jeder wahren Liebe mit eingeschlossenen Idee eines Unendlichen.« (KFSA X, S. 357) Die Unterscheidung von weiblich und männlich und ihre Vereinigung in der Liebe ist in dieser doppelten, paradoxen Funktion als individuell und doch mythologisch immer wieder im Roman präsent. Im reflexiven Teil der Allegorie von der Frechheit findet sich eine Unterscheidung von männlicher und weiblicher Lektüre. Wenn dieses tolle kleine Buch einmal gefunden, vielleicht gedruckt und gar gelesen wird, so muß es auf alle glücklichen Jünglinge ungefähr den gleichen Eindruck machen. Nur verschieden nach den verschiedenen Stufen ihrer Ausbildung. Denen vom ersten Grad wird es die Empfindung des Fleisches erregen; die vom zweiten kann es ganz befriedigen; und denen vom dritten soll bloß warm dabei werden.

249 Bickenbach: Friedrich Schlegels Lucinde und das Problem romantischer Liebe, S. 149. 250 Siehe auch Schlegels Text Über die Diotima aus dem Jahre 1795, der Zeugnis von Schlegels intensiver Auseinandersetzung mit der Rolle der Frauen in der griechischen Kultur ablegt. Ausgangspunkt ist dabei die Frage »wer diese Diotima war, welche Plato so hohe Dinge sagen läßt?« (KFSA I, S. 72) und die den Ansatzpunkt darstellt »um einen in Vergessenheit geratenen Typus intellektueller Frauen im antiken Griechenland aufzuspüren«. (Matuschek: Über die Diotima, S. 79)

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Ganz anders würde es mit den Frauen sein. Unter ihnen gibt es keine Ungeweihten; denn jede hat die Liebe schon ganz in sich, von deren unerschöpflichem Wesen wir Jünglinge nur immer ein wenig mehr lernen und begreifen. Schon entfaltet oder noch im Keime, das ist gleich viel. Auch das Mädchen weiß in ihrer naiven Unwissenheit doch schon alles, noch ehe der Blitz der Liebe in ihrem zarten Schoß gezündet und die verschloßne Knospe zum vollen Blumenkelch der Lust entfaltet hat. Und wenn eine Knospe Gefühl hätte, würde nicht das Vorgefühl der Blume deutlicher in ihr sein als das Bewußtsein ihrer selbst? – Darum gibt es in der weiblichen Liebe keine Grade und Stufen der Bildung, überhaupt nichts Allgemeines; sondern so viel Individuen, so viel eigentümliche Arten. (KFSA V, S. 22)251 Die Imagination der Lektüre, welche schon bei der Charakterisierung der kleinen Wilhelmine vollzogen wurde, stellt hier nicht die romaninterne Fiktion der Lektüre des Briefkonvoluts durch die Adressatin Lucinde, sondern die – im Modus des ›Wenns‹ also des Möglichen, nicht Sicheren – präsentierte Lektüre des gedruckten Buchs dar. Hier ergeben sich zwei Möglichkeiten, die mit der Unterscheidung weiblich und männlich belegt sind. Die männliche Lektüre kann Objekt der Bildung werden und wird je nach Bildungsgrad wie geschildert unterschiedlich ausfallen, die weibliche ist stattdessen immer unsystematisch, insofern sie individuell im Sinne einer gleichzeitigen umfassenden Universalität ist. Die männliche Lektüre wird im Sinne einer eigentümlichen Dialektik (vgl. auch Kap. 4.3) skizziert, die weibliche demgegenüber als einfach.252 Zum geschichtsphilosophisch-systematischen Konzept von drei Zeitaltern oder drei Stufen der Ausbildung, welches hier eindeutig als männlich dargestellt wird, gesellt sich das weibliche Prinzip der eigentümlichen Arten, und damit ein Modell, welches eher zu einer Enzyklopädie neigt als zu einer Bildungsgeschichte. Damit ist in der Imagination der Lektüre des Buchs der Schreibakt selbst gespiegelt. Die hier angesprochene Unterscheidung von weiblicher individueller, unsystematischer, chaotischer Lektüre und männlicher Lektüre als systematischer Bildungsgeschichte findet ihren Widerhall in der Gleichzeitigkeit der insbesondere die Lehrjahre der Männlichkeit bestimmenden Bildungsthematik und der umrahmenden zufällig wirkenden Textstücke. In der Imagination der Lektüre wird die Poetik des Romans noch einmal wiederholt: die Gleichzeitigkeit des Besonderen und des Allgemeinen, das sich systematisch Entwickelnde und Entfaltende aber auch das Verstreute, das Individuelle, das Notwendige und gleichzeitig das Zufällige, welches sich nicht berechnen oder 251

Neben der Unterscheidung von weiblich und männlich findet sich in dieser Stelle außerdem bereits ein Hinweis auf die doppelte Kommunikation des Romantexts, die in der doppelten Rahmung als Liebesbrief und Roman kulminiert bzw. dort ihren Anfang nimmt. Vgl. dazu ausführlich Kap. 4.2.4. 252 Diese Unterscheidung ruft natürlich auch andere kunsttheoretische Unterscheidungen der Zeit auf, so etwa Schillers Unterscheidung von Anmut einerseits, Würde andererseits, oder auch die Unterscheidung des Verhaltens ohne Selbstbewusstsein gegenüber dem Verhalten im Lichte eines unendlichen Selbstbewusstseins in Kleists Marionettentheater. Hier wird noch einmal deutlich, wie eng Lektüre und Kunstproduktion um 1800 und insbesondere bei Schlegel ineinander verschränkt sind.

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schlussfolgern, sondern nur erraten lässt. Beide Wissensordnungen, beide Textverfahren sind im Bild der Blume angelegt, die damit auf ihre Funktion als organisierendes und gleichzeitig konstruiertes Prinzip, als Arabeske, hinweist. Der ›herrlichen Pflanze‹, welche im Prolog besungen wird, eignen beide Erscheinungsformen. Sie entwickelt sich systematisch und in verschiedenen Wachstumsperioden aus dem mütterlichen Boden und bietet doch Raum für ›manches, sich liebevoll daranzuhängen‹. Wiederum ist es das Bild der Pflanze, also die Arabeske, welche die der Liebe eigene Paradoxie aus Einheit und Differenz als gleichzeitig symmetrisch und asymmetrisch in sich zu fassen vermag. Diese Gleichzeitigkeit von Einheit und Differenz, die insofern den letztmöglichen Gegensatz bildet, findet Julius an anderer Stelle auch in der Behandlung bzw. im Umgang mit der Liebe. So heißt es in den Lehrjahren der Männlichkeit: »Er erkannte nun wohl, daß die Liebe, die für die weibliche Seele ein unteilbares durchaus einfaches Gefühl ist, für den Mann nur ein Wechsel und eine Mischung von Leidenschaft, von Freundschaft und von Sinnlichkeit sein kann.« (KFSA V, S. 56) Die Liebe, so wird hier deutlich, stellt eine Möglichkeit der intimen Begegnung dieses alle anderen Unterschiede erzeugenden Unterschieds dar: der gleichzeitigen Präsenz von Differentem. Die Liebe erzeugt, wie ihre Pole des Männlichen und des Weiblichen, gleichzeitig den Eindruck, eins zu sein, und doch einen beständigen Wechsel zu produzieren, in dem nicht das eine auf das andere reduziert werden kann. Dies muss Julius im Verlauf der Liebesgeschichte selbst erkennen: Nichts zog ihn anfangs so sehr an und hatte ihn so mächtig getroffen als die Wahrnehmung, daß Lucinde von ähnlichem ja gleichem Sinn und Geist mit ihm selbst war, und nun mußte er von Tage zu Tage neue Verschiedenheiten entdecken. Zwar gründeten sich selbst diese nur auf eine tiefere Gleichheit, und je reicher ihr Wesen sich entwickelte, je vielseitiger und inniger ward ihre Verbindung. (KFSA V, S. 56) Je vielseitiger Lucindes Wesen erscheint, desto einheitlicher und harmonischer wird gleichzeitig die Verbindung: »Jedes neue Verhältnis, jede neue Ansicht war für sie ein neues Organ der Mitteilung und Harmonie.« (KFSA V, S. 56) Die Zuordnung des Systematischen zum männlichen Pol, des Individuellen dagegen zum weiblichen macht zwei weitere Zuordnungen wahrscheinlich: zum einen die Analogisierung des männlichen Prinzips mit der Philosophie, des weiblichen Prinzips dagegen mit der Poesie253 , zum anderen die Zuordnung des Weiblichen zur Lektüre, die des Männlichen zum Buch.254 So heißt es etwa in den Lehrjahren der Männlichkeit: »Er stand in Wahrheit auf frischem Grün einer kräftigen mütterlichen Erde, und ein neuer 253 Vgl. dazu Behler: Friedrich Schlegels Theorie der Universalpoesie, S. 220: »Wobei die Poesie dem weiblichen und die Philosophie dem männlichen Teil zuzuordnen ist.« 254 Diese Zuordnung wird in Schlegels Über die Philosophie. An Dorothea. 1799 expliziert. Hier heißt es: »Bei dem Anblicke des vollkommenen Mannes würde gleich jeder sagen: ›dieser ist bestimmt die Erde zu bilden, und die Welt den Befehlen der Gottheit zu unterwerfen.‹ Bei der ersten Ansicht eines schönen Weibes würde man denken: ›In diesem Gefäße soll die oft zu ungestüme Musik dieses raschen reichen Lebens sanfter und schöner nachklingen, so wie die Blume was sie aus dem umgebenden Gemische einsagt, in harmonische Farben zersetzt, und in wolllüstigem Durfte zurückgibt.‹ (KFSA VIII, S. 46) Wie es für die Lucinde auch typisch ist, folgt auf diese Zuordnung je-

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Himmel wölbte sich unermeßlich über ihm im blauen Äther. Er erkannte in sich den hohen Beruf zur göttlichen Kunst, er schalt seine Trägheit, daß er noch so weit zurück sei in der Bildung und zu weichlich gewesen war zu jeder gewaltigen Anstrengung.« (KFSA V, S. 49) Ähnlich wie im Bild der Welle wird auch hier die Initialzündung für das Kippen von der stillen Lektüre hin zum Schreiben, also von der Passivität zur Aktivität, imaginiert. Für die ›Bildung‹, die sich, wie schon vielfach beobachtet wurde, im Roman Lucinde gerade nicht auf den Protagonisten, sondern auf den Roman selbst bezieht, ist die Symmetrie von öffnender Lektüre und Schließung im Buch notwendig. Die Liebe, so wird hier deutlich, bezieht sich auch und insbesondere auf das Verhältnis zwischen diesen beiden, das insofern als symmetrisches gekennzeichnet wird. So heißt es ebenfalls in den Lehrjahren der Männlichkeit: »Auch er erinnerte sich an die Vergangenheit, und sein Leben ward ihm, indem er es ihr erzählte, zum erstenmal zu einer gebildeten Geschichte.«255 (KFSA V, S. 53) Schließlich liegt auch die Zuordnung der einheitlichen Form zum männlichen Pol und des chaotischen Stoffs zum weiblichen nahe. Letztere Zuordnung wird aber im Roman selbst durchkreuzt. So schreibt Julius in seinem bereits zitierten Brief an Lucinde: Für mich und für diese Schrift, für meine Liebe zu ihr und für ihre Bildung in sich, ist aber kein Zweck zweckmäßiger als der, daß ich gleich anfangs das, was wir Ordnung nennen, vernichte, weit von ihr entferne und mir das Recht einer reizenden Verwirrung deutlich zueigne und durch die Tat behaupte. Dies ist umso nötiger, da der Stoff, den unser Leben und Lieben meinem Geiste und meiner Feder gibt, so unaufhaltsam progressiv und so unbiegsam systematisch ist. Wäre es nun auch die Form, so würde dieser in seiner Art einzige Brief dadurch eine unerträgliche Einheit und Einerleiheit erhalten und nicht mehr können, was er doch will und soll: das schönste Chaos von erhabnen Harmonien und interessanten Genüssen nachbilden und ergänzen. (KFSA V, S. 9) Hier findet sich eine der wenigen Stellen im Roman, an denen der Begriff der Form direkt genannt wird, hier als Gegensatz zum Stoff. Doch hier ist es gerade die Form, welche chaotisch ist. Die Konstruktion des Texts besteht in einer Zersplitterung. Die Aneinanderreihung scheinbar disparater Texte verschiedener Gattungen geht einher mit der vollständigen Abwesenheit von Handlung und damit jeglicher ›epischen Elemente‹ im eigentlichen Sinn.256. Dieses formale Chaos ist nur möglich aufgrund der unaufhaltsamen Progressivität und der unbiegsamen Systematizität seines Stoffs, nämlich der Liebe zwischen Julius und Lucinde. Es ist also der Stoff, Liebe, welcher über die Form bestimmt und diese seiner eigenen Organisation nachbildet. »Die Form ist dann lediglich Akzidens der Materie als das ihr Äußerliche.«257 Hier wird das von Wellberry als

doch eine chiastische Verschränkung. So empfiehlt Schlegel den Frauen die Philosophie als Muse, den Männern hingegen die Poesie. 255 Hier deutet sich in der bruchlosen Kontinuität von ›ihr erzählen‹ und ›gebildete Geschichte‹ schon die Doppelcodierung der romaneigenen Kommunikation als intime Liebeskommunikation und öffentliche Romankommunikation an. 256 Vgl. etwa Hudgins: Nicht-epische Strukturen des romantischen Romans. 257 Zeuch: Das Unendliche. Höchste Fülle oder Nichts, S. 93.

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endogen bezeichnete Formkonzept implementiert, welches das »Verhältnis von Form und Materie […] nicht als Opposition, sondern als Durchdringung konzipiert«258 . Eine solche Durchdringung von Liebe und Literatur allein ist literaturgeschichtlich nichts Neues – auch in Goethes Erstlingsroman Die Leiden des jungen Werthers wird etwa die Identität von Liebhaber und Schriftsteller im Zeichen einer Individualisierung in der und gegen die Gesellschaft vorgeführt.259 Die Engführung geht im Roman Lucinde darüber allerdings entscheidend hinaus, insofern sie sich nicht wechselseitig begründen, sondern vielmehr wechselseitig unterlaufen: »Schlegel setzt in den Schilderungen der erfüllten Liebe nicht auf narrative Verfahren, sondern auf Intensitäten«260 , bemerkt auch schon Niels Werber. Die Liebe ist nicht nur Thema und innerliterarische Organisationsform des Romans, sondern organisiert diesen gleichsam stofflich von innen wie von außen, ist also gerade das Andere der Schrift, des Romans – wie sie andererseits nur als geschriebene im Medium des gedruckten Romans möglich ist. Schlegels Vision einer Symmetrie funktioniert nur, wenn der Roman Lucinde nicht nur von der Liebe handelt, sondern in Liebe produziert und, was noch wichtiger ist, in Liebe rezipiert wird. Nur wenn die Liebe über die tatsächliche Schrift des Romans hinausgeht und diese übersteigt, gelingt die Vision des Romans als umfassende Symmetrie von Druckschrift und Gespräch, von Buch und Lektüre. Hier wird noch einmal deutlich, wie das Prinzip der Ironie als Lektüreprogramm wirksam ist. Es verpflichtet die Lektüre auf die Liebe, insofern es sie in ein unendliches Gespräch einbindet, das von der Druckschrift ermöglicht wird, diese aber transzendieren muss. Auch in der Idylle über den Müßiggang wird die Liebe als eigentlicher Grund für das Schreiben angeführt. Hier heißt es: »So zeuge sich der erste Keim zu dem wundersamen Gewächs von Willkür und Liebe. Und frei, wie es entsprossen ist, dacht‹ ich, soll es auch üppig wachsen und verwildern, und nie will ich aus niedriger Ordnungsliebe und Sparsamkeit die lebendige Fülle von überflüssigen Blättern und Ranken beschneiden.« (KFSA V, S. 26) In dieser Umkehrung der Zuordnung von Chaos und Einheit zu Form und Stoff zeigt sich wiederum der Versuch, beides streng symmetrisch zueinander zu gestalten. Es ist hier also nicht die einheitliche Form, die es dem chaotischen Stoff erlaubt, gedichtet zu werden – vielmehr ist es der Stoff der Liebe, der seine eigene Form, und damit sein eigenes Textverfahren und seine eigene Lektüre erfordert. Anders als König es verstehen will, der »angesichts der ästhetischen Charakterisierung und Verteidigung« befindet, die »Liebe als Stoff [wäre] selbst kaum mehr nötig«261 besteht gerade in der Wahl der Liebe als Stoff der Versuch, die Vision einer Symmetrie von Form und Stoff zu realisieren. So wie die Form sich also nicht von ihrem Stoff emanzipieren kann, so kann sich auch die Reflexion nicht an der hierarchischen Spitze des Romans etablieren. Der 258 Wellberry: Form und Idee, S. 19. 259 Zur Koevolution von Liebe und Literatur vgl. bes. Werber: Liebe als Roman, S. 9: »Liebe und Roman sind eine so enge Allianz eingegangen, daß sich die Begriffe über einen langen Zeitraum hinweg wie Synonyme verwenden lassen. […] Intime und literarische Kommunikationen bieten sich gegenseitig Strukturen an, die sie zur eigenen Gestaltung ihrer internen Prozesse verwenden können.« (S. 10) 260 Ebd., S. 473. 261 König: Grenzen der Cyklisation, S. 42.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Abschnitt Eine Reflexion bündelt zunächst tatsächlich die thematischen Unterscheidungen, welche im Roman mehr spielerisch ausgefaltet werden, und setzt sie in einen konsequenteren begrifflichen Zusammenhang. So geschieht dies mit der Unterscheidung von Bestimmtem und Unbestimmtem, vom männlich und weiblich sowie von Spiel und Ernst und schließlich von Allegorie und Individualität. Es läge daher nahe, auch diesen Abschnitt als einen Höhepunkt des Werks anzunehmen, als Entschlüsselung alles Übrigen.262 Doch wie auch viele der anderen Abschnitte hat die Reflexion einen wiederum reflexiven zweiten Teil: »Sich vertiefend in diese Individualität nahm die Reflexion eine so individuelle Richtung, daß sie bald anfing, aufzuhören und sich selbst zu vergessen.« (KFSA V, S. 90) Hier wird noch einmal deutlich, dass es für den Roman kein stabiles Verhältnis von Auslegung und eigentlichem Text gibt, und kein Auseinandersortieren von lustigem Spiel und ernsthafter tieferer Bedeutung. Die Reflexion selbst kann wiederum Gegenstand des Witzes werden und wird so in die Symmetrie der Gegensätze zurückgeholt. Die Liebe steht also insgesamt für den Versuch, eine Einseitigkeit insbesondere in Richtung einer Asymmetrisierung der Form zu vermeiden. So formuliert dies in Bezug auf die religiöse Thematik in der Frühromantik auch Hermann Timm: Die Darstellung muß ihre eigene Unerschöpflichkeit mit thematisch machen. Nur dann gewinnt sie jene Sinnfülle, die der idealistischen Abstraktion mit überlegenem Gleichmut begegnen kann, eine Gleichgewichtigkeit, die strukturell an der heterosexuellen Liebeserfahrung aufgewiesen werden kann. […] Die leidenschaftlich Involvierten tauchen simultan als Partner füreinander auf, und zwar gleichursprünglich in eine paritätischen, einem kontrastharmonischen Verhältnis freier Individuen. Nicht, daß die gedoppelte Entwicklung ein lineares Abrücken von der Natur wäre, wie in der spiritualistischen Askese oder der Selbstbeherrschung des moralischen Ich. Sie lenkt vielmehr zirkelhaft auf ihren Ursprung zurück, um ihn ständig in einem bereichert-erschwerten Wissen zu wiederholen – der Erkenntnis nämlich, daß das Ganze keinen Sinn habe, wenn der Sinn in einem transzendenten Zweck gesucht werden soll.263 Wie Timm es beschreibt, ist der Roman Lucinde ein Versuch, die (poetische) Sinnfülle mit der ›idealistischen Abstraktion‹, Literatur und Philosophie, in ein symmetrisches Verhältnis zu bringen und beiden Polen gerecht zu werden. Dieser Versuch vollzieht sich allerdings auf gedruckten Buchseiten und insofern im Medium der zur Asymmetrie neigenden Druckschrift.

262 So etwa Benjamin: »Der Roman kann in der Tat beliebig über sich reflektieren, in immer neuen Betrachtungen jede gegebene Bewußtseinsstufe von einem höheren Standort zurückspiegeln. Daß er aus der Natur seiner Form dies erreicht, was anderen nur durch den Gewaltstreich der Ironie möglich ist, neutralisiert in ihm die Darstellungsform, die allein in ihrer Reinheit, nicht in ihrer Strenge in ihm waltet.« (WBKA 3, 107) 263 Timm: Die heilige Revolution, S. 55.

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Lektüre als Form

4.2.4.

Arabeske II: (Hand-)Schrift

In ihrer Beziehung zur neuen Mythologie und in ihrer doppelten Anwesenheit als referentieller Begriff und materielles ›Bild‹, also gleichzeitig im Register des Symbolischen und des Imaginären264 , verweist die Arabeske zurück auf die in der Reflexion der Lektürepraxis aufgezeigten zwei Modi der Begriffsbildung: Auf der einen Seite die symmetrischen Gegensatzpaare, auf der anderen Seite die prozessualen Einheitsbegriffe. Gleichzeitig weist sie voraus auf das ihr eingeschriebene doppelte Verhältnis zum visuellen Medium der Schrift. In der ›neuen Mythologie‹ vereinigen sich Lektüre und Buchförmigkeit265 insofern die neue Mythologie »verinnerlichte Kritik« ist, in der die »reflexive Komponente die bloße ›Erzählung‹ übersteigt und letztere durch Kritik organisiert, reguliert und zugleich erweitert«266 . Diese Rekonstruktion des Buchs in der Lektüre gelingt, wie oben bereits gezeigt, nicht in jedem Lektürezugriff auf den Text, sondern vielmehr nur, insofern die Lektüre selbst schon Teil der ›neuen Mythologie‹ und somit des religiös codierten sozialen Bunds ist, also das dem Buch eigene Lektüreprogramm befolgt. Dieses erscheint so, wie in der Rede über die Mythologie ausgesagt wird, als »neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt« (KFSA II, S. 312). Die ›neue Mythologie‹ bezeichnet also einen idealen sozialen Rezeptionsraum für das eigene Buch, der auf Schriftlichkeit beruht, diese aber in Bezug auf das mündliche Gespräch überschreiten muss, insofern er von ihrer Unabschließbarkeit bedroht wird. Aus der Warte einer medientheoretisch informierten Literaturgeschichtsschreibung schließen sich Buch und Gespräch gegenseitig aus267 – bei Schlegel und schon weit vorher, ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, lässt sich allerdings der Versuch einer paradoxalen Verschaltung dieser beiden historischen Vollzugsformen von ›Poesie‹ und von Kommunikation überhaupt beobachten268 . Als ideales Medium dieser 264 Vgl. die »Trias« von Lacan, etwa in Namen-des-Vaters. Zur Genealogie der Trias in Lacans Werk siehe auch bes. Wörler: Das Symbolische, Das Imaginäre und das Reale. Die Kategorien des Symbolischen und Realen verwendet u.a. Jochen Fried in seiner Beschreibung der ›neuen Mythologie‹ (Die Symbolik des Realen), Manfred Frank ergänzt das Imaginäre, vgl. Frank: Der kommende Gott, S. 211. 265 Folglich sind sowohl Goethes Meister-Roman in Bezug auf Schlegels Über Goethes Meister als auch Schlegels eigener Roman Lucinde schon als Bestandteil oder Ankündigung der ›neuen Mythologie‹ gelesen worden. Zu ersterem vgl. Fried: Die Symbolik des Realen, S. 24-26; zu letzterem HotzSteinmeyer: Friedrich Schlegels Lucinde als neue Mythologie. 266 Zeller: Mythologie, S. 320. 267 Dies muss etwa Schleiermacher bei der Abfassung der bereits erwähnten Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern schmerzhaft erfahren. Wie Nowak (Schleiermacher und die Frühromantik, bes. S. 143-145) detailreich beschreibt, plagt Schleiermacher der Prozess der schriftlichen Niederlegung bis hin zur »Desperation«. Nowak schreibt dazu: »Die verobjektivierende Gestalt des Druckbuchstabens enthüllte dem kritisch mitlesenden Autor manche Schwächen, und dies wiederum wirkte sich auf die noch zu schreibenden Passagen aus.« (S. 143) Der Autor weist hier auch en passant auf das Problem der Selbstlektüre als gedrucktes Buch hin, das in der Frühromantik erstmalig systematisch auftaucht. 268 Vgl. etwa auch die bei Spoerhase – und auch hier nur über Umwege – zitierte Stelle eines Aufsatzes von Jean Paul mit dem Titel Entschuldigung für Schriftsteller: »Eben das, daß die Hand eines

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Verschaltung kann der Brief gelten, der im Jahrhundert des »exzessiv kultivierte[n] persönliche[n] Austausch[s] im Medium des Briefes«269 für die paradoxe Verschaltung des Verhältnisses von schriftlicher und mündlicher Kommunikation zwischen Freiheit und Anschlussfähigkeit paradigmatisch ist. In C. F. Gellerts Gedanken von einem guten deutschen Briefe, die selbstverständlich selbst als Brief an einen »Herrn F. H. v. W.«270 abgefasst sind, betont Gellert einerseits die funktionale Identität von Gespräch und Brief, andererseits deren formale Differenz, insofern beim Schreiben von Briefen mehr Zeit und somit mehr Freiheit zu gewählten Formulierungen bestünde.271 Der Brief scheint bei Gellert das Beste beider Welten, beider Kommunikationsformen, widerspruchslos zu vereinen. Das Medium Brief und mit ihm die Handschrift spielt auch für die komplizierte Struktur der Lucinde eine wichtige Rolle. Erst in jüngster Zeit ist der im Roman imaginierten Rezeptionssituation mehr Aufmerksamkeit gewidmet worden.272 Einerseits besteht die romaninterne Fiktion darin, bei den im Roman Lucinde versammelten Schriften handele es sich um einen »in seiner Art einzige[n] Brief« (KFSA V, S. 9) von Julius an Lucinde. Dieser erste Brief ist also

Menschen über so wenige Jahre hinausreicht, und daß sie so wenig gute Hände fassen kann, das muß ihn entschuldigen, wenn er ein Buch macht. Seine Stimme reicht weiter, als seine Hand; sein engster Kreis der Liebe zerfließet in weitere Cirkel, und wenn er selbst nicht mehr ist, so wehen seine nachtönenden Gedanken in der papiernen Laube noch fort, und spielen wie andre zerstübende Träume, durch ihr Geflüster und ihren Schatten, von manchem fernen Herzen eine schwere Wunde hinweg.« (zitiert nach Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 39) Diese paradoxale Verschaltung wird in der Texttheorie der 1980er Jahre wiederaufgenommen. Auch dort heißt es, etwa bei Stierle: Text als Handlung und Text als Werk, S. 543: »Wenn im Vollzug der Aneignung des Werks das Werk zur Redehandlung wird, so in der Weise, daß der Text als Handlung das Thema, der Text als Werk sein Horizont ist.« Auch hier sind Reden und Schweigen auf paradoxe Weise aufeinander bezogen, insofern das Schweigen (der stillen Lektüre) die ideale Rede erst ermöglicht. 269 Stollberg-Rilinger: Politische und soziale Physiognomie, S. 21. 270 Vgl. Gellert: Roman, Briefsteller, S. 97 (Titelblatt). 271 Vgl. ebd., S. 99. 272 Vgl. etwa Kaminski: Kreuz-Gänge; Hoche: Utopische Liebesentwürfe. Hoche legt eine erzähltheoretische Analyse des Romans vor. Hier möchte sie in Juliusʼ Erzählstimme ein »relativ stabiles, autodiegetisches Vermittlungszentrum« erkennen. (Vgl. S. 73) Sie begründet diese Lektürestrategie, nämlich »nicht nur alle formal eindeutig autodiegetisch vermittelten Kapitel Julius als Erzähler zuzuschreiben, sondern auch die heterodiegetischen bzw. die szenisch-dialogischen, die innerhalb der Kapitelstruktur des Romans scheinbar isoliert sind und dessen erzählstrukturellen Gesamtzusammenhang unvermittelt aufbrechen«, mit der doppelten Rahmung des Romans. Dabei verkennt sie jedoch, dass der souveräne Erzählgestus, den Julius in seinem Brief an Lucinde an den Tag legt, schon innerhalb des Briefes als brüchig und ambivalent gekennzeichnet ist. So behauptet er selbst, es sei ein »ungebildeter und ungefälliger Zufall« (Schlegel: Lucinde, S. 11), der ihn beim Schreiben unterbricht und den er nur versuchen kann »zu bilden und ihn zum Zwecke zu gestalten« (Schlegel: Lucinde, S. 11). Gleiches gilt auch für die »vielen zerstreuten Blätter« (Schlegel: Lucinde, S. 12), als deren Verfasser sich Julius zwar ausgibt, welche aber von Lucinde verwahrt werden. Die Souveränität des Verfassers ist also nicht nur kokett-manipulativ in Frage gestellt, etwa durch die »Bekenntnisse eines Ungeschickten«, sondern die Brüchigkeit auch der erzählerischen Instanz ist vielmehr Teil der Technik des Texts. Als eigentliches Vermittlungszentrum lassen sich vielmehr die Pole Witz und Liebe ausmachen. Zur Semantik der zerstreuten Blätter und ihre Verbundenheit mit der Buchform vgl. auch Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 30-41.

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auf einer anderen Ebene angesiedelt, als die in ihm angekündigte »Auswahl« der »vielen zerstreuten Blätter[...]« (KFSA V, S. 9). Er befindet sich auf der extradiegetischen Ebene gegenüber der intradiegetischen, welche für Julius die »mannichfachen Produkte meiner Ungeschicklichkeit« (KFSA V, S. 9) darstellen, »nebst den Lehrjahren meiner Männlichkeit« (KFSA V, S. 9). Das Titelblatt kündigt allerdings Lucinde. Ein Roman von Friedrich Schlegel an und die Daseinsform als Roman wird zusätzlich durch die Existenz des für die Gattung prototypischen Prologs bestätigt. Bei diesen Texten handelt es sich also wiederum um Texte auf einer anderen Erzählebene. Hier wird eine zweite extradiegetische Ebene aufgemacht, welche die erste extradiegetische Ebene – zumindest scheinbar – in die Diegese hinein verschiebt und als Fiktion ausstellt.273 Eine hybride Stellung hat der Titel Bekenntnisse eines Ungeschickten inne. Einerseits wird im Begriff der ›Bekenntnisse‹ eine Situation äußerster Intimität aufgerufen, welche dadurch bestätigt wird, dass das Ungeschick Juliusʼ in seinem Brief an Lucinde noch einmal bestätigt wird: »So weit war an Dich geschrieben, was ich mit mir gesprochen hatte, […] da ich eben im Begriff war […] die mannigfachen Produkte meiner Ungeschicklichkeit darzustellen« (KFSA V, S. 8-9) schreibt Julius hier und motiviert so den Titel der Bekenntnisse. Hierdurch entsteht der Eindruck, Julius sei nicht nur Verfasser des Briefs, sondern auch Urheber ebenjenes Titels, wodurch dieser auf die intradiegetische Ebene des Briefs, der romaninternen Rahmenerzählung, rücken würde. Andererseits signalisiert der Titel Bekenntnisse nicht nur Intimität, sondern ruft auch eine Gattungstradition auf, die mit Augustinusʼ Confessiones ihren Anfang nimmt und insbesondere in der Periode der Empfindsamkeit in der Mitte des 18. Jahrhunderts Konjunktur hatte.274 Überdies verweist er auf das sechste Buch des Wilhelm Meister, die Bekenntnisse einer schönen Seele. Insofern lässt sich der Titel Bekenntnisse eines Ungeschickten ebenfalls als Peritext zum Romantitel Lucinde verstehen, bzw. als nähere Beschreibung des ersten Teils, dem ja ein zweiter Teil folgen sollte und als Evokation einer spezifischen Gattung von Buchförmigkeit. Das Verhältnis zwischen eigentlichem Rahmen und Gerahmtem wird doppeldeutig. Diese Lesart wird durch den zweiten Teil des Titels, die Benennung des ›Ungeschickten‹ unterstützt. Zunächst bezieht sich dieser Titel auf den schreibenden Julius, so etwa im Rahmenbrief an Lucinde, in der er das kommende als »mannichfache[...] Produkte meiner Ungeschicklichkeit« (KFSA V, S. 9) ankündigt. Diese Identifikation des schreibenden Juliusʼ als ungeschickten Verfasser erscheint jedoch doppelbödig. In der Charakteristik der kleinen Wilhelmine adressiert Julius direkt seine Briefpartnerin Lucinde mit den Worten:

273 Hier wird schon deutlich, dass sich mithilfe der Erzähltheorie nicht unbedingt neue Erkenntnisse über den Roman gewinnen lassen (so etwa Hoche: Utopische Liebesentwürfe), sondern, dass vielmehr der Roman Lucinde gut geeignet ist, die Grenzen der Anwendbarkeit von erzähltheoretischen Kategorien sichtbar zu machen. Mit der Genette’schen Terminologie müsste man nun streng hierarchisch die zunächst als extradiegetisch bezeichnete Erzählebene des ersten Briefs an Lucinde als intradiegetisch bezeichnen, die darauffolgenden ›Blätter‹ als metadiegetisch. Dies würde aber der Spezifik des Romans, die gerade im Schwanken zwischen zwei Rahmungen, einer intimen und einer öffentlichen, besteht, nicht gerecht werden. 274 Zur hybriden Stellung von Bekenntnissen als Diskurs und Gattung vgl. etwa Breuer: Bekenntnisse.

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Wenn du es mit der Wahrscheinlichkeit und durchgängigen Bedeutsamkeit einer Allegorie nicht so gar strenge nehmen und dabei so viel Ungeschicklichkeit im Erzählen erwarten wolltest, als man von den Bekenntnissen eines Ungeschickten fodern muß, wenn das Costum nicht verletzt werden soll: so möchte ich dir hier einen der letzten meiner wachenden Träume erzählen, da er ein ähnliches Resultat gibt wie die Charakteristik der kleinen Wilhelmine. (KFSA V, S. 15) Die Ungeschicklichkeit im Erzählen, welche der Begriff des Ungeschickten schon gemäß der poetischen Tradition adressieren könnte275 , wird hier bereits als Maske ausgewiesen, die insofern einen scheinbar eigentlichen Kern verdeckt. Ein anderer Bereich des Ungeschickten stellt nicht das Erzählen, sondern das Lieben selbst dar. Julius teilt sich anscheinend die Ungeschicktheit mit allen Männern, wenn Eine Reflexion von der »männliche[n] Ungeschicklichkeit« spricht, welche »ein mannigfaltiges Wesen [besitzt] und reich an Blüten und Früchten jeder Art« (KFSA V, S. 74) ist.276 Hier wäre an die andere, im Roman und auch in seiner ersten Rezeptionsphase sehr viel expliziter adressierte Bedeutungsebene des ›Unschicklichen‹ zu denken, die zunächst einmal klar in den Bereich des Sittlichen eingeordnet erscheint. Im Text selbst wird die Semantik des Unschicklichen jedoch nicht auf die sittliche Sphäre, sondern nur auf das Erzählen angewendet. So heißt es in der Allegorie von der Frechheit: »Übrigens wollte ich eigentlich davon reden, welchen Eindruck dieser fantastische Roman auf die Frauen machen würde, wenn der Zufall oder die Willkür ihn fände und öffentlich aufstellte. Es wäre auch in der Tat unschicklich, wenn ich dir nicht in aller Kürze mit einigen kleinen Beweisen von Weissagung und Divination aufwartete, um mein Recht auf die Priesterwürde darzutun.« (KFSA V, S. 24) Hier muss eine Interpretation des ›Unschicklichen‹ als sittlich-moralische Kategorie notwendig scheitern, vielmehr adressiert das Adjektiv ›unschicklich‹ genau die angesprochene Doppelung der Kommunikationssituationen. Während es im ersten Beispiel, der Beschreibung Juliusʼ als ungeschicktem Erzähler, den Anschein hat, als sei der ›wahre Kern‹ in der Liebeskommunikation zu suchen und der auktoriale Gestus Juliusʼ als Autor der Bekenntnisse eines Ungeschickten lediglich eine Maske, verkehrt sich hier das Verhältnis von eigentlichem und uneigentlichem Kommunizieren. Es erscheint Julius nun gerade schicklich, seiner Geliebten die genauen Umstände der Rezeption des Romans als gedrucktem Buch zu schildern.277 In Schleiermachers Rezension schließlich 275 Hier wäre sie dann als bereits angesprochene captatio benevolentiae, genauer als Devotionsformel aufzufassen, vgl. zur rhetorischen Tradition der captatio benevolentiae etwa Wessel: Captatio Benevolentiae. Zu den intertextuellen Verweisen auf Cervantesʼ Prolog des Don Quixote vgl. Kaminski: Kreuz-Gänge, S. 110-111. 276 Diese Lesart des männlichen Geschlechts als insgesamt ungeschickt verbindet etwa Richard Littlejohns mit einer allgemeinen kultur- und modernekritischen Lesart des Romans, vgl. ders.: A ReExamination of Emancipatory Ideas. 277 Nicola Kaminski interpretiert die Semantik des ›Ungeschickten‹ auch als Ausweis einer dem Text eingeschriebenen Doppelung von »Hermeneutik und Hermetik« (dies.: Kreuz-Gänge, S. 119) und sieht damit den Leser des Texts als den eigentlich ›Ungeschickten‹, vgl. S. 110; eine Lesart, die später um die Interpretation des Ungeschickten als ›ungeschickter‹ Liebesbrief erweitert wird, welche den gedruckten, veröffentlichten Roman erst ermöglicht (vgl. S. 133) Hier werden dann der Doppelung von »Hermeneutik« und »Hermetik« die beiden Semantiken des »Unschicklichen« (»her-

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wird die auf die Rezeption angewendete Begrifflichkeit des ›Schicklichen‹ wieder zu ihren Ursprüngen des ›Ungeschickten‹ zurückgeführt, wenn Friedrich Ernestine schreibt: »Vorbereiten möchte ich Dich aber wenn ich könnte, ein wenig, damit Du nicht durch allerlei ungehörige Gedanken gestört und desorientiert, das Buch vielleicht erst einmal ungeschickt und ohne Genuß lesen müßtest, um des Lesens würdig zu werden.« (VB, S. 119) Die Oszillation wird hier angehalten und die eigentlichen Beweggründe offengelegt: Es geht um das Problem des ›Schickens‹ des Lesenden selbst, insofern das Lesen als voraussetzungsreich markiert wird. An der hybriden Stellung des Titels Bekenntnisse eines Ungeschickten zwischen intimer Rezeptionssituation der brieflichen Kommunikation mit Lucinde und der öffentlichen Rezeptionssituation des Romans als gedrucktem Buch lässt sich bereits ablesen, inwiefern der Roman mit diesen verschiedenen Möglichkeiten der Lektüre spielt, sie oszillieren lässt.278 Diese Oszillation prägt nicht nur den Titel, der visuell als Schaltstelle zwischen den verschiedenen Rahmen des Texts steht, sondern durchzieht auch die jeweiligen Rahmen selbst. Im Prolog vollzieht sich bereits der Übergang zwischen dichterischer Kommunikation als Poesie und Liebeskommunikation. Der Aufzählung der drei vorbildlichen Prologe Petrarca, ›Boccaz‹ und Cervantes und ihrer jeweiligen äußerst gelungenen Kommunikation mit dem Leser folgt die Frage: »Aber was soll mein Geist seinem Sohne geben, der gleich ihm so arm an Poesie ist als reich an Liebe?« (KFSA V, [S. 3]) Diese Frage ist in mehreren Hinsichten interessant. Zum einen wird hier als möglicher Adressat des Buchs, neben der Geliebten Lucinde und dem anonymen Publikum, eine dritte Variante aufgerufen: der angesprochene Sohn. Das im Begriff ›Sohn‹ aufgerufene Bild der Nachfolge koppelt hier das Modell des Nachschöpfens und damit die Poesie im Zeitalter der Kritik, wie sie im ersten Absatz des Prolog angesprochen ist, mit der tatsächlichen genealogischen Nachfolge im Zeichen der Liebe und Vereinigung der Geschlechter.279 Diese Kopplung wird durch das »Bild zum Abschiede« bestätigt: »Nicht der königliche Adler allein darf das Gekrächz der Raben verachten; auch der Schwan ist stolz, und nimmt es nicht wahr. Ihn kümmert nichts, als daß der Glanz seiner weißen Fittiche rein bleibe. Er sinnt nur darauf, sich an den Schoß der Leda zu schmiegen, ohne ihn zu verletzen, und alles was sterblich ist an ihm, in Gesänge auszuhauchen.« (KFSA V, [S. 3]) Der königliche Adler steht metaphorisch für die Dichtung280 – im biblionomen Zeitalter also für Literatur – welcher dem mythologisch codierten »liebend sich verausgabenden Schwanengesang«281 gegenübergestellt wird. Der Prolog ist insofern doppelbödig: Er weist seine eigene Alternative, den Liebesbrief, gerade in seiner konventionellen Funktion als eigentliche Romanankündigung und damit literarische Rahmung als

meneutisch hyperkompatibel, das heißt peinlich schnellverständlich«) und des »Ungeschickten« (»hermeneutisch nicht kompatibel, d.h. hermetisch«) zugeordnet. 278 Zur doppelten Adresse des Texts vgl. auch Dehrmann: Lucinde, S. 173-174. 279 Vgl. zu dieser Doppelung auch Peter: Geselligkeiten, S. 308, der die »Duplizität des Eros als körperliches und geistiges Zeugungsprinzip« herausstellt. 280 Vgl. dazu Peter: Geselligkeiten, S. 307, Anm. 42. 281 Kaminski: Kreuz-Gänge, S. 110.

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präferierte Option aus.282 Die unauflösliche Verschränkung der sich wechselseitig aufhebenden Paratexte als alternative Rahmen wird hier noch einmal augenfällig. Dazu parallel wird im ›Liebesbrief‹ an Lucinde, in der Allegorie von der Frechheit die Lektüre des Romans imaginiert, insofern Julius »eigentlich davon reden [wollte], welchen Eindruck dieser fantastische Roman auf die Frauen machen würde« (KFSA V, S. 24). Als einig legitime Adressatin erscheint hier die Geliebte: »Viele würde mich besser verstehen als ich selbst, aber nur Eine ganz, und die bist du.« (KFSA V, S. 24) Auf diese Widmung folgt eine ausführliche Überlegung zur Rezeption diverser anderer Frauen, so etwa Clementinen, die »das Ganze bloß interessieren [wird] als eine Sonderbarkeit« oder »die weiche und verletzbare Rosamunde« und schließlich Juliane, die »eben so viel Poesie als Liebe, eben so viel Enthusiasmus als Witz« (KFSA V, S. 25) hat. Im Spiel mit der Idee, den fantastischen Roman an die (weibliche) Öffentlichkeit zu bringen, wird die vermeintliche Intimität der Kommunikation konterkariert und so aufgehoben. Der Roman bildet den Rahmen für eine »Kollision zweier einander durchkreuzender kommunikativer Akte«283 . Die Referenzen der beiden Rahmen als Prolog und Liebesbrief überkreuzen und überlagern sich gegenseitig und erhalten so die Symmetrie zwischen intimer Liebes- und an ein unspezifisches Außen gerichteter poetischer Kommunikation. Die eigentümliche Oszillation wird von Julius selbst gegenüber Lucinde entschuldigt: »Denke nur nicht zu arg von mir und glaube, daß ich nicht allein für dich sondern für die Mitwelt dichte. Glaube mir, es ist mir bloß um die Objektivität meiner Liebe zu tun. Diese Objektivität und jede Anlage zu ihr bestätigt und bildet ja eben die Magie der Schrift, und weil es mir versagt ist, meine Flamme in Gesänge auszuhauchen, muß ich den stillen Zügen das schöne Geheimnis vertrauen.« (KFSA V, S. 24-25) Die Oszillation zwischen Liebeskommunikation und öffentlicher Romankommunikation verweist, so wird hier deutlich, auf eine andere Unterscheidung: die von mündlich (Gesänge) und schriftlich (den stillen Zügen). Es ist die ›Magie der Schrift‹, die es allein erlaubt, die ›Objektivität der Liebe‹ darzustellen. Als Magie wurde oben schon eine Strategie der Inklusion von Lektüre bei gleichzeitiger Exklusion der meisten Lesenden beschrieben, also eine auch soziale Programmierung der Lektüre des Buchs. Die vermeintliche Objektivität, die durch die Magie der Schrift der Liebe verliehen wird, besteht also in einer Existenz derselben auf gedruckten Buchseiten, die gleichzeitig aber nicht – wie es eigentlich für gedruckte Buchseiten üblich ist – allen zugänglich sein können, und insbesondere nicht jeder Lektüre. Diese Würdigung der Schrift verweist auf einen paradoxen Umgang mit derselben, der die im Roman verwirklichte Vision einer umfassenden Symmetrie gleichzeitig ermöglicht und durchkreuzt.

282 Die Widersprüchlichkeit des Prolog besteht also nicht nur, wie etwa Cordula Braun es darstellt, in der Diskrepanz zwischen der captatia benevolentiae »arm an Poesie« und der dem entgegenstehenden metaphorischen Ausgestaltung, vgl. Braun: Divergentes Bewußtsein, S. 186. 283 Kaminski: Kreuz-Gänge, S. 131.

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Für das ambivalente Verhältnis zur Schrift284 lässt sich etwa auch folgender Auszug aus dem ›Rahmenbrief‹, Juliusʼ Brief an Lucinde, heranziehen. Hier schreibt Julius: Alle Mysterien des weiblichen und des männlichen Mutwillens schienen mich zu umschweben, als mich Einsamen plötzlich Deine wahre Gegenwart und der Schimmer der blühenden Freude auf Deinem Gesichte vollends entzündete. Witz und Entzücken begannen nun ihren Wechsel und waren der gemeinsame Puls unsers vereinten Lebens; wir umarmten uns mit ebensoviel Ausgelassenheit als Religion. Ich bat sehr, Du möchtest Dich doch einmal der Wut ganz hingeben, und ich flehte Dich an, Du möchtest unersättlich sein. Dennoch lauschte ich mit kühler Besonnenheit auf jeden leisen Zug der Freude, damit mir auch nicht einer entschlüpfe und eine Lücke in der Harmonie bleibe. Ich genoß nicht bloß, sondern ich fühlte und genoß auch den Genuß. Du bist so außerordentlich klug, liebste Lucinde, daß du wahrscheinlich schon längst auf die Vermutung geraten bist, dies alles sei nur ein schöner Traum. So ist es leider auch, und ich würde untröstlich darüber sein, wenn ich nicht hoffen dürfte, daß wir wenigstens einen Teil davon realisieren könnten. (KFSA V, S. 8) Die Gleichzeitigkeit von Weiblichkeit und Männlichkeit, von Witz und Entzücken, von Ausgelassenheit und Religion und schließlich von Wut und Besonnenheit sowie gegenwärtigem Genuss und reflexivem Genießen des Genusses, die im ersten Absatz euphorisch beschrieben wird, entpuppt sich im zweiten Absatz als Traum. Dieser Traum ist nicht nur durch seine Enthüllung als ebensolcher in die Distanz gerückt, sondern auch durch das Tempus, das (epische) Präteritum. Hier spricht sich das ambivalente Verhältnis zur Schrift aus. Einerseits ermöglicht sie, als Medium des Epischen und damit der Lektüre, die beschriebene Gleichzeitigkeit des Erlebens und Beschreibens, eben das Genießen des Genusses. Andererseits lässt sich diese Gleichzeitigkeit aber als nur scheinbare entlarven, sobald die Illusion in der Präsenz des Gesprächs, welches auf die Beschreibung der Szene folgt, durchbrochen wird: »Es war Illusion, liebe Freundin, alles Illusion, außer daß ich vorhin am Fenster stand und nichts tat und daß ich jetzt hier sitze und etwas tue, was auch nur wenig mehr oder wohl gar noch etwas weniger als nichts tun ist« (KFSA V, S. 8), gesteht Julius nun im Präsens. Diese Tätigkeit, die Julius zunächst als wenig mehr, dann allerdings sogar als etwas weniger als nichts tun beschreibt, ist die reine Tätigkeit des Schreibens, welche offenbar, sobald sie in den Fokus rückt, die schöne Illusion durchbricht, insofern sie auf die dem Schreibenden nur schmerzhaft ins Bewusstsein rückende Problematik der Nichtschließbarkeit des Buchs aufmerksam macht. Die beiden Ebenen der schriftvergessenen Illusion im epischen Präteritum und der illusionsdurchbrechenden Reflexion auf die Tätigkeit des Schreibens im nächsten Mo284 Das ambivalente Verhältnis zur Schrift kennzeichnet im Übrigen auch teilweise die Forschungsliteratur. So möchte etwa Julia K.C. Samwer (Symbole der Erkenntnis) den Roman Lucinde »eher simultan als dem ihrer schriftlichen Struktur gemäß zeitlichen Nacheinander oder räumlichen Untereinander verpflichtet« und insofern »als Symbol« (vgl. S. 217-218) ohne dabei zu berücksichtigen, dass genau diese Lesart eben nicht ›anti-schriftlich‹ ist, sondern nur im Medium der gedruckten Buchseite funktionieren kann. Insofern gibt es kein »Jenseits seiner logischen, syntaktischen und schriftlichen Struktur« (S. 218).

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ment werden nun überblendet von einer weiteren Verschaltung von Präteritum und Präsens, von Schreiben und Leben. So fährt der Brief wiederum mit einem abrupten Tempuswechsel fort: So weit war an Dich geschrieben, was ich mit mir gesprochen hatte, als mich mitten in meinen zarten Gedanken und sinnreichen Gefühlen über den ebenso wunderbaren als verwickelten dramatischen Zusammenhang unser Umarmungen ein ungebildeter und ungefälliger Zufall unterbrach, da ich eben im Begriff war, die genaue und gediegene Historie unsers Leichtsinns und meiner Schwerfälligkeit in klaren und wahren Perioden vor Dir aufzurollen, die von Stufe zu Stufe allmählich nach natürlichen Gesetzen fortschreitende Aufklärung unsrer den verborgenen Mittelpunkt des feinsten Daseins angreifenden Mißverständnisse zu entwickeln und die mannigfachen Produkte meiner Ungeschicklichkeit darzustellen, nebst den Lehrjahren meiner Männlichkeit; welche ich im Ganzen und in ihren Teilen nie überschauen kann, ohne vieles Lächeln, einige Wehmut und hinlängliche Selbstzufriedenheit. Doch will ich als ein gebildeter Liebhaber und Schriftsteller versuchen, den rohen Zufall zu bilden und ihn zum Zwecke gestalten. (KFSA V, S. 8-9) Die Einleitung dieses Absatzes eröffnet wiederum mehrere Ebenen im selbst schon auf einer Rahmenebene lokalisierten Brief an Lucinde. Die gesamte erste Dopplung der im Präteritum ausgemalten Illusion und des sich im Präsens anschließenden Bruchs der Illusion durch den Verweis auf die ihn erzeugende Tätigkeit des Schreibens wird nun wiederum als bereits aus der Distanz beobachtete bzw. im Medium des Schreibens erzeugte Dopplung enthüllt.285 Dabei erscheint der Übergang zwischen Selbstgespräch und Schreiben des Briefs an die Geliebte als bruchloser Übersetzungszusammenhang: »So weit war an Dich geschrieben, was ich mit mir gesprochen hatte.« (KFSA V, S. 8) Als Objekt des Schreibens wird hier das Selbstgespräch eingesetzt und Schreiben und Sprechen so als zwei gleichrangige Möglichkeiten dargestellt, zwischen denen ohne Verluste gewechselt werden kann. Darüber hinaus eröffnet sich hier eine neue Dopplung, die wiederum den Prozess des Schreibens einem Außen gegenüberstellt, dem ›ungebildeten und ungefälligen‹ und damit ›rohen Zufall‹, welcher den Schreibenden unterbricht. Mit dieser neuerlichen Dopplung aus konzentrierter Schreibtätigkeit und Zufall, welcher diese unterbricht, werden außerdem zwei Modelle des Romans einander gegenübergestellt: eben der Zufall gegenüber den ›klaren und wahren Perioden‹. Der tatsächliche Roman Lucinde wird hier also im Romantext selbst als eine Variante beschrieben, die darüber hinaus auch noch konkretisiert wird. Bei der anderen möglichen Version hätte es sich um eine gediegene Geschichtsschreibung gehandelt. Das tatsächliche Buch lässt sich also nicht aus sich heraus verstehen, sondern nur in Beziehung zu den durch die Intervention des rohen Zufalls nicht realisierten Möglichkeiten. Hier ist unschwer das Programm der Nachkonstruktion zu erkennen, welches darin besteht, das zu lesende Buch aus

285 Dieser Wechsel aus Enthüllung und Performanz lässt sich im Sinne des berühmten AthenäumFragments 116 auch mit dem Begriff der Ironie beschreiben – allerdings ist der Begriff ›Ironie‹ selbst Teil der beschriebenen begrifflichen Doppeldynamik aus symmetrischen, individuellen Gegensatzbegriffen und prozessualen, asymmetrischen Einheitsbegriffen.

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der unendlichen Menge an anderen Möglichkeiten erneut herauszubilden. Das was die Konstruktion für das Buch leisten soll, nämlich die Konfrontation mit seiner Genese, wird hier in den Roman Lucinde selbst eingeschrieben und so die hermeneutische Lektüre als Nachkonstruktion in das Buch integriert. An dieser Stelle wird deutlich, worauf die arabeske Struktur des Buchs abzielt. Immer wieder wird versucht, das Buch aus seiner Einseitigkeit zu befreien, indem die Lektüre als ebenbürtige in den Text integriert wird. Diese symmetrische Dopplung des Buchs in ein materiell Vorhandenes und ein imaginär in der Lektüre entstehendes vollzieht sich auf mehreren Ebenen. Zum einen schwankt die Autorschaft zwischen ›Liebhaber‹ und ›Schriftsteller‹ – das Buch oszilliert zwischen Liebesbrief an die eine auserwählte Adressatin Lucinde und Roman an eine unspezifische Öffentlichkeit. Darüber hinaus besteht die Dopplung des Buchs im Verhältnis von Schrift und Mündlichkeit, indem das Gespräch in das Buch integriert wird. Rede und Schrift bilden jeweils den Rahmen füreinander. Diese Konfrontation des Buchs mit seiner Lektüre zeigt sich auch im Versuch, in der Linearität der Schrift nichtlineare Strukturen zu realisieren286 . Rein auf der Ebene der ›histoire‹ lässt sich dies etwa in der nicht vorhandenen bzw. vielfältig unterbrochenen und durchkreuzten Chronologie der Geschehnisse erkennen, die vielfältige Bezüge erlauben.287 Die nichtlinearen Strukturen gehen allerdings über die Ebene der ›histoire‹ weit hinaus. So zeigt etwa Christoph König, wie sich im Roman ein »Geflecht von Gattungen« entfaltet, »die untereinander wettzumachen haben, was die Gattung als Gattung jeweils versäumt«288 . Gemäß der ›cyklischen Methode‹, die aus der Theorie der Lektüre übernommen worden ist und eine Radikalisierung des hermeneutischen Zirkels darstellt, reichern sich auch die einzelnen Abschnitte in der Lucinde jeweils rückwirkend gegenseitig an und heben sich dabei gleichzeitig gegenseitig auf. Die Hierarchie des ›epischen Kerns‹, der Lehrjahre der Männlichkeit zu seinen Rändern ist damit nur eine scheinbare, vielmehr bewegen sich die einzelnen Textstücke auf einer gleichberechtigten Ebene der wechselseitigen Kommentierung und Durchkreuzung von Textproduktion und Lektüre, von Performanz und Reflexion. Waltraud Wiethölter spricht, im musikalischen Register, von »Glissaden«289 , welche die einzelnen Abschnitte des Romans verknüpfen. Die Arabeske bezeichnet also nicht nur in Bezug auf Lucinde, sondern ganz grundsätzlich den Versuch, das Buch aus seiner Einseitigkeit zu befreien und in ihm eine Gleichzeitigkeit von Gegensätzen wie Roman und Romanplan oder eben Schrift und Nichtschrift zu realisieren. Auch auf der Ebene der medialen Umsetzung steht die Arabeske also für die Vision von Symmetrie, die hier aber durch die Materialität selbst durchkreuzt wird. Diese Sicht auf das Schreiben wird auch im Brief von Julius an Antonio deutlich ausgesprochen:

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Vgl. dazu konkret Hudgins: Nicht-epische Strukturen des romantischen Romans. Etwa die bereits angesprochene Deutung der kleinen Wilhelmine als Tochter Juliusʼ und Lucindes. König: Grenzen der Cyklisation, S. 37. Wiethölter: Ursprünglicher Gedanken Refrain – Wiederholung, S. 624. Die ›Glissade‹ bezeichnet einen gleitenden Schritt im Ballett. Die Gleitbewegung wird von Wiethölter also als körperliche und damit verräumlichte aufgefasst.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Es ist wohl schön, daß wir endlich einmal wieder miteinander gesprochen haben; ich bin es auch zufrieden, daß Du durchaus nicht schreiben wolltest, und auf die armen unschuldigen Buchstaben schiltst, weil Du wirklich zum Sprechen mehr Genie hast. Aber ich habe doch noch eins und das andre auf dem Herzen, was ich nicht sagen konnte und was ich versuchen will, Dir brieflich anzudeuten. Warum aber auf diesem Wege? – O mein Freund, wenn ich nur noch ein feineres gebildeteres Element der Mittelung wüßte, um das, was ich möchte, in zarter Hülle leise aus der Ferne zu sagen! Das Gespräch ist mir zu laut und zu nah und auch zu einzeln. Die einzelnen Worte geben immer wieder nur eine Seite, ein Stück von dem Zusammenhange, von dem Ganzen, das ich in seiner vollen Harmonie andeuten möchte. (KFSA V, S. 76). Die Schrift ist, als Brief, mit der Vision von Symmetrie verbunden, welche hier als ›volle Harmonie‹ adressiert wird, die das mündliche Gespräch nicht bieten kann. Die Grenze dieser Vision von Symmetrie deutet sich allerdings ebenfalls an. Sie lässt sich nur, so schreibt Julius hier selbst, als Schrift realisieren. Gerade die beständige Übersteigung des Präsenten, die Distanzierung von ihm und seine Konfrontierung mit seinem Anderen entpuppt sich als Eigendynamik des Schriftlichen. Der Traum, die Illusion, besteht insbesondere im Versuch, das Leben selbst in die Schrift zu holen. Dies wird immer wieder angedeutet. So findet Julius anstelle von Lucinde selbst nur Schrift vor: »Eine große Thräne fällt auf das heilige Blatt, welches ich hier statt Deiner fand.« (KFSA V, S. 10) Stattdessen bricht das Leben insofern in die Schrift ein, als es ihr Ende, ihren Abbruch präsent macht. So etwa im ersten der Zwei Briefe, der von Julius an Lucinde gerichtet ist. Hier wird zunächst die Ankündigung gemacht, dass Julius und Lucinde ein Kind erwarten. Anschließend erfolgt eine Reihe insbesondere im Kontext des Gesamtwerks merkwürdig banal anmutender Anweisungen dazu, wie das Haus und der Garten eingerichtet sein wollen: »Du hast Recht, das kleine Landgut müssen wir durchaus kaufen. Es ist gut, daß du gleich die Anstalten getroffen hast, ohne auf meine Entscheidung zu warten. Richte alles ein, wie es Dir gefällt; nur nicht gar zu schön, wenn ich bitten darf, aber auch nicht zu nützlich und vor allen Dingen nicht zu weitläufig.« (KFSA V, S. 62) Hier wird die Grenze des Schriftlichen bereits berührt, welche wenig später selbst ausgesprochen wird: »Es bedarf nun dieser Art von Fantasie – der geschriebenen – nicht mehr. Ich werde bald bei Dir sein.« (KFSA V, S. 64) Der Versuch, das andere der Schrift in die eigene Textproduktion einzufügen muss notwendig scheitern. Selbst die transzendente Version des Buchs, die sich selbst immer nur als eine Seite eines Gegensatzes präsentiert und das Andere, Ausgeschlossene, präsent hält, kann ihrem Medium nicht entfliehen und das tatsächliche Andere schließlich nur als negatives Außen, als eigenes Ende zugänglich machen. Es gelingt der unsichtbaren Arabeske also, »Ränder oder Grenzen solcher [der schriftlichen] Netze zur Gegebenheit zu bringen«290 , aber nicht, das Andere der Schrift als positiven Gegensatz symmetrisch zu gestalten. Das

290 Kittler: Vom Take Off der Operatoren, S. 161.

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Lektüre als Form

»Denken der paradoxalen Konzeption der Transparenz des Intransparenten«291 kommt in der Materialität selbst an sein Ende.292 Die eigentliche Vereinigung der Liebenden macht sowohl den Liebesbrief als auch den Roman obsolet.293 Die Arabeske bezeichnet als Möglichkeit genau das, was mit dem prozessualen Formbegriff angesprochen ist: »Die Arabeske verkörpert den Übergang vom Gestaltlosen zum Gestalteten, vom Formlosen zur Form.«294 Insofern dieser Übergang und damit das Verhältnis zwischen beiden Seiten als symmetrisches konzipiert wird, blockiert die Figur der Arabeske gleichzeitig einen solchen prozessualen Formbegriff, der immer einseitig in Richtung der Form ausschlägt. Die Arabeske steht für die nur im Medium der Schrift zu realisierende Vision einer umfassenden Symmetrie zwischen allen Gegensätzen und damit auch für ein letztes Aufbäumen des Mündlichen, sozial Verbindlichen angesichts der Übermacht der Schrift, welche alles ihr Äußere in die reine Selbstbezüglichkeit der Buchstaben bannt: »Das Schreiben [ist] für den Kreis um das Athenäum durchaus kein Gegensatz zum Gespräch, sondern die ihm eigentümliche Form«295 . Allerdings handelt es sich hierbei – so zumindest die Imagination, die in der Lucinde schließlich das Bild der Arabeske grundiert – nicht um gedruckte Buchseiten, sondern um die Handschrift. In der Verschaltung von Briefen und Romanform, die sich wechselseitig als Rahmen dienen und damit die Verschränkung von symmetrischer intimer Kommunikation und asymmetrischer Wendung an die Öffentlichkeit materiell performieren zeigt sich ein konzeptionelles »Ineinander von Hand- und Druckschriftlichkeit innerhalb des gedruckten Buches«296 . Wie Christian Benne in seiner umfangreichen Studie über die Erfindung des Manuskripts zeigt, ist es am Ende des 291 Weitz: Die romantische Arabeske als ›Klartext‹, S. 264. 292 Auch im Denken Schlegels findet der Begriff der Arabeske sein Ende. Nach dem Jahre 1801 fällt der Begriff kaum noch, wie Polheim herausstellt, vgl. dessen Auflistung von 119 Belegstellen für den Begriff in Polheim: Arabeske, S. 22. Gleichzeitig betont Polheim jedoch immer wieder, dass die mit dem Begriff der Arabeske verbundenen Konzeptionen die sogenannte ›Wende‹ überdauern, vgl. etwa S. 58: »Tatsächlich scheint, wenn wir diese Äußerung [aus den Notizen des Jahres 1807] auch nur auf unsere augenblickliche Fragestellung beziehen, ein solches System vorhanden zu sein; denn daß die unendliche Fülle jetzt christlich-katholisch gedeutet wird – weshalb auch der Ausdruck ›arabesk‹ verschwindet – ändert nichts an den Grundzügen, die schon in der frühen Periode erkennbar sind.« Hier wird wiederum deutlich, dass es das Wesen der Schlegelschen Textproduktion ist, Begriffe nicht einheitlich zu verwenden, sondern vielmehr laufend auszutauschen und durch neue zu ersetzen. 293 Zum grundlegenden Zusammenhang zwischen imaginierter Weiblichkeit, Schreiben und Literatur um 1800 vgl. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 – 1900. Seine an E.T.A. Hoffmanns Der goldene Topf entwickelte Diagnose lautet: »Das Aufgeschriebensein des Muttermunds im Aufschreibesystem von 1800 heißt Dichtung. Nicht nur in ihren Inhalten, sondern im Schreibakt selbst.« (S. 125) Der Übergang vom Lesen, also von den gedruckten Buchstaben, zur Liebe und zum Leben hat topische Qualität bereits seit der Szene zwischen Paolo und Francesca in Dantes Divina commedia. Die entscheidenden Zeilen lauten bekanntlich: »Verführer war das Buch und der’s geschrieben. An jenem Tage lasen wir nicht weiter.« (Dante Alighieri: Die göttliche Komödie, S. 69) 294 Busch: Die Arabeske, S. 22. 295 Benne: Die Erfindung des Manuskripts, S. 462. 296 Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 53. Anders als bei Spoerhase, der sich auf die Gattung der Manuskriptdrucke bezieht, wird dieses Ineinander aber gerade nicht materiell aufgerufen, insofern etwa Platz für handschriftliche Ergänzungen bleiben oder die Drucktype der Handschrift angenähert wird, wie es dann bei Stefan George um 1900 der Fall ist (siehe dazu auch Martus: Werk-

4. Arabeske: Reden/Schweigen

18. Jahrhunderts die Handschrift, und hier insbesondere handschriftliche Briefe oder Bekenntnisse, in der das Phantasma einer direkten Zugänglichkeit des Individuellen, gar Körperlichen, fortbesteht: »Wenn Schlegel Texte drucken lässt, geht es ihm u.a. darum, Eigenschaften des handschriftlichen Schreibens in den Druck zu überführen, wie sie gewöhnlich in Form von Briefen, Notizen von Einfällen, Randbemerkungen usw auftreten.«297 In der sich wechselseitig aufhebenden Überkreuzung der Kommunikationssituationen zwischen liebendem Gespräch und anonymer Veröffentlichung steht die Arabeske für ein mediales Amalgam, für die persönliche Handschrift und damit die Insistenz des individuellen, symmetrischen Gesprächs im Druckbild.298 Die individuelle Handschrift wird zwar als das Erste und Eigentümliche imaginiert, bleibt jedoch immer nur nachträgliche Ergänzung im Medium der Nostalgie, die ihre Aura auch historisch von der gedruckten Buchseite bezieht.299 So kippt die Arabeske schließlich doch noch von der symmetrischen Vermittlung von Schrift und Nichtschrift in die asymmetrische Selbstbezüglichkeit.

4.2.5.

Reden und Schweigen

Wie zuvor gezeigt, basiert die Vermittlung von Öffnung und Schließung für Schlegels Buch Lucinde auf der im Buch selbst evozierten Programmierung von Lektüre als (hand)schriftliches Gespräch unter Liebenden. Das Gespräch bildet somit den sozialen Rahmen für das Buch – es öffnet dasselbe für die Lektüre, schließt diese aber gleichzeitig in der Vorstellung einer homogenen und damit kontrollierbaren Situation als »wechselseitige[...] Bindung im Verhältnis von Individuen«300 . Die Funktion des idealisierten Gesprächs ist somit die Stabilisierung der Buchförmigkeit angesichts einer als nicht mehr überblickbar empfundenen Rezeptionssituation: »Immer wenn die Geltung der Diskurse, mit denen das Bewußtsein sich ins noch Unformulierte hineinarbeitet, problematisch wird, scheint der Rückgang auf das Gespräch als Wurzel unserer ausgreifenden diskursiven Formationen unvermeidlich.«301 Die Vorstellung der Lektüre als Gespräch leistet somit eine Schließung des Buchs gewissermaßen von außen, die einer Öffnung des Buchs in der Lektüre gegenübersteht. Diese Gleichzeitigkeit von Schließungs- und Öffnungsfiguren zeigt sich in dem im Text des Buchs evozierten symmetrischen Nebeneinander eines privaten, brieflichen Kommunikationsverhältnisses, das wiederum als symmetrisches ausgeflaggt wird, und einer öffentlichen, gedruckten Publikation. Die soziale Öffnung, die mit der gedruckten, öffentlichen Publikation einhergeht, wird durch die im Buch selbst angelegte private Kommunikationssituation, welche die Uneingeweihten als nicht zum Eindringen in die eigentliche Kommunikationssituation, in das eigentliche Gespräch, befähigt und

297 298 299 300 301

politik). Vielmehr überkreuzen sich verschiedene imaginäre Lektüresituationen als doppelbödige Lektüreprogrammierung im konzeptionellen Sinne der Medialität. Benne: Die Erfindung des Manuskripts, S. 462. So die These Kittlers, der am Goldenen Topf zeigt, inwiefern die dort wichtige Schlangenlinie einem disziplinarischen Schönschreib-Training verpflichtet ist, vgl. ders.: Aufschreibesysteme, S. 98-137. Vgl. Benne: Die Erfindung des Manuskripts. Luhmann: Die Differenzierung von Interaktion und Gesellschaft, S. 80. Stierle, Warning: Einleitung, S. I.

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Lektüre als Form

berechtigt markiert, wieder zurückgenommen. Gleichzeitig basiert diese Möglichkeit der Simulation eines idealen, brieflichen Gesprächs aber, wie gezeigt, eben auf der als unerwünscht markierten Publikationsform des gedruckten Buchs, welche überhaupt erst eine stille Lektüre ermöglicht. Diese stille Lektüre besteht in einer »Beschleunigung psychischen Verstehens des Bewußtseins und der Verlangsamung sozialen Verstehens«, wobei »das Bewußtsein […] in seinen Operationen von der Kommunikation abgekoppelt«302 wird. Das Reden wird durch ein Schweigen unterbrochen; innerhalb dieses Schweigens, in der Lektüre, vollzieht sich aber – so zumindest die Vision Schlegels – ein ideales, da von der Normalkommunikation durch die Buchform getrenntes ›inneres Gespräch‹. Die stille Lektüre, die dieses ›innere Gespräch‹ ermöglicht, ist aber nun wiederum im tatsächlichen medialen Sinn der Konzeption von Gesprächen, die »im Vergleich mit anderen Formen der Kommunikation durch ein Höchstmaß an Unmittelbarkeit und Wechselseitigkeit gekennzeichnet sind«303 genau entgegengesetzt. Die Oppositionen von Öffnung und Schließung, Buch und Lektüre und schließlich Reden und Schweigen überkreuzen und überlagern sich also gegenseitig. Das Schweigen, die stille Lektüre des Buchs, wird durch das Reden, die Verwicklung in eine intime ›Gesprächs‹situation übercodiert, konzeptionell in die »konkrete, leibliche Intersubjektivität und Zeitlichkeit der Situation eingebettet«304 und damit geschlossen, insofern die Atmosphäre des Gesprächs das Ergebnis des Rezeptionsakts vorherzubestimmen sucht. Die Symmetrie dieser intimen Gesprächssituation erinnert an das, was Pierre Bourdieu in seiner Studie zu den Regeln der Kunst als Produzieren ausschließlich für Produzenten beschreibt305 : eine Produktionssituation, in der sich die Autonomie des literarischen Feldes und damit die Schließung des Buchs am deutlichsten entfalten kann. In diese Richtung geht auch Schleiermachers Theoretisierung der Geselligkeit, die »das gesellige Leben als ein Kunstwerk construieren«306 möchte. Die Schließung der Lektüre in Form der Evokation eines direkten persönlichen Verhältnisses lässt sich auch in Schleiermachers Publikationspolitik wiedererkennen. Schleiermachers wahrscheinlich wichtigstes Werk, seine 1799 veröffentlichte Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern stellt ein »Buch [dar], das keines sein wollte und sich Reden betitelte«307 . 302 Jahraus: Literatur als Medium, S. 453. Das Buch ist hierfür allerdings nicht nur »Medienträger des schriftlichen Textes« (ebd., S. 457), sondern als Überformung der ›Normalschrift‹ erst der Grund dafür, dass »Kommunikationsformen, die die Verlangsamung des sozialen Verstehens gerade für die Beschleunigung psychischer Operationen systematisch« genutzt werden können, und das nicht nur in der Literatur, sondern eben auch – wie hier gezeigt wird – in der Theorie. 303 Luckmann: Das Gespräch, S. 53. 304 Luckmann: Das Gespräch, S. 54. 305 Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, etwa S. 395: »[…] auf dem ›temporell‹ beherrschten und symbolisch beherrschenden Pol des Feldes [stehen] die Schriftsteller […], die für ihresgleichen produzieren, das heißt für das Feld selbst oder sogar nur für die autonomste Fraktion dieses Feldes […].« 306 Schleiermacher: Versuch einer Theorie der Geselligkeit, S. 167. 307 Hörisch: Der Mittler und die »Wut des Verstehens«, S. 27. Wie Hörisch ebenfalls hervorhebt, kommentiert Novalis in seinem Fragment »Die Christenheit oder Europa« dieses Verfahren scharfsinnig, vgl. NS III, S. 521: »Dieser Bruder ist der Herzschlag der neuen Zeit, wer ihn gefühlt hat zweifelt nicht mehr an ihrem Kommen, und tritt mit süßem Stolz auf seine Zeitgenossenschaft auch aus dem Haufen hervor zu der neuen Schaar der Jünger. ER hat einen neuen Schleier für die Heilige gemacht, der ihren himmlischen Gliederbau anschmiegend verräth, und doch sie züchtiger, als

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Wie bei Bourdieus Beschreibung des literarischen Felds ebenfalls deutlich wird, basiert diese symmetrische Produktion für Produzenten allerdings auf dem Vorhandensein eines literarischen Felds, welches das nicht produzierende Publikum mit einschließt. Dieses schweigende Publikum ist also im Sinne Michel Serres der »ausgeschlossene, eingeschlossene Dritte«308 . Genauso verhält es sich in Schlegels Konzeption der idealen Lektüre. Es ist nicht das Gespräch, sondern das Schweigen, also die stille Lektüre, in welcher überhaupt nur die Vorstellung einer symmetrischen Kommunikation, die dann als ideales Reden apostrophiert wird, realisiert werden kann. Diese Widersprüchlichkeiten in Schlegels Präsentation des idealen Buchs als symmetrische Vermittlung von Schrift und Gespräch, Lektüre und Buch in der Lucinde werden im Anschluss an die tatsächliche Lektüre durch den Freund Friedrich Schleiermacher ausformuliert. Schleiermachers Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels »Lucinde« erschienen, nach einer zunächst veröffentlichten anonymen Rezension, knapp ein Jahr nach der Veröffentlichung des Buchs unter anderem als Antwort auf die von Friedrich Nicolai kurz zuvor veröffentlichte Persiflage Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundin Julie S**. Bereits im Titel sowie im ersten, rahmenden Brief entfalten sie »die kommunikationstheoretische Crux der Lucinde«309 . Der Titel Vertraute Briefe evoziert genau die Paradoxie der Veröffentlichung einer eigentlich intim erfolgenden Kommunikation mittels explizit ›vertraut‹ genannter Briefe, welche im Verlauf der Briefe selbst um die noch grundlegendere Opposition von Reden und Schweigen erweitert wird. Die (Un)möglichkeit des Gesprächs, welche in der Lucinde vom Phantasma der Handschrift auf der Druckseite verdeckt wurde, wird hier offen thematisiert. Die Vertrauten Briefe legen das bei Schlegel verdeckte »Paradox der Philologie«310 also auch begrifflich offen, welches darin besteht, »sich im Schweigen annihilieren zu müssen, um ihr Ziel, die Wissenschaft kunstgemäß zu üben, erreichen zu können«311 . Beim ersten Brief dieser Vertrauten Briefe handelt es sich – parallel zur brieflichen Struktur in Lucinde – um einen Rahmenbrief, der das Folgende als »zwischen uns bei der Gelegenheit der Lucinde hin und her geschrieben […] nebst ein paar Kleinigkeiten, welche gewissermaßen dazu gehören« (VB, S. 113) einleitet und somit wiederum eine Trennung in extra- und intradiegetische Ebene eröffnet, die diesmal allerdings nicht,

ein Andrer verhüllt. – Der Schleier ist für die Jungfrau, was der Geist für den Leib ist, ihr unentbehrliches Organ dessen Falten die Buchstaben ihrer süßen Verkündigung sind; das unendliche Faltenspiel ist eine Chiffern-Musik, denn die Sprache ist der Jungfrau zu hölzern und zu frech, nur zum Gesang öffnen sich ihre Lippen.« 308 Serres: Der Parasit, S. 41. Während bei Serres der Dritte immer auch als Rauschen identifiziert wird, Serres also das informationstheoretische Paradigma noch als Kommunikation deutet, wird das Rauschen hier als andere Seite des Signals, also als Teil einer zweiseitigen Unterscheidung verstanden, weil das informationstheoretische Paradigma, wie an Niklas Luhmanns Büchern gezeigt wird (vgl. Kap. 6), gerade als Asymmetrisierung von Kommunikation betrachtet wird. 309 Kaminski: Kreuz-Gänge, S. 143. Kaminski bietet insgesamt eine detaillierte und aufschlussreiche Beschreibung der anderen ›Fortsetzungen‹ des Romans unter der Perspektive der »Suspension der Funktion Leser«. 310 König: Grenzen der Cyklisation, S. 17. 311 Ebd.

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wie es in Lucinde durch die Existenz des Prolog und des Romantitels geschieht, wiederum als Buch gerahmt und damit auf die intra- bzw. metadiegetische Ebene verschoben wird. Bei den Vertrauten Briefen handelt es sich also, genau wie bei den Bruchstücken in Lucinde, um Briefe im Brief. Schon hier oszillieren die Vertrauten Briefe ähnlich wie Schlegels Text zum Wilhelm Meister zwischen Lektüre und dem Status als eigenem Buch, insofern sie die poetischen Strategien, die zur Buchförmigkeit führen, gleichzeitig kopieren wie reflektierend ausstellen. So werden die folgenden Briefe als »Rahmen um die Lucinde« charakterisiert, »auf dessen Feldern mit flüchtiger Hand leichte Zeichnungen entworfen sind, deren Beziehung auf das Werk, das sie gern umgeben möchten, sie allein zu etwas macht.« (VB, S. 114) Analog zum »Uebermeister«, wie Friedrich Schlegel bekannterweise seine Rezension in Briefen an Schleiermacher nennt (vgl. KFSA XXIV, S. 140 und 148) gibt es also mit den Vertrauten Briefen eine ›ÜberLucinde‹, wie es Dorothea Veit in einem Brief ebenfalls an Schleiermacher formuliert. Das wechselseitige Legitimationsverhältnis zwischen Buch und Lektüre wird hier im Bild des Rahmens noch einmal aufgerufen. Die Lektüre bildet selbst den Rahmen für die Buchförmigkeit. Allerdings überschreibt sie das tatsächliche Buch, wenn auch nur ›mit flüchtiger Hand‹. Einerseits nimmt sie denselben Raum ein, wie das ihr zugrundeliegende Buch, andererseits reduziert sie es auf »einzelne Hinweisungen auf die lichten Punkte, von denen Glanz und Klarheit über das Ganze ausströmt« (VB, S. 114). Ähnlich wie Über Goethes Meister ist den Vertrauten Briefen die Reflexion über den Status des eigenen »Urteil[s]« (VB, S. 114) eingeschrieben. Die fiktive Verfasserin des Briefs äußert sich auch zum Grund dieser Reflexion: »Warum ich mir die Mühe nehme, Dir so ausführlich ans Herz zu legen, was diese Briefe nicht sind? Nicht aus Koketterie oder dergleichen etwas; sondern weil ich aus verschiedenen Umständen auf die Vermutung geraten bin, als führest du im Schilde, sie drucken zu lassen.« (VB, S. 114-115) Die Idee des Drucks lehnt sie, und dies ist bezeichnend, aber nicht grundlegend ab – ganz im Gegenteil. Als sie den »Vorsatz zuerst ahndete, machte er [ihr] viel Freude« (VB, S. 115). Ich setzte mich hin, um zu den wirklich geschriebenen Briefen noch ein paar hinzuzudichten, die ganz polemischer Natur sein sollten gegen die über die Lucinde, das heißt über die Liebe und alles, was damit zusammenhängt, herrschende – soll ich sagen Denkart? Haarklein und bis zum eigenen Eingeständnis der Dummheit wollte ich den Leuten beweisen, daß sie sich nichts Gesundes denken, bei allem, was sie vorbringen: ich habe sie aber nicht zustande bringen können. Es war mir schlechthin unmöglich, mich in eine Gemeinschaft oder ein Gespräch mit so Gesinnten hineinzuversetzen; ja auch nur eine Veranlassung zu erfinden, wie ich hineingeraten sein könnte, und ich wußte nicht, wie ich mich dazu anstellen sollte, vernünftig mit Leuten zu reden, denen die einfachsten und natürlichsten Begriffe nicht beizubringen sind, die nichts, auch nicht an seiner rechten Stelle, verstehen, und für nichts, was nicht in ihnen ist, irgendwo eine Stelle zu finden wissen, kurz – von denen man eigentlich nichts sagen müßte, um alles gesagt zu haben. (VB, S. 115) Was die Verfasserin hier beschreibt, ist genau das Verfahren in Lucinde. Der Plan besteht darin, Briefe zu erdichten, die allerdings eigentlich nicht an eine vertraute Adresse gerichtet sein sollen, sondern vielmehr an ›die Leute‹, also an die unverständige Öffent-

4. Arabeske: Reden/Schweigen

lichkeit. Die Lucinde inhärente Fiktion intimer brieflicher, handschriftlicher Kommunikation auf der gedruckten, veröffentlichten Buchseite wird hier nun offen als Projekt beschrieben und verworfen.312 Die Sehnsucht nach dem vermeintlich intimen Medium der (handschriftlichen) Briefe resultiert gerade erst aus der dominierenden Kommunikationstechnik des Buchdrucks. Sie stiftet insofern keine andere Form der Kommunikation, sondern muss sich den Gegebenheiten des Buchdrucks restlos beugen. Das »Gespräch mit so Gesinnten« (VB, S. 115) ist, so die Erkenntnis der Schreibenden, ergebnislos. Im Medium des Drucks kann es kein Gespräch mehr geben: »Es gibt zwischen diesen entgegengesetzten Denkarten keine Verständigung und keine Mitteilung, wie es denn auch nicht anders sein kann, da der Gegensatz nicht irgendwo an der Seite oder auf der Oberfläche, sondern im Mittelpunkt liegt.« (VB, S. 116) Der dieses Kapitel überschreibende Gegensatz von Schweigen und Reden ist hier zum ersten Mal angesprochen – wo Reden keinen Sinn mehr hat, sollte besser geschwiegen werden. Genau das ist auch der Vorwurf an die schweigenden Unverständigen. In ihrer »reinen Verehrung für Worte, Buchstaben« (VB, S. 116) praktizieren ausgerechnet die Unverständigen das, worüber Schleiermacher einige Zeit später lesen wird, nämlich Hermeneutik und Kritik, in diesem Fall: stille Stellenlektüre. Das aus dieser resultierende »allgemeine[...] Geschrei« ist allerdings, aus der Warte der Verfasserin des Rahmenbriefs, kein Gespräch, sondern lediglich Rauschen: »Erlaubt, daß wir uns nichts darum kümmern« (VB, S. 118). An dieser Stelle wird rückblickend die Strategie der sich gegenseitig überlagernden Kommunikationssituationen in Lucinde in ihrer Funktion enthüllt und diese gleichzeitig negiert. Die »verständnisaussperrende Hermetik des Textes«313 lässt sich konkret als Projekt einer Programmierung der Lektüre im Zeichen des Gesprächs verstehen, die doppelte Adressierung als Versuch einer – selbstverständlich scheiternden – Lesersteuerung im Medium der Liebeskommunikation.314 Dieser muss, gleich Ernestine, vorbereitet werden, um »des Lesens würdig zu werden« (VB, S. 119). Das Buch selbst behält die Kontrolle über die sich an ihn anschließende schweigende wie redende Kommunikation. Würdig zur Lektüre, noch mehr aber zum Gespräch über das Buch, ist man nur dann, wie der Brief weiter ausführt, wenn man »bis ins Innerste von ihr [der Lektüre] getroffen und durchdrungen« (VB, S. 119) ist, wenn man also von »Achtung und Liebe für das in seiner Art einzige Werk« (VB, S. 114) erfüllt ist. Nur, wenn dies der Fall ist, möchte man nicht eigentlich »kommentieren«, sondern vielmehr »wiederholen 312

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Vgl. zum Verhältnis von Handschrift und gedrucktem Buch auch Benne: Die Erfindung des Manuskripts. Benne spricht etwa von einer »Fetischisierung der Handschrift im Zeitalter des Drucks« (S. 154). Kaminski: Kreuz-Gänge, S. 146. Gegen die Deutung der imaginierten Rezeption durch die Protagonistin Lucinde als paradigmatische Rezeption spricht sich Kaminski aus, vgl. S. 128: »Liest man demnach unter dieser Prämisse – im Wissen, daß man nicht lesen dürfte, was man liest – die ersten sechs Stücke des Schlegelschen Romans, so erscheint Lucinde in der Tat als ›interner Textrezipient‹, als ideale, ja als exklusiv gemeinte Leserin. Eben darum aber vermag sie nicht als Reflexionsfigur von Rezeption auch auf der Diskursebene des Romans Lucinde zu fungieren, denn das Lesen eines Liebesbriefes kann niemals repräsentativer Lektüreakt sein.« Und doch ist gerade der Versuch, einen repräsentativen Liebesbrief zu schreiben, Teil der umfassenden Vision von Symmetrie, welche dem Roman eingeschrieben ist.

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und nachsingen« (VB, S. 119).315 Dieses Nachsingen besteht nun in Lobeshymnen der »göttliche[n] Pflanze der Liebe«, welche »einmal ganz in ihrer vollständigen Gestalt abgebildet« (VB, S. 120) ist: »Die Liebe ist dem Werk alles in allem, es hat nichts anders und bedarf nichts anders« (VB, S. 121) – vor allen Dingen bedarf es keiner Lektüre durch Unbefugte. Schon hier gesellt sich zu der allumfassenden Liebesmetaphorik ein schaler Beigeschmack. Der eigentlich der Form angemessene und mit ihr in einem symmetrischen Verhältnis stehende Stoff, Liebe, wird in den Vertrauten Briefen mehr oder weniger explizit als Strategie enthüllt, die Lektüre einzuschränken und so zu schließen – ein Abschluss allerdings, in dem wie die Vertrauten Briefe offenlegen, nicht nur die Hermeneutik, sondern auch das Gespräch aufhört und damit Schweigen eintritt.316 Das Ende besteht im einsamen, stillen Genuss317 : Und nun laß in Gottes Namen diese polemischen Ansichten und Betrachtungen ruhen, die doch immer nur auf dieses und jenes gehen und die Ansicht des Ganzen verhindern. […] Genieße nicht etwa noch einmal, sondern immer wieder die hohe Schönheit und Poesie des vortrefflichen und einzigen Werkes. Ich habe mich allem Streiten darüber schon längst entzogen und es dem stillen unerschöpflichen Genuß und der einsamen, andächtigen Betrachtung geweiht, für die es gemacht ist. (VB, S. 191)

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Die Aufforderung, den Roman ›nachzusingen‹ ist insofern interessant, als das Register des Musikalischen immer schon auf reine Formkunst verweist, so auch in der Kritik von Goethes Meister. Im Roman selbst ist es die kleine Wilhelmine, die »gar nicht müde werden [kann], alle ihre Lieblingsbilder, gleichsam eine klassische Auswahl ihrer kleinen Genüsse, sich selbst unaufhörlich nacheinander zu sagen und zu singen«. Auch hier ist das Singen mit dem Genuss gekoppelt. Hier wird schon deutlich, was in der symmetrischen Anlage des Romans zwischen Form und Stoff noch vermieden werden soll. Der stille Genuss, welcher in der Lektüre sich ereignen soll, ist eben gerade ein Genießen der Form. Dieselbe Zuordnung von Singen und stillem Horchen findet sich auch in Über die Philosophie, hier dem Schriftstellertum entgegengesetzt: »Selig, wer sich nicht in das Gewühl zu mischen braucht, und in der Stille auf die Gesänge seines Geistes horchen darf! Ich lebe wenigstens als Autor in der Welt […]« (KFSA VIII, S. 48). Hier wird nun die Position der Lektüre offen als befriedigender angesprochen, und damit bereits auf die Asymmetrie aufmerksam gemacht. Insofern handelt es sich bei der Opposition, die der Roman und die Vertrauten Briefe aufmachen, nicht nur um die »Ent-Scheidung« zwischen »Lektüre und Nicht-Lektüre«, wie Kaminski treffend formuliert (vgl. S. 150), sondern auch um die Ent-Scheidung zwischen Reden und Schweigen. Die Semantik des Genusses ist etwa in der Ästhetik Schillers von höchster Bedeutung. In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen heißt es: »Haben wir uns hingegen dem Genuß echter Schönheit dahin gegeben, so sind wir in einem solchen Augenblick unsrer leidenden und tätigen Kräfte in gleichem Grad Meister und mit gleicher Leichtigkeit werden wir uns zum Ernst und zum Spiele, zur Ruhe und zur Bewegung, zur Nachgiebigkeit und zum Widerstand, zum abstrakten Denken und zur Anschauung wenden. Diese hohe Gleichmütigkeit und Freiheit des Geistes, mit Kraft und Rüstigkeit verbunden, ist die Stimmung, in der uns ein echtes Kunstwerk entlassen soll, und es gibt keinen sicherern Probierstein der wahren ästhetischen Güte.« (Schiller: Über die ästhetische Erziehung in einer Reihe von Briefen, S. 639) Auch bei Schiller ist es also der Genuss, welcher die hier anthropologisch verstandene Dualität und Gegensätzlichkeit momenthaft aufheben und integrieren kann. Damit wird der Genuss zu einer Zentralvokabel der Autonomieprogramme um 1800, vgl. dazu auch Plumpe: Epochen moderner Literatur, S. 98: »Die Schönheit der Kunst verstand Schiller nämlich als zwanglose Einheit von Differenz und Identität, Sinnen und Vernunft, Natur und Geist und insofern als Versöhnungsparadigma par excellence.«

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Dieser einsame stille Genuss steht am Ende einer langen Reihe von Briefen, welche die Verfasserin des ersten Briefs, gewissermaßen als Herausgeberin, einerseits ihrem Adressaten, andererseits den Unverständigen zueignet (vgl. VB, S. 116-118). Diese Zueignung ist doppelt ironisch.318 Sie wendet sich zunächst spöttisch an die »Lieben Freunde und Mitbürger in der Welt und in der Literatur«, denen »was von unsereinem irgendwo gedruckt oder auch nur für mehr als einen gesagt und geschrieben wird« gerne »zur Ansicht und Prüfung« (VB, S. 116) dargebracht wird, da es ihnen »gegeben [ist], das bewegliche Leben ertötend zu fesseln« (VB, S. 117). Das, was den Unverständigen vorgeworfen wird, nämlich etwas »zu einer ewig dauernden Mumie« zu bereiten und »als ein heiliges Palladium« (VB, S. 117) zu konservieren, lässt sich allerdings unschwer auch auf die streitlose, andächtige Betrachtung beziehen, welche von der Herausgeberin schließlich als die scheinbar präferierte Verhaltensoption gegenüber dem Buch Lucinde aufgerufen wird. Das Schweigen erweist sich als doppeltes: Schweigen ist gleichzeitig der Nullpunkt des Gesprächs und dessen maximaler Höhepunkt als schließlich vollständige Mitteilung. Doch zwischen dem Schweigen der Unbelehrbaren und dem Schweigen der Eingeweihten kann im Medium der Druckschrift nicht unterschieden werden. Die Verhaltensoption des schweigenden Genießens erweist sich so auch als nur scheinbar präferiert. Die von der Herausgeberin präsentierten Briefe begnügen sich durchaus nicht damit, auch wenn es ihnen schwerfällt: »Du weißt wie schwer ich das Ende vom Lesen finde und den Anfang vom Schreiben« (VB, S. 119) bekennt der erste Brief Friedrichs an Ernestine. Die angesprochene Ernestine verweigert sich dem geforderten stillen Genießen gleich ganz, da sie »kein Buch lesen [möchte], worüber mit niemandem zu sprechen sei« (VB, S. 124). Ihr männlicher Gegenpart ruft argumentativ noch einmal die doppelte Kommunikation des Romans und der Vertrauten Briefe auf, wenn er sie davon überzeugen will, »die Liebe [sei] ein unendlicher Gegenstand für die Reflexion, und so soll auch ins Unendliche darüber nachgedacht werden« (VB, S. 129). »Männer und Frauen müssen untereinander davon reden« (VB, S. 129) verlangt er, und es »gibt es ja nichts Schöneres dazu als die wahren und klaren Darstellungen eines begeisterten Dichters, an deren Ansicht sich auf eine natürliche Art die eigentümliche Vorstellungsart eines jeden ankristallisiert« (VB, S. 129). Diese Belehrungen münden in einem brüderlichen Befehl: »Und nun befehle ich Dir, kraft meiner brüderlichen Autorität und unseres alten gemeinschaftlichen Bundes, nicht etwa die Lucinde zu lesen […], sondern mit keinem auch nur einigermaßen vernünftigen Menschen ein rechtliches Gespräch darüber zu scheuen.« (VB, S. 130) Diese Aufforderung kann nur als paradox verstanden werden – fordert der männliche Gegenpart Ernestine doch zum Gespräch über den Roman auf, nur um sie gleichzeitig vorauseilend zum Schweigen zu verdonnern, sollte sie sich als Unverständige entpuppen.

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Darüber hinaus befindet sich der Titel »Zueignung an die Unverständigen« an einer strukturell ähnlichen Stelle wie der Titel der »Bekenntnisse eines Ungeschickten« im Roman Lucinde. Er ist schon allein grammatisch Bestandteil des Rahmenbriefs der Herausgeberin, der nicht zu den eigentlichen Briefen gehört und sich scheinbar der Veröffentlichung eigentlich entzieht, insofern er über diese ja gerade reflektiert. Andererseits bildet er aber, einem Prolog gleich, den Titel des definitiv zum gedruckten Teil gehörenden ersten Abschnitts.

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Lektüre als Form

Hier offenbart sich die Aporie der Symmetrie auf ganzer Linie. Die Symmetrie zwischen Buch und Lektüre wird hier als hermetisches Sichverschließen des Buchs entlarvt, die Symmetrie zwischen Schrift und mündlichem Gespräch von der in letzterem unerreichbaen ›Wahrheit‹ des Buchs konterkariert, die Symmetrie zwischen Mann und Frau vom autoritären Gestus des Befehls unterlaufen. Gerade die Liebe, in der diese verwirklicht werden soll, wird von der endlich antwortenden Ernestine als selbstbezüglich und damit schief319 entlarvt: »Geht nicht die Liebe in dem Buche bei aller Vollständigkeit der Darstellung doch ein wenig gar zu sehr in sich selbst zurück?« (VB, S. 133) Dieses In-sich-selbst-zurückgehen der Liebe wird für die Vertrauten Briefe noch einmal vorgeführt und Ernestines Diagnose somit bestätigt. Die letzte Ermahnung, die ihr Bruder ihr gibt, ist genau darauf bezogen: »Nur darauf muß ich Dich führen, daß Du überhaupt die Wirkung der Liebe zu sehr aus dem weiblichen und zu wenig aus dem männlichen Standpunkt angesehen hast. Du mußt sie mehr nach innen zu suchen.« (VB, S. 191) Die Verinnerlichung der Liebe führt dann zum bereits zitierten abschließenden Gebot des stillen Genusses – dieser wird sogar zum Ersatz für das Liebesgespräch. In der einzigen eigentlichen Liebeskommunikation der Vertrauten Briefe, im Briefwechsel zwischen Eleonore und Friedrich320 , gerät das »geliebte[...] Buch« (VB, S. 171) zum Statthalter der Liebeskommunikation321 : »Nimm es denn, und wenn Du wieder drin liesest, so lies alle meine Gedanken und Gefühle mit heraus, die ich Dir ja doch nicht sagen und kaum an Deiner liebenden Brust in abgebrochenen Worten und ergänzenden Blicken und Tränen und Lächeln aushauchen könnte.« (VB, S. 171) Diese Worte zeugen von derselben ambivalenten Sicht auf die Schrift, welche auch Juliusʼ Sicht ausmacht,

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So schreibt Ernestine: »Jeder Dichter soll freilich seine Freiheit haben, sich Grenzen zu stecken, wie er will, nur darf doch darüber geurteilt werden, ob diese Grenzen eine schöne Figur bilden und ob sich das Schiefe der Idee, die dabei zugrunde gelegen hat, nicht darin zeigt.« (VB, S. 134) Auch im Folgenden erkennt Ernestine scharfsinnig die in das symmetrische Liebesverhältnis einbrechenden Asymmetrien: »Ich verstehe nicht viel von Theorien und glaube gern, daß diese ein schönes Stück Arbeit sein mag, nur anderswohin gehörig: denn etwas von Julius an Lucinde Geschriebenes kann sie gewiß nicht sein. Darüber ist wohl weiter nichts zu sagen nötig, man braucht nur die schöne Zeile S. 60 zu lesen, die ich noch nie ohne Lachen gelesen habe: ›Bei diesen aber ist schon ein großer Unterschied zu machen‹; ich wenigstens sehe mich dann gleich zu einer akademischen Vorlesung eingeladen, ganz sittig auf dem Stuhle zu sitzen und zuhören.« (VB, S. 137-138) Ernestine weist hier bereits auf die in den Vorlesungen noch deutlicher zutage tretenden Asymmetrien hin, von denen in diesem Zusammenhang insbesondere die Asymmetrie zwischen Form und Stoff wichtig sein wird. 320 Zum (verwickelten) autobiographischen Bezug vgl. Kaminski: Kreuz-Gänge, S. 144-147. 321 Diesen Status hat das Buch auch schon in der Liebeskommunikation der Empfindsamkeit. Siehe dazu etwa Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 158: »Auf diese Weise werden die Schriftzeugnisse selbst zu Fetischen der Empfindungskultur. Viele Liebesgeschichten beginnen damit, daß der Jüngling dem Mädchen ein Buch zustellt. Damit geben beide sich wechselseitig in ihrer Identität als Eingeweihte, nämlich Leser, zu erkennen. Über die Brücke des Lesestoffs können sie sich fortan ihres innerlichen Zusammenstimmens versichern.« Wie schon an anderer Stelle deutlich gemacht, geht es im Roman Lucinde nicht (nur) um die Verschiebung von Intimkommunikation auf literarische Kommunikation mittels Texten, sondern gerade um eine wechselseitige Entgrenzung (vgl. Bräutigam: Leben wie im Roman. Bräutigam spricht vom »frühromantischen Entgrenzungsprogramm« [S. 24]), die aber notwendigerweise an der medialen Druckseite scheitert.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

die er gegenüber Antonio zum Ausdruck bringt. Nur die Schrift erlaubt eine umfassende Symmetrie und ist insofern den ›abgebrochenen Worten‹ vorzuziehen – diese Symmetrie gelingt aber nur, wenn die der Schrift eigene Dynamik, ihre Öffentlichkeit und Selbstbezüglichkeit negiert wird. Die Schrift muss in die intime, mündliche oder handschriftliche Kommunikation verschoben werden und sich so gemäß des Diktats des stillen Genusses als »Schreibweise des Schweigens«322 gegenüber ›fremden‹ Blicken immunisieren. Damit trifft sich das maximale Gespräch der Liebenden allerdings mit dem minimalen Gespräch der Unverständigen. Das Schweigen bedeutet den Aufschub der Entscheidung zwischen diesen beiden Optionen und erlaubt insofern keine Differenz mehr zwischen ihnen. Um diese Differenz zu reinstallieren, muss das Gebot des Schweigens gebrochen werden. Konsequenterweise folgen Die Vertrauten Briefe dem Diktat des Schweigens nicht, sondern stellen es vielmehr offen zur Schau. Sie selbst zeugen als gedruckt Vorliegendes von der Präferenz der dem stillen unerschöpflichen Genuss diametral entgegengesetzten Position. Von der stillen, innerlichen Liebe lassen die Vertrauten Briefe, so die Diagnose Gutzkows, nur noch eine »dialektische Verwickelung, welche nichts übrigließ zum Resultate, als daß man doch im gesellschaftlichen Umgange ausgehen möchte von der Tatsache zweier Geschlechter, von der Verbannung der Prüderie und der Toleranz gegen jeden hübschen Witz«323 übrig. Gegenüber dem »innigen Zusammenhang« zwischen »Stoff und [...] Form, zwischen dem Dargestellten und der Darstellung« (VB, 114), den die Liebe stiften soll, bleibt nur noch die reine, nämlich bezeichnete und nicht verbildlichte, unüberbrückbare Differenz der Geschlechter und gleichzeitig der Kommunikationsformen Gespräch und Druck. Diese reine Differenz entpuppt sich als reine Form: »Guido und Antonio stehn da wie ein paar Hieroglyphen in einer leserlichen schönen Schrift: man sieht ihnen an, daß sie nicht Schnörkel sind, aber man versteht sie nicht. Ich möchte es eine Unzüchtigkeit der Form nennen, die Phantasie so aufzuspannen und zu quälen.« (VB, 192) Die Arabeske, welche die Symmetrie von intimer (mündlicher) und öffentlicher (gedruckter) Kommunikation im Buch gewährleisten sollte, wird von der fiktiven Verfasserin und Herausgeberin der Vertrauten Briefe als schöne, leserliche Handschrift entziffert, die somit referenzlos bleibt. Arabeske und das in Lucinde abgelehnte Modell der Wellenlinie als reiner Schönheitslinie fallen in eins. Hier wird nun rückblickend der Bogen gespannt zum ersten Brief der Herausgeberin, in dem sie das Folgende als »Rahmen […], auf dessen Feldern mit flüchtiger Hand leichte Zeichnungen entworfen sind« (VB, 114) beschreibt. Die Opposition von Reden und Schweigen, welche die Vision einer gemeinschaftlichen Lektüre als Aporie entlarvt324 , wird hier offengelegt: »Stille ist Bedingung der 322 So der Titel einer von Peter Buchka vorgelegten Studie über einen »Strukturvergleich romantischer und zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur« (Untertitel), in welcher er den »Rätselcharakter der Kunst« (Buchka: Die Schreibweise des Schweigens, S. 11) in der »immanente[n] Bewegung der Werke« (S. 15) sucht und in ihr das »Paradoxon von der Schreibweise des Schweigens« (S. 17) aufzufinden verspricht. 323 Gutzkow: Vorrede, S. 165. 324 Man könnte spekulieren, dass diese Aporie schließlich in einer vollständigen Abwendung der Schrift und der Figur des Intellektuellen, also sich via Schrift mitteilenden mündet, die sich in

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Lektüre als Form

philologischen Existenz.«325 Lektüre und Buchform sind eben nicht in ein symmetrisches Verhältnis zu bringen, vielmehr behält die Lektüre im Medium der Schrift die Oberhand: »In dieser Stille hat das poetische Wort, das als Gesang begann, sein Ende als Schrift gefunden«326 . Die Form beginnt, sich nicht nur konzeptuell, sondern auch begrifflich von ihrer Bindung an eine Substanz zu lösen. Der formästhetischen Rezeption327 der Lucinde öffnen schon Schleiermachers Vertraute Briefe Tür und Tor. Diese Emanzipation des Formbegriffs lässt sich an den philosophischen Vorlesungen weiterverfolgen.

4.3.

Paratext/Metatext: Der Weg zum System

Im Folgenden werde ich die philosophischen Vorlesungen als Vorbereitung einer anderen Form von Textualität betrachten. Gegenüber der Paratextualität der Fragmente, welche sich als Vorbereitung und Rahmung eines ›Werks‹, also des Buchs erwiesen hat, funktionieren die Vorlesungen metatextuell. Die Vorlesung als Medium ist dazu gezwungen, eine systematische Schließung zu entwerfen, die sich als verschobene Buchförmigkeit betrachten lässt. Sie entwirft Begriffe, die unabhängig von ihrer medialen Realisierung wiedererkennbar sind. Diese sind insofern metatextuell, als sie sich gegenüber dem tatsächlichen Text asymmetrisch verhalten. Während der Paratext neben dem Text des Buchs steht und diesen in seiner Geschlossenheit gerade bestätigt, löst der Metatext den Text des Buchs genauso wie sich selbst zu einer nur immateriell möglichen Schließungsfigur auf. Der Paratext ist mit der Arabeske verbunden, der Metatext mit dem Ornament. Ich betrachte im Folgenden den Metatext nicht, wie Genette328 , als

325 326 327 328

Schlegels Konversion manifestiert. Eine derartige Spekulation äußert etwa Wegmann: Schlegels intellektuelle Konversion, S. 158-159: »In der vollen Anerkennung der kirchlichen Glaubenswahrheit als alleiniges Charisma kann scheinbar die Person des Intellektuellen übersprungen werden. Auch der Intellektuelle, der noch bei Zola und Rousseau sich durch seine herausragende Stellung definiert hat, ist jetzt ein einfaches Mitglied der Kirchengemeinde. Mit der Konversion ändert Schlegel nicht seine Religion. Er vollzieht vielmehr im feierlichen Ritual der Heiligen Kommunion – und nicht in einer individualisierten confessio – die Anerkennung der katholischen Kirche als einen Akt der Zugehörigkeit.« Schlaffer: Poesie und Wissen, S. 216. Ebd. Als ein Beispiel unter den zu zahlreichen möglichen führe ich Vietta: Die Romantisierung der Diotima an, der die »offene Form« des Romans preist (vgl. S. 135). Auf den ersten Seiten seines Buchs über Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (dt. 1993) grenzt Genette insgesamt fünf Typen von »Transtextualität« (S. 9) gegeneinander ab: Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Architextualität und Hypertextualität (vgl. S. 11-15). Die Abgrenzung zwischen diesen verschiedenen Typen ist schwierig, insbesondere was die Abgrenzung zwischen Metatext und Hypertext angeht. Genette führt hier an, dass »der Hypertext weit häufiger als der Metatext als ›eigentlich literarisches‹ Werk angesehen« wird (S. 15). Ich verwende für die Vorlesung und später für das Interview den Begriff des Metatexts, um die Hierarchisierung der Ebenen und die damit einhergehende Asymmetrie zu betonen. Der Begriff des Metatexts bietet darüber hinaus gegenüber dem Begriff des Hypertexts den Vorteil, dass er die Fähigkeit zur Überbrückung der beschriebenen medialen Differenzen im Sinne eines Zusammenhangs von ›reinen‹ Begriffen adressieren kann.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

eine Unterform von Paratextualität, sondern vielmehr als konkurrierende andere Form des intertextuellen Verhältnisses. Das Verhältnis zwischen Buch und Vorlesung um 1800 ist kompliziert. Stellvertretend dafür lässt sich ein Text Fichtes anführen, der im Jahr 1807 für die Preußische Regierung ausgearbeitet wurde. Hier skizziert Fichte das Verhältnis an den Akademien nach der »Erfindung der Buchdruckerkunst« und der »Ausbreitung des Buchhandels«, also angesichts des »Ueberfluß von Büchern«. Fichte geht auf die Frage ein, warum man »noch immer sich für verbunden [hält], durch Universitäten dieses gesammte Buchwesen der Welt noch einmal zu setzen, und eben dasselbe, was schon gedruckt vor jedermanns Augen liegt, auch noch durch Professoren recitiren zu lassen«. Gegenüber dem mündlichen Vortrag hält Fichte das »eigene Studiren der Bücher sogar [für] das vorzüglichere« nämlich insofern man wiederholt lesen und »bis zum erfolgten Verständnisse hin und her« überlegen kann.329 Diese Ausführungen Fichtes deuten zunächst einmal wiederum an, das Buch sei die bessere Vorlesung, insofern es auch für den Bereich der Wissenschaft und der Philosophie ein optimiertes ›Wissenschaftsgespräch‹ erlaube. Fichtes Ausführungen scheinen also darauf hinauszulaufen, den Wissenschaftsbetrieb nicht mehr auf das Medium Vorlesung, sondern auf das Medium Buch zu begründen. Bei dieser Schlussfolgerung kann es in einem Text, der den Plan einer neu zu errichtenden höheren Lehranstalt vorstellen soll, selbstverständlich nicht bleiben. So entwickelt Fichte eine Neubestimmung der Vorlesung, die sich aus ihrer Beziehung zum Buch ergibt. In Paragraph 3 fährt Fichte also fort: Um nicht ungerecht, zugleich auch oberflächlich zu seyn, müssen wir jedoch hinzusetzen, daß die neuern Universitäten, mehr oder weniger außer dieser bloßen Wiederholung des vorhandenen Buchinhalts noch einen anderen edlern Bestandtheil gehabt haben, nemlich das Princip der Verbesserung dieses Buchinhalts. Es gab selbstthätige Geister, welche in irgend einem Fache des Wissens, durch den ihnen wohlbekannten Bücherinhalt nicht befriedigt wurden, ohne doch das befriedigende hierin sogleich bei der Hand zu haben, und es in einem neuen, und besseren Buche, als die bisherigen waren, niederlegen zu können. Diese theilten ihr Ringen nach dem vollkommneren vorläufig mündlich mit, um entweder in dieser Wechselwirkung mit anderen in sich selbst bis zu dem beabsichtigen Buche klar zu werden, oder, falls auch sie selbst in diesem Streben von geistiger Kraft oder dem Leben verlassen würden, Stellvertreter hinter sich zu lassen, welche das beabsichtigte Buch, oder auch, statt desselben, und aus diesen Prämissen, ein noch besseres hinstellten.330 Die eigentliche Funktion der Vorlesung ist nicht nur, das Medium Buch wieder zu vermündlichen, insofern das schriftlich Niedergelegte mündlich wiederholt wird, sondern vielmehr das bereits in Büchern Niedergelegte zu verbessern – allerdings mit der teleologischen Perspektive, dieses verbesserte ›Wissen‹ wiederum in ein neues, eben besseres Buch münden zu lassen. Die ›Verbesserung‹ des Wissens erfolgt, wie Fichte in Paragraph 7 skizziert, in einer ›Wechselwirkung‹ mit anderen, in »dialogische[r] Form«331 als

329 Alle Zitate bei Fichte: Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, S. 84. 330 Fichte: Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, S. 85. 331 Ebd., S. 89.

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Lektüre als Form

»Wahrhafte Akademie, im Sinne der Sokratischen Schule«332 . Damit treten Buch und Vorlesung in ein paradoxes Verhältnis der wechselseitigen Steigerung, das – wie ich im Verlaufe dieses Kapitels zeigen werde – in eine veränderte Konzeption von Buchförmigkeit mündet, die ich hier mit dem Begriff des Metatext adressiere. Metatextuell ist diese Kommunikation insofern, als sie die mit dem Buch einhergehende Schließung in der Lektüre nicht wiederherstellt, sondern sie vielmehr in eine beständige Verschiebung nach innen transformiert. Die im Rahmen des Mediums Vorlesung eingesetzten »Lehrbücher oder Handbücher«333 weisen den Weg zu einer anderen Form konzeptueller Buchförmigkeit. Diese Buchförmigkeit ist gekennzeichnet durch die Trennung zwischen Anschauung und Darstellung334 , die sich als Modellierung entlang der Unterscheidung Signal/Rauschen erweisen wird und ihre paradigmatische Ausformung bei Niklas Luhmann findet (vgl. Kap. 6). Bei den im Folgenden näher zu betrachtenden Vorlesungen handelt es sich um Schlegels Transcendentalphilosophie aus dem Jahr 1800-1801, in der er »erstmals [versucht], sein Philosophieren in einer gleichsam systematischen Form zusammenhängend zu entfalten«335 sowie um eine Vorlesungsreihe zur Dialektik, welche Schleiermacher insgesamt sechsmal in seinen Kollegs vorträgt (1811, 1814, 1818, 1822, 1828, 1831). Veranlasst durch die Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling sieht Schleiermacher die Notwendigkeit einer ›Elementarphilosophie‹, welche für ihn als Dialektik formuliert sein muss.336 Anhand der philosophischen Grundlagenvorlesungen Schlegels und Schleiermachers beobachte ich den Effekt unterschiedlicher medialer Szenarien auf die im Text aktiven Schließungsfiguren. Es geht darum, den Unterschied zwischen Literatur und Philosophie nicht nur aus der Zuordnung zu unterschiedlichen Diskursfeldern zu erklären, sondern sie außerdem auf das Zusammenspiel von Veröffentlichungsmedien, -formen und -formaten zu beziehen. Dies lässt sich besonders gut an den Schriften Schlegels und Schleiermachers zeigen, insofern diese ja gerade eine umfassende Vereinigung von ›Philosophie und Poesie‹ im Zeichen ihrer medialen Identität anstreben. Die sich in der Vereinigungsbewegung ergebende Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität lässt sich mit den medialen Unterschieden engführen. In der Linguistik erfasst das von Koch-Österreicher in den 1980er Jahren entwickelte Nähe/Distanz-Modell den Unterschied zwischen der tatsächlichen medialen Realisierung einer Kommunikation und ihrer Konzeption im Zusammenhang mit der jeweiligen Nähe oder Distanzierung der Kommunikationspartner. Die Vorlesung wird von den Autoren als Paradebeispiel für eine zwar medial mündliche, konzeptionell aber schriftliche Kommunikationsform begriffen. So ist sie etwa sozial von einer »feste[n]

332 Ebd. 333 Spoerhase: Das Format der Literatur, S. 120. 334 Spoerhase beschreibt diese Trennung etwa an den die Veröffentlichung der Wissenschaftslehre in mehreren Anläufen begleitenden Korrespondenzen Fichtes, vgl. dazu Das Format der Literatur, S. 123-124. 335 Elsässer: Einleitung, S. IX. 336 Wie Andreas Arndt nahelegt, war Schleiermacher durchaus auch von Schlegels Überlegungen zur Dialektik beeinflusst, vgl. Arndt: Dialektik und Reflexion, S. 137f.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Rollenverteilung bis hin zur Monologizität« geprägt. Die Belange der Rezipienten können nicht parallel zum Produktionsakt berücksichtigt werden, sondern der Produzent muss diese »von vornherein berücksichtigen« – also programmieren –, der Sprechende erscheint »weniger als personales Gegenüber, denn als anonyme Instanz« und aufgrund der Entkopplung von Rezipient und Produzent »wird ein erhöhter Planungsaufwand (Reflektiertheit) […] nötig«337 . Die Vorlesungen sind auf den mündlichen Vortrag ausgelegt und dennoch konzeptionell schriftlich, insofern sie auf Lektüre als Erfahrung von Buchförmigkeit basieren. Die auch hier präsente Vorstellung von Symmetrie und intimer Gesprächsatmosphäre des Schriftlichen, die ein »gemeinsames Philosophieren«338 beschwört, wird so von den Spezifika der konzeptionellen Schriftlichkeit und den sozialen Spezifika des grundlegenden asymmetrischen Vorlesungsformats konterkariert. Die Heterogenität der medialen Umsetzungsformen zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit begünstigt die Asymmetrisierung zwischen Text und ›reinen Begriffen‹, die als materialunabhängige Signale fungieren können, und insofern den Wechsel des Gesprächsparadigmas, das von der Unterscheidung Schweigen/Reden bestimmt war, zum Informationsparadigma Signal/Rauschen vorbereiten. Da die Macht über die Unterscheidung Schweigen/Reden dem Vortragenden entzogen ist, verlagert sich der Versuch der prospektiven Programmierung auf die Informationsdichte. Die Bestimmung der Philosophie, die sich analog zur Bestimmung des (literarischen) Buchs zunächst im Gesprächsparadigma anhand der emphatisch aufgeladenen Elemente von Geselligkeit, Freundschaft und Liebe abspielt, wird als reine Arbeit am Begriff entlarvt. Die auch in der Vorlesung begrifflich aufscheinende Vision von Symmetrie, die eine Festlegung von Begriffen gerade unterläuft, wird von der offensichtlichen Asymmetrie der tatsächlichen sozialen Situation durchkreuzt. Die doppelte Überformung des Buchs als Gespräch sowie als arabeske, konkrete Verbildlichung von Symmetrie muss in der philosophischen Vorlesung scheitern. Die beschworene ›Kopräsenz der Gegensätze‹ wird unterlaufen von einer dieser Schließungsfigur inhärenten asymmetrischen Begriffshierarchie, die prozessualen Begrifflichkeiten klar den Vorrang gibt. Ein Knotenpunkt für dieses Verhältnis von Symmetrie und Asymmetrie ist der Gegensatz von Form und Stoff, im Bereich der Philosophie auch von Form und Materie. Zunächst gehe ich auf die den philosophischen Vorlesungen als Grundlagenvorlesungen eingeschriebene Thematisierung des Anfangs ein, die in den Versionen Schlegels und Schleiermachers zwar jeweils eine symmetrische ›Duplicität‹ vorstellt, diese aber in ihrer Indizierung als ›Anfang‹ in eine lineare Begriffslogik einschreibt. Als deren Fluchtpunkt erweist sich die reine Differenz und somit der prozessuale Formbegriff. Die folgenden Kapitel verdeutlichen an den jeweiligen duplizierenden Füllungen des Anfangs, inwiefern hier die Vision von Symmetrie noch einmal begrifflich evoziert, von einer asymmetrischen Bewegung jedoch durchkreuzt wird.

337 Alle Zitate aus Koch, Österreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz, S. 19-20. 338 Sinn: Soziologie der Unbegrifflichkeit, S. 29.

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Lektüre als Form

4.3.1.

Von der Schwierigkeit des Anfangs

In den ersten Sätzen der Einleitung zu seiner Vorlesung über Transcendentalphilosophie verortet Schlegel die Tätigkeit des Philosophierens als ›Anfang mit etwas‹: »Wir philosophiren – dies ist ein Faktum. Wir fangen also an; wir beginnen mit etwas.« (KFSA XII, S. 3) Die Philosophie geht von etwas Gegebenem aus und kann insofern auch als »Wissen des Wissens« (KFSA XII, S. 3) bezeichnet werden, da ihr Gegenstand »das Wissen des Menschen« (KFSA XII, S. 3) ist. Im zweiten Absatz wird diese Definition der Philosophie als Tätigkeit, die immer schon von etwas ausgeht, allerdings von Schlegel bereits revidiert: »Denn wollte ich von dem Satz ausgehen: die Philosophie ist ein Wissen des Wissens, so würde ja da immer ein Wissen vorausgesetzt.« (KFSA XII, S. 3) Im Gegensatz dazu ist die Philosophie aber ein »Experiment«, bei dem »jeder, der philosophiren will, immer wieder von vorne anfangen« (KFSA XII, S. 3) muss. Philosophie funktioniert also nicht wie andere Wissenschaften kumulativ, sondern »ist schon ein für sich bestehendes Ganzes, und jeder, der philosophiren will, muß schlechthin vorne anfangen.« (KFSA XII, S. 3)339 Die vorgenommene Einschränkung der ersten Sätze gipfelt in der Proklamation ihres schlechthinnigen Gegensatzes, der im Modus des ›auch‹ vorgetragen wird: »Wir fangen also auch schlechthin an.« (KFSA XII, S. 3) Diese doppelte Bestimmung des Anfangs in der Vorlesung macht deutlich, dass es Schlegel nicht um eine Einleitung in den Gegenstand der Philosophie geht – die etwa in Form einer Niederlegung der grundlegenden Axiome des eigenen philosophischen Systems zu bewerkstelligen wäre – sondern vielmehr um eine Erörterung der Tätigkeit des Philosophierens. Diese Frage nach der spezifischen Tätigkeit, welche das Philosophieren darstellt, impliziert eine Verdopplung der Frage nach dem Anfang: zunächst auf der performativen Ebene jene Frage nach dem Anfang, die schon die Briefschreiber der Vertrauten Briefe umtrieb: »Du weißt, wie schwer ich das Ende vom Lesen finde und den Anfang vom Schreiben. Den letzten habe ich noch bis diesen Augenblick nicht und möchte am liebsten nichts sagen oder ohne Anfang und Ende« (VB, S. 119), beklagt sich Friedrich bei Ernestine. Gleichzeitig bedeutet die Frage nach dem Anfang auf der systematischen Ebene das Auffinden eines letzten Grunds, über den Schlegel folgendes sagt: »In meinem System ist der letzte Grund wirklich ein Wechselerweis.« (KFSA XVIII, S. 52, Fragment 22)340 339 Hier wird bereits erkennbar, dass die Vorstellung von ›Ganzheit‹ und Einheit, die zuvor für einzelne Bücher, etwa für Goethes Wilhelm Meister galt, nun auf einen (begrifflichen) Diskurszusammenhang übertragen wird. 340 Auch in dieser Formulierung wird wiederum die Problematik von System und Nicht-System angesprochen (die sich auch in der Forschung wiederspiegelt, vgl. dazu etwa Leventhal: Gattungen und System der Kritik, S. 100-101: »Die neuere Friedrich-Schlegel-Forschung wird, obwohl sie den Kritikbegriff Friedrich Schlegels viel umfassender begreift, seit Jahren von einer gewissen Schizophrenie heimgesucht. Es gibt zahlreiche Wissenschaftler, die einen systematischen Anspruch Friedrich Schlegels grundsätzlich bezweifeln und seine Hinweise zu einem System bzw. zur Systematik mit großer Skepsis behandeln: Hermann Patsch, Willy Michel, Manfred Frank, und KarlHeinz Bohrer durften zu diesen Kritikern des Systembegriffs bei Schlegel gezählt werden. Andererseits gibt es auch andere Versuche – die in der jüngsten Forschung sogar zunehmen –, Schlegels Äußerungen zum System und zur Systematik ernst zu nehmen, und ihm eine echte – wenn auch

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Diese doppelte Semantik des Anfang(en)s wird als eine die Philosophie insgesamt charakterisierende Dopplung aufgerufen: Auf der systematischen Ebene, die von dem Ausdruck des ›für sich bestehenden Ganzen‹ adressiert wird, muss die Philosophie schlechthin von vorne anfangen, auf der medialen Ebene schreibt sie sich in einen Gesamtzusammenhang aus bereits vorhandener philosophischer Kommunikation ein, insofern sie aus der Lektüre entspringt. Die Systematik der Philosophie zielt darauf ab, diesen ›Anfang‹ mit etwas, die Lektüre also, aus der Philosophie zu verbannen, bzw. diese zu invisibilisieren. Damit ist sie genau gegensätzlich zur Literatur angelegt. Wie schon für das Buch, für Lucinde, gezeigt, versucht Schlegel demgegenüber den performativen Anfang der Philosophie als Lektüre symmetrisch zu integrieren. Die Reflexion des Anfangens bringt die in der Meisterrezension bereits anklingende, aber noch nicht explizit thematisierte Problematik der Neuerung auf den Punkt. Auch dort liest man zwischen den Zeilen bereits die beanspruchte Originalität der Literaturkritik, die sich auf nichts – keine hergebrachten Gattungsbegriffe etwa – berufen kann und insofern in der Art und Weise, wie sie den vorgefundenen Text schriftlich behandelt, immer wieder aufs Neue anzusetzen hat. Dabei fühlt sie sich gleichzeitig an ›etwas‹ gebunden, nämlich an die Adäquanz zu ihrem Gegenstand, dem Buch. Erst in Bezug auf die Philosophie, deren Wesen es ist, nach den Anfängen zu fragen341 , formuliert Schlegel diese grundlegende Paradoxie des modernen Schreibens so deutlich. Dieser Umstand liegt nicht nur darin, dass sich Schlegel nun im philosophischen Diskurs bewegt. Der Unterschied ist vielmehr darin begründet, dass es als Orientierungspunkt nun kein gegenständliches, materielles Buch gibt – weder als Bezugspunkt der Lektüre noch als Bezugspunkt des eigenen Schreibens. Die Performanz der Vortragssituation erfordert eine andere Form der Schließung, die sich nicht auf das Buch als Medium und Form verlassen kann. Das solcherart formierte philosophische ›Sprechen‹ muss performativ eine Schließung als »Flucht in die Luft und Flug in der Luft [realisieren], die die Differenz von Riss und Grund bzw. von Abstraktion und Wahrnehmung«342 aufrechtzuerhalten vermag. Der Anfang der philosophischen Vorlesung ist also – schon bei Schlegel und nicht erst seit Derrida343 – immer schon ein doppelter, verschobener, nicht mit sich identivöllig heterodoxe und radikal offene – Systemvorstellung zuzusprechen.«) Bei Leventhal steht bezeichnenderweise Walter Benjamin am Anfang der Betonung einer Systematik bei Schlegel. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Frage nach Systematik oder Nichtsystematik auch als Frage der Veröffentlichungsformate und unterschiedlicher Konzeptionen von Buchförmigkeit zu diskutieren. 341 Vgl. Angehrn: Die Frage nach dem Ursprung, S. 13: »Die Frage nach dem Ursprung ist für die Philosophie keine Frage neben anderen. Nach dem Ersten, dem Anfang zu fragen kennzeichnet die Philosophie als solche.« Zur metaphorischen Annäherung an den Anfang etwa im Zeichen der Geburt vgl. Begemann: Gebären. Begemann umkreist hier den »Notstand, der der theoretischbegrifflichen Konzeptualisierung von Anfängen innewohnt« anhand der Geburtsmetaphorik. 342 Lehmann: Theorie in Skizzen, S. 7. 343 Siehe zur Vorwegnahme der Überlegungen in Derridas Grammatologie bei Schlegel auch Wiethölter: Ursprünglicher Gedanken Refrain – Wiederholung, S. 599: »Schlegels Thesen sind infolgedessen nicht mit einer theoriegeschichtlichen Vorwegnahme des Saussureschen Denkmodells zu verwechseln, nach dem das Zeichen in gut metaphysischer Manier als wohlsortierte Doppelfigur von materiellem Signifikant und immateriellem Signifikat zu verstehen ist. Die Parameter, die Schle-

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scher. Er muss das bedingte Anfangen auf der medialen Ebene performativ überblenden mit einem unbedingten Anfang auf der systematischen Ebene. Die Lektüre muss invisibilisiert werden. Die Rede des Philosophen konstruiert sich einen eigenen Raum und operiert in diesem scheinbar voraussetzungsfrei. Nur als performative Verschiebung des Anfangs gelingt die Schließungsfigur. Die Frage nach dem (performativen) Anfang und dem (systematischen) Urgrund ist gleichzeitig eine Frage der Legitimation, der Berechtigung344 des eigenen Sprechens bzw. Schreibens. Zur bereits beschriebenen Programmierung der Lektüre im Buch gehört die Vorstellung, das Buch könne rekursiv die Legitimation der Lektüre bestimmen. Dieses Modell lässt sich auch in Schleiermachers und Schlegels Vorlesungen wiederfinden – allerdings realisieren sich hier andere Schließungsfiguren, die nicht auf die Form Buch, sondern auf prozessuale Begrifflichkeiten setzen. In den Vorlesungen lassen sich meines Erachtens vier sich verschiedenartig überlappende Modelle beobachten, welche zur Selbstlegitimation des Anfangens und damit des gesamten Texts aufgeboten werden. Insbesondere Schleiermacher betont in seinen Vorlesungen zur Dialektik erstens die soziale Dimension des philosophischen Anfangs, das Gespräch bzw. den Streit. Als terminologische Lösung wird nun zweitens insbesondere von Schlegel die Entgegensetzung von Enthusiasmus und Skepsis345 aufgerufen, welche den Anfang in der Philosophie auf eine persönliche Grundstimmung oder -haltung zurückprojiziert und darüber hinaus einen Anschluss an die Poetologie bietet.346 Auf der diskursiven Ebene positionieren sich die philosophischen Vorlesungen drittens jeweils als kritisch und damit lesend. Mit dem Begriff der Kritik ist also nicht die an Kant anschließende transzendentale Wende gemeint, sondern vielmehr die medial spezifische Vermittlung von Lektüre und Buchförmigkeit bzw. Öffnung und Schließung. Methodisch schließlich proklamiert und performiert Schlegels Transcendentalphilosophie eine ›cyklische Methode‹. Diese lässt

gel auf der Basis der kritisch reformulierten Wissenschaftslehre, auf der Grundlage einer ursprünglichen Duplizität und einer ebenso ursprünglichen Wiederholung, eines prinzipiell repräsentierten Anfangs, entwirft, führen systematisch an die Stelle, an der Derridas Grammatologie in konsequenter Weiterentwicklung des Saussureschen Differenzgedankens von der Idealität des Signifikanten handelt. Ein Signifikant wird im Sinne dieser Lesart nämlich nur dann zum Signifikanten (und mit ihm das Zeichen zum Zeichen), wenn er wiederholbar, und das bedeutet: wenn er trotz eines prinzipiell parasitären Selbstbezugs im Durchgang durch seine (nichtidentischen) Wiederholungen idealiter als derselbe zu erkennen oder wiederzuerkennen ist.« 344 Vgl. zu den vorhergehenden Überlegungen Derrida: Gesetzeskraft, S. 35: »Sich an den anderen in der Sprache des anderen zu richten, ist, wie es scheint, die Bedingung jeder möglichen Gerechtigkeit; anscheinend läßt sich dies jedoch nicht mit aller erforderlichen Strenge durchführen (ich kann nämlich die Sprache des anderen einzig in dem Maße sprechen, in dem ich sie mir aneigne und sie mir nach dem Gesetz eines eingeschlossenen Dritten anverwandle) […]«. Am selbstverständlich gerade nicht beliebigen Beispiel des Unterschieds von Recht und Gerechtigkeit zeigt Derrida hier die Aporien des (dekonstruktiven) Sprechens bzw. Schreibens auf, also desjenigen, welches immer wieder nach den Bedingungen des Diskurses, seinen Regeln selbst und insofern nach dem ›Anfang‹ oder dem ›letzten Grund‹ fragt. 345 Inwiefern dies ein Grundgedanke der Philosophie Schlegels ist, zeigt insbesondere Rehme-Iffert: Skepsis und Enthusiasmus. 346 Vgl. etwa Behler: Hegel und Friedrich Schlegel, S. 35, der Enthusiasmus und Skepsis hier mit Witz und Ironie gleichsetzt.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

sich als Begegnung mit dem philologischen Diskurs in der gemeinsamen Bestimmung des eigenen Vorgehens als ›lesend‹ begreifen.

4.3.2.

Streit

Die sich als Kritik und Hermeneutik formierende Reflexion der Lektüre und Buchförmigkeit verändert nicht nur das Feld des Literarischen, sondern, wie in Fichtes Plan zur Errichtung einer neuen Akademie deutlich wird, auch den philosophischen Diskurs, der sich ebenfalls der aus der Allgegenwart der Druckschrift resultierenden eigenen Relativität stellen muss. Der Begriff der Dialektik kann die unter den Eindrücken dieser Lektürereflexion angestoßene Selbstlektüre der Philosophie, also die Philologisierung der Philosophie bezeichnen.347 Dialektik ist also im vorliegenden Zusammenhang nicht, wie Andreas Arndt formuliert, als »Selbstkritik der Vernunft«348 zu verstehen, sondern vielmehr als ›Selbstlektüre des Lesenden‹, insofern der schreibend Philosophierende die in der Lektüre anderer Texte wahrgenommenen Schließungstechniken auf das eigene Schreiben anwendet. Wie zu zeigen sein wird, bedingt die mediale Differenz zwischen den spezifischen Schreibsituationen, die im Falle von Lucinde auf das gedruckte Buch, im Fall der Vorlesungen auf den mündliche Vortrag abzielt, vollständig andere Schließungsfiguren. In der Konzeption der idealen Lektüre als gemeinschaftlich nähert sich wiederum die Lektürekonzeption der des idealen Philosophierens an. »Philosophieren heißt die Allwissenheit gemeinschaftlich suchen« (KFSA II, S. 226, Fragment 344). Schleiermachers Vorlesung zur Dialektik konzipiert die Dialektik als grundlegende Methode der philosophischen Suche nach wahrem Wissen von vorneherein als Kunst des Gesprächs: als Streit. Hierin trifft sich nach Meinung Schleiermachers die Hermeneutik mit der Dialektik und der Rhetorik: »Die Abhängigkeit beider [Rhetorik und Hermeneutik] von der Dialektik besteht darin, daß alles Werden des Wissens von beiden (Reden und Verstehen) abhängig ist.« (HuK, S. 77) Der Dialektik wohnt die Vision eines symmetrischen Philosophierens als ›unendliches Gespräch‹ inne, das von May Mergenthaler treffend als »ein die gesamte Welt und Zeit umfassendes, also weit über den gewohnten Bereich der Sprache hinausgehendes Gespräch«349 bestimmt wird. Damit lässt sich die romantische Dialektik nicht unter die Hegelsche Dialektikkonzeption subsumieren, sondern markiert vielmehr »eine profilierte Alternative zu Hegel innerhalb der gemeinsamen Voraussetzungen der nachkantischen deutschen idealistischen Philosophie«350 . Gegenüber Hegel, der innerhalb seines Systems die Möglichkeit des 347 Auch für Schleiermacher gilt, dass die Dialektik, und nicht etwa die Poetik oder die Ästhetik die Kehrseite der Hermeneutik bildet. Vgl. dazu auch Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, S. 242: »Insofern ›Reden aber nur die äußere Seite des Denkens ist‹ ist die Hermeneutik auf die Dialektik bezogen« und nicht etwa auf die Kunsttheorie oder die Poetik, wie Szondi oder Willim annehmen (vgl. S. 242). 348 Arndt: Dialektik und Reflexion, S. 7. 349 Mergenthaler: Zwischen Eros und Mitteilung, S. 18. 350 Arndt: Dialektik und Reflexion, S. 8. Siehe dazu auch Böhm: Dialektik bei Friedrich Schlegel, S. 14: »Dennoch wird Schlegels Ansatz als ein genuiner Beitrag zur Erkenntnistheorie innerhalb der Klassischen Deutschen Philosophie gewertet, der sich nicht allein darüber definieren ließe, gewisse Einschränkungen der Transzendentalphilosophie Kants mit Blicknahme auf Hegels Systemdenken sinnvoll ausfüllen zu können.«

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Lektüre als Form

Abschlusses ausdrücklich verfolgt, erscheinen Schlegels und Schleiermachers Konzeptionen als unabschließbar, nur prozessual und damit – so Hegels Kritik – nur negativ351 . Das Gespräch eröffnet nicht die Möglichkeit einer abschließbaren Erkenntnis, sondern stellt nur dessen als reale soziale Situation konzipierte Methode dar: »Es muß wirklich mit anderen gesprochen worden sein, wo immer ein reales und nicht nur begrifflichmonologisches Wissen in Anspruch genommen wird.«352 So formuliert etwa Schlegel noch in der Kölner Vorlesung zur Propädeutik und Logik aus dem Jahre 1805-1806 in einem Abschnitt mit dem Titel Von der sokratischen und platonischen Dialektik: »Was zuerst den Namen der Dialektik betrifft, so heißt er im Griechischen διαλεκτική. Er kommt her von διαλεγετν, sprechen, ein Gespräch führen, daher Dialog. Dialektik heißt also wörtlich die Kunst oder Wissenschaft des Gesprächs.« (KFSA XIII, S. 203) Die Bestimmung der sokratischen und platonischen Dialektik ist für Schlegel nicht nur von historischem Interesse, sondern vielmehr maßgebend auch für seine eigene Grundlegung der Philosophie: »Dialektisch ist, was sich bezieht auf die Kunst des gemeinschaftlichen Ausbildens des Verstandes und Vernichtung des Irrthums. Wegen dieses gemeinschaftlichen Ausbildens ist die Philosophie dialektisch, und nicht logisch.« (KFSA XII, S. 97) Die »Sokratische Ironie« (KFSA II, S. 160, Fragment 108), die als »Vereinigung von Lebenskunstsinn und wissenschaftlichem Geist«, als »Zusammentreffen vollendeter Naturphilosophie und vollendeter Kunstphilosophie« (KFSA II, S. 160, Fragment 108) für Schlegel eine wesentliche Bestimmung des romantischen Schreibens darstellt, bezieht sich ebenfalls auf die sokratische Gesprächskunst, die »gesellige Form« (KFSA XVI, S. 242, Fragment 124)353 die in den Platonischen Dialogen wiedergegeben wird. Dies zeigt eines der bekanntesten Fragmente aus dem Lyceum, welches immer wieder zur Bestimmung der Ironie herangezogen wird: »Die Philosophie ist die eigentliche Heimat der Ironie, welche man logische Schönheit definieren möchte: denn überall wo in mündlichen oder geschriebenen Gesprächen, und nur nicht ganz systematisch 351

So zumindest Hegels Kritik an Friedrich Schlegels philosophischen Ausführungen. Diese kann hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden, vgl. aber die Rekonstruktion der Hegelschen Kritik etwa bei Vieweg: Philosophie des Remis, S. 189: »Das ewige Schweben zwischen den absoluten Gegensätzen verhindert die wirkliche Synthese, Schlegel und Novalis reden immer nur vom ›Verbinden‹, geben aber nirgends an, wie ein solches Verbinden aussehen könnte. Das Endliche soll durch beständige Addition dem Unendlichen angenähert werden, ohne dies je erreichen zu können. Mit dieser Denkform der Approximation gerät Schlegel in den von ihm selbst verworfenen Empirismus. Das beständige Oszillieren von Synthesis und Vernichtung gleicht dem Drehen der Gebetsmühle, die ewige Wiederholung des Gegensatzes führt zum nihil negativum. Nur Endliches wird an Endliches gereiht, man verbleibt in der Kette der Endlichkeiten, im Reich der Beschränkung und des Verstandes. Die permanente Wiederherstellung des Antithetischen bildet das ultimative Resultat – für die Reflexion gibt es eben keine andere Auffassung des Absoluten als durch Antinomie. Im Streben manifestiert sich das Prinzip der Nicht-Identität, dies betrifft Fichte wie seine frühromantischen Jünger.« 352 Frank: Einverständnis und Vielsinnigkeit, S. 97. 353 Die Notiz bezieht sich außerdem auf die Gestaltung des Romans Lucinde. Es lautet in Gänze: »Für die gesellige Form in Luc[inde] ist die Sokrat.[ische] die einzige passende in Luc.[inde] – nicht Pastorale. – Würde des Lebens – besser als Schönheit der Menschen.« (KFSA XVI, S. 242, Fragment 124) In der nächsten Notiz spricht Schlegel dann gar, wiederum in Bezug auf die Lucinde, genauer in Bezug auf die »Freundschaft zwischen Lorenzo und Julius« von einer »Sokrat.[ische[n]] und […] heroische[n] Freundsch[aft]« (KFSA XVI, S. 242, Fragment 125).

4. Arabeske: Reden/Schweigen

philosophiert wird, soll man Ironie leisten und fordern; und sogar die Stoiker hielten die Urbanität für eine Tugend.« (KFSA II, S. 152, Fragment 42) Die Unterscheidung zwischen Philosophieren im Gespräch und dem systematischen Philosophieren weist bereits auf die Spannung hin, die zwischen dem Anspruch an die Philosophie als Gespräch und der dem Medium Vorlesung geschuldeten Anforderung der Entfaltung des Philosophierens in »einer gleichsam systematischen Form«354 besteht. Zu Letzterem sah sich Schlegel um 1800 aus finanziellen wie aus daraus resultierenden institutionellen Gründen gezwungen.355 Ein Versuch, die Systematik wie auch den eigenen Anspruch an das symmetrische Gespräch miteinander zu verbinden, findet sich eben in der Grundlegung der Philosophie als ›Dialektik‹. Eine mögliche Lösung für das Postulat der Einheit, welches das Gespräch untergraben würde, besteht in der Konzeption des Gesprächs nicht als Harmonie, sondern vielmehr als Streit: So betont Schleiermacher etwa in der Vorlesung von 1818 die notwendige Differenz zwischen den Gesprächspartnern: »Aber ein Gespräch führt man doch nicht, wenn man vollkommen einerlei Meinung ist, sondern nur bei Differenz der Vorstellungen, und das Gespräch soll eben die Differenz aufheben. Hiernach die Erklärung gefasst, ist sie so zu stellen, Dialektik ist die Kunst von einer Differenz im Denken zur Übereinstimmung zu kommen.« (Dial., S. 161-162) Der Streit findet also, wie hier deutlich wird, seinen Ausgangspunkt in zwei unversöhnlichen Positionen. Diese können nur in Bezug auf die Methode, also in Bezug auf das Wie der Wissensfindung, harmonisiert werden: »Das Setzen einer Gleichmäßigkeit der Produktion gibt die Allgemeingültigkeit des Resultats«, heißt es bei Schleiermacher (Dial., S. 184), ungeachtet des sachlichen Gehalts des Resultats.356 Dies macht Schleiermacher in Abgrenzung zur ›gemeinen Rede‹ in der Vorlesung von 1818 ganz deutlich: »In der gemeinen Rede wird statt der Gleichheit der Produktion die Gleichheit des Resultats als Kriterion des Wissens gegeben. […] Unsere Bestimmung ist also schärfer, das Wesen des Wissens richtiger treffend.« (Dial., S. 184-185) Diese Bestimmung des Wissens als »agonaler«357 Prozess ist auf Platons Theoretisierung der sokratischen Dialogform bezogen. Endpunkt des Streits ist keineswegs sachliche Einigkeit, sondern vielmehr die »noch an sich haltende Gleichmöglichkeit«358 , die bei Schleiermacher oft als »Oszillation« (Dial I, S. 198) beschrieben wird. »Die Verrichtung der Vernunft im Denken ist also die Bestimmung, die Verrichtung der Organisation ist die Belebung. Durch die erste wird jedes Ein Denken, durch die andre wird jedes ein Denken« (Dial., S. 200), formuliert

354 Elsässer: Einleitung, S. IX. 355 Vgl. dazu den sehr aufschlussreichen Aufsatz von Ernst Behler: Friedrich Schlegels Vorlesungen über Transzendentalphilosophie. 356 Vgl. Frank: Das individuelle Allgemeine, S. 131: »Im Durchschauen der Relativität des eigenen Standpunktes (›Reflexion‹) ist schon der Durchbruch zur Wahrheit gelungen: nicht zugunsten der Fixierbarkeit einer materialen Aussage – die wäre gerade relativ, indem sie auf einem provisorischen Konsensus beruhte und sogar in Unwahrheit sich verkehrte, sobald sie den Sinn von Sein bereits zu erschöpfen behauptete –, sondern in der Gestalt einer jede Einzelerkenntnis totalisierenden Bewegung auf Wahrheit hin.« 357 Mittelstrass: Versuch über den sokratischen Dialog, S. 13-14. 358 Frank: Das individuelle Allgemeine, S. 104.

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Lektüre als Form

Schleiermacher. Die spielerisch anmutende Verwendung der Groß- und Kleinschreibung bringt die begrifflich adressierte Dualität auf den Punkt, die zwischen dem Bestimmten (Ein [vernünftiges] Denken) und dem Prozess der Bestimmung (ein [belebtes] Denken) oszilliert. Diese beiden Modi der begrifflichen Äußerung sind aufeinander angewiesen und ein Modus allein kann den jeweils anderen nicht erschöpfend mitbehandeln. Insofern ist der Streit eben nie überwunden und »alles Wissen [ist] nur im Werden« (Dial., S. 173). Die begriffliche Verdopplung, die in der Einheit und Differenz des ›Denkens‹ besteht, macht jedoch schon auf die diesem scheinbar symmetrischen »Dualismus« (KFSA XII, S. 8) grundierende Asymmetrie aufmerksam. Die Konzentration auf konkrete Sachverhalte wird in den Überlegungen zur Dialektik bei Schlegel und Schleiermacher durch die Methode, also durch einen Prozess ersetzt. Schleiermacher formuliert in seiner Vorlesung keine Regeln eines statischen Wissens, sondern vielmehr den Prozess der Wissenswerdung, welcher eben in der Annäherung zweiter strittiger Positionen besteht: »Das Prinzip der Indifferenz wird zur Regel des werdenden Wissens, indem das Denken des strittigen Wissens unter Regeln gebracht wird, die auf ein streitfreies Denken führen.«359 Diese dem Dialog aufgebürdete begrifflich adressierte Symmetrie erweist sich aber als problematisch, insofern sie von der grundlegend asymmetrischen sozialen Situation der philosophischen Vorlesung unterlaufen wird. Die performative Asymmetrie zeigt sich nicht nur im Äußeren des Vorlesungstexts, sondern auch in seinem Inneren, im Umgang mit den philosophischen Gegenständen, etwa den philosophischen Systemen Fichtes und Spinozas. Auch hier führt die Konzentration auf die Methode zu einer begrifflichen Reduktion, die vom tatsächlichen Material der Gegenstände nicht viel übrig lässt. Schon für die griechische Philosophie und deren Hochschätzung der dialogischen Form stellt sich die Frage nach der Symmetrie. Die mäeutische Kunst des Sokrates lässt sich, entgegen der Rezeption in der Frühromantik durchaus als ein »Gespräch unter Ungleichen«360 verstehen. Das grundlegende Problem der Diskrepanz zwischen der begrifflich propagierten Methode eines gleichberechtigten, also symmetrischen Gesprächs oder Streits und der institutionell gebundenen performativen Vortragssituation der Vorlesungen begünstigt die Emanzipation des abstrakten Formbegriffs.

4.3.3.

Enthusiasmus/Skepsis

Auch die Unterscheidung Enthusiasmus und Skepsis versucht, in die asymmetrisch organisierte Philosophie eine Symmetrie wiedereinzuführen. Die Unterscheidung von Enthusiasmus und Skepsis findet sich ganz zu Beginn von Schlegels Vorlesung zur Transcendentalphilosophie und stellt somit den ersten tatsächlichen terminologischen Gegenstand dar. Sie ergibt sich aus dem »Problem I, den Charakter der Philosophie zu bestimmen« (KFSA XII, S. 4). Diesem ersten Problem wird mit insgesamt vier Aphorismen begegnet. Die Begriffe Enthusiasmus und Skepsis sind Inhalt des ersten Aphorismus

359 Arndt: Dialektik und Reflexion, S. 140. 360 Kurz: Der Roman als Symposion der Moderne, S. 69. Zur Problematik der Schlegelschen Rezeption der Platonischen Dialoge und der ihnen eingeschriebene Asymmetrien vgl. insgesamt den Aufsatz von Kurz sowie Szlezák: Gespräche unter Ungleichen und Rehn: Der entzauberte Eros.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

und lassen sich so als Anfang einer langen Reihe von Entgegensetzungen zwischen einem negativen und einem positiven Pol bestimmen, der die Symmetrie zwischen den jeweiligen Polen jeweils deutlich machen soll: I. Aphorismus: Die Philosophie fängt mit Skepsis an. Dies ist ein durchaus negativer Zustand. – Wenn wir die Methode der Mathematik anwenden, und die Philosophie konstruiren wollen, so haben wir hier schon den einen Faktor, nämlich den negativen. Der andere Faktor, der positive, wird seyn Enthusiasmus. Die philosophische Skepsis hat das Eigenthümliche, daß sie sich auch auf den ganzen Menschen bezieht. Und der Enthusiasmus muß eine bestimmte Richtung aufs Wissen haben. (KFSA XII, S. 4) Dieser erste Aphorismus ist insofern aufschlussreich, als er direkt an das in Kap. 4.4.1 beschriebene Problem des Anfangs anschließt, und den Anfang der Tätigkeit des Philosophierens hier ganz offensichtlich mit einer anthropologischen, also ›menschen-theoretischen‹361 Unterscheidung begründet. Am Anfang der Philosophie steht also die ganz individuelle Disposition des Philosophen als ›ganzer Mensch‹. Hier findet sich also – auf einer abstrakteren Ebene zwar, aber doch deutlich erkennbar – der Versuch einer Weiterführung der doppelten Kommunikationssituation, welche bereits Lucinde gekennzeichnet hatte. Im institutionellen Rahmen der Vorlesung, in der Schlegel gemäß der Konzeptionen des wissenschaftlichen Diskurses auf ›Objektivität‹ verpflichtet ist, insofern er nicht »als personales Gegenüber«, sondern »als anonyme Instanz«362 aufzutreten hat, versucht er zumindest begrifflich die Grundlegung der Philosophie zu subjektivieren. Das institutionell zum Absehen von jeglicher persönlichen Disposition neigende Medium Vorlesung wird im Sinne einer intimen, bekenntnishaften Kommunikation überformt. Nicht nur in dieser Hinsicht stellt das Gegensatzpaar von Enthusiasmus und Skepsis eine Brücke zu Schlegels poetischen Arbeiten und zur hier praktizierten Schließung in Form des Buchs dar. Ihm geht neben der poetischen Tätigkeit eine eingehende Beschäftigung mit philosophischen Vorbildern voraus. In der Lektüre der jeweiligen philosophischen Systeme missfällt Schlegel jeweils ihre Einseitigkeit, die er in den sogenannten Philosophischen Lehrjahren in drei Typen unterteilt: den Mystiker, den Empiriker und den Skeptiker.363 Den Skeptiker schätzt Schlegel methodisch, aufgrund seiner »philosophische[n] Consequenz (Classicität)« (KFSA XVIII, S. 14, Fragment 105), die in einem »systematische[n] Austesten der Haltbarkeit von Ansichten besteht, indem sie [sic!] man sie mit ihrem Gegenpol kontrastiert und dadurch relativiert«364 . Genau diese Methode übernimmt Schlegel für die Transcendentalphilosophie. Dennoch wird auch die Skepsis als einseitig empfunden. Sie kann kein System bilden, sondern sorgt viel-

So heißt der zweite Teil der Transcendentalphilosophie »Theorie des Menschen« (KFSA XII, S. 44-90) und möchte sich »auf den ganzen Menschen« (KFSA XII, S. 33) beziehen, ebenso wie die philosophische Skepsis. Hier lässt sich außerdem an eine frühromantische Ethik denken, vgl. dazu insbes. Hjort-Møller: Der lebensphilosophische Frühromantiker. 362 Koch, Österreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz, S. 20. 363 Vgl. Rehme-Iffert: Skepsis und Enthusiasmus, S. 20. 364 Ebd., S. 22. 361

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Lektüre als Form

mehr dafür, dass kein System absolut gesetzt wird. Dies ergibt sich aus der weiteren Bestimmung des Gegensatzpaars Enthusiasmus und Skepsis in der Einleitung: Aus den Axiomen folgt auch noch, daß auch die Skepsis ewig sey, wie die Philosophie. Aber nicht die Skepsis als System, sondern in wie fern sie zur Philosophie gehört. Die Idee der Philosophie ist nur durch eine unendliche Progression von Systemen zu erreichen. Ihre Form ist ein Kreislauf. Will wer wissen, wie aus zwey entgegengesetzten Elementen ein Kreis beschrieben werden könnte, der mag sich ohngefähr die Sache so denken: Das Centrum des Kreises ist der positive Faktor, der Radius der negative und der PeripheriePunkt der IndifferenzPunkt. Nun hat der positive Faktor in dem IndifferenzPunkt das Streben, sich mit dem positiven Faktor im Centro zu vereinigen; kraft des negativen Faktors aber kann er sich dem Centro nicht nähern, sondern wird bloß um das Centrum herumgetrieben. Der Enthusiasmus ist nun das Centrum. Die Skepsis der Radius. Der Enthusiasmus muß absolut seyn, d.h. er darf nicht vermindert werden können oder wohl gar verschwinden. Der Radius kann ins Unendliche wachsen. Aber auch der Grad des Bewußtseyns, die Skepsis; je mehr sie wächst, desto größer wird die Peripherie, oder Philosophie. (KFSA XII, S. 10-11) In dieser Passage lässt sich paradigmatisch erkennen, inwiefern das Auftreten des prozessualen Formbegriffs im Wechsel vom Buch zur Vorlesung wahrscheinlich wird. Es wird deutlich, dass der Formbegriff an eine gegenüber dem Buch als Arabeske verschobene Schließungsfigur, das Ornament, gekoppelt ist. Der prozessuale Formbegriff übernimmt die Aufgabe, Gegenstandsbeschreibung und Lektüreprogramm miteinander zu verschalten; er bezieht sich gleichzeitig auf die Definition eines Sachverhalts und zeigt an, wie die Beschreibung des Sachverhalts gelesen werden soll. In der Formulierung ›Ihre Form ist ein Kreislauf‹ ist zwar oberflächlich der Begriff der Form immer noch in einem Gegensatz begriffen, nämlich dem Gegensatz zur Idee, eigentlich hat er sich von diesem aber bereits emanzipiert bzw. seinen Gegensatz okkupiert. Bei der unendlichen Progression von Systemen handelt es sich um ein prozessuales Bild – als Ornament –, welches durch die Form des Kreislaufes lediglich noch modifiziert wird. Die abstrakte bildliche Vorstellung, die sich hier bereits als Ornament zu erkennen gibt, garantiert den Zusammenhalt genauso wie die Varianz der Begriffe in ihrem Verhältnis zueinander. Die Übermacht der Form lässt sich auch dadurch belegen, dass der nächste Absatz genau die Kreisform noch einmal entfaltet und auf die Methodik des Texts selbst bezieht. Die Form, nicht die Idee, wird somit zum Vehikel der Selbstbezüglichkeit der Schrift: die scheinbar symmetrische Unterscheidung von Form und Idee wird asymmetrisch, die Form übernimmt die Last ihrer Plausibilisierung, insofern sie den Übergang vom abstrakt-bildlichen zum begrifflichen Bereich motiviert. Diese Selbstbezüglichkeit wird schließlich in der Transcendentalphilosophie noch dadurch verstärkt, dass im Verlauf des Texts gehäuft Grafiken auftreten, welche damit selbst die Ebene des Buchstabens in Richtung der ›reinen‹ Form überschreiten.365 Bei diesen Bildlichkeiten 365 Bei diesen Grafiken handelt es sich selbstverständlich nicht um Schlegels eigene Grafiken, sondern um die vom Verfasser der Vorlesungsmitschrift erstellten. Dennoch lassen sich die Grafiken

4. Arabeske: Reden/Schweigen

handelt es sich – im Gegensatz zur Bildlichkeit der Arabeske, die immer den Bezug zum Naturhaften beibehält – um Diagramme, insofern sie nicht die Vorstellung von Natur und Konkretion, sondern von Geometrie und strenger Wiederholbarkeit evozieren. In Bezug auf das Gegensatzpaar Enthusiasmus/Skepsis fällt die hier nachweisbare Abstraktionsbewegung besonders abrupt aus, handelt es sich bei diesem Begriffspaar doch gerade um den Rest an Subjektivität und Individualität in der philosophischen Vorlesung. Auch und gerade dieser wird hier bereits in der Einleitung zu ›reinen‹ signalförmigen Begriffen umgedeutet, die keinen Gegenpart in der stofflichen Welt mehr haben, sondern im leeren Raum der philosophischen Vorlesung als reine Form Teil des mathematischen Spiels werden können. Sie ließen sich durch ein x und y oder, wie Rehme-Iffert es vorführt, durch Kreuze, Kreise und Pfeile ersetzen.366 Die Entgegensetzung von Skepsis und Enthusiasmus verbürgt also nur scheinbar die symmetrische Konstruktion der Transcendentalphilosophie, welche im Auffinden des »gemeinschaftlichen Mittelpunkt[s]« (KFSA XII, S. 5) besteht und schließlich in die »Reformation« münden soll, in der »jede einzelne [Wissenschaft] das Ganze werde« (KFSA XII, S. 105). Tatsächlich ist die Unterscheidung nur die erste einer langen Reihe von Differenzen, die mehr und mehr die Dominanz der reinen Form im doppelten Sinne des Diagramms und des Begriffs gegenüber dem Stoff zulassen.367 Bevor ich dies anhand des Formbegriffs konkret nachweise, gehe ich aber noch auf die anderen Kandidaten für eine symmetrische Lösung des Anfangs- und Legitimationsproblems ein. Es ist der Begriff der Kritik, welcher die Lektüre in die Philosophie integrieren soll. »Der Kritizism ist eine Synthesis der drei falschen (und einseitigen) Philosophien« (KFSA XVIII, S. 14, Fragment 112), notiert Schlegel. Die Einführung der Kritik und insbesondere der Selbstkritik soll also die Einseitigkeit des Philosophierens in eine Symmetrie überführen – es ist jedoch gerade die Kritik, welche die Asymmetrisierung zwischen Begriff und sozialer Situation innerhalb der philosophischen Vorlesungen noch weiter hervortreibt.

4.3.4.

Philosophie und Kritik

Bei der Grundlegung der Philosophie handelt es sich sowohl für Schlegel als auch für Schleiermacher um eine grundsätzliche Reflexion der Beschränkungen und Voraussetzungen des philosophischen Diskurses. Insofern ist Schlegel »ein Kind des ›Zeitalters meiner Ansicht nach als Beleg für die Abstraktion der Form in Schlegels Vorlesung heranführen, da allein die Systematik und hohe Komplexität der Vorlesung die Zeichnungen triggert. Die Versuchung, Schlegels Systematik in ein grafisches System zu überführen lässt sich im Übrigen auch bis in die Forschungsliteratur nachverfolgen. So stehen am Ende der von Birgit Rehme-Iffert vorgelegten Untersuchung zu Skepsis und Enthusiasmus eine Reihe von Grafiken, welche »Strukturparallelen der versch. Lesarten des Wechselerweises« nachvollziehen sollen, vgl. dies.: Skepsis und Enthusiasmus, S. 138. Rehme-Iffert vollzieht also in ihrer durchaus bemerkenswerten Arbeit die der Transcendentalphilosophie eigene Abstraktionsbewegung vom Individuell-Menschlichen zum Abstrakt-Grafischen noch einmal nach. 366 Vgl. ebd., S. 138. 367 Als Reaktion auf diese Abstraktionsbewegung ließe sich die Vorlesung zur Philosophie des Lebens begreifen, die Schlegel wesentlich später hält. Wie es um den Formbegriff in dieser Vorlesung steht, wäre eine weitere Untersuchung wert.

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Lektüre als Form

der Kritik‹, wie Kant es genannt hat, und der Begriff der Kritik spielt in seinem Denken eine zentrale Rolle«, ist gar das »Gravitationszentrum«368 . So vermerkt Schlegel in den Fragmenten Zur Philologie II: »Eine correcte Philosophie könnte auch kritisch heißen. Da wäre doch immer das System, das Werk mehr so zu nennen, wie die φδ [Philosophie] selbst. […] Dadurch wird die φδ [Philosophie] erst zur Kunst, in viel höherm Sinn als bey den Alten, wo sie doch nur klassisches Naturprodukt war.>« (KFSA XVI, S. 62-63, Fragment 37) Im Gegensatz zum aufklärerischen Begriff der Kritik, der innerhalb der Trias von »miteinander verschränkten Prinzipien der Öffentlichkeit, Kommunikation und Kritik«369 lokalisiert ist, stellt sich Schlegels Begriff der Kritik durchaus anders dar. Seit Kant gilt jede Philosophie als kritisch, insofern sie die »Kantische Frage nach der Bedingung der Möglichkeit«370 (von x) stellt. In dem hier entfalteten Zusammenhang meint der Begriff der Kritik allerdings nicht nur diese transzendentale Wende hin zu den Bedingungen der Möglichkeit, sondern vielmehr die Integration der Lektüre in die philosophische Textproduktion. So bemüht sich Schlegel um eine philosophische Kritik, »die sich mit der traditionellen Klassizität auseinandersetzt und die abstrakten Bedingungen der Transzendentalität im geschichtlichen Zusammenhang erklärt und plausibel macht«371 . Die abstrakten Kriterien der ›Öffentlichkeit‹ werden abgelehnt und durch die Orientierung an konkreten Individuen, sowohl in Bezug auf die Lektüre, als auch in Bezug auf das Schreiben, ersetzt. Insofern Schlegel aber auch beim Philosophieren den Kunstcharakter, die reine und unableitbare Performanz der Tätigkeit betont, konvergieren beide: der philologische und der philosophische Kritikbegriff.372 Auch Schleiermacher betont in seiner Vorlesung zur Dialektik: »Der Vorsatz, die Produktion des Wissens durch Besinnung über das Verfahren zur Kunst zu erheben, setzt voraus, dass ein anderweitig, also kunstlos, entstandenes Wissen vorhanden sei, in welchem das Verfahren könne beobachtet werden.« (Dial., S. 167) Dieser Satz formuliert bündig den Zusammenhang zwischen philosophischer Kommunikation und Lektüre. Um die Bedingungen von philosophischer Kommunikation methodisch aufzudecken, muss zunächst einmal kommuniziert werden – insofern muss sich jede Kommunikation dem Risiko aussetzen, auf ihre Bedingungen hin beobachtet zu werden. Unter dem grundlegenden Banner der Kunst, der die Zuordnung zur Wissenschaft ersetzt und/oder ergänzt373 , nähern sich Philosophie und Poesie, deren Kern jeweils 368 369 370 371 372

373

Arndt: Philosophie, S. 189. Stollberg-Rilinger: Politische und soziale Physiognomie, S. 22. Zovko: Friedrich Schlegel als Philosoph, S. 15. Ebd. Siehe dazu auch König: Grenzen der Cyklisation, S. 21: »Zwei Reihen gilt es zu versöhnen, die beide sich auf den Begriff der Kritik stützen.« König zeigt hier anhand der ›Philosophie der Philologie‹, wie Schlegel in der Betonung der Performanz den Genitivus objectivus zu einem Genitivus subjectivus macht. Siehe dazu auch Fichte: Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, S. 90: »Die Weisen aber, wie der Meister seinem Lehrlinge sich enthüllt, sind folgende: Examina, nicht jedoch im Geiste des Wissens, sondern in dem der Kunst. In diesem letztern Geiste ist jede Frage des Examinators, wodurch das Wiedergeben dessen, was der Lehrling gehört oder gelesen hat, als Antwort begehrt wird, ungeschickt und zweckwidrig. Vielmehr muß die Frage das Erlernte zur Prämisse machen, und eine Anwendung dieser Prämisse in irgendeiner Folgerung als Antwort begeh-

4. Arabeske: Reden/Schweigen

als Kritik bestimmt wird, der Ununterscheidbarkeit. Mit diesen Annäherungen spielt Schlegel immer wieder in so tautologischen wie absoluten Formulierungen (in den Fragmenten, die mit »Zur Kritik« überschrieben sind): »Nur der φδ [Philosoph] kann ein κρ [Kritiker] sein« (KFSA XVI, S. 137, Fragment 621) oder auch »Die κρ [Kritik] ist wie die φλ [Philologie] eine Wissenschaftskunst; nur die κρ [kritische] φδ [Philosophie] ist eine Kunst und zwar eine Wissenschaftskunst.« (KFSA XVI, S. 137, Fragment 622) Der Begriff der Kritik ist auch in der Vorlesung zur Transcendentalphilosophie von großer Bedeutung. So heißt es im »III. Theil. Rückkehr der Philosophie zu sich selbst«: Kritisch wird die Philosophie seyn und heißen können, die sich selbst auf das bestimmteste von den entgegengesetzten absondert, und dadurch wird der Idealismus polemisch. 2tens wird die Philosophie kritisch seyn, wenn sie nach außen gewendet ist, und sich selbst erkennt in dem Ganzen, wovon sie nur ein Glied ist, nämlich im ganzen Organismus der Wissenschaften und der Künste. Hier läßt sich nur eine Gränzbestimmung der Philosophie angeben. (KFSA XII, S. 96) Der Begriff der Kritik erhält hier eine doppelte Konnotation. Zum einen meint kritische Philosophie eine polemische Philosophie, die sich klar von anderen philosophischen Richtungen absondert und so in sich zu einem Ganzen abschließt. Zum anderen meint kritische Philosophie eine Philosophie, die sich von außen betrachtet und die eigenen Grenzen nicht nur performativ – durch Absonderung und Polemik – bekräftigen, sondern auch reflexiv beobachten kann. »Reflexion über die Reflexion ist der Geist der kritischen Philosophie als Philosophie der Philosophie.« (KFSA XVIII, S. 320) Hier wird schon deutlich, dass sich im Zeichen des Kritikbegriffs eine Verdopplung von Begriffen insgesamt abspielt, welche diese zu prozessualen Begrifflichkeiten zweiter Stufe macht und insofern die scheinbare Öffnung (in der Lektüre) in der Redundanz der Begriffe zu schließen sucht. Die doppelte Funktionalisierung der Kritik als Betonung und gleichzeitige Transzendierung der Grenze in der Reflexionsbewegung begründet die historische, genauso wie die systematische, enzyklopädische374 Stoßrichtung der Transcendentalphilosophie. So heißt es etwa: »Aber da eine historische Philosophie auch kritisch seyn muß, so wird sie nicht im Gegensatz der kritischen historisch seyn, sondern weil dies das Höhere ist, das jenes umfaßt.« (KFSA XII, S. 96) Darüber hinaus soll die Transcendentalphilosophie eine »Encyclopädie der Wissenschaften« (KFSA XII, S. 35) liefern, welche den Stellenwert der Philosophie im System der Wissenschaften herausstellt. Auch die Vorlesungen zur Transcendentalphilosophie stehen also im Kontext des Bibelprojekts, das insbesondere bei Novalis eng mit der Enzyklopädie verknüpft ist. Allerdings versuchen sie die hier angestrebte Verwirklichung eines Buchs der Bücher gerade nicht über das Medium Buch

ren.« Die in den gegenwärtigen Lehrplänen sich widerspiegelnde Konzentration auf ›Methoden‹ hat also ihren Ursprung in dieser Umstellung von Wissen auf Kunst um 1800. 374 Auch der Begriff der Encyclopädie wird oft in der Forschung als Einheitsbegriff gegenüber Unterscheidungen wie etwa Kunst und Wissenschaft oder Philologie und Philosophie in Stellung gebracht, vgl. dazu etwa König: Grenzen der Cyklisation, S. 24, S. 29: »Die Encyklopädie, worunter er [Friedrich Schlegel] eine Totalisierung der Methoden und Wissenschaften im Namen der Kunst versteht.« siehe auch Canal: Die Philologie im Organismus der Wissenschaften, S. 136.

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Lektüre als Form

im materiellen und sozialen Sinne – als Arabeske –, sondern über eine andere Schließungsfigur, die des Systems375 als zwar noch chaotisches, über die Struktur jedoch geordnetes Netzwerk prozessualer Begrifflichkeiten zu erreichen. Der Begriff der Kritik und die in ihm vollzogene Betonung der Grenze situiert das eigene Begriffsnetzwerk gleichzeitig als geschlossenes, verbindet es aber dann nach außen hin mit einem übergeordneten Netz anderer Prozessbegriffe. Hier bereits macht sich wiederum die Problematik der angestrebten Symmetrie bemerkbar. Die mit dem Begriff der Kritik eingenommene Position gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Grenze ist eine paradoxe Position, die notwendigerweise eine Asymmetrisierung im Sinne einer Entfaltung der Paradoxie nach sich zieht. Diese Entfaltung lässt sich in Bezug auf die Überblendung verschiedener Lektürehaltungen nachvollziehen, welche in der Transcendentalphilosophie zu finden sind. Die Transcendentalphilosophie ist, insofern sie Charakteristik der Philosophie insgesamt sein will, doch gleichzeitig eine Charakteristik anderer konkreter philosophischer Systeme, der von Fichte und Spinoza. Bei diesen beiden Systemen handelt es sich insofern um ausgezeichnete Gegenstände, als sie einander polar gegenübergestellt werden376 – hier scheint die angestrebte Symmetrie in der Form des ›Gesprächs‹ wieder auf.377 Die als Gegenstand gewählte »Fichtische Philosophie« wird mit einer Philosophie des »Bewußtseyn« assoziiert (vgl. KFSA XII, S. 5), die »Philosophie des Spinoza« dagegen mit einer Philosophie, die auf das Unendliche« (KFSA XII, S. 5) geht. Die Aufgabe der Schlegelschen Transcendentalphilosophie ist es, den gemeinschaftlichen Mittelpunkt zwischen diesen unvereinbaren Polen zu finden und diese somit zu transzendieren: »Unser System der Philosophie soll das gemeinschaftliche des Spinozischen und Fichtischen seyn. Wir können uns daher nur an das Mittlere zwischen beyden halten.« (KFSA XII, S. 32) Immer wieder beschwört Schlegel die Symmetrie zwischen den von ihm als unvereinbare Pole deklarierten Systemen Fichtes und Spinozas, insofern er ihre Konkretion und damit ihre Individualität hervorhebt. Er versteht Spinoza und Fichte also im Sinne

375

Carlos Spoerhase versucht in einem sehr aufschlussreichen Aufsatz den Begriff des Systems mit einer dezidiert nicht buchförmigen Textform zu koppeln, die sich dennoch auf die Form Buch bezieht und dieses mit einer nicht mehr sozial konkreten, sondern diagrammatisch abstrakten Schließungsfigur überschreibt: den Plan. Vgl. Spoerhase: Der Plan. Über die literarische Form komplexer Systeme um 1800. Diese Überlegungen sind auch mehr oder weniger wortgleich eingegangen in das Buch Das Format der Literatur, vgl. etwa S. 459-501. 376 Die polare Gegenüberstellung dieser beiden Autoren im Sinne einer Gegenüberstellung von Immanenz- und Transzendenzmodellen findet sich nicht nur bei Schlegel, sondern lässt sich als zentraler Topos der Philosophiegeschichtsschreibung insgesamt beschreiben. Klaus Hammacher spricht in diesem Sinne für Spinoza und Fichte etwa von »zwei als streng entgegengesetzt geltenden Systemen« (Hammacher: Spinoza und Fichte, S. 192). In diesem Sinne hatte schon Jacobi an Fichte geschrieben, dieser vertrete einen »umgekehrten Spinozismus« (Jacobi an Fichte, zit.n. Hammacher: Spinoza und Fichte, S. 192). Die topische Qualität der Gegenüberstellung unterstützt das Argument noch, da sie unterstreicht, dass es keineswegs um eine Lektüre konkreter Texte im Sinne eines Gesprächs, sondern um die Abstraktion gemeinsamer Methoden geht. 377 Genau dieselbe Technik der Evokation einer symmetrischen ›Gesprächs‹-Situation findet sich später auch bei Walter Benjamin, wenn dieser die frühromantische Kunstphilosophie mit derjenigen Goethes in ein Gespräch bringen will, vgl. dazu Kap. 5.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

eines konkreten Gegensatzpaars: »Die Symmetrie beyder Philosophen ist die Symmetrie des Genies, sie beeinträchtigt die Selbständigkeit beyder nicht.« (KFSA XII, S. 29) Dieser Symmetrie in der Gegenüberstellung von Fichte und Spinoza steht allerdings eine extreme Asymmetrie in der Behandlung beider durch Schlegel gegenüber, der hier klar auf Reduktion setzt, und damit den symmetrischen Gegensatz FichteSpinoza überformt in eine asymmetrische Bewegung. Aus den Sätzen: die Philosophie ist unendlich; und ihre Eintheilung ist willkührlich, geht hervor, daß das vollendetste System nur Approximazion seyn kann, nicht des Ideals der Philosophie überhaupt, sondern eines jeden eigenen Ideals. (Dies erinnert uns an Geist und Buchstaben eines Systems.) Jedes System fängt mit Redukzion und Analyse an. Redukzion ist die Auflösung einer Komplexion von Phänomenen in einzelne Phänomene. (KFSA XII, S. 10)378 Jedes philosophische System, so Schlegel hier, reduziert auf willkürliche Art und Weise Komplexität. Darin besteht auch die jeweils spezifische Individualität der philosophischen Lehrgebäude eines Fichtes oder Spinozas. Weil philosophische Systeme also auf diese Art und Weise Individuen sind, kann man sie nur charakterisieren, aber nicht definieren. Und, weil sie auf ihre Art und Weise Individuen sind, brauchen sie die Charakteristik, um wiederum mit anderen Individuen in Kontakt treten und die Approximation weiter vollziehen zu können. Hier findet sich also eine Begründung für prozessuale Begrifflichkeiten, die paradoxerweise erst eine symmetrische Begegnung möglich macht. Die mediale Situierung, welche die Paradoxie des Buchs ausmachte und in Schleiermachers Vertrauten Briefen offengelegt wurde, wird hier noch einmal deutlich: die Asymmetrie der Schrift oder des Schriftbilds ermöglicht erst eine so immer nachträglich evozierte Symmetrie. Gerade in den Vorlesungen zur Transcendentalphilosophie verläuft die Charakterisierung qua Approximation einseitig über Abstraktion. »Die Werke werden auf methodische Bewegungen reduziert, die den Begriffsbewegungen selbst entsprechen und diese somit spiegeln können.«379 Dies wird nicht zuletzt durch die zahlreichen mathematischen Metaphern deutlich gemacht. Als Antwort auf das in der Einleitung aufgemachte »Problem II. Den gemeinschaftlichen Mittelpunkt aller Prinzipien und Ideen zu suchen.« (KFSA XII, S. 5) wird angeboten, zu »abstrahiren von allem, was nicht absolut ist.« (KFSA XII, S. 5) Diese Abstraktion wird vollzogen mittels einer Konfrontation des Gesetzten mit seinem Gegensatz: »wir müssen das konstituiren, was dem entgegengesetzt ist, von dem wir abstrahiren sollen. Wir müssen also das Unendliche schlechthin setzen.« (KFSA XII, S. 5) Die Asymmetrisierung erreicht ihren Höhepunkt in einer rein graphischen, also diagrammatischen Markierung der beiden Systeme. Für Fichte wird nach einer Auflistung der vier Theile Wissenschaftslehre, Moralphilosophie, Religionsphilosophie und Naturrecht ein Quadrat notiert: »Das allgemeine Schema der Fichtischen Philosophie

378 Die von Kittler beobachtete romantische Datenverarbeitung (vgl. Kittler: Über romantische Datenverarbeitung) wird hier also offen angesprochen. 379 König: Grenzen der Cyklisation, S. 28.

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wäre demnach ein □.« (KFSA XII, S. 10); für Spinoza ein Kreis380 : »Das allgemeine Schema seiner Philosophie würde seyn der ○.« (KFSA XII, S. 10) Auf dieser höchsten Stufe der Asymmetrisierung wird jede noch referentielle Komponente der Schrift ausgeblendet und übrig bleibt die reine geometrische Form. Selbst der »geistvolleste Buchstabe« gehört »nicht zum Wesen des Systems« (KFSA XII, S. 30). Schlegel notiert hier nicht etwa den zentralen Gedanken der jeweiligen Philosophien Fichtes und Spinozas, sondern vielmehr die ›innere‹ Organisation der philosophischen Systeme, die er mit den Figuren des Quadrats und des Kreises markiert. Aus diesen beiden geometrischen Figuren ist jeglicher Verweis auf Stoff oder Leben getilgt, es bleibt also die reine Form im Sinne des Diagramms. Eine ähnliche Technik der zunächst symmetrischen Gegenüberstellung, die dann allerdings in eine asymmetrisierende Bewegung überführt wird, findet sich auch in Bezug auf sämtliche andere Begrifflichkeiten. In der durchgängig praktizierten Methode des ›Kreuzens‹ begegnen sich prozessuale und symmetrische Begriffslogik. Gegenstand und Methode sind hier nicht mehr getrennt, sondern fallen in eins. Dabei verliert sich die mit den symmetrischen Begriffen angestrebte Konkretion, die den Gegenpol zur Abstraktion bilden soll, vollkommen. Mit der Methode des Kreuzens schafft Schlegel die technische Infrastruktur für ein Begriffsnetz, das sich intendiertermaßen wechselseitig stabilisiert und gleichzeitig destabilisiert, eben ein »Chaos von Systemen« (KFSA XII, S. 5) und einen nicht stillzustellenden Begriffsfuror, in dem scheinbar alle vorher mit Inhalt angefüllten Begriffe aufgehen. So geschieht dies etwa mit dem Begriff der »Bildung« (KFSA XII, S. 8) wie auch mit den verschiedenen philosophischen Schulen: Der Dualismus hat es bloß mit der Empirie zu tun; hingegen der Realismus bloß mit der Theorie. Sein Charakter ist Identität; so wie der Charakter des Dualismus Duplicität ist. Im Dualismus sind bloß zwey Thätigkeiten, und keine Substanz. Nun sind der Dualismus und Realismus die beyden Elemente des Idealismus. Der Dualismus ist das negative, der Realismus das positive Element. Dem Idealismus ist eigentlich entgegengesetzt der Dogmatismus. (KFSA XII, S. 14) An diese rasante Verknüpfung diverser Unterscheidungen fügt Schlegel im Folgenden noch verschiedene Wissenschaften, wie die Mathematik oder die Physik an, und außerdem andere Zentralbegriffe der Philosophie, etwa den des Individuums oder des Elements (KFSA XII, S. 15-16). Zur besseren Übersicht381 werden diese Verknüpfungen vom Verfasser der Mitschrift an anderer Stelle auch graphisch markiert (vgl. Abb. 2). Diese Begriffe »bilden die Bezugspunkte in einem Netz von Verweisungen und Relationen, so dass durchaus der Eindruck eines systematischen Ganzen evoziert wird«382 . 380 Die tatsächliche Notation von Quadrat und Kreis vollzieht sich selbstverständlich durch den anonymen Verfasser, wie schon mehrfach betont. Dennoch ist davon auszugehen, dass diese Notation des Kreises und des Quadrats sich wahrscheinlich im Vorlesungskontext auch graphisch niedergeschlagen hat und nicht der Imagination des Verfassers der Abschrift entstammt. 381 Hier sei schon einmal auf die im Folgenden zu thematisierende Unterscheidung des französischen Philosophen Michel de Certeau zwischen lieu und espace hingewiesen, der die Übersicht und die Mitsicht voneinander unterscheidet, vgl. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 217-218. 382 Limpinsel: Diaskeuasen des Geistes, S. 152.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Abbildung 2: Diagramm in Schlegels Transcendentalphilosophie

Quelle: KFSA XII, S. 25.

Insbesondere die graphische Markierung (vgl. Abb. 2) zeigt, dass es bei den Begriffen und ihren jeweiligen Gegensätzen nicht primär um die Bedeutung der Termini geht, sondern vielmehr um die Art und Weise ihrer Verknüpfung miteinander. Immer wieder weist Schlegel für den Diskurs der Philosophie bestimmten Knotenpunkten im Netzwerk383 auch philosophische Systeme zu: »Unter den Dogmatikern können als Repräsentanten des Systems angesehen werden Jacobi und Kant.« (KFSA XII, S. 14, Anm. 2) Mithilfe dieses Netzwerks entsteht eine ›Landkarte‹384 der Philosophie, welche an be383 Damit kann Schlegel durchaus als Vorläufer einer Netzwerktheorie betrachtet werden, wie sie sich insbesondere im 20. Jahrhundert entwickelt. Vgl. zur Geschichte der Netzwerktheorie etwa Holzer: Netzwerke. Zentrale aktuelle Vertreter einer netzwerkbasierten Gesellschaftstheorie sind etwa Bruno Latour und Harrison White. Siehe auch Bang Larsen (Hg.): Networks. Wie insbesondere Hartmut Winkler in seiner Mediengeschichte Docuverse betont, verschiebt sich der Begriff der Kommunikation, wenn er in Beziehung zu einem Netzwerk verwendet wird, vgl. S. 115: »Auf der Ebene der theoretischen Modellbildung ist wichtig, daß sich im Bild des kommunikativen ›Netzes‹ der Kommunikationsbegriff grundsätzlich verschoben hat. Einerseits ›kommunizieren‹ die Knoten miteinander, was der traditionellen Vorstellung eines bilateralen Austausches entsprechen würde, gleichzeitig aber sieht sich jeder einzelne Knoten mit dem Netz als einer Gesamtstruktur konfrontiert. Eine zweite Achse der Kommunikation also verbindet zwei unterschiedliche Ebenen: diejenige der Individuen und die gesellschaftliche Gesamtstruktur […]«. Im Falle Schlegels handelt es sich nicht um die gesellschaftliche Gesamtstruktur, sondern um die diskursive Gesamtheit der Philosophie, die als Hintergrund für das symmetrisch angelegte Gespräch zwischen Fichte und Spinoza dient. 384 Mit der Landkarte verbindet sich eine bestimmte epistemologische Methode, wie der französische Soziologe Michel De Certeau gezeigt hat, der carte und parcours als Gehen und Sehen mit zwei verschiedenen Modi der Raumwahrnehmungen in Verbindung bringt: »Zu den Charakteristika des Gehens gehört, daß es an die konkrete Umgebung gebunden bleibt. Ein Gehender bewegt sich mitten in einer räumlichen Anordnung, er steht nicht über ihr noch in einer andren räumlichen Entfernung zu ihr. Das heißt, daß im Raum des Gehenden die ›Feldperspektive‹ vorherrscht, wie diese Perspektive innerhalb der Kognitionswissenschaften bezeichnet worden ist. Im Gegensatz zur Vogelperspektive, mit der ein externer, distanzierter Beobachterstandpunkt auf eine räumliche Anordnung gegeben ist, beschreibt die Feldperspektive einen Standpunkt, bei dem aus Beobachtern Teilnehmer werden, die sich unmittelbar in der räumlichen Anordnung befinden und an dem dortigen Geschehen partizipieren. Der Raum des Gehenden liegt so auch in Greifweite, er ist ein taktiler Raum. […] Kurz, die Bewegung des Gehens bedeutet in die Welt eingebunden

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stimmten Eckpunkten eine Zuordnung erlaubt. Es geht hier nicht um die Individualität der jeweiligen philosophischen Systeme, sondern um ihren Platz im Netzwerk. Die in die eigene Grundlagenphilosophie eingespeisten Autoritäten werden zu »›Örter[n]‹ auf einer Karte ohne definitive Koordinaten«385 . Die Symmetrie von Gegenstand und Lektüre, wie sie noch im Wilhelm Meister praktiziert wurde, schlägt hier fehl. Der Gegenstand der Lektüre ist eben nicht das einzelne Buch, sondern vielmehr der philosophische Diskurs insgesamt, der auf eine abstrakte Methodik als neuartige systematische Schließungsfigur reduziert wird.386 Die propagierte Symmetrie zwischen Lektüre und Buch schlägt so notwendigerweise um in eine radikale Asymmetrisierung, die von den ihr zugrundeliegenden Gegenständen nur noch Formeln und graphische Operatoren übrig lässt.

4.3.5.

Die ›cyklische Methode‹

Ein weiterer Ausweis für die Asymmetrisierung ist die sogenannte ›cyklische Methode‹, welche in der Transcendentalphilosophie sowohl deskriptiv ausformuliert wie auch performativ umgesetzt wird. Auch sie lässt sich als Antwort auf das Problem des Anfangs verstehen, der jeweils rekursiv wieder eingeholt werden soll. Beim Begriff der ›cyklischen Methode‹ handelt es sich um einen aus den Notizen zur Philologie übernommenen Terminus, der die eigentliche philologische Methode bezeichnet387 Hier betont Schlegel explizit die Verwandtschaft zwischen Philologie und der solcherart bezeichneten

zu sein, und sie ist eine der elementarsten Formen der Aneignung wie Erschließung räumlicher Anordnungen.« (de Certeau: Kunst des Handelns, S. 217-218) Gegenüber der performativ vollzogenen Raumbeschreitung, die sich in der Lucinde abspielt, dominiert in der Vorlesung Schlegels die Vogelperspektive, die sich im Versuch einer Topographie des philosophischen Diskurses niederschlägt. 385 Limpinsel: Diaskeuasen des Geistes, S. 152. – Damit erfüllen Schlegels Darlegungen Novalisʼ Prophezeiung einer »Naturkarte« in Die Lehrlinge zu Sais, die hier allerdings als für die tatsächliche Erkenntnis unzulänglich markiert wird: »Glaubst du nicht, daß es gerade die gut ausgeführten Systeme seyn werden, aus denen der künftige Geograph der Natur die Data zu seiner großen Naturkarte nimmt? Sie wird er vergleichen, und diese Vergleichung wird uns das sonderbare Land erst kennen lehren. Die Erkenntniß der Natur wird aber noch himmelweit von ihrer Auslegung verschieden seyn.« (NS I, S. 222) 386 Die grundsätzliche Erweiterung des Kritikbegriffs, der dann nicht mehr das Ganze eines tatsächlichen Buchs, sondern vielmehr einer abstrakten diskursiven Einheit zum Gegenstand hätte, deutet sich auch nach 1800 für den Bereich der Literatur an. So schreibt Schlegel in der Einleitung zur Lessing-Edition aus dem Jahre 1804 unter dem Stichwort »Vom Wesen der Kritik«: »Denn die Sonderung der Gattungen führt, wenn sie gründlich vollendet wird, früher oder später zu einer historischen Konstruktion des Ganzen der Kunst und der Dichtkunst. Diese Konstruktion und Erkenntnis des Ganzen aber ist von uns als die eine und wesentlichste Grundbestimmung einer Kritik, welche ihre hohe Bestimmung wirklich erfüllen soll, aufgestellt worden.« (KFSA III, S. 58) 387 Siehe etwa KFSA XVI, S. 66, Fragment 62: »Auch die Methode der materialen Alterthumslehre erkannte ich selbst, lange ehe ich von Fichte wußte, für cyklisch. Soll dieß nun mit in dem Iten Aufsatz gesagt werden, der bis auf EIGNEN AUFSATZ VON DER PHILOLOGISCHEN METHODE verspart werden. Besser das Erste; es gehört zur Ankündigung des folgenden Wegs. Wenigstens provisorisch muß davon geredet werden. .«

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Methode: »Verhältnis und Verwandtschaft der cyklischen Methode mit der φλ [Philologie], die in dem Wort ἐγκύκλιοπαιδ.[ια] liegt.« (KFSA XVI, S. 65, Fragment 59) Damit ist die ›cyklische Methode‹ eigentlich eine Methode des Lesens: »Alles kritische Lesen, alles Lesen mit Rücksicht auf Klassizität […] ist cyklisch.« (KFSA XVI, S 67, Fragment 73) Die Herkunft der ›cyklischen Methode‹ aus dem Bereich der Philologie markiert sie als Methode im Umgang mit ›bedingtem Wissen‹.388 Damit ist sie »explizit der deduktiven Methode der Grundsatzphilosophie entgegengesetzt«389 und reagiert somit auf das eingangs beschriebene Problem des Anfangs, der gleichzeitig mit etwas und schlechthin anfängt. Sie taucht bei Schlegel, zunächst nicht explizit als solche benannt, in der Transcendentalphilosophie auf als Mittel zur angestrebten ›Konstruktion‹ der Philosophie, nämlich im Kontext der Zerlegung in negative und positive Faktoren: »Wenn wir die Methode der Mathematik anwenden, und die Philosophie konstruiren wollen, so haben wir hier [in der Skepsis] schon den einen Faktor, nämlich den negativen. Der andere Faktor, der positive, wird seyn Enthusiasmus.« (KFSA XII, S. 4) Die Methode, einen Begriff mit einer Unterscheidung zu korrelieren, indem dieser in zwei Faktoren ›zerlegt‹ wird, wiederholt Schlegel nun unermüdlich: »Auch das Absolute theilen wir nach der Methode der Mathematik in zwey Faktoren.« (KFSA XII, S. 4) Bei der Methode der Mathematik handelt es sich um das Einfügen bzw. Übersetzen der algebraischen Struktur eines faktoriellen Rings390 in einen begrifflich verfahrenden Text.391 Die Performanz dieser Begriffsverkettung wird als Konstruktion eines Kreises beschrieben. Will er wissen, wie aus zwey entgegengesetzten Elementen ein Kreis beschrieben werden könnte, der mag sich ohngefähr die Sache so denken: Das Centrum des Kreises ist der positive Faktor, der Radius der negative und der PeripheriePunkt der IndifferenzPunkt. Nun hat der positive Faktor in dem IndifferenzPunkt das Streben, sich mit dem positiven Faktor im Centro zu vereinigen; kraft des negativen Faktors aber kann er sich dem Centro nicht nähern, sondern wird bloß um das Centrum herumgetrieben. Der Enthusiasmus ist nun das Centrum. Die Skepsis der Radius. (KFSA XII, S. 10) Der Kreis steht hier für die Vorstellung einer Einheit, die in der Differenz, nämlich in der Spannung zwischen Zentrum und Radius besteht. Insofern verbindet er die »Dualität« bzw. »Quadruplicität« der materiellen Prinzipien (vgl. KFSA XII, S. 9) und die »Identität« der Ideen, welche als »Triplicität« erkennbar wird (KFSA XII, S. 9). Mit diesem Bild versucht Schlegel, eine einheitliche Philosophie zu konstruieren (im Sinne der prozessualen, abstrakten Einheitsbegriffe), die gleichzeitig ihre (materielle) Dynamizität (im Sinne der konkreten, symmetrischen Gegensatzpaare) nicht verliert. Bei dieser Einheit handelt es sich insofern wiederum um eine Gleichzeitigkeit der Gegensätze, als beide gemeinsam den beschriebenen Kreis konstruieren. Insofern ist die ›cyklische Methode‹ die Garantie für eine Existenz der Philosophie nicht nur als Wissenschaft,

388 389 390 391

Vgl. Benne: Kunst der Organisation, S. 100-101. Ebd., S. 100. Vgl. zum faktoriellen Ring Serge Lang: Algebra. 3. Auflage, Springer, S. 111. Andreas Arndt sieht in dem Kreislauf dagegen das »Vorbild der Himmelsmechanik«, als »Umwälzung eines Himmelskörpers um ein Zentrum« vgl. Arndt: Transcendentalphilosophie, S. 203.

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sondern auch als Kunst: »Die Dedukzion der cyklischen Methode liegt vielleicht im Begriff einer Wissenschaftskunst.« (KFSA XVI, S. 66, Fragment 65) Die Bewegung im Kreis erfolgt entweder »centripetal oder centrifugal« (KFSA XII, S. 21). Somit möchte Schlegel die Transcendentalphilosophie und damit jegliche Philosophie am passendsten als »Central Philosophie« (KFSA XII, S. 21) bezeichnen. Das damit angesprochene, dynamisch konzipierte Zentrum des Kreises, der Indifferenzpunkt als Einheit der zuvor (oder danach) dual entgegengesetzten Pole wirkt in seinen nun nach innen verlagerten Unterscheidungen destabilisierend und stabilisierend zugleich. Er verleiht den Polen der Unterscheidung eine zusätzliche Legitimation, indem er sie auf eine andere Ebene verschiebt und nachträglich begründet, gleichzeitig weist er aber auch auf ihre nur relative Gültigkeit hin, nämlich ihren Bezug auf eine Operation. »Die Cyklisation lässt als Methode der Methoden alle Begriffe in ein Verhältnis zueinander treten.«392 Die Beziehung zwischen symmetrischen Gegensatzpaaren und ihren asymmetrischen Prozessbegriffen gibt den Ausschlag hin zur Asymmetrie. Die begriffliche Verknüpfung der jeweiligen Unterscheidung mit ihrem Indifferenzpunkt macht sichtbar, dass die Pole Ergebnis einer kontingenten Operation sind – er verleiht ihnen aber auch rückwirkend durch seine schiere Existenz Evidenz. Auf dieselbe Art und Weise, nämlich aus einer sich wechselseitig gleichzeitig stabilisierenden wie destabilisierenden Verbindung von Asymmetrie und Synthese, gelangt Schlegel zu seinem ersten Theorem, welches er von Heraklit übernommen hat: »Es ist alles in einem, und eins ist alles.« (KFSA XII, S. 7) Dieses Theorem bildet in seiner paradoxen Fundierung den »Kern aller Theorie« (KFSA XII, S. 8). Paradox ist dieses Theorem nicht nur, was seine Fundierung betrifft, sondern gleichzeitig auch in seiner Funktionalität als Endpunkt sowie als gleichzeitiger Ausgangspunkt für weitere anschließende Beobachtungsoperationen: Im Medium der Reflexion stützen und negieren sich die einzelnen Glieder gelungener Synthese-Bildung wechselseitig. Sie sind nicht Dedukte eines Prinzips, das vorher feststünde, sondern sie machen die Existenz dieses Prinzips nur ›immer wahrscheinlicher‹. Die Wahrscheinlichkeit einer gründenden Einheit steigt, weil die punktuelle Einheit, in der eine jede Phase des Prozesses besteht, und die Kohärenz, die sie alle verbindet, aus dem Mechanismus der trennenden Reflexion allein nicht erklärt werden könnte. Trennung und Verbindung, von der Kontinuität der Zeit selbst wieder unter die Klammer überwiegender Einheit gebracht, die als solche dennoch nicht Ereignis wird, deuten inmitten der Endlichkeit auf eine nicht mehr endliche, also absolute Einheit beider. So schließt die Linie sich zum Kreis, denn das Schema des linearen Verfließens wird Stück um Stück korrigiert durch das Geltendmachen jener höheren Einheit, die Unendlichkeit in Allheit umwendet.393 Auch an der cyklischen Methode lässt sich die Tendenz zur Abstraktion ausmachen, die sich bereits auf der sozialen Ebene in der Asymmetrie der Gesprächspartner, auf der terminologischen Ebene zwischen Inhalt der Begriffe und ihrer Form als Unterschei-

392 König: Grenzen der Cyklisation, S. 30. 393 Frank: Allegorie, Witz, Fragment, Ironie, S. 128-129.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

dung und schließlich auf der diskursiven Ebene zwischen Buch und dessen Überschreibung in der formal verfahrenden Lektüre beobachten ließ. Der erste Abstraktionsschritt ist mit der Konfrontation von Gegensätzen unter einen gemeinsamen Problemaspekt vollzogen, welche ein scheinbar neutraler Beobachter vornimmt, der zweite Abstraktionsschritt vollzieht sich im Auffinden des »IndifferenzPunkt[s]« (KFSA XII, S. 6): »Zwischen den beyden Extremen Bewußtseyn und dem Unendlichen muß Synthesis gedacht werden. Durch Abstrakzion gelangen wir nur zu ihnen, und die Tendenz der Abstrakzion ist synthetisch.« (KFSA XII, S. 6) Die ›cyklische Methode‹ stellt die begriffliche Explizierung der poetischen Bauart der Lucinde dar394 , verunmöglicht sie aber in dieser begrifflichen Offenlegung gleichzeitig. Während die Arabeske für die Schließung als Buch in seiner Funktion als ›Indifferenzpunkt‹ zwischen Form und Gehalt, zwischen Liebe und Witz, ins Unsichtbare, nämlich in seinen Epitext und damit in einen äußeren Rahmen verschoben wurde, der die Schließung legitimierte, sie aber nicht begrifflich auflöste, besteht diese Möglichkeit für den philosophischen Diskurs nicht. Hier muss alles für die Ohren des Zuhörers expliziert werden. Die ›Triplicität‹ der Ideen, die abstrahierende Synthese, die in Richtung der prozessualen Begrifflichkeiten arbeitet, gewinnt deutlich die Oberhand gegenüber der auf Unauflösbarkeit insistierenden ›Quadruplicität‹ der Materie und damit gegenüber den ›stofflich‹ konzipierten symmetrischen Gegensatzpaaren. Die Symmetrie von »Theorie und Empirie«395 erweist sich in der Präferenz für die Methode als von vorneherein asymmetrisch formiert.

4.4.

Die Prozessualisierung der Form

Die in den vorhergegangenen Abschnitten beschriebene einbrechende Asymmetrie bereitet, wie schon als These ausgeführt, die Ablösung des symmetrischen durch den prozessualen Formbegriff vor. Diese Ablösung arbeite ich hier detailliert heraus. Dass die innerhalb der medial mündlichen, konzeptionell schriftlichen Vorlesung erforderliche Asymmetrisierung zwischen Begriff und sozialem wie materiellem Kontext zu einer Betonung des prozessualen Formbegriffs führt, lässt sich bei der Schleiermacherschen Vorlesungsreihe gut beobachten. In der Vorlesung von 1818 wandelt sich der zunächst nicht präferierte Formbegriff zu immer stärkerer Markiertheit und bezeichnet nun genau die prozessuale, und damit immer abstrakte Identität des Differenten, um die es im Vorhergegangenen immer wieder zu tun war. So hat etwa der Skeptizismus mit der Dialektik »dieselbe Form des Verfahrens, nur dass er sie negativ ausdrückt« (Dial., S. 175). Dasselbe gilt für das Verhältnis von Logik und Metaphysik: »Beide in ihrer Einheit sind uns die Form des Wissens, von dessen Inhalt wir hier abstrahieren.« (Dial., S. 175) Insofern sind »transzendentales und formales dasselbe.« (Dial., S. 176) Hier wird deutlich, dass sich der Begriff der Form von seinen jeweiligen, einen Rest von

394 So auch König: Grenzen der Cyklisation, der die zyklische Bauart des Romans allerdings direkt auf die Konzeption der ›cyklischen Methode‹ in den Notizen zur Philologie und der hier entworfenen Entgrenzung der Gattungen als neuer Gattungspoetik bezieht. 395 Arndt: Transcendentalphilosophie, S. 203.

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Substantialität verbürgenden, Gegensätzen, etwa Stoff oder Materie, emanzipiert und sich zu einem prozessualen Begriff gewandelt hat, welcher direkt auf die transzendentale Ebene zielt. Die dahin führende Entwicklung lässt sich in Schlegels Vorlesung zur Transcendentalphilosophie nachvollziehen. Im Gegensatz zu den in Kapitel 4.1 und 4.2 diskutierten Texten stellt die Vorlesung bereits zu Beginn den Begriff der Form und seine jeweiligen Gegensätze, sei es ganz zu Beginn die sogenannte »Quelle« (KFSA XII, S. 3), sei es im weiteren Verlauf etwa die Materie oder der Inhalt, zur Diskussion. In der Einleitung und auch in den weiteren Teilen ist insbesondere die Unterscheidung Form/Materie präsent. An diese Unterscheidung lagern sich im weiteren Verlauf alle weiteren Unterscheidungen an. So bestimmt Schlegel im 3. Aphorismus die Materie der Philosophie als Prinzipien und Ideen und im 4. Aphorismus die Form der Philosophie als ›absolute Einheit‹ (vgl. KFSA XII, S. 5). Diese absolute Einheit ist eben gerade nicht diejenige eines Systems, sondern vielmehr ein »Chaos von Systemen« (KFSA XII, S. 5), bezieht sich also nicht mehr auf ein ›Was‹, sondern auf ein ›Wie‹ der Ordnung dieses Chaos. Der Anspruch an die Konstruktion der philosophischen Einheit ist also zunächst derselbe wie auch für die Gestaltung der Lucinde. Auch für Schlegels Roman galt, wie zuvor gezeigt (vgl. Kap. 4.2), der Anspruch, Chaos als Garantie der stofflichen Fülle (damit Liebe) und Ordnung im unsichtbaren Zentrum der Arabeske symmetrisch zu verbinden. Die Vision von Symmetrie wird also für die Vorlesung noch einmal begrifflich evoziert und auf das Verhältnis von Form und Materie bezogen. Wie es für die Art und Weise der Verknüpfung von Begriffen bei Schlegel396 , und insbesondere in der Transcendentalphilosophie, typisch ist, wird jeder Seite einer Unterscheidung eine weitere Unterscheidung beigefügt, die sich jeweils als positiver und negativer Pol geriert. Im Falle der Form sind dies »Konsequenz« und »Harmonie« (vgl. KFSA XII, S. 18). Hieran wird schon deutlich, dass der Begriff der Form nicht das ›Äußere‹, das ›Behältnis‹, sondern vielmehr die Art und Weise einer Verknüpfung, eines Zusammenhangs; bezeichnet, welcher sich durch Konsequenz und Harmonie gleichermaßen auszeichnet: diese Umformatierung des Formbegriffs beschreibt David Wellberry als Ablösung des eidetischen Formkonzepts durch ein endogenes Formkonzept.397 Im weiteren Verlauf der Argumentation wird die Unterscheidung Form/Materie noch einmal entscheidend modifiziert. Im Kapitel, welches mit Nähere Entwicklung des Systems überschrieben ist, heißt es über die Theorie der Natur: Die beyden Resultate der Philosophie der Reflexion: daß alles Bewußtseyn bewußtlose Reflexion sey, und daß das Objekt ein Produkt der schaffenden Einbildungskraft sey, befreien uns von dem Fantom der Materie in der gemeinen Erkenntniß. Die beyden Resultate der Spekulation, daß das Endliche nur Modifikation des Unendlichen sey […] zeigen uns die Form in einem neuen Lichte, und geben ihr eine höhere Bestimmung, nämlich, daß jede Form unendlich sey, jede ein Abdruck und Bildung des Unendlichen. (KFSA XII, S. 33)

396 Eine präzise Beschreibung der Schlegelschen Begriffsarbeit findet sich auch bei König: Grenzen der Cyklisation. 397 Vgl. Wellberry: Form und Idee.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

Hier deutet sich bereits an, was in der weiteren Entwicklung des Formbegriffs – weg von einem symmetrischen hin zu einem prozessualen – immer weiter vorangetrieben wird. Die jeweils andere Seite des Form-Begriffs, in diesem Fall die Materie, wird konsequent abgewertet, die Form-Seite dagegen aufgewertet, sodass eine asymmetrische Unterscheidung entsteht, welche die Formseite präferiert. Schlegel beschreibt hier für die Seite der Materie als besondere Leistung seiner Transcendentalphilosophie eine konzeptuelle Entleerung. Das ›Fantom der Materie‹ ist verscheucht, sein eigener MaterieBegriff ordnet diesen der Formseite unter und arbeitet damit auf dessen Vernichtung hin. Für die Formseite gilt genau das Gegenteil. In der ›höheren Bestimmung‹ der Form wird diese verdoppelt: Der Formbegriff hat Teil am Unendlichen und Endlichen gleichermaßen, insofern jede ›ein Abdruck und Bildung des Unendlichen‹ darstelle und insofern ein Verweis auf das Unendliche in der Sphäre des Endlichen sei. Auf der Seite der Form tritt also die Unterscheidung in Bedingtes und Unbedingtes ein und infiziert den Formbegriff, der damit geteilt und als doppelter Formbegriff weiterverwendet wird: »Jede Form ist unendlich, heißt: jede Form ist der Ausdruck eines und desselben. Im Innern ist vollkommene Harmonie, ihre Verschiedenheit ist relativ.« (KFSA XII, S. 41) Auf Basis dieser Operation wird es dem Formbegriff schließlich gelingen, seine andere Seite – hier die Materie – vollständig zu invisibilisieren. Dies wird weiter verstärkt durch Schlegels Bemühungen, »den Unterschied zwischen Materie und Form selbst aufzuheben […] und [zu] zeigen, daß der Unterschied nur relativ sey« (KFSA XII, S. 34-35). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der von Schlegel formulierte Anspruch an die eigene philosophische Arbeit verstehen: »Die Gränze der beyden systematischen Theile wird seyn, wenn wir die Thesis, die Materie ins Bewußtseyn aufgelöst haben; die Antithesis [bewiesen], daß alle Form unendlich sey, daß alle Form organisch sey, daß es nichts Anorgisches gebe.« (KFSA XII, S. 36) Auch hier wird deutlich, dass der Begriff der Materie aufgelöst, werden soll. Der Formbegriff kann diesen diesen durch seine Verdopplung ersetzen, die nun Konstruktion und Organisation umfasst. Die Last der Vermittlung zwischen den vormals getrennten Sphären, etwa des Endlichen, Konkreten und des Unendlichen, Prozessualen oder des Symmetrischen und des Asymmetrischen, wird also vollständig der Formseite aufgebürdet: »Es ist der eigentliche Charakter des Individuums die unendliche Theilbarkeit seines Wesens, und das ist die Form. Sie ist das Verhältniß der Theile zum Ganzen.« (KFSA XII, S. 39) Was vorher konkurrierende Begriffe wie Kunst, Witz, Liebe oder eben die Arabeske auszeichneten, die immer noch einen bildlichen Anteil in sich tragen, der die Symmetrie garantieren kann, wird nun auf einen vollständig abstrakten und unendlich differenzierbaren Begriff der Form verschoben. Der Fokus, der zuvor auf der Begriffsvielfalt und der sich zwischen den Begriffen entfaltenden Dynamik des Bildlich-Textlich-Konkreten als unendlichem Gespräch lag, verlagert sich auf die Redundanz der Begriffe, welche eher auf das Endergebnis des Vortrags – als Signalübermittlung – bezogen ist. Hier wird bereits deutlich, welche grundlegende Bedeutung die Form im philosophischen Gebäude Schlegels hat. Die Form bezeichnet das Prinzip der Teilbarkeit als solches. Insofern ist der in sich geteilte Begriff der Form der erste seiner Art und stellvertretend für alle anderen Gegensätze, insofern die Form selbst ihre Teilbarkeit selbst immer wieder herausstellt. Die »Form der absoluten Einheit [ist zwar] begrifflich nicht

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vollziehbar«398 , jedoch ist genau dies nun adressierbar – eben im Begriff der Form. Der prozessuale Formbegriff betrachtet alles als Form und damit als Bedingtes, Geteiltes, dessen Vervollständigung noch aussteht und immer wieder neu geleistet werden kann. Insofern ist der Abschluss der Schlegelschen Theorie der Welt dann auch konsequenterweise der folgende Satz: »Daß die Welt noch unvollendet sey. Dieser letzte Satz spricht die Verschiedenheit unterer Ansicht von der gewöhnlichen besonders deutlich aus.« (KFSA XII, S. 43) Die Verschiedenheit der gewählten Ansicht von der gewöhnlichen mündet in die Erkenntnis der Unvollendetheit aller Dinge, damit auch der Welt, er resultiert aber aus der oben geschilderten Modifikation des Formbegriffs. Diese wiederum hat selbstverständlich auch Konsequenzen für die andere Seite der Form, also im Kontext der Theorie der Welt für den Begriff der Materie: Nur die Form kommt ins empirische Bewußtseyn. Was wir für Materie halten, ist Form. Die Materie soll formlos seyn. Aber ist der Begriff der Materie nicht leer? Da nur die Form ins Bewußtseyn kommt? Nein, wir können die Form nie ganz vollenden, wir können nicht alles in Form verwandeln. Wenn uns gleich alles was wir für Materie halten, zur Form wird, so setzen wir doch eine ursprüngliche Materie voraus. Materie ist die Bedingung der Form, und es kann keine Form geben, wo zuvor nicht ein Chaos von Elementen war. (KFSA XII, S. 38) Schlegel erkennt hier schon die grundlegende Asymmetrie, welche er in seiner Bestimmung der Form/Materie-Unterscheidung einführt. Er versucht, dieser Asymmetrie hier entgegenzuwirken, bestärkt sie aber nur, insofern er die Materie als ›Bedingung der Form‹ bestimmt. Damit die Form als Form sichtbar ist, muss sie Teil einer Unterscheidung sein und damit über einen Gegenbegriff verfügen. Dieser ist hier der Begriff der Materie, prinzipiell kommt aber jeder Begriff in Frage, welcher die Asymmetrie zur Form ausdrücken kann. Schlegel wählt für diese grundsätzliche Unbestimmtheit der Materie das Bild des Äthers. Dieses symbolisiert die grundsätzliche Unsichtbarkeit aber dennoch stoffliche Ordnung der Materie, welche damit bereits zum Medium geworden ist: »Der Äther ist demnach die allgemeine WeltSeele, das Leben der Natur. Der CentralÄther ist die Materie selbst. Daraus ist einzusehen, daß die Materie unsichtbar ist.« (KFSA XII, S. 38)399 Neben der hier eingeführten Unterscheidung Form/Materie, welche zunächst auch auf die Philosophie selbst anwendbar ist (vgl. KFSA XII, S. 4-5), dann aber in die Theorie der Natur bzw. der Theorie der Welt verortet wird (vgl. KFSA XII, S. 33-35, 37-43)400 ,

398 Arndt: Transcendentalphilosophie. S. 202. 399 Zur Herleitung des Medienbegriffs etwa aus der Begriffsgeschichte des Äthers in der naturwissenschaftlichen Diskussion um und vor 1800 vgl. insbesondere Hoffmann: Die Geschichte des Medienbegriffs. 400 Ganz explizit etwa hier: »Die Elemente der Welt außer uns sind Materie und Form.« (KFSA XII, S. 37) Auch hier ergeben sich jedoch schon terminologische Abgrenzungsschwierigkeiten, insofern die Form einerseits Teil der Begriffsarchitektur (und damit des ›Inhalts‹) ist, und andererseits Teil der ordnungsstiftenden Praktiken selbst (und damit der ›philosophischen Form‹). So fährt Schlegel fort: »Die Quelle der Form ist also Substanz. Und was wird nun die Quelle der Materie seyn? Das Entge-

4. Arabeske: Reden/Schweigen

wird eine weitere an den Formbegriff anschließende Unterscheidung eingeführt, welche wiederum auf die philosophische Methode selbst abzielt: die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt. So heißt es nach einer Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte der Einleitung: »Unter diesen acht Lehren zeichnen sich zwey aus, die den Inhalt und die Form des folgenden enthalten.« (KFSA XII, S. 35) Hier erscheint die philosophische Form plötzlich sowohl der Methode als auch dem System übergeordnet: »Die Methode selbst ist nur zu betrachten als das Negative der philosophischen Form. Das Positive (System) und die Synthesis (Syllogismus) werden wir in der Folge noch kennen lernen.« (KFSA XII, S. 35) Was hier als Ankündigung fungiert, wird später im historischen Durchgang durch die Philosophie bestätigt. Grundlage für die Übertragung des Formbegriffs von der Theorie der Welt auf die Theorie der Philosophie selbst ist hier somit dann der historische Durchlauf, das Zu-sich-kommen der Philosophie. Wie die Form in Bezug auf die Welt unendlich war, so stellt sich auch die »Form der Philosophie« (KFSA XII, S. 93) in der Rückkehr der Philosophie zu sich selbst als unendlich heraus (KFSA XII, S. 92). Auch in Bezug auf die Philosophie lässt sich die Asymmetrie der Unterscheidung Form/Materie, oder hier Form/Inhalt feststellen. So heißt es etwa über die Theosophen, welche zufällig, nämlich durch »Genie und Phantasie« (KFSA XII, S. 97) auf Wahrheiten stießen: »Wir sondern sie doch von unserm Geschäft ab, weil ihnen die Form der Philosophie mangelte, und das ist grade das Wesentliche, das die Philosophie aller Zeit constituirt.« (KFSA XII, S. 97) Hier lässt sich folgendes festhalten: Die angestrebte Verdopplung des Formbegriffs leistet auch einer Vervielfältigung desselben Vorschub. Offenbar ist es die Formseite, welche den Austausch verschiedenster Unterscheidungen organisieren kann, und somit auch den Übergang zwischen der Theorie der Welt und der Theorie des eigenen Theoretisierens, also zwischen Lektüre und Selbstlektüre sowie zwischen Lektüre und Buch stiftet. Immer ist mit den an die Formseite anschließenden Beobachtungstechniken die Frage nach dem Wie, der reinen Methode, adressiert401 : »In der Mittheilung soll enthalten seyn, nicht immer eine Darstellung der Resultate, sondern der Art und Weise, wie es entstanden ist, die Darstellung soll also genetisch sein.« (KFSA XII, S. 102) Rückblickend enthüllt sich also der Formbegriff als die fehlende Adresse für die zentralen prozessualen Paradigmen der frühromantischen Lektürereflexion, der allerdings von der Vision

gengesetzte der Substanz, mithin die Elemente. Die Form der Substanz ist Identität (Beharrlichkeit), die der Elemente Duplicität (Veränderlichkeit).« (KFSA XII, S. 37) Bei den beiden Formbegriffen handelt es sich ganz offensichtlich um Begriffe, die jeweils auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. 401 Exakt gegenläufig dazu argumentiert Peter: Idealismus als Kritik., S. 21: »Bei Schlegel steht nicht das Selbstbewußtsein des Denkens als Form, die Frage nach dem ›Wie‹, zur Diskussion. Vielmehr richtete die Philosophie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Frage nach dem Warum und damit auf den Inhalt des Wissens, auf das, was die Form konstituiert und transzendiert. Die Tatsache, daß Wissen ist, steht zwar für einen Inhalt dieses Wissens ein. Welcher Art dieser Inhalt ist, bleibt jedoch offen.« Peter bezieht sich hier auf die zu Beginn der Transcendentalphilosophie aufgerufene Dopplung des Anfangs. Hier wird deutlich, dass die Zielvorgaben der Vorlesung selbst durchaus anders lauten, als es ihr begrifflicher Vollzug dann einlöst. Dies spiegelt sich darin, dass Peter den Inhalt für wichtiger hält, der allerdings begrifflich unbestimmt und damit ›offen‹ bleibt.

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einer umfassenden Symmetrie zwischen Philosophie und Literatur, zwischen Lektüre und Buch sowie zwischen Form und Stoff, die sich insbesondere in der Übercodierung der Lektüre als Gespräch manifestierte, verdeckt wurde. In der Vorlesung wird den in der Frühromantik thematisierten, von der gedruckten Buchseite und der sich hierin entfaltenden Selbstbezüglichkeit der Schrift hervorgerufenen, Eigendynamiken der Form auch begrifflich der Name Form gegeben. Von hier aus kann Walter Benjamin die Verwendung des Formbegriffs auf die gesamte Frühromantik ausdehnen und so einer weiteren Systematisierung ihrer zentralen Paradigmen und der Entfaltung des prozessualen Formbegriffs Vorschub leisten. Innerhalb weniger Jahre und im Zusammenspiel verschiedener medial-konzeptioneller Mitteilungsformen lässt sich eine Emanzipation des Formbegriffs feststellen, die die Herausbildung eines prozessualen Formbegriffs vorbereitet. Friedrich Schlegel verfolgt sowohl in seiner Lektüre, etwa des Wilhelm Meister, als auch in seinem Buch Lucinde die Vision einer umfassenden Symmetrie von Gegensätzen, welche als Lektüreprogramm die Schließung des Buchs inszeniert. Mit der Symmetrie von Gegensätzen ist dabei eine begriffliche Symmetrie verschiedener Begriffslogiken, eine mediale Symmetrie von Lektüre und Buch sowie schließlich eine soziale Symmetrie in der Verpflichtung der Lektüre auf Liebe und Freundschaft gemeint. Diese Symmetrie wird konterkariert durch eine im Medium der Druckschrift begründete Asymmetrie, die in der Vorlesung offen zutage tritt. Dies lässt sich an einer Passage aus Schlegels Essay Über die Philosophie. An Dorothea. 1799 belegen. Hier schreibt Schlegel: Ich versprach Dir damals, diesen Gedanken, wie man’s nennt, zu beweisen, oder etwas vollständiger auszuführen, als es im Gespräche geschehen kann. Ich komme nun mein Versprechen zu halten; nicht eben um mich als einen Mann von Worte zu zeigen, sondern einzig und allein weil ich Lust dazu habe, wäre es auch nur um eine so entschiedene Verächterin alles Schreibens und Buchstabenwesens mit meiner Liebhaberei für diese Dinge zu necken. Dir wäre ein Gespräch vielleicht lieber. Aber ich bin nun einmal ganz und gar ein Autor. Die Schrift hat für mich ich weiß nicht, welchen geheimen Zauber vielleicht durch die Dämmerung von Ewigkeit, welche sie umschwebt. Ja ich gestehe Dir, ich wundre mich, welche geheime Kraft in diesen toten Zügen verborgen liegt; wie die einfachsten Ausdrücke, die nichts weiter als wahr und genau scheinen, so bedeutend sein können, daß sie wie aus hellen Augen blicken, oder so sprechend wie kunstlose Akzente aus der tiefsten Seele. Man glaubt zu hören, was man nur lieset, und doch kann ein Vorleser bei diesen eigentlich schönen Stellen nichts tun, als sich bestreben, sie nicht zu verderben. Die stillen Züge scheinen mir eine schicklichere Hülle für diese tiefsten, unmittelbarsten Äußerungen des Geistes als das Geräusch der Lippen. Fast möchte ich in der etwas mystischen Sprache unsers H. sagen: Leben sei Schreiben; die einzige Bestimmung des Menschen sei, die Gedanken der Gottheit mit dem Griffel des bildenden Geistes in die Tafeln der Natur zu graben. Doch was Dich betrifft, so denke ich, daß Du Deinem Anteile an dieser Bestimmung des menschlichen Geschlechts vollkommen Genüge leisten wirst, wenn Du so viel wie bisher singst, äußerlich und innerlich, im gewöhnlichen und im symbolischen Sinne, weniger schweigst, und dann und wann auch in göttlichen Schriften mit Andacht liesest, nicht bloß andere für Dich lesen und Dir erzählen läßt. Besonders aber mußt Du die Worte heiliger halten als bis-

4. Arabeske: Reden/Schweigen

her. Sonst stünde es schlimm um mich. Denn freilich kann ich Dir nichts geben, und muß mir ausdrücklich bedingen, daß Du nicht mehr von mir erwartest als Worte, Ausdrücke für das was Du längst fühltest und wußtest, nur nicht so klar und geordnet. Vielleicht tätest Du gut, von der Philosophie selbst auch nicht mehr zu erwarten als eine Stimme, Sprache und Grammatik für den Instinkt der Göttlichkeit, der ihr Keim und wenn man auf das Wesentliche sieht, sie selbst ist. (KFSA VIII, S. 42) Diese Passage wird hier so ausführlich zitiert, weil sie die obigen Analysen zur paradoxen medialen Fundierung der Symmetrie-Vision noch einmal zusammenfasst und dabei alle relevanten Semantiken aufruft: die Opposition von Leben und Tod, diejenige von Schweigen und Sprechen und die Gegenüberstellung von Gespräch und ›Buchstabenwesen‹, welche sich allerdings im Verlauf der Argumentation unmerklich verschiebt und im ›Singen‹ wiederum bereits auf die Aporien der Symmetrie verweist. Die Vision der Symmetrie entpuppt sich als Traum eines ›unendlichen Gesprächs‹ im Medium der Schrift, also einer Verknüpfung der in einem intimen Gespräch gesicherten Exklusivität, Intimität und damit (idealerweise) Gleichrangigkeit der Gesprächspartner mit den Vorteilen der nur im Medium der gedruckten Buchseite möglichen ›Tiefe‹ der Begriffe, welche auf potentiell unendlicher Lektüre und stiller Entzifferung beruht. Schlegel denkt also durchaus »an eine esoterische Gemeinschaft«, gerade im Gegensatz zu einer »literarische[n] Öffentlichkeit«.402 Die Vision der Symmetrie und das unendliche Gespräch sind verschiedene Ausdrücke einer medialen Unmöglichkeit, der Gleichzeitigkeit von gedruckter und mündlicher Kommunikation. Als Phantasma der Realisation dieser medialen Unmöglichkeit erscheint wieder einmal die Handschrift in der brieflichen Kommunikation. Die Unmöglichkeit kulminiert in einem Phantasma des ›eigentlichen Gesprächs‹ am Ende von Über die Philosophie: Mündlich, liebe Freundin! Weiß ich wohl wie ich nicht bloß über die Philosophie, sondern Philosophie selbst mit Dir reden wollte. Ich würde den Anfang damit machen, Dich wo möglich an die ganze vollständige Menschheit zu erinnern, und Dein Gefühl derselben zum Gedanken zu erhöhen. […] Ich würde alles so viel als möglich an Deine eigentümlichsten Ansichten und Meinungen anzuknüpfen suchen, und ich würde oft denselben Weg auf eine neue Weise durchlaufen. Aber die Unendlichkeit des menschlichen Geistes, die Göttlichkeit aller natürlichen Dinge, und die Menschlichkeit der Götter, würde das ewige große Thema aller dieser Variationen bleiben. So hätten wir denn zu der Mannigfaltigkeit unsrer Philosophie auch Einheit. (KFSA VIII, S. 59-60) Die Vision der Symmetrie ist also ein Traum der reinen Performanz des Schriftlichen, das sich insofern nie der Sichtbarkeit aussetzt, sondern immer nur im Prozess des Kommunizierens verhaftet bleibt, wie es für das mündliche Gespräch typisch ist. Nur das mündliche Gespräch kann daher tatsächlich ›Philosophie‹ sein. Im Medium der Schrift ist alles gleichzeitig ›Philosophie‹ und ›Über-Philosophie‹, wie Schlegel es ausdrückt. Deshalb muss eine Philosophie für alle Menschen »im Tone einer zusammenhängenden Konversation, etwa wie dieses Schreiben an Dich« (KFSA VIII, S. 61) verfasst sein – womit exakt die Doppelung der Kommunikationssituation in Lucinde bezeichnet

402 Gerade konträr sieht das Bäuerle: Kommunikation mit Texten, S. 188.

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Lektüre als Form

ist.403 Die Symmetrie der Gegensätzlichkeiten und damit das konkret Stoffliche, das in der Schrift eingeholt werden soll, entlarvt sich als Phantasma, das von der Schrift hervorgerufen und in ihr gleichzeitig medial verunmöglicht wird. Auch die konkreten begrifflichen Gegensatzpaare, die in der Lektüre bewahrt bleiben sollten, werden von ihr zu abstrakten Prozessen aufgelöst. Diese Asymmetrisierung des Lektüreprozesses, die diesem inhärent ist, wird in den Vorlesungen zur Philosophie, insbesondere in Schlegels Transcendentalphilosophie augenfällig. In diesem Schwanken aus Konkretion und Abstraktion befindet sich auch und insbesondere der Formbegriff. Die mediale Doppelcodierung der Kommunikation ist also Ursache auch der Doppelcodierung des Formbegriffs, die sich in den Texten Schlegels zeigt. Die Vision der Symmetrie bedingt die Einhegung des Formbegriffs durch seinen Gegenpol, den Stoff – dieser Stoff entspricht dem Traum einer qua Liebe eingehegten symmetrischen Kommunikationssituation, welche das ideale Milieu für die Verzauberung und Entzauberung der Schrift darstellt. Die schriftliche Eigendynamik bricht sich aber dann Bahn, insbesondere dort, wo erkennbar ist, dass das avisierte unendliche Gespräch ein Phantasma ist, fundiert in der ganz anderen medialen Umgebung. Allein die Anonymität der gedruckten Buchseite gewährleistet Unendlichkeit, führt aber damit auch die unendliche Asymmetrie der Form mit sich. Die Vision der Symmetrie enthüllt sich so, in ihrer Kopplung der textuellen und sozialen Ebene, als Programmierung von Lektüre zur Erhaltung der Schließung des Buchs, die im Zeitalter des Buchdrucks als Problem augenfällig wird. Es handelt sich um den Versuch, im Medium des gedruckten Buchs dieses gleichzeitig zum Verschwinden zu bringen, insofern in das gedruckte Buch das mündliche Gespräch und die dieses übersetzende handschriftliche Briefkommunikation eingeführt werden. Dieses Unternehmen ist zum Scheitern verurteilt. Die Emanzipation der (nicht steuerbaren) Lektüre und die Emanzipation des in ihr begründeten prozessualen Formbegriffs lässt sich nicht aufhalten. Diese Dynamik lässt sich bereits in den Vertrauten Briefen über die Lucinde von Schleiermacher und schließlich in den philosophischen Vorlesungen Schlegels und Schleiermachers beobachten. Das Pendel schlägt hier aus hin zu einer abstrahierenden Lektüre, die von den zugrunde gelegten Texten lediglich geometrische Formen übrig behält – und damit zu einem abstrakten, prozessualen Formbegriff, der sich von jeglicher Bindung an eine stoffliche, andere Seite gelöst hat. Der emergierende Formbegriff lässt sich etwa an einer Beschreibung des Chaosʼ bei Schelling gut nachvollziehen. In seiner Philosophie der Kunst heißt es: »[H]ier begegnen wir jener Identität der absoluten Form mit der Formlosigkeit; denn jenes Chaos im Absoluten ist nicht bloße Negation der Form, sondern Formlosigkeit in der höchsten und absoluten Form, sowie umgekehrt höchste und absolute Form in der Formlosigkeit: absolute Form, weil in jede Form alle und in alle jede gebildet ist, Formlosigkeit, weil eben in dieser Einheit aller Formen keine als besondere unterschieden wird.«404 Dieser Absatz fasst den Wandel des Formbegriffs noch einmal präzise zusammen. Das Chaos, welches in den ästhetischen und poetischen Texten Schlegels noch einen 403 Schon der Titel Über die Philosophie. An Dorothea. 1799 ruft ebenfalls die gedoppelte Kommunikationssituation der Lucinde wieder auf, indem er Traktat und Brief miteinander verschränkt. 404 Schelling: Philosophie der Kunst, S. 465.

4. Arabeske: Reden/Schweigen

eigenständigen Status besaß, wird nun begrifflich paradox als »Formlosigkeit in der höchsten und absoluten Form« gefasst. Das ›Paradox der Form‹ kommt hier zur vollen Entfaltung. Es ist der Begriff der Form, welcher stellvertretend für alle anderen Begriffe und damit an ihrer abstrakten Spitze den differentiellen Grund jedes Begriffs, jedes Mitteilungsversuchs, bezeichnet. Damit wandelt sich der Formbegriff von der konkreten Bezeichnung der einen Seite eines Gegensatzes (Form vs. Stoff) zur Bezeichnung eines Prozesses, nämlich des Prozesses der Bestimmung, die sich immer innerhalb eines Agens des Bestimmens und einem unbestimmt bleibenden Hintergrund vollzieht, die nicht eingeholt werden können.

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5. Reflexion: Form gegen Lektüre Wie sollte in der Tat das erste Denken, ein Denken von Etwas!, Reflexion sein! Intusspektion sieht aber herein nicht in leeren Geist, sondern in einen mit den Kulturinhalten beladenen, mit all den Objekt=Erfahrungen, die die »Bildung« verleiht. Alles Denken ist erfahrungsgemäß erfüllt, auch das Denken des Denkens, da eben in ihm das erste Denken schon eine Erfahrung ist. Rang an Benjamin, 10.10.1920.

Walter Benjamins Verhältnis zum Buch ist, wie oben bereits gezeigt, ambivalent. Die Form und das Format des Buchs nimmt Benjamin in besonderem Maße wahr – das Buch als Medium ist bei ihm allerdings fraglich geworden.1 Grundlage für diese besondere Aufmerksamkeit auf die Materialität des Buchs ist so nicht, wie bei Schlegel, die Vision einer Bibel als Stiftung eines neuen sozialen Bundes im Zeichen der Literalität. Vielmehr begleitet die Liebe zum Buch im Falle Benjamins eine nostalgische Wehmut angesichts der Trennung von Buch und Druckschrift und damit der Trennung von Buchform und ihrer medialen Funktion. Der Zusammenhang zwischen Formbegriff, Buchförmigkeit und Lektürepraxis, der die Transformation der arabesken Buchform in die ornamentale Buchform vorbereitet, wird an Benjamins Dissertationsschrift Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920) aufgezeigt. Dafür werde ich den Zusammenhang zwischen der mit dem Begriff Reflexion bezeichneten Lektüre und dem, eine andere Schließung einrichtenden, Formbegriff in seinem Wandel von Symmetrie

1

Mit einer anderen Unterscheidung könnte man auch sagen: das Buch ist für Benjamin nurmehr Speicher-, weniger Übertragungsmedium, insofern es gerade nicht mehr möglich ist, es als unhinterfragtes Instrument eines idealen Gesprächs zu verwenden. Vgl. zur Unterscheidung von Speicher- und Übertragungsmedium in der Medienwissenschaft etwa die knappen Ausführungen bei Hörisch: Der Sinn und die Sinne, S. 71-72: »Speichermedien konterkarieren bevorzugt Zeitprobleme, Übertragungsmedien sind hingegen auf die Überwindung von Distanz ausgerichtet.« Speichermedien machen Vergangenes verfügbar, sind also primär anachronistisch. Übertragungsmedien sind dagegen sozial relevant, werden also schneller übersehen.

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zu Prozessualität Schritt für Schritt nachzeichnen. Zunächst steht das Absehen von der als Gespräch formierten Buchförmigkeit im Fokus, die im Kontrast mit Benjamins Transkription der Goetheschen Wahlverwandtschaften besonders deutlich wird, und die sich in Benjamin Zentralisierung des Begriff der Reflexion ausdrückt (Kap. 5.1). Anschließend werde ich zeigen, wie sich im Wechsel der dem Formbegriff gegenübergestellten anderen Seite, die als Gehalt einerseits, als Medium andererseits identifiziert wird, ein symmetrischer Formbegriff in einen prozessualen Formbegriff verschiebt, der jedoch die ›Erinnerung‹ an die Verschiebung bewahrt. Diese manifestiert sich in markierten wie unmarkierten Paradoxien sowie in der Wiederherstellung der symmetrischen Unterscheidung Form/Gehalt gegenüber der asymmetrischen Unterscheidung Form/Medium2 (Kap. 5.2). Zuletzt betrachte ich die in Benjamins Dissertation vorbereitete Transformation der frühromantischen Arabeske in das bei Luhmann ausgefaltete Ornament (Kap. 5.3). In Bezug auf die folgenden Ausführungen ist vorauszuschicken, dass diese sich nicht linear an den Kapiteln von Benjamins Dissertation orientieren und deren Argumentation rekonstruieren, sondern vielmehr in den unterschwelligen textuellen Operationen die Strategien der begrifflichen Schließung sowie der Legitimation dieser begrifflichen Schließung sichtbar zu machen versuchen. Insofern diese Strategien den gesamten Text durchziehen und sich als verflochtenes Ensemble darstellen, können sie nicht ohne Weiteres in einzelne Momente zerlegt werden. Wenn die folgende Darstellung dies dennoch zum Zweck der Deutlichkeit anstrebt, ergibt sich daraus ein notwendig zirkuläres Verfahren, in dem bestimmte Textstellen als Bestandteile verschiedener Schließungsfiguren wiederkehren. Dies gilt insbesondere für den im letzten Kapitel der Benjaminschen Dissertation angedeuteten Vergleich zwischen der frühromantischen Kunsttheorie und Goethe. Dieser Vergleich ist relevant für das in Kapitel 5.1 thematisierte Verhältnis von Lektüre und Buch, das sich bei Benjamin in Bezug auf Schlegel und Goethe konträr zueinander verhält. Er bezieht sich aber auch auf die Transformation der Unterscheidung von Form/Gehalt zu Form/Medium (Kap. 5.2.1), insofern sich hier eine Gleichzeitigkeit der Unterscheidungssemantiken und -modelle konstatieren lässt. Die Unentschiedenheit des Formbegriffs macht außerdem die Leerstellen im Reflexionsparadigma deutlich (Kap. 5.2.2). Dieser Rückfall ist schließlich auch verantwortlich dafür, dass sich in Benjamins Dissertation die skizzierten Buchkonzeptionen des Ornaments und der Arabeske wechselseitig überlagern (Kap. 5.3).

5.1.

Lektüre und Buch: Schlegel- und Goethetranskriptionen

Walter Benjamin ist maßgebend verantwortlich für die folgenreiche Festlegung von Friedrich Schlegel auf den Begriff der Form, von Goethe dagegen auf den Begriff des 2

Hier möchte ich schon einmal darauf hinweisen, dass Benjamin selbst nicht explizit von den Unterscheidungen Form/Gehalt sowie Form/Medium spricht. Diese Verwendung der Gegensatzpaare als explizite Unterscheidung mit der dann typischen, hier ebenfalls gebrauchten, Notation x/y verweist bereits auf die systemtheoretische Umformung, die in Kapitel 6 ausgefaltet wird. Ich verwende diese insofern anachronistische Schreibweise, um daran die Verschiebungen des Formbegriffs deutlich zu machen.

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

Gehalts. Diese Festlegung geht einher mit der Inszenierung einer anderen Version von Buchförmigkeit, für die dann Friedrich Schlegel als Gewährsmann eintreten wird, die aber eigentlich einer spezifischen Transformation Benjamins geschuldet ist. Die Festlegung manifestiert sich zentral in Benjamins im Jahre 1919 angefertigten, 1920 veröffentlichten Promotionsschrift Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Der Weg zu dieser vorwiegend unter dem Eindruck der Lektüre von Friedrich Schlegels Texten begonnenen und auch abgeschlossenen Arbeit ist verworren. Zunächst verfolgt Benjamin den Plan, sich bei der Philosophin Anna Tumarkin über »Kants Geschichtsphilosophie in systematischer Hinsicht versuchsweise zu befassen«3 . Er hofft, dass sich die »letzte metaphysische Dignität einer philosophischen Anschauung die wirklich kanonisch sein will sich in ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte am klarsten zeigen wird.«4 Nach eingehender Lektüre der Kantischen Schriften erkennt Benjamin jedoch, dass sich die Kantische Geschichtsphilosophie als Gegenstand nicht dem solcherart beschriebenen Anspruch stellen kann. Benjamin verschiebt nun sein Interesse an Kant auf den Begriff der ›unendlichen Aufgabe‹. Auch dieses Vorhaben revidiert er, und wendet sich nun, scheinbar plötzlich, der Romantik, allen voran Schlegels Schriften zu, welche er bereits seit dem Sommer 1917 intensiv studiert. Der Bezug zu Kant, und damit auch die Ausrichtung auf den philosophischen Anteil der Frühromantik, bleibt bestehen. So schreibt er in einem Brief an Scholem aus dem März 1918: »Die Aufgabe wäre, Kants Ästhetik als wesentliche Voraussetzung der romantischen Kunstkritik in diesem Sinn [im Sinne der relativen Autonomie des Kunstwerks gegenüber der Kunst] zu erweisen.«5 Benjamins Interesse an Schlegel ist also genau auf den in dieser Arbeit als zentral apostrophierten Zusammenhang zwischen Buchförmigkeit und Lektüre gerichtet. In Benjamins Brief und auch in seiner Arbeit wird dieser auf das Gegensatzpaar Kunstwerk – Kunst gebracht. Gleichzeitig wandert, wie zu zeigen sein wird, in der Zusammenführung von Buchförmigkeit und philosophischer Systematisierung das Medium der philosophischen Vorlesung in die Frage nach Schließung und Öffnung des ›Kunstwerks‹ ein. Hier unterminiert es mit seiner Tendenz zur Asymmetrie zwischen Begriff und sozialem wie materiellem Kontext die in der Frühromantik imaginierte Buchform als die das Soziale und Mediale symmetrisch koppelnde Arabeske. Benjamins Begriffsbildungen sind, so wird zu zeigen sein, »in eigentümlicher Weise an die jeweilige Darstellungsweise«6 geknüpft. Diese stellt sich in der Dissertation zur Kunstkritik als vom Medium der philosophischen Vorlesung geprägte, begriffliche Systematisierung dar. Benjamins ›dissertatorisches‹ Vorgehen ist also angelehnt an die Begriffsbildungspraxis Schlegels in den Vorlesungen, wendet dieses aber gerade auf die literarischen Texte an und löst diese von ihrem Bezug auf die arabeske Buchform. Zwei wichtige Aspekte von Benjamins Interesse an seinen Untersuchungsgegenständensind der philosophische Zugriff auch auf ›nichtphilosophische‹ Gegenstände einerseits und der Drang zur Systematizität andererseits, der ja gerade die Vorlesung als Medium und Form bei Schlegel kennzeichnete, nicht aber das Buch. Es sei, so schreibt

3 4 5 6

Benjamin: Gesammelte Briefe I, S. 403, Herv. CC. Ebd., S. 391. Ebd., S. 440f. Krause, Pethes: Scholars in Action, S. 81.

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Lektüre als Form

Benjamin in einem Lebenslauf Anfang 1928, »das Interesse am philosophischen Gehalt des dichterischen Schrifttums und der Kunstformen«7 für ihn in den Vordergrund getreten, und genau dies äußere sich im Gegenstand seiner Dissertation. Auch Benjamins Freund Rang betont in seinem Brief an Walter Benjamin: »Das ist eine wirklich philosophische Arbeit.« (WBKA 3, S. 342) In der Dissertation heißt es einleitend, diese beträfe die »eigentümliche Systematik von Friedrich Schlegels Denken« (WBKA 3, S. 12). Beide Aspekte sind eng miteinander verknüpft und beziehen sich auf eine spezifische Lektürehaltung, die sich auch in Bezug auf das eigene Schreiben als Auseinandersetzung mit »unrealized and unmastered programs of inscription and information«8 begreifen lässt. Wie Adorno etwa in seinem kurzen Text Zum Studium der Philosophie vermerkt, ist die philosophische Lektüre dazu bestimmt, »die geronnenen begrifflichen Formen aufs neue in Fluß zu bringen« insofern sie sich stets »zugleich in der Sache, als ein ihr Hingegebener, und außerhalb der Sache, als ein kritisch Distanzierter«9 vollzieht. Die Bestimmung von Deleuze und Guattari, Philosophie sei die »Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen«10 muss also dahingehend präzisiert werden: zunächst einmal ist Philosophie die Kunst der Lektüre von Begriffen, die dann in neue (auf die folgende Diskussion vorausgreifend als ornamental zu bezeichnende) Schließungszusammenhänge transkribiert werden können. Eine ebensolche philosophische Lektüre und begriffliche Transkription leistet Benjamin, dessen Dissertation ja ausdrücklich den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik zum Thema hat. Benjamin pflegt allerdings einen spezifisch philosophischen Gebrauch von Begriffen, der auf das Medium Vorlesung, nicht aber auf das Medium Buch zurückzuführen ist. Bei Schlegel mündete die Reflexion von Lektüre in Bezug auf das Buch gerade in der Erkenntnis einer nur relativen Gültigkeit von Begriffen, die insofern an einen sozial definierten und damit gefüllten Interaktionsraum sowie an die Verbindung von Natur und Kunst in der Arabeske gekoppelt werden müssen. Benjamins Lektüre hingegen richtet sich nicht auf die Rekonstruktion eines in den Texten präformierten sozialen Raums, sondern auf die Logik der Begrifflichkeiten, den »Bau ihrer [der frühromantischen, CC] Theorie der Kunst« (WBKA 3, S. 21) und damit gerade auf ihre Isolation von einem sozialen Kontext – ganz im Sinne der institutionellen Vorgaben, die an eine philosophische Vorlesung geknüpft sind. Die von Benjamin angestrebte Systematik der Lektüre und Transkription zeigt sich in der von ihm betriebenen Vereinheitlichung der frühromantischen Begrifflichkeiten, die insofern die asymmetrisierende Bewegung Schlegels in seinen Vorlesungen zur Transcendentalphilosophie weiterführt. Die »verwirrende[...] Vielgestaltigkeit seines Denken« (WBKA 3, S. 48) reduziert Benjamin mit Rekurs auf die von ihm benannten ›erkenntnistheoretischen Voraussetzungen‹, also mit Rekurs auf die Philosophie insbesondere Fichtes, auf einige wenige Begriffe, die darüber hinaus in ein konsistentes, ornamentales Netzwerk integriert werden. Dass es Fichte ist, auf den Benjamin Schlegels Transcendentalphilosophie projiziert, verdeutlicht die Richtung der Verschiebung,

7 8 9 10

Benjamin: Lebenslauf, Anfang 1928. Zitiert nach Steiner: Kommentar (WBKA 3, S. 165). Sussmann: Around the Book, S. 113. Adorno: Zum Studium der Philosophie, S. 335. Deleuze, Guattari: Was ist Philosophie, S. 6.

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

die Benjamin vornimmt. In der Transcendentalphilosophie versucht Schlegel selbst, einen Mittelpunkt zwischen dem philosophischen System Fichtes und demjenigen Spinozas zu entwerfen. Spinoza steht bei Schlegel für »Substanz und Permanenz, Gediegenheit, Ruhe und Einheit«, Fichte dagegen für »Tätigkeit, Agilität, rastlose Progression« (KFSA II, S. 413)11 . Die alleinige Rückführung von Schlegels Begriffen auf Fichte betont also gegenüber der Substanz die rastlose Progression und damit, wie zu zeigen sein wird, die Lektüre. Diese rastlose Progression schlägt sich bei Benjamin aber gerade nicht in der begrifflichen Ausgestaltung nieder. Gegenüber der tatsächlich verwirrenden Vielgestaltigkeit der Begriffe in den Vorlesungen zur Transcendentalphilosophie, die eine streng hierarchische Gliederung bei aller Tendenz zur Asymmetrie vermissen lassen, erscheint die begriffliche Ordnung bei Benjamin sehr viel konsistenter. Die mit der Lektüre einhergehende Progression zeigt sich nicht mehr in einem Wechsel der Begriffe, sondern wird in die Begriffe selbst verlagert, die damit zu asymmetrischen Begrifflichkeiten werden. Es kommt nun ihnen allein zu, Dynamik und Statik zu verbinden. Das Ziel der Systematisierung ist also vollständig erreicht. Dieser Umstand lässt sich als vollständige Überführung des Mediums Vorlesung in die Buchförmigkeit betrachten, die sich aber gegenüber der frühromantischen Arabeske konzeptuell anders darstellt. Die Systematisierung in Benjamins Transkription der Frühromantik vollzieht sich gerade als Missachtung des Lektüreprogramms, wie es in Kap. 4.1 und 4.2 für das arabeske Buch beschrieben wurde. In Kontrastierung mit Benjamins GoetheTranskription, etwa seinem Aufsatz über die Wahlverwandtschaften, wird diese Missachtung der internen Schließungsfiguren und damit des der Lucinde inhärenten arabesken Lektüreprogramms noch deutlicher. Benjamins gespaltenes Verhältnis zum Buch schlägt sich konkret in den unterschiedlichen Lektüren, die er einzelnen Büchern angedeihen lässt, nieder. Sein Text über Goethes Wahlverwandtschaften zeigt schon im Titel – ganz entgegengesetzt zu seiner Dissertation über den Begriff der Kunstkritik – dass es ihm um ein einzelnes Buch geht. Diese Perspektive auf ein einzelnes Buch ist für den sich hier noch als Philosophen verstehenden Benjamin nicht selbstverständlich. So sieht er sich gezwungen, sein Interesse an einem konkreten Buch zu verteidigen. Die einleitenden Sätze über Goethes Wahlverwandtschaften weisen das erfolgende Unternehmen trotz seiner Konzentration auf ein einzelnes Buch als philosophisches und nicht etwa als philologisches aus: Die vorliegende Literatur über Dichtungen legt es nahe, Ausführlichkeit in dergleichen Untersuchungen mehr auf Rechnung eines philologischen als eines kritischen Interesses zu setzen. Leicht könnte daher die folgende, auch im einzelnen eingehende Darlegung der Wahlverwandtschaften über die Absicht irre führen, in der sie gegeben wird. Sie könnte als Kommentar erscheinen; gemeint jedoch ist sie als Kritik. Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks, der Kommentar seinen Sachgehalt. (WBGS I.1, S. 123)

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Diese Einschätzung Schlegels stammt aus dem »Abschluß des Lessing-Aufsatzes« (1800), der in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Vorlesungen über Transcendentalphilosophie verfasst wurde.

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Lektüre als Form

Während der Kommentar für Benjamin also dem philologischen Interesse verpflichtet ist und insofern etwa die Einheit des Buchs auch im materiellen Sinne zu respektieren hat, richtet sich seine Kritik auf den Wahrheitsgehalt, und damit auf etwas von der Einheit des Buchs im materiellen Sinne unabhängiges.12 Ähnlich wie bei Schlegel strebt Benjamin also auch in der Lektüre von Goethes Wahlverwandtschaften eine philosophische Lektürehaltung an, die sich in Benjamins Bild des Scheiterhaufens auf das »Feuer« richtet und nicht auf »Holz und Asche« (WBGS I.1, S. 125), also auf die Anschlussfähigkeit des Texts und nicht seine materiell-mediale Geschlossenheit. Allerdings deutet der Titel schon an, dass es Benjamin doch auch um die Geschlossenheit des Texts als Buch geht. So versteht Benjamin den Nachvollzug dieser Schließung im Medium des Kommentars als notwendiges Durchlaufstadium für die von ihm angestrebte Kritik: Mehr und mehr wird für jeden späteren Kritiker die Deutung des Auffallenden und Befremdenden, des Sachgehaltes, demnach zur Vorbedingung. Man darf ihn mit dem Paläographen vor einem Pergamente vergleichen, dessen verblichener Text überdeckt wird von den Zügen einer kräftigern Schrift, die auf ihn sich bezieht. Wie der Paläograph mit dem Lesen der letztern beginnen müßte, so der Kritiker mit dem Kommentieren. Und mit einem Schlag entspringt ihm daraus ein unschätzbares Kriterium seines Urteils: nun erst kann er die kritische Grundfrage stellen, ob der Schein des Wahrheitsgehaltes dem Sachgehalt oder das Leben des Sachgehaltes dem Wahrheitsgehalt zu verdanken sei. (WBGS I.1, S. 125) Benjamin versteht seine philosophische Frage nach dem ›Wahrheitsgehalt‹ von Goethes Wahlverwandtschaften also als Grundfrage, die aber erst im Durchgang durch das Ganze des Texts als geschlossenem Buch zu beantworten ist. In Bezug auf den Goetheschen Roman geht es Benjamin darum, »ein Werk durchaus aus sich selbst heraus zu erleuchten«13 . Folgerichtig entfaltet sich in Benjamins ›Kritik‹ der Wahlverwandtschaften eine detaillierte Lektüre, die nicht nur alle Figuren14 , deren Namen, Unterhaltungen und Schicksale in den Blick nimmt, sondern auch die Schauplätze sowie die Sprache und ›poetische Technik‹ (vgl. WBGS I.1, S. 145) des Buchs. Immer geht es Benjamin dabei – gegen die von ihm ebenfalls mitgelesenen früheren Lektüren etwa Abekens und Solgers – um das »Ganze[...] der Darstellung« (WBGS I.1, S. 140). Ganz selbstverständlich liest Benjamin den mit eigenem Willen und Sinn (vgl. WBGS I.1, S. 140) ausgestatteten Roman als geschlossenes Buch: »Insofern aber fraglos angezeigt ist, am Sichern, Nachprüfbaren die Erkenntnis aufzubauen, muß überall, wo sich die Einsicht auf Gehalt und Wesen richtet, das Werk durchaus im Vordergrunde stehn.« (WBGS I.1, S. 155)

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Vgl. dazu und zum Folgenden auch Krause, Pethes: Scholars in Action, S. 84-85. Die Autoren weisen ebenfalls darauf hin, dass Benjamin zunächst »die Philologie mit dem Kommentar gleichzusetzen« (S. 84) scheint, dann aber die enge Verflochtenheit von Kritik und Kommentar erweist: »Der Essay muss als Kommentar erscheinen, wenn er als Kritik gemeint sein will.« (S. 84) Benjamin: Drei Lebensläufe, S. 46. Unter ihnen auch den Autor selbst, Goethe, dessen Angst vor dem Tod wie vor dem Leben und schließlich vor Verantwortung Benjamin aus den Wahlverwandtschaften heraus oder in die Wahlverwandtschaften hineinliest (vgl. WBGS I.1, S. 152-154).

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

Wenn, unter Bedenken15 , Paratexte in die Lektüre mit einbezogen werden, dann nur, um gemäß ihrer Funktion diese Geschlossenheit zu stützen und zu bestätigen und das Buch als »gesonderte[n] Bereich« (WBGS I.1, S. 158) zu erweisen. Benjamins Vorgehensweise in Bezug auf Schlegels Buch Lucinde steht zu dieser Proklamation eines ›gesonderten Bereichs‹ in krassem Gegensatz. Das »Beharren auf der Partikularität des Werks«16 gilt nur für Goethe, nicht jedoch für Schlegel, mit und gegen welchen er eine »Idee von Kunst [verfolgt], die das einzelne Werk transzendiert und in der es erlöschen muss«17 . Insgesamt spielt die Form Buch keine bedeutende Rolle für Benjamins Ausführungen zu Schlegel, insbesondere nicht dessen einziger Roman Lucinde. Im Kontext der Arbeit an der Dissertation findet sich allerdings im sogenannten Ersten Notizblock, der Aufzeichnungen aus der Zeit von 1916-1921 enthält, ein Absatz zur Lucinde, in dem sich Benjamins Geringschätzung für das Buch klar ausdrückt. Um dies deutlich zu machen, wird der betreffende Absatz hier in voller Länge wiedergegeben: Lucinde Zu bewundern ist das »romanische Deutsch« dieses Werkes. Aber um welchen Preis ist diese Klarheit erkauft. Die Philologie ist dahinter gekommen, daß es sich um einen Schlüsselroman handelt. (Enders, Friedrich Schlegel) Gewiß nicht in mit dem Sinne Wunsche, das Publikum möge den Schlüssel suchen oder gar finden, aber doch so, daß die Beziehungen auf das Leben überall von nackter Eindeutigkeit sind. Und es ergibt sich, daß Schlegel nicht Erlebtes gedichtet hat, sondern daß er gedichtet hat, weil er erlebte. Daß sein Leben, zusammen mit gewissen klugen Theoremen der zureichende Grund seines Dichtens gewesen ist. Dessen Form, in einem verruchten Sinne. Während Leben, höchstes wie geringstes, nicht der Erzeuger, sondern die Wehmutter der wahren Dichtung ist. Daher fehlt diesem Buch von der Liebe die wahre Sehnsucht, es zeichnet die Linien einer frühern, ja einer alten Erfüllung nur nach. Es ist wie eine Reliefkarte der Liebe, auf der die Erhebungen sich wohl sehen lassen. Aber die Tiefen (die Schatten) nicht ausgedrückt werden. Schatten, Tiefe, Sehnsucht: das fehlt diesem zu früh vom Leben berührten Buche. Die Kehrseite davon ist: das unerreichte »romanische« Deutsch, eine für das Deutsche fast unangemessene, nicht mystische sondern mystisch wirkende Klarheit. Schlegels schwächste Dichtung, die vom Alarcos wie von den guten Gedichten übertroffen wird. (WBKA 3, S. 141) Die Heterogenität zwischen Leben und »gewissen klugen Theoremen«, die Benjamin für Schlegels Buch konstatiert machen es für ihn zu einem schwachen Buch. Die von Schlegel angestrebte Vollständigkeit ist für Benjamin gerade nicht erreicht, insofern das Buch als ›Reliefkarte‹ nur die Erhebungen, nicht aber die Tiefen sichtbar macht. Das einzige, das Benjamin an Schlegels Buch schätzt, ist seine Sprache – das ›romanische Deutsch‹ – das wohl in der Klarheit der Begrifflichkeiten zu lokalisieren ist.

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Vgl. WBGS I.1, S. 145: »Das Verständnis der Wahlverwandtschaften aus des Dichters eigenen Worten darüber erschließen zu wollen, ist vergebene Mühe. Gerade sie sind ja dazu bestimmt, der Kritik den Zugang zu verlegen.« Geulen: Aus dem Leben der Form, S. 151. Ebd.

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Lektüre als Form

Folgerichtig beschränkt sich Benjamins Rezeption der Lucinde auf die ›klugen Theoreme‹. Er zitiert an einigen Stellen aus dem Buch, ohne jedoch an einer Stelle die Einheit oder Geschlossenheit des zugrundeliegenden Texts zu beachten. Bei den Quellen taucht Schlegels einziger Roman neben seinen »Arbeiten im ›Lyceum‹, ›Athenäum‹, in den ›Charakteristiken und Kritiken‹« (WBKA 3, S. 18) überhaupt nicht auf. Nichtsdestotrotz beginnt die inhaltliche Auseinandersetzung mit Schlegel mit einem Zitat just aus Lucinde. Um den Zusammenhang der Einleitung intakt zu lassen, seien hier die ersten Sätze aus dem Hauptteil der Benjaminschen Dissertation en bloc zitiert: Das im Selbstbewußtsein über sich selbst reflektierende Denken ist die Grundtatsache, von der Friedrich Schlegels und größtenteils auch Novalisʼ erkenntnistheoretische Ueberlegungen ausgehen. Die in der Reflexion vorliegende Beziehung des Denkens auf sich selbst wird als die dem Denken überhaupt nächstliegende angesehen, aus ihr werden alle andern entwickelt. Schlegel sagt einmal in der ›Lucinde‹: ›Das Denken hat die Eigenheit, daß es nächst sich selbst am liebsten über das denkt, worüber es ohne Ende denken kann.‹ (WBKA 3, S. 19) Das Zitat aus Schlegels Lucinde ist, wie hier deutlich erkennbar, kein Seiteneinstieg mittels einer Lektüreanekdote, sondern führt direkt ins Zentrum der Benjaminschen Argumentation: auf den Reflexionsbegriff selbst als die ›Grundtatsache‹ der erkenntnistheoretischen Überlegungen zum ›Denken‹ der Frühromantiker. Für die Rekonstruktion dieses Denkens spielt die materielle Präsenz desselben keine Rolle. Der Kontext des Schlegel-Zitats wie seine Einbettung in den Text lassen nicht erkennen, dass es sich bei der Quelle um ein abgeschlossenes, hochgradig strukturiertes Buch handelt. Es ist aus einer erzähltheoretisch oder auch nur philologisch geschulten Warte selbstverständlich nicht Schlegel, der obigen Satz äußert, sondern Julius, gleichzeitig auf der intradiegetischen Ebene Autor, auf der extradiegetischen Ebene Herausgeber der Briefe und Blätter, aus denen das Buch Lucinde besteht. Der einzige andere direkte Verweis auf Schlegels Lucinde verfährt nach demselben Muster. Hier wird eine Textstelle als Beleg für Schlegels »Stellung zur Ideologie des Fortschritts« (vgl. WBKA 3, S. 100) angeführt und ebenfalls als direkte theoretische Aussage Schlegels und somit auf einer Ebene mit den Fragmenten präsentiert. Ganz grundsätzlich geht es Benjamin in Bezug auf Schlegels Schriften nicht um ihre tatsächliche materielle Vorhandenheit, sondern vielmehr um darin verborgene Tendenzen. In einem Brief an Ernst Schoen vom Mai 1918 skizziert Benjamin das Problem, tatsächliche Quellen zu benennen, »die doch bei der Romantik für gewisse ihrer tiefsten Tendenzen kaum zu finden sind« (WBGB 1, S. 455). Der Kontrast zwischen Benjamins Verfahrensweise in der Dissertation und der Lektüre, die er Goethes Wahlverwandtschaften angedeihen lässt, wird noch bedeutsamer, wenn man sich vor Augen führt, dass die Arbeit an seinem Wahlverwandtschaften-Buch unmittelbar im Anschluss an die Abgabe der Dissertation aufgenommen wurde (vgl. WBGS I.3, S. 811). Die Kontinuität wird auch deutlich durch eine im Kontext der Arbeit an der Dissertation entstandene Aufzeichnung, die wiederum die Arbeit an einem Text mit dem Titel Notiz über die Symbolik in der Erkenntnis dokumentiert. Hier heißt es, gleichlautend mit dem Anfang des Texts über Goethes Wahlverwandtschaften:

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

Es ist vom Bereich der Philosophie und der philosophischen Erkenntnis, die radikal auf Wahrheit und zwar auf die Totalität derselben intend in es absieht, grundsätzlich die Einsicht in die Wahrheiten oder in eine einzelne Wahrheit zu unterscheiden, welche nicht nur gesetzmäßig […] unfehlbar jeder genauen Betrachtung eines Kunstwerks sich erschließt, sondern sich vermutlich auch hier und da jedem Künstler in seinem Schaffen sich einstellen wird. Jene Wahrheiten enthalten »Wahrheit« nämlich diejenige, auf welche der Philosoph es absieht, aber sie deuten nicht, wie die philosophische Erkenntnis (auf [in] niedrer) und [durch] die philosophische Systematik (auf [in] höherer Stufe [Intention]) auf sie hin. Für jene unphilosophische, nämlich künstlerische – oder in engerm Sinne musische Einheit in Wahrheiten ist Goethes Gedankenwelt repräsentativ. (WBKA 3, S. 145) Benjamin unterscheidet hier eine Wahrheit, die sich in einer genauen Betrachtung des Kunstwerks erschließt, von der philosophischen Systematik und bezeichnet erstere als Hindeutung auf letztere. Die verschiedenen Formen der Erkenntnis teilen sich schon in der Dissertation auf die Pole Schlegel und Goethe auf, stellen jedoch gleichzeitig eine Verfremdung der tatsächlich zugrundeliegenden Quellen dar. Ganz offenbar handelt es sich bei Benjamins Text über die Wahlverwandtschaften um zumindest eine der ›anderen Stellen‹, die Auskunft über Goethes Kunsttheorie geben soll (vgl. WBKA 3, S. 121, Anm. 300). Diese befasst sich, laut Benjamin, zentral mit der Frage nach Totalität und Einheit. Damit tritt deutlich zutage, dass es sich bei Benjamins verschiedenen Zugriffen auf Schlegel und auf Goethe nicht um willkürliche Methodenvielfalt handelt, die schlicht unterschiedlichen Interesselagen geschuldet ist. Vielmehr entsprechen die entgegengesetzten Lektürehaltungen genau ihrer systematischen Stellung in Bezug auf Benjamins ›Philosophieproblemgeschichte‹ (WBKA 3, S. 11, Anm. 1). Wie Benjamin im abschließenden Kapitel seiner Dissertation hervorhebt, sind »die Kunsttheorie der Frühromantiker und die Goethes […] in den Prinzipien einander entgegengesetzt« (WBKA 3, S. 121). Den Frühromantikern wird dabei die grundlegende Kritisierbarkeit der Werke zugeordnet, Goethe dagegen deren »Unkritisierbarkeit« (WBKA 3, S. 121). Die grundlegende Ambivalenz aus Öffnung und Schließung im Verhältnis von Buch und Lektüre wird bei Benjamin also streng auf die beiden Antipoden, Goethe und Schlegel, verteilt und mit der Unterscheidung von ›Form‹ und ›Gehalt‹ bezeichnet. Für Goethe ist das Kunstwerk »völlig abgeschlossene[s] Gebilde« (WBKA 3, S. 123), für Schlegel dagegen eine Form »im Formenmedium« (WBKA 3, S. 123). Bei Goethe ist daher das einzelne Werk »im Verhältnis zum Ideal […] gleichsam Torso« (WBKA 3, S. 124), Schlegel dagegen muss die »Auflösung des Werkes« (WBKA 3, S. 126) postulieren und erliegt damit der »Paradoxie einer höheren Einschätzung der Kritik als des Werkes« (WBKA 3, S. 130). Schlegel wollte also, so Benjamin abschließend, »nicht Dichter im Sinne des Werkbildners sein. Die Absolutierung des geschaffenen Werkes, das kritische Verfahren, war ihm das Höchste. Es läßt sich in einem Bilde versinnlichen als die Erzeugung der Blendung im Werk. Diese Blendung – das nüchterne Licht – macht die Vielheit der Werke verlöschen. Es ist die Idee.« (WBKA 3, S. 131) Die Entsprechung von Benjamins Entgegensetzung Goethes und Schlegels in Bezug auf das Verhältnis von Buch und Lektüre tritt hier offen zutage. Die vermeintliche Symmetrie des Gesprächs zwischen der »frühromantische[n] Kunsttheorie und Goe-

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Lektüre als Form

the«, die Benjamin als neutralen Mittler18 zwischen diesen beiden sich auf Augenhöhe begegnenden Positionen ausweisen soll, wird untergraben durch die Spiegelung des der Frühromantik untergeschobenen ›theoretischen‹ Programms in Benjamins eigenem Verfahren (vgl. dazu auch Kap. 5.3). Insofern es Schlegel – laut Benjamin – nur um den strukturellen Aspekt der Form, nämlich als (in der Kritik) erweiterbare geht, kann das Buch vernachlässigt werden und Schlegels Lucinde als eine Quelle für erkenntnistheoretische Voraussetzungen neben anderen gelesen werden. Bei Benjamin erscheint Schlegel nicht als Praktiker, sondern nur als Theoretiker der Buchförmigkeit, insofern er die Kunst aus ihrer Idee erklärt. Damit wird der zentrale Aspekt der Buchförmigkeit in der Frühromantik, der wie oben gezeigt in der Symmetrie aus Buch und Lektüre besteht, nicht erfasst. Für Benjamin ist Schlegel also ein Meister nicht des Para- sondern des Metatexts, und hier präformiert Benjamin die Frühromantik-Forschung bis heute. Benjamin isoliert die eine Seite der Schlegelschen Doppelung aus Lektüre und Buch und marginalisiert dabei die vielfältigen Schließungsbewegungen, die in Schlegels Lucinde aufzuspüren sind. Seine Lektüre entspricht schon eher derjenigen Schlegel in der Transcendentalphilosophie, die – im Zeichen eines prozessualen Formbegriffs – ein System aus kondensierten Fichte- und Spinozalektüren entwirft und in dieser Asymmetrie den ausgezeichneten Weg hin zur ›Magie‹ erkennen mag. Die Lektürehaltung von Schlegels Über Goethes Meister und das in Schlegels Buch Lucinde vorhandene Lektüreprogramm befolgt Benjamin gerade nicht für Schlegels Schriften, sondern nur gegenüber Goethes Wahlverwandtschaften19 , wo gerade die Schließungsfiguren des Buchs selbst in den Blick genommen werden. Die sich in der Lektüre vollziehende Herausbildung des prozessualen Formbegriffs verläuft maßgeblich über Benjamins Begriff des Reflexionsmediums.

5.2.

Der »Doppelsinn« des Reflexionsmediums

Von zentraler Bedeutung für die sich im Verlauf der Benjaminschen Lektüre von Schlegels Texten wandelnde Vorstellung von Buchförmigkeit ist der Begriff der Reflexion. 18

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Anders als Uwe Steiner in seiner Dissertation nahelegt, erweist diese Gegenüberstellung der frühromantischen und der Goetheschen Lösung aber keineswegs die Mittlerstellung Benjamins in Bezug auf die Unterscheidung Form/Gehalt, vgl. Steiner: Die Geburt der Kritik, etwa S. 14-15. Steiner argumentiert hier, man könne Benjamins Anschluss an die von ihm problemgeschichtlich beleuchtete Frage nach der Kunstkritik nur dann sinnvoll beantworten, wenn man diesen in einer Synthese von Schlegels Privilegierung der Form und Goethes Privilegierung des Gehalts suchte. Dies stimmt zwar mit Benjamins eigenen Anmerkungen im abschließenden Goethe-Kapitel überein, der hier ebenfalls von einer noch zu leistenden Synthese spricht (vgl. etwa WBKA 3, S. 129). Diese Darstellung lässt aber außer Acht, dass sich Benjamins eigene Methodik in der Dissertation durchaus genau der Annäherung an den frühromantischen Diskurs und ihrer Privilegierung der Form verdankt. Demgegenüber stehen dann die späteren Arbeiten Benjamins, die eine Kehrtwende vollziehen und sich insofern als Hinwendung zur Methode Goethe (ebenfalls im Sinne Benjamins) verstehen lassen. Dafür spricht auch die Selbsteinschätzung der Lektüre als ›Kritik‹. Auch wenn Benjamin sich hier eher auf die philosophische Kritiktradition beruft, steht die romantische Kritikkonzeption schon aufgrund der zeitlichen Nähe zur Abfassung der Dissertation sicherlich im Hintergrund.

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

Dieser und das mit ihm gebildete Kompositum des »Reflexions-medium[s]« (WBKA 3, S. 39) bezeichnen für Benjamin die entscheidende Funktion romantischer Kunstkritik. Der Begriff des Reflexionsmediums bildet den Fluchtpunkt der Benjaminschen Dissertation, in deren Verlauf sich auch eine »Erneuerung des Formbegriffs«20 abspielt: »Der Brennpunkt der ganzen Arbeit ist der romantische Reflexionsbegriff, und der Begriff der Kritik figuriert nur als eine der systematischen Konsequenzen dieses Reflexionsbegriffs.«21 Dieser Einschätzung von Menninghaus ist unbedingt zuzustimmen. Anders als es der Titel vermuten lässt, geht es in Benjamins Dissertation nicht primär um eine Fundierung der Romantik im Begriff der Kritik, sondern im Begriff der Reflexion. Der Begriff des Reflexionsmediums trägt so entscheidend zum Eindruck der Geschlossenheit der frühromantischen Kunsttheorie bei: »Unter Zugrundelegung dieses Begriffs, den er im ersten Teil seiner Studie entwickelt, gelingt es Benjamin im zweiten Teil, die zentralen Begriffe der romantischen Kunstauffassung mit großer Prägnanz und Geschlossenheit zu explizieren.«22 Benjamin macht in der Einführung des Begriffs deutlich, dass sich beide Substantive des Kompositums gegenseitig bestimmen und so wechselseitig aufeinander einwirken. So heißt es in der Anmerkung zur erstmaligen Einführung des Begriffs: »Der Doppelsinn der Bezeichnung bringt in diesem Falle keine Unklarheit mit sich. Denn einerseits ist die Reflexion selbst ein Medium – kraft ihres stetigen Zusammenhanges, andererseits ist das fragliche Medium ein solches, in dem die Reflexion sich bewegt – denn diese, als das Absolute, bewegt sich in sich selbst.« (WBKA 3, S. 39, Anm. 60) Die Reflexion ist also ein Medium, insofern sie Kontinuität verbürgt; das Medium bestimmt solchermaßen die Reflexion. Andererseits erweist sich der Medienbegriff23 als durch den Begriff der Reflexion definiert: Diese bewegt sich eigentlich in sich selbst und insofern bezeichnet der Begriff des Mediums nur diese Selbstwirksamkeit. Reflexionsbegriff und Medienbegriff legitimieren sich gegenseitig. Es kommt dem Kompositum, dem Begriff des ›Reflexionsmediums‹ zu, in der Zusammensetzung der beiden 20 21 22 23

Geulen: Form-Wissen bei Lukács und Benjamin, S. 144. Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 30. Steiner: Der Begriff der Kunstkritik, S. 109. Eine detaillierte begriffsgeschichtliche Herleitung des Medienbegriffs, insbesondere vor 1800, kann und soll hier nicht geleistet werden. Vgl. zur Herleitung des Medienbegriffs etwa aus der Begriffstradition des Äthers die knappen Ausführungen bei Schüttpelz: Mediumismus und moderne Medien, S. 123-124: »Das Wort ›Medium‹ entsteht aus einem lange Zeit vernachlässigten Beitrag des Aristoteles zur Wahrnehmungstheorie: Luft bricht das durch sie empfangene Licht, ist ein durchscheinendes ›Mittel‹ und eine ›Mitte‹, ein ›medium diaphanes‹, das etwa bei Erhitzung auch zu optischen Verzerrungen Anlass geben kann. Luft, aber auch Wasser und Kristalle sind ›Refraktionsmedien‹ – diese Erkenntnis wird in der Folge nicht nur auf optische Phänomene, sondern auf alle Natur-Elemente ausgeweitet. Insbesondere in der Zeit zwischen 1600 und 1800, im vollzogenen Nachweis und im umso stärkeren Postulat einer Mechanisierung aller Naturkräfte (nach Descartes und Newton), erzwingt dieses Postulat die Annahme einer noch undurchschauten Existenz von feinstofflichen Refraktionsmedien, sogenannter ›Imponderabilien‹, insbesondere im altehrwürdigen Äther und in Gestalt allesdurchdringender Kräfte und Fluida, die aufgrund ihrer Feinstofflichkeit psychische und physische Vorgänge gleichermaßen durchdringen. Das Postulat einer Mechanisierung der Welt führt also keineswegs zu einer vollziehbaren Trennung von ›res extensa‹ und ›res cogitans‹, sondern zur wissenschaftlichen Annahme ihrer wechselseitigen Durchlässigkeit und oft sogar ihrer notwendigen Durchdringung.«

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Lektüre als Form

Termini einen begrifflich adressierbaren, unbedingten Punkt zu schaffen, der es vermag, die verwirrende begriffliche Vielfalt der frühromantischen Begriffsbildungen zu ordnen und von Buchförmigkeit und Lektüre gleichermaßen zu abstrahieren. Innerhalb des Reflexionsparadigmas vervielfältigt sich der Formbegriff. Seine Einbindung in dieses Reflexionsparadigma verstärkt die Asymmetrie zwischen Lektüre und Buch und bringt so den prozessualen Formbegriff hervor. Gleichzeitig leistet der Formbegriff jedoch auch Widerstand gegenüber dieser Reflexionsbewegung – auch und gerade in seinem Changieren zwischen den jeweiligen Gegenbegriffen Gehalt und Medium. Diese Doppelung werde ich herausarbeiten, insofern ich zunächst die beiden Unterscheidungen Form/Gehalt und Form/Medium im Verlauf der Benjaminschen Argumentation beobachte und anschließend das Verhältnis zwischen Form- und Reflexionsbegriff darstelle.

5.2.1.

Form/Medium – Die Transformation des Formbegriffs

Der Begriff des Reflexionsmediums selbst findet sich in der Frühromantik nicht. Benjamin kann sich allerdings für die Verwendung des Medienbegriffs auf Novalis, insbesondere auf dessen Fragment gebliebenen Text Die Lehrlinge zu Sais (1802) stützen. Die Wechselwirkung zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und der Natur wird hier medial konzipiert. Im zweiten Teil mit dem Titel Die Natur findet sich das Gedankenexperiment, sich in der Wahrnehmung auf einen Punkt zu konzentrieren und von dort aus die Gedanken schweifen zu lassen. Diese erweisen sich so als »Strahlen und Wirkungen, die jenes Ich nach allen Seiten zu in jenem elastischen Medium erregt« (NS I, S. 220).24 Das Gedankenexperiment kulminiert in der Bestimmung der Natur als »Werkzeug und Medium des Einverständnisses vernünftiger Wesen« (NS I, S. 226). Hier wird deutlich, in welchem Zusammenhang das Mediale der Natur zu verstehen ist: als Liebe, also homolog zur zwischenmenschlichen Symmetrie, die auch in der Lucinde den systematischen und doch elastischen Stoff bildete: »Der feste Punkt, der sich in der unendlichen Flüssigkeit ansetzt, wird ihm eine neue Offenbarung des Genius der Liebe, ein neues Band des Du und des Ich.« (NS I, S. 227) Die Liebe ist wie in der Lucinde mit der äußeren Form des Texts, seinem Rahmen verbunden, der sich in den Lehrlingen zu Sais als Dialog erweist. Die Bestimmung der Natur als Medium ist also nicht zu trennen von der Sozialität dieser Medienkonzeption, als dialogische – oder »dialektisch[e]«25 – und somit symmetrische Kommunikation. Diese Sozialität erstreckt sich nicht nur auf die zwischenmenschliche Kommunikation, sondern auch auf diejenige zwischen Mensch und Natur. Wie in Kapitel 4 bereits geschildert, wird die Natur vor dem Hintergrund des dominierenden Kommunikationsverständnisses um 1800 lesbar. Grundlage für den Medienbegriff bildet die Vorstellung von – an der Vorstellung des symmetrischen Gesprächs entwickelter – Kommunikativität. Diese Vorstellung prägt nicht nur den Me-

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Der Begriff der Elastizität bezieht sich dabei direkt auf den zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Diskurs. Der französische Chemiker und Naturwissenschaftler Antoine Laurent de Lavoisier beschreibt in seiner Abhandlung Traité élémentaire du chimie aus dem Jahre 1789 die »Elastizität als Aggregatzustand zwischen flüssig und fest« (Pethes: Der Topos der ›Prozessualität‹, S. 141). Canelles: Der Dialog in Novalisʼ Die Lehrlinge zu Sais, S. 144.

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

dienbegriff bei Novalis, sondern insgesamt den Medienbegriff um 1800. Grundlage für die mediale Bestimmung der Natur ist die Konzeption einer »Sympathie aller Dinge und Lebewesen im Kosmos«26 . Von dieser grundlegenden symmetrischen und sozialen Konzeption des Medialen bleibt in Benjamins systematischer Bestimmung des Begriffs ›Reflexionmedium‹ nicht viel übrig. Im Gegensatz zu späteren Schriften, insbesondere dem Aufsatz zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, welcher Benjamin als entscheidenden Vorbereiter eines »starken Medienbegriffs«27 ausweist, bleibt der Medienbegriff hier eigentümlich unbestimmt und dem Formbegriff untergeordnet. Benjamin beruft sich für seinen Medienbegriff neben Novalis auch auf die Textstellen bei Schlegel, welche eine Lichtmetaphorik28 vorstellen, skizziert diese allerdings einseitig als »Blendung« (WBKA 3, S. 131), in der das konkrete Werk erlischt. Das innere Licht ist ebenso unsichtbar wie das Medium, seine einzige Funktion erschöpft sich im Sichtbarmachen der ›Gedanken‹, also der Formen. Durch das Medium lassen sich die Formen als zusammenhängend erkennen. Benjamin betont bereits im ersten Kapitel, in der Herleitung des Reflexionsbegriffs, dass die Romantiker, gegenüber ihren erkenntnistheoretischen Vorläufern wie Fichte, den Reflexionsbegriff konsequent an den Formbegriff gekoppelt haben (vgl. WBKA 3, S. 31-32). Für Benjamin ergibt sich somit ein Unterschied zwischen dem Fichteschen und dem romantischen Reflexionsbegriff, der eben in dessen Relation zum Formbegriff begründet ist. Zentral am Reflexionsbegriff ist also seine Beziehung auf den Formbegriff, welche Benjamin zwar als frühromantische ausweist, welche sich aber als spe-

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Hoffmann: Die Geschichte des Medienbegriffs, S. 75. Hoffmann bezieht sich hier insbesondere auf den Herderschen Medienbegriff. Die Vorstellung von Symmetrie äußert sich hier in der Vorstellung von Analogie zwischen der Strukturiertheit der Sinnesorgane des Menschen und der Strukturiertheit der Natur selbst, bzw. im konkreten Fall der Luft in ihrer Konzeptionierung im Sinne der Äthermodelle um 1800: »Damit sie diese Wirkungen zum Menschen bringen können, müssen Luft und Äther […] den vermittelten Wirkungen und den menschlichen Sinnesorganen gleichen« (ebd.). Schulte-Sasse: Medien/medial, S. 1. Vgl. WBKA 3, S. 40: »Um sich über die mediale Natur des Absoluten, das er im Sinne hat, vollkommen deutlich auszusprechen, nimmt Schlegel einen Vergleich vom Lichte her: ›Der Gedanke des Ichs… ist… als das innere Licht aller Gedanken zu betrachten. Alle Gedanken sind nur gebrochene Farbenbilder dieses inneren Lichtes.‹« Dabei kann Benjamin etwa auf Karl Wilhelm Ferdinand Solgers Überlegungen zur Ästhetik zurückgreifen. Auch in dessen kunsttheoretischen Ausführungen im Erwin spielen diese medialen Vorstellungen eine zentrale Rolle. So äußert die titelgebende Figur Erwin im Gespräch mit Adelbert folgendes über die poetische Sprache: »Ihrem Wesen nach ist aber dieselbe dieses vollkommenen Schaffen der Phantasie selbst, das von dem göttlichen Mittelpunkt ausgehende, sich selbst gestaltende Licht, welches zu seiner Gestaltung der Überganges in die hervorgebrachten wirklichen Dinge nicht bedarf. Vielmehr sind diese schon in ihrer ganzen Bestimmtheit in der Phantasie gegenwärtig; denn sonst könnten sie sich nicht in der Sprache allein entwickeln, sondern müßten sich in dem äußeren Stoff als Gegenstände verkörpern.« (Solger: Erwin, S. 244) Das sich selbst gestaltende Licht, das in sich schon binnendifferenziert ist, insofern es die Möglichkeit zum ›Übergang‹ enthält, wird bei Solger allerdings als der Form/Stoff-Unterscheidung vorrangig angesehen. Insofern leistet bereits Solger, ähnlich wie auch der Schlegel der Transcendentalphilosophie der Ersetzung der Form/Gehalt-Unterscheidung durch die Form/Medium-Unterscheidung und der damit einhergehenden Asymmetrisierung Vorschub.

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Lektüre als Form

zifisch Benjaminsche Bezugnahme entpuppt. Dies ist in der Forschung nicht unbemerkt geblieben. So spricht auch Winfried Menninghaus in Bezug auf die Entfaltung des Reflexionsbegriffs von einer »Privilegierung der Form als des einzigen Gegenstands romantischer Reflexion«29 . Während Fichte die Reflexion noch auf einen Inhalt, nämlich das ›Ich‹ bezieht, übernehmen die Romantiker von Fichte nur die ›rein formale‹ Logik der Reflexion: »Bei Fichte bezieht sich die Reflexion auf das Ich, bei den Romantikern auf das bloße Denken, und gerade durch diese letzte Beziehung wird, wie sich noch deutlicher zeigen soll, der eigentümliche romantische Reflexionsbegriff konstituiert.« (WBKA 3, S. 31) In der Formulierung des ›bloßen Denken‹ wird hier schon deutlich, in welcher Hinsicht Benjamin den Formbegriff auszeichnet – er garantiert ihm gegenüber einem inhaltlich geprägten Begriff, wie eben dem Fichteschen ›Ich‹, die Möglichkeit der Adressierung einer reinen Prozessualität der Reflexionslogik. Damit befindet sich der Formbegriff in seiner Vernetzung mit dem Begriff der Reflexion als ›reinem Denken‹ auf dem Weg zu einer prozessualen Reformulierung. Benjamins Begriff des Reflexionsmediums kann also nicht einfach als unschuldige Übernahme eines romantischen Konzepts verstanden werden.30 Vielmehr betreibt Benjamin eine, so Menninghaus, »wesentliche Beschränkung[...] und Verfälschung[...] in der Darstellung des Reflexionsbegriffs«31 . Dies wird in Bezug auf den Zusammenhang von Formbegriff und Reflexionsbegriff im letzten Kapitel zur Frühromantik mit dem Titel Die Idee der Kunst deutlich: »Da das Organ der künstlerischen Reflexion die Form ist, so ist die Idee der Kunst definiert als das Reflexionsmedium der Formen« (WBKA 3, S. 95) heißt es hier. Die Paradoxie, die der Dreiheit von Form, Medium und Reflexion eignet, kommt hier deutlich zum Vorschein. Beides, Form und Medium wird mit der Reflexion identifiziert, die Reflexion ist also auf beiden Seiten der Unterscheidung zu suchen. Die Form ist die Möglichkeit der Reflexion in jedem Werke. Gleichzeitig ist die Reflexion

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Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 32. So stellt es etwa Hoffmann: Die Geschichte des Medienbegriffs dar. Im Kapitel zum »frühromantischen Reflexionsmedium« (bes. S. 94-97) zitiert dieser nur Benjamins Dissertation, keineswegs die Frühromantiker selbst. Dennoch setzt Hoffmann Benjamins Befunde zum Reflexionsmedium mit der begrifflichen Bestimmung des Mediums in der Frühromantik gleich. So schreibt Hoffmann etwa zur Klärung des frühromantischen Begriffs des Reflexionsmediums: »Es geht ihnen dabei nicht um ein bloßes zielloses Kreisen des Denkens des Denkens, sondern um die Auflösung der Reflexion im Absolutum, die man sich als systematische Herstellung eines unabschließbaren Zusammenhangs durch zahllose Vermittlungsvorgänge vorzustellen hat.« (S. 95) Insbesondere was die Systematizität betrifft, aber auch in Bezug auf die begrifflichen Formulierungen, zeigt sich die Nähe zum Benjaminschen Begriff des Reflexionsmediums, der allerdings nicht einfach den frühromantischen ›Begriff‹ rekapituliert, gerade insofern das Kompositum in der Frühromantik so nicht existiert. Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 30. Diesem Befund schließt sich etwa auch Rahel Villinger an, welche unter dem Titel Form und Mimesis eine genealogische Untersuchung des Formbegriffs in der Frühromantik, bei Benjamin und bei Adorno anstrebt. So vermerkt sie in Anm. 22: »Diese Anwendung Fichtes wurde keineswegs unmittelbar so von den Frühromantikern durchgeführt. Sie ist vielmehr eine genuin Benjaminsche Entwicklung eines Begriffs von Reflexion, die zentralen Desideraten seines eigenen früheren und späteren Denkens mindestens so sehr entspricht wie einer – nicht der historischen Terminologie nach, wohl aber in ihrem substantiellen Gehalt – treffenden Interpretation der Frühromantik.« (Villinger: Form und Mimesis, S. 282-283)

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

als Medium erst verantwortlich dafür, dass im Werk Reflexionszentren entstehen können. Reflexion und die ihr entsprechende Unterscheidung Form/Medium zeigen sich also als zirkulär ineinander verwoben. Deutlich wird in diesen ersten Sätzen des Abschnitts zum Kunstwerk auch, wie der Begriff der Form beschaffen ist: als prozessualer Begriff, der eine reine Differenz ausstellt. So formuliert Benjamin: »Diese besondere Zufälligkeit [des Kunstwerks] als eine prinzipiell notwendige, d.h. unvermeidliche einzugestehen, sie durch die strenge Selbstbeschränkung der Reflexion zu bekennen, ist die genaue Funktion der Form.« (WBKA 3, S. 79) In der Formulierung der ›Funktion der Form‹ wird deutlich, dass es hier nicht darum geht, den Begriff der Form in einem symmetrischen Sinne zu verwenden. Vielmehr ist er insofern funktional, als er immer schon in einem Netzwerk aus Begrifflichkeiten aufgehoben ist. Er steht ein für die Selbstbeschränkung der Reflexion, ist also, genau wie andererseits das Medium, ein Moment ihrer Selbstwirksamkeit. Gegenüber dem Medium kommt es aber dem Formbegriff zu, die Beschränkung zu definieren. Es ist also die Form, welche die Unterscheidung innerhalb der Reflexionseinheit nicht nur bezeichnet, sondern auch begründet. Gerade in der Organisation dieses Verweisungszusammenhangs besteht der besondere Nutzen des Formbegriffs. Das ›Wesen‹ der Form lässt sich also nicht mehr positiv, sondern immer nur negativ, differentiell, als Moment der Reflexion beschreiben.32 Auf den folgenden Seiten werde ich die bei Benjamin erfolgende Transformation des Formbegriffs in der zirkulären gegenseitigen Begründung von Ontologie und Kunsttheorie durch den Begriff der Reflexion sowie im Austausch der Unterscheidung von Form und Gehalt durch die Unterscheidung Form und Medium nachzeichnen. Die Analyse des Formbegriffs und seine Einbindung ins Reflexionsparadigma vollzieht sich bei Benjamin als Rückführung auf die Erkenntnistheorie. Die eigentlichen philosophischen Grundlagen für Schlegels Texte findet Benjamin bei Benjamin Johann Gottlieb Fichte, insbesondere in dessen früher Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie und im hier entworfenen Begriff der Reflexion. Benjamins These ist, dass sich auch in Schlegels Schriften, insbesondere in der Formation des Begriffs der Kunstkritik, die erkenntnistheoretische Frage nach der Reflexion wiederfinden lässt, wenn auch nicht explizit, so zumindest implizit. »Für den romantischen Reflexionsbegriff ist dies [Fichtes Postulat des wechselseitigen Durch-EinanderGegebenseins von reflexivem Denken und unmittelbarer Erkenntnis] von großer Wichtigkeit. Es gilt hier dessen Beziehungen zum Fichteschen eingehend klarzulegen; daß er von diesem abhängig ist, steht fest, kann aber für den vorliegenden Zweck nicht genügen.« (WBKA 3, S. 20) 32

An dieser Stelle kann auch der Rekonstruktion des Benjaminschen Formbegriffs, welche Villinger anstellt, widersprochen werden (vgl. ebd.). Benjamin identifiziert zwar an vielen Stellen durchaus den Reflexionsbegriff direkt mit dem Formbegriff. Die Schlussfolgerung daraus kann aber gerade nicht eine ontologische Füllung des Reflexionsbegriffs etwa als Bezeichnung der mimetischen Anverwandlung von subjektiver und objektiver Komponente des Werks, wie Villinger es verstehen möchte, sein. Vielmehr ist die Identifizierung und Differenzierung von Reflexion und Form bei Benjamin gerade der Ausweis für das differentielle, streng funktionale Verständnis des Begriffszusammenhangs, dem seine gegenständliche Seite vielmehr als Rest anhaftet, als sie die tatsächliche Bedeutung des Formbegriffs ausmacht.

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Lektüre als Form

Die übereinanderlegende Lektüre von Fichte und Schlegel führt Benjamin zu einem Punkt, an dem die Verwandtschaft zwischen beiden und damit die zwischen Philosophie und frühromantischer Kunstkritik am größten ist. Dieser Punkt der Konvergenz lässt sich, so Benjamin, innerhalb des Fichteschen Werks gerade in seinem das Hauptwerk erst vorbereitenden Begriff der Wissenschaftslehre erkennen – nämlich in dem Moment, in dem Fichte den Begriff der Reflexion und den Begriff der Form zusammenbringt. Hier »bestimmt er die Reflexion als die einer Form und erweist auf diesem Wege die Unmittelbarkeit der in ihr gegebenen Erkenntnis. Sein Gedankengang dabei ist folgender: ›Die Wissenschaftslehre hat nicht nur Gehalt, sondern auch eine Form; sie ist die Wissenschaft von etwas, nicht aber dieses Etwas selbst. ‹« (WBKA 3, S. 21) Benjamin verlagert den Reflexionsbegriff mit Fichte hier auf die Seite der Form und konstituiert den Formbegriff somit als grundlegend prozessualen: »Es wird also unter Reflexion das umformende – und nichts als umformende – Reflektieren auf eine Form verstanden.« (WBKA 3, S. 22) Wie hier deutlich wird, verschiebt sich in dieser Rückführung die Begründung der Reflexion auf den Formbegriff, der nun selbst die der Reflexion inhärente Differenz, als Selbstdifferenz, gleichzeitig begrifflich anzuzeigen und aufzuweisen hat. Das weitere argumentative Vorgehen Benjamins besteht darin, alle zentralen Begriffe der frühromantischen Kunsttheorie unter den Begriff der Reflexion zu subsumieren. Nicht umsonst bestimmt Benjamin bündig: »Die Reflexion ist der häufigste Typus im Denken der Frühromantiker.« (WBKA 3, S. 19) Denken und das Schreiben von Büchern sind für Benjamin nur zwei verschiedene Existenzmodi der gemeinsamen Lösung: »Er [der romantische Geist] tut es [über sich selbst phantasieren] nicht nur in den frühromantischen Kunstwerken, sondern, wenngleich strenger und abstrakter, auch, und vor allem, im frühromantischen Denken« (WBKA 3, S. 19). Hier wird schon deutlich, dass das ›Denken‹ in einer merkwürdigen Verschiebung von Benjamin als abstraktes Grundmuster der Reflexion angenommen wird, welche hier ›strenger und abstrakter‹ zu fassen ist als in Bezug auf die Lektüre von Büchern. Für diese Verschiebung des Reflexionsbegriffs aus einem klar medialen Kontext, nämlich dem Verhältnis von Lektüre und Buch, hin zu einem abstrakten ›Denkprozess‹ steht der Formbegriff ein. Das Absehen von jeglichem sozialen und medialen Kontext im Reflexionsbegriff lässt sich auch an der Übersetzung weiterer für Schlegel zentraler Begrifflichkeiten zeigen. Benjamin schlägt sogar den für seine Arbeit eigentlich titelgebenden Begriff der Kritik der Reflexion zu, behauptet also ihre Identität: »In dieser positiven [nämlich schöpferischen] Bedeutung gewinnt das kritische Verfahren die denkbar nächste Verwandtschaft mit dem reflektierenden, und in Aussprüchen wie dem folgenden gehen beide ineinander über: ›In jeder Philosophie, die mit Beobachtung ihres eigenen Verfahrens, mit Kritik anfängt, hat der Anfang immer etwas Eigentümliches‹.« (WBKA 3, S. 55) Benjamin verknüpft seine Rekonstruktion der philosophischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen Schlegels, die er im ersten Teil der Arbeit angestellt hat, hier mit der Rekapitulation ihrer kunsttheoretischen Prämissen, insofern er sie in ein Verhältnis der zirkulären Begründung setzt. Gemeinsamer Nenner in dem hier

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

angeführten Zitat ist der Begriff der Beobachtung33 , über welchen die Prozessualität von Philosophie mit der Prozessualität von Literatur (in der Kunstkritik) enggeführt werden kann. Der durch den Formbegriff beglaubigte und gleichzeitig entmedialisierte Reflexionsbegriff eignet sich in ausgezeichneter Weise zum Vollzug und gleichzeitig zur Beobachtung der Prozessualisierung von Differenzen aller Art. Selbst das für Benjamin so zentrale Theorem der »Idee der Kunst« (WBKA 3, S. 94), in welchem erst »[d]as zu finden [ist], was als innerste Eingebung die Romantiker in ihrem Denken über das Wesen der Kunst geleitet hat« (WBKA 3, S. 95) wird auf die Reflexion verpflichtet. Wie Benjamin zuvor schon entdeckt hat, ist die Idee der Kunst die Tatsache des unendlichen Zusammenhangs der Formen, welche wiederum in der Reflexion sichtbar wird: »Die romantische Idee der Einheit der Kunst liegt also in der Idee eines Kontinuums der Formen.« (WBKA 3, S. 95) Der Begriff des Kontinuums deutet hier bereits auf die nur noch prozessuale Qualität der Form hin, die aus der Selbstdifferenz der Formen in der Reflexion entspringt. Die Unmöglichkeit, diese Einheitsbegriffe jenseits ihrer Prozessualität in der Praxis der beobachtenden Handhabung von Unterscheidungen zu fassen, ist Benjamin selbst bewusst. So häufen sich im Verlauf der Dissertation die tautologischen Formulierungen, die zentriert sind auf die Reflexion einerseits, auf die Form andererseits als einzig mögliche, gleichzeitig selbstbezügliche Definitionen: »Die romantische Poesie ist also die Idee der Poesie selbst; die ist das Kontinuum der Kunstformen.« (WBKA 3, S. 96) Insofern lässt sich das Wesen der romantischen Poesie, wie auch das Wesen der Reflexion natürlich nur paradoxal aussprechen: »Um die Individualität der Kunsteinheit zum Ausdruck zu bringen, hat Schlegel seine Begriffe überspannt und nach einer Paradoxie gegriffen.« (WBKA 3, S. 97)34 Benjamin selbst kann an dieser Stelle paradoxe und tautologische Formulierungen nicht vermeiden, auch wenn er sich zuvor gegen sie verwehrt. So konstatiert er beinahe widerwillig: »Die Idee ist Werk und auch das Werk ist Idee, wenn es die Begrenztheit seiner Darstellungsform überwindet.« (WBKA

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Diese terminologische Überformung ist in ihrer Struktur hier ebenfalls bereits wegweisend – ist doch der Begriff der ›Beobachtung‹ auch ein zentraler Begriff für Luhmann. Hier deutet sich schon an, dass der Beobachtungsbegriff strukturell an Lektüre geknüpft ist, bzw. diese als medial konnotiert verdecken muss, um abstrakt zu bleiben. Im Weiteren verknüpft Benjamin noch deutlicher den Begriff der Beobachtung mit dem Begriff der Reflexion. Als »magische Beobachtung« ist die romantische immer ein »Experiment«, insofern sie lediglich die Selbstreflexion des Gegenstands in Gang setzt (vgl. WBKA 3, S. 64). Siehe auch WBKA 3, S. 66: »Der Terminus der Beobachtung spielt auf diese Identität der Medien an; was im gewöhnlichen Experiment als Wahrnehmung und planmäßige Einrichtung des Versuchsverlaufs getrennt ist, ist in der magischen Beobachtung vereinigt, die ja selbst ein Experiment, nach dieser Theorie das einzig mögliche Experiment ist. […] Keine Frage an die Natur liegt diesem Experiment zugrunde. Vielmehr faßt die Beobachtung nur die aufkeimende Selbsterkenntnis im Gegenstand ins Auge, oder vielmehr, sie, die Beobachtung ist das aufkeimende Gegenstandsbewußtsein selbst.« (WBKA 3, S. 66) In der abschließenden Formulierung, die Beobachtung sei das aufkeimende Gegenstandsbewußtsein selbst, behauptet Benjamin also eine Identität zwischen Reflexion (des Gegenstands) und Beobachtung (der ›Methode‹), und lässt doch beides als unterschiedene Seiten stehen. Offenbar ist Benjamin selbst davon überzeugt, nicht paradoxierend zu verfahren. So nimmt er Schlegel gegen den Vorwurf der Absurdität in Schutz, attestiert ihm aber die falsche Interpretation der Idee der Kunst.

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Lektüre als Form

3, S. 98) Die zunehmende Ununterscheidbarkeit der Begriffe verdankt sich nicht primär ihrer Stellung im Schlegelschen Begriffskosmos, sondern der Benjaminschen Reduktion derselben Begriffe im Zeichen der Reflexion. Die Reflexion als zentrales Paradigma jeglicher Form von Begrifflichkeit reinigt mit ihrer Zuschreibung an das ›reine Denken‹ sämtliche anderen Begriffe von ihren materiellen und medialen Referenzen und lässt sie damit ununterscheidbar werden. Dies wird etwa an folgender Stelle deutlich, an der Benjamin seinen Begriff des Reflexionsmediums ausführt und mit der Schlegelschen Begrifflichkeit verbindet: Schlegels Begriff des Absolutums ist mit dem Vorstehenden Fichte gegenüber hinreichend bestimmt. An sich selbst würde man dieses Absolute am richtigsten als das Reflexionsmedium bezeichnen. Mit diesem Terminus ist das Ganze von Schlegels theoretischer Philosophie zusammenfassend zu bezeichnen und wird unter diesem Ausdruck nicht selten im folgenden noch zu zitieren sein. Es ist daher notwendig, ihn noch genauer zu erklären und zu sichern. Die Reflexion konstituiert das Absolute, und sie konstituiert es als ein Medium. Auf den stetigen gleichförmigen Zusammenhang im Absolutum oder im System, die man beide als den Zusammenhang des Wirklichen nicht in seiner Substanz (welche überall dieselbe ist), sondern in den Graden seiner deutlichen Entfaltung zu interpretieren hat […], hat Schlegel in seinen Darlegungen den größten Wert gelegt, wenn er auch den Ausdruck Mediums selbst nicht hat. (WBKA 3, S. 39-40) Indem Benjamin das ›Absolute‹, dessen Systematik er gerade noch ansetzte zu beschreiben, hier als Reflexionsmedium reformuliert, wird es gleichsam in einen funktionalen Zusammenhang integriert. Dieser lässt wiederum nur die Seite der Form, also die rein formale, ›mechanische‹ Seite des reinen Denkens übrig. Seine referentielle Füllung (etwa als Religion, Gott, Geist, Geliebte etc.)35 ist so in der Darstellung Benjamins nicht mehr von Relevanz, lediglich seine funktionale Beziehung auf die Form selbst, seine Stelle innerhalb der Mechanik der Unterscheidung und ihrer Einheit als Prozess. Dass die Mechanik der Unterscheidung in eine Verdopplung und damit Prozessualisierung des Formbegriffs mündet, führt Benjamin am Ende des Kapitels zum Kunstwerk, am materiellen wie systematischen Übergang zwischen Kunstwerk und Idee der Kunst aus. Hier beschreibt er die Kritik als Opferung des Werks »um des Einen Zusammenhanges willen« und führt dafür »einen doppelte[n] Formbegriff« ein. Der »bestimmte[n] Form des einzelnen Werkes, die man als Darstellungsform bezeichnen möge« stellt Benjamin den »Himmel ewiger Form, die Idee der Formen« entgegen, »die man die absolute Form nennen mag«. Diese Idee wiederum erweist sich als »das Ueberleben des Werkes, das aus dieser Sphäre sein unzerstörbares Bestehen schöpft« gerade insofern »die empirische Form, der Ausdruck seiner isolierten Reflexion, von ihr verzehrt wurde« (WBKA 3, S. 93).

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Konsequenterweise spricht Benjamin nur sehr ablehnend von der Religiosität Schlegels und bezeichnet diese insgesamt als Missverständnis bzw. Verirrung. So stellt er etwa seine Extraktion der wichtigen Motive aus den Vorlesungen Friedrich Schlegels in den Jahren 1804 bis 1806 als Rettung aus einer insgesamt verwirrten Masse dar, welche »völlig beherrscht von den Ideen der katholischen Restaurationsphilosophie« sei, vgl. WBKA 3, S. 17. Vgl. dazu auch Steiner: Der revolutionäre Wunsch.

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

Der ›doppelte Formbegriff‹, der notwendig ist, um im Sinne einer einheitlichen Systematik den Übergang zwischen Kunstwerk und Idee der Kunst herzustellen, weist direkt auf die Transformation des Formbegriffs hin. Gegenüber einem auf das einzelne Werk bezogenen symmetrischen Formbegriff wird es notwendig, einen prozessualen Formbegriff einzuführen, der die Auflösung des Werks in die Idee der Kunst plausibel macht. Als Zwischenschritt spricht Benjamin zusätzlich von verschiedenen Ebenen der Werkförmigkeit, von einem ›Einzelwerk‹ gegenüber einem ›Universalwerk‹. Der Formbegriff lässt sich hier als Einheit verschiedener Ebenen begreifen, die im Sinne eines bereits ornamentalen Verfahrens ein asymmetrisches Verhältnis zwischen eigentlicher Methode und ihren begrifflichen Varianten errichten. Diese Hierarchisierung wird deutlich in der vermehrten Verwendung von philosophischem Vokabular. Die ›ewige Form‹ wird mit der Unendlichkeit korreliert und gleichzeitig mit dem ›Absoluten‹. Diese Kategorien bezeichnen die höhere Ebene. Auf der unteren Ebene, auf der das Bestimmte, Einzelne lokalisiert ist, hat der eigentliche Begriff des Werks seinen Platz. Als Ornament ist der prozessuale Formbegriff geeignet, diese verschiedenen Ebenen miteinander kommunizieren zu lassen und die Übersetzbarkeit zwischen ihnen zu gewährleisten. Insofern Benjamin die »Theorie der Kunst: als eines Reflexionsmediums« bestimmt und die »des Werkes: als eines Zentrums der Reflexion« (WBKA 3, S. 77), verdeutlicht er das Schema der Unterscheidung Form/Medium mit der Einheit Reflexion. Diese Bestimmung des Kunstwerks als Reflexionszentrum führt schließlich auch zur Ununterscheidbarkeit von Kunstwerk und Kunstkritik, wenn Benjamin etwa den Begriff des Werks als »Korrelatbegriff des Begriffs der Kritik« (WBKA 3, S. 78) fasst. Das Kollabieren der Unterscheidung von Werk und Kritik wird als frühromantisches Problem ausgeflaggt, stellt aber primär ein Problem der Benjaminschen Begriffssystematik dar, die nur um den Preis von Paradoxien, etwa der »Paradoxie des Gedankens der immanenten Beurteilung« (WBKA 3, S. 85)36 des Kunstwerks aufrechterhalten werden kann. Als drittes Medium der Reflexion und damit als dritte Form (neben Werk und Kritik) nennt Benjamin die objektive Ironie. Diese ist in der Rekonstruktion Benjamins nicht subjektiv bedingt, sondern stellt ein Moment im Werk selbst, und bezeichnet insofern einen spezifischen Übergang innerhalb desselben hin zur Reflexion. Benjamin nennt diese objektive Ironie auch die Ironie der Form: »Die Ironisierung der Form besteht in ihrer freiwilligen Zerstörung, wie sie unter den romantischen Produktionen und wohl in der ganzen Literatur überhaupt, Tiecks Komödien in der extremsten Form zeigen.« (WBKA 3, S. 91)Die Ironie ist also das, was zuvor als Aufscheinen der Unterscheidung Medium/Form im Werk beschrieben wurde. Wiederum zeigt sich so die Ununterscheidbarkeit von Werk und Kritik, deren Differenz dennoch behauptet wird; in diesem Fall mittels einer quantitativen Abstufung, die verschiedene Grade der Zerstörung der Form beschreibt: »Die Ironisierung der Form greift also nach diesen Aeußerungen dieselbe an, ohne sie doch zu zerstören, und auf diese Irritation soll die Illusionsstörung in der Komödie es absehen. Dieses Verhältnis zeigt eine auffallende Verwandtschaft mit der Kritik, welche unwiderruflich und ernsthaft die Form auflöst, um

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Benjamin beschreibt diese Paradoxie ausführlich (vgl. WBKA 3, S. 83-85) und stellt sie für seine eigene Darstellung als gelöst dar.

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Lektüre als Form

das einzelne Werk ins absolute Kunstwerk zu verwandeln, zu romantisieren.« (WBKA 3, S. 92) Die Doppeldeutigkeit der sich gleichzeitig zerstörenden und doch erhaltenden Form macht deutlich, dass es hier um verschiedene Formkonzeptionen geht, deren Zusammenhang durch das Reflexionsparadigma und den hier installierten Medienbegriff gesichert werden soll. Während das Medium aber jeweils die Seite des unmarkierten Kontinuums bildet, kommt es dem Formbegriff zu, dieses Kontinuum und gleichzeitig seine diversen Stadien anzuzeigen. Die Form des Werks wird von der Ironie angegriffen, von der Kritik aufgelöst, bleibt dennoch aber als Form im Formenkontinuum, in der Benjaminschen Logik also als Idee der Form erhalten. Der Formbegriff bildet die Einheit des auf das einzelne Kunstwerk bezogenen Formbegriffs und der auf die Kunst als Idee und damit das Formenkontinuum bezogenen Formbegriffs. Darüber hinaus stiftet der Formbegriff eine weitere Kontinuität, nämlich die zwischen der Kunst als eingegrenztem Gebiet und der Philosophie. Dazu nutzt Benjamin insbesondere die von Schlegel verwendete Unterscheidung von Form und Stoff. Diese ist gleichermaßen anwesend im philosophischen Diskurs wie auch im poetischen Diskurs und kann doch beide miteinander verbinden. Zunächst wird die Kunst von Benjamin als »eine [und nur eine spezifische] Bestimmung des Reflexionsmediums« (WBKA 3, S. 67) bezeichnet. Später heißt es allerdings: »Der Indifferenzpunkt der Reflexion, an dem diese aus dem Nichts entspringt, ist das poetische Gefühl.« (WBKA 3, S. 69) Dieses poetische Gefühl äußert sich wiederum natürlicherweise auf dem Gebiet der Kunst und lässt sich, mit Schlegels eigenen Worten, als Auseinanderfallen von Form und Stoff begreifen. So zitiert Benjamin: »Es gibt […] eine Art des Denkens, die etwas produziert und daher mit dem schöpferischen Vermögen, das wir dem Ich der Natur und dem Welt-Ich zuschreiben, große Aehnlichkeit der Form hat. Das Dichten nämlich: dies erschafft gewissermaßen seinen Stoff selbst.« (WBKA 3, S. 68) Mit Rückgriff auf die Schlegelschen Begrifflichkeiten stiftet Benjamin hier performativ den Zusammenhang zwischen dem Reflexionsparadigma und der ästhetischen Tradition. Wie auch schon in Bezug auf die Begriffe Reflexion und Form gezeigt, vollzieht sich hier eine zirkuläre Argumentation. Die Kunst und damit das Kunstwerk sind einerseits nur ein spezieller Anwendungsfall des allgemeinen, nämlich im reinen Denken beheimateten, Reflexionsparadigmas. Andererseits sind sie aber auch ausgezeichneter Schauplatz des Auseinandertretens von Form und Stoff. Ohne dies eindeutig zu thematisieren, erweckt Benjamin im textuellen Verfahren den Eindruck, bei der Unterscheidung Form/Stoff und der Unterscheidung Form/Medium handele es sich letztendlich um dieselbe. Seine zirkuläre Argumentationsfigur vereinigt beide Unterscheidungen im Reflexionsparadigma. Die Plausibilität der sich an die Einheit der Reflexion und den mit ihr verknüpften Begriff der Form anschließenden prozessualen Neufassung des Formbegriffs wird also über ein graduell, durch Neuzusammensetzung verfremdendes37 Zitieren gewonnen. Dass sich die Transformation des Formbegriffs der

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Michele Salonia begreift in ihrer umfassenden Arbeit zu Benjamins Kritikkonzeption die Verfremdung als ein zentrales Anliegen seiner Schriften, adressiert dabei aber die Wirkung auf den Leser: »Ich betrachte nämlich die Erfahrung einer Verfremdung, die Benjamin bei seinen damaligen wie seinen heutigen Lesern auslöst, als ein kritisches Ziel seines Denkens. Seine intellektuelle Arbeit

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

Einführung einer neuen Unterscheidung, eben der Unterscheidung Form/Medium verdankt – auch wenn diese selbstverständlich nicht als solche in Benjamins Text präsent ist – äußert Benjamin sehr klar. Anschließend an die Definition der Form »als eine eigentümliche Modifikation der Selbstbegrenzung der Reflexion«, die er an die Stelle des konventionellen Formbegriffs als »Mittel zur Darstellung eines Inhalts« (WBKA 3, S. 83) rückt, betont er die Angewiesenheit einer solchen Formdefinition auf den Begriff des Mediums: Die Idee der Kunst als eines Mediums schafft also zum ersten Male die Möglichkeit eines undogmatischen oder freien Formalismus, eines liberalen Formalismus, wie die Romantiker sagen würden. Die frühromantische Theorie begründet die Geltung der Formen unabhängig vom Ideal der Gebilde. Die ganze philosophische Tragweite dieser Einstellung nach ihrer positiven und negativen Seite zu bestimmen, ist eine Hauptaufgabe der vorliegenden Abhandlung. (WBKA 3, S. 83) Dieser Absatz markiert für Benjamin eine zentrale Stelle seiner Untersuchung. Die Verwendung des Medienbegriffs und die damit einhergehende Transformation des Formbegriffs, die, wie hier deutlich wird, an die Unterscheidung Form/Medium innerhalb des Reflexionsparadigmas gekoppelt ist, wird hier als eigentlich frühromantisch ausgeflaggt. Benjamin geht es um die frühromantischen ›Ideen‹, für die er gegenüber der frühromantischen Begriffsvielfalt einen geeigneteren Ausdruck sucht. Während Schlegel die Unterscheidung von Form und Stoff verwendet und so den Formbegriff, wie zuvor gezeigt, zwischen Substantialität und Prozessualität oszillieren lässt, versucht sich Benjamin an einer begrifflichen Systematisierung, gerade um die wesentlichen Aspekte der frühromantischen Kunstauffassung gebündelt darzustellen. Wie hier deutlich wird, betrachtet Benjamin die Bestimmung des Formbegriffs im Lichte der Unterscheidung von Form und Medium als zentralen Bestandteil dieser begrifflich vereindeutigenden Rekonstruktion von Schlegels Ästhetik. Die eigentliche Bestimmung des Formbegriffs ist bei Benjamin sein Bezug auf das Reflexionsparadigma, und damit sein Bezug auf die Unterscheidung von Form und Medium. Nur so gelingt, Benjamin zufolge, die adäquate sprachliche, und das bedeutet hier begriffliche, Darstellung des undogmatischen Formalismus, für den Schlegels Schriften Benjamin zufolge einstehen. Der Preis für diese systematische Darstellung ist das Absehen von jeglicher Materialität und Sozialität der frühromantischen Lektürekonzeption. Für Benjamin ist die mannigfache Bestimmung des Reflexionsmediums »als Natur, als Kunst, als Religion usw.« sekundär gegenüber dem »Charakter des Denkmediums« und damit dem »Absolutum« als »Denkendes«. (WBKA 3, S. 59) Das Reflexionsmediums transformiert also den Formbegriff. Dieser wird zum nurmehr abstrakten Stellvertreter der mannigfachen Bestimmungen, insofern er deren rein methodische Funktion für die Bewegung des Denkens adressiert. Der Begriff der

wird – so meine These – in erster Linie nicht durch eine rein theoretische, sondern eher durch eine kritische und praktische Absicht geleitet. Und zwar durch die Absicht, die habitualisierten oder gar konformistischen Haltungen, Praktiken und Denkweisen der Adressaten zu verfremden, um ihre Wahrnehmungsfähigkeiten, ihre qualitative Empfindlichkeit und ihre kritische Urteilskraft wieder zu beleben.« (Salonia: Walter Benjamins Theorie der Kritik, S. 9-10)

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Lektüre als Form

Form, der sich für Benjamin aus der Form/Medium-Unterscheidung ergibt, ist also immer schon ein Begriff auf der Ebene zweiter Ordnung; der sich selbst als Form erkennen und reflektieren kann. Dieser Formbegriff auf der Ebene zweiter Ordnung erscheint hier als zentraler Grundpfeiler nicht nur der frühromantischen Kunsttheorie, sondern gleich der gesamten frühromantischen Ontologie – genauer: Kunsttheorie und Ontologie begründen sich, wie oben bereits gezeigt, in zirkulärer Weise gegenseitig. Das Stoffliche, von dem bei den Frühromantikern die Rede ist, bildet zwar die (von Benjamin hier herausgestellte) Grundlage, ist aber für den Prozess selbst nicht mehr relevant. Nur durch die Berührung qua Prozessualität von Form und Medium ist, so Benjamin weiter, für die Frühromantiker Wahrnehmung überhaupt möglich: »Wie ist Erkenntnis außerhalb der Selbsterkenntnis, d.h. wie ist Objektserkenntnis möglich? Sie ist es nach den Prinzipien des romantischen Denkens in der Tat nicht.« (WBKA 3, S. 61) Der Gegensatz der Form, das Medium, ist in diesem Sinne für die Sicherung der Kontinuität des Prozesses zuständig, für den Fortbestand der Reflexion: »So erfaßt die Reflexion gerade die zentralen, d.h. allgemeinen Momente des Werkes und versenkt sie in das Medium der Kunst, wie es eben in der Kritik des ›Wilhelm Meister‹ sichtbar sein soll.« (WBKA 3, S. 74) Die Einführung eines prozessualen Formbegriffs erfüllt bei Benjamin einen pragmatischen Zweck. Sie schließt argumentativ das eigene Buch. Nur die Unterscheidung Form/Medium in ihrer asymmetrischen Form ist kompatibel mit dem Reflexionsparadigma. Sie eignet sich dazu, die durch die Zentralstellung der Reflexion aufgehäuften Paradoxien wieder aufzulösen, die sich dadurch ergeben, dass Benjamin alle zentralen kunsttheoretischen Begrifflichkeiten auf den Begriff der Reflexion projiziert. Die solchermaßen konstruierte Form/Reflexionsmedium-Unterscheidung avanciert zur universalen Übersetzungsmethode aller romantischen Unterscheidungen in die von Benjamin präsentierte philosophische Logik. Diese Radikalisierung im Zeichen der Reflexion wird jedoch nicht eindeutig verfolgt – vielmehr stellt sich gerade zum Ende der Argumentation eine Gegenbewegung ein, die ebenfalls im Formbegriff ihren Ausgang hat. Diese Bewegung ist als Vorbereitung der späteren Interessensverlagerung Benjamins erkennbar. In späteren Schriften lässt sich eine »explizite Zuwendung zu den konkreten Materialitäten des kritischen und philologischen Geschäfts«38 erkennen, die Benjamin auch zum Vorbereiter eines starken Medienbegriffs macht.

5.2.2.

Form als Widerstand von ›Reflexion‹

In Benjamins Transkription der frühromantischen Kunstkritik vollzieht sich, wie oben gezeigt, die Akzentverschiebung des Formbegriffs weg von seiner symmetrischen hin zu seiner prozessualen Fassung. Diese Akzentverschiebung manifestiert sich in Benjamins Text in der Ersetzung der symmetrisch konzipierten Unterscheidung von Form und Gehalt oder Form und Stoff durch die bei ihm im Zeichen der Reflexion asymmetrisch konzipierte Unterscheidung von Form und Medium. In dieser Verschiebungsbe38

Krause, Pethes: Scholars in Action, S. 85. Die Autoren konstatieren damit verbunden auch die Wandlung der Kritikkonzeption hin zu einem auf »konkrete philologische Textarbeit und produktion bezogenen Begriff der Kritik« (ebd.).

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

wegung bleibt jedoch ein Rest an Symmetrie als Möglichkeit des Formbegriffs zurück, welche – wie auch schon in Schlegels Vorlesungen zur Transcendentalphilosophie zu beobachten – die Rückübersetzbarkeit des Formbegriffs und damit die Latenz des symmetrischen Gesprächsparadigmas in Bezug auf das Verhältnis von Buch und Lektüre bewahrt. Die vielfältige Schlegelsche Begriffswelt wird, wie gezeigt, mithilfe des Problem/Lösung-Paradigmas auf Reflexion konzentriert. Diese begriffliche Reduktion wird dadurch verstärkt, dass die Schlegelsche Lösung, wie bereits angesprochen, zu Ende der Dissertation mit ihrem Gegenentwurf, der Position Goethes, konfrontiert wird. Hier zeigt sich allerdings auch, dass sich der Formbegriff bei Benjamin nicht einfach in das Reflexionsparadigma als ›reines Denken‹ fügt. Vielmehr hat sich in ihm die Medialität des Problems von Öffnung und Schließung, also die Buchförmigkeit gegenüber der Lektüre, erhalten. Dies bemerkt Benjamin selbst in einem anderen Text, in seinem berühmten Vorwort zu Baudelaires Tableaux Parisiens über Die Aufgabe des Übersetzers. Benjamin bestimmt die Übersetzung hier als »eine Form. Sie als solche zu erfassen, gilt es zurückzugehen auf das Original. Denn in ihm liegt deren Gesetz als in dessen Übersetzbarkeit beschlossen« (WBKA 7, S. 11-12). Für Benjamin gilt also »der Satz: Wenn Übersetzung eine Form ist, so muß Übersetzbarkeit gewissen Werken wesentlich sein« (WBKA 7, S. 12). Was Benjamin hier und auch sonst als ›Werk‹ bezeichnet, ist im vorliegenden Zusammenhang nichts anderes als das emphatische Verständnis von Buchförmigkeit. Dieses wird nun zusammengebracht mit der Idee der Übersetzung als Form. Der Zusammenhang zwischen Werk und Übersetzung als Form ist für Benjamin ein »Zusammenhang des Lebens« (WBKA 7, S. 13): »In ihnen [den Übersetzungen als Formen] erreicht das Leben des Originals seine stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung« (WBKA 7, S. 14). Benjamins Modell der Übersetzung ist auf die Lektüre bezogen. Nicht umsonst geht es ihm zu Beginn der Frage nach der Aufgabe des Übersetzers um den »Leser« (WBKA 7, S. 12), der als empirischer Leser für irrelevant erklärt wird, als Frage nach der Möglichkeit von im Buch angelegter Lektüre jedoch seine Gültigkeit behält. Diese Möglichkeit versteckt sich wiederum im Formbegriff. Das Problem der Frühromantiker, welches in einer Vermittlung von Öffnung und Schließung, von Lektüre und Buch, bestand, bleibt auch für Benjamin bestehen. Die produktive Fehllektüre Schlegels39 setzt sich hier allerdings ebenfalls fort. Benjamin schreibt ihm zu, »vor andern Einsicht in das Leben der Werke besessen« haben, allerdings seine »ganze Aufmerksamkeit der Kritik zugewendet« zu haben, die ein »geringeres Moment im Fortleben der Werke darstellt« (WBKA 7, S. 18). Benjamins Transkription der »objektive[n] Begründung des Begriffs der Kunstkritik, die Friedrich Schlegel gibt« und welche es »mit der objektiven Struktur der Kunst […] zu tun« (WBKA 3, S. 14) hat, gipfelt, wie oben beschrieben, in einer Verabsolutierung von Lektüre als Reflexion. Der Begriff der Reflexion, den Benjamin der frühromantischen Begriffsvielfalt entnimmt und als zentralen Begriff prämiert, betont und verdeckt diesen Sachverhalt gleichermaßen. Er definiert bei Benjamin eine gerade von der symmetrischen divergierende, nämlich auf Begriffe im 39

Dazu passt auch, dass Schlegel für Benjamin »als Übersetzer ungleich bedeutender denn als Dichter« war (vgl. WBKA 7, S. 18).

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Lektüre als Form

›reinen Denken‹ setzende, Lektürepraxis. Der Begriff der Reflexion verweist in seinem Kontext also auf die Lektüre – er formatiert sie jedoch gleichzeitig um, insofern er dazu beiträgt, den frühromantischen Begriff der Kunstkritik von seinem zentralen Bezugspunkt, dem Buch, zu lösen. Diese Umformatierung stößt, wie es im Sinne der Dekonstruktion für alle Lektüren als grundsätzliche Unlesbarkeit literarischer Texte kennzeichnend ist40 , auf einen Widerstand, der sich in das Reflexionsparadigma einschleicht. Die Widerständigkeit des Formbegriffs besteht in seiner spezifischen Geschichtlichkeit, welche in die ›philosophieproblemgeschichtlich‹ orientierte, die sozial und medial übercodierten Büchergrenzen zugunsten anderer Öffnungs- und Schließungsverhältnisse auflösende, Lektüre erneut die Materialität von Lektüre und Buch einführt. Benjamins Transkription Schlegels, welche die sozial und medial ausdifferenzierten Ebenenunterschiede etwa zwischen den Fragmenten und dem Buch Lucinde sowie zwischen dem konzeptionell ›mündlichen‹ Buch41 und der konzeptionell ›schriftlichen‹ Vorlesung einebnet, bringt als Kehrseite und Widerstand gegenüber der Reflexion den Formbegriff hervor als dasjenige, was in die Reflexionsbewegung eingeht und ihr gleichzeitig entgegensteht. Die grundsätzliche Übersetzbarkeit des Formbegriffs in Richtung Asymmetrie und Symmetrie in gleichem Maße führt dazu, dass der Formbegriff gleichzeitig Komplize und Kontrapunkt der Asymmetrisierung ist und auf die mit dieser einseitigen Bewegung einhergehenden Paradoxierungen aufmerksam macht. Wie der französische Philosoph Georges Simondon betont, eignet dem Formbegriff in all seinen Verwendungskontexten jeweils die Rolle »eines strukturellen Keims, der eine bestimmte Lenkungs- und Organisationskraft besitzt«42 . Genau diese Lenkungskraft besitzt der Formbegriff auch bei Benjamin, wobei sich hier eine doppelte Wirkung entfaltet. In Bezug auf das zuvor skizzierte Reflexionsparadigma übernimmt der Formbegriff die zentrale Legitimation. Die romantische Theorie des Kunstwerks ist die Theorie seiner Form. Die begrenzende Natur der Form haben die Frühromantiker mit der Begrenztheit jeder endlichen Reflexion identifiziert […] Die Form ist also der gegenständliche Ausdruck der dem Werke eigenen Reflexion, welche sein Wesen bildet. Sie ist die Möglichkeit der Reflexion in dem Werke, sie liegt ihm also a priori als ein Daseinsprinzip zugrunde; durch seine Form ist das Kunstwerk ein lebendiges Zentrum der Reflexion. Im Medium der Reflexion, in der Kunst, bilden sich immer neue Reflexionszentren. […] Die Unendlichkeit 40

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Das Motiv des Widerstands, den die Lektüre als Widerstand des Texts gegen sich selbst enthüllt, ist ein zentrales Motiv insbesondere der amerikanischen Dekonstruktion, die stark von der Rhetorik ausgeht. Vgl. etwa de Man: Resistance to Theory. Die Verbindung von Lektüre und Widerstand wird im von Wlad Godzich verfassten Vorwort zu diesem Band treffend zusammengefasst: »Only an activity such as reading can come in touch with this process and experience the resistance of the material to the ideological overlay.« (Godzich: Foreword, S. XI) In Bezug auf den Stil ist das Buch bei Schlegel selbstverständlich nicht als konzeptionell mündlich zu betrachten, da gerade die erhöhte Aufmerksamkeit auf sprachliche Materialitäten ein Zentrum der Umsetzung einer Vision von Symmetrie ist. Allerdings ist das Buch in Bezug auf das Nähe/Distanz-Paradigma als auf paradoxe Weise konzeptionell mündlich zu kennzeichnen, insofern es den Anspruch auf liebende Rezeption als Lektüreprogramm formuliert. Simondon: Form, Information, Potentiale, S. 222.

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

der Kunst kommt zunächst allein in einem solchen Zentrum als in einem Grenzwert zur Reflexion, d.h. zur Selbsterfassung und damit zur Erfassung überhaupt. (WBKA 3, S. 78-79) Der Formbegriff stabilisiert in dieser Bestimmung des romantischen Kunstwerks den Begriff der Reflexion und übernimmt so die Rolle des Verstärkers der darin enthaltenen Asymmetrisierung. Gleichzeitig bringt er dieser einen Widerstand entgegen. Gleich eines »Anachronismus«43 im Sinne Georges Didi-Hubermanns, der aus der nie zu vervollständigen Geschichte des Formbegriffs entspringt, leistet der Formbegriff ungefähr dasselbe, das Benjamin später als ›dialektisches Bild‹ beschreibt: »Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand.« (WBGS 5, S. 578) Der Formbegriff hat sich bei Benjamin (noch) nicht vollständig von der auf die Symmetrie des einzelnen Kunstwerks und damit auf das Buch bezogenen Unterscheidung Form/Gehalt gelöst. Die Form ist einerseits als bloße Möglichkeit der Reflexion charakterisiert, also grundsätzlich durch die Operativität der Reflexionsbewegung bestimmt. Die Form wird aber gleichzeitig als gegenständlicher Ausdruck der Reflexion im Werk und somit als auch materiell bestimmbares Element eines konkreten Kunstwerks verstanden. Innerhalb der Unterscheidung Form und Medium, die nur intern auf der Schlegelschen Seite eingesetzt wird, ist der Formbegriff selbstbezüglich und richtet so eine Asymmetrie zwischen sich und der Gegenseite ein. Innerhalb der Unterscheidung von Form und Gehalt jedoch, die symmetrisch funktioniert, ist der Formbegriff die Kennzeichnung einer Seite im Kontext eines umfassenden kunstphilosophischen Problems, das Benjamin als Gegensatz zwischen Goethe und Schlegel inszeniert. Der Formbegriff ist als Begriffsperson im Sinne von Deleuze und Guattari, also als »Bedingung für den Vollzug des Denkens«44 , nicht nur passives Resultat der Lektüre und Transkription, sondern er ist in ihr als Knotenpunkt für die Verfolgung von Ambivalenzen wirksam. Diese Ambivalenz des Formbegriffs manifestiert sich insbesondere im letzten Kapitel der Arbeit, in dem die Unterscheidung von Form und Gehalt wieder eingeführt und als Unterscheidung der beiden auf das Problem der Kunst als Einheit bezogenen Lösungen Goethes und Schlegels verwendet wird. Hier stellt Benjamin der frühromantischen Formästhetik eine Goethesche Gehaltsästhetik gegenüber und installiert so gegenüber dem Reflexionsparadigma wieder die Unterscheidung Form/Gehalt als eigentlich zentrale und symmetrisch funktionierende Unterscheidung, wie auch das Verhältnis Frühromantik/Goethe als symmetrisches Gespräch. Schon der Titel des Kapitels macht deutlich, dass diese Symmetrie begleitet wird von einer doppelten unterschwelligen Asymmetrie: »Die frühromantische Kunsttheorie und Goethe.« (WBKA 3, S. 121) Die Asymmetrie der unpersönlich adressierten Kunsttheorie, die dem persönlich adressierten Künstlersubjekt Goethe gegenübergestellt wird, macht deutlich, dass erstere immer schon eine Nähe zu Benjamins dissertatorischem Vorgehen und damit zur ›Philosophie‹ eingeschrieben ist, die dem Anderen, der Kunst, dem emphatischen Buch, entgegengesetzt wird.

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Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, S. 7. Deleuze, Guattari: Was ist Philosophie, S. 7.

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Im Formbegriff bleibt die im Reflexionsbegriff eigentlich invisibilisierte Medialität der Reflexion als Verhältnis von Öffnung in der Lektüre und Schließung im Buch präsent. Dieses Problem manifestiert sich insbesondere in der Verortung des Kunstwerks für die Frühromantik – ein Problem, mit dem Benjamin seine Rekonstruktion der Frühromantik beschließt, und für die er als Lösung nur die Konfrontation mit dem Kunstwerk à la Goethe bereithält. Das Kunstwerk, so Benjamin, darf für Schlegel »nicht Torso, es muß bewegtes vergängliches Moment in der lebendigen transzendentalen Form sein«. Insofern es sich »in seiner Form beschränkt, macht es sich in zufälliger Gestalt vergänglich, in vergehender Gestalt aber ewig durch die Kritik« (WBKA 3, S. 126). Dieser Auffassung der Frühromantik stellt Benjamin nun die Position Goethes unter dem Stichwort des Gehalts gegenüber. Den Zusammenhang zwischen der herkömmlichen Unterscheidung der Ästhetik, derjenigen von Form und Gehalt, und seiner Untersuchung des frühromantischen Begriffs der Kunstkritik stiftet Benjamin im eigentlichen Text nur implizit. Klar ausgesprochen wird der Zusammenhang in zwei auf einem Einzelblatt überlieferten, thematisch eng zusammengehörenden Notizen zur Idee der Form sowie zum Gehalt. Die Notizen entstanden im Kontext der Dissertation und sind aus diesem Grund in der Kritischen Gesamtausgabe von Benjamins Schriften im Anhang veröffentlicht. Die begriffliche Argumentationslinie verläuft in diesen beiden Notizen vom eigentlich für die Arbeit zentralen Kritikbegriff über die Unterscheidung von Idee und Ideal: »Der Idee der Form (der Kritik) entspricht bei Schlegel das Ideal des Gehalts (die Mythologie).« (WBKA 3, S. 142) Auch die Arabeske taucht in dieser Zusammenschau auf. Benjamin formuliert am Ende seiner Notiz zur Idee der Form: »Die Arabeske ist die formale Erscheinung dieses Gehalts (der Mythologie).« (WBKA 3, S. 142) Benjamin bemüht sich hier zu zeigen, dass die Unterscheidung Form/Gehalt der erforderlichen Prozessualität des Reflexionsparadigmas nicht mehr gewachsen ist. Dies zeigt sich in dem extremen begrifflichen Aufwand, welchen Benjamin betreiben muss, und welcher vermutlich auch dazu geführt hat, dass diese Notiz nicht in die eigentliche Druckfassung der Dissertation eingearbeitet wurde. Für den Aufweis der Notwendigkeit einer Verschiebung der als uneigentlich markierten Unterscheidung ›Form/Gehalt‹ in die Unterscheidung ›Form/Medium‹ verwendet Benjamin ausgerechnet den Begriff der Arabeske. Die Formseite wird innerhalb der Unterscheidung von Form und Gehalt verdoppelt, insofern Benjamin die Arabeske als formale Erscheinung des Gehalts versteht. Er wiederholt dies in seinen Notizen unter dem Stichwort Gehalt (vgl. WBKA 3, S. 142). Hier notiert er: »Urgehalt: Mythologie. (Stoff Gemeiner Gehalt, gesteigert durch Ironie) wird besondrer Gehalt. Dieser ist: Arabeske, Witz.« (WBKA 3, S. 142) An dieser Stelle wiederum findet sich nun die umgekehrte Verknüpfung der bei Schlegel wie bereits erwähnt häufig vorkommenden Unterscheidung von Form und Stoff mit der Unterscheidung von Form und Gehalt. Diese Verknüpfung leistet Benjamin einmal mehr mittels der geschichtsphilosophischen Nuancierung, insofern sich eine Dreiheit von Urgehalt, Gemeinem Gehalt und besonderem Gehalt ergibt, welche die anderen für die frühromantische Ästhetik zentralen Begrifflichkeiten der Mythologie, der Ironie und der Arabeske sowie des Witzes in sich fassen können. Jeweils ist es die Form, als substantivischer Bezugsbegriff oder als modalisiertes Adjektiv, das den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Schle-

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

gelschen Begriffen und damit ihre Beziehung zur zentralen Benjaminschen Konzeption der Reflexion stiftet. Damit ergibt sich ein Widerspruch in Benjamins Argumentation. Im letzten Kapitel der Dissertation begründet er den Wechsel von einer rein romantikimmanenten Untersuchung zu einer Gegenüberstellung mit der Auffassung Goethes mit einem Ebenenwechsel, der wiederum an den Formbegriff gekoppelt ist, diesmal allerdings an die Unterscheidung Form/Inhalt: Die Frage des Verhältnisses der Goetheschen und der romantischen Kunsttheorie fällt also zusammen mit der Frage nach dem Verhältnis des reinen Inhalts zur reinen (und als solcher strengen) Form. In dieser Sphäre ist die angesichts des Einzelwerks oft irreführend gestellte und dort niemals genau zu lösende Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt zu erheben. Denn diese sind nicht Substrate im empirischen Gebilde, sondern relative Unterscheidungen an ihm, auf Grund notwendiger reiner Unterscheidungen der Kunstphilosophie getroffen. Die Idee der Kunst ist die Idee ihrer Form, wie ihr Ideal das Ideal ihres Inhalts ist. (WBKA 3, S. 128) In der Darstellung Benjamins erfordert die – hier jeweils als rein markierte – Unterscheidung von Form und Inhalt, beziehungsweise die Frage nach ihrem Verhältnis, den Wechsel von der Ebene des ›Einzelwerks‹ auf die Ebene der Kunstphilosophie, da nur hier die ›Reinheit‹ der Unterscheidungen gewährleistet ist. Allerdings bestimmt sich diese ›reine Form‹ nur im Durchgang durch das Gebilde, also im Durchgang durch die Buchförmigkeit eines konkreten Buchs und die in ihm angelegten Lektüreprogramme. Die konkrete Materialität des Gebildes bildet also umgekehrt die Grundlage für die von ihm ausgehende Möglichkeit einer begrifflich konsistenten Kunstphilosophie. Dies betont auch Benjamins Freund Florens Christian Rang in seinem Brief an Benjamin vom 10.10.1920, der gleichermaßen eine emphatische Würdigung, wie auch eine Kritik an Benjamins Lektüre darstellt. Rang kritisiert die »Zweifelhaftigkeit und Bedingtheit« (WBKA 3, S. 343), welche Benjamin im abschließenden Vergleich mit Goethe der Frühromantik unterschiebt und lokalisiert dies insbesondere in Benjamins Problematisierung des Statusʼ des Kunstwerks als Schließung: Die Begrenzung, durch die sich die Unendlichkeit des Geists in ein endliches Kunstwerk fügt, ist ein Gnadenakt des Geists, eine Gütigkeit seiner gegen ihn selb, dadurch er sich ungezwungen erlaubt, das Scheinmas//eines Zwangs auf sich zu nehmen. Seine Freiheit geht ein in die Schranken einer Notwendigkeit – die der begrenzten Werkform –, also in ein ihr Wesensfremdes, Anderes. Sie kann dies ohne Selbverlust nur, weil dieser Eintritt sie zu sich selb zurückführt: da ihr Wesen Unendlichkeit, kann endliche Formung ihr anstehn nur, sofern der Eingang in den Zwang dieser Form der Freiheit, m.a.W. der Reflexion, um eben so viel auf neuem Weg ihre Unendlichkeit eröffnet, als er auf dem Weg dieser Form ihr Unendlichkeit verschliesst. Diese Korrespektive Wieder=Verunendlichung des Kunstwerks leistet ihm das Andere, als zu symbolisierend, als dasjenige, was dem Kunstwerk sein Symbolisches aufzwingt. Denn der Zwang, jenes Andere der Freiheit, ist ebensowenig etwa leer, wie das intusspektive Reflektieren im Geist: es ist ebenfalls gefüllt mit Erfahrungsstoff. (WBKA 3, S. 345)

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Rang betont neben der Öffnung auch die Schließung des hier als Kunstwerk apostrophierten Buchs, die erst das Annehmen einer Fülle von Erfahrungsstoff ermöglicht. Der »Form des Werks« entspricht bei Rang ein »immer mitgegebene[r] Lebensinhalt« (WBKA 3, S. 346), und insofern reinstalliert Rang in seiner Auseinandersetzung mit Benjamins Dissertation auf der Grundlage seines eigenen Verständnisses der Schlegelschen Schriften die Symmetrie zwischen Form und Stoff oder Form und Gehalt, welche erst die Möglichkeit der Betrachtung einer reinen Form eröffnet. Dieses Bedingungsverhältnis, dem die Schlegelschen Verhältnisse mit dem Versuch einer Symmetrisierung von symmetrischen, auf das konkrete Buch bezogenen, und prozessualen, auf die abstrahierende Lektüre bezogenen, Begrifflichkeiten Rechnung zu tragen versuchten, wird bei Benjamin einseitig aufgelöst und in eine asymmetrische hierarchische Ebenendifferenzierung übersetzt, die jedoch durch die Identität des Formbegriffs, der gleichzeitig ornamental die Differenz der Ebenen organisieren kann, unterlaufen wird. Dasselbe lässt sich für die Transformation des frühromantischen Gesprächsparadigmas, als welches die Lektüre formatiert ist, und des informationstheoretischen Paradigmas zeigen. Auch hier erscheint Benjamins Annäherung an die Frühromantik als entscheidender Schritt hin zur Asymmetrie des Formbegriffs, der allerdings im Sinne der abschließend aufscheinenden Symmetrie Goethes und Schlegels widerrufen wird.

5.3.

Paradigmenwechsel: Von der Arabeske zum Ornament

Walter Benjamin lässt sich, folgt man den vorangegangenen Überlegungen, als zentrale Mittlerfigur zwischen zwei Versionen ›absoluter Bücher‹ betrachten: zwischen Friedrich Schlegels Vision von einem die Lektüre symmetrisch beinhaltenden Buch als Arabeske und Luhmanns im Folgenden zu schildernden Entwurf eines asymmetrisch konzipierten Buchs als Ornament. In der Polyvalenz des Formbegriffs zwischen Symmetrie und Asymmetrie deutet sich auch der Paradigmenwechsel vom symmetrischen Gesprächsparadigma hin zum asymmetrischen Informationsparadigma an. Die besondere Funktion, welche Benjamin für den hier perspektivierten begrifflichen und diskursiven Zusammenhang zwischen Schlegels und Luhmanns Texten einnimmt, lässt sich in den Begrifflichkeiten aufspüren, die Luhmann wiederholt verwendet. Immer wieder, nicht nur wenn es um Kunst geht, verwendet Luhmann den Begriff des »Reflexionsmedium[s]«45 . Entscheidend für Benjamins Präformation der Frühromantikrezeption ist seine spezifische Lektürepraxis. Wie zuvor gezeigt, zielt diese auf Begriffe in ihrer Systematizität und wechselseitigen Bezogenheit, und damit auf deren Konstanz. Das Entscheidende in der Konstruktion von Begrifflichkeiten besteht für Benjamin, 45

Im Aufsatz »Weltkunst« etwa taucht der Begriff Reflexionsmedium in Bezug auf romantische Kunst auf, Luhmann notiert dahinter »(Benjamin)« (vgl. Luhmann: Weltkunst, S. 197). In der Realität der Massenmedien wird der Begriff des Reflexionsmediums ohne Rekurs auf Benjamin und auch nicht im Kontext von Kunst verwendet. Hier heißt es nun: »Öffentlichkeit ist mithin ein allgemeines gesellschaftliches Reflexionsmedium, das die Unüberschreitbarkeit von Grenzen und, dadurch inspiriert, das Beobachten von Beobachtungen registriert.« (S. 187) Dieser kurze Ablauf zeigt die für Luhmann typische Ablösung von Begriffen aus ihren originären Kontexten.

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

zumindest innerhalb der in seiner Dissertation verfolgten Argumentation, in ihrer Redundanz, und gerade nicht in ihrer Fähigkeit zur Variation, wie sie Friedrich Schlegel in den Schriften zur Kunst und teilweise auch noch in seinen philosophischen Vorlesungen bevorzugt. Hier deutet sich schon an, dass die Begriffe für Benjamin eine andere Funktion erfüllen. Sie sind nicht mehr dazu da, Öffnung und Schließung im Sinne einer das Begriffliche übersteigenden, sozial gefüllten Gesprächssituation, einander symmetrisch gegenüberzustellen, wie dies bei Schlegel der Fall war. Sie dienen nurmehr der Schließung im Sinne einer Bewahrung der systematischen begrifflichen Ordnung. Diese Schließung zielt somit nicht mehr auf Vollkommenheit, sondern auf Systematizität – und damit auf Signalförmigkeit. Benjamins Lektüre erfüllt die Bestimmung Adornos, die philosophische Lektüre müsse sich gleichzeitig in der Sache und außerhalb der Sache, in kritischer Distanz, vollziehen. Sie gleicht, wie es Niklas Luhmann später für seine Behandlung von gesellschaftlicher Kommunikation beschreiben wird46 , einem ›Höhenflug‹ über die Texte von Friedrich Schlegel, der wiederum in seiner begrifflichen Fassung die Texte Schlegels erst anschlussfähig macht für Luhmanns ›extensive‹ Lesepraxis.47 Seine amalgamierende Lektüre bezieht sich insbesondere auf die in der Zeitschrift Athenäum veröffentlichten Fragmente Schlegels, er bezieht jedoch auch zahlreiche Vorlesungen, Essays (etwa das Gespräch über den Roman) sowie Schlegels Roman Lucinde sowie Fragmente und Vorlesungen Novalisʼ in seine Untersuchung mit ein. Dabei entwirft er ein auf den Begriff der Reflexion zentriertes Panorama der ›frühromantischen‹ Begriffslandschaft, das hochgradig anschlussfähig ist. Erst in der abstrahierenden48 Form der Benjaminschen Transkription ist Luhmanns Anschluss an diese Begriffslandschaft wie eingangs skizziert wahrscheinlich geworden. Die Einschätzung der von Benjamin entwickelten Trias aus Reflexion, Medium und Form als verfremdende Übernahme interessiert mich hier nicht unter dem Gesichtspunkt der Kriterien einer ›good scientific practice‹, unter denen dann Benjamins Vorgehen zurückzuweisen wäre. Vielmehr geht es mir im Hinblick auf diese Transformation von Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit um die Anschlussfähigkeit, welche eine solche Be- oder vielmehr Entschränkung freisetzt. Mich interessiert gerade die transkribierende Verfremdung und die damit gleichzeitig vollzogene Aneignung des 46

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Vgl. die immer wieder zitierte Wendung in Luhmanns Einleitung zu Soziale Systeme: »Diese Theorieanlage erzwingt eine Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage. Der Flug muß über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muß sich auf die eigenen Instrumente verlassen.« (S. 12-13) Auf diesen Zusammenhang weist auch bereits Norbert Bolz hin (vgl. Ratten im Labyrinth, S. 117), der aber trotz des Zugeständnisses an die produktive Rolle Benjamins doch von einem direkten Zusammenhang zwischen Schlegel und Luhmann ausgeht: »Diese eindrucksvolle Theoriearbeit haben Friedrich Schlegel und Novalis noch ausschließlich im System des Ästhetischen geleistet. Luhmann überträgt sie nun resolut auf die Gesellschaft. Seine Soziologie ist tatsächlich eine ›progressive Universalpoesie‹, die weiß, dass sie ›in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen‹ muss.« Kurz zuvor findet sich der Satz: »Luhmann übernimmt hier Walter Benjamins Interpretation des Romantisierens als ›Reflexionsmedium‹.« Karlheinz Bohrer spricht in konträrer begrifflicher Fassung gerade davon, dass Benjamin die frühromantischen Texte ›konkretisiert‹, vgl. Bohrer: Die Kritik der Romantik, S. 26. Ich verwende den Begriff der Abstraktion hier im wörtlichen Sinne, nämlich als Abziehen der medial-materiellen Erscheinung des jeweils zu lesenden Texts, etwa als ›programmiertes‹ Buch.

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zugrundeliegenden Texts. Benjamins Dissertation weist ihrerseits die Perspektive einer ›aufrichtigen Philologie‹, wie sie die Frühromantik mit Schlegel und Schleiermacher um 1800 konfiguriert, als historisch lokalisierbares und selbst hochgradig implikationsreiches Lektüreparadigma aus, das die Schließung des Buchs im Buch auf eine bestimmte Art und Weise nachvollzieht und damit bestätigt. Benjamin unterläuft diese Schließungen bewusst, errichtet sie aber in veränderter Gestalt wieder. Anstelle eines geschlossenen Buchs liest er bei Schlegel ein geschlossenes Theoriegebäude, wenn er die Erkenntnistheorie als Fundament des »Bau[s] ihrer Theorie der Kunst und der Kritik« (WBKA 3, S. 21) versteht. Damit ist bereits der erste Schritt einer Übersetzung von Schlegels zentralen Begriffen hin zu einer »selbsttragende[n] Konstruktion« (SoSy, S. 11) der Theorie geleistet. Insgesamt ist Benjamins Interesse, wie gezeigt, auf einen »Moment« der »problemgeschichtlichen Untersuchung […] des Begriffs der Kunstkritik« gerichtet (WBKA 3, S. 11). Hier werden die zwiefachen Schließungsfiguren deutlich, die im Rahmen der Untersuchung geleistet werden müssen. Einerseits muss die romantische Position als eine mögliche Lösung innerhalb des problemgeschichtlichen Zusammenhangs vereinheitlicht werden, andererseits muss der Zusammenhang selbst als Problem seine Einheitlichkeit erweisen, wie Benjamin sie im Schlusskapitel mit dem symmetrisch angelegten Goethe-Vergleich andeutet, der die zwischenzeitlich fragil gewordene Grenze zwischen eigener Methode und Gegenstand wieder zu stabilisieren sucht. Schauplatz dieser offensichtlichen Schließungsfiguren ist neben dem bereits angesprochenen Schlusskapitel die Einleitung. Hier wird über mehrere Übersetzungsketten die Konsistenz des Gegenstands, der romantischen Kunstkritik, als objektive und gerade nicht als subjektive Gegebenheit (in der Lektüre) sichergestellt. Eine erste Maßnahme ist dabei das Errichten eines Repräsentativitätsverhältnisses zwischen dem Autor Schlegel und der romantischen ›Theorie‹. Als die romantische Theorie der Kunstkritik wird im folgenden diejenige Friedrich Schlegels dargestellt. Das Recht, diese Theorie als die romantische zu bezeichnen, beruht auf ihrem repräsentativen Charakter. Nicht daß alle Frühromantiker sich mit ihr einverstanden erklärt oder auch nur von ihr Notiz genommen hätten: Friedrich Schlegel ist auch seinen Freunden oft unverständlich geblieben. Aber seine Anschauung vom Wesen der Kunstkritik ist das Wort der Schule darüber. (WBKA 3, S. 15) Schlegel gilt für Benjamin als Diskursivitätsbegründer49 , insofern die von ihm gesetzten diskursiven Rahmenbedingungen unabhängig von einer bewussten Bezugnahme

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Diesen Begriff führt Foucault in seiner Rede zum Thema Was ist ein Autor aus dem Jahr 1969 als Abgrenzung gegenüber der allgemeinen Figur des Autors ein. Diskursivitätsbegründer sind für Foucault Autoren, die »nicht nur die Autoren ihrer Werke, ihrer Bücher sind. Sie haben mehr geschaffen als das: die Möglichkeit und die Formationsregeln anderer Texte. In diesem Sinne sind sie völlig verschieden beispielsweise von einem Romanautor, der im Grunde immer nur der Autor seines eigenen Texts ist. Freud ist nicht einfach der Autor der Traumdeutung oder der Abhandlung über den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten; Marx ist nicht einfach der Autor des Manifests, des Kapitals: Sie haben eine unbegrenzte Diskursmöglichkeit geschaffen.« (Foucault: Was ist ein Autor, S. 1022)

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

der frühromantischen Autoren auf Schlegel für die Texte der Zeit gelten. Schlegels Bücher werden damit in eine umfassende Transkription des frühromantischen Begriffs der Kunstkritik als ›Theorie‹ aufgelöst. Schlegel ist nicht ein Autor im konventionellen Sinne, als Autor seiner Bücher, sondern im Sinne Foucaults verantwortlich für eine Begriffsfiguration. Das Absehen vom Buch als kommunikativem Rahmen lässt sich schon in dieser Verschiebung des Gegenstandbereichs von den Büchern eines literarischen Autors (im Falle Goethes) zur Begriffsfiguration (im Falle Schlegels) beobachten. Benjamin depersonalisiert und entindividualisiert die Texte Schlegels. Eine weitere, auf ähnliche Weise von der konkreten Materialität sowie der sozialen Einbettung der Bücher abstrahierende, Schließungsfigur ist in der Semantik des ›Problems‹ zu finden. Sie nimmt als Vorstrukturierung der gesamten folgenden Transkription bereits die aufgewiesene Zentralstellung der Reflexion sowie die Umformatierung des Formbegriffs vorweg. So wie der Formbegriff als universaler ›Abstraktionsbegriff‹ fungiert, sich aber gleichzeitig auf konkrete Eigenschaften und Merkmale bezieht, suggeriert das ›Problem‹ allgemeine Relevanz und ermöglicht gleichzeitig das Verfolgen eines partikularen Interesses, nämlich als mögliche Lösung in Bezug auf das Problem. Damit wird die Einheit des als ›Problemlösung‹ apostrophierten Gegenstands gleichzeitig konstruiert und als kontingent markiert. Das Verhältnis zwischen Problem und Lösung ist eines der Unerschöpflichkeit: »Auch kann man aus Problemen keine bestimmten Problemlösungen deduzieren, weil der Problembegriff impliziert, daß – und nur sinnvoll ist, wenn – es mehrere Lösungen gibt.«50 Problem und Lösung erweisen sich als strukturell aufeinander bezogen, als sich wechselseitig einschränkend und insofern erst hervorbringend; gleichzeitig besteht eine Asymmetrie zwischen Problem und Lösung, da sich die Lösung immer als kontingent, als konkurrierend mit anderen Lösungen verstehen muss. Die anfängliche Rede vom ›Problem‹, welches rekonstruiert werden soll, plausibilisiert die in den Gegenstand verlegte Umformatierung des Formbegriffs, der sich als Vermittlung von Problem (im Sinne der Gegenüberstellung von Form und Gehalt, also symmetrischer Formbegriff) und Lösung (Form als Medium der Reflexion, prozessualer Formbegriff) erwiesen hat. Benjamin identifiziert als ebenjenes Problem, auf welches die Frühromantik eine Antwort gibt, die Frage nach der »Kritisierbarkeit von Kunstwerken« (WBKA 3, S. 121), also die Frage nach dem Verhältnis von Lektüre und Buch. Der frühromantische Begriff der Kunstkritik und die unterschiedlichen Einstellungen, welche die Frühromantiker und Goethe – in Benjamins Darstellung – in Bezug auf die Kunst vertreten, lassen sich direkt auf diese Frage nach dem Verhältnis von Lektüre und Buch beziehen. Die frühromantische Version der Lektüre hat sich bei Benjamin als eine erwiesen, die den Moment des Anschlusses an andere Texte betont und so eine produktive Sicht auf die Lektüre vertritt. Benjamin unterschlägt dabei jedoch, wie gezeigt, die Schließungsoperationen, welche die Buchförmigkeit in der Imagination von Lektüre als symmetrisches Gespräch wieder herzustellen trachten. In der problemgeschichtlichen Rekonstruktion wird der Begriff der Kunstkritik nicht auf sein mediales Fundament, die Lektüre, zurückgeführt, sondern auf Erkenntnistheorie. »Seine [Schlegels] Theorie der Kunst, geschweige ihrer

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Luhmann: Die Praxis der Theorie, S. 137.

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Kritik, ist auf das entschiedenste auf erkenntnistheoretischen Voraussetzungen fundiert, ohne deren Kenntnis sie unverständlich bleibt.« (WBKA 3, S. 16) Benjamin macht von Beginn an explizit deutlich, dass es ihm um die »erkenntnistheoretischen Voraussetzungen« als »systematisch faßbare Momente im romantischen Denken« (WBKA 3, S. 12) geht. Die Redundanzkraft der Erkenntnistheorie schätzt Benjamin gar als so groß ein, dass sie die bis dato und auch in der heutigen Forschung immer wieder beklagte Diskrepanz zwischen dem frühen und dem späten Schlegel bzw. allgemein der frühen und der späteren Romantik überbrücken kann: »Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß gerade diese erkenntnistheoretischen Grundpositionen die statische, positive Komponente der Beziehung zwischen dem mittleren und späteren Schlegel darstellen – wobei man sich die innere Dialektik seiner Entwicklung als die dynamische, negative Komponente zu denken hätte.« (WBKA 3, S. 18) Wie insbesondere im vorhergehenden Kapitel 5.2.2, welches den Formbegriff nicht nur als Motor der Asymmetrisierung, sondern auch als Widerstand des Reflexionsparadigmas erwies, wurde deutlich, dass die Transformation des Gesprächsparadigmas in das strikt asymmetrische Informationsparadigma und damit die Transformation der Arabeske ins Ornament noch nicht vollständig vollzogen wurde. Vielmehr lässt sich von einer Ambivalenz nicht nur des Formbegriffs, sondern auch der Konzeption von Buchförmigkeit sprechen. Diese Ambivalenz spiegelt die in Kapitel 3.3 bereits beschriebene Unentschiedenheit Benjamins in Bezug auf das Buch als Medium und Format. In der Dissertation wird diese Unentschiedenheit insofern bearbeitet, als sie im Vergleich Schlegels und Goethes als polare Entgegensetzung um 1800 inszeniert wird. Benjamin betreibt so eine Auslagerung seiner eigenen ambivalenten Haltung in die problemgeschichtliche Untersuchung. Die besondere Rolle, die dem im letzten Kapitel der Dissertation angedeuteten Vergleich Frühromantik – Goethe zukommt, ist nicht nur in dieser inhaltlichen Aufteilung von Form und Gehalt auf die Frühromantik einerseits, auf Goethe andererseits begründet, sondern auch in der Methodik des Vergleich selbst. Einerseits erscheint der Vergleich als Inszenierung einer Gesprächssituation und insofern symmetrisch, andererseits enthüllt sich in ihm die Asymmetrie zwischen Lektüre und Gegenstand und damit zwischen dem Vergleichenden und den Vergleichspartnern. Der Vergleich wird somit vom symmetrischen, eingebetteten Gespräch, welches die ideale Lektüresituation der Frühromantik kennzeichnete, zum Rauschfilter, der die Zentrierung auf ein philosophisches ›Problem‹ als Verschiebung der arabesken hin zu einer ornamentalen Buchförmigkeit erweist. In diesem Kontext wird der rein prozessuale Formbegriff als Movens einer neuartigen Vorstellung von Lektüre im Sinne eines stets zu optimierenden Verhältnisses von Signal und Rauschen befördert. Die tatsächliche Ausformulierung eines solch radikalen prozessualen Formbegriffs wird bei Benjamin jedoch nicht mehr geleistet, sondern ankündigungsweise in ein zukünftiges Buchprojekt verschoben. Wie die weiteren Schriften Benjamins zeigen, wird aber dann gerade nicht die Seite der Form und des asymmetrischen Formbegriffs weiterverfolgt – Benjamin wendet sich vielmehr stärker dem in der Dissertation marginalisierten Buch zu, und darüber hinaus dem Gegenpart zur Form, dem Medium. Von diesem Interesse für das Mediale ist in der Dissertation nicht viel zu spüren. Stattdessen widmet sich Benjamin ganz offen einer begrifflichen Systematik des ›reinen Denkens‹. Die methodische Kraft wird in der Zerstreuung durch zu viele Begrifflich-

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

keiten, zu viele Referenzen getrübt und muss, für Benjamin, wiederum ans »nüchterne Licht« (WBKA 3, S. 131) der Systematik geholt werden. Hier zeigt sich ganz besonders, welche Brisanz der von Benjamin als streng systematisch eingeführten Begrifflichkeiten von Reflexion sowie der Unterscheidung von Form und Medium innewohnt, und inwiefern hier eine Übersetzung der Begriffe im Sinne einer Transformation in ein neues Paradigma verborgen liegt. Von vorneherein ist diese in eine Metaphorik der Reinigung gegenüber einer bei Schlegel vorhandenen Trübung der reinen begrifflichen Strahlkraft gebracht. Als solche Reinigung wird eben Benjamins eigene Lektüre deklariert. Das Verhältnis zu Schlegels eigener Theoretisierung von Lektüre bleibt allerdings unklar und wird nicht eindeutig aufgegriffen. Benjamin verfährt so auch uneindeutig in Bezug auf die Lokalisierung der Begriffssystematik, die zwar den Romantikern zugeschrieben wird, eigentlich aber seiner eigenen Lektüremethodik geschuldet ist. Die begriffliche Systematik, welche seine Lektüre hervorbringt, ist also als Lektüreeffekt zu begreifen, dem auf merkwürdige Weise der manifeste Gegenpol, das Buch, fehlt: Erweislich aber gegenüber allen Anzweiflungen ist, daß ihr [der Romantiker] Denken durch systematische Tendenzen und Zusammenhänge, die allerdings in ihnen selbst nur teilweise zur Klarheit und Reife gekommen sind, bestimmt wurde; oder, um es in der exaktesten und unanfechtbarsten Form auszudrücken: daß ihr Denken sich auf systematische Gedankengänge beziehen läßt, daß es in der Tat in ein richtig gewähltes Koordinatensystem sich eintragen läßt, gleichviel, ob die Romantiker selbst dieses System vollständig angegeben haben oder nicht. […] Jene systematische Beziehbarkeit erweisen, heißt aber nichts anderes, als das Recht und die Möglichkeit einer systematischen Kommentierung der frühromantischen Gedankengänge durch die Tat erweisen. (WBKA 3, S. 44) Die Beziehung der Begriffe auf ein ›richtig gewähltes Koordinatensystem‹ ist also die Leistung, die sich Benjamin selbst zuschreibt, und mit der er insofern die Möglichkeit einer ›systematischen Kommentierung der frühromantischen Gedankengänge durch die Tat‹ erweist. Insofern lokalisiert Benjamin seine Leistung nicht in der Erfindung der Begriffe, sondern vielmehr in ihrer Systematisierung, in Form einer Relationierung von Relationen, die auch für Luhmann bedeutend ist. Der eigentliche Grund dieser Systematik, ihre Legitimation, bleibt seltsam unterbestimmt. Dieses Problem wird auch in einem Brief Benjamins an Ernst Schoen vom Mai 1918 angesprochen. Hier schreibt er, für »gewisse ihrer [der frühromantischen] tiefsten Tendenzen« (WBGB I, S. 455) seien kaum Quellennachweise zu finden. Dies macht deutlich, dass sich Benjamins Lektüre keineswegs in einer reinen Rekonstruktion der frühromantischen Kunstkritik erschöpft. Vielmehr bildet sie mehr oder weniger unverhohlen die von Benjamin eher erahnten als tatsächlich gelesenen Tendenzen einer möglichen frühromantischen Erkenntnistheorie am Beispiel der Kunst ab und stützt sich dabei nicht auf die frühromantischen Texte, sondern vielmehr – aber auch hier transformierend – auf Schlegels Begriffe. Die Verlagerung der Lektüre von einem Lesen des ganzen Texts zu einem Lesen von Begriffen und der Relationierung ebenjener Begriffe in Form einer neuen Systematik deutet sich auch in Benjamins Aufsatz zur Aufgabe des Übersetzers an. Benjamin weist

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hier darauf hin, »daß gewisse Relationsbegriffe ihren guten, ja vielleicht besten Sinn behalten, wenn sie nicht von vorne herein ausschließlich auf den Menschen bezogen werden« (WBKGA 7, S. 12). In Bezug auf die Frühromantik und Benjamins Transkription der Frühromantik sind es genau solche Relationsbegriffe, die von ihren vielfältigen Referenzen, nicht nur auf den Menschen, sondern auch auf andere gegenständliche Bereiche, gelöst und als reine Relationsbegriffe in ein begriffliches, systematisches Netzwerk eingefügt werden müssen. Im Kontext dieser Reinigung der Relationsbegriffe von jeder Form der Konkretion und Subjektivierung lässt sich etwa die oben beschriebene Transformation der Einheit des Gegenstands von einem Kunstwerk hin zu einer Theorie begreifen, die Benjamin mit der Identifikation von Schlegel als Diskursivitätsbegründer betreibt. Die Rekonstruktion dieser Theorie kann dann als abstrakte Denkformation, unabhängig von ihren medialen und materiellen Realisationen sowie ihren sozialen Implikationen rekonstruiert werden. In der Konzentration insbesondere auf den Formbegriff liegen besondere Potentiale der begrifflichen Vereindeutigung beschlossen. Gegenüber Schlegels Rekonstruktion der Goetheschen Methode anhand des Romans Wilhelm Meister versucht Benjamin, die Schlegelsche Methode gerade nicht im und durch das Buch, sondern vielmehr in einem begrifflich formierten Sinne als Einheit zu begreifen. Diese begriffliche Einheit besteht für Benjamin im von ihm entwickelten Grundbegriff des Reflexionsmediums, also der Dreiheit von Reflexion, Form und Medium. Um diesen begrifflichen Zusammenhang als eigentliche Einheit und damit als eigentliche Schließungsfigur in Schlegels gesammelten Texten behaupten zu können, muss die Differenz zwischen der Buchform und den Fragmenten, die im vorliegenden Zusammenhang als Paratexte adressiert wurden (vgl. Kap. 4.1) ignoriert werden. Die bei Benjamin vorgenommene Adressierung der Frühromantik als begrifflicher Zusammenhang nimmt sie als Philosophie – im Gegensatz etwa zu Hegel – ernst: Dazu muss sie aber ihre Bedeutung als Literatur, sowohl im Sinne einer emphatischen Materialität des Buchs als auch im Sinne einer sozialen Gesprächssituation, unterlaufen. Das Paradigma des Gesprächs, das die frühromantische Buchförmigkeit begleitet und die Lektüre steuert, wird im Sinne einer begrifflichen Disziplinierung verschoben hin zum Paradigma der Information, in dem die Signalförmigkeit der Begriffe, und damit ihre Selbstidentität (die in einer Differenz besteht, vgl. dazu auch Kap. 6.1) die Schließung von Lektüre übernehmen muss. Die Paradoxie dieser Verschiebung besteht darin, dass Benjamins Aufmerksamkeit für die begrifflich-formale Seite der Frühromantik diese gleichzeitig in radikalem Sinne ernst nimmt, andererseits einen zentralen Aspekt, nämlich die emphatische Aufladung von Buchförmigkeit als paradoxe Bereicherung des mündlichen Gesprächs, unterschlagen muss. Gerade im Versuch der Freilegung des begrifflichen Kerns ist Benjamin notwendigerweise zur Vereinseitigung gezwungen, da die Vereinigung von philosophischen und poetischen Diskursformen für Schlegel, wie in Kapitel 4 gezeigt, notwendigerweise mit verschiedenen Begrifflichkeitsmodi einhergeht, die von einer rein philosophischen Festlegung, wie Benjamin sie hier anstrebt, nicht – oder nur einseitig – erfasst werden können. In der Konzentration auf die Logik von Begriffen und ihre Relation zu sich selbst bzw. zueinander liegt die Möglichkeit einer Asymmetrisierung des Begriffs gegenüber jeglichem materiellen oder sozialen Kontext, und damit die ornamentale Buchförmig-

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

keit begründet. Die Begriffe speisen sich nicht mehr aus einer spezifischen Situation, mit der sie in einem Wechselverhältnis stehen, sondern sie beziehen ihre Legitimation aus der ihnen auferlegten Konstruktion als Form, aus einer ›objektiven Gesetzlichkeit‹. Benjamin geht es um die Begriffe als Formen und die mit ihnen verbundenen Potentiale für textuelle Operationen. Dies wird von Benjamin noch einmal anlässlich des Ironiebegriffs ganz explizit ausgesprochen. Hier heißt es: »Die objektive Gesetzlichkeit, welcher das Kunstwerk durch die Kunst unterworfen ist, besteht, wie dargelegt worden, in dessen Form. Die Willkür des wahren Dichters hat also ihren Spielraum allein im Stoff, und sie wird, soweit sie bewußt und spielerisch waltet, zur Ironie.« (WBKA 3, S. 90, Herv. CC) Diese bereits angesprochene sehr eigenwillige Deutung des Ironiebegriffs, welche sich klar gegen das Reklamieren der dichterischen Subjektivität, der Willkürherrschaft des Genies stellt, rückt den ohnehin als Moment des Werks schon depotenzierten Autor51 auf die Stoffseite des Werks, eine, die insofern doppelt ausgeschlossen ist, als sie bei Schlegel schon auf die nichtpräferierte Seite der für die Kunst maßgeblichen Unterscheidung von – in seiner Version – Form und Stoff rückt, bei Benjamin dann ganz abgelöst wird durch den neuen Gegenbegriff des Mediums. Damit ist der Autor doppelt abgewertet. Seine Funktion besteht in der Transformation des Stoffs in das Medium, ein Vorgang, den Benjamin nun eben mit der Ironie bezeichnet: »Dies ist die subjektivistische Ironie. Ihr Geist ist der des Autors, der sich über die Stofflichkeit des Werkes erhebt, indem er sie mißachtet.« (WBKA 3, S. 90) Benjamin präformiert hier bereits die Luhmannsche Vorstellung von Ironie (vgl. Kap. 6.2.4), in der Ironie nicht mehr als Vervielfältigung von Bedeutungen durch Vervielfältigung der möglichen Beziehung zwischen Aussage – als begrifflicher Fassung – und Welt oder eben Subjekt verstanden wird, sondern als Reinigung der reinen Form von allen Referenzen. Ironisch ist an dieser Stelle auch, dass der Autor an ebenjene Stelle rückt, die er für den formästhetischen Zusammenhang selbst einnimmt: an die Stelle der Transformation der Unterscheidung Form/Gehalt (bzw. Form/Stoff) in die Unterscheidung Form/Medium. Die einzige Freiheit, die dem ›Subjekt‹ in dieser Rekonstruktion bleibt, ist es, den Stoff und damit den einzigen Freiraum, welchen es gegenüber der Objektivität des Werks einnehmen kann, selbst ironisch zu zerstören. Gegenüber der Beschränkung des Subjekts als Gesprächspartner in einem symmetrisch angelegten Austausch mit der anderen Seite (Buch und Lektüre) ergibt sich hier ein asymmetrisches Verhältnis zwischen rein formalem Verhältnis und seiner konkreten Ausgestaltung. Die Verschiebung der arabesken hin zur ornamentalen Buchförmigkeit lässt sich nicht nur im Umgang mit den theoretisch bedeutsamen Begriffen festmachen, sondern auch an den impliziten Darstellungsstrategien, die in Benjamins Dissertation zur Anwendung kommen. So lässt sich etwa als Textstrategie eine Übersetzung mathematischer Methoden erkennen. Im zweiten Kapitel seiner Dissertation Die Bedeutung der Reflexion bei den Frühromantikern fährt Benjamin mit der begrifflichen Verwandlung der Frühromantik fort. Er kündigt an, ein »Schema der romantischen Erkenntnistheorie« (WBKA 3, S. 29) zu liefern, und wendet sich dann der »Konstruktion« (WBKA 3, S. 29) zu. 51

Benjamin besteht auf dem in Schlegels Schriften an manchen Stellen angedeuteten »Autor als die bloße Personifikation des Werkes«, vgl. WBKA 3, S. 90.

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Das Schema rekonstruiert Benjamin in der Vorstellung des Unendlichen, also im Medium der romantischen Formästhetik, als »Unendlichkeit des Zusammenhangs« (WBKA 3, S. 28). Die Konstruktion geht dann konsequent von der Form/Stoff-Unterscheidung aus. Hier wird betont, dass es sich beim frühromantischen Denken um ein Denken »der zweiten Stufe« (WBKA 3, S. 29) handelt: »Diese Form ist das Denken des Denkens« (WBKA 3, S. 30). Mithilfe einer geometrischen Operation, die an eine Parabel erinnert, und der Einführung einer weiteren Unterscheidung, nämlich derjenigen von Subjekt und Objekt, versucht er, eine »Hilfskonstruktion zur Logisierung eines von den Romantikern nicht vollkommen klar durchgedachten Gedankengangs« (WBKA 3, S. 34) zu entwerfen. Diese Hilfskonstruktion bewegt sich gegenüber der tautologischen Formulierung des Denkens des Denkens, die von Benjamin als Denken der zweiten Stufe adressiert wird, begrifflich auf einer Ebene der Beobachtung dritter Ordnung und wird von Benjamin selbst in ihrer Vorgehensweise eingangs reflektiert: »Das scheinbar Sophistische der folgenden Analyse kann für die Untersuchung kein Hindernis bilden; denn tritt man in die Diskussion des Reflexionsproblems, wie sie der Zusammenhang erfordert, ein, so sind freilich subtile Unterscheidungen nicht zu vermeiden.« (WBKA 3, S. 32) Die subtile Unterscheidung, welche Benjamin hier zur begrifflichen Verfremdung einsetzt, ist eben die von Subjekt und Objekt: Wenn man von dem Ausdruck »Denken des Denkens« ausgeht, so ist dieser auf der dritten Stufe entweder das gedachte Objekt: Denken (des Denkens des Denkens), oder aber das denkende Subjekt (Denken des Denkens) des Denkens. Die strenge Urform der Reflexion des zweiten Grades ist durch die Doppeldeutigkeit im dritten erschüttert und angegriffen. […] Schon oben wurde darauf hingewiesen, daß das Absolutum sich selbst reflexiv, in geschlossener Reflexion unmittelbar erfaßt, während die niederen Reflexionen sich der höchsten nur in der Vermittlung durch Unmittelbarkeit nähern können; diese vermittelte muß ihrerseits wiederum der völligen Unmittelbarkeit weichen, sobald sie die absolute Reflexion erreichen. Schlegels Theorem verliert den Anschein des Abstrusen, sobald man seine Voraussetzung für diesen Gedankengang kennt. Diese erste, axiomatische Voraussetzung ist, daß die Reflexion nicht in eine leere Unendlichkeit verlaufe, sondern in sich selbst substanziell und erfüllt sei. Nur mit Hinsicht auf diese Anschauung läßt sich die einfache absolute Reflexion von ihrem Gegenpol, der einfachen Urreflexion, unterscheiden. Diese beiden Reflexionspole sind schlechthin einfach, alle anderen sind es nur relativ, von sich selbst, nicht vom Absoluten aus gesehen. Man hätte zum Behuf ihrer Unterscheidung anzunehmen, daß die absolute Reflexion das Maximum, die Urreflexion das Minimum der Wirklichkeit in dem Sinne umfasse, daß zwar in beiden durchaus der Inhalt der ganzen Wirklichkeit, das ganze Denken enthalten sei, jedoch zur höchsten Deutlichkeit in der ersten entfaltet, unentfaltet und undeutlich in der andern. (WBKA 3, S. 33-34) Diese Passage ist hier so ausführlich zitiert, weil sich an ihr besonders gut beobachten lässt, wie sich bei Benjamin die Übersetzung in das informationstheoretische Paradigma, in der Lektüre als Übertragung von eindeutigen Signalen gefasst ist, vollzieht. Die Systematisierung in axiomatische Voraussetzungen und die Evokation eines Minimums und Maximums lassen sich als ornamentale Schließungsfigur begreifen. Sie

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

projizieren die bei Schlegel variierenden Begrifflichkeiten auf ein graphisches Schema, welches diesen als nichtbegriffliche Organisation unterliegt. Die hierzu angewendete Nachahmung von mathematischen, also nichtbegrifflichen Vorgehensweisen, etwa in der Verwendung der Klammern zur Abgrenzung des Genitivus subjectivus vom Genitivus objectivus ist auf der graphischen und metaphorischen Ebene deutlich erkennbar. Eine weitere, in dieselbe Richtung weisende metaphorische Strategie ist die Evokation von Räumlichkeit. So spricht er etwa von der ›Unterscheidung von Deutlichkeitsstufen‹, und entwirft so ein konkret räumliches, wiederum an eine Parabel erinnerndes, Bild des Schlegelschen Textkorpus, das dieses von einer Arabeske in ein Ornament umformt. Es entsteht der Eindruck, man könne einzelne Textelemente Schlegels auf dieser imaginären Parabel eintragen. Benjamin spricht an anderer Stelle auch von dem »Versuch, im Begriff des Reflexionsmediums dem Denken der Frühromantiker ein methodisches Gradnetz zu unterlegen, in das sich ihre Problemlösungen wie ihre systematischen Positionen überhaupt einzeichnen ließen« (WBKA 3, S. 43). So wird eine Asymmetrie zwischen den tatsächlichen Begriffen und dem sie organisierenden, nichtbegrifflichen Prinzip eingerichtet, welche die tatsächliche Materialität des Texts als für die Schließungsfigur unerheblich deklassiert – genau die ornamentale Figur, die bei Luhmann zentral zum Einsatz kommen wird (vgl. Kap. 6.4.3). Dieses asymmetrische Verhältnis wird bei Benjamin jedoch noch nicht vollständig radikalisiert, sondern gekoppelt mit einem symmetrischen Verhältnis des Gesprächs, das sich in der Gegenüberstellung von Goethe und den Frühromantikern findet: »Die Kunsttheorie der Frühromantiker und die Goethes sind in den Prinzipien einander entgegengesetzt.« (WBKA 3, S 121) Diese symmetrische Gegenüberstellung wird in der Dissertation zum Begriff der Kunstkritik ausgesagt, allerdings methodisch nicht eingelöst, insofern der »breite[...] Zusammenhang, welchen sie fordert, an anderer Stelle gegeben werden« (WBKA 3, S. 121, Anm. 300) soll. Wie oben bereits angemerkt, lässt sich Benjamins Text zu Goethes Wahlverwandtschaften auch methodisch als Teil dieses größeren Zusammenhangs fassen, insofern er hier die Einheit wiederum in einem emphatisch als Werk verstandenen Buch, und gerade nicht in einem Zusammenhang von Begriffen findet. Die symmetrische Gegenüberstellung von Goethe und den Frühromantikern evoziert bei all der Asymmetrie, die schon in diesem Titel aufscheint, dennoch die Vorstellung eines symmetrischen und konkreten Gesprächs. Benjamin beschreibt etwa die »radikale Polemik gegen die Goethesche Lehre von der kanonischen Geltung der griechischen Werke« (WBKA 3, S. 126), welche die Romantiker haben führen müssen. Auch formal vollzieht sich die symmetrische Gegenüberstellung etwa in einer Aneinanderreihung von sich entgegengesetzten Parallelismen: »Die Romantiker bestimmen die Relation der Kunstwerke zur Kunst als Unendlichkeit in der Allheit – das heißt: in der Allheit der Werke erfüllt sich die Unendlichkeit der Kunst; Goethe bestimmt sie als Einheit in der Vielheit – das heißt: in der Vielheit der Werke findet sich die Einheit der Kunst immer wieder. Jene Unendlichkeit ist die der reinen Form, diese Einheit die des reinen Inhalts.« (WBKA 3, S. 128) Im letzten Kapitel zieht sich Benjamin also auf die Symmetrie und damit auf den Status des eigenen Texts als Lektüre zurück. Die Möglichkeit einer eigenständigen, geschlossenen ›Kunstphilosophie‹ (als Buch) wird in den Raum gestellt, aber in das Au-

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ßerhalb des eigenen Buchs verschoben, das sich insofern als Vorläufiges ausgibt: »Die systematische Grundfrage der Kunstphilosophie läßt sich also auch als die Frage nach dem Verhältnis von Idee und Ideal der Kunst formulieren. Die Schwelle dieser Frage kann die vorliegende Untersuchung nicht überschreiten, sie konnte allein einen problemgeschichtlichen Zusammenhang soweit ausführen, bis er auf den systematischen mit völliger Klarheit deutete.« (WBKA 3, S. 128) Benjamin steht zwischen der Frühromantik und Luhmann, insofern er einen Hang zur Systematik aufweist, diesen aber auch aufbricht und um die Betonung des Symmetrischen, Nicht-Abstrakten ergänzt. Dies zeigt sich auch in seinen Veröffentlichungen, die kaum aus monumentalen Büchern, sondern vielmehr aus zerstreuten Aufsätzen, Notizen und Lektüredokumenten bestehen.52 Die Ambivalenz in Bezug auf die Möglichkeit und das Potential einer begrifflichen Systematik wird außerdem deutlich im 1928 erschienenen Buch zum Ursprung des deutschen Trauerspiels. Auch hier rekurriert Benjamin in der Erkenntniskritischen Vorrede auf die Philosophie und problematisiert die »Frage der Darstellung« (WBGS I.1, S. 207) und hier gerade die »Abgeschlossenheit« (WBGS I.1, S. 207). Gegenüber der Arbeit zum Begriff der Kunstkritik, in der er seinen Zentralbegriff, den Begriff der Reflexion, als frühromantischen »Stil des Denkens« (WBKA 3, S. 19)53 fasst, ist der Ausgangspunkt in der Erkenntniskritischen Vorrede des Trauerspielbuchs gerade die Erkenntnis, dass es nicht »in der Gewalt des bloßen Denkens« liege, dem »philosophischen Schrifttum« (WBGS I.1, S. 207) ebenjene Abgeschlossenheit zu verleihen.54 Diese einleitenden Sätze zeigen bereits, dass sich das Trauerspielbuch genau gegensätzlich zum Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik verhält.55 Ge52

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Siehe etwa Sussmann: Around the Book, S. 111: »In several senses, The Aracdes Projekt is his Book of the Future, his draft for the future of the book, a time capsule addressed to the future from a moment of unheralded achievement in sociopolitical, logistical, hegemonic, administrative, and informational control, and by this I mean the cosmopolitan, urban nineteenth-century city, with its backdrop of global commerce and trade.« Ich interpretiere dieses Projekt insofern als Betonung des Symmetrischen, Nicht-Abstrakten, weil gerade die Form des Fragmentarischen die immer nur im Sozialen, und damit Konkreten mögliche Schließung der ›geöffneten‹ Form betont, und insofern näher am Gesprächs-Paradigma lokalisiert ist. Im ersten Satz definiert Benjamin die Reflexion, wie bereits zitiert, als das »im Selbstbewußtsein über sich selbst reflektierende Denken« (WBKA 3, S. 19). Der Begriff des Denkens kommt auf dieser ersten Seite des ersten Teils insgesamt neunmal vor. Benjamin unterscheidet hier nun selbst verschiedene Erkenntnisformen, und siedelt die Philosophie explizit in der sprachlich vermittelten Erkenntnis gegenüber einer mathematischen Erkenntnis an: »Philosophische Lehre beruht auf historischer Kodifikation. So ist sie denn auch more gemoetrico nicht zu beschwören. Wie deutlich es Mathematik belegt, daß die gänzliche Elimination des Darstellungsproblems, als welche jede streng sachgemäße Didaktik sich gibt, das Signum echter Erkenntnis ist, gleich bündig stellt sich ihr Verzicht auf den Bereich der Wahrheit, den die Sprachen meinen, dar. Was an den philosophischen Entwürfen Methode ist, das geht nicht auf in ihrer didaktischen Einrichtung.« (WBGS I.1, S. 207) Der Terminus der Kodifikation macht hier bereits deutlich, dass die im Begriff der Kunstkritik nicht vorhandene Aufmerksamkeit auf das Buch umschlägt in eine Konzentration gerade auf die Buchförmigkeit der Philosophie. In diesem Kontext ist interessant, dass die Erkenntniskritische Vorrede mit einem Goethe-Zitat aus den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre eingeleitet wird. Dieses lautet: »Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innre, dieser das Äußere fehlt, so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit erwarten. Und zwar haben wir diese nicht im Allgemeinen, im Über-

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

genstand ist nun eben nicht mehr das ›bloße Denken‹, sondern vielmehr die Frage der Darstellung und somit der Sprache einerseits, der Geschichte andererseits.56 Für diese wiederum ist die Differenz zwischen Rede und Schrift für Benjamin entscheidend: Während der Redende in Stimme und Mienenspiel die einzelnen Sätze, auch wo sie an sich selber nicht standzuhalten vermöchten, stützt und sie zu einem oft schwankenden und vagen Gedankengange zusammenfügt, als entwerfe er eine groß andeutende Zeichnung in einem einzigen Zuge, ist es der Schrift eigen, mit jedem Satze von neuem einzuhalten und anzuheben. Die kontemplative Darstellung hat dem mehr als jede andere zu folgen. Für sie ist es kein Ziel mitzureißen und zu begeistern. Nur so wie in Stationen der Betrachtung den Leser einzuhalten nötigt, ist sie ihrer sicher. (WBGS I.1, S. 209) Die Problematik eines Medienwechsels zwischen Rede und Schrift in der philosophischen Darstellung führt zu einer Orientierung am platonischen Symposion sowie damit einhergehend an der Liebe (vgl. WBGS I.1., S. 210) Hier bestimmt er nun, anders als in seiner Dissertation zur Kunstkritik, die Begriffe im Sinne einer »Vermittlerrolle« (WBGS I.1, S. 214), und zwar insofern sie jeweils »Konfiguration« (WBGS I.1, S. 214) einer Idee sind. Die Überformung der begrifflichen Systematik durch das Gespräch, die ich für Schlegel und insbesondere für die Lucinde beschrieben habe, kehrt bei Benjamin als Lektüreprogramm zurück; allerdings als nostalgisches Lektüreprogramm: »Sache des Philosophen ist es, den symbolischen Charakter des Wortes, in welchem die Idee zur Selbstverständigung kommt, die das Gegenteil aller nach außen gerichteten Mitteilung ist, durch Darstellung in seinem Primat wieder einzusetzen. Dies kann, da die Philosophie offenbarend zu reden sich nicht anmaßen darf, durch ein aufs Urvernehmen allererst zurückgehendes Erinnern einzig geschehen.« (WBGS I.1, S. 216-217)

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schwänglichen zu suchen, sondern, wie die Kunst sich immer ganz in jedem einzelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die Wissenschaft sich auch jedesmal ganz in jedem einzelnen Behandelten erweisen.« (Ich zitiere hier nach Benjamins Zitat). Die in diesem Zitat aufscheinende Verbindung von Wissenschaft und Kunst sowie von individuellem ›Werk‹ und Diskurs ließe sich genausogut mit Zitaten Schlegels adressieren, wie in Kapitel 4.1 deutlich geworden ist. Im Rahmen der diametralen Gegenüberstellung Frühromantik – Goethe jedoch kommt es selbstverständlich Goethe zu, die Wendung hin zum konkreten ›Werk‹ einzuleiten. Beide Bereiche und insbesondere ihre Überschneidungen sind für das Interesse des späteren Benjamins maßgeblich, vgl. dazu etwa seine Überlegungen in Über den Begriff der Geschichte: »Der materialistischen Geschichtsschreibung ihrerseits liegt ein konstruktives Prinzip zugrunde. Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert. Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit. Er nimmt sie wahr, um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen; so sprengt er ein bestimmtes Leben aus der Epoche, so ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk. Der Ertrag seines Verfahrens besteht darin, daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben. Die nahrhafte Frucht des historisch Begriffenen hat die Zeit als den kostbaren, aber des Geschmacks entratenden Samen in ihrem Innern.« (WBGS I.1, S. 702-703)

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Lektüre als Form

Das Schlegelsche Gespräch als Lektüreprogramm erscheint bei Benjamin nicht mehr als tatsächliches Gespräch, sondern als sich in der menschlichen Sprache und gerade nicht zwischen Subjekten vollziehendes Gespräch. Dennoch vollzieht sich in dieser Bestimmung der Philosophie eine entscheidende Neukonzeption der Lektüre, welche die Prozessualität und Selbstbezüglichkeit der Begriffe, die in der Dissertation hervorgebracht wurde, entscheidend einschränkt. Begriffe sind zwar immer noch »Filter«57 , werden aber gleichzeitig grundlegend medial58 und insofern eben nicht selbstlegitimierend konzipiert. Die im Zeichen der Verbindung von Reflexion und Formbegriff angestoßene Transformation des konkret und sinnlich lokalisierten arabesken Gesprächsparadigmas in das abstrakte, ornamentale Informationsparadigma wird in den späteren Texten Benjamins zurückgenommen. Für Benjamin ist das Buch im Sinne dieser Vorstellung von Lektüre als Gespräch59 nicht nur ein Medium der Schriftverbreitung, das durch bessere Medien, eben etwa den Zettelkasten, ersetzt werden könnte, sondern gleichzeitig »the very volume, space, forum, foyer, scene and abyss for cultural articulation and public discussion and for critical apprehension«60 . Benjamins Zerrissenheit in Bezug auf die Buchförmigkeit spiegelt also diejenige Schlegels, welche in der Diskrepanz zwischen den Formbegriffen im ästhetischen und im philosophischen Bereich greifbar wird. Insofern Benjamin diese Diskrepanz aber nicht in der Frühromantik selbst lokalisiert, sondern als Spannungsfeld zwischen frühromantischer und Goethescher Position aufbaut, trägt er zu einer vereinseitigenden Rezeption Schlegels bei. Die Annäherung an die Frühromantik im Register der Philosophie macht eine Auseinandersetzung mit der spezifisch Schlegelschen Buchförmigkeit unmöglich – für emphatische Buchförmigkeit steht einzig und allein Goethe. Die Gegenüberstellung von Goethe und Schlegel als Antipoden – oder auch als Geschwister61 – stattet die kohärente, begrifflich elegante Rekapitulation der frühromantischen Begriffsvielfalt und -uneindeutigkeit mit zusätzlicher Evidenz aus. Dem einen wird radikal die Öffnung (Lektüre), den anderen radikal die Schließung (das Buch) zugewiesen. Diese Gegenüberstellung tradiert die frühromantischen Begrifflichkeiten als kontextungebundene, nicht mehr in ein soziales Gespräch eingelassene und insofern signalförmige Einheiten, die nun eine zentrale Stellung für

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Urbich: Darstellung bei Walter Benjamin, S. 153. Vgl. ebd., S. 155: »In dieser Doppelbewegung des Begriffs von (analytischer) Auftrennung und (synthetischer) Verbindung, die jedoch das analytische Moment als Differenzierungsmedium gerade bewahrt, verbirgt sich zugleich das Mediale des Begriffs selbst.« Siehe auch Sussmann: Around the Book, S. 134-135: »When the community of the book is dismembered, when each book abandons its potential to become a quasi-institution of discourse, then the prospects for the book as a medium of information and thinking has undergone a detrimental reversal. History is replete with instances and explanations of the crisis of the book during the last two decades of Benjamin’s life.« Ebd., S. 111. Vgl. WBGS I.1, S. 176: »Man setze, daß man einen Menschen kennen lerne, der schön und anziehend ist, aber verschlossen, weil er ein Geheimnis mit sich trägt. Es wäre verwerflich, in ihn dringen zu wollen. Wohl aber ist es erlaubt zu forschen, ob er Geschwister habe und ob deren Wesen vielleicht das Rätselhafte des Fremden in etwas erkläre. Ganz so forscht die Kritik nach Geschwistern des Kunstwerks. Und alle echten Werke haben ihre Geschwister im Bereiche der Philosophie. Sind doch eben jene die Gestalten, in welchen das Ideal ihres Problems erscheint.«

5. Reflexion: Form gegen Lektüre

die Luhmannsche Theoriearchitektur einnehmen können. Diese Transformation einer materiell buchförmigen Schließung in eine rein begriffliche, asymmetrische Schließung wird vorbereitet, aber nicht ausgeführt. Die Weiterentwicklung dieser asymmetrisierenden Schließungsfiguren lässt sich am besten verfolgen, wenn man den Wirkungen der Benjaminschen Frühromantiklektüre in Niklas Luhmanns Büchern nachgeht.

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6. Ornament: Signal/Rauschen Am Ende unserer Untersuchungen kann nicht noch ein Buch im Buch geschrieben und das damit angedeutete Programm einer Wissenschaftstheorie in plausible Aussagen umgesetzt werden. SoSy, S. 661.

Die bekannteste theoriehistorische Einschätzung der Systemtheorie stammt von Luhmann selbst. In einem zuerst in der Frankfurter Rundschau erschienenen Interview mit Rainer Erd und Andrea Maihofer verkündet er im Jahr 1985: »Ich habe bei Büchern keine Perfektionsvorstellung. […] Was ich bisher geschrieben habe, ist alles noch Nullserie der Theorieproduktion – mit Ausnahme vielleicht des zuletzt erschienenen Buches Soziale Systeme.«1 Soziale Systeme wird von Luhmann als Startschuss der Theorieproduktion inszeniert. Der Schriftsteller Dietmar Dath nennt das 1984 erschienene Buch eine »Programmschrift«2 . Ganz offenbar ist das Produzieren von Theorie im Sinne eines Lektüreprogramms für Luhmann also, wie das Produzieren von Romanen für Schlegel, emphatisch an die Form des Buchs geknüpft. Im Rahmen eines anderen Interviews legt Luhmann nahe, »bestimmte Problemtypen oder bestimmte historische Zusammenhänge oder was immer in Kurzform zu publizieren und das zu unterscheiden von der Systematik des Theorieapparates, die dann in dicken Büchern erscheinen müßte«3 . Die in diesen Bemerkungen aufscheinende Spezifik des Buchs Soziale Systeme wird hier in vier Schritten als Gegenentwurf zur Schlegelschen Romanbibel bestimmt. Zunächst werde ich in Kap. 6.1 die eingangs zitierte theoriehistorische Einschätzung Luhmanns, die seine Schriften vor Soziale Systeme als Nullserie der Theorieproduktion ausflaggt, reformulieren als Transformation eines chaotischen Rauschens in eine Unterscheidung: Signal/Rauschen. Die Etablierung dieser Unterscheidung werde ich an der Form des Interviews aufzeigen und insofern hier schon deutlich machen, dass die Form des Buchs nicht mehr materiell, sondern ereignishaft, als sich plötzlich vollziehende 1 2 3

Luhmann: Biographie, Attitüden, Zettelkasten, S. 142. Dath: Hegel, S. 47. Luhmann: Schwierigkeiten mit dem Aufhören, S. 95.

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Lektüre als Form

Asymmetrisierung zu verstehen ist. Diese spezifische Form des Buchs wird als Metatext bezeichnet. Im zweiten Unterkapitel (6.2) geht es um die Struktur der auf den ersten Blick stark mit frühromantischen Begriffen identisch erscheinenden Begrifflichkeiten, die zum Luhmannschen »Begriffsarrangement«4 beitragen. Hier weise ich gegenüber dem Nebeneinander von prozessualen und symmetrischen Begriffen bei Schlegel die Luhmannsche Virtualisierung von prozessualen Begriffen hin zu einem abstrakten Netz aus reinen Adressen nach. Dieses abstrakte Netz spiegelt die materielle und logische Struktur des Zettelkastens auf der Ebene der Theorieförmigkeit wider. Paradigmatisch dafür ist der Formbegriff, auf welchen ich meine Lektüre im darauffolgenden Unterkapitel (6.3) einenge. Hier zeige ich, dass der Formbegriff für die performative Schließung der virtualisierten Buchförmigkeit als inneres Ornament zentral ist. Als prozessualer Begriff per se kommt ihm die Funktion zu, die Abgeschlossenheit des Theoriegebäudes als dessen begriffliche Konsistenz zu gewährleisten. Diese Funktionalisierung desselben lässt sich anhand der genealogischen Entwicklung des Formbegriffs in Luhmanns Texten aufweisen, die ich der theorieinternen offiziellen Herleitung aus George Spencer Browns Laws of Form gegenüberstelle. Das vierte Unterkapitel (6.4) faltet die sich aus den vorherigen Analysen ergebende ornamentale Buchförmigkeit aus. Diese wird strukturell an Luhmanns Buch Soziale Systeme aufgewiesen. Als verdeckte Selbstbeschreibung betrachte ich Luhmanns Buch zur Kunst der Gesellschaft (1995). Kapitel 6.5 schließlich skizziert ausblickshaft Dirk Baeckers formtheoretischen Anschluss an die Systemtheorie, welcher das »damit verbundene Verständnis von Theorie«5 im emphatischen Sinne, nämlich als möglichst signalförmige Kommunikation, radikalisiert.

6.1.

Rauschen und Rauschen: Das Interview als Metatext

Eines der bekanntesten im Internet kursierenden Videos, die Luhmann in Aktion zeigen, ist eine Philosophie heute-Sendung, die 1989 als Beitrag zur Ökologie-Debatte im WDR ausgestrahlt wurde.6 Nach Vorspann und Titelmelodie setzt das Video abrupt mit dem Close-Up Shot einer Demonstrationsszene (0:18-0:20) ein, begleitet von lärmendem Chaos der Auseinandersetzung zwischen Polizisten und Demonstranten, bei der erstere mit Schlagstöcken auf letztere einprügeln. Neben unidentifzierbaren Schreien lassen sich einige Beschimpfungen ausmachen. Der erklärende Kommentar zu dieser Szene voller Chaos und Gewalt beginnt erst nach einer halben Minute (0:31): »Wackersdorf. Kernkraftgegner und der Staat treffen aufeinander. Aus der Ökologiekrise entstand eine soziale Krise. Das Klima vor Ort ist feindlich. Gewalt eskaliert.« (0:31-0:42) Die Szene aus Wackersdorf schließt mit den Bildern einer Festnahme ab, die immer 4 5 6

Ellrich: Die Konstitution des Sozialen, S. 24. Von Stetten: Verfremdungsspiele, S. 23. https://www.youtube.com/watch?v=_kcdOKeBlns.Ich verwende das frei zugängliche YoutubeVideo als Quelle und beziehe mich bei den Zeitangaben im Folgenden auf diesen Weblink. Es gibt außerdem eine VHS-Kassette, die allerdings nicht mehr verfügbar ist.

6. Ornament: Signal/Rauschen

noch im Medium Close-Up, in relativer Nähe zur Situation gefilmt ist. Der abgeführte Demonstrant gibt Tiergeräusche von sich (0:45-0:50). Hier erfolgt ein harter Schnitt. In der nächsten Einstellung sieht man Niklas Luhmann, ebenfalls im Medium Close-Up Shot. Dem etwa vom brasilianischen Filmwissenschaftler und Kritiker Jean-Claude Bernadet beschriebenen »standardisierte[n] Dispositiv«7 für dokumentarische Interviews mit Experten folgend, ist er mittig positioniert und wendet sich leicht seitlich geneigt gleichermaßen seinem Gesprächspartner wie dem Fernsehpublikum zu.8 Diese Disposition hat ein imaginäres Zentrum, und das ist der Platz neben der Kamera, wo sich der Regisseur aufhält. […] Die Kamera filmt einen Blick, der auf die Grenze ihres Blickfeldes gerichtet ist, weil sich hier der Punkt befindet, auf den das Interesse des Interviewten gerichtet ist, das heißt, die Person, an welche er sich wendet. Es ist nicht nur der Blick, der auf diesen Punkt gerichtet ist, sondern auch die Worte sind es. Das heißt, im gleichen Maß wie der Blick sind die Worte auf den Cineasten ausgerichtet. Die Vorherrschaft des Interviews als Vorgehensweise hat eine weitere Konsequenz: Sie impliziert eine Vorherrschaft des Verbalen. Der Dokumentarfilmer erhält nur die Informationen, deren Aussprechen seine Frage zu motivieren vermag, verbalisierbare Informationen, solche also, die der Interviewte erfahren hat und seinerseits verbalisieren kann. Die fast völlige Herrschaft über das Interview verengt das Blickfeld des Dokumentarfilmers beträchtlich: die Haltung, der Gang, die Gestik, die Kleidung, der Gegenstand des Gesprächs, die Umgebung, der nichtverbale Ton usf. spielen keine Rolle.9 Was Jean-Claude Bernadet für den Dokumentarfilm als Nachteil beschreibt, weil insofern die Person mit ihren diversen sozialen und körperlichen Facetten in den Hintergrund tritt, wird für die Inszenierung Luhmanns als Wissenschaftler in der Philosophie heute-Sendung zur Ökologiediskussion gerade ausgenutzt. Der harte Schnitt zwischen den chaotischen Zuständen auf der Demonstration in Wackersdorf und der ruhigen Umgebung auf Luhmanns Balkon in Oerlinghausen verstärkt die aufgerufenen Differenzen. Die ästhetische Neutralität, welche die Intervieweinstellung gegenüber der Person und ihren Attributen evoziert, unterstützt den Eindruck von beruhigender Professionalität, der durch die unverändert intakt aussehenden Bäume im Hintergrund begleitet wird. Die ›Vorherrschaft des Verbalen‹ impliziert eine Bewältigung des chaotischen Rauschens durch das Signal des Experten. Mit seinem Auftritt wird das vortheoretische Rauschen in ein nachtheoretisches, asymmetrisches Verhältnis von Signal und Rauschen, und damit in Ordnung transformiert. Die bedrohliche Situation in Wackersdorf wird auf Luhmanns Balkon begrifflich im Handumdrehen bewältigt und vereindeutigt. »Für unsere Gesellschaft scheint es eindeutig erstens immer um ein Risiko zu gehen, das verschieden eingeschätzt wird, um verschiedene Werte und letztlich um die Frage, wie man zu einer vernünftigen Lösung kommt,« (0:50-1:06) beginnt Luhmann. 7 8

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Bernadet: Das Interview, S. 119. Ebd. Bernadet beschreibt das »standardisiertes Dispositiv für das Interview« wie folgt: »Der Interviewte bleibt im Blickfeld der Kamera, im allgemeinen ihr gegenüber. […] Sein Blick geht dicht am Objektiv vorbei, rechts oder links, in Richtung auf den Interviewer, der gewöhnlich der Regisseur ist und die Frage stellt, auf die der Interviewte in halbnaher Einstellung antwortet.« Ebd., S. 119-120.

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Lektüre als Form

In diesen einleitenden Sätzen ist die im Dokumentarfilm ausgespielte Ästhetik des Experteninterviews als Ästhetik der Theorie bereits vollständig enthalten. Die chaotische Verschiedenheit, die von Luhmann mit einem gnädigen Kopfnicken zugestanden wird (0:57), wird transformiert in die Eindeutigkeit der begrifflichen Adressierung als ›Risiko‹, die eine vernünftige Lösung möglich macht. Voraussetzung dafür ist der Wille, das chaotische Rauschen in ein asymmetrisches, geordnetes Verhältnis von Signal und Rauschen, in zusammenhängende, neutrale Begriffe und damit in ein kartiertes Gebiet zu transformieren. Die vernünftige Lösung ist »eine Frage, die eigentlich nur politisch beantwortet werden kann, oder die eine Anforderung an die Gesellschaftstheorie ist: »Wie machen wir uns unsere eigene Gesellschaft verständlich.« (1:06-1:18) Das Verständlichmachen vollzieht sich im Rahmen der Dokumentation als Wechsel zwischen Schauplätzen, die sich diametral entgegenstehen und entlang der Unterscheidung von Rauschen und Signal funktionieren. Den unverständlichen Tierlauten der umfassend körperlich und persönlich betroffenen Demonstranten, dem ununterschiedenen Rauschen, steht die rein verbal funktionierende Verständlichkeit als begriffliche Lösung, als Signal, gegenüber; der unbewältigten Vielfältigkeit der Werte die beruhigende Selbstidentität des Vernünftigen. Die mit dem Auftritt des Theoretikers eingerichtete asymmetrische Opposition10 zwischen Rauschen und Signal setzt sich im weiteren Verlauf der Dokumentation fort. Ein weiterer harter Schnitt führt nach der Aufforderung, die eigene Gesellschaft verständlich zu machen, zurück zum Rauschen: zu singenden, sich an den Händen haltenden Demonstranten (1:18-1:25). Diese erste nachtheoretische Rauschszene wirkt bereits deutlich weniger bedrohlich – sie strahlt das Licht der Hoffnung, der kommenden Vernunft aus. Die kommentierende Stimme im Off sinniert passenderweise über verschiedene Modi des Vernünftigen: »Es ist vernünftig, das Leben künftiger Generationen zu schützen. Doch es ist auch vernünftig, den Rechtsstaat zu verteidigen. So wird um die Vernunft gestritten. Doch irgendwie müssen wir lernen, mit dieser Gesellschaft zurecht zu kommen, schreibt Niklas Luhmann. Es ist keine andere in Sicht.« (1:25-1:47) Das ununterschiedene, tierische Rauschen ist transformiert in ein Verhältnis von Einheit und Differenz: die Vernunft macht es möglich, zwischen verschiedenen Modi ihrer Interpretation zu vermitteln und – im Sinne der für Schlegel und Schleiermacher beschriebenen Dialektik als Streit – zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Der Modus dieses vernünftigen, eben nichttierischen Umgangs mit der Gesellschaft ist schriftlich formiert: »Wir müssen lernen, mit dieser Gesellschaft zurecht zu kommen, schreibt Niklas Luhmann.« Nur das Medium der Druckschrift ermöglicht den Status als Beobachter im Krähennest, so der Titel der Sendung, der direkt anschließend über den Long Shot einer Stadt eingeblendet wird (1:48). Mit dem Krähennest ist die Position eines »Seemann[s] in seinem Ausguck« adressiert, der »aus sicherer Distanz«11 nach unten blickt – so wie die Kamera in der begleitenden Einstellung auf die menschenleere Stadt. Die eingangs aufgerufene diametrale Gegenüberstellung von Rauschen und Signal bleibt über die Dokumentation hinweg erhalten. Der »Übertreibung« (2:57) und der »Schmalspurigkeit [des] thematischen Interesses« (3:01-3:03) steht 10 11

Vgl. auch Baecker, Stanitzek: Plastische Asymmetrie, S. i: »Das Interview ist kein Dialog. Es akzeptiert im Gegensatz zu diesem eine grundlegende Asymmetrie zwischen den Gesprächspartnern.« Gugutzer, Böttcher: Zur Einführung, S. 10.

6. Ornament: Signal/Rauschen

in Luhmanns Einschätzung die »mehr ausgeglichene soziale Diskussion« (3:33-3:35) gegenüber. Luhmanns Beitrag dazu besteht im Rahmen des Interviews in zwei Transformationen: zum einen transformiert er die inhaltlichen Fragen, etwa nach umweltverträglichem oder umweltschädlichem Handeln, nach Schuld und Verantwortung, in methodische Fragen nach der Form der solcherart verfahrenden Kommunikation: »Wenn man also Moral einführt in einen Kommunikationszusammenhang, dann urteilt man nicht nur gut, und das Schlechte bleibt weg, sondern man macht eine Differenz, eine Unterscheidung: dies ist gut, und dies ist schlecht.« (4:18-4:31) Daraus ergibt sich die zweite Transformation – die Frage nach dem angemessenen Ort einer solchen begrifflichen Unterscheidung: »sodass man immer fragen muss, wann ist es denn angebracht, eine solche Unterscheidung zu machen« (4:33-4:37). Diese zwei Transformationen, die Luhmann explizit einfordert und gleichzeitig performativ ausagiert, erweisen das Interview als metatextuell; zunächst in Bezug auf die beschriebenen gesellschaftlichen Vorgänge, aber auch, wie noch zu zeigen sein wird, in Bezug auf die selbst geschriebenen Bücher. Der Auftritt des Theoretikers macht eine asymmetrische Unterscheidung zwischen Signal und Rauschen möglich. Die doppelte Transformation der Sachfrage in eine Formfrage (vgl. auch Kap. 6.3) und dann in eine Frage der Ortung rückt den ›Beobachter im Krähennest‹ auf dieselbe Position, die Schlegel in der Vorlesung zur Transcendentalphilosophie einnimmt. In beiden Fällen zeichnen die Beobachter eine Landkarte des sich unter ihnen ausbreitenden Gebiet. Diese Karte lässt sich als Metatext begreifen. Auch der Metatext ist allerdings auf Schließungsfiguren angewiesen ist, die seine Stabilität und Kohärenz sicherstellen.12 Hier rückt der Zettelkasten in den Blick (vgl. Kap. 3.3). Der Dokumentarfilm, welcher Luhmann als ›Beobachter im Krähennest‹ inszeniert, schließt mit einem Blick in die Werkstatt Luhmanns: »In Oerlinghausen bei Bielefeld wohnt Niklas Luhmann. Hier schrieb er die meisten seiner über dreißig Bücher.« (24:16-24:32) Die Verschiebung zwischen tatsächlichen Büchern und der Theorie erfolgt im Zeichen des Zettelkastens: »Eine der fortschrittlichsten Gesellschaftstheorien entsteht ohne aufwändige, moderne Technik, braucht keine Computer. Nach Altvätersitte birgt der Zettelkasten das Geheimnis der immensen Produktivität.« (24:23-24:36) Die voyeuristische Perspektive, die in diesen kommentierenden Worten aufscheint, wird unterstützt von der Kameraeinstellung des Tracking Shot. Die Kamera streift zunächst nah an den Büchern im Regal entlang und begibt sich dann stellvertretend für den Zuschauer auf die Suche nach dem Geheimnis der theoretischen Produktivität, dem Zettelkasten. Die folgende Szene zeigt Luhmann in Interaktion mit den Zettelkästen wie auch mit dem Interviewenden (24:50-25:40). Die typische seitliche Neigung, die eine Asymmetrie zwischen Interviewtem und Interviewer herstellt, insofern sich ersterer nie nur an letzteren wendet, sondern auch

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Genette betrachtet den Metatext explizit als nicht werkförmig und grenzt ihn so vom Hypertext ab. Mir geht es dagegen gerade um die Schließungsstrategien, die auch den Metatext kennzeichnen. Vgl. Genette: Palimpseste, S. 15.

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Lektüre als Form

an das gesamte Publikum13 , wird hier aufgegeben. Im Zentrum stehen nun die Zettel selbst, die von der Kamera fokussiert werden (25:40-26:03).

Abbildung 3: Filmstill, Minute 26:00

Quelle: Philosophie heute: Beobachter im Krähennest

Wie hier auf der Abbildung zu erkennen ist, steht nicht die tatsächliche Notiz auf den Zetteln, die in der gewählten Kameraeinstellung nicht zu lesen ist, sondern ihre Anordnung im Fokus. Dies kommentiert Luhmann auch explizit: »Ich muss immer aufpassen, dass die richtige Stelle – wenn die mal verloren sind, dann sind sie also nur durch Zufall wieder zu entdecken.« (25:57-26:04) Wie an dieser Stelle schon deutlich wird, ist Luhmanns Rede in dieser Sequenz des Videos plötzlich von Anakoluthen durchsetzt. Gegenüber dem ›druckreifen‹ Sprechen der klassischen Interviewsituation, die qua filmischer Inszenierung zusätzlich professionalisiert und auf die verbale Botschaft konzentriert wurde, scheint die Kontrolle über die Situation nun nicht mehr von Belang zu sein, da die Ordnung der Zettel für sich steht. Daraus ergibt sich bereits die Asymmetrie zwischen eigentlichem Signal (dem unlesbaren Zettel selbst) und Rauschen (der gesamten sozialen Situation). Die darauffolgende Kameraeinstellung richtet den Blick direkt auf den Zettelkasten, gibt aber nur eine in schummrigem Licht gefilmte Masse an Zetteln zu sehen – das Geheimnis des Zettelkastens bleibt als ewiges inneres Buch, als ›Theorie‹ gewahrt. Die abschließende Interviewsequenz des Films widmet sich ebenjener: »Theorien sind ja primär bestimmt, die Wissenschaft selbst zu steuern. Also die wissenschaftliche Forschung anzuregen, umzuleiten, zu instruieren, abzubrechen, und so weiter. Das ist also eine wissenschaftsinterne Einrichtung und es wäre absurd sich vorzustellen, dass die gesamte Gesellschaft auf ein Niveau theoretischer Einsichtigkeit gebracht werden könnte und nun mit den Problemen besser fertig wird. Andererseits gibt es Ausstrahlungseffekte über Worte, über Floskeln […]« (26:55-27:28). 13

Vgl. Baecker, Stanitzek: Plastische Asymmetrie, S. iii: »Es [das Interview] simuliert, zugunsten eines größeren Publikums, die Sozialisation, die Initiation und die Inklusion, die über die mündliche Rede laufen und stellt so, obwohl es den Effekt seiner Wirkung beraubt, Anschlüsse auch für die bereit, die nicht ›vor Ort‹ sein können.«

6. Ornament: Signal/Rauschen

Das Fazit, von der Stimme im Off vorgetragen, ist klar: »Wie ein Beobachter im Ausguck eines Segelschiffes, auch Krähennest genannt, sieht der Theoretiker mehr als die Menschen im täglichen Leben.« (28:03-28:14) Die Asymmetrie zwischen Gesellschaft und Theorie, zwischen Rauschen und Signal ist also eingerichtet. Sie transformiert nicht nur die Seite der Theorie, sondern auch die Seite des Rauschens. Sie bezieht sich außerdem nicht nur auf das Verhältnis von Gesellschaft und Theorie, sondern auch auf das Verhältnis zwischen materiellem Buch und dem Geheimnis des Zettelkastens, als ewig unerschöpflicher Pluralität der Verbindungen abstrakter Orte. Die im Hinblick auf die folgende Diskussion als Ornamentalisierung zu bezeichnende Projektion des Buchs ins Innere, Immaterielle, die dessen Ausschluss jeglicher Materialität genauso wie jeder sozialen Situation etabliert (vgl. Kap. 6.4), ist hiermit ästhetisch in Szene gesetzt. Auch für Luhmann spielt also, wie im hier performativ aufgerufenen Wechselverhältnis zwischen Buch, Zettelkasten und Interview deutlich wird, die Wechselwirkung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit im konzeptionellen wie materiellen Sinne eine Rolle. »Weil in der mündlichen Rede zu vieles möglich ist, wird zu wenig ermöglicht. […] Die Wissenschaft rettet sich aus den allzu beliebigen und allzu situationsdominierten Gesprächen in die Schrift und in die Vorlesung. Was sie damit gewinnt, ist die Präzision und die Flexibilität eines von ihr selbst gesteuerten Fragezusammenhangs; und was sie damit anerkennt, ist die Freiheit der sich selbst ihre Antworten suchenden Leser und Hörer.«14 Das Verhältnis zwischen Buch, Paratext und Metatext funktioniert nicht mehr, wie noch bei Schlegel und Schleiermacher, als Verhältnis des symmetrischen Abwechselns von Reden und Schweigen, also als Dichte einer konkreten sozialen Situation, sondern vielmehr als immer schon asymmetrisches Verhältnis von Signal und Rauschen. An die Stelle des Paratexts ist vollends der Metatext getreten. Anders als bei Schlegel, der die Asymmetrie des gedruckten Buchs qua Konzeptionierung desselben als Gespräch, die Asymmetrie der Vorlesung wiederum qua buchförmiger Systematik aufzuheben sucht, sucht die hierarchische Binnendifferenzierung, an deren Spitze das virtuelle Buch als ›inneres Ornament‹ steht, die medialen Differenzen zwischen den materiellen Realisationsformen Interview, Buch, Aufsatz, zu verwischen und an deren Stelle die »Präzision und die Flexibilität eines von ihr selbst gesteuerten Fragezusammenhangs« zu setzen. Es »muß sichergestellt werden, daß die Informationsselektion von dieser Variabilität [zwischen mündlicher und schriftlicher Realisationsform der Kommunikation] nicht beeinflußt wird. So dient die differentielle Abkopplung der Komponenten dem Schutz der Information vor der Kontingenz ihrer Mitteilbarkeit«15 . Die Buchförmigkeit der Sozialen Systeme ist also nicht als materielle Buchförmigkeit zu verstehen, sondern als ereignishafte Grenzziehung, als »Paradigmawechsel« (SoSy, S. 15), der das vortheoretische Rauschen in ein nachtheoretisches Rauschen verwandelt, welches – vermeintlich – vom Signal beherrscht wird. Die für diese Beherrschung maßgebliche virtuelle Buchförmigkeit zeigt sich in der Programmierung und im Vollzug einer adäquaten Lektüre. In ihr und nur durch sie beweist sich Steuerungsfähigkeit der Theorie. Sie ergibt sich gerade

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Ebd., S. ii. Binczek: Im Medium der Schrift, S. 258.

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im Interview, das insofern als Teil des Lektüreprogramms erkennbar wird. So formulieren es Georg Stanitzek und Dirk Baecker in ihrer bereits zitierten Einleitung zum Interviewband Archimedes und Wir unter dem Titel Plastische Asymmetrie: Wie auch immer, in Interviews kommen wir, das Publikum, zu unserem eigenen Recht. In steinigem Gelände dürfen wir uns selbst einen Weg suchen. Wir können uns den Ideen eines Autors, einigen seiner Ideen, unverstellt durch dessen Werke [Herv. CC] nähern. Wir können uns Anlässe suchen, um Erkundungen in einem Möglichkeitenraum vorzunehmen. Fast könnte man sagen: Wir können lernen, ohne zu lesen. Insofern treffen diese hier gesammelten kleinen Dialoge an der Peripherie eines großen Werks doch ein Zentrum dieses Werks, wenn es denn eines hat.16 Wie Baecker und Stanitzek hier offenlegen, hat das Interview insofern eine steuernde, strategische Funktion. Die Schließung im Sinne eines reinen begrifflichen Zusammenhangs lässt sich hier direkter erfahren; die Signaldichte ist gegenüber den immer schon zur Linearität gezwungenen Büchern (vgl. Kap. 6.4) erhöht. Wo bei Schlegel das Gespräch die Atmosphäre bildet und somit jeder materielle Bestandteil des Texts in ideeller, symmetrischer Verdopplung als Reden und Schweigen Teil der gleichermaßen sozialen wie medialen Lektüresituation ist, gibt es bei Luhmann ein Gefälle zwischen tatsächlich signalförmigen Begriffen, Theoriebegriffen also, und rauschbehafteten, alltagssprachlichen Wendungen, der sogenannten ›Füllmasse‹: »Die Füllmasse der Worte, die zur Satzbildung erforderlich sind, entzieht sich jeder begrifflichen Regulierung. Zum Beispiel ›entzieht sich‹ im vorangehenden Satz. Das läßt sich nicht vermeiden, selbst dann nicht, wenn man auf die Unterscheidbarkeit und Wiedererkennbarkeit von Worten, die mit begrifflicher Bedeutung aufgeladen sind, äußerste Sorgfalt verwendet. Sie machen nur einen geringen Teil der Textmasse aus.«17 In Bezug auf die Begriffe selbst obwaltet im Luhmannschen Lektüreprogramm Strenge und Disziplin: »Was gefordert ist, ist eine neue Strenge und Genauigkeit im Beobachten und Beschreiben und, wenn man so weit gehen kann, im Begreifen.«18 Diese Disziplin bezieht sich insbesondere auf die »Begriffszusammenhänge«19 , also auf das in Bezug auf den Zettelkasten bereits beschriebene Relationieren von Relationen. Die Schärfung von Begriffen im Sinne ihrer Asymmetrisierung zwischen einer Position und ihrer allgemeinsprachlichen Konnotation bildet das einzig systematisch angebbare Ziel der Formulierungsanstrengungen: »Eine Theorie der modernen Gesellschaft müsste begrifflich so durchkonstruiert sein, dass jeder Begriff (wieder: jede Unterscheidung) geändert werden muss, wenn er in eine solche Theorie eintreten soll.«20 Diese programmierte Schließung der Begriffe im Sinne ihrer grundsätzlichen Selbstbezüglichkeit erlaubt erst eine produktive Öffnung in der Lektüre, etwa im Hinblick auf »Mehrdeutigkeiten und Widersprüche […] als Grundlage eines theoretischen

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Baecker, Stanitzek: Plastische Asymmetrie, S. iv. Luhmann: Lesen lernen, S. 152. Luhmann: Njet-Set und Terror-Desperados, S. 69. Luhmann: Lesen lernen, S. 154. Luhmann: Was ist der Fall, S. 24.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Verfremdungsspiels«21 – die aber gegenüber der eigentlichen, vernünftigen Bedeutung immer nur nachrangig ist. Das Verwischen der medialen Grenzen und die in der ›nachtheoretischen‹ Phase eintretende Steigerung von Signal und Rauschen aneinander, die in den Szenen am Zettelkasten augenfällig wird, vergrößern auch die Gefahr, dass sich die Lektüre nicht, wie programmiert, auf das Signal, sondern stattdessen auf das Rauschen – etwa Luhmanns roten Schal, den er auszieht, wenn er sein Büro betritt (11:39) – konzentriert. Die Signalförmigkeit, die, folgt man Luhmanns Konzept des Ornaments (vgl. Kap. 6.4.3), in einem besonders gesteigerten Verhältnis von Redundanz und Varietät und damit von Geschlossenheit und Offenheit besteht, wird in den mehrdimensionalen Kommunikationsformen wie den Interviews potentiell untergraben von einem unkontrollierten Anstieg nicht nur des nachtheoretischen, sondern auch des vortheoretischen Rauschens. Demgegenüber versucht die Programmierung von Lektüre eine solche Konzentration auf das Rauschen, auf materielle oder soziale Umgebungen des Signals, zu unterbinden. Das medial formierte Verhältnis von Buch und Lektüre wird in Luhmanns Texten, homolog zur Konzeption des Zettelkastens, verdeckt vom Selbstverhältnis der Begriffe zu sich selbst und zueinander als ›Stellen‹, wobei für das Buch als Schließungsfigur die Bezeichnung als ›Theorie‹22 eintritt. Gerade in nicht buchförmiger Kommunikation bietet die Adressierung von Theorie die Möglichkeit, das uneigentliche Rauschen der tatsächlichen Interviewsituation vom eigentlichen Signal abzugrenzen. So etwa auch in den verschriftlichten Interviews, wie Luhmann gegenüber Stanitzek betont: »Ich beschäftige mich eigentlich mit Gesellschaftstheorie, das ist jedenfalls das Zentrum, auf das hin Ausflüge in größeren Abstraktionen unternommen werden oder auch Ausflüge in Detailbereiche der modernen oder auch geschichtlich vorliegender Gesellschaften. Das heißt, es ist alles reguliert durch die Frage: ›Was muß man bedenken, wenn man eine Gesellschaftstheorie schreibt?»›23 Das hier formulierte Theorieprogramm lässt sich auch als Lektüreprogramm identifizieren. Dasselbe gilt für die Beschreibung von anderen Theorien, für die Luhmann in Interviews wie selbstverständlich architektonische Metaphern verwendet: So bezeichnet er sein Interesse an Parson im ebenfalls in Archimedes und Wir veröffentlichten Interview mit Rainer Erd und Andrea Maihofer wie folgt: »Was mich hauptsächlich interessiert hat, ist, wie so eine große Theorie wie die von Parsons gebaut ist und woran sie scheitert, wenn sie scheitert.«24 . Das Funktionieren des hiermit etablierten Lektüreprogramms, auf die Stellen – also die Signale – und nicht auf das Rauschen zu achten, zeigt sich darin, dass sich diese architektonischen Metaphern in Fremdbeschreibungen fortsetzen, etwa wenn von Luhmanns Werk als »Theoriekathedrale«25 die Rede ist.

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Von Stetten: Verfremdungsspiele, S. 79. Passend ist daher Von Stettens Einordnung von Dirk Baeckers Anschluss an Luhmanns Systemtheorie als orthodoxe Variante, die »den selbstreferentiellen Charakter von Theorieproduktion in aller Entschiedenheit aufrechtzuerhalten« sucht (vgl. ders.: Verfremdungsspiele, S. 23). Luhmann: Schwierigkeiten mit dem Aufhören, S. 76. Luhmann: Biographie, Attitüden, Zettelkasten, S. 133. Vgl. Felsch: Luhmann in Kalifornien, S. 43. Die Bezeichnung der »Theoriekathedrale« weist selbstverständlich auch auf den Anspruch der Transzendenz hin, der – hier – in Bezug auf die Sprache zu interpretieren wäre.

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Der Anspruch an den Leser lautet, sich aus den gegebenen Signalen eine »solide gebaute[...] Theorie[...]«26 zu konstruieren. Diese architektonische Metaphorik ist schon ein erster Hinweis auf die Verschiebung der Funktion von Prozessbegriffen, in denen sich ein neues Verhältnis von Öffnung und Schließung manifestiert. Bei Schlegel verkörperten gerade die Prozessbegriffen Zeitlichkeit und ›Musikalität‹ der Lektüre27 als sozial definierte Öffnung. Hier sollen nun die Prozessbegriffe die (virtualisiert) buchförmige Stabilität als architektonische Räumlichkeit28 garantieren. Die Frage nach dem angemessenen Verhältnis von Öffnung und Schließung bildet insofern die Kontinuität zwischen der Frühromantik, ihrer Benjaminschen Transkription und dem Luhmannschen Werk, die gerade in den diskontinuierlichen Lösungsvorschlägen Bestand hat. Die Frage ist, wie aus der Lektüre das Buch erwachsen kann, oder wie andererseits das Buch gerade zur Lektüre befähigt werden kann, insofern es diese im Sinne der Selbstkonstruktion programmiert. Daraus ergibt sich bei Luhmann nicht etwa die Idee eines symmetrischen Gesprächs, sondern vielmehr die Forderung nach einer signalförmigen Theorie.29 Gegenüber der frühromantischen Kunstkritik hat sich jedoch die Referenz verschoben. Diese ist nun nicht mehr das einzelne Buch, sondern die Gesellschaft – wohlgemerkt als Medium von Kommunikationen: »Bei Luhmann ersetzt die Gesellschaft die frühromantische Idee der Kunst.«30 Hier rückt nun wiederum der Zettelkasten in den Blick. Wie die Gesellschaft ist der Zettelkasten ein System, das »keine spezifische Kommunikation kennt. Was immer als Kommunikation aufgegriffen werden kann« (und das heißt, auf einen Zettel notiert werden kann), »lässt sich als gesellschaftlich beobachten, wenn nicht mehr unterschieden wird, wovon sie handelt, welchen Unterschied sie macht, wen sie betrifft«31 . Genau diese Nivellierung der konkreten Kontexte leistet der Zettelkasten qua Übersetzung von Lektüreexzerpten in Stichworten in feste Adressen. Anstelle eines konkreten Texts32 , wie in der frühromantischen Kritik, ist jetzt der Zet26 27 28

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Luhmann: Biographie, Attitüden Zettelkasten, S. 125. Eine nicht architektonische, sondern ebenfalls musikalische Metaphorik in der Beschreibung der Luhmann-Lektüreerfahrung findet sich etwa bei Teubner: Drei persönliche Begegnungen. Hier könnte man sich auch an die traditionsreiche Unterscheidung von Raum- und Zeitkunst erinnern, die in Lessings Laokoon entworfen wird. Das Räumliche der Architektur ist so eine Zuflucht vor dem Zeitlichen der Schrift, und insofern ein Gegenentwurf zur Metaphorisierung des Geschriebenen als Musik, wie bei Schlegel, was den Aspekt der Zeitlichkeit noch stärker betont. Vgl. Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, S. 49: »Oder liegt in der Transzendentalen Phänomenologie eine Theoriekonstruktion vor, die, wenn man so paradox formulieren darf, sich von sich selbst ablösen, von sich selbst unabhängig werden kann?« Die hier als paradox apostrophierte Idee des Sich-von-sich-selbst-Ablösens bezeichnet genau die Spaltung zwischen Darstellungsform und ›reiner‹ Theorieform, die Luhmann mittels der Technik von funktionalen Äquivalenzen anstrebt, um schließlich zum Ornament als innerer Buchförmigkeit zu gelangen. Bolz: Ratten im Labyrinth, S. 117. Fuchs: Die Metapher des Systems, S. 55. Schon Krajewski weist auf die Analogie zwischen Luhmanns Kommunikation mit dem Zettelkasten und der philologischen Kommunikation mit einem Text hin, vgl. ders.: Kommunikation mit Papiermaschinen, S. 298: »Der Text weiß mehr als der Autor‹, lautet eine der philologischen Grundannahmen. Man könnte dieses Diktum unschwer übertragen auf das Verhältnis von Zettelkasten und seinem Benutzer. Die von der Apparatur bereitgehaltenen Textfragmente bieten in ihrem Po-

6. Ornament: Signal/Rauschen

telkasten Kommunikationspartner für das eigene Schreiben und wird somit zur ›Gesellschaft‹, im doppelten Sinne des Wortes. Der Zettelkasten rückt an die Stelle der Schlegelschen Bibel, des »ewig werdenden Buche[s]« (KFSA II, S. 265, Fragment 95). Er ist, in Luhmannscher Formulierung, die Kommunikation der gesellschaftlich ablaufenden Kommunikationen. Der Zettelkasten vollzieht in Bezug auf die ihm zugrundeliegenden Bücher ein »laufendes Transformieren von Notwendigkeit in Kontingenz«33 als »theoretische Wiederbeschreibung der Wiederbeschreibung von Beschreibungen«34 . Wie die Gesellschaft ist der Zettelkasten selbst als hölzernes Artefakt nicht qua Kommunikation adressierbar, sondern nur in Form der einzelnen Zettel, die er in der ihm eigenen Systematik bereitstellt und die immer wieder neu zu einer Reise durch die Verknüpfungen einladen. Die hölzerne Oberfläche des Zettelkastens und das stumme Raunen des Gesamtgebildes Gesellschaft erwecken beide gleichermaßen ein nie stillbares Begehren.35 Der Zettelkasten, die Gesellschaft, sind jeweils das »operative Prozessieren von Sinn unter der Bedingung eines ›und so weiter und so weiter‹.36 Die möglichen Verknüpfungen, die der Zettelkasten qua Nummerierung seiner Zettel bereitstellt, sind »unterspezifizierte Kommunikationen, die spezifiziert werden durch Differenzierungen«37 , nämlich durch ihre Kopplung und Resemantisierung in der Erstellung eines Manuskripts. In dieser Hinsicht lässt sich, so würde ich argumentieren, auch die folgende Beschreibung Luhmanns lesen, die seinen Schreibstil charakterisiert: Ich würde einmal sagen, daß ich sicherlich sehr stark auf Genauigkeit der Wortwahl, des Begriffseinsatzes Wert lege, andererseits das Problem habe, die Genauigkeit – etwa in der Art von Rilke – zu erzeugen dadurch, daß man ganz normale Worte in ganz normaler Weise verwendet; die Normalität der Worte als Stilmittel zu benutzen, so daß die Normalität – was sie eigentlich meinen und sagen – auffällt im Text. Das würde ich zum Beispiel als eine Komponente von Essays ansehen, wo ich immer Schwie-

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tential der Verschaltung ungleich mehr Anschlussstellen als dem Abfrager in einem Moment bewusst ist. Das Interface bietet mithin eine ganze Fülle von möglichen Verbindungen an, es liefert damit das Aktionspotential neuer Argumentationen. Der Zettelkasten weiss mehr als der Autor, indem er die Zustände des Wissens birgt und durch die Kontakte mit seinem ›Zwischengesicht‹ künftige Gedanken zu katalysieren hilft.« Was Krajewski hier allerdings unterschlägt ist, dass der Philologe mit dem Autor des Texts normalerweise nicht personalidentisch ist, während Luhmann empirisch gesehen die Autorfunktion auch für den Zettelkasten übernimmt. In seinem Text und in seiner Behandlung des Zettelkastens als Kommunikationspartner weist er diese Autorfunktion allerdings strikt dem Zettelkasten selbst zu, und ermöglicht insofern die Gleichsetzung des Zettelkastens mit der Gesellschaft. Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, S. 57. Luhmann bemüht sich hier um die Beschreibung einer Lektüretechnik, die nicht »Vermehrung oder Verbesserung des Wissens, nicht »hermeneutisches Ausgraben des eigentlichen Sinns« und auch nicht »Kritik« sein soll. Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, S. 58. Vgl. Krajewski: Kommunikation mit Papiermaschinen, S. 305: Das Verborgene fördert vor allem das Begehren, hinter die opaken Schubladenfronten zu sehen, die Zettel zu entblättern auf der Suche nach Wahrheit, die in Gestalt des zu öffnenden Kastens immerzu als lustvolle Versuchung lockt. Allein ein kurzes Zögern und es entsteht eine Irritation, ob das Holz eine erneute Berührung erduldet und einer zu verstehenden Mitteilung nachzuspüren gewährt.« Fuchs: Die Metapher des Systems, S. 56. Ebd., S. 56-57.

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rigkeiten habe, weil ich natürlich im wissenschaftlichen Kontext die Worte in Begriffe transformiere und die Genauigkeit im Funktionskontext der Theorie liegt und nicht im Rückgang auf das, was mit diesem Wort in der Umgangssprache eigentlich gesagt werden will. […] In jedem Fall liegt mir daran, das ›Hypothetische‹ an der Form sichtbar zu machen, dabei aber zugleich zu vermeiden, daß dies als eine Art Marotte, als eine nur subjektive Ausdrucksweise gelesen wird. In einem wissenschaftlichen Text sollte immer mitverdeutlicht werden, wo dem Leser Entscheidungen zugemutet werden und wo er besser täte, abzuspringen, wenn er seinen eigenen Garten weiter kultivieren möchte. Ein Stückwert mag dies auch Anliegen des Essays sein, oder allgemeiner noch dessen, was man in der Literatur als Suche nach einer neuen Strenge der Form sich erhoffen mag. Nur ist im Theoriekontext der Kurzbeitrag nicht, wenn man so sagen darf, die Endform der Vorläufigkeit, sondern eher eine Verlegenheitsform, die eigentlich nach Einarbeitung in ebenfalls hypothetische, ebenfalls kontingente Theoriezusammenhänge verlangt.38 Dieser hier in einiger Länge zitierte Abschnitt stellt Luhmanns Versuch dar, in einem Interview sein eigenes Metier, also ›Theorie‹, vom Genre eines Essays abzugrenzen. Er möchte, so wie er es hier beschreibt, die Normalität der Worte nicht als Stilmittel verwenden, also gerade nicht auf die Vielfältigkeit von Begriffen als Worten abheben. Vielmehr geht es ihm, wie er es formuliert, um das ›Hypothetische‹ der Form, aber nicht als nur subjektive Ausdrucksweise, sondern im Sinne einer grundlegenden Operativität des Begriffs als Stelle innerhalb eines Verweisungszusammenhangs, der mitvollzogen werden muss, wenn der Begriff ›verstanden‹ werden soll. Diese Beschreibung lässt sich als Lektüreprogramm verstehen – als Anweisung an die Leser, ebenjene hypothetischen, kontingenten Theoriezusammenhänge als das Eigentliche aus den Büchern zu extrahieren. Die am Beispiel des Dokumentarfilms über den ›Beobachter im Krähennest‹ gezeigte Verschiebung des Lektüre/Buch-Paradigmas weg von Reden/Schweigen hin zu Signal/Rauschen werde ich hier an der begrifflichen Strukturierung der Luhmannschen Bücher selbst nachweisen. Wie zu zeigen sein wird, nimmt der Formbegriff für die beschriebene Asymmetrisierung eine zentrale Rolle ein. Ich werde den Funktionswandel des Formbegriffs kontextualisieren, indem ich anhand von anderen Begrifflichkeiten zunächst die Veränderung der Begriffsarchitektur Luhmanns gegenüber derjenigen Schlegels aufzeige, die den prozessualen Begriffen den Vorrang einräumt. Hier gehe ich auch auf das Verhältnis zwischen frühromantischer und Luhmannscher Lektürereflexion ein.

6.2.

Prozessuale Begriffe

Die Grundlage für den hier beschriebenen Zusammenhang zwischen frühromantischen, Benjaminschen und Luhmannschen Texten besteht in der Beobachtung von Kontinuität und Diskontinuität gleichermaßen. Die Kontinuität der Problemlage

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Luhmann: Schwierigkeiten mit dem Aufhören, S. 96-97.

6. Ornament: Signal/Rauschen

(Vermittlung von Buch und Lektüre) bei gleichzeitiger Diskontinuität der begrifflichen und kommunikativen Lösung beginnt schon beim Ausgangspunkt der Luhmannschen Theoriebildung selbst. Dieser lässt sich strukturell als Wiederholung der transzendentalen Wende der Hermeneutik um 1800 beschreiben, insofern die Lektüre von Büchern und die damit einhergehenden Kommunikationsprozesse nicht mehr als unproblematisch angenommen, sondern als reflexions- und programmierungsbedürftig markiert werden. Der Perspektivwechsel einer Theorie sozialer Systeme besteht darin, wie Luhmann immer wieder betont, »das Normale für unwahrscheinlich«39 zu halten. Genau diese Umstellung der Perspektive ist es auch, die für den Zeitraum um 1800 etwa von Manfred Frank als transzendentale Wende beschrieben wurde (vgl. Kap. 4.1). Anders als Luhmann in seinem kurzen Text Lesen lernen nahelegt, wenn er hier empfiehlt, »Skrupel im Hinblick auf hermeneutische Vertretbarkeit«40 in der Lektüre wissenschaftlicher Texte vollständig beiseite zu lassen, befindet er sich mit dem selbst gewählten Ausgangspunkt der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation ganz auf der Linie der sich am Ende des 18. Jahrhunderts herausbildenden Hermeneutik.41 Anstatt von einer grundsätzlich gelingenden Verständigung über Texte auszugehen, problematisieren die Frühromantiker genau wie Luhmann die Möglichkeit einer differenzlosen Verständigung qua Druckschrift und Lektüre und entwickeln daraufhin Techniken eines bewussten Umgangs mit und einer Manipulation von Öffnungs- und Schließungsbewegungen. Die Autoren der Frühromantik, Novalis42 , Jean Paul aber auch Friedrich Schlegel und F.D.E. Schleiermacher, werden bei Luhmann inszeniert als historische Zeitzeugen der »Entdeckung der Inkommunikabilität«43 und als Vordenker einer modernen gesellschaftlichen Ordnung. Dieser Umstand hat bereits Beachtung seitens der Literaturwissenschaft gefunden. Selten jedoch ist die hierherführende Beobachtung über eine Aufzählung und bibliographische Einordnung der Verweise hinausgekommen.44

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Luhmann: Vorbemerkungen zu einer Theorie Sozialer Systeme, S. 14. Luhmann: Lesen lernen, S. 12. Immer wieder lässt sich jedoch der dem entgegen laufende strategische Versuch Luhmanns beobachten, die grundlegende Verschiedenheit der eigenen Lektüretechnik von der hermeneutischen zu behaupten, vgl. etwa Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, S. 9: »Soziologisch gesehen fällt diese Zeitdistanz [die 60 Jahre seit Husserls Wiener Vorträgen] so sehr ins Gewicht, daß mit einer Textexegese nach hermeneutischen Direktiven nicht viel auszurichten ist. Stattdessen soll der Text zunächst in die kommunikative Situation seiner Zeit zurückversetzt werden, damit man erkennen kann, wogegen er, ohne es im Text selbst zu sagen, gerichtet war.« So etwa in KdG, S. 28: »[…] der eigene Körper muß mitwahrgenommen werden, wenn das Bewußtsein in der Lage sein soll, Selbstreferenz und Fremdreferenz zu unterscheiden. Es muß sich selbst gleichsam spüren können, um Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden zu können; oder in der Sprache des Novalis: den ›Sitz der Seele‹ bestimmen zu können.« Luhmann: Darum Liebe, S. 64. Siehe etwa Esselborn: Niklas Luhmanns Kommunikation mit Jean Paul. Dagegen jedoch Bolz: Ratten im Labyrinth, S. 117: »Er [Luhmann] rezipiert die Romantik einmal zur Distanzierung von der Vernunftaufklärung, zum anderen aber auch, weil sie gezeigt hat, wie man sich vom ontologischen Denken emanzipieren kann. Und diese Rezeption geht weit über das spielerische Zitieren von Jean Paul und E.T.A: Hoffmann hinaus. Vor allem in den Spekulationen der Frühromantik fin-

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Lektüre als Form

Die Luhmannsche Strategie, eigene Methode und Gegenstand bei unübersehbaren Homologien dennoch systematisch auseinanderzuhalten, scheint hier also aufgegangen zu sein. In seiner Darstellung ist die Frühromantik für ihn insofern ein ausgezeichneter Gegenstand, als sich in ihren Texten die Umstellung der Beobachtung auf die Beobachtungsebene zweiter Ordnung in Form der »Semantik einer Übergangsperiode«45 am deutlichsten manifestiert.46 Insofern sind die Texte von historischem Interesse, sie bieten eine reiche Fundgrube und einen immer wieder genutzten Ansatzpunkt für die ideen- und begriffsgeschichtlichen Erkundungen Luhmanns. Allerdings erscheint dieses Interesse an der Entwicklung gesellschaftlicher Semantik im Verhältnis zu der eigentlichen Theoriearbeit nachrangig zu sein. Wie jedoch das folgende Kapitel zeigen kann, sind die frühromantischen Textoperationen und die ihnen korrespondierenden Begrifflichkeiten keineswegs nur als historischer Gegenstand der systemtheoretischen Beobachtung zu betrachten. Insbesondere der sich in der Frühromantik als Möglichkeit entwickelnde prozessuale Formbegriff, der von Walter Benjamin isoliert wird, sind von entscheidender systematischer Relevanz für die Konstruktion und Organisation der Luhmannschen Bücher. Im vorliegenden Kapitel weise ich auf die Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen frühromantischer Lektürekonzeption und Systemtheorie anhand einer Reihe verwandter Begriffe hin, die für beide jeweils zentral sind. Ich werde also einige der oben diskutierten Begriffe und Unterscheidungen noch einmal aufgreifen und in Bezug auf Luhmanns Systemtheorie diskutieren. Hierbei handelt es sich jedoch, wie zu zeigen sein wird, nur noch um Prozessbegriffe, die gegenüber den Schlegelschen Begriffen im hier skizzierten Sinne verschoben sind: den Begriff des Sinns (Kap. 6.2.1), die Entsprechung von Organisation und Konstruktion (Kap. 6.2.2), den Begriff der Grenze (Kap. 6.2.3) und schließlich das Konzept von Ironie (Kap. 6.2.4), das genau wie im Falle Schlegels als Metakonzept der Sprach- und Begriffsreflexion die vorgestellten Überlegungen zur Begriffskonstitution bündeln kann.

6.2.1.

Sinn

Der Sinnbegriff gehört unumstritten zu den zentralen Begrifflichkeiten der Systemtheorie.47 Hier werde ich auf die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem Schlegelschen und dem Luhmannschen Sinnbegriff hinweisen. Bei Schlegel ist die Unter-

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det Luhmann eine Fülle von Anknüpfungen für seine Theoriearbeit.« Bolz jedoch betont bei aller berechtigter Behauptung von Kontinuität die bestehenden Diskontinuitäten nicht. Luhmann: Weltkunst, S. 197. Vgl. den gesamten Kontext in Luhmann: Weltkunst, S. 197: »Daß die Kunst als Einheit von anderen gesellschaftlichen Systemen unterschieden werden kann, folgt nicht aus einer besonderen Idee, sondern daraus, daß die Kunstwerke ein Beobachten – und wir werden noch sehen: ein Beobachten des Beobachtens disziplinieren, indem sie den Beobachtern Unterscheidungen vorgeben, an die er sich zu halten hat, wenn er überhaupt an Kunst teilnehmen will. Man kann die Reflexionsbegrifflichkeit des Deutschen Idealismus und der Romantik als ein erstes Experiment mit einem unterscheidungsgeleiteten Beobachten ansehen und historisch darin die Semantik einer Übergangsperiode erkennen.« Dies lässt sich etwa daran ablesen, dass er nicht nur ein Kapitel im Luhmann-Handbuch zugewiesen bekommt, sondern auch im sogenannten GLU, im Glossar zu Luhmanns Systemtheorie.

6. Ornament: Signal/Rauschen

scheidung von Begriff und Sinn, wie in Kap. 4.1.3 gezeigt, symmetrisch konzipiert und dem Pol des Sinns kommt es zu, die soziale Atmosphäre des Begriffs, seine Einbettung in das benannte ›unendliche Gespräch‹ zu sichern. Während der Sinnbegriff bei Schlegel seinen Gegenpol, den Begriff, hin zur Konkretion transzendiert, tendiert er bei Luhmann zur Asymmetrie. Er ist eingebettet in ein Paradigma der »Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung« (SoSy, S. 104). Die maßgebliche Differenz, die den Sinn kennzeichnet, ist bei Luhmann die Differenz von »Information und Rauschen« (SoSy, S. 122): »Insofern lebt der Sinnprozeß von Störungen, nährt sich von Unordnung, läßt sich durch Rauschen tragen und erfordert für alle technisch präzisierten, schematisierten Operationen ein ›ausgeschlossenes Drittes‹.« (SoSy, S. 123) Dem Sinnbegriff kommt es zu, die Asymmetrie zwischen Signal und Rauschen zentral zu stabilisieren. Das benannte ausgeschlossene Dritte ist dabei die materielle Medialität der schriftlich verfassten Theorie. Wie vielfach betont, speist sich der Sinnbegriff Luhmanns aus der Lektüre Husserls, weist diesem gegenüber jedoch eine andersgeartete Zielsetzung auf. Diesen Zusammenhang formuliert Luhmann in einem Vortrag in Wien als Hommage an Husserl: Die Härte dieses Abschieds vom transzendentalen Subjekt kann man erkennen, wenn man überlegt, ob es möglich ist, das Bewußtsein als Medium der Bildung von Formen wegzulassen und trotzdem die von Husserl entdeckte Struktur beizubehalten, nämlich die Einsicht in den Bedingungszusammenhang von Operationsfähigkeit, Trennung und Simultanprozessieren von Fremdreferenz und Selbstreferenz sowie Zeitlichkeit vom Standpunkt der jeweiligen Operation aus. Ich halte das für möglich, wenn man sich entschließt, von Sinn als allgemeinem Medium für Formenbildung auszugehen und dann zu unterscheiden, ob sich Systeme aufgrund von intentionalen Bewußtseinsleistungen oder aufgrund von Kommunikationen bilden.48 Luhmann installiert hier den Sinnbegriff als allgemeinen Begriff, der Husserls Konzept des Bewusstseins übergreift und mit einer Konzeption von Kommunikation vergleichbar macht. Möglich wird ihm diese Asymmetrisierung mit der insbesondere am Gegenstandsbereich der Kunst entwickelten Unterscheidung von Form und Medium (vgl. Kap. 6.2.3). Von der Phänomenologie Husserls übernimmt Luhmann das Programm der Entnormalisierung, das sich insbesondere in Bezug auf den Sinnbegriff beobachten lässt: »Luhmanns Entnormalisierungsmethode fixiert mithin an sinnhafter Komplexitätsreduktion das Stadium, in dem die Unbestimmtheit der Bestimmung noch offen liegt und nicht schon durch Kombination und Staffelung sinnhafter Selektionen in die Latenz gedrückt ist.«49 Luhmann übernimmt das Husserlsche Programm der Reduktion und Entnormalisierung, welches er an den Sinnbegriff geknüpft sieht, allerdings ohne beim teleologischen Ziel dieser Reduktion, der Freilegung einer ursprünglichen, vorbegrifflichen Grundeinheit, dem Subjekt, mitzugehen.50 Er übernimmt also, als »Suche nach ei48 49 50

Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, S. 50. Ellrich: Die Konstitution des Sozialen, S. 31. Die Methode der Reduktion ist allerdings auch innerhalb der Phänomenologie schon umstritten. Viele spätere PhänomenologInnen haben sich deutlich von ihr distanziert, so etwa insbesondere Merleau-Ponty. Vgl. dazu etwa die einleitenden Bemerkungen. in seinem Hauptwerk Phänomeno-

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Lektüre als Form

ner Form, in der das unter dem Namen Philosophie akzeptierte unbedingte Theorieinteresse angesichts veränderter Bedingungen fortgesetzt werden kann«51 , die reine negative Bewegung Husserls und verabschiedet den ›positiven‹ Boden, auf dem diese stattfindet. Übrig bleibt eine tautologische Formierung des Sinnbegriffs, die homolog zum Spencer Brownschen Formbegriff, welcher zur Neufassung des Sinnbegriffs mobilisiert wird52 , dessen vollständige Entleerung performativ mitvollzieht: »Sinn ist die Verweisung auf Sinn.«53 In der Beziehung zwischen Luhmanns Schreiben und seiner Husserl-Lektüre wiederholt sich dieselbe Transkriptionsbewegung, die sich bei Benjamins Schlegel-Lektüre feststellen ließ. Es handelt sich jeweils um eine selektive Isolation von Zusammenhängen, die dann in Bezug auf ihre ›reine Operativität‹ freigelegt und von dem vermeintlich rauschbehafteten Kontext – in Husserls Fall die Transzendentaltheorie, in Schlegels Fall die Buchförmigkeit der Lucinde – befreit werden. Der Formbegriff spielt für diese Reduktionsbewegung eine entscheidende Rolle. So lässt sich die folgende Passage aus Kunst der Gesellschaft verstehen, die mit einer phänomenologischen Beschreibung anfängt, diese dann aber mittels des Formbegriffs neutralisiert: »Dabei ist der Wahrnehmung die Welt, da sie den eigenen Körper einschließt, komplett, kompakt und undurchdringlich gegeben. Es kommt ständig zu Variationen – sei es zu selbstveranlaßten, sei es zu fremdveranlaßten. Aber Variationen sind wahrnehmbar nur innerhalb der Welt, das heißt: nur als Form in bezug auf das, was sich im Moment nicht bewegt bzw. nicht ändert.« (KdG, S. 28, Herv. CC) Auch wenn der Begriff des Sinns hier nicht vorkommt, ist die einseitige Bewegung der Übernahme des phänomenologischen Standpunkts hier analog zu betrachten, diesmal in Bezug auf den Terminus ›Welt‹. Die Variationen in der Welt sind nur in Bezug auf ihre Funktion als Form, also als Selektion und damit als operativer Vollzug des Sinns

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logie der Wahrnehmung: »Von hier aus tritt der wahre Sinn der vielberedeten phänomenologischen Reduktion ans Licht. Es gibt wohl kaum eine Frage, in der Husserl länger gebraucht hatte, um mit sich selbst ins reine Verständnis zu kommen, als diese, und auch keine, auf die er ebensooft zurückgekommen wäre; die ›Reduktionsproblematik‹ nimmt in seinen nachgelassenen Manuskripten einen beträchtlichen Raum ein. Lange Zeit, und noch in Texten jüngeren Datums, stellt sich die Reduktion als der Rückgang auf ein transzendentales Bewusstsein dar, vor welchem die Welt sich in einer absoluten Transparenz entfaltet, durch und durch beseelt von einem Apperzeptionssystem, das von seinem Resultat her zu rekonstituieren als die Aufgabe des Philosophen erscheint. […] Die wichtigste Lehre der Reduktion ist so die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion. Wären wir absoluter Geist, so wäre die Reduktion kein Problem. Doch da wir zur Welt sind, da alle unsere Reflexionen ihrerseits auch in den Zeitstrom verfließen, den sie zu fassen suchen […], so gibt es kein Denken, das all unser Denken umfaßte.« Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, S. 16. Vgl. Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, S. 30-31: »Die Form, in der das Bewußtsein seine Operation vollzieht, wird von Husserl (im Anschluß an Brentano) als Intention bezeichnet. […] Vielleicht könnte man sagen: Intention ist nichts weiter als das Setzen einer Differenz, das Treffen einer Unterscheidung, mit der das Bewußtsein sich selbst motiviert, etwas Bestimmtes (und nichts anderes) zu bezeichnen, zu denken, zu wollen. Das würde zu einer mathematischen Theorie passen, die George Spencer Brown als Indikationenkalkül oder als Theorie operativ produzierter Formen ausgearbeitet hat. Das erste und unausweichliche Gebot des Bewußteins wäre danach: draw a distinction, und dies in bewußter Form: als Eigenleistung der Selbstreproduktion des Bewußtseins.« Baecker: Wenn etwas der Fall ist, steckt auch etwas dahinter, S. 44.

6. Ornament: Signal/Rauschen

relevant, nicht in der inhaltlichen Beschreibung ihrer Eigenstrukturen. In der Einseitigkeit der Übernahme des Husserlschen Sinnbegriffs vollzieht sich gleichzeitig die Reinigung des Sinnbegriffs vom Vorgang der Husserl-Lektüre54 . Erst in der Übernahme der reinen Negativität als solcher, die den Sinnbegriff als Prozessbegriff etabliert, kann dieser Teil des Begriffsarrangements werden. Im Gegensatz zum Begriff des Begriffs55 , der von Luhmann systemspezifisch und darüber hinaus durch je nur konkrete Kontexte ›gezähmt‹ werden muss, um die Vorstellung der reinen, nämlich nichtmedialen und nichtmateriellen Buchförmigkeit anhand der Unterscheidung Signal/Rauschen zu ermöglichen, erhält der Sinnbegriff durchaus den Rang eines theoretischen Grundbegriffs56 , wie Luhmann in einem Interview hervorhebt: Ich möchte die soziologische Theorie auf das Konzept des Sinns gründen. Die auf Energie beruhenden dissipativen Strukturen könnten den auf Sinn beruhenden dissipativen Strukturen sehr ähnlich sein, wie verschieden auch immer sie sein mögen. Ich denke den Sinn als ein Surplus, einen Überschuß an Verweisungen, als ein Surplus von Aktivitäten, von Erfahrungen, an denen man mit dem bestimmten Risiko partizipieren kann, den Anschluß zu verpassen. Um handeln zu können, ist es notwendig, die Komplexität zu reduzieren. Ich behaupte, daß Sinn zur Selektivität zwingt, daß er strukturelle Limitationen enthält oder erzwingt, die ihrerseits den Wahlbereich einschränken.57 Der Begriff des Sinns bietet gegenüber dem Begriff des Begriffs den entscheidenden Vorteil, dass er nicht auf schriftliche Kommunikation festgelegt ist und so die »transjunktionale[n] Operationen«58 des Wechsels zwischen Selbstbeschreibung und Gegenstandsbeschreibung, sowie zwischen diversen historischen, disziplinären und sozialen Skalierungen von Gegenstandsbeschreibungen vollziehen kann. So kann er als Grundkategorie für alle Kommunikationen benannt werden, ohne diese konzeptionell auf schriftliche Kommunikation festzulegen – auch wenn ihre Beschreibung, wie Luhmann in den historischen Anteilen seiner Schriften selbst immer wieder betont, strukturell an die Existenz von Schrift gebunden ist.59 Für Luhmann ist klar, »daß weder die Theorie

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Dieser wird lediglich einmalig im bereits zitierten Vortrag Luhmanns Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie reflektiert. Diese Wendung ist philosophiegeschichtlich insbesondere bei Hegel und seiner Bestimmung des Begriffs etwa in der Phänomenologie des Geistes zentral geworden. Hier ist damit zunächst einfach die Art und Weise der schriftlichen Selbstreflexion gemeint, die bei Luhmann eben gerade nicht über den ›Begriff‹ funktioniert. Rainer Schützeichel behauptet gar, der Sinnbegriff bilde den Kern von Luhmanns Schreiben überhaupt, vgl. Schützeichel: Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann, S. 16: »Der Kern findet sich in der ›Sinntheorie‹, die in der letzten Phase aus der Trias ›Sinn‹, ›Form‹ und ›Beobachtung‹ besteht. Luhmann: Vom menschlichen Leben, S. 56. Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, S. 44. Luhmann übernimmt das Konzept der transjunktionalen Operationen von Gotthard Günthers Entwurf einer mehrwertigen Logik in dessen Beiträgen zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Vgl. etwa SoSy, S. 223: »Erst die Schrift erzwingt eine eindeutige Differenz von Mitteilung und Information.« Siehe dazu auch Jahraus: Literatur als Medium, der seine Bestimmung des Literarischen als »paradigmatisch schriftliche Kommunikation« auf dieser Grundlage errichtet (S. 451).

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Lektüre als Form

noch die Gesellschaft selbst das überschreiten kann, was als Sinn immer schon vorausgesetzt sein muß. Denn ohne von Sinn Gebrauch zu machen, kann keine gesellschaftliche Operation anlaufen« (GdG, 44). Die Privilegierung des Sinnbegriffs gegenüber Schlegels Versuch, die Pole Begriff und Sinn symmetrisch zu konzipieren und wechselseitig aufeinander zu beziehen, weist wiederum auf die grundsätzliche Asymmetrie zwischen der Materialität der Kommunikation und ihrer idealisierten Form hin, die Luhmanns Texte prägt. Gegenüber konkreten Lesespuren, die für Schlegel auch und gerade in den Begriffen kondensieren, setzt er auf die Immaterialität von Buchförmigkeit, Schrift und Lektüre. Wichtig ist für Luhmann nicht die konkrete, materielle Verwobenheit eines spezifischen Sinns, sondern die reine Funktionalität, die der Vorstellung von Sinn zukommt, nämlich auf das reine Operieren zu verweisen, bzw. Struktur und Operation zu verbinden: »Sinn ist demnach ein Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität, die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt.« (GdG, 44) Der Sinn des Sinnbegriffs erschöpft sich in seiner Aussage über Operativität, genauer: über eine spezifische Operation, nämlich die Operation der Selektion. Rainer Schützeichel hat diesen Zusammenhang zwischen Operation und Selektion als doppelte Selektivität bezeichnet: Doppelte Selektivität heißt, daß an jeder Bestimmung von sozialem Sinn nicht nur ein selbstreferentieller Verweisungszusammenhang, sondern zwei selbstreferentielle Verweisungszusammenhänge beteiligt sind. Eine Verweisung limitiert den Raum des Bestimmbaren, differenziert zwischen dem Differenten und dem Indifferenten, dem Relevanten und dem Irrelevanten. Sie konstituiert die strukturelle Logik sozialer Systeme. Eine zweite Verweisung hingegen markiert in dieser Differenzform eine bestimmte Option, eine bestimmte Seite, eine bestimmte Bezeichnung. Sie stellt die operative Logik sozialer Systeme dar.60 Der Begriff des Sinns ist also doppelt negativ bestimmt. Er verweist auf die Begrenztheit jedes Begriffs als ›Bestimmbarem‹ und damit auf das reine, nie in irgendeiner Form der Vollständigkeit stillzustellende ›Weiter so‹. Gleichzeitig nimmt er auf die Bedingung der Möglichkeit dieses operativen Zusammenhangs Bezug, die eine Unterscheidung zwischen Relevantem und Irrelevantem und damit das Markieren eines Bestimmten voraussetzt; eine abstrakte Operativität also, an der dann, so die Programmierung des Sinnbegriffs, nicht gerüttelt werden kann. Der Sinnbegriff ist damit gekoppelt an den Begriff der Form, wie im Kapitel Sinn aus Soziale Systeme ausgedrückt wird.61 Hier wird

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Schützeichel: Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann, S. 18. Vgl. ebd., S. 27: »Mit ›Form‹ nimmt Luhmann auf eine andere unhintergehbare Voraussetzung des Erlebens und Handelns Bezug. Unser Erleben und Handeln ist immer auf etwas Bestimmtes hin ausgerichtet. Wir denken an einen bestimmten Gegenstand, wir handeln mit einer bestimmten Absicht in bezug auf ein bestimmtes Ziel oder wir sprechen über ein bestimmtes Thema. Was aber ist die Voraussetzung dafür, daß wir auf etwas Bestimmtes hin gerichtet sind? Die Voraussetzung dafür, daß dieser bestimmte Gegenstand individuiert werden kann, besteht darin, daß er von anderen Gegenständen unterschieden werden kann, und zwar entweder von allen anderen möglichen Gegenständen oder bestimmten anderen Gegenständen. Voraussetzung dafür, daß wir Bestimmtes intendieren können, ist also, daß es von anderem unterschieden wird.«

6. Ornament: Signal/Rauschen

der Sinnbegriff auf folgende Weise eingeführt: »Die Co-evolution hat zu einer gemeinsamen Errungenschaft geführt, die sowohl von psychischen als auch von sozialen Systemen benutzt wird. Beide Systemarten sind auf sie angewiesen, und für beide ist sie bindend als unerläßliche, unabweisbare Form ihrer Komplexität und ihrer Selbstreferenz. Wir nennen diese evolutionäre Errungenschaft ›Sinn‹.« (SoSy, S. 92) Diese Einführung des Sinnbegriffs ist paradigmatisch für Luhmanns Einführung von Begriffen insgesamt. Sinn wird zunächst als (darauf weisen die Anführungszeichen hin) im performativen Vollzug des Schreibens gesetzter Begriff eingeführt. Dies bestätigt sich wenige Sätze danach, wenn der »Sinnbegriff als ›differenzlose[r] Begriff, der sich selbst mitmeint« auftritt. Gleichzeitig bezeichnet er etwas unabhängig von dem Begriff selbst vorhandenes, nämlich eine evolutionäre Errungenschaft.62 In dieser Hinsicht kann nun auch vom Begriff »Sinn« im Sinne einer »phänomenologischen Beschreibung« (SoSy, S. 93) auf das von der beschreibenden Konstruktion unabhängige »Phänomen Sinn« (SoSy, S. 93) übergeschwenkt werden, dessen – vorgeblich – phänomenologische Qualität in der oben bereits beschriebenen reinen Operativität besteht: Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas steht im Blickpunkt, im Zentrum der Intention und anderes wird marginal angedeutet als Horizont für ein Undso-weiter des Erlebens und Handelns. Alles, was intendiert wird, hält in dieser Form die Welt im ganzen sich offen, garantiert also immer auch die Aktualität der Welt in der Form der Zugänglichkeit. (SoSy, S. 93) In jedem dieser phänomenologischen Beschreibungen ist der Sinnbegriff direkt mit dem Formbegriff verknüpft – Sinn ›erscheint‹ auf der phänomenologischen Ebene als Form, Sinn ist auf der historischen Ebene die evolutionär entwickelte Form der Komplexität und so ist systematisch Sinn als »Sinnform« (SoSy, S. 94) zu erkennen: »Sinn ist mithin – der Form, nicht dem Inhalt nach – Wiedergabe von Komplexität, und zwar eine Form der Wiedergabe, die punktuellen Zugriff, wo immer ansetzend, erlaubt, zugleich aber jeden solchen Zugriff als Selektion ausweist und, wenn man so sagen darf, unter Verantwortung stellt« (SoSy, S. 95). Im Begriff des Sinns findet sich derselbe Kurzschluss zwischen Gegenstand und Begriff, der auch für den Systembegriff bei Luhmann kennzeichnend ist, hier aber nicht so deutlich thematisiert wird. Sinn schließt nicht nur die Systeme, sondern auch das Buch Soziale Systeme, insofern es dessen Offenheit (im Sinne einer nie stillzustellenden Möglichkeit des Weiter-So), aber auch die Unmöglichkeit des Abbruchs von Sinn (und damit des Abbruchs des mit der Lektüre der Sozialen Systeme befolgten Lektüreprogramms) apostrophiert.

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Vgl. Stöckmann: Die Zeit der Geselligkeit und der Text der Systemtheorie, S. 62: »Die Systemtheorie erweitert die Reflexion ihres Anfangs daher um eine zweite, evolutionstheoretische Perspektive. Sie leistet, anders als die gewissermaßen zeitlose Handhabung der ersten Unterscheidung, eine Diachronisierung des Theorieanfangs, indem sie die durch die Unterscheidungen gewonnenen Begriffe als Effekte evolutionär gewachsener Komplexität behandelt.« Um Komplexität geht es selbstverständlich auch in Bezug auf den Sinnbegriff, wie Luhmann betont, wenn er beschreibt, dass »diese Formvorschrift Sinn auf das Problem der Komplexität bezieht« (SoSy, S. 94).

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Lektüre als Form

Sinn korrespondiert als evolutionäres Universale schließlich auch mit der These der Geschlossenheit selbstreferentieller Systembildungen. Geschlossenheit der selbstreferentiellen Ordnung wird hier gleichbedeutend sein mit endloser Offenheit der Welt. Diese Offenheit wird nämlich durch die Selbstreferentialität von Sinn konstituiert und durch sie laufend reaktualisiert. Sinn verweist immer wieder auf Sinn und nie aus Sinnhaftem hinaus auf etwas anderes. Systeme, die an Sinn gebunden sind, können daher nicht sinnfrei erleben oder handeln. […] ›Sinnlosigkeit‹ kann deshalb nie durch Negation von Sinnhaftigkeit gewonnen werden. Sinnlosigkeit ist ein Spezialphänomen, es ist überhaupt nur im Bereich der Zeichen möglich und besteht in einer Verwirrung von Zeichen. (SoSy, S. 96) Hier ist nun der Endpunkt der Plausibilisierung des Sinnbegriffs erreicht – der Punkt, an dem ›Sinn‹ im Text zur personalen Entität wird.63 Der Sinnbegriff wird »in einem tropischen Darstellungsregister unablässig als seine eigene Allegorie, in einem figuralen Register im Modus der personifizierenden Rede«64 zum Subjekt des Satzes: »Sinn entzieht diesem Unterbau [Realitätsunterbau] dann Differenzen (die als Differenzen nur Sinn haben), um differenzorientierte Informationsverarbeitung zu ermöglichen.« (SoSy, S. 97) An der Einführung des Sinnbegriffs ist die Funktionalität des Formbegriffs deutlich zu sehen. Während der Begriff Sinn qua deutlich apostrophierter Benennung als Begriff – in Anführungszeichen – eingeführt wird, gewinnt er die Reichweite seiner Wirkungskraft erst in Verbindung mit dem Begriff der Form. Erst als »Sinnform« (SoSy, S. 94) ist die Emanzipation des Ausdrucks ›Sinn‹ vom Begriff vollständig, und erst dann wird Sinn zum theoretischen Grundbegriff, der seine eigene Begründung selbst liefert. Erst als Sinnform steht der Begriff ›Sinn‹ paradigmatisch für eine Selektivität, die dann wiederum – entmaterialisierend – auf die Sprache zurückprojiziert werden kann: »Sprache ist nicht nur ein Problem der Worte; sie ist vor allem ein Problem der Übermittlung von Selektionszusammenhängen«65 , heißt es bei Luhmann. Der Begriff Sinn ist damit eine Modifikation des Formbegriffs, der allerdings als philosophisch traditionsreicher Term eine Beziehung zu anderen Texten, insbesondere zu denen Husserls unterhält.66 Er macht dabei auf die Prozessualität des Formbegriffs aufmerksam, die – trotz der eingeführten Unterscheidungen etwa von Form und Medium – auf die Differenzlosigkeit nicht nur des Sinnbegriffs, sondern auch des Formbegriffs selbst hinführt. 63

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Luhmann bezeichnet genau das, nämlich die »Prädikation auf Satzsubjekte zu erzwingen und so die Vorstellung zu suggerieren und schließlich die alte Denkgewohnheit immer wieder einzuschleifen, daß es um ›Dinge‹ gehe, denen irgendwelche Eigenschaften, Beziehungen, Aktivitäten oder Betroffenheiten zugeschrieben werden« als eine der »schlimmsten Eigenschaften unserer Sprache«. Daraus resultiert auch, dass »die Gesamtdarstellung der Systemtheorie in diesem Buche […] aus diesem Grunde inadäquat, ja irreführend« sei (vgl. SoSy, S. 115). Stöckmann: Die Zeit der Geselligkeit und der Text der Systemtheorie, S. 68. Luhmann: Unverständliche Wissenschaft, S. 196. So finden sich direkt zu Beginn des Sinn-Kapitels zwei Fußnoten zu Husserl, die etwa auf die Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie Bd. I sowie auf Erfahrung und Urteil: Untersuchungen zur Genealogie der Logik verweisen.

6. Ornament: Signal/Rauschen

In Bezug auf das Netzwerk an Begrifflichkeiten insgesamt kommt dem Sinnbegriff zu, auf deren nur vorläufige Gültigkeit zu verweisen: »Sinn bildet den Kontext aller Zeichenfestlegung, die conditio sine qua non ihrer Asymmetrisierung, aber als Zeichen genommen würde Sinn nur als Zeichen für sich selbst, also als Zeichen für die Nichterfüllung der Funktion des Zeichens stehen können.« (SoSy, S. 107) Die entscheidende Funktion des Sinnbegriffs ist es also, wiederum qua einschließendem Ausschluss nicht nur die Kommunikation mit der philosophischen Tradition, mit Husserl, aufrechtzuhalten, sondern auch das für diese Tradition zentrale Paradigma der menschlichen Kommunikation, das Gespräch, zu ersetzen durch das Paradigma der Informationsverarbeitung. Gerade der emphatische Begriff menschlicher Kommunikation, der Sinn, muss insofern seine Tauglichkeit für die Differenz von Signal und Rauschen und somit seine Tauglichkeit innerhalb des informationsverarbeitenden Paradigmas unter Beweis stellen. Insofern bildet der Sinnbegriff auch eine Brücke zwischen der abstrakten Formbegrifflichkeit und deren medialer Möglichkeitsbedingung: der Schrift. Zum Ende des Sinnkapitels in Soziale Systeme kommt Luhmann denn auch auf die Schrift zu sprechen: »Die wohl wichtigste evolutionäre Errungenschaft,« so heißt es hier, »die ein solches Auseinandertreten der Sinndimensionen bewirkt, liegt in der Einführung von Schrift.« (SoSy, S. 127) Der Sinnbegriff trägt dazu bei, diese sprachlich formulierten Selbstreferenzen zu ersetzen: »Der Begriff der symbolischen Generalisierung des Selbstbezugs von Sinn ersetzt den Begriff des Zeichens, der bis heute die Theorietradition beherrscht.« (SoSy, S. 137) Während es in der Luhmannschen Transkription des Sinnbegriffs zentral um Lektüre und die Transkription von Lektüreerfahrungen (der Phänomenologie) geht, stammen die Begriffe Organisation und Konstruktion aus einem anderen Zusammenhang; sie bilden den Berührungspunkt zu den Anfängen des soziologischen Interesses Luhmanns, die sich zumindest oberflächlich an empirisch beobachtbaren Zusammenhängen abarbeiten. Die Kontinuität zu den Schlegelschen Begrifflichkeiten der Organisation und Konstruktion ist nicht nur rein akzidentiell zu verstehen, sondern speist sich aus dem ähnlich gelagerten Interesse an Fragen der Schließung, die im Falle der Organisation einmal gedruckte Bücher, das andere Mal gesellschaftliche Konstrukte betreffen. Der dem Begriff der Organisation in beiden Fällen eng angefügte Begriff der Konstruktion macht dieses gemeinsame Interesse deutlich, insofern er sich in beiden Fällen auf Fragen der Schließung des eigenen Schreibens, und somit auf die Diskontinuität zwischen Arabeske und Ornament beziehen lässt.

6.2.2.

Organisation und Konstruktion

Wie der Sinnbegriff, so markieren auch die Begriffe von Organisation und Konstruktion eine Gemeinsamkeit des Schlegelschen und Luhmannschen Begriffskosmos. Ich zeige hier, welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten sich zwischen der Luhmannschen Fassung der Unterscheidung Organisation und Konstruktion und dem Schlegelschen Begriffspaar ergeben. Beim Organisationsbegriff handelt es sich um einen Schlüsselbegriff insbesondere der Frühphase von Luhmanns Schaffen, der sich durch die verschiedenen Phasen seines Werks allerdings als (im Sinne der folgenden Diskussion diskontinuierliche) Konstante

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Lektüre als Form

erweist. »Luhmann ist mit seiner einschlägigen Rezeptionsleistung und der großen, bis zu seinem Tod nicht erlahmten Aufmerksamkeit für Organisationen, diese so wichtigen und mächtigen Systeme der Moderne, abgesehen von James Coleman die Ausnahme unter den Autoren großer Theorie.«67 Dies belegen etwa die fünf neu konzipierten Bände Schriften zur Organisation, welche bis 2020 herausgegeben werden. Neben bereits veröffentlichten Aufsätzen finden sich hier auch noch nicht veröffentlichte Manuskripte, die eine Gesamtschau auf Luhmanns Organisationsbegriff erlauben. Im Kontext der hier angestellten Überlegungen lassen sich die begrifflichen Übereinstimmungen zwischen Schlegels und Luhmanns Organisationsbegriff als in einem gemeinsamen Problembewusstsein begründet begreifen. Dieses betrifft die Frage der Vermittlung von Öffnung und Schließung, sowie den Modus der Schließung, die sich für Schlegel am Problem einer Beschreibbarkeit von Kunstwerken, für Luhmann als Problem einer adäquaten Beschreibung von sozialen Organisationen stellt. Dass so unterschiedliche Gegenstände auf dieselbe Problemlage bezogen werden können, ist zunächst einmal in der rein operativen Bestimmung dieser beiden Gegenstandsbereiche begründet, die mit der vom Begriff der Organisation eröffneten Perspektive eingenommen ist. Wie ich schon in Bezug auf Über Goethes Meister gezeigt habe, impliziert der Begriff der Organisation sowohl eine besondere Konzeption des unter dieser Perspektive beschriebenen Gegenstands als auch eine besondere Gerichtetheit der mit diesem Begriff operierenden Beschreibung. In Bezug auf den Gegenstand ist der Begriff der Organisation wichtig, insofern er diesen als Zusammenhang von Elementen begreift, die jeweils für sich eine »Wahl unter Alternativen«68 darstellen. Diese Wahl kann nun wiederum auf verschiedene ›Akteure‹ attribuiert werden. Wie ich zuvor gezeigt habe, war der Begriff der Organisation für Schlegel insofern von Bedeutung, als er die Frage nach dem ›Woher‹ der Organisation in der Schwebe hielt und diese gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Werks situierte. In Bezug auf die Perspektive des mit dem Organisationsbegriff hantierenden Beobachters bedeutet die Suspension der Frage nach dem Woher eine Verschiebung hin zur Frage nach dem Wie dieser Wahl unter Alternativen. Beide Aspekte des Organisationsbegriffs lassen sich bei Luhmanns Verwendung desselben wiederfinden. Seine Beobachtung der Gesellschaft sucht nach dem »organisierende[n] Metaprinzip«69 der jeweiligen sozialen Ordnung. Luhmann sucht stets »einen generativen Mechanismus […], der im Gegenstand in der Lage ist, den Gegenstand hervorzubringen«70 . So wie Schlegel in der Lektüre des Wilhelm Meister als Antwort auf die Frage nach dem Woher der Organisation ins Innere des Romans blickt und dort Mignon als ›Springfeder‹ entdeckt, lokalisiert Luhmann den generativen Mechanismus der Organisation innerhalb der Organisation, die er – wie alle sozialen Systeme – als »autopoietisch[...]«71 bzw. vor der autopoetischen Wende als »reflexive Mechanismen«72 begreift:

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Ortmann: Luhmann und die Organisationssoziologie, S. 24. Luhmann: Organisation und Entscheidung, S. 411. Fuchs: Die Metapher des Systems, S. 58. Baecker: Luhmann und die Manager, S. 24. Luhmann: Organisation, S. 336. Luhmann: Reflexive Mechanismen.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Sie [die Organisationen] differenzieren sich aus als ein rekursiv-geschlossenes, mit eigenen Entscheidungen auf eigene Entscheidungen bezugnehmendes System, das sich selbst durch ein Verfahren der Eigenzurechnung von Entscheidungen von der Umwelt unterscheiden kann und das deshalb auch von außen als ein System mit selbstgezogenen Grenzen beobachtet und behandelt werden kann. Geht man von dieser Annahme einer selbstreferentiellen Geschlossenheit aus, muß man alle externen Referenzen, die im System benutzt werden, als interne Operationen auffassen. Es gibt dann zum Beispiel keine externen »Quellen« von Autorität.73 Die Frage nach dem Woher evoziert notwendigerweise ein Paradox, da die Quelle immer gleichzeitig außerhalb und innerhalb der Organisation selbst liegt, von dieser gewissermaßen selbst externalisiert und in das Äußere verschoben wird. Die solcherart blockierte Frage nach der »Einheit der Differenz des Matrix-Programms und seiner Programmierung«74 wird bei Schlegel wie Luhmann paradox beantwortet. Das heißt: »An die Stelle der Paradoxie wird eine Tautologie gesetzt. Wenn man aber erklären will, wie es möglich ist, daß Entscheidungen Systeme bzw. Systeme Entscheidungen erzeugen, kann man dabei nicht stehen bleiben. Man möchte vielmehr genauer wissen, wie die Autopoiesis auf der Basis von paradox oder tautologisch gebildeten Elementen zustande kommt.«75 An die Stelle des ›Woher‹, oder – in Luhmanns Fall, da es ihm um eine Irritation der klassischen Organisationssoziologie und ihrer Orientierung an ›Zwecken‹ geht – noch wichtiger an die Stelle des ›Wozu‹ tritt die Frage nach dem Wie der Schließung. Diese operative Perspektive erweist sich als Kern von Luhmanns Interesse an den Organisationen, der allerdings erst in Soziale Systeme erkennbar ist. Erst hier fordert er ein, die Frage nach der Organisation nicht als Frage nach bestimmten Gegenständen innerhalb der Gesellschaft, sondern als Frage nach einem Prinzip zu stellen. Während er sich in den frühen organisationstheoretischen Schriften mit tatsächlichen Organisationen, also etwa »Organisationen des politisch-administrativen Bereichs« oder »Wirtschaftsorganisationen« (SoSy, S. 280) beschäftigt hatte, bezieht er dieselben Fragen in Soziale Systeme auf ein »weniger offensichtliches Beispiel« (SoSy, S. 280): Man kann sich diesen komplizierten Zusammenhang von Steigerung der Ausdifferenzierung und der Autonomie, die auf internen Reduktionen und simplifizierenden Selbstbeschreibungen beruht und trotzdem leistungsfähiger mit der Umwelt verknüpft werden kann, auch am Unterschied von Sozialisation und Erziehung verdeutlichen. Sozialisation kommt ohne besondere Aufmerksamkeitsanforderungen durch Mitleben in einem sozialen Zusammenhang zustande. Sie setzt Teilnahme an Kommunikation voraus, und zwar speziell die Möglichkeit, das Verhalten anderer nicht nur als Faktum, sondern als Information zu lesen – als Information über Gefahren, über Enttäuschungen, über Koinzidenzen jeder Art, über Realisation eines Bezugs auf soziale Normen, über das in einer Situation Angemessene (SoSy, S. 280).

73 74 75

Luhmann: Organisation, S. 339. Hagen: Gegenwartsvergessenheit, S. 131. Luhmann: Organisation, S. 341.

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Lektüre als Form

Die grundsätzliche Perspektive, die mit der Organisation einhergeht, wird hier also gerade nicht mehr an den in der allgemeinen Sprache so benannten ›Organisationen‹ beleuchtet, sondern an einer diesen Organisationen in der konventionellen Vorstellung völlig fernliegenden Fragestellung, nämlich derjenigen nach dem Unterschied von Sozialisation und Erziehung. Die damit einhergehende Verfremdung des Begriffs ›Organisation‹ macht auf die ihm inhärente Asymmetrie aufmerksam, die darin liegt, dass das Prinzip der Organisation immer die mit dem Begriff assoziierten Gegenstände transzendiert. Bei diesem Prinzip handelt es sich um einen Perspektivwechsel, der mit der asymmetrischen Dopplung des Organisationsbegriffs nicht nur adressiert, sondern gleichzeitig performativ vollzogen wird. Dieser Perspektivwechsel liegt darin, einen Gegenstand nicht mehr als Einheit zu betrachten, sondern als sich gegenseitig einschränkende Abfolge von Entscheidungen. Bei der Organisation geht es also nicht um die Organisation von Elementen, sondern um die Organisation von »selektiven Relationierung[en]« (SoSy, S. 53). Dies wird in Die Gesellschaft der Gesellschaft deutlich beschrieben: Organisationen sind ausdifferenzierte Sozialsysteme, wir werden darauf zurückkommen, aber sie durchsetzen mit ihrer Eigendynamik die Funktionssysteme der Gesellschaft. Ihre Evolution folgt dem Entscheidungsbedarf und der Notwendigkeit, Entscheidungen zu kommunizieren, und die Ausgangspunkte für weitere Entscheidungen festzulegen. Sie legen sich zwischen die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme auf der einen und die Interaktionen unter Anwesenden auf der anderen Seite. (GdG, S. 166) An dieser Stelle enthüllt sich der funktionale Kern des Organisationsbegriffs, der bei Luhmann darin besteht, die konkrete und damit begrifflich nicht kontrollierbare Empirie von Interaktionen in die Logik der Codierungen zu übersetzen. Der Begriff der Organisation transformiert, genauso wie die mit ihm als Gegenstand beschriebene Einrichtung, soziale Interaktionen in Ketten von kontrollierbaren Entscheidungen – also Codierungen, die dann geeignet sind, Zusammenhänge rekursiv zu schließen. Hier nun setzt die Diskontinuität zwischen Schlegels und Luhmanns Organisationsbegriff an. Bei Schlegel ist mit dem Begriff der Organisation kein Absehen von konkreter Empirie gemeint, sondern eine ›Hebung‹, also eine Integration: »Der kleinste Zug ist bedeutsam, jeder Strich ist ein leiser Wink und alles ist durch helle und lebhafte Gegensätze gehoben,« (KFSA II, S. 126) heißt es über den Wilhelm Meister. In der Organisation verwandeln sich die apostrophierten ›Massen‹ (der Stoff), nicht in reine Entscheidungen (Form), sondern werden gerade erst kommunizierbar gemacht. Die Schlegelsche Methode eines konstruktiven Nachvollzugs der Organisation zielt gerade nicht auf die Transparenz dieser reinen Form, die dann als immer signalförmiges Muster das Rauschen kontrolliert, sondern um die Aufrechterhaltung eines unendlichen Gesprächs innerhalb der Atmosphäre einer zwar sinnlich fassbaren, aber nie ganz überschaubaren, Vollständigkeit. Diese Diskontinuität bezieht sich auch auf den Gegenbegriff zur Organisation, der sowohl bei Luhmann als auch bei Schlegel als Konstruktion bezeichnet wird, und die Form des eigenen Nachvollzugs von Organisation meint. Ein im obigen Sinne ›temporalisiertes‹ System, das selbsterzeugte Gegensätze und daraus resultierende Einheiten

6. Ornament: Signal/Rauschen

als ›differentielle Einheit‹ prozessiert kann nur gelesen werden, wenn die Lektüre/Beobachtung selbst auf dieselbe Weise organisiert ist, sich also selbstständig begrenzen kann. Organisation ist so direkt mit der Frage nach Konstruktion, also – für Luhmann – entsprechender Selektion verbunden: »Der Komplexitätsverlust muß dann durch besser organisierte Selektivität […] aufgefangen werden«, heißt es in den Sozialen Systemen etwa über die Funktion des Mythos als »Welt und Situationsorientierung eines Volksstammes« (SoSy, S. 49). Organisation verweist auf Schließung, insofern die höhere Selektivität eine höhere Verbundenheit der Elemente untereinander erfordert. Eine paradigmatische Organisation ist daher ein Buch wie Soziale Systeme selbst, was sich, wie im Vorhergehenden gezeigt wurde, als enges Netzwerk aufeinander bezogener prozessualer Begrifflichkeiten darstellt. Der Blick auf die ›Organisation‹ verlangt also den Blick auf die ›Konstruktion‹ und damit auf die Konstruktion des eigenen Buchs. Immer wieder spricht Luhmann von den »hohe[n] Anforderungen an die Konstruktion der Theorie« (SoSy, S. 15) und begründet dies mit der besonderen Organisation seines Gegenstands, der modernen Gesellschaft. Die Frage der Konstruktion ist für Luhmann eine zentrale Frage der sogenannten ›Textkunst‹: Textkunst unterscheidet sich von normaler Textgestaltung, die, wie man im postmodernen Jargon sagt, einen ›readerly text‹ anstrebt und dem Leser damit die passive Rolle des Verstehens zuweist; sie unterscheidet sich dadurch, daß sie dem Leser ein ›rewriting‹, eine Neukonstruktion des Textes zumutet. Oder mit anderen Worten: sie strebt nicht nach möglichst automatischer Wiederholung eines bekannten Zeichensinnes, sondern sucht, obwohl darauf hingewiesen, Automatismen zu unterbrechen und das Verstehen eines Textes als Kunstwerk zu verzögern. (KdG, S. 46) Dass es um die Konstruktion als Widerstand der Lektüre, als deren Schließung und Rückführung auf ein formales Muster auch in Bezug auf die eigene Textproduktion geht, zeigt sich etwa in einem von Kollegen überlieferten Satz in Bezug auf die Behauptung, »seine Konstruktion sei großartig aber falsch«. Luhmanns Antwort gestaltet sich, in der Erinnerung De Giorgis, wie folgt: »Er lachte und lachend wiederholte er mir: ›Kann wohl sein; aber wenn sie falsch ist, dann auf die einzig richtige Weise.‹«76 Wie zuvor gezeigt (vgl. Kap. 4.2.2), verbindet sich bei Schlegel das Eingeständnis der Konstruktion des eigenen Buchs mit der nichtsdestotrotz vertretenen Behauptung von dessen Natürlichkeit und Naturhaftigkeit. Für diese Doppelung steht die Arabeske als symmetrische Verknüpfung der Pole von Natur und Kunst, von Notwendigkeit und Willkür. Bei Luhmann hingegen bezeichnet der Begriff der Konstruktion größtmögliche Transparenz auf das »Konstruktionsprinzip« (SoSy, S. 38). Nur diese Transparenz garantiert die Möglichkeit einer ins Innere, nämlich auf die Relationierung von Relationen verschobene Schließung von Lektüre (vgl. Kap. 6.3).

6.2.3.

Grenze

Die Grenze ist für Friedrich Schlegel in Bezug auf die Abwehr eines gefürchteten ›leeren Unendlichen‹ und damit auch für die Lektüre von Kunstwerken von zentraler Be76

De Giorgi: Niklas Luhmann. Die Zukunft des Gedächtnisses, S. 30.

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Lektüre als Form

deutung. Auch Luhmann sieht im Begriff der Grenze eine entscheidende Komponente der Systemtheorie: »Systeme haben Grenzen. Das unterscheidet den Systembegriff vom Strukturbegriff« (SoSy, S. 52) heißt es in Soziale Systeme. Die Wichtigkeit der Grenze bezieht sich für das System nicht nur auf den Gegenstand in der Gesellschaft, sondern auch auf die eigene Theorie: auf das Ereignis Soziale Systeme, das in seiner asymmetrischen Buchförmigkeit die Asymmetrie der Unterscheidung Signal/Rauschen einführt und damit den Beginn der tatsächlichen Theorieproduktion markiert. Wichtig hierfür ist die »Doppelfunktion der Trennung und Verbindung« (SoSy, S. 52). Grenzen installieren eine asymmetrische Differenz, aber gleichzeitig auch die Möglichkeit der Überschreitung dieser Differenz. Insofern muss man die »Unterscheidung von geschlossenen und offenen Systemen nicht mehr als Typengegensatz auffassen, sondern als Steigerungsverhältnis. Mit Hilfe von Grenzen können Systeme sich zugleich schließen und öffnen.« (SoSy, S. 52) Am Begriff der Grenze wird also deutlich, dass das Verhältnis von Schließung und Öffnung nicht nur für den Begriff der Bildung bei Schlegel, sondern auch für den Begriff des Systems bei Luhmann eine zentrale Frage ist – die sich, wie gezeigt, auf das Verhältnis von Lektüre und Buch zurückführen lässt. Bei Luhmann ist die Grenze direkt mit dem Begriff des Sinns sowie wiederum mit dem Begriff der Form verbunden. Form definiert Luhmann als »Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten und daraus die Konsequenzen zu ziehen« (SoSy, S. 114). In für Luhmanns Verhältnisse ungewöhnlicher Nähe zur idealistischen (und frühromantischen) Begriffstradition formuliert er in den Notizen zum geplanten Buch Reden und Schweigen: Die Unterscheidung Immanenz/Transzendenz codiert die Horizonthaftigkeit allen Sinnes. Aktualer Sinn entfaltet sich in Horizonten, die in einem paradoxen Sinne als Grenze fungieren: als unerreichbar und unüberschreitbar (was dem Begriff der Grenze widerspricht). Während der aktual erlebte Sinn ständig wechselt, ist der durch Horizonte gehaltene Möglichkeitsspielraum stabil, aber nicht aktualisierbar. Das Aktuale und damit Evidente und Sichere ist also instabil, das Stabile dagegen weder aktualisierbar noch sicher.77 Luhmann weist hier explizit auf den paradoxen Charakter des Begriffs der Grenze78 hin. Als Prinzip ist die Grenze unüberschreitbar, da es keinen Sinn ohne Grenze geben kann. Als konkrete Grenze des einzelnen Sinns ist sie allerdings durchaus überschreitbar. Sie lädt geradezu zur Überschreitung ein, wobei diese allerdings das Prinzip der Grenze wieder in Kraft setzt und bestätigt. In dieselbe Richtung geht etwa auch die Definition der Grenzstelle, die Luhmann in seinem ersten Buch Funktionen und Folgen formaler Organisation entwirft. Hier heißt es über diese personal gedachten Grenzstellen, sie seien gezwungen »Rollenverpflichtungen über die Grenze hinweg einzugehen« und sie müssten darüber hinaus »Umweltinformationen sichten und sieben und sie in eine Sprache bringen, die im System verstanden und akzeptiert wird« (FuFfO, S. 224). Diesen konkreten Grenzbestimmungen, die dann gerade in ihrer Funktion als Grenze 77 78

Luhmann, Fuchs: Notizen zu Reden und Schweigen, S. 227. Gleichzeitig erklärt er an anderer Stelle: »Theoretische Behandlungen des Grenzbegriffs sind selten und zumeist wenig ergiebig.« (SoSy, S. 52)

6. Ornament: Signal/Rauschen

überschreitbar sind, steht eine abstrakte Bestimmung der Grenze als unüberschreitbar gegenüber. Diese Paradoxie weist den Grenzbegriff als paradigmatisch prozessualen Begriff aus, der seine Identität gerade aus seiner Differenz bezieht. Im Begriff selbst lässt sich, genauso wie im oben diskutierten Sinnbegriff, die Binnendifferenzierung zwischen abstrakten Möglichkeitsbedingungen und konkreten Sachverhalten entfalten. Die Betonung und Stabilisierung der Grenze ermöglicht in dieser Logik erst ihre Überschreitung, die wiederum allerdings Zeit verbraucht – etwa die Zeit der Lektüre. Die Lektüre, wie Schlegel und Schleiermacher sie entwerfen, versetzt die konkreten Grenzen eines Texts zurück in den Status von nur möglichen Grenzen, insofern sie bestrebt ist, die Produktionsbedingungen zu wiederholen. Genau dasselbe Prinzip verfolgt Luhmann, wenn er die Unwahrscheinlichkeit von gewordenen Ordnungen, von gezogenen Grenzen, betont und damit die Grenzen in den Status ihrer Kontingenz zurückversetzt. Grenzen sind insofern nicht räumlich zu verstehen, sondern immer prozessual und damit ereignishaft. »Das System […] ist nicht an seiner Stelle ein System. Man kann nicht auf seine Ränder stoßen, seine Grenzen werden nicht räumlich, sondern operativ hergestellt: als Markierung der Änderung von Fortsetzbarkeitsbedingungen psychischer und sozialer Systeme.«79 Eine Lektüre von Grenzen benötigt als Ausgangspunkt die Grenze selbst, die – auch bei Luhmann – an die Schrift gekoppelt ist. Im Aufsatz Die Form der Schrift ersetzt er den Begriff der Grenze durch den der Form80 . Wenn ich über die Form der Schrift spreche, muß ich solch eine erste Spaltung und d.h. viele erste Spaltungen voraussetzen. Dies wird im Begriff der ›Form‹ ausgesagt (sichtbar!), welche – wieder nach Spencer Brown – eine Grenze bedeutet, die zwei Seiten so trennt, daß man nur auf einer Seite zu handeln (z.B. beobachten) anfangen kann und die andere Seite nicht erreichen kann, es sei denn, indem man die Grenze überschreitet, dh. indem man Zeit verbraucht. Ich begreife die Schrift als eine Form der Kommunikation, d.h. als eine Form der Teilung des Kommunikationsraumes. Dies ist in keiner Weise offensichtlich. Denn die Schrift wurde nicht zum Zweck der Kommunikation erfunden, und bis vor sehr kurzer Zeit gab es noch nicht einmal ein Konzept von Kommunikation, das die Schrift und den Druck eingeschlossen hätte und zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation vermittelt hätte.81 79 80

81

Fuchs: Die Metapher des Systems, S. 66. Vgl. dazu etwa auch Luhmann: Weltkunst, S. 195-196: »Denn Form ist im elementarsten Sinne eine Grenze mit der Folge, daß es einen Unterschied macht, ob man sich mit Zuwendung und mit Anschlußmöglichkeiten an die eine oder an die andere Seite der Grenze hält. Form mag willkürlich gewonnen werden, aber sie limitiert dann das, was auf der einen bzw. der anderen Seite möglich ist. Es hat wenig Sinn, sich Form nach Art eines Körpers vorzustellen mit einem Bestand und einer Umgebung. So kann man sich manches veranschaulichen, aber das sagt noch nichts über das Wesen der Form. Form ist immer »Zwei-Seiten-Form«, immer Differenz. Nur so wird verständlich, daß Form die Fähigkeit besitzt, das durch sie Unterschiedene lebendig zu machen, und zwar nach beiden Seiten. Selbst wenn man an den Sonderfall der Körperformen denkt, macht Form nicht nur das in sie Eingeschlossene, sondern auch das durch sie Ausgeschlossene lebendig, was nichts anderes heißen soll als: selektiv anschlußfähig.« Luhmann: Die Form der Schrift, S. 350.

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Lektüre als Form

Die Vorstellung einer Grenze ist sowohl bei Schlegel und Schleiermacher als auch bei Luhmann eng an die Wahrnehmung von Druckschrift gebunden. Diese präformiert die Begrenztheit und gleichzeitig die in der Lektüre performierte Grenzenlosigkeit von Texten in Buchform. Der Grenzbegriff lässt sich so, wie auch der Sinnbegriff und der Begriff der Organisation und Konstruktion, nicht auf die Erfahrung irgendeiner Form von Sozialität oder Gesellschaft zurückführen, sondern primär auf die Praxis der Lektüre und deren Reflexion. Auch der Grenzbegriff funktioniert allerdings bei Luhmann anders als in der Frühromantik. Während die Grenze bei Schlegel einen inkludierenden Abschluss bildet – es also immer wieder darum geht, was diese Grenze einschließt, etwa die Möglichkeit der Sinnlichkeit, in der paradoxen Formulierung des ›sinnlich Berechnens‹ – geht es bei Luhmann um die Frage, was die Grenze ausschließt – das ist jeweils jede Form von Heterogenität. Für Luhmann ist ab der Veröffentlichung von Soziale Systeme82 von einer »Logik der Trennung, der eindeutigen Grenzen und Grenzerhaltung«83 zu sprechen. Dies wird besonders deutlich in der Veränderung der Funktionsbestimmung von Kunst. Einerseits bestimmt Luhmann in der Kunst der Gesellschaft die Kommunikation des Kunstwerks als ein ›Mehr‹ gegenüber der sprachlichen Kommunikation: »Die in der Wahrnehmungswelt vorhandenen Bewegungsfreiheiten werden gegen die Engführungen der Sprache wiederhergestellt« (KdG, S. 21), heißt es hier etwa. Die Kunst ist damit eine paradigmatische Möglichkeit der nichtsprachlichen Kommunikation. Anders als in diesem Zitat zu vermuten wäre, geht es Luhmann aber nicht, wie den Frühromantikern, um eine Vermehrung der Sinnmöglichkeiten, sondern gerade um eine Verminderung im Sinne einer »›Grenzhygiene‹«84 . Dies wird an der zweiten, rein formalen Funktionsbestimmung von Kunst deutlich, welche diese vollständig von jeglicher Vorstellung der Mitteilung und Kommunikation im Sinne eines Gesprächs löst und auf den puren Nachweis einer Schließung reduziert: »Die gesellschaftliche Funktion der Kunst liegt im Nachweis von Ordnungszwängen im Bereich des nur Möglichen« (KdG, S. 238), heißt es hier. Diese Funktionsbestimmung geht konform mit einer Beschreibung der Operationen von Kunst:

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Eine solche Veränderung in der Logik des Grenzbegriffs beobachtet Koschorke: Die Grenzen des Systems, S. 51: »Luhmann hat in seiner mehr als dreißigjährigen soziologischen Arbeit erst relativ spät, von den Sozialen Systemen (1984) an, zu einer derart rigiden Fassung des Problems der Systemgrenze gefunden.« Reckwitz: Die Logik der Grenzerhaltung und die Logik der Grenzüberschreitungen, S. 235. Reckwitz geht davon aus, dass sich Luhmann damit auf einer Linie mit der Romantik befindet, insofern er wie diese die »Innenwelt« als »reiche Quelle mentaler, affektiver und unbewußter Akte, die eine eigenständige individuell zu entwickelnde Binnensphäre gegenüber der Welt der sozialen Interaktionen und Kommunikationen entfalten« möchte. »Diese Welt aber«, so Reckwitz weiter, »wertet die Romantik (mit Ausnahme des Sonderfalls der romantischen Liebe) größtenteils als eine für Verstellung anfällige, masken- und automatenhafte Szenerie ab« (vgl. S. 222-223). Dieser Argumentation Reckwitzʼ ist nur bedingt zuzustimmen; vielmehr ergibt sich das romantische Verständnis von Innerlichkeit ja gerade aus der Konzeption einer idealen sozialen Kommunikation mittels des materiellen Artefakts Buch, wie in Kap. 4 gezeigt wurde. Die romantische Liebe ist also kein Sonderfall, sondern gerade der paradigmatische Fall von Sozialität als Gespräch. Koschorke: Die Grenzen des Systems, S. 50.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Anders gesagt: das operative Geschehen bleibt immer nur auf der Innenseite der Form, aber es kann in den Sequenzen seines Vollzugs Formen an Formen, Unterscheidungen an Unterscheidungen anschließen, etwa eine Linie ziehen und beobachten, was sich dadurch im zu malenden Bild ändert, nämlich die Linie selbst und das, was das Bild sonst noch erwartet, wenn es diese Linie ertragen muß. So entstehen zweiseitig anschlußfähige Formen, bei denen das Operieren auf der einen Seite immer auch die andere Seite betrifft und verändert. Selbst dann bleibt jedoch der unmarked space, in den die operative Sequenz des Unterscheidens eingelassen ist, unzugängliche Voraussetzung. Jeder Formgebrauch und jedes Kreuzen der Grenze einer Form in bestimmter Richtung regeneriert auch den unmarked space der Welt im Sinne eines Vorbehalts weiterer Möglichkeiten des Operierens – im Sinne von Zukunft. (KdG, S. 59) Die Figur der Schließung ist also nicht positiv, als Rundung der Fülle und als Möglichkeitsbedingung von Konkretion, Sinnlichkeit und Heterogenität, wie bei Schlegel, zu verstehen, sondern vielmehr negativ, in Bezug auf das was getrennt und differenziert wird. In diesem Sinne interpretiert Wellberry etwa den Grenzbegriff Luhmanns und die damit verbundene Lektüresteuerung, bzw. ihre mögliche ›Öffnung‹: »Der Erkenntniswert konsequenter Theorieentwürfe, wie die Luhmannsche zweifellos eine ist, liegt dementsprechend in der rigorosen Einzeichnung der eigenen Grenze, die gleichsam zur Kreuzung auf die andere Seite einlädt.«85 Auch Wellberry setzt auf die Nähe zwischen der Beschreibung von Kunst als Gegenstand und der Beschreibung und in dieser Beschreibung eingelassenen performativen Herstellung der eigenen Theorie als Schließungsfigur. In beiden Fällen wird von Luhmann die »Handhabung der eigenen Systemgrenze [wird] zum einzigen Sinn der Systemoperationen erklärt«86 . Es geht also bei der Grenze nur noch um das Wie der Schließung selbst, als formale Operation, nicht mehr um das Wie dessen, was eingeschlossen wird. Eine ähnliche Verknüpfung von Kontinuität und Diskontinuität lässt sich auch für den Ironiebegriff bei Schlegel und Luhmann beobachten – auch wenn das Konzept der ›romantischen Ironie‹ nicht selten bruchlos auf Luhmann übertragen wird.87

6.2.4.

Zwischenfazit II: Ironie

Luhmanns Schreiben ist, wie dasjenige Schlegels, von einer spezifischen Praxis der Begriffsverwendung gekennzeichnet.88 Der Medientheoretiker Till Nikolaus von Heiseler charakterisiert im Gespräch mit Dirk Baecker die besondere Funktion der Begriffe als Barrikade, also als selbst induzierte Schließungsfigur.

85 86 87 88

Wellberry: Die Ausblendung der Genese, S. 27. Ebd., S. 22. Vgl. etwa Bolz: Ratten im Labyrinth. Vgl. etwa Schützeichel: Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann, S. 8. Schützeichel attestiert Luhmann hier ein »Übergewicht an begrifflichen und theoretischen gegenüber methodischen und methodologischen Fragen«.

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Lektüre als Form

Die Begriffe sagen schon alles. Ein Luhmann-Schüler braucht eigentlich gar keine Sätze mehr auszusprechen, um eine Aussage zu machen, weil die Begriffe schon alles sagen, in ihnen gleichsam schon alles enthalten ist, wenn man sie erklärt. Das ist natürlich auch ein Trick, weil man einzelnen Worten schwerer widersprechen kann als Sätzen. Man hat da nur die Wahl, entweder in diesen Begriffen zu denken, oder aber sie nicht zu verstehen. So schützt sich die Theorie und verbarrikadiert sich.89 Diese Aussage trifft bereits ins Zentrum des Luhmannschen Lektüreprogramms. Die Begriffe sind so angelegt, dass sie eine Asymmetrie zwischen sich selbst und den sie einbettenden ganzen Sätzen einrichten, welcher in der Lektüre zu folgen ist. Die Begriffe unterlaufen die grundlegende Öffnung, die im Prozess der Lektüre angelegt ist, insofern sie das Programm ihrer Lektüre mit sich führen und immer nur auf sich selbst zurückverweisen. Die Luhmannsche Begriffsarbeit zeigt sich also gegenüber der Schlegelschen als stark verschoben. Für Schlegel habe ich ein Nebeneinander von prozessualen, zur Abstraktion neigenden und symmetrischen, die Konkretion und damit gleichzeitig die Offenheit und Vieldeutigkeit des Verhältnisses zwischen ›Sprache‹ und ›Welt‹ wieder einführenden Begrifflichkeiten als Teil der paratextuellen Kommunikation aufgewiesen. Die damit einhergehende Offenheit der Begriffe in der Lektüre wurde insbesondere auch von der Beschaffenheit der sie einbettenden Sätze und Textbestandteile als übergeordneten Strukturen gewährleistet. Diese konnten erst die Sozialität und damit die Dichte der Lektüresituation als Gespräch garantieren. Dagegen übernehmen bei Luhmann die Begriffe die Funktion der Schließung. Die Symmetrie zwischen kritisierbaren, konkreten Begriffen und selbstbezüglichen, prozessualen Begriffen wird bei Luhmann zugunsten letzterer aufgehoben. Die vermeintliche Öffnung, die mit den prozessualen Begrifflichkeiten einhergeht, und sich auf ihre nur negative Beziehung zu einer Vorstellung von harmonischer Vollständigkeit bezieht, wird durch die Redundanz und Rekursivität der Begriffe als »Relevanzschema«90 untereinander kompensiert. Das Verhältnis von Öffnung und Schließung verlagert sich in die Begriffe selbst. Ihre Hierarchie, ihr jeweiliger Strukturwert ist für die Lektüre ausschlaggebend, nicht mehr ein tatsächliches Gespräch zwischen Buch und Lektüre. Das Lektüreprogramm steckt also in den Prozessbegriffen selbst. Hier wird der Wandel vom Gesprächs- zum Informationsparadigma augenfällig. Der Begriff ist bei Luhmann also eine »Verhaltensregel«91 in

89 90

91

Von Heiseler, Baecker, Schultz: Gespräch ohne Titel, S. 127. Der Begriff des Relevanzschemas taucht in den frühen Zetteln Luhmanns immer wieder auf, um einen abstrakten Horizont zu markieren, der selektiv fungiert, vgl. etwa ZK I, Zettel 20,7a und b: »Totalplanung heisst nicht etwa, dass alle Vorgänge im voraus bedacht und geregelt würden. Jede Welt ist in Erhebliches und Hintergrund gegliedert und auch die geplante Welt arbeitet mit einem solchen Relevanzschema. Planung richtet auch als Totalplanung ihr Augenmerk nur auf das im Rahmen einer Gesamtkonzeption Erhebliche. Sie ist Totalplanung insofern, als sie das Relevanzschema selbst einsetzt, aber sie kann naturgemäss nicht ohne Relevanzschema arbeiten und alles restlos bedenken. Insofern ist der Ausdruck restlos im Zusammenhang der Totalplanung missverständlich: er bezieht sich nur auf das in der Gesamtkonzeption relevante, oder – wenn man so will – auf die Möglichkeit, alles nach freier Wahl in Relevanz oder in Hintergrund einzuordnen. Aber eine hintergrundslose Planung gibt es nicht, weil es keine hintergrundslose Welt gibt.« (https://niklasluhmann-archiv.de/bestand/zettelkasten/zettel/ZK_1_NB_20-7a1_V, abgerufen am 17.2.2020) Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 42.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Bezug auf das Wie der Lektüre: Luhmanns Begriffe sind Lektüreprogramme, insofern sie den Leser immer wieder ›nach innen‹, in das ›innere‹ Buch als Ornament, auf andere Begriffe und ihre Strukturwerte für die Logik der Gesamtkonstruktion verweisen, und niemals nach außen, auf die ›Welt‹. Der hohe Stellenwert, der dem Begriff und seiner Fassung dabei zukommt, wird auch dadurch unterstrichen, dass sich die Arbeit am Begriff durch Luhmanns gesamte theoretische Arbeit zieht. Schon die allererste Publikation Luhmanns aus dem Jahre 1958 mit dem Titel Der Funktionsbegriff in der Verwaltungswissenschaft hat als Gegenstand einen Begriff. Er beginnt mit der Erörterung, was eine solche Begriffsreflexion leistet – nämlich die Transformation von akzidentiellem sprachlichem Material in codierbare Operationen, die ihrerseits kontrolliert werden können: Erörterungen über einen Begriff können für sich allein nicht richtige oder unrichtige Resultate ergeben, Wahres oder Falsches entdecken oder feststellen. Ihre Aufgabe ist es, zu systematischen Entscheidungen aufzurufen und solche Entscheidungen in ihren Konsequenzen zu klären. Das ist erforderlich, um den Begriff für eine logisch korrekte und kontrollierbare Verwendung vorzubereiten, damit ein jeder versteht, was der andere mit ihm meint.92 Die Genauigkeit der Signalübermittlung, die hier noch in Anlehnung an ein Gesprächsparadigma als ›Verständlichkeit‹ apostrophiert und in späteren Selbstreflexionen als technisches Problem reinterpretiert wird, ist an die wiedererkennbare, konsistente Verwendung von Begriffen geknüpft. Diese referieren keinen Sachbestand in der Welt, sondern eine lokalisierbare Entscheidung. Eine solche Zurichtung strebt Luhmann in seinem Aufsatz für den Begriff der Funktion an. Dazu analysiert er zunächst die Begriffsverwendung von ›Funktion‹ in den Verwaltungswissenschaften, stellt also die Frage: »Und was ist die Funktion der Funktion?«93 . Die tautologische Verdopplung weist bereits auf die Funktion der prozessualen Begriffe hin, die jeweils in ihrer asymmetrischen Selbstlegitimation besteht. Hier geht es um einen radikalen Schnitt, einen Neuanfang, der allerdings nicht in der ›Erfindung‹ neuer Wörter bestehen kann94 , sondern vielmehr in einer Verdopplung des vorhandenen Sprachmaterials. Diese Verdopplung spiegelt die in 6.1 beschriebene Transformation eines unkontrollierten Rauschens in ein asymmetrisches Signal/Rausch-Verhältnis. Der Begriff wird nurmehr als Position und damit gleichzeitig als Einschränkung künftiger Begriffspositionierungen verstanden (vgl. dazu auch Kap. 6.4). Luhmann möchte qua problem- oder funktionsorientierter Verdopplung einen »Grundbegriff der Funktion« herausarbeiten, »der jen-

92 93 94

Luhmann: Der Funktionsbegriff in der Verwaltungswissenschaft, S. 3, eigene Hervorhebung. Ebd., S. 4. Vgl. hier auch die interessanten Ausführungen des Anthropologen Eduardo Viveires de Castro zur Begriffsbildung in Bezug auf die Beschreibung von indigenen Völkern und deren begrifflichen und außerbegrifflichen Praktiken. De Castro unterscheidet hier verschiedene Möglichkeiten der anthropologischen Begriffsbildung, etwa die Übernahme eines indigenen Begriffs (z.B. mana), das Schaffen eines neuen Begriffs oder die Übernahme eines philosophischen Begriffs, wie er sie selbst etwa in seiner Engführung von ethnographischen Beobachtungen Levi-Straussʼ und philosophischen Studien Deleuzes und Guattaris vornimmt. Vgl. De Castro: Kannibalische Metaphysiken, S. 234-243.

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seits der Spaltung von mathematisierten und nichtmathematisierten Wissenschaften liegt und der den Mathematiker ebenso wie den Sozialwissenschaftler zufriedenstellen könnte«95 . Die Übercodierung der sprachlich verfassten Kommunikation mit einem signalförmigeren Symbolsystem der Mathematik ist der Begriffsarbeit Luhmanns von vorneherein eingeschrieben und bildet den Fluchtpunkt eines informationstheoretisch formierten Interesses an der Optimierung und Asymmetrisierung des Signal-RauschVerhältnisses.96 Die sprachlichen Begriffe gewinnen ihre Signalförmigkeit als »Differenz zu sich selbst« (SoSy, S. 38)97 – eine Differenz, die erst ihren Strukturwert für die Konstruktion des inneren Ornaments ausmacht. Der rein formale Charakter der Theorie als Ornament und die asymmetrische Doppelung der Begriffe stabilisieren sich gegenseitig. Es geht eigentlich nicht um die Begriffe selbst, sondern um ihre Funktion als ›Stellen‹. In diesem Sinne ist die Einleitung zu Soziale Systeme zu verstehen: »Die Darstellung der Theorie praktiziert mithin, was sie empfiehlt, an sich selbst: Reduktion von Komplexität. Aber reduzierte Komplexität ist für sie nicht ausgeschlossene Komplexität, sondern aufgehobene Komplexität. Sie hält den Zugang zu anderen Kombinationen offen – vorausgesetzt, daß ihre Begriffsbestimmungen beachtet oder theoriestellenadäquat ausgewechselt werden.« (SoSy, S. 12) Für Luhmann resultiert ein Verhältnis von Öffnung und Schließung, wie es sich etwa im Verhältnis Buch/Lektüre manifestiert, in ›aufgehobener Komplexität‹. Anders als bei Schlegel ist diese Komplexität jedoch nicht aufgehoben, insofern das Buch ein unendliches Gespräch der Liebenden einrahmt und somit eine immerwährende Befragung auf die eigene Existenz als organisierter Gegenstand ermöglicht. In Luhmanns Entwurf der virtualisierten Buchförmigkeit als Theorie ist die Komplexität vielmehr aufgehoben, insofern die Begriffe die »Transparenz«98 (SoSy, S. 9) auf ihre eigene Konstruktion mitführen. So werden sie zu Stellen eines virtualisierten, die sozial vermittelnde Sprache und die eigene materielle Existenz als graphische Zeichen gleichermaßen übersteigenden inneren Ornaments. In einer auffälligen Analogie zur Beschreibung des Zettelkastens spricht Luhmann so von »Formbegriffe[n], die auf der Ebene der Relationierung von Relationen angesiedelt sind« (SoSy, S. 26). An die Stelle des Traums von einer sozialen Schrift, die (mündliche) symmetrische Kommunikation integrieren kann, tritt der Traum von einer technischen Schrift, die 95 96

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Luhmann: Der Funktionsbegriff in der Verwaltungswissenschaft, S. 4. Immer wieder taucht dieses Interesse für Begriffe in Bezug auf ihren definierbaren Strukturwert auch biographisch, als Grundantrieb der persönlichen Laufbahn, auf. Im Interview mit Wolfgang Hagen erklärt Luhmann etwa, dass er römisches Recht studiert habe, weil man dort »am deutlichsten sozusagen das Geschick der Konstruktion erkennen konnte, keine systematische Begrifflichkeit, aber doch eine konsequenzenreiche Zuordnung von Fällen zu Begriffen ohne wesentliche Bedeutung von Gesetzgebung.« (Luhmann: Es gibt keine Biografie, S. 19, eigene Hervorhebung) So lautet bei Luhmann die Beschreibung der Leistung von Differenzierung für das System: »Das System gewinnt durch Differenzierung an Systematizität, es gewinnt neben seiner bloßen Identität (in Differenz zu anderem) eine Zweitfassung seiner Einheit (in Differenz zu sich selbst).« (SoSy, S. 38) Hier lässt sich unschwer erkennen, dass sich diese beiden Möglichkeiten der Selbstidentifikation von Systemen auf die Möglichkeiten der Begriffsbildung als Gegensatzbegriffe und Prozessbegriffe beziehen lassen. SoSy, S. 9: »Es geht also um ein Verhältnis von Komplexität und Transparenz. Man könnte auch sagen: um ein Verhältnis von intransparenter und transparenter Komplexität.«

6. Ornament: Signal/Rauschen

gerade dies vollständig ausschalten kann. Verheißungsvoll ist dabei der Formbegriff, insofern er auf seine eigene Genese (als Begriff) nicht mehr anspielt, sondern diese vielmehr verdecken kann und übersetzbar ist in das tatsächliche außerbegriffliche Ornament – das mathematische Kalkül, wie bei Dirk Baecker zu sehen (vgl. Kap. 6.5). Wie für Schlegel schon gezeigt, lässt sich der Begriff der Ironie als zentrales Element einer schriftbewussten und damit buchbewussten Literatur- und Wissensproduktion betrachten. Ironie ist »Merkmal einer Schriftkultur« (GdG, S. 1039, Anm. 283). Den Zusammenhang zwischen der Reflexion von Schrift und dem Ironiebegriff betont Luhmann insbesondere am Gegenstand der Frühromantik. Zum Begriff der Ironie heißt es in seinem Aufsatz Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems: »Erstmals kommt es zu einer ganz auf Schrift konzentrierten Kunsttheorie – und Schrift symbolisiert dabei die Anwesenheit des Abwesenden.«99 Der Ironiebegriff bildet in Erinnerungen an Luhmann und sein theoretisches Wirken ein Basso continuo.100 Allerdings erhält die Konzeption von Ironie bei Luhmann eine gegenüber der Konzeption bei Schlegel verschobene Funktion. Auch hier ist Ironie Lektüreprogramierung. Während eine ironische Begriffslektüre bei Schlegel allerdings darauf abzielt, die jeweilige Form der Begriffe im Gespräch zu transzendieren und diese stets zu erneuern, richtet die Ironie bei Luhmann eine Asymmetrie ein. Die fremde oder eigene Markierung der schriftlichen wie mündlichen Aussagen weist darauf hin, dass diese asymmetrisch gelesen werden müssen: dass also tatsächlich nur der Zusammenhang der Begriffe von Belang ist, und nicht die der sozialen oder medialen Kommunikation geschuldeten Aspekte ihres Ausdrucks. In mündlichen Selbstbeschreibungen seines wissenschaftlichen Stils verwendet Luhmann den Begriff der Ironie, während dieser in den schriftlichen Ausführungen nur als Gegenstandsbeschreibung, insbesondere der Frühromantik, eine Rolle spielt: »Ich versuche [die Erhabenheit] durch Ironie herauszukriegen,«101 erklärt er etwa im Interview und bezeichnet das Ironische als eine der »Techniken, einen Daseinsstil zu markieren«102 . Neben der mangelnden Selbstständigkeit ist es auch diese Technik, einen Daseinsstil zu markieren, die Luhmann seines Erachtens von der Frankfurter Schule unterscheidet: »Ich würde einen Unterschied zwischen Zynismus und Ironie machen, und mich irritiert in der deutschen, speziell auch gerade in der Frankfurter Wissenschaftslandschaft diese Humorlosigkeit, dieses sozusagen direkte Verhältnis zu den Dingen, dieses Dafür-oder-Dagegen. Eine leise Distanz mag auch einfach eine Geschmacksfrage sein.«103

99 Luhmann: Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems, S. 329. 100 Franz Xaver Kaufmann erinnert sich in seiner Rede zum Gedenkcolloquium für Luhmann etwa an zurückliegende gemeinsame Fakultätsdebatten: »Seine stets mit größtem Gleichmut vorgetragenen Ironien wirkten bald erheiternd, bald betroffen machend.« (Kaufmann: Ein Wittgenstein’sches Schweigen, S. 13. Vgl. auch S. 15: »Manche Anekdoten zeugen von seiner bald irritierenden, bald liebenswürdigen Ironie, die auch das eigene Tun mit einschloß.«) Vgl. neben dem Beitrag Kaufmanns auch etwa den Beitrag Teubners im selben Band: Drei persönliche Begegnungen, der von »seiner Ironie gegenüber Moralunternehmen« spricht (S. 24) sowie den Beitrag De Giorgis: Niklas Luhmann. Die Zukunft des Gedächtnisses, der etwas emphatischer vom »tragischen Humor der Realität« (S. 30) spricht, welchen Luhmann verkörpere. 101 Luhmann: Unsere Zukunft hängt von Entscheidungen ab, S. 44. 102 Luhmann: Ich nehme mal Karl Marx, S. 35. 103 Luhmann: Ein trojanisches Pferd, S 117.

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Lektüre als Form

Ironie ist also eine Abhilfe gegen ein ›direktes Verhältnis zu den Dingen‹. Als Lektüreprogramm bedeutet dies: Die Ironie ist Suspension der normalen, sozialen Sprachfunktion, die dazu zwingt, entweder mit Annahme oder Ablehnung zu reagieren. Die Luhmannsche ›Ironie‹ fordert als mündlich geäußertes Lektüreprogramm den Leser dazu auf, die Unterscheidung von Annahme und Ablehnung, die sich auf die ›Welt‹ bezieht, zu suspendieren. Sie verweist ihn nicht nach außen, sondern immer nur ins Innere des Buchs – hin zu anderen Begriffen, die jeweils wieder ironisch zu lesen sind. Hier verhält sich Luhmanns Vorstellung von Ironie genau spiegelbildlich zu derjenigen Schlegels, die als ›romantische Ironie‹ in verkürzender Zuschreibung die Literaturgeschichte bestimmt hat (vgl. Kap. 4.1.6). In beiden Fällen geht es um eine Verzögerung des alltäglichen ›Verstehens‹ und damit um einen Modus der Kommunikation, der die tatsächlichen sprachlichen Mitteilungen überformt und kommentiert. Während bei Schlegel allerdings Ironie der Modus einer Vervielfältigung der Bedeutungsdimensionen von Begriffen ist und damit eine Vervielfältigung von Buchförmigkeit als möglichem Verhältnis zwischen Buch und Lektüre darstellt, bezeichnet Ironie bei Luhmann eine Asymmetrisierung. Insofern Begriffe ironisiert werden, wird auf ihren nur stellenhaften Charakter hingewiesen, auf ihre Funktion der Relationierung von Relationen, die nicht mit einer wie auch immer gearteten Bedeutung oder Referenz verwechselt werden darf. In diesem Sinne bietet Peter Sloterdijk in einem Aufsatz zu seiner LuhmannLektüre eine »ironiegeschichtliche Situierung Niklas Luhmanns« an. In seinem Werk, so Sloterdijk, deutet sich die Heraufkunft eines dritten Ironietypus an […], den ich den kybernetischen nennen will. Die kybernetische Ironie setzt die romantische voraus, so wie diese die sokratische zur Prämisse hatte. Aber sie bereitet dem Subjekt der romantischen Ironie, dem zwischen seinen Setzungen und deren Aufhebung schwebenden Subjekt, ein subversives Schicksal, indem sie ihm zumutet, sich selbst als Epiphänomen in einem System aus Systemen zu verstehen, das viel zu komplex und eigensinnig ist, um von einem Subjekt gesetzt oder aufgehoben zu werden.104 Sloterdijk bezieht sich hier auf die Stellung und die Funktion des Subjekts, die für ihn den frühromantischen vom ›kybernetischen‹ Ironiebegriff scheidet. Seine Differenzierung zwischen dem frühromantischen und dem kybernetischen Ironiebegriff aber emanzipiert sich meines Erachtens zu wenig von den Lektüreprogrammen selbst. Der Ironiebegriff und sein Einsatz bei Luhmann muss vielmehr als elementarer Bestandteil des Lektüreprogramms betrachtet werden. Auf der Ebene des Lektüreprogramms geht es nicht um die Darstellung und Beschreibung eigensinniger Subjekte oder Systeme – das sind vielmehr jeweils inhaltliche Themen der jeweiligen Bücher. Auf der Ebene des Lektüreprogramms dient die mündliche Adressierung sowie die Performanz von Ironie der Steuerung des Leseverhaltens. Derjenige Luhmann-Leser, der seine Ironie hervorhebt, markiert sich selbst als Eingeweihten und damit als idealen Befolger des Lektüreprogramms. Für die Lektüre bedeutet das Konzept Ironie bei Luhmann die

104 Sloterdijk: Luhmann, Anwalt des Teufels, S. 141.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Kappung jeglicher Form des Alltagsbezugs der sprachlichen Form bzw. die Asymmetrisierung zwischen diesem und dem eigentlich gemeinten reinen Signal. Ironie steht damit im Dienst der rein technischen Informationsvermittlung: »Es [das systemische Denken und damit die Stufe der dritten Ironie] befaßt sich mit Überzeugungen wie mit individualisierten Versionen von Software«105 . Wichtig sind dabei nicht die subjektiven Überzeugungen, sondern der Vergleich. Es geht bei der Ironie nicht mehr um eine neben der Sprache parallel herlaufende Form der intersubjektiven Verständigung, sondern um eine Codierung im vollen Sinne des Wortes.106 Es handelt sich also – im Sinne des Ornaments (vgl. Kap. 6.4.3) – bei Luhmann um eine asymmetrische Form der Ironie, die die Seite der Form intakt lässt und sich nur auf die Seite des ›Gehalts‹ bezieht:107 »Schon die romantische Ironie meinte ein Denken unter dem Vorbehalt anderer Möglichkeiten. Das bedeutet aber auch, dass sie das, was ist, zur Kontingenz entwertet.«108 Diese Beschreibung von Bolz trifft zwar die Ironie Luhmanns, nicht aber die tatsächlich romantische Ironie, die Ironie und Witz nicht als Entwertung, sondern als Aufwertung begreift. Die Möglichkeit einer klaren Explikation und damit Signalförmigkeit wird nicht bestritten, wohl aber die Möglichkeit des Erreichens einer Form von harmonischem Ganzheits- oder Vollkommenheitszustands, der in der Frühromantik Hintergrund für jede konkret ironische Äußerungsform war. Wie in diesem Durchgang durch zentrale begriffliche Gemeinsamkeiten zwischen Schlegels und Luhmanns Texten gezeigt wurde, lassen sich auch bei Luhmann Begriffe auf die Erfahrung der Lektüre zurückbeziehen. Darauf deutet Luhmann etwa in einem später als Aufsatz verschriftlichten Vortrag109 zum Thema Kommunikation hin: »Mir selbst kommt es oft so vor, als ob ich beim Formulieren die Schriftbilder der Worte 105 Ebd., S. 142. 106 Vgl. ebd., S. 143: »Auf der Stufe der dritten Ironie läßt sich auch erst die zivilisierende Wirkung der beiden vorangehenden Versionen [sokratische und romantische Ironie] angemessen begreifen, weil nun allgemeiner formulierbar ist, warum schon die älteren Ironien wesentlich mehr als bloße rhetorische Überformungen eines semantischen Bestandes gewesen waren. Vielmehr sind sie – wie alle Modalisierungen von Aussagen durch humoristische, groteske und hyperbolische Redestrategien – ein unverzichtbarer Beitrag der sprachlichen Codierungsebene zur Aussteuerung der Fundamentalismus-Risiken, die in jeder zweiwertigen Logik angelegt sind.« Die Rhetorik der ›Aussteuerung‹ und ›Codierung‹ weist hier auf die Grundlage der allgemeinen Formulierbarkeit hin – eben der Wechsel der Einbindung von Ironie, nicht mehr im Paradigma des Gesprächs, sondern im Paradigma der Informationsverarbeitung. 107 Dazu passt die Beobachtung von Stichweh: Niklas Luhmann. Theoretiker und Soziologe, S. 63: »Luhmann war ja durchgängig ironisch, von deutlichem Detachement gegenüber dem eigenen Werk, auch gegenüber dem biographischen Zufall, daß es sein Werk war. Kaum ein Leitbegriff wurde nicht irgendwann relativiert, wie man gut an der Karriere von Komplexität studieren kann. Aber ich habe nie gehört, daß Luhmann ironisch oder distanziert über die Leistungen von Theorie gesprochen hätte, während es umgekehrt nicht selten passierte, daß er ein Produkt, das er eigentlich gelungen fand, am Ende noch einmal in Distanz rückte mit der Bemerkung, im Grunde sei hier noch keine Theorie erreicht worden.« Hier wird noch einmal die Trennung in ›ideales‹ Werk (als Schließungsfigur der Theorie) und tatsächliches Werk deutlich. 108 Bolz: Ratten im Labyrinth, S. 119. 109 Wie in Kapitel 6.1 schon gezeigt, und in Bezug auf Schlegel und Schleiermachers Vorlesungen zur Dialektik ebenfalls thematisiert, eignet sich der Vortrag stärker zur Lektüre gegen den Strich, also zur Fokussierung des Rauschens, insofern er diesem – qua stärkerer Signaldichte durch Komprimierung der Begrifflichkeiten – mehr Raum gibt. Diese Funktion des Interviews wird auch im Titel

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Lektüre als Form

sehe«110 , gibt er über die Frage Was ist Kommunikation zu Protokoll. Die kontextuelle Verortung von Begriffen innerhalb der spezifischen buchförmigen Kommunikationssituation wird, anders als bei Schlegel, von Luhmann jedoch gerade nicht geleistet. Die Stabilität des theorieinternen Lektüreprogramms kann nur durch eine Überschreibung ihres transkriptiven Statusʼ gesichert werden. Die Begriffe werden so gerade nicht zu »Sonden« (SoSy, S. 13) insofern sie Außenkontakt herstellen, sondern ihre Struktur bildet die ›innere Schönheitslinie‹ des Ornaments. Eine Ausnahme besteht für den Formbegriff (vgl. Kap. 6.3), der nicht nur seinen Status als von George Spencer Brown transkribierter Begriff behalten darf, sondern diesen gar nachträglich geradezu insistierend angeheftet bekommt, obwohl es zahlreiche Spuren des Formbegriffs weit vor der bewussten Aneignung desselben in der Fassung George Spencer Browns gibt. Der Grund hierfür liegt, so lässt sich vermuten, im Status der Quelle selbst. Der Spencer Brownsche Formbegriff verspricht qua Herkunft aus der Mathematik und damit der Doppelexistenz als einerseits begrifflich, andererseits graphischer Existenz (vgl. Kap. 6.5) eine gegenüber Begriffen aus rein sprachlichen Kontexten erhöhte Signaldichte. Insofern stellt sich Luhmanns Arbeit am Begriff so dar, wie es Blumenberg in seiner Theorie der Unbegrifflichkeit formuliert: »Der Erfolg des Begriffs ist zugleich die Umkehrung seiner Funktion: er leitet nur den Prozeß ein, in welchem ein zum Gegenstand gewordenes tremendum, Unbekannt-Schreckendes als genießbarer Gegenstand wiederkehrt.«111 Bei Luhmann ist allerdings fraglich, ob die Umkehrung der Funktion des Begriffs tatsächlich zum Gegenstand geschweige denn zum Genießen zurückführt, oder ob nicht immer nur andere Begriffe an die Stelle treten. In Luhmanns letztem Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft heißt es dazu relativ eindeutig: »Jedenfalls verlangt eine heute adäquate Gesellschaftstheorie (ebenso wie die Theorie der postmodernen Kunst), auf den bloßen Genuß des Wiedererkennens zu verzichten und die Theoriekonstruktion aus sich selbst heraus zu beurteilen.« (GdG, S. 1149, Herv. CC) Der bloße Genuss des Wiedererkennens, das meint ein Wiedererkennen im Außerhalb des Buchs, welches bei Luhmann für die adäquate Gesellschaftstheorie, und mehr noch für die adäquate Lektüre einer solchen Gesellschaftstheorie, blockiert ist. Der prototypische, im Sinne der hier skizzierten Überlegungen negative, Begriff als »ironische[r] Code«112 bei Luhmann ist der Formbegriff selbst: »Die Paradoxie gelingt – als Form«113 , heißt es im Aufsatz zur Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Seine Wirkweise in Luhmanns Texten wird hier ausführlich aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.

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des Bands, in dem der oben zitierte Vortrag unter anderem erscheint, angesprochen. Dieser biete Short Cuts, Abkürzungen in die Theorie. Luhmann: Was ist Kommunikation, S. 63. Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 27. Sloterdijk: Luhmann, Anwalt des Teufels, S. 143. Luhmann: Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems, S. 330. Luhmann grenzt dabei die romantische Ironie als Form von der Mathematik als Form ab und bestimmt sie als zwei Modi des Umgangs mit Paradoxien: »Und wie in der Mathematik imaginäre Zahlen oder imaginäre Räume erforderlich werden, um Paradoxien einzubeziehen, so verdichtet die Romantik das Imaginäre zum Phantastischen, aber eben damit zu Formen, die gerade nicht meinen, was sie zeigen, sondern nichts weiter sind als materialisierte Ironie.« (Luhmann: Eine Redeskription romantischer Kunst, S. 363)

6. Ornament: Signal/Rauschen

6.3.

Genealogien der Form

Dieses Kapitel stellt eine Genealogie des Formbegriffs auf, die nicht nur seine Stelle im Netzwerk der Begriffe in den Blick nimmt, sondern auch mögliche Verschiebungen und Neuadressierungen des Formbegriffs beobachten kann. Dem Begriff der Form kommt eine zentrale Rolle für die Etablierung der Asymmetrie und der damit einhergehenden Verschiebung des Buchs nach ›Innen‹ zu. Er übernimmt die Funktion, die Schriftlichkeit der Theorie in ein idealisiertes Informationsverarbeitungsmodell zu überführen. Dabei orientiert sich Niklas Luhmann, wie gezeigt, an den begrifflichen Modi in den Texten Schlegels und Benjamins. Die »Philosophie der leeren Selbstreferenz und der unendlichen Rekursion der Form«114 , welche Dirk Baecker auf Fichte und Hegel zurückführt, erweist sich im hier entworfenen Zusammenhang als Luhmannsche Weiterführung von Walter Benjamins Transformation des Formbegriffs. In den frühen, vorwiegend organisationstheoretisch fundierten und von dort aus in die Gesellschaftstheorie übergehenden Schriften fungiert der Formbegriff als einfacher, nicht markierter und nicht eigens definierter Begriff (Kap. 6.3.1 sowie Kap. 6.3.2). In diesem Stadium wird der Begriff der Form, zum Teil in Derivaten, wie etwa in den frühen organisationstheoretischen Schriften als Formalisierung, in einigen Passagen der Texte eingeführt. Er beschreibt hier jedoch lediglich Teilaspekte und ist dabei den dominierenden Begriffen (Organisation oder System) zumindest auf der Oberflächenebene des Texts klar untergeordnet. In einer zweiten Phase (Kap. 6.2.3) wird der Formbegriff als reine Bezeichnung und damit als relativ rauschbehafteter Begriff abgelöst durch eine asymmetrische Unterscheidung, die Unterscheidung von Form/Medium115 , insbesondere in Bezug auf Luhmanns Ausführungen zur Kunst. Neben der Unterscheidung Form/Medium existiert aber ein Formbegriff als ein In-sich-Unterschiedener, eben mit Bezug auf George Spencer Brown (Kap. 6.2.4 Form und Code). Diese unterschiedlichen Kontexte, in denen der Formbegriff in der Theorie auftaucht und prominenter wird, lassen sich als Vorgeschichte der expliziten Adressierung des Formbegriffs an George Spencer Brown erzählen.

6.3.1.

Form und Organisation

Die offizielle Genealogie des markierten Formbegriffs bei Luhmann leitet diesen in Form einer »selektive[n] Selbstbeschreibung«116 ab aus der Monographie Laws of Form des britischen Mathematikers George Spencer Browns, die 1969 erschienen ist. Luhmann wurde von Heinz von Foerster mit dem Werk des Mathematikers bekannt gemacht. Im ersten Kapitel zu Soziale Systeme findet sich denn auch ein Hinweis auf die Möglichkeit einer abstrakten Formtheorie, die grundlegend mit George Spencer Brown

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Baecker: Beobachter unter sich, S. 10. Vgl. Fuchs: Die Metapher des Systems, S. 68: »Im Laufe seiner Theorieentwicklung wird das, was hier noch eine Art verdeckte Binarität ist (gewählt ist dies und nichts anderes), umgesetzt auf den dezidierten Umgang mit zweiwertigen Unterscheidungen.« Reckwitz: Die Logik der Grenzerhaltung und die Logik der Grenzüberschreitung, S. 218.

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Lektüre als Form

verfolgt werden kann – weiter als bis zu einigen weiteren kurzen Hinweisen in den Fußnoten117 geht Luhmanns Aneignung hier nicht.118 Erst in einem Aufsatz aus dem Jahre 1988 mit dem Titel Frauen, Männer und George Spencer Brown setzt sich Luhmann intensiv mit Spencer Browns Formkalkül auseinander und schildert hier die Schwierigkeiten, zunächst überhaupt an dieses Buch zu kommen: Das für diese Fragen entscheidende Werk von George Spencer Brown (1969/1971) ist nahezu unbekannt geblieben. Wie man hört, ist der Autor ein Logiker, Segelflieger und Sportreporter. Ein renommierter deutscher Verlag hat sich mangels Empfehlung durch Philosophen nicht zur Übersetzung seines Buches entschließen können. In den Universitätsbibliotheken sucht man den grundlegenden Text, obwohl vorhanden, vergeblich, weil Spencer Brown es vermeidet, seinen Namen durch einen Bindestrich zu verbinden und damit erreicht, daß seine Publikation unzutreffend unter dem Allerweltsnamen Brown geführt wird. Die wichtigste Rezension ist in einem Großhandelskatalog für möglicherweise unverkäufliche Waren erschienen (von Foerster 1969). Die Rezension gibt im übrigen Blackwell als Verlag an. Andere Angaben deuten auf Allen & Unwin hin. Hat man das Buch in der Hand, dann sieht man: Die Logik Spencer Browns ist in einer bezaubernden Weise einfach und kompliziert, elegant und verschachtelt und damit zugänglich wie ein Labyrinth mit nur einem deutlich markierten Eingang.119 Diese umständliche Beschreibung weist zurück auf Luhmanns besondere Vorliebe und Aufmerksamkeit für Bücher und für ihr Auffinden in Bibliotheken120 , die sich Luhmann mit Schlegel und Benjamin teilt. Sie deutet aber auch auf den besonderen Stellenwert hin, den die Lektüre George Spencer Browns für Luhmann einnimmt. Der Formbegriff spielt eine zentrale Rolle für die Imagination der buchförmigen Kommunikation nicht als Gespräch, sondern als Informationsverarbeitung. Hier wird bereits deutlich, inwiefern der Formbegriff die Ebenen von Gegenstandsbeschreibung und Beschreibung der eigenen Methodik übergreifen und zusammenhalten kann. Luhmanns erste Monographie Funktionen und Folgen formaler Organisationen präsentiert zwar noch keinen Formbe117

Vgl. etwa S. 100, Anm. 15, S. 114, Anm. 40; S. 143, Anm. 77 mit einem wörtlichen Zitat, das S. 650, Anm. 5 in genau derselben Fassung noch einmal auftaucht. Die physische Welt lässt sich durch Physiker beobachten »in order to see itself«. 118 Im dritten Teilband der Soziologischen Aufklärung, der 1981 in der ersten Auflage erschienen ist, fällt an der Stelle, wo man die Referenz zu Spencer Brown erwarten könnte, nämlich, wenn es um die logische Funktion von Negationen bzw. das »dieses (und anderes)« geht, noch nicht der Name Spencer Brown, wohl aber der Formbegriff im Sinne einer »Urform der Verweisung auf anderes« (SA 3, S. 42). Luhmann bezieht sich hier stattdessen auf J.M. Baldwin: Das Denken und die Dinge, oder Genetische Logik. 119 Luhmann: Frauen, Männer und George Spencer Brown, S. 47. 120 In diesem Sinne sind auch die einleitenden Bemerkungen Fritz Morstein Marsʼ zu Luhmanns erster Monographie Funktionen und Folgen formaler Organisation interessant. Hier begründet Mars Luhmanns Wahl des Themas der Organisationen damit, dass Organisationstheorie »eine Art von Marktplatz für den Umsatz von Ideengut aus mehreren Disziplinen« ist, nur um anschließend zu behaupten, es käme »natürlich nicht darauf an, unter welcher Rubrik der Bibliothekar dies Buch einstellen lassen mag.« (FuFfO, S. 10) Im Kontext der hier unternommenen Untersuchungen darf man sich nicht mehr so sicher sein, ob es nicht doch genau darauf ankommt. Vgl. dazu auch Luhmann: Die Praxis der Theorie, S. 143: »Schon die Frage, ob man die Theorie unter eigenem oder unter fremden, unter altem oder unter neuem Namen registriert, ist eine Überlegung wert.«

6. Ornament: Signal/Rauschen

griff an sich, wohl aber eine Vorstellung von einem begrifflich als Formalisierung121 gefassten Prozess, der insgesamt zentral für diese frühe Phase des Luhmannschen Werks ist – die Zettel zur Formalisierung nehmen im ersten Zettelkasten großen Raum ein. Schon in diesem ersten Stadium der Prä-Spencer-Brownschen Auseinandersetzung mit dem Formbegriff und seinen Derivaten sind Fragen der Formalisierung mit Fragen nach der Schaffung bzw. der Definition von Grenzen und damit mit dem Problem von Öffnung und Schließung verbunden. Organisationen sind für Luhmann ein Sonderfall von sozialen Systemen, in denen »das faktische Verhalten durch eine Struktur von besonders herausgehobenen formalen Erwartungen geordnet ist. Diese Struktur definiert die Grenzen eines Systems gegenüber einer veränderlichen Umwelt, die es nicht beherrschen, der gegenüber es sich aber durch eine Reihe von internen Prozessen invariant halten kann« (FuFfO, S. 29). Im Falle von Organisationen geht es hierbei um die Inklusion und damit gleichzeitig die Exklusion von Mitgliedern. Die Formalisierung bedeutet für Luhmann das sichtbare Ziehen einer Grenze und damit das Sichtbarmachen von Mitgliedschaftsbedingungen: »Wir wollen eine Erwartung daher als formalisiert bezeichnen, wenn […] erkennbar Konsens darüber besteht, daß die Nichtanerkennung oder Nichterfüllung dieser Erwartung mit der Fortsetzung der Mitgliedschaft unvereinbar ist.« (FuFfO, S. 38) Damit kennt »die formale Organisation […] nur entscheidbare Zweifel. Die Grenzen des Systems sind definiert.« (FuFfO, S. 62) Auch schon in Bezug auf Organisationen und ihre Beschreibung lässt sich die eigentümliche Übereinstimmung zwischen Gegenstandsbeschreibung und Beschreibung der eigenen Arbeit konstatieren. So spricht Luhmann im Vorwort des Buchs von »Abstraktion in Richtung auf eine koordinierende Synthese« (FuFfO, S. 62), die sein Buch leisten wolle. Diese Prozessbegriffe bilden als redundanzstiftendes Element die Brücke zwischen einer Beschreibung des Gegenstands auf der Sachebene und der Struktur seiner Beschreibung selbst, die sich solchermaßen zur schrittweisen Emanzipation vom Gegenstand befähigt sieht. Diesen Sachverhalt beschreibt Luhmann selbst für den Gegenstand der Organisation und charakterisiert ihn als ›formalistisch‹: »Auf diese Weise geraten formale Erwartungen unmerklich in formalistischen Gebrauch. Sie werden als Symbole zum Ausdruck von Tatsachen und Einstellungen verwandt, gewinnen dadurch eine selbstständige Bedeutung und können als Symbole um dieses Ausdrucks-

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Luhmann bezieht sich hier auf den in der englischen Literatur zur Organisationssoziologie eingebürgerten Terminus »formal«, und bezeichnet eine solche Charakterisierung »für sich allein« als »nahezu nichtssagend, wenn nicht irreführend«: »Sie soll nicht zu einer allgemeinen Theorie des Erwartens führen, die ewige Formbestandteile aller Erwartungen im Unterschied zu wechselnden Inhalten herausstellte; nicht kategoriale Formalität in diesem Sinne ist gemeint. Vielmehr soll unter Formalität die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Systemstruktur verstanden werden, die formal ist, weil sie die Identität des Systems gegenüber wechselnden Personen und Orientierungsinhalten sichert.« (FuFfO, S. 29) Er verwehrt sich außerdem gegen die Übersetzung von »formal« als »formell«, da letzterer Begriff »keine verbale Fassung ermöglicht, die dringend benötigt wird, um das Prozeßhafte und Graduelle der Formalisierung eines Systems auszudrücken«. (FuFfO, S. 19, Anm. 1) Hier wird erkennbar, dass der Formbegriff für Luhmann als Prozess wichtig (eine Eigenschaft, die hier noch verbal, eben im Begriff der Formalisierung ausgedrückt wird), und dass er darüber hinaus dem Systembegriff als Schließungsfigur untergeordnet ist.

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wertes willen erhalten bleiben, auch wenn gar nicht sinngemäß gehandelt wird.« (FuFfO, S. 280) Genau diese Abspaltung von Begriffen von der Alltagssprache, von ihrer empirischen Deckung in einem Gegenstandsbereich, kündigt Luhmann denn auch in den abschließenden Sätzen des Buchs an und benutzt dafür genau denselben Begriff der Formalisierung: »Im Zuge der weiteren Ausarbeitung wird die Sprache der täglichen Verständigung und damit auch das Anschauungsvermögen versagen und durch stärker formalisierte Mittel der Informationsbewältigung ersetzt werden müssen.« (FuFfO, S. 397) Dieser Satz bezieht sich nicht mehr auf den Gegenstand der Organisationen innerhalb der Gesellschaft, sondern auf die Möglichkeit der theoretischen Beschreibung derselben. Die in Kap. 6.2.2 beschriebene Transformation des Begriffs der Organisation weg von einem Gegenstandsbereich hin zu einem Prinzip ist also, wie hier deutlich wird, an den Begriff der Form und den mit ihm gleichermaßen adressierten wie initiierten Prozess der Formalisierung gekoppelt. Denselben Überschlag zwischen Gegenstandsbeschreibung und Beschreibung des Vorgehens und damit auch des Texts macht der Formbegriff auch in seiner Verbindung mit dem Systembegriff in den ersten gesellschaftstheoretischen Entwürfen Luhmanns.

6.3.2.

Form und System

Eine erst kürzlich aus dem Nachlass publizierte Monographie aus Luhmanns Frühzeit lässt sich als weitere dezidiert Prä-Spencer-Brownsche Auseinandersetzung mit dem Formbegriff anführen. Hier taucht auch der Formbegriff selbst auf, der sich seinerseits schon vom Begriff der Formalisierung gelöst hat. Bei dem Manuskript, welches als Systemtheorie der Gesellschaft publiziert worden ist, handelt es sich innerhalb der – laut den Herausgebern – »vier deutlich unterscheidbare[n] Versionen der Gesellschaftstheorie, die in den Jahren 1967-68, 1973-75, 1983-90 und 1989-92 geschrieben worden sind«122 um den gesellschaftstheoretischen Entwurf aus den 70er Jahren, also um einen Entwurf der Gesellschaftstheorie vor der sogenannten autopoietischen Wende123 und damit auch vor der Entwicklung hin »zu einer Theorie operational geschlossener Systeme […], die schließlich durch eine Beobachtungs- und Unterscheidungstheorie angereichert wird«124 . Obwohl der Einbau der Beobachtungs- und Unterscheidungstheorie und damit des Formkalküls von George Spencer Brown in die Gesellschaftstheorie noch nicht erfolgt ist, findet sich in diesem Entwurf der Gesellschaftstheorie aus den 70er Jahren bereits ein als theoretischer Grundbegriff markierter, wenn auch nicht prominenter Formbegriff im letzten Abschnitt der Gesellschaftstheorie, der sich mit der Reflexion beschäftigt. Hier wird also wiederum deutlich, wie stark die Verbindung zwi122 123

Schmidt, Kieserling: Editorische Notiz. In: SydG, S. 1105-1116, hier S. 1105. Diese wird im Allgemeinen auf das Erscheinen des Aufsatzes »Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung« im Jahre 1982 datiert. Siehe auch Krüger: Luhmanns autopoietische Wende. 124 Schmidt, Kieserling: Editorische Notiz, S. 1107, Anm. 5. Luhmann selbst formuliert diese verschiedenen Aspekte nicht im Sinne einer zeitlichen Abfolge, sondern als periodischen Wechsel von Interessen je nach Problemstellung: »Mal ist der Funktionsbegriff wichtig, mal die System-UmweltDifferenz, mal die Selbstreferenz-Figur, mal die Differenz von Operation und Beobachtung.« (Luhmann: Biographie, Attitüden, Zettelkasten, S. 127)

6. Ornament: Signal/Rauschen

schen Reflexion und Form, welche von Benjamin herausgearbeitet (vgl. Kap. 5.2) und als Relation stabilisiert wurde, nachwirkt. In Bezug auf die Frage der Rationalität und ihrer Beurteilung anhand der Unterscheidung von System und Umwelt findet sich bei Luhmann folgendes: Schon eine Theorie der Systemerhaltung oder der Systemrationalisierung verwendet den Umweltbegriff nicht schlicht ökologisch (im Sinne einer objektiven Gesamtheit von Umständen), sondern systemrelativ. Wir benutzen den Begriff der Form, um diese Systemrelativität zu bezeichnen. Formen sind Relationen, die unter dem Gesichtspunkt der Relevanz für ein anderes System kombiniert sind und sich gegen den Hintergrund anderer Möglichkeiten profilieren, sozusagen Selektionen aus den möglichen Selektionen der Umwelt oder Reduktionen der Umweltkomplexität. Die Komplexität der Umwelt erscheint einem System als Gesamtheit von Formen, die speziell für das Bezugssystem Bedeutung haben. Im Umgang mit kontingent erscheinenden Formen orientiert sich und bewährt sich Systemrationalität. Die Formanalyse, das heißt die Analyse von Formen als Formen, leitet jedoch zu einem anderen Typus der Rationalität über, den wir Weltrationalität nennen. (SydG, S. 1083-1084) Sowohl die Kursivierung des Wortes ›Form‹ als auch seine Einführung im Luhmanntypischen pluralisierten Autorgestus des ›Wir nennen‹ signalisieren die hohe Relevanz, die dem Formbegriff hier zukommt. Es handelt sich hier ganz offensichtlich nicht um einen reinen Gegenstand der Theorie, sondern vielmehr um die Einführung eines für die (Re)produktion der Theorie selbst relevanten Operators, welcher an die zentrale Unterscheidung von System und Umwelt gekoppelt wird. Freilich ist er dieser hier (noch) deutlich untergeordnet. Der Formbegriff erscheint als abhängig von der Unterscheidung System/Umwelt. Es wird nicht jede Selektion und daraus resultierende Kombination als Form benannt, sondern nur eine solche, die Bedeutung in Bezug auf ein System hat. Allerdings ist es die Formanalyse, die ›zu einem anderen Typus der Rationalität‹ überzuleiten vermag, der ebenfalls kursiviert Weltrationalität genannt wird. Dieses Konzept der Formanalyse wird nun von Luhmann weiter skizziert: Formanalyse ist nicht schon geleistet (sondern allenfalls vorbereitet), wenn Formen als allgemeine benannt, typisiert und auf ihre Formidee reduziert werden, wie immer ›hintergründig‹ diese Ideen formuliert sein mögen. Über Form als Form kann analytisch erst disponiert werden, wenn die Systemrelativität jeder Umwelt bewußt wird. Das erfordert eine Rekonstruktion der Kontingenz in der Relation von System und Umwelt. Die Relation selbst wird kontingent gesetzt, nämlich als abhängig von der Wahl einer Systemreferenz. Als systemrelativ reduzierte, auf Formen gebrachte Komplexität ist die Umwelt jeweils Umwelt-eines-Systems; sie ist für das System, dessen Umwelt sie ist, daher nur selbstreferentiell bestimmbar. (SydG, S. 1084) An dieser Passage wird in Bezug auf den Formbegriff zweierlei deutlich. Zum einen fällt dessen Verdopplung auf, die auch schon bei Schlegel und Benjamin als Mittel der Etablierung eines sich selbst bezeichnenden und damit die Schließung vorantreibenden Formbegriffs war. Form kann nur als Form betrachtet werden, wenn sie auf die Unterscheidung von System und Umwelt bezogen und insofern als kontingent reflektiert wird. Die Verdopplung macht deutlich, dass der Formbegriff einen Gegenstand der

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Lektüre als Form

Theorie bezeichnen kann, gleichzeitig aber auch Operator derselben ist. Als solcher vermittelt der Formbegriff zwischen der Beschreibungsebene und dem internen Netzwerk der Theoriebegriffe. Die paradoxale Stellung des Formbegriffs, die später mit George Spencer Brown mathematisch untermauert wird, scheint hier schon auf – er ist gleichzeitig Teil einer Unterscheidung und ein Einheitsbegriff, bezeichnet gleichzeitig einen Gegenstand und einen Prozess und kann so immer wieder verdoppelt werden. Insofern ist es auch der Formbegriff, welchem die Vermittlung zwischen Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung von Systemen zukommt, wofür der Terminus der Weltrationalität eingesetzt wird: »Weltrationalität kann sich danach nur auf das Problem beziehen, wie Systeme ihre Umweltbeziehungen ordnen, unter der Voraussetzung, daß Systemkomplexität und formierte Umweltkomplexität kontingente und variable Zustände sind« (SydG, S. 1085). Dieses Problem ist eines der Gesellschaftstheorie und insofern betreibt Niklas Luhmann, wie hier deutlich wird, seit jeher »Formanalyse«.125 Hier deutet sich schon an, dass sich die Hierarchie zwischen dem Systembegriff und dem Formbegriff in Richtung einer umfassenden Asymmetrisierung umdrehen lässt. Der Formbegriff wird hier schon als Begriff aufgefasst, der eine höhere Auflösungsebene besitzt als der Systembegriff. Er weist ein größeres Potential zur hierarchischen Binnendifferenzierung auf, insofern er die verschiedenen Meta- und damit Schließungsebenen zusammenhalten kann. So dient ›Form‹, in einer Fußnote von Soziale Systeme als abstrakte Begründung auch für die System/Umwelt-Unterscheidung: »Die Differenz von System und Umwelt läßt sich abstrakter begründen, wenn man auf die allgemeine, primäre Disjunktion einer Theorie der Form zurückgeht, die nur mit Hilfe eines Differenzbegriffs definiert: Form und anderes.« (SoSy, S. 35, Anm. 5) Als Quellen werden hier zwei Monographien angegeben: zum einen Ph. G. Herbst: Alternatives to Hierarchies126 , zum anderen »grundlegend« George Spencer Browns Laws of Form. Die Adressierung des Formbegriffs an George Spencer Brown beginnt also dort, wo der Formbegriff explizit als Grundlagenbegriff verwendet wird und sogar einen dem Systembegriff in der internen Begriffsabstufungslogik übergeordneten Stellenwert einnimmt. Dieser übergeordnete Stellenwert wird sich, wie insbesondere in den Schriften zur Kunst deutlich wird, weiter fortsetzen. In Luhmanns Aufsatz Weltkunst etwa übernimmt der Begriff der Form sogleich die Last, die grundlegende Differenz zur Welt zu erzeugen. »Welt« wird hier definiert als »nicht formfähiges Korrelat endlicher Operationen«127 . Hier erfolgt die Auslagerung des begrifflichen Legitimationsproblems auf die Mathematik und 125

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Peter Fuchs weist darüber hinaus darauf hin, dass in der medizinischen Etymologie des griechischen Begriffs systema auf Stockung »etwa des Blutes, der Verdauung oder der Milch« referiert wird und damit »das Ausfällen von ›Härten‹ in einer plastischen oder fluiden ›Materialität‹ bezeichnet ist, und weist in der Fußnote zu dieser Anmerkung hin, dass der Ausdruck ›System‹ so gesehen »mit der Medium/Form-Unterscheidung« verknüpfbar ist, vgl. ders.: Die Metapher des Systems, S. 65. Herbst sucht nach »foundations for behavior logic«, die es schaffen, »the relation between our intentions and the conceptual and rational forms in terms of which we perceive and respond to ourselves and the environment back to the point where these have their common origin« zurückzuverfolgen (Herbst: Alternatives to Hierarchies, S. 84). Auch hier geht es also um eine Entsprechung zwischen Gegenstandsbereich und seiner Beschreibung. Herbst pointiert diese Frage als Alternative zu einer »materialist and idealist type theory«. Luhmann: Weltkunst, S. 191.

6. Ornament: Signal/Rauschen

damit auf ein nicht-sprachliches, bzw. nicht-allgemeinsprachliches Kommunikationssystem, das als Horizont des Formbegriffs in seiner Adressierung an George Spencer Brown immer mitwirkt. Die Möglichkeit, eine solche nicht-sprachliche Kommunikation explizit zum Zentrum sowohl des Gegenstandsbereichs als auch der Imagination des eigenen Schreibens, der eigenen Buchförmigkeit, zu machen, bietet sich für Luhmann jedoch erst in den kunsttheoretischen Schriften, in der Schulung an Fragen der Schließung und Öffnung in der Kunst, und insbesondere in der Literatur. Die intensive Auseinandersetzung mit Literatur- und Kunstgeschichte führt zur Etablierung der Unterscheidung Form/Medium, die in die oben beschriebene Konkurrenz zur Unterscheidung System/Umwelt tritt.

6.3.3.

Form/Medium

Der Formbegriff tritt bei Luhmann wie aus der hier skizzierten Auflistung in verschiedenen Varianten auf. Am prominentesten ist er sicherlich in der Unterscheidung Form/Medium. Sie ist wohl – insbesondere in Bezug auf den Medienbegriff, der Fragen nach einer möglichen Verbindung von Luhmanns Schriften und dem immer noch wachsenden Bereich der Medientheorie aufwirft – gleichzeitig eine der diskussionswürdigsten von Luhmanns prominent eingesetzten Unterscheidungen; zumindest lassen die andauernden und unterschiedlich fruchtbaren theoretischen Auseinandersetzungen darauf schließen.128 Die Unterscheidung von Form und Medium wird von Luhmann eingeführt, nachdem er sich zum ersten Mal intensiver mit Kunst beschäftigt. Der Aufsatz Ist Kunst codierbar? referiert noch nicht ausdrücklich auf die Unterscheidung Form/Medium, sondern behandelt die Frage der Kunst allein »auf der Grundlage von Vorschlägen zu einer allgemeinen Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien«129 , also top-down, als »Vergleich mit Hilfe funktionaler Abstraktion«130 . Ein etwas späterer Aufsatz zur Kunst mit dem Titel Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst verwendet ebenfalls noch nicht die Unterscheidung Form/Medium, sondern spricht stattdessen von der »Differenz von Form und Kontext« als einer »kunstimmanenten Unterscheidung«131 . Hier wird bereits deutlich, dass der Formbegriff nicht auf die Unterscheidung von Form und Medium zurückgeführt werden kann, sondern selbst als einheitsstiftende Redundanz für alle sich an ihn anlagernden Differenzen fungiert; und das, obwohl die Unterscheidung Form/Medium für Luhmann zunächst eine kunstimmanente Unterscheidung ist. Das zeigt auch noch einmal, dass der Formbegriff bei Luhmann entgegen seiner offiziellen Adressierung zumindest in den 90er Jahren, nicht auf die Rezeption Spencer Browns festgelegt werden kann, sondern sich vielmehr zunächst aus seiner Beschäftigung mit den Fragen der Kunst speist. Insofern ist der Formbegriff zentral auf Fragen der Öffnung und Schließung des eigenen Texts bezogen, die sich am Gegenstand der Kunst schärfen. 128

Vgl. exemplarisch für die unüberschaubare Menge an Einzelaufsätzen den Sammelband: Brauns (Hg.): Form und Medium. 129 Luhmann: Ist Kunst codierbar, S. 281. 130 Ebd., S. 281. 131 Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 624.

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Zentral am Begriff der Form ist seine Selbstbezüglichkeit, und damit gleichzeitig seine Asymmetrie: Form ist unausgesprochene Selbstreferenz. Dadurch, daß sie Selbstreferenz gewissermaßen stillstellt, kann sie zeugen, daß ein Problem gelöst ist. Sie bezieht sich auf den Kontext, der das Problem stellt, und zugleich auf sich selbst. Sie präsentiert Selbstverschiedenheit und Selbstidentität aneinander. Gelingt dies, so entsteht aber der Eindruck der Selbstgenügsamkeit. Das Kunstwerk bildet seinen eigenen Kontext. Es versucht Form und Kontext in Einklang zu bringen, die Einheit der Differenz zu sein. Die Kunstform zieht alle Verweisungen ein, und was sie wieder abstrahlt, ist nur ihre eigene Bedeutung.132 Das Kunstwerk wird hier zur Einheit der Unterscheidung von Form und Kontext, und später rückt an genau diese Stelle das Ornament als Unterscheidung von Form und Medium sowie von Redundanz und Varietät (vgl. Kap. 6.4.3). Insofern Form sich auf den Kontext und gleichzeitig auf sich selbst bezieht, wird bereits deutlich, dass der Formbegriff hier wie auch sonst die Qualität besitzt, nicht nur die eine Seite der Unterscheidung zu sein, sondern diese Unterscheidung selbst überhaupt erst hervorzubringen und damit zu legitimieren (vgl. Kap. 2.2). Insofern ermöglicht der Formbegriff nicht nur den Übergang zwischen verschiedenen Unterscheidungen (Form/Inhalt zu Form/Kontext zu Form/Medium), sondern auch zwischen verschiedenen Analyseebenen: »Das Einzelkunstwerk kann zahlreiche Differenzen dieser Art aufnehmen und ineinander verschränken, so daß Einzelmomente als Form für sich selbst und zugleich als Kontext für andere dienen. In dem Maße, als eine solche Verdichtung gelingt, wirkt dann auch das Kunstwerk insgesamt als Form für die nichtmithergestellten Sachverhalte.«133 Es geht – trotz der zunächst und immer wieder behaupteten Symmetrie der Unterscheidung – eigentlich nicht um die Form/Medium-Unterscheidung selbst, sondern vielmehr um ihre Fähigkeit der Übersetzung zwischen verschiedenen Ebenen der Beschreibung. Der Formbegriff macht nicht nur die Gestaltung des einzelnen Kunstwerks beobachtbar, sondern auch die Kommunikation von Kunstwerken untereinander im Sinne etwa einer Stilgeschichte: »Das Kunstwerk erscheint nun als eine unterscheidbare Form, die aus Formen besteht. Eine Linie, deren Ziehung zwei Raumteile trennt und damit erzeugt, schafft auf beiden Seiten Entfaltungsmöglichkeiten.«134 Interessanterweise ist der Formbegriff innerhalb der Unterscheidung von Form/Medium weniger Gegenstand der Diskussion geworden, als der Medienbegriff – insbesondere insofern er zumindest ab der expliziten Bezugnahme auf George

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Ebd. S. 630. Hier wird auch schon, allerdings ohne weitere Erläuterung, auf George Spencer Brown und darüber hinaus auf Georg Simmels Formbegriff verwiesen und insgesamt die Unterscheidung Form/Kontext als »viel erhellender als die Unterscheidung Form/Inhalt« (S. 663, Anm. 15) bezeichnet. Anm. 14 (S. 662-663) betont darüber hinaus: »Die Eigenart von Formqualitäten wird durch die Form/Inhalt-Differenz und durch die »Formalismus«-Diskussion eher verschleiert. In der Diskussion der Soziologie Simmels sind diese verschiedenen Aspekte völlig durcheinandergeworfen worden, obwohl an sich gute Funktionsanalysen von Form vorliegen: Form als Bewußtseinsattraktion, als Verselbständigung, Lückenfüllung, Stabilisierung.« Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 630. Luhmann: Weltkunst, S. 203-204.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Spencer Brown seine offizielle Genealogie erhalten hat, die in zahlreichen Fremdbeschreibungen von Luhmanns Büchern immer wieder beglaubigt worden ist.135 Die besondere Aufmerksamkeit auf den Medienbegriff lässt sich unter anderem damit erklären, dass dieser sich auf zahlreiche unterschiedliche theoretische Quellen und Anleihen stützt. Die in die Theorie der funktionalen Teilsysteme am deutlichsten eingebettete Verwendung des Medien-Begriffs geht auf Talcott Parson zurück; es handelt sich um den Begriff des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums.136 Dieser durch die Theorie der sozialen Teilsysteme weitgehend eingehegte MedienBegriff wird ergänzt durch einen weiteren, basaleren Medien-Begriff: Medien können an den »Bruchstellen der Kommunikation ansetzen und funktionsgenau dazu dienen, Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches zu transformieren« (SoSy, S. 47). Hier wird eine evolutionstheoretische Perspektive eingenommen, und als Medien sind insbesondere Sprache und Schrift/Druck gemeint. Dieser am ehesten in den Medientheorien geläufige Medienbegriff wird wiederum, und zwar insbesondere in der Kunst der Gesellschaft, erweitert durch die dann als grundlegender postulierte Medium/Form-Unterscheidung, die die von Fritz Heider beschriebene Vorstellung von Wahrnehmungsmedien137 , dessen Aufsatz Luhmann das relationale Unterscheidungskriterium lose versus feste Kopplung entnimmt, importiert.138 Diese Unterscheidung soll einen grundlegenden Medienbegriff möglich machen, der alle anderen Medienkonzepte übergreift: »In dieser Theorie braucht man einen Begriff, der zusammenfassend sämtliche Einrichtungen bezeichnet, die der Umformung unwahrscheinlicher in wahrscheinliche Kommunikation dienen, und zwar für alle drei Grundprobleme [Verstehen des Anderen, Erreichen von Empfängern und Erfolg der Kommunikation, Annahme als Prämisse des eigenen Verhaltens]. Ich schlage vor, solche Einrichtungen als Medien 135

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So etwa die von Dirk Baecker herausgegebenen Sammelbände Probleme der Form sowie Kalkül der Form und insgesamt die von Dirk Baecker im Anschluss an Luhmann veröffentlichten Bücher und Aufsätze (vgl. Kap. 6.4). Erstmals eingeführt und genauer erläutert wird die Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien in einem einführenden Aufsatz aus dem Jahre 1975 mit dem Titel Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. Als zentrale Quelle nennt Luhmann hier Parsons: Sociological Theory and Modern Society. Schon hier wird das Parson’sche Konzept bereits erheblich weiterentwickelt, vgl. S. 34-35. Es wird gar angestrebt, »die Theorie der Kommunikationsmedien aus einer zu starken Fixierung an Folgeprobleme der evolutionären Differenzierung herauszulösen und sie gegenüber Evolutionstheorie und Systemtheorie zu verselbstständigen. Damit gewinnt man ein offeneres Konzept, von dem aus man Beziehungen zwischen Systembildung, Evolution und Medien-Funktionen auf der Ebene des Gesellschaftssystems neu überlegen kann« (36). Inwiefern der Begriff der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien tatsächlich aus der Systemtheorie herausgelöst wird, kann nicht abschließend geklärt werden. Deutlich gemacht werden kann aber, dass die allgemeinere Medien/FormUnterscheidung, wie sie insbesondere in den Schriften zur Kunst ausgeführt wird, ein solches offenes Konzept bieten kann, das sich tatsächlich auch außerhalb des theoretischen Rahmens der Theorie sozialer Systeme als für die Steigerung der theoretischen Varietät wirksam erweisen kann. Vgl. Heider: Ding und Medium (1921). Neben diesen beiden Medienbegriffen finden sich noch weitere Verwendungen des Lexems ›Medium‹, wie beispielsweise am Titel der Realität der Massenmedien erkennbar wird. Für eine knappe Auflistung der verschiedenen Medien-Begriffe siehe beispielsweise Smudits u.a.: Kunstsoziologie, S. 128.

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zu bezeichnen.«139 Luhmann schlägt vor, Sprache nicht über ihre Zeichenfunktion zu definieren, sondern als Medium. Das (sprachliche) Zeichen wird bei Luhmann umgedeutet als Ausweis der fundamentalen Asymmetrie der Sprache, welche den Akt des Bezeichnens, also die reine ›Medialität‹ der Sprache, verdeckt und damit eine Asymmetrie zwischen Form und Medium einrichtet: »Nach der Kritik der Zeichenfunktion von Sprache als definierendem Moment wird es im übrigen möglich, der Zeichenstruktur, die ja unbestreitbar vorkommt, einen neuen Sinn zu geben. Vielleicht kann man sagen, sie entfaltet die Selbstreferenz, sie asymmetrisiert und ist eben deshalb gegen eine Bezeichnung des Bezeichnens empfindlich.«140 Die Unterscheidung Form/Medium funktioniert also bei Luhmann prinzipiell nicht symmetrisch, sondern asymmetrisch – die Form schafft das Medium, nicht umgekehrt. Die Stufenordnung der Verwandlung von Formen in Medien lässt sich auch für die Stufenordnung von Luhmanns Büchern (vgl. Kap. 6.4) und den in ihnen sich vollziehenden Vermittlungen zwischen Öffnung und Schließung wiederfinden. Die Unterscheidung Form/Medium ist also in hohem Maße relevant für die Organisation und Konstruktion des eigenen Texts. Die besondere Fähigkeit oder Potenz der Form/Medium-Unterscheidung liegt darin, dass sie »in sich selbst wiederholt werden kann«, dass sie also re-entry-fähig ist.141 Die Re-entry-Fähigkeit beruht allerdings auf der Asymmetrie zwischen dem Formbegriff und seinem Gegenpol, dem Begriff des Mediums. Diese ist damit nicht nur strukturell, sondern auch genealogisch gegeben. Der Medienbegriff ist, wie zuvor gezeigt, nur die letzte Stufe in einer Übersetzungskette von Form/Stoff oder Form/Inhalt über Form/Kontext hin zu Form/Medium. Dies macht Luhmanns prototypisches Medium deutlich: Geld.142 In Bezug auf tatsächliche sprachliche Kommunikation stellt das Geld einen Minimalpol dar. Hier muss sich keinerlei sprachliche Kommunikation mehr vollziehen. Ausschlaggebend ist eine quantitative Differenz.143 Prototypisch ist Geld für die Medialität also, insofern es sprachliche und vieldeutige Kommunikation durch eine eindeutig quantifizierbare Differenz ersetzt. Damit ist die Form/Medium-Unterscheidung paradigmatisch dazu geeignet, sprachliche Kommunikation obsolet zu machen, und das sowohl in der Gegenstandsbeschreibung wie in der Beschreibung der eigenen Methode.

139 Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, S. 32. 140 Luhmann, Fuchs: Notizen zu Reden und Schweigen, S. 223. 141 Genauso wie auch die System/Umwelt-Unterscheidung laut Luhmann re-entry-fähig ist. Man beachte, dass die Asymmetrie der Unterscheidung für die re-entry-Fähigkeit maßgeblich ist. Die Unterscheidung System/Umwelt kann nur ins System wieder eintreten, die Unterscheidung Form/Medium nur in die Form. Vgl. Luhmann: Observing Re-entries, S. 292.: »Observing requires (for an observer observing observing) a re-entry of the distinction of system and environment into the system.« 142 Vgl. auch Bolz: Ratten im Labyrinth, S. 98: »Geld ist für Medialität im Sinne von Parsons und Luhmann prototypisch. Es geht bei jedem Medium um Einheit der Differenz bei festgehaltener Verschiedenheit. Und diese Definition von Medium als Einheit einer Differenz kann man am leichtesten am Prototyp Geld ablesen. Die Differenz wird nicht aufgehoben, sondern überbrückt.« 143 Vgl. ebd.: »Ich will hier nur in Klammern bemerken, dass Geld zwar prototypisch für Medialität, aber untypisch für Kommunikation ist. Im Medium Geld muss Kommunikation tatsächlich Übertragbarkeit sicherstellen. Während der Mitteilende ja behält, was er mittelt, verliert der Zahlende, was der Empfänger erhält. Klammer zu.«

6. Ornament: Signal/Rauschen

6.3.4.

Form und Code

Der Formbegriff steht bei Luhmann schon vor der ausführlichen Beschäftigung mit Spencer Brown für eine reine Differenz und die daraus resultierende Notwendigkeit (und Möglichkeit) der Selektion. Dies wird etwa sichtbar an der Behandlung des Komplexitätsthemas in Soziale Systeme. Hier heißt es über das Komplexitätsverhältnis zwischen System und Umwelt, dass immer »die Differenz von zwei Komplexitäten das eigentlich Selektion erzwingende (und insofern: Form gebende) Prinzip« (SoSy, S. 50) ist. Differenz ist gleichbedeutend mit Selektion, und diese wiederum gleichbedeutend mit Form. Sobald der Formbegriff als feste Größe in die Theoriearchitektur eingefügt ist, steht er ein für den grundlegenden Ausgangspunkt der Differenz: »Die Einführung von Form impliziert, daß beide Seiten gleichzeitig gegeben sind. Die Einführung ändert nichts an der Unzeitlichkeit der Welt, sie transformiert sie nur in Gleichzeitigkeit der einen und der anderen Seite.«144 Der Formbegriff bezeichnet nicht nur gleichzeitig die Gegensätzlichkeit aller Beobachtungen, sondern darüber hinaus den Gegensatz zwischen Zeitlichkeit und Unzeitlichkeit – das macht ihn zum paradigmatischen Prozessbegriff. Die Konsequenzen dieses auf reiner Differenz basierenden prozessualen und damit selbstbezüglichen Formbegriffs lassen sich an Luhmanns Auffassung von Kommunikation gut zeigen. Der Begriff der Kommunikation ist einer der umstrittensten Begriffe in Luhmanns Büchern. Hans-Peter Krüger zeigt etwa in einem Aufsatz zu Luhmanns autopoietischer Wende eine Diskrepanz zwischen verschiedenen Kommunikationskonzepten auf: »Seine Kommunikationsauffassung bricht auseinander in einerseits einen Sprache implizit unterstellenden Kommunikationsbegriff und in andererseits eine sich der Informationstheorie annähernde Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien.«145 Krüger bezieht sich dabei auf die Gleichzeitigkeit der Dreiteilung von Kommunikation in Information, Mitteilung und Verstehen auf der einen Seite und auf die Idee der Codierung auf der anderen Seite. Wie im entsprechenden Kapitel der Sozialen Systeme deutlich wird, bedingen sich tatsächlich beide Konzeptionen gegenseitig. Hier heißt es zunächst: »Kommunikation muß deshalb nicht als zweistelliger, sondern als dreistelliger Selektionsprozess gesehen werden.« (SoSy, S. 194) Diese »Zusammenfassung von Information, Mitteilung und Erfolgserwartung in einem Akt der Aufmerksamkeit setzt ›Codierung‹ voraus. Die Mitteilung muß die Information duplizieren, sie nämlich einerseits draußen lassen und sie andererseits zur Mitteilung verwenden und ihr eine dafür geeignete Zweitform geben, zum Beispiel eine sprachliche (und eventuell lautliche, schriftliche etc.) Form«. (SoSy, S. 197) Die Codierung ist Voraussetzung für eine gelingende Synthese von Information, Mitteilung und Erfolgserwartung. Sie ist allerdings außerhalb der Kommunikation anzusiedeln, wie Luhmann in einem weiteren Abschnitt betont. Die Urform der Codierung besteht nämlich in der Differenz von »Annahme und Ablehnung des Kommunizierten«, die aber als solche nicht Teil der »Einheit der Einzelkommunikation ist«. Nur so kann von der Kommunikation zur Codierung übergegangen werden. Die Einzelkom-

144 Luhmann: Weltkunst, S. 207. 145 Krüger: Luhmanns autopoietische Wende, S. 134-135.

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Lektüre als Form

munikation »muß Einheit sein und bleiben, damit sie in anderer Form wieder Differenz werden kann, nämlich Differenz von Annehmen und Ablehnen.« (SoSy, S. 204) Während die einzelne Kommunikation – und damit der Kommunikationsbegriff (vgl. SoSy, S. 204) – als explizit eingeführter Theoriebegriff definiert ist als Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen, beinhaltet die immer mitlaufende Konzeption von Kommunikation gegenüber dieser Dreiteiligkeit außerdem die binäre Codierung, also die Differenz von Annehmen und Ablehnen. Ohne eine solche Codierung käme Kommunikation überhaupt nicht zustande. Dies betont Luhmann noch einmal deutlicher in seinem Vortrag zum Thema Was ist Kommunikation: Kommunikation dupliziert also, um diesen wichtigen Punkt nochmals mit anderen Worten zu wiederholen, die Realität. Sie schafft zwei Versionen: eine Ja-Fassung und eine Nein-Fassung, und zwingt damit zur Selektion. Und genau darin, daß nun etwas geschehen muß (und sei es: ein explizit kommunizierbarer Abbruch der Kommunikation), liegt die Autopoiesis des Systems, die sich selbst ihre eigene Fortsetzbarkeit garantiert. Die Zuspitzung auf die Alternative Annahme oder Ablehnung ist also nichts anderes als die Autopoiesis der Kommunikation selbst.146 So kommt es zu einer weiteren Formulierung der Definition von Kommunikation: »Kommunikation transformiere die Differenz von Information und Mitteilung in die Differenz von Annahme oder Ablehnung der Mitteilung, sie transformiere also ein ›und‹ in ein ›oder‹.« (SoSy, S. 205) In der Kunst der Gesellschaft begründet er die grundlegende Differenz der Sprache dann nicht mehr in Annahme oder Ablehnung, sondern im Begriff der Form: »Die Form der Sprache ist also, wie alle Form, eine Differenzform, die sich für das Bewußtsein gegen das zugleich Wahrnehmbare absetzt, und die im Kommunikationsprozeß Gesagtes gegen Nichtgesagtes differenziert.« (KdG, S. 32) Die Definition von Kommunikation als Code im Zeichen der Form bezieht sich auf alle möglichen Kommunikationsmedien, auch auf die Kunst, die zunächst als gegenüber Sprache und Schrift mit höheren Freiheitsgraden ausgestattet dargestellt wurde. Ihre Funktion erschöpft sich jeweils in der Spaltung, also im Einrichten einer Codierung als Form: »Die Kunst läßt also – wie in anderer Weise auch Sprache und Schrift – die Realität doppelsinnig werden. Sie spaltet die Realität durch ihre Form, so daß im Effekt zwischen zwei Seiten unterschieden werden kann: zwischen der realen Realität und der fiktionalen Realität.«147 Für Luhmann ist der Streit zwischen »Transzendentaltheorie«, womit er Husserl meint, und »Semiologie« (SoSy, S. 203), womit er Derrida bezeichnet, damit ad acta gelegt. Ganz anders sieht dies Krüger, der Luhmann im Gegenteil empfiehlt, den Zeichenbegriff als semiotischen Grundbegriff (wieder) einzuführen, um das »Hin- und Herpendeln zwischen informations- oder sprachanaloger Kommunikationsauffassung«148 zu

146 Luhmann: Was ist Kommunikation, S. 55. 147 Luhmann: Weltkunst, S. 199. 148 Krüger: Luhmanns autopoietische Wende, S. 136.

6. Ornament: Signal/Rauschen

vermeiden. Er geht davon aus, dass im Kontext der Formulierung von doppelter Kontingenz der Kommunikation der Zeichenbegriff bereits impliziert ist.149 Die Berechtigung von Krügers Einwänden ist hier weniger von Interesse. Interessant ist jedoch Luhmanns Reaktion auf dessen Vorschläge. Luhmann antwortet darauf mit seinem Aufsatz Zeichen als Form150 , und hier wird wiederum deutlich, welche Funktion dem Formbegriff im Kontext der Emanzipation von der eigenen »Materialität der Kommunikation«151 zukommt. Mithilfe des Begriffs der Form wird die »Kommunikationstheorie der Gesellschaft in eine Kybernetik zweiter Ordnung aufgehoben, wobei der Begriff der Beobachtung Handeln, Erleben und Kommunikation übergreift«152 und somit die Grundlegung der Codierung und des Denkens in Unterscheidungen erlaubt. Und nicht nur mithilfe der Form wird diese Kommunikationstheorie aufgehoben, sondern die Form selbst, bzw. der spezifische Formbegriff, transformiert die Vorstellung von Kommunikation als vielschichtigem Gespräch in die Vorstellung von Kommunikation als reine Unterscheidung, also als Code. In Luhmanns Aufsatz zur Weltkunst rückt Form damit an die Stelle des machtvollsten überhaupt nur vorstellbaren Agenten, an die Stelle Gottes, der Leben schafft: »Form ist immer ›Zwei-Seiten-Form‹, immer Differenz. Nur so wird verständlich, daß Form die Fähigkeit besitzt, das durch sie Unterschiedene lebendig zu machen, und zwar nach beiden Seiten. Selbst wenn man an den Sonderfall der Körperformen denkt, macht Form nicht nur das in sie Eingeschlossene, sondern auch das durch sie Ausgeschlossene lebendig, was nichts anderes heißen soll als: selektiv anschlußfähig.«153 Form ist also der omnipotente Begriff, der es erlaubt, die Vorstellung von Sprache in die Vorstellung der reinen Existenz eines Codes zu verwandeln, der aus Ablehnung/Annahme oder »Achtung/Missachtung«154 besteht. Damit vollzieht sich im Zeichen des Formbegriffs und seiner Verbindung zum Codebegriff die Übersetzung von einem linguistischen, gesprächsbasierten Kommunikationsparadigma in ein informationstheoretisches Paradigma: »Nüchterner Beobachtung zeigt sich lediglich, dass Kommunikation elektrische Impulse aussendet, die dann in parallele Konstruktionen von Information eingehen.«155 Der Begriff Form und die mit ihm einhergehende Vorstellung 149 Vgl. ebd., S. 137. 150 Luhmann transformiert hier die Frage nach dem Zeichen in die Frage nach einer Unterscheidung: »Wir wollen, um diese Sendung zu markieren […] statt von Relation von Unterscheidung sprechen. Dann kommt deutlicher heraus, daß die Unterscheidung an die Stelle der Paradoxie tritt, die sie entfaltet und damit zugleich invisibilisiert. Die Einheit der Unterscheidung, die diese Funktion der Paradoxieentfaltung übernimmt, wollen wir mit dem Begriff der ›Form‹ bezeichnen, um sie von der Identität des jeweils Unterschiedenen unterscheiden (!) zu können. In diesem Sinne unterziehen wir den Begriff des Zeichens (und damit die Semiologie) einer Formanalyse.« (S. 47-48) Auch hier bleibt der Formbegriff aber noch dem Systembegriff untergeordnet: »Vorab muß jedoch noch klargestellt werden, daß wir eine Systemreferenz voraussetzen.« (S. 48) 151 So bekanntlich der Titel eines von K. Ludwig Pfeiffer und Hans Ulrich Gumbrecht im Rahmen der 1981 bis 1989 in Dubrovnik stattfindenden interdisziplinären Forschungs-Kolloquien über die erkenntnistheoretische Neuorientierung der Geisteswissenschaften, an denen auch Niklas Luhmann zentral beteiligt war, herausgegebenen Sammelbands. 152 Bolz: Ratten im Labyrinth, S. 50. 153 Luhmann: Weltkunst, S. 196. 154 Fuchs: Die Metapher des Systems, S. 62. 155 Bolz: Ratten im Labyrinth, S. 52.

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von »binärer Codierung«156 steht nun in einem informationstheoretischen Zusammenhang von »Botschaft, Information, Programm, Code, Instruktion, Decodierung«157 . Der Künstler ist damit für Luhmann kein Gesprächspartner, sondern – wiederum ist hier die Ähnlichkeit zur Beschreibung des Zettelkastens frappierend (vgl. Kap. 3.3) – eine »Maschine zur Erzeugung von Zufällen«158 . Paradoxerweise ist genau diese Vorstellung von Kommunikation aber eng an Schriftlichkeit gekoppelt und von dieser nicht zu lösen. Selbst die reine Möglichkeit der Theorie als im obigen Sinne »bloß formale[r] Formanalyse«159 ist, sowohl persönlich, wie auch evolutionär, für Luhmann an die Existenz von Schrift gebunden, wie etwa in Interviews deutlich wird: »Nur habe ich dann doch wieder Angst, wenn gleichsam auf die spontane Fähigkeit gesetzt wird, so einfach loszudenken. Für mich stehen faßbare, theoretisch formulierbare Fragen im Vordergrund.«160 Diese Selbstreferenz auf Schrift soll aber unterbunden werden im Sinne einer idealen, nicht schriftförmigen, nur im Imaginären existierenden Buchförmigkeit. Die eingestandene theoretische Notwendigkeit, »das eigene[...] Beschreiben [zu] beschreiben«161 , vollzieht sich als Problematisierung von Begriffen als Unterscheidungen, eben als Codes. Das so vorgegebene Lektüreprogramm besteht in der Würdigung der so hergestellten Buchförmigkeit. Entscheidend ist dabei das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität des Formbegriffs innerhalb der Schriften Luhmann, das ich eingehend beschrieben habe. Die Kontinuität der begrifflichen Präsenz des Terminus ›Form‹ wird unterbrochen durch die alles transformierende Adressierung desselben an George Spencer Brown. Diese Adressierung und die damit einhergehende Asymmetrisierung des Formbegriffs, stellt denselben auf die Seite des Signals, gegenüber dem von diesem beherrschten Rauschen: die Materialität oder Schriftlichkeit der Theorie. Die zentrale Funktion des prozessualen Formbegriffs ist es, diese schriftliche Verfasstheit der Theorie begrifflich zu überdecken und insofern die Vorherrschaft des Signals zu zementieren. Die Adressierung des Formbegriffs an George Spencer Brown erweist sich als strategische Zuschreibung, die das dem Formbegriff bereits innewohnende Potential zur Asymmetrisierung weiterführt und radikalisiert.

6.4.

»Buch im Buch«: Soziale Systeme und Die Kunst der Gesellschaft

Luhmanns theoriehistorische Einschätzung, die sein »Buch im Buch« (SoSy, S. 661) Soziale Systeme als Wasserscheide zwischen Theorie und Nichttheorie inszeniert, ist für mich höchst instruktiv. Soziale Systeme wurde erstmalig 1984 mit dem Untertitel »Grundriß einer allgemeinen Theorie« veröffentlicht. Der Begriff des Systems ist seit Fichtes

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Luhmann: Weltkunst, S. 196. Canguilhem: Das Leben und der Begriff zitiert nach unveröffentlichter Übersetzung aus dem Französischen in: Muhle: Formen und Formierungen des Lebendigen. 158 Luhmann: Weltkunst, S. 196. 159 Wellberry: Die Ausblendung der Genese, S. 25. 160 Luhmann: 1984. Ein Streitgespräch mit Robert Jungk, S. 103. 161 Luhmann: Njet-Set und Terror-Desperados, S. 64.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794) eng verknüpft mit der Disziplin Philosophie162 , spätestens seit Ludwig von Bertalanffys Arbeiten zur General System Theory aber auch gleichbedeutend mit dem Anspruch auf universelle Theoriebildung.163 Der Begriff Theorie wiederum steht, wie auch der Begriff ›Werk‹164 für eine emphatische Betrachtung von Buchförmigkeit als Geschlossenheit und Objektivität. »Theorien pflegen sich als fertig zu präsentieren – bescheiden im Anspruch und hypothetisch im Charakter, aber doch als Objekte, die stehen, als Aussagen, die gemacht sind, diskutiert werden können und sich während der Diskussion nicht unversehens verändern«165 , schreibt Luhmann im Jahr 1969 in seinem Aufsatz Die Praxis der Theorie. Die emphatische Erfahrung der Produktivität von Geschlossenheit lässt sich so nicht als persönliches166 , sondern als mediales Argument reformulieren. Allerdings stellt sich die von Luhmann aufgerufene Buchförmigkeit, die als mediale Folie für das emphatische Verständnis von Theorie dient, als virtualisierte Buchförmigkeit dar, die ihre tatsächliche Materialität und Abhängigkeit vom Medium der Druckschrift auf ein inneres Ornament verschiebt. Der konkrete materielle Zusammenhang zwischen dem Schreiben der Theorie als Buch und ihren theoretischen Grundproblemen wird von der ›offiziellen‹ Begriffsarchitektur der Theorie, wie sie sich am reinsten im Buch Soziale Systeme präsentiert, verdeckt. Auch in den selbstreferentiellen Passagen, die sich mit der konkreten Theoriearbeit beschäftigen, wird von einem grundlegenden Unterschied zwischen Vertextung der Theorie und ihrer eigentlichen Form ausgegangen, oder – in anderen Fällen – der Unterschied durch eine Tautologie verdeckt. »Die Theorie hat sich selbst geschrieben«167 , pflegte 162

Vgl. die instruktiven Ausführungen bei Dietmar Dath zum Thema »Wie baut man Systeme« (Dath: Hegel, S. 46-49) sowie das Kapitel »Bücher als Systeme« bei Carlos Spoerhase (Das Format der Literatur, S. 459-478). 163 So formuliert etwa der Physiker und Bertalanffy-Schüler Alfred Locker: »There can nonetheless be perceived an intellectual movement which could lead mankind in its intellectual development to a culmination point. Characteristic of this development is the fact that the age-old longing for a universal theory able to not only focus but also to adequately treat these problems [etwa die Existenz von Atombomben] now, in principle, seems to be satisfied. It is General Systems Theory (GST) whose foundation is inseperably associated with the name of Ludwig von Bertalanffy. This theory is obviously the most sophisticated attempt at a universal intellectual tool which in its fully accomplished form enables one to apply both a verbal as well as a formal description of the fundamental traits of reality.« (On the ontological Foundations of the Theory of Systems, S. 537) 164 Vgl. etwa KdG, S. 27, Anm. 23: »Jedenfalls wird das abgeschliffene, rasche, sorglose Lesen blockiert; oder anderenfalls liest man den Text nicht als Kunstwerk.« Auch Luhmann betont hier den Zusammenhang zwischen Buchförmigkeit (Kunstwerk) und Lektüre. 165 Luhmann: Die Praxis der Theorie, S. 129. 166 Immer wieder wird die soziale ›Verschlossenheit‹ Luhmanns in Erinnerungen thematisiert und als produktiver Kern seiner Theorie inszeniert, vgl. etwa Teubner: Drei persönliche Begegnungen, S. 21: »Gerade aus der schmerzhaften, ja traumatischen Erfahrung der Unzugänglichkeit anderen psychischen Erlebens scheint mir fast wie in einem Demosthenes-Effekt, die größte Einsicht der Luhmannschen Theorie entstanden, die Verdoppelung der Sinnproduktion – der Aufbau psychischer und sozialer Sinnwelten. Ausgangserfahrung ist die prinzipielle Nicht-Mittelbarkeit des inneren Erlebens, ja die Zerstörung inneren Sinnes durch seine Verbalisierung und Kommunikation. […] Was dann seine Analysen wiederum so fruchtbar macht, ist die Einsicht, daß die Energien, die Geschlossenheit [sic!] des Innenlebens zu überwinden suchen, ihre Wirkungen in ganz anderer Richtung entfalten.« 167 De Giorgi: Niklas Luhmann. Die Zukunft des Gedächtnisses, S. 29.

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Lektüre als Form

Luhmann laut Kollegen zu sagen. Ein anderes Luhmannsches Buch nähert sich jedoch offener der Selbstbegegnung der Theorie als Buch: das 1995 erschienene Buch zur Kunst der Gesellschaft, das ebenjenes Ornament ausführlich thematisiert. Hier wird das gegenseitige Kommentierungsverhältnis dieser beiden Bücher in den Blick genommen. Während Soziale Systeme den Ort der Begriffe, und damit die Landkarte angibt, wendet sich das Buch zur Kunst der Gesellschaft der Methode zu, allerdings nicht in einem medialen, sondern in einem ›operativen‹ Sinne, welcher die tatsächliche materielle Medialität, wie in Kap. 6.3 gezeigt, verdeckt.168 Erst das Zusammenspiel beider Bücher ergibt damit das vollständige Lektüreprogramm. Diese These werde ich in drei aufeinanderfolgenden Schritten belegen, die sich jeweils auf das Verhältnis von Soziale Systeme und Die Kunst der Gesellschaft beziehen. Im ersten Abschnitt wird es mir darum gehen, zu zeigen, dass die Frage nach der Kunst dazu zwingt, sich mit dem Anfang auch der eigenen Theorieproduktion und damit der bereits vielfach beschriebenen ereignishaften Asymmetrisierung auseinanderzusetzen (Kap. 6.4.1). Im zweiten Abschnitt werde ich auf die daraus resultierende Differenz von Signal und Rauschen eingehen und hier ebenfalls zeigen, wie die Funktionsweise dieser durch das Erscheinen von Soziale Systeme etablierten Unterscheidung in Die Kunst der Gesellschaft operativ beschrieben wird (Kap. 6.4.2). Kapitel 6.4.3 wird sich schließlich mit der spezifischen Buchform beschäftigen, die schon mehrfach angesprochen wurde: mit dem Ornament. Die Ornamentalität, die den Sozialen Systemen für die Organisation der Theorie zukommt, wird in Die Kunst der Gesellschaft explizit beschrieben.

6.4.1.

Der Anfang der Theorie

Die Entdeckung des Spencer Brownschen Formbegriffs stellt eine knappe und mathematische Präzision der begrifflichen Arbeit in Aussicht, die Luhmann seiner Ansicht nach bereits geleistet hat. Insofern bildet es das Vorbild einer dezidiert nicht alltagssprachlichen, nicht sozialen Organisation von Buchförmigkeit. Der so verortete Formbegriff lässt sich als Anfang der Theorie begreifen. Die spezifische Adressierung des Formbegriffs an George Spencer Brown erlaubt genau die Negativität und Selbstbezüglichkeit, welche der Sinnbegriff, wie oben gezeigt (vgl Kap. 6.2.1), erst in der Tilgung der Referenz erhalten konnte. Der Formbegriff ist für Luhmann die Entfaltung einer »heimliche[n] Paradoxie, die nicht bezeichnet werden kann am Anfang, weil nämlich die Unterscheidung für eine Bezeichnung nötig ist – aber was macht man mit der Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung?«169

168 Auch Natalie Binczek sieht einen entscheidenden Zusammenhang zwischen Soziale Systeme und Die Kunst der Gesellschaft, den sie ebenfalls im Umgang mit der Materialität der Schrift lokalisiert. In ihrer Monographie Im Medium der Schrift betont sie eingangs: »Seit Soziale Systeme läßt sich ein stetig wachsendes Interesse an Derrida beobachten, der in der Kunst der Gesellschaft schließlich zu einer der zentralen Theoriereferenzen avanciert.« (S. 7) In dieser Einleitung Binczeks wird aber auch schon die Differenz zum hier verfolgten Ansatz deutlich. Während sie sich für die Begegnung von Systemtheorie und Dekonstruktion interessiert, geht es hier um die Strategien der Invisibilisierung des eigenen Materialitätskontakts, und dabei nicht um die (Dis)kontinuitäten zwischen Luhmann und Derrida, sondern zwischen Luhmann und Schlegel. 169 Luhmann: Vorsicht vor zu raschem Verstehen, S 65-66.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Der Formbegriff in seiner Adressierung an die Mathematik rückt für Luhmann an die Stelle eines Anfangs und besetzt damit die Stelle der in Form der Kritik bei Schlegel in die Philosophie eingeführten Lektüre. Der Begriff ›Form‹, der an die Stelle des Anfangs tritt, ermöglicht ein Absehen von jeder Form von personalem genauso wie medialen Szenarios. Der Formbegriff beantwortet die Frage danach, »wie alles beginnt, wie sich die Welt in Beobachten und Beobachtet-Werden aufteilt«170 . Insofern macht er eine direkte Thematisierung des Anfangs für Luhmann gerade obsolet. Anstelle darüber nachzudenken, »was die Reflexion ausmacht oder wie der Teufel in die Welt kam, indem er/sie versuchte, Gott zu beobachten«, zieht dieser es vor, »Ausdrücke wie Unterscheidung, Anzeichen (darin Spencer Brown folgend) oder Beobachtung und Beschreibung zu verwenden«171 . Wie bei Schlegel tritt auch bei Luhmann an den Anfang eine Verdoppelung. Diese wird aber nicht performativ – in verschiedenen Variationen, wie oben gezeigt – ausagiert und immer wieder neu präsent gehalten, sondern gerade verschoben und asymmetrisiert. An die Stelle der tatsächlichen Verdopplung tritt ein »Zeichen als Form«172 , welches diese Verdopplung bezeichnet und damit asymmetrisiert. Den Anfang der Theorie bildet keine Lektüre, die mit dem Buch in einem symmetrischen Verhältnis stellt, sondern die grundlegende Asymmetrie eines fundamental nichtsprachlichen Zeichens, der Spencer Brownschen Notation für den Formbegriff. Dieses fundamental nichtsprachliche Zeichen verschiebt die darauffolgende Transkription als Begriff in den dem Metatext immer untergeordneten und damit nur uneigentlichen Text. Darin liegt die spezifisch Luhmannsche Ironie. Beschrieben wird die damit einhergehende Methode der Theoriebildung in einem anderen Buch, der 1995 erschienenen Kunst der Gesellschaft. Insgesamt zeigt sich ein enges Verhältnis zwischen Formbegriff und Kunsttheorie. Luhmanns Beschreibung des Kunstwerks als »superposition« im Sinne Yves Barels173 etwa trifft genau auf den Form170 Luhmann: Die Form der Schrift, S. 350. 171 Ebd. An den Anfang der Welt tritt also kein theorieeigenes Prinzip. Vielmehr verschiebt Luhmann die Antwort auf die Frage, wie alles beginnt, auf ein in seinen eigenen Text eingefügtes langes Zitat aus Spencer Browns Laws of Form. Brown spricht hier davon, die Welt sei ohne Zweifel sie selbst, müsste aber, um sich zu sehen, »sich selbst von sich selbst unterscheiden«. (Spencer Brown: Laws of Form, zitiert nach Luhmann: Die Form der Schrift, S. 350). 172 So der Titel des von Luhmann im Sammelband Probleme der Form 1993 veröffentlichen Aufsatzes. Gegenüber dem Begriff des Zeichens, der die »Einheit einer Differenz, das heißt die Nichtunterschiedenheit des Unterschiedenen zu sein beansprucht« (S. 67) und damit »eine Paradoxie verdeckt«, ist der Formbegriff laut Luhmann dazu geeignet, die Paradoxie zu entfalten: »weil Paradoxien entfaltet werden müssen, wenn überhaupt Beobachtungen möglich sein sollen« (S. 69). Mit Entfaltung ist Asymmetrisierung gemeint, wie in Die Kunst der Gesellschaft in Bezug auf das Ornament klar geäußert wird (vgl. Kap. 6.4.3). 173 Luhmann: Weltkunst, S. 206. Luhmann bezieht sich hier auf Barel: Le paradoxe et le système, S. 118ff. Vgl. dazu auch Wellberry: Die Ausblendung der Genese, S. 24: »Das Entscheidende nun – und hieran zeigt sich die Ähnlichkeit zu unserem Unwahrscheinlichkeitsargument – ist, daß bei Luhmann die Superposition nur formal interessiert; der theorierelevante Befund ist das bloße Vorkommen eines Elementes, das seinen Stellenwert in verschiedenen Unterscheidungen hat und also mehrfach bestimmt ist. In der Freudschen Theorie jedoch – und hierin, wie auch in anderen Zusammenhängen, folgt ihm Gehlen – zeugt die Überdeterminierung von einer mehrschichtigen Besetzung des Elementes durch Energien, die teilweise auf sehr frühe Erfahrungsschichten zu-

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Lektüre als Form

begriff selbst zu: »Oft werden eine Mehrzahl von Unterscheidungen derart kombiniert, daß die eine Seite einer Unterscheidung auch als die eine Seite einer anderen Unterscheidung dienen kann, wodurch dann auch die jeweils andere Seite beider Unterscheidungen präsent bleibt.«174 Genau diese Fähigkeit des Formbegriffs, diverse Unterscheidungen zu übergreifen und insofern miteinander zu koppeln, macht ihn zum zentralen Begriff für Luhmanns Theoriearbeit. In diesem Sinne ist es tatsächlich zu betonen, dass Spencer Browns Laws of Form »im eigentlichen Sinne keine ›Quellen‹ seines systemtheoretischen Denkens darstellen, sondern vielmehr später hinzugekommene Ausdrucksmittel«175 bereitstellen, die teilweise in Konkurrenz zu den bereits gewählten Begrifflichkeiten geraten. Dies äußert Luhmann etwa in einem Interview mit Hans-Dieter Huber, in dem es ebenfalls um das Thema Kunst geht: Also zunächst würde ich sagen, daß er [der Formbegriff] nicht an die Stelle der SystemUmwelt-Theorie tritt, sondern eine Alternativformulierung ist, wobei beide Formulierungen »System – Umwelt« und »Form – Medium« sich wechselseitig begründen können. Das ist das erste. Der Formbegriff selbst ist eigentlich aus dem Formenkalkül von George Spencer Brown in ›Laws of Form‹ bezogen, wonach alles Beobachten auf einer Unterscheidung beruht und die Form die Einheit der Unterscheidung ist. Form ist also nicht eine schöne Gestalt, ein besonderes Ding, sondern die Differenz des Dings zu seiner Umgebung. Man hat das früher mit ›Gestalt – Hintergrund‹ oder solchen Unterscheidungen erklärt.176 Hier wird schon deutlich, dass sich der Formbegriff nicht bruchlos in das Netzwerk der anderen bereits etablierten Begriffe der ›Systemtheorie‹, einfügen lassen kann, sondern vielmehr eine Alternative zum Begriff des Systems bildet. Als noch reduziertere begriffliche Schließung setzt sich der Formbegriff tendenziell an die Stelle des Systembegriffs. Mit und neben Spencer Brown ist die zweite Quelle für mögliche Beschreibungen des Anfangs die Kunst, sowohl als Gegenstand als auch methodisch. Die Kunst führt vor, wie der nicht bestimmbare Anfang, die hierin wohnende Kontingenz, in Notwendigkeit überführt werden kann. Ein Anfang muss erzählt werden: »Die Bestimmung eines Anfangs, eines Ursprungs, einer ›Quelle‹ und eines (oder keines) ›Davor‹ ist ein im System selbst gefertigter Mythos – oder die Erzählung eines anderen Beobachters.«

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rückgehen. Die Superposition bzw. Überdeterminierung geschieht deswegen, weil sich das überdeterminierte Element als günstiger Träger oder Maske für begehrensgesteuerte Kategorisierungen erweist, weil es mehrfach besetzbar ist, weil sich in ihm diverse Wunschszenarien überlagern können.« Auch Wellberry weist hier, wie auch an anderen Stellen in seinem Aufsatz, auf den Unterschied zwischen Luhmanns Verwendung von Begrifflichkeiten und anderen Theorieanlagen hin, die Begrifflichkeiten doch zumindest gleichberechtigt symmetrisch und prozessual verwenden. Luhmann: Weltkunst, S. 205. Schönwälder-Kuntze: Luhmann und Spencer Brown, S. 34. Die Unterscheidung zwischen Quellen und Ausdrucksmittel könnte suggerieren, dass es sich bei der Systemtheorie um ein abgeschlossenes begriffliches System handelt. Das ist hier allerdings gerade nicht gemeint: vielmehr geht es mir darum, dass der Formbegriff in seiner Adressierung an Spencer Brown eine Dimension bekommt, die er zuvor nicht hatte. Diese Dimension besteht in der grundlegenden Asymmetrie, die der Formbegriff und mit ihm das Buch Soziale Systeme einrichtet, und die insofern einen ereignishaften Schnitt, eben den zwischen ›Theorie‹ und ›Nullproduktion‹, markiert. Luhmann: Gibt es Kunst außerhalb der Kunst, S. 80.

6. Ornament: Signal/Rauschen

(GdG, S. 441) Die Frage nach der Kunst bringt Luhmann insofern in Verlegenheit, als die Erzählung des Anfangs, die er oben zugunsten einer rein begrifflichen Adressierung der ursprünglichen Doppelung im Formbegriff abgelehnt hatte, als Problem wiederauftaucht. Im Falle der Kunst, die Luhmann dezidiert als »Kommunikation durch Kunst« gegenüber einer »Kommunikation über Kunst« (KdG, S. 36) verstehen will, stellt sich die Frage insofern, als jedes Kunstwerk selbst schon das Problem des Anfangs bearbeitet. Dies zeigt sich etwa an der probeweise geleisteten, von Blumenberg177 übernommenen, Bestimmung Luhmanns, »es sei die Funktion der Kunst, Welt in der Welt erscheinen zu lassen« (KdG, S. 241). Es wird außerdem sichtbar an der in Bezug auf das Kunstwerk in Die Kunst der Gesellschaft prominent eingeführten Unterscheidung von unmarked state als »Einheit der Unterscheidung von marked und unmarked space« (KdG, 52, Anm. 63) und unmarked space: Der Begriff der Form, so Luhmann hier, »setzt […] die Welt als ›unmarked state‹ voraus« (KdG, S. 51). Dieser unmarked state ergibt sich aus Luhmanns Begriff von Operativität wiederum über den Formbegriff, und insofern immer über die Existenz einer schon geleisteten Unterscheidung. Diese wiederum bedingt den blinden Fleck, der in Bezug auf das Kunstsystem extra thematisiert werden muss: Wenn eine neue Operationsreihe mit einer Differenz beginnt, die sie selber macht, beginnt sie mit einem blinden Fleck. Sie steigt aus dem ›unmarked state‹, in dem nichts zu sehen ist und nicht einmal von ›Raum‹ gesprochen werden könnte, in den ›marked state‹ ein, und zieht, indem sie sie überschreitet, eine Grenze. Die Markierung erzeugt den Raum der Unterscheidung, die Differenz von ›marked space‹ und ›unmarked space‹. (KdG, 51) In Bezug auf das Kunstwerk sieht sich Luhmann gezwungen, das ansonsten in der Unterscheidungslogik ausgeschlossene, vom Begriff der Form verdeckte, Dritte zu thematisieren: den ominösen, nicht näher bestimmten ›Ursprung‹, einen ›unmarked state‹ jenseits der in den Unterscheidungen gefassten Prozessualität. Diese Ursprungsfigur bedarf eigens für die Kunst einer Einführung,178 denn normalerweise basiert gerade die Möglichkeit von Kommunikation darauf, dass bereits Kommunikation stattgefunden hat: »Als autopoietischer sozialer Prozess ist Kommunikation demnach auf ein Verhalten oder ein Äußerungsereignis angewiesen, das bereits stattgefunden hat.«179 Während die Logik der sozialen Systeme insgesamt immer auf dieser Rekursivität, auf dem Schon-angefangen-haben, beruht und diese expliziert, führt das Kunstwerk zur Frage nach dem Ursprung und damit zur »Paradoxie des Anfangs« (KdG, 57): »Aber wie kann man anfangen, ohne schon unterschieden zu haben, da man doch eine Unterscheidung braucht, um anfangen zu können?« (KdG, 56)

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Vgl. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 72: »Welthaftigkeit als formale Totalstruktur macht den Roman aus.« Dies wird noch dadurch bestätigt, dass Luhmann hier auf eine Kritik von Stephan Mussil reagiert, einem Literaturwissenschaftler, der von der Notwendigkeit spricht, den Zustand vor einer Unterscheidung von einem durch die Unterscheidung asymmetrisch erzeugten Bereich des ›Außen‹ zu trennen, vgl. Mussil, Literaturwissenschaft, Systemtheorie und der Begriff der Beobachtung, S. 183-202. Vgl. auch KdG, Anm. 63 (S. 51). Krallmann, Ziemann: Grundkurs Kommunikationswissenschaft, S. 322.

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Lektüre als Form

Die Frage nach der Kunst als Gegenstand zwingt Luhmann zu einer doch noch personalisierten Thematisierung des Anfangs im Sinne einer Intention: »Eine Ur-Intention ist nötig, um die Grenze vom unmarkierten zum markierten Raum zu überschreiten aber dieses Überschreiten, das eine Unterscheidung macht (eine Form abgrenzt) kann nicht selber schon eine Unterscheidung sein.« (KdG, S. 43) Dabei kann Luhmann nicht stehenbleiben. Gegenüber der Künstlerfigur tritt für ihn die Figur des Beobachters auf: »Es handelt sich bei dieser Anfangsintention des Künstlers also gar nicht um ›seine‹ Intention, wenn damit selbstbeobachtete Bewußtseinszustände gemeint sein sollen, sondern um das, was ihm als Intention zugerechnet wird, wenn man das Kunstwerk betrachtet.« (KdG, S. 43) Dieser Beobachter ist nun – wie relativ zu Beginn der Kunst der Gesellschaft schon einmal betont wird – die Form selbst: »Am Anfang ist die Differenz, der Einschnitt einer Form, die das weitere zu regulieren beginnt; und zwar einer Form, die Wahrnehmbares strukturiert und zugleich als ›künstlicher‹ Einschnitt eine Differenz von Information und Mitteilung in die Welt setzt.« (KdG, S. 45) Es kommt also, wie hier im Bereich der ›Kunsttheorie‹, die sich insofern auch als Formtheorie oder eben als Buchtheorie erweist, noch einmal ganz deutlich wird, dem Begriff der Form zu, gleichzeitig den Grund der Unterscheidung zu liefern und eine Seite der Unterscheidung zu bilden. Die paradoxe Frage nach dem Anfang der Kunst als ›unmarked state‹ ruft ein Medium hervor, welches durch die Selbstbezüglichkeit des Formbegriffs nicht eliminiert werden kann. Dieses Medium fungiert, da es die Plausibilisierung der Vorstellung einer anfänglichen Form bietet, als Möglichkeitsraum dieser Selbstbezüglichkeit. Es macht damit die saubere Einteilung in nichtsprachliches Zeichen (als reine Form) und dieses Zeichen übersetzenden abstrakten Formbegriff zunichte: das »weiße Papier«180 , auf dem das erste Zeichen gesetzt wird. Diese Urszene der Schrift wird in Luhmanns Aufsätzen zur Kunst immer wieder aufgerufen, wenn auch nicht klar als solche apostrophiert, etwa in Weltkunst. Hier heißt es: »Außerdem ist die Linie selbst nicht nur Trennung, sondern auch eigene Form, die sich selbst von dem Leerraum unterscheidet; und sie mag eigene Eigenschaften mitbringen (sie mag erkennbar von oben nach unten gezogen sein und deshalb von unten nach oben verlaufen), die das beschränken, was zu ihrer Form passt.«181 Hier wird noch einmal die Kontinuität und gleichzeitig die Diskontinuität zwischen Schlegel und Luhmann deutlich. Bei beiden ist die Frage nach dem Anfang und der Möglichkeit der Selbstlegitimation immer schon bezogen auf die eigene Produktion von Büchern. Schlegel versucht, die damit eröffneten unbegrenzbaren Möglichkeit der Lektüre insofern zu schließen und vorzusteuern, als er das Buch als mündliches Gesprächs übercodiert. Luhmann hingegen versucht, die mit der Druckschrift einhergehende radikale Selbstbezüglichkeit noch dadurch zu überbieten, dass die als Rest erhalten bleibende Materialität durch einen ins rein Operative verlagerten Formbegriff ins Unwesentliche verschoben wird. Der Formbegriff verdoppelt sich nicht nur in einen die Unterscheidung legitimierenden Formbegriff gegenüber einem schon unterschiedenen Formbegriff. Er verdoppelt sich auch, insofern er nicht nur als Begriff, sondern auch als 180 Lothar Müller bezeichnet das Papier insofern auch als »universelle Substanz«, vgl. Müller: Weiße Magie, S. 83. 181 Luhmann: Weltkunst, S. 204.

6. Ornament: Signal/Rauschen

– in seiner Adressierung an George Spencer Brown – mathematischer Operator wirksam ist. Eine zentrale Anforderung an die Buchförmigkeit der Theorie trifft sich mit der Anforderung, die Schlegel an die Buchförmigkeit stellt: die Selbstlegitimation. In diesem Sinne handelt es sich bei Luhmanns Texten nicht nur um eine »sich grundsätzlich problematisierende Theorie«182 , sondern vielmehr um ein sich grundsätzlich selbst legitimierendes Buch. Genau das ist mit der »operational unverzichtbaren Selbstreferenz«183 gemeint – der Verzicht auf Auslagerung der Legitimation, etwa an die Tradition der eigenen Disziplin, und die Anforderung an das eigene Buch, die Schließung selbst zu vollziehen. Die etwa von Norbert Bolz gerade in Bezug auf die Problematik des Anfangs postulierte Analogie zwischen der frühromantischen Auffassung von Kunst und derjenigen Luhmanns184 muss allerdings differenzierter dargestellt werden. Der jeweils spezifische Prozess der Selbstlegitimierung lässt sich anhand der beiden Figuren der Arabeske einerseits und des Ornaments andererseits beschreiben. Für Schlegel stand die Arabeske für die symmetrische Dopplung als Selbstlegitimation. In Luhmanns Kunsttheorie (und damit auch in seiner »Theorietheorie«185 , wenn man das mit Jahraus und Grizelj so formulieren will), wird diese »ornamental und ironisch«186 ins Innere verschoben.

6.4.2.

Signal und Rauschen

Das Ereignis Soziale Systeme lässt sich als verschobene Buchförmigkeit fassen. Diese gegenüber der Konzeption von Buchförmigkeit bei Schlegel viel stärker auf das Immaterielle abzielende Konfiguration des Buchs und damit seiner idealen Lektüre werde ich im Folgenden im Rahmen eines Informationsparadigmas beschreiben und mit der Leitunterscheidung Signal und Rauschen belegen. Die akustische Sphäre, die in dieser Unterscheidung aufscheint, verweist zurück auf das Interview als Metatext. Insofern jegliche tatsächliche Materialität des Buchs ein Problem darstellt, kann das Interview, so die Vorstellung hier – insofern es durch die ›Lektüre‹, das Ereignis Soziale Systeme und die hier geleistete Schematisierung der Begriffe und Konzepte, vorgesteuert ist – eher den Zugang zu dieser Theoriearchitektur vermitteln als die ›langwierige‹ Lektüre des tatsächlichen Texts. Der tatsächliche Text des Buchs und der darauffolgenden Theorieproduktion wird asymmetrisch gespalten in Signal und Rauschen, und damit in einen nicht materiellen Metatext und einen materiellen zufälligen Text, von dem gemäß des Lektüreprogramms allerdings abstrahiert werden muss. Grundlage dafür ist die Asymmetrisie-

182 Baecker: Vorwort. Wozu Theorie, S. 8. 183 Ebd., S. 9. 184 Bolz: Ratten im Labyrinth, S. 16: »Wie für die Frühromantiker alles zum Anfang eines Romans werden konnte, so kann für Luhmann alles zum Anfang eines Systems werden. Jeder Anfang ist Willkür – und muss durch Selbstbindung eingeschränkt werden. Die Frühromantiker haben das am Kunstwerk gezeigt: wie man dem willkürlichen Anfang die Willkür nehmen kann.« 185 Vgl. Jahraus, Grizelj: Theorietheorie. Wider die Theoriemüdigkeit in den Geisteswissenschaften. 186 Bolz: Ratten im Labyrinth, S. 19. Bolz postuliert hier wiederum die Nähe zwischen Schlegel und Luhmann, die allerdings auf einer verkürzten Rezeption der Frühromantik zurückgeht.

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Lektüre als Form

rung des tatsächlichen schriftlichen Materials in Bezug auf die Unterscheidung von Signal und Rauschen. Die Asymmetrisierung bezieht sich, wie in Kapitel 6.2 schon gezeigt wurde, insbesondere auf die Begriffe. Deren Funktion verändert sich gegenüber dem Gesprächsparadigma, also der Gegenüberstellung von Reden und Schweigen, vollständig. Bei Luhmann ist es die Funktion der Begriffe, die Signalstärke zu erhöhen. Begriffe bilden die Seite der Redundanz, und nicht etwa die Seite der Variation, wie dies bei Schlegel der Fall war. In einer Gesprächssituation bilden die Gesprächspartner die Schließungsfigur, bei Luhmann hingegen sind es die Begriffe selbst, welche die Redundanz bilden, also eine geeignete Schließung realisieren müssen. Es sind die Begriffe, die sich in einer nicht mehr greifbaren Lektüresituation behaupten müssen. Das, was universelle Theorie genannt wird und insofern »Mehrfach-Entdeckungen derselben Theorieform in geisteswissenschaftlichen, in technischen und in mathematischen Forschungsbereichen«187 möglich macht, bezeichnet genau diesen Schließungsmechanismus, der möglichst reine Signalförmigkeit sichern soll: »Ein solcher Universalitätsanspruch ist ein Selektionsprinzip. Er bedeutet, daß man Gedankengut, Anregungen und Kritik nur akzeptiert, wenn und soweit sie sich ihrerseits dieses Prinzip zu eigen machen.« (SoSy, S. 33) Die angestrebte Universalität deutet auf die Ubiquität von Lektüre hin. Luhmann präsentiert sein Buch als disziplinenübergreifend und somit jenseits von Speziallesekontexten; und das Erfordernis besteht nun darin, das Verhältnis von Signal und Rauschen in dieser so rauschbehafteten Lektüreumgebung dennoch zu optimieren und damit die Lektüre technisch, nicht sozial zu schließen. Diese Notwendigkeit wird von Luhmann immer wieder mit explizit kybernetischem Vokabular benannt. So wird etwa von der Notwendigkeit gesprochen, »Informations-Verarbeitungsprozesse anzuschließen« (SoSy, S. 41) und immer wieder die paradoxe Problematik der Selbstkontrolle thematisiert: »Nur Kommunikation kann Kommunikation kontrollieren.«188 Die Begriffe sind die im Buch angelegten Beobachter selbst, »als Information: als Unterschied, der einen Unterschied macht«189 . Die Konsolidierung, die Redundanzkraft der Begriffe, ermöglicht die Öffnung des ›Buchs‹ für jede mögliche Form der Lektüre. Gleichzeitig erfordert die Ubiquität der Lektüre die Redundanz der Begriffe und garantiert den Erfolg einer solcherart ›streng‹ gebauten buchförmigen Theorie. Seine Konzeption einer solchen beschreibt Luhmann im Aufsatz zu Unverständliche Wissenschaft unter dem Problempunkt »Sequenzierung des Theorieaufbaus«. Man müßte Darstellungen einer Theorie, Vorträge oder Bücher so anlegen können, da zuerst die allgemeinen Gesichtspunkte, Grundbegriffe, Axiome gebracht werden, die Voraussetzungen sind für das Verständnis des Folgenden; und daß man dann zu den Folgesätzen, den Anwendungen, den Konkretisierungen übergeht. Oder daß man mit dem einfachsten Fall, etwa dem Individuum, anfängt und bei der Welt endet. Denken Sie etwa an Sartres Critique de la raison dialectique. Anspruchsvolle Theorien lassen sich aber nicht in dieser Weise serialisieren. Sie sind sozusagen mehrgipflige Unternehmungen. Daraus folgen Arrangier- und Vertextungsprobleme, die sich nicht mehr optimal lösen lassen. Die mir vorschwebende Gesellschaftstheorie könnte ich von der 187 Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, S. 40. 188 Luhmann: Was ist Kommunikation, S. 51. 189 Luhmann: Weltkunst, S. 202.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Theorie des Systems, von der Theorie der Evolution, von der Theorie der Kommunikation oder von Theorien über Sinn und Selbstreferenz aus schreiben. Jeder Einstieg, jeder Anfang ist mit nichtexplizierbaren Voraussetzungen belastet und daher für den, der bloß am Text entlang liest, kaum verständlich zu machen. Der Leser kann dann prüfen, ob die Sätze grammatikalisch stimmen; aber er kann die ihnen zu Grunde liegenden Optionen der Theorie nicht verfolgen. Schön wäre es, wenn man diese leicht labyrinthische Theorieanlage in Büchern abbilden könnte, die sozusagen zweidimensional angelegt sind, also mehrere Lesewege eröffnen. Aber das würde gar nichts nützen, da man die Texte unterschiedlich schreiben müßte, je nach dem, auf welchem Weg der Leser zu ihnen gelangt.190 Hier wird deutlich, dass es für Luhmann die ›Theorie‹ gibt, die ›schweben‹ kann, die also in einem immateriellen Raum als abstrakter Zusammenhang von Selektionen oder Formen existiert. Für Luhmann ist die materielle Veröffentlichung vollkommen sekundär: ob es nun Vorträge, Bücher oder Aufsätze sind, scheint keine Rolle zu spielen. Die ›Optionen‹ der Theorie, ihre Formen, sind bei Luhmann grundsätzlich nichtsprachlich oder nichtschriftlich gedacht und müssen dennoch von der Vertextung bei der Lektüre evoziert werden. Inwiefern das Informationsparadigma den Blick auf Kommunikation verändert, lässt sich am besten in den Arbeiten von Michel Serres ermessen.191 Hier geht es immer wieder um die Frage »auf welche Weise die Idee der Kommunikation entstand«192 und Serres widmet sich dieser Frage aus dem Blickwinkel des Informationsparadigmas, also mithilfe der Unterscheidung von Signal und Rauschen. »Schreiben heißt, eine Form den Gefahren solcher Störungen auszusetzen. Und mündlich kommunizieren heißt, einen Sinn den Gefahren des Rauschens auszusetzen.«193 Der Extremfall für eine an

190 Luhmann: Unverständliche Wissenschaft, S. 197. 191 Luhmann selbst begreift die Unterscheidung Signal/Rauschen, oder order/noise als vorübergehendes Stadium, das vom Konzept der Autopoiesis abgelöst wird, vgl. etwa GdG, S. 65: »Hierbei wurde die Umwelt als Quelle eines unspezifischen (sinnlosen) »Rauschens« begriffen, dem das System gleichwohl durch den Zusammenhang eigener Operationen Sinn abgewinnen könne. So versuchte man zu erklären, daß das System – zwar in Abhängigkeit von der Umwelt und keinesfalls ohne Umwelt, aber ohne durch die Umwelt determiniert zu sein – sich selbst organisieren und eine eigene Ordnung aufbauen könne: order from noise. Die Umwelt wirkt, vom System her gesehen, zufällig auf das System ein; aber genau diese Zufälligkeit sei für die Emergenz von Ordnung unentbehrlich, und je komplexer die Ordnung werde, desto mehr. In diesen Diskussionsstand hat Humberto Maturana mit dem Begriff der Autopoiesis ein neues Moment eingeführt.« 192 Serres: Hermes I. Kommunikation, S. 7. 193 Ebd., S. 49. Der Dialog erscheint in diesem Licht als »erfolgreicher[r] Ausschluß dieses Dritten« nämlich des »personifizierte[n] Rauschen[s]« (vgl. S. 50). Auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird die zu errichtende Symmetrie zwischen den Gesprächspartnern, welche die ideale Lektüresituation bei Friedrich Schlegel darstellt, als Schließungsfigur betrachtet – allerdings nicht in Bezug auf das Rauschen, das für eine andere Version von Lektüreimagination reserviert ist. Anders als bei Serres ist das am Informationsparadigma orientierte Verhältnis von Signal und Rauschen hier kein ahistorisches Paradigma, sondern wird nur für eine spezifische Konstellation verwendet.

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Lektüre als Form

diesem Paradigma ausgerichtete Idee von Kommunikation ist für Serres die Mathematik. »Die allergrößte Abstraktion ergibt sich hier aus der radikalen Forderung nach der bestmöglichen Kommunikation«194 , so fasst Serres die moderne – nämlich formale195 – mathematische Vorstellung von Kommunikation zusammen. Formalisierung und Mathematik gehören so für Serres untrennbar zusammen, und stehen jeweils für eine Vorstellung von idealer, nämlich maximal rauschfreier Kommunikation: »Formalisieren heißt erkennen, daß die Mathematik jenes Reich ist, das nur das unausweichliche Mindestmaß an Rauschen beherbergt, das Reich der beinahe vollkommenen Kommunikation, des manthanein, des ausgeschlossenen Dritten, in dem der Exorzismus des Dämons beinahe endgültig gelungen ist.«196 Mit Formalisierung meint Serres hier den Übergang »von einer konkreten Denkweise zu einer oder mehreren abstrakten Formen«197 . Auch bei Serres stehen der Formbegriff und die Abstraktion also in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis, welches er an dem Extrembeispiel der Mathematik entfaltet. Die Notwendigkeit der Abstraktion ist allerdings nicht nur eine in der Mathematik erhobene, sondern auch in den Büchern Luhmanns immer wieder an den Anfang gestellte Formel.198 Anders als Serres verbindet Luhmann mit der Notwendigkeit der Abstraktion nicht den Wechsel von einem Symbolsystem in ein anderes, also etwa vom griechischen Vokalalphabet in die Sphäre der mathematisch definierten Zeichen (auch wenn dies, wie insbesondere in Kapitel 6.4 gezeigt werden soll, durchaus eine Rolle spielt), sondern eine neue Art und Weise des Schreibens von Büchern: eine idealerweise nichtlineare. Für Luhmann bedeutet Abstraktion die Fähigkeit, »Theorieform und Darstellungsform« (SoSy, S. 13) zu trennen und das tatsächlich vorhandene Buch zu virtualisieren. So soll etwa die Kapitelsequenz in der Lektüre nicht als notwendig, sondern als zufällig betrachtet werden: »Das Buch muß zwar in der Kapitelsequenz gelesen werden, aber nur, weil es so geschrieben ist. Die Theorie selbst könnte auch in anderen Sequenzen dargestellt werden, und sie erhofft sich Leser, die dafür hinreichende Geduld, Phantasie, Geschick und Neugier mitbringen, um auszuprobieren, was bei solchen Umschreibversuchen in der Theorie passiert.« (SoSy, S. 13) In diesem einleitenden Absatz macht es den Anschein, als würde der Leser bei Luhmann – ganz anders als bei Schlegel, wo der Leser sich von vorneherein ausgeschlossen fühlt – vor eine radikale Öffnung gestellt. Der von Luhmann als ideal apostrophierte Leser braucht »Phantasie, Geschick und Neugier«, er wird also aktiv am Schaffungsprozess des Buchs beteiligt und geradezu dazu aufgefordert, die Schließung der Lektüre – 194 Ebd., S. 7. 195 Vgl. ebd., S. 39: »Die klassische Mathematik war grundsätzlich symbolisch (jedes Zeichen verweist auf eine festumrissene Bedeutung), die moderne Mathematik ist formal. In formalen Systemen befaßt man sich niemals mit Sinn, man verweist weder explizit noch implizit auf irgendwelche Bedeutungsgehalte. Man untersucht lediglich das wechselseitige Verhältnis zwischen korrekt gebildeten (undefinierten) Objekten, wobei zunächst einmal die Regeln für die korrekte Bildung von Objekten festgelegt werden müssen.« 196 Ebd., S. 53. 197 Ebd. 198 So etwa im Vorwort zu Soziale Systeme. Hier heißt es: »Abstraktion ist, so gesehen, eine erkenntnistheoretische Notwendigkeit. Sie bleibt ein Problem beim Schreiben von Büchern und eine Zumutung für den Leser.« (SoSy, S. 13)

6. Ornament: Signal/Rauschen

das Buch – nicht ernst zu nehmen. Norbert Bolz spricht berechtigterweise von einem »Appell an den Leser, das Buch im Akt des Lesens umzuschreiben«199 . Dabei handelt es sich aber nicht nur, wie Luhmann es selbst verstehen will, um eine »voll demokratische Mitbestimmungsprosa […], wo jeder irgendwo anfangen kann und irgendwo aufhören kann, und ohne es so zu machen, wie die anderen es machen.«200 Dieser scheinbar radikalen Öffnung in Bezug auf das Lesen steht eine andersgeartete Schließung gegenüber, die von Luhmann »kybernetisch [aus]gesprochen«201 wird: das »theoretisch kontrollierte System« (SoSy, S. 13). Die Notwendigkeit der Schließung begründet sich für Luhmann nicht in einer spezifischen sozialen und idealisierten Kommunikationssituation, wie bei Schlegel, sondern in den »praktischen Grenzen bewußter Informationsverarbeitung«202 . Die zunehmende Berücksichtigung dieser Grenzen nennt Luhmann »die Technisierung der Wissenschaften«203 : »Aus dem Nachtflug der Eule der Minerva wird der Instrumentenflug der Theorie.«204 Kommunikation ist also für Luhmann nicht als Gespräch definiert, sondern als Informationsverarbeitung, die folglich kontrolliert werden muss. Luhmann »traut der Welt nicht und interessiert sich deshalb für Kontrolle«205 . Es ist dabei der Begriff der Form, der maßgeblich für diese selbstbezügliche Kontrolle funktionalisiert wird. Die Form signalisiert ein »Operationsbewußtsein der Forschung«, das der Selbstreflexion als Sprache in »weit abstrahierter Theoriearbeit«206 vorausgeht und diese insofern transzendiert. Dieses Operationsbewusstsein, das vorgeblich der Sprache vorausgeht, bezieht sich auf die Codierung der Sprache mittels der Unterscheidung Form/Medium und damit mittels des Formbegriffs, der die Rauschhaftigkeit der Sprache auf Operationen zuzuspitzen vermag. Das Kommunizieren einer Theorie ist für Luhmann in dieser Logik gerade nicht, wie bei Schlegel im Studium-Aufsatz, »die Verknüpfung zu einem unbedingt vollständigen Ganzen zu vollenden« (KFSA I, S. 295), sondern das Gegenteil davon: »Voraussetzung für alle Steigerung der Beobachtungsfähigkeit ist, wenn man so sagen darf, eine De-Holisierung, Entganzung, Einschränkung, Konzentration, Reduktion der Komplexität.« (WdG, 617)207 Diese De-Holisierung und Entganzung lässt sich aber nicht einfach 199 200 201 202 203 204 205 206

Bolz: Die Ratten im Labyrinth, S. 125. Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 14. Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, S. 19. Luhmann: Die Praxis der Theorie, S. 129. Ebd. Bolz: Ratten im Labyrinth, S. 103. Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, S. 39. Luhmann: Unverständliche Wissenschaft, S. 197. Der vollständige Satz bei Luhmann lautet: »Bei weit abstrahierter Theoriearbeit, aber auch bei komplizierter methodenbewußter Forschung ist es fast zwingend, daß die Sprache sich dem Operationsbewußtsein der Forschung anpaßt. Man weiß dann noch, was man tut; aber man weiß nicht, worum es sich handelt.« 207 Statt von Komplexitätsreduktion spricht Luhmann an zahlreichen Stellen auch von Verschieben oder Entfalten von Paradoxien, vgl. Luhmann: Die Paradoxie des Entscheidens, S. 27: »Gibt es andere, heutzutage plausiblere Unterscheidungen, die dasselbe leisten, die ebenfalls Identitäten gewinnen und die unendlichen Informationslasten der nackten Paradoxie in endliche Informationslasten überführen können?«. Siehe auch Luhmann, Was ist der Fall, S. 5: »Paradoxien müssen, wie Logiker sagen, ›entfaltet‹ werden. Sie müssen in Unterscheidungen aufgelöst werden, deren beide Seiten markiert, also identifiziert werden können. Da die Paradoxie nur in sich oszilliert, aber nicht selbst kreativ sein kann, muß sie durch etwas anderes, eben durch eine Unterschei-

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Lektüre als Form

als Öffnung gegenüber einer holisierenden Schließung postulieren, sondern ist vielmehr auf andersgeartete, nämlich technische, Schließungen angewiesen, die über die Kontrolle von Begrifflichkeiten und die formale Konstruktion ihrer Zusammenhänge funktioniert. Die Begriffe werden nicht als Begegnungen im Sinne des symmetrischen Gesprächsparadigmas, sondern vielmehr als Positionen im Sinne des Zettelkastens gefasst. Ziel der Kontrolle ist die möglichst störungsfreie »Transmission von Signalen, […] die Zeit braucht und mit immer neuen Informationen fortgesetzt werden muß, wenn das System nicht aufhören soll zu operieren«208 . Für die begriffliche Arbeit der Theorie bedeutet das, wie Luhmann in einer berühmten Passage der Einleitung zu Soziale Systeme formuliert, eine ›Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage‹ (SoSy, S. 12-13). Diese Theorieanlage erzwingt eine Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage. Der Flug muss über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muss sich auf die eigenen Instrumente verlassen. Gelegentlich sind Durchblicke nach unten möglich – ein Blick auf Gelände mit Wegen, Siedlungen, Flüssen oder Küstenstreifen, die an Vertrautes erinnern; oder auch ein Blick auf ein größeres Stück Landschaft mit den erloschenen Vulkanen des Marxismus. Aber niemand sollte der Illusion zum Opfer fallen, dass diese wenigen Anhaltspunkte genügen, um den Flug zu steuern. (SoSy, S. 13) Begriffe sind lediglich »Sonden, mit denen das theoretisch kontrollierte System sich der Realität anpasst, mit denen unbestimmte Komplexität in bestimmbare, wissenschaftsintern verwertbare Komplexität überführt wird.« (SoSy, S. 13) Die Steuerung des Flugs erfolgt mit den eigenen Instrumenten, also in einer idealen medialen Umgebung, die aus dünner Luft, aber auf keinen Fall aus Schrift oder gar aus Lektüre besteht.209 Das Problem ist dabei stets der Ausschluss des Rauschens aus dem idealförmigen, geschlossenen Buch. So wie »Bewußtsein zur Kommunikation nur Rauschen, nur Störung, nur Perturbation beiträgt«210 , so trägt eine direkte Thematisierung der materiellen Medien nur Rauschen bei. Bei den mit wachsender Berühmtheit Luhmanns häufiger werdenden Interviews, die dann wiederum zahlreichen Vertextungsprozessen unterworfen sind, handelt es sich also um einen paradoxen Versuch, Redundanz und dung ersetzt werden.« Auch hier geht es um Auflösung der Oszillation, also um Verwandlung von Symmetrie in Asymmetrie, von Rausch(en) in Signal. 208 Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, S. 39. 209 Vgl. Lehmann: Theorie in Skizzen, S. 7: »Die primäre ›Differenzerfahrung‹ der Theorie verschafft nicht der Staub selbst, nicht die Feldarbeit in den Staubwolken der Bibliotheken und der Straßen, sondern erst die dünne, kalte trockene Luft »über den Wolken«. Das Medium der Theorie ist Empirie im genauest möglichen Sinne: Flucht in die Luft und Flug in der Luft, die die Differenz von Riss und Grund bzw. von Abstraktion und Wahrnehmung dem lässt, der Beobachtung (Fallen) wagt.« Hier wird noch einmal der Unterschied zwischen einer theoretischen Selbstbeschreibung als strategische Schließung und der Empirie des Entstehens von Theorie deutlich. Natürlich ist das Medium der Theorie im Sinne der tatsächlichen Entstehung gerade der Staub der Bibliotheken (vgl. Kap. 3.3). Mir geht es, wie hier deutlich geworden sein sollte, nicht darum, solche Aussagen als falsch oder ideologisch zu entlarven, sondern vielmehr auf ihre Bezogenheit auf die Produktion von Lektüreprogrammen aufmerksam zu machen. 210 Luhmann: Was ist Kommunikation, S. 59.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Varietät gleichzeitig zu erhöhen und somit das innere Ornament in eine dafür nicht geeignete Umgebung zu exportieren. Ein paradoxer Effekt tritt ein, der anstelle einer von Luhmann angestrebten Erhöhung der Signalförmigkeit der Theorie das Rauschen verstärkt. Relevant ist dann etwa nicht mehr die Begriffswahl ›Risiko‹, sondern die diese begleitende Handhaltung Luhmanns, oder die Farbe seines Rollkragenpullovers. Auf der Ebene der Buchförmigkeit versucht Luhmann diese in den anderen Kommunikationsformen aus dem Ruder gelaufene Verteilung von Signal und Rauschen mittels Hierarchisierung zu optimieren. Insgesamt lassen sich unzählige verschiedene »Theorieebenen«211 unterscheiden, die nach oben und unten hin unendlich ausdifferenzierbar und verschiebbar sind. Die Asymmetrisierung lässt sich als Fundamentalordnung der Systemtheorie verstehen, in der ein abstraktes Signal ganz ›oben‹ angesiedelt ist, das im Weiteren nur noch – und zwar im Optimalfall immer wieder anders – entfaltet werden muss. Das innere Ornament (vgl. Kap. 6.4.3) bleibt in allen Variationen konstant:212 Gegenüber der Schließung bei Schlegel, die sich als Versuch der gegenseitigen Inklusion und symmetrischen Überlagerung von eigentlich unvereinbaren Kommunikationssituationen erwies, bedeutet Schließung hier dynamische Asymmetrisierung. Das Kommunizierte kommuniziert sich gleichzeitig als von einem eigentlichen Signal gesteuertes Rauschen. Verbunden mit der Unterscheidung von Signal und Rauschen ist also die Figur des inneren Ornaments und damit die ihm zugeordnete Asymmetrisierung.

6.4.3.

Ornament und Asymmetrie

Die Buchförmigkeit des Buchs Soziale Systeme, welche insbesondere in Luhmanns Kunst der Gesellschaft beschrieben wird, ist erkennbar als ›inneres Ornament‹ der Theorie sozialer Systeme. Für die Möglichkeit der Schließung dieses inneren Ornaments muss die Reflexion auf die eigene unhintergehbare Materialität und Medialität begrifflich transformiert werden: »Man stößt auf sich selbst, wollte jedoch genau das vermeiden.«213 Vermieden werden muss der Rückgriff auf die tatsächlich materielle Selbstrepräsentation der Schließung. Bei Luhmann ist die tatsächliche Lektüre damit der Buchförmigkeit diametral entgegengesetzt. Lektüre ist immer schon als Zersetzung von Buchförmigkeit bestimmt, in seiner Konzeption der eigenen Lektüre anderer Bücher genauso wie in der Konzeption der fremden Lektüre eigener Bücher. Der konkrete Akt der Lektüre selbst ist, insofern er etwa »hochselektiv lesen«214 bedeutet, eine radikale Öffnung, und insofern müssen die Schließungsfiguren des Buchs beständig genug sein um in einem solch andersartigen Umfeld, das dann auch die mündliche Interviewsituation sein kann, dennoch eine Schließung realisieren zu können. Der Konvergenz und gar Vereinigung von Lektüre und Buch bei Schlegel steht die radikale Verschiedenheit von 211 212

Schützeichel: Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann, S. 15. Ein Beispiel für eine solche Ebenenentfaltung und somit für eine Befolgung des buchinternen Lektüreprogramms bietet der bereits zitierte Schützeichel: Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann. Von einem Lesen der Systemtheorie »gegen die ›Systemtheorie‹« (S. 10), wie es hier und auch an anderer Stelle angestrebt wird, kann so eigentlich nicht die Rede sein. 213 Baecker: Wenn etwas der Fall ist, steckt auch etwas dahinter, S. 39. 214 Luhmann: Lesen lernen, S. 154-155.

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Lektüre als Form

Lektüre und Buch bei Luhmann gegenüber. Die dennoch zu realisierende Beständigkeit der Buchform als nun immaterieller Schließung ergibt sich für Luhmann nur aus einer Asymmetrisierung der ›Theorie‹ gegenüber jeglicher konkreter Medialität und Materialität, die der Emphase von Medialität und Materialität bei Schlegel diametral gegenübergestellt ist.215 Lesen und Schreiben ist bei Luhmann eine unumgängliche Notwendigkeit und gerade keine Garantie für symmetrische Kommunikation. Die Transformation des Buchs in das Paradigma von Signal und Rauschen lässt sich paradoxerweise auch, ähnlich wie schon für Benjamin festzustellen war, als Rettung des Buchs verstehen – als Versuch, zu zeigen, »that the book is not the fading lily or lameduck politician that it is often taken to be, in view of such phenomena as the overwhelming bourgeoing of visual and cybernetic messaging and media«216 . Diese Rettung geht einher mit einer Verlagerung der Buchförmigkeit in das Innere des Buchs, die dennoch dessen zentrale Qualitäten erhält. Anstatt auf eine Eins-zu-Eins-Entsprechung mit der Realität als konstante Redundanz zu setzen, muss eine komplexe Theorie im Luhmannschen Sinne sich auf »Eigenwerte«217 , also selbst erzeugte Verhältnisse von Redundanz und Varietät und insofern innere Ornamente verlassen (vgl. Kap. 6.4.3). An die Stelle der Entsprechung zwischen Innen und Außen treten Organisation und Konstruktion des inneren Ornaments: »Während die Theorie was die Begriffsfassungen und die Aussagen inhaltlich angeht, sich wie von selbst geschrieben hat, haben Arrangierprobleme mich viel Zeit und viel Überlegung gekostet.« (SoSy, S. 14) Die materielle Geschlossenheit des Buchs wird gespiegelt ins Innere des Buchs, als Schließung der Begriffe und insofern Exklusion von anders strukturierten Aussagen. Das innere Ornament sorgt für den Eindruck von formaler Geschlossenheit und Einheitlichkeit, der immer wieder als Lektüreerfahrung von Luhmanns Büchern hervorgehoben wird. Gerhard Teubner etwa beschreibt die formale »Strenge« als »affektive[...] Intensität«. Luhmanns Werk ist für ihn ein großartiges Projekt der ars musica – ars mathematica, ein systematischer Durchgang durch den Reichtum der Möglichkeiten strenger kontrapunktischer Kompositionstechnik.«218 Eine solche Beschreibung erinnert auf den ersten Blick an die frühromantische Vorstellung von Geschlossenheit, wie sie etwa in den musikalischen Metaphern in der Kritik des Wilhelm Meister evoziert wird. Allerdings hat sich das Schwanken zwischen Öffnung in der Lektüre und Schließung des Buchs gewandelt. Ihre Symmetrie ist hier auf die abstrakteste Ebene verschoben. Der von Teubner angesprochene ›untergründig starke affektive Gehalt‹ bezieht sich nicht mehr auf Etwas, sondern ist ein reiner Effekt der ›formalen Strenge‹.219 Für Luhmann ist formale Strenge immer mit Beschränkung und Ausschluss verbunden. Innerhalb der Problemstellung einer Vermittlung von Lektüre und Buch zieht

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Dem entspricht auch die Selbstreferenz nicht auf sich als Autor, sondern auf die ›Systemtheorie‹. Vgl. dazu Gumbrecht: Alteuropa und der Soziologe. Sussmann: Booking Benjamin, S. 110. Der Begriff der ›Eigenwerte‹ stammt aus der Kybernetik zweiter Ordnung, die insbesondere auf Heinz von Foerster zurückzuführen ist. Vgl. zum Beispiel von Foerster: Cybernetics of Cybernetics. Siehe auch Esposito: Die Beobachtung der Kybernetik. Teubner: Drei persönliche Begegnungen, S. 23. Vgl. Teubner: Drei persönliche Begegnungen, S. 23.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Luhmann den Ausschluss jeglicher Form von Materialität vor. Die Frage des Ausschlusses wird in besonderem Maße wiederum nicht für die eigene Theoriebildung, sondern für das Kunstwerk formuliert. Dies wird im allerersten Aufsatz zu Kunst Ist Kunst codierbar (1976) deutlich: »An die Stelle der aedequatio tritt so etwas wie immanente Stimmigkeit des Kunstwerks: Dessen Elemente müssen einander fordern in einer Verdichtung, die Lücken erkennbar und Überflüssiges ausscheidbar macht.«220 Die Vorgehensweise der Kunst, die sich ihre eigene Selbstlegitimation qua Selbstlimitierung schafft, wird in der Konzeption der eigenen Buchförmigkeit mehr oder weniger wörtlich wiederholt. So heißt es acht Jahre später im Vorwort zu Soziale Systeme: »Und selbst der Willkür des Anfangs wird, wie im System Hegels, im Fortschreiten des Theorieaufbaus die Willkür genommen. So entsteht eine selbsttragende Konstruktion.« (SoSy, S. 11)221 Die Frage nach der Organisation und Konstruktion (vgl. Kap. 4.1.4 und 6.2.2), die bei Schlegel in einem Schweben der Gleichzeitigkeit von Produktion und Selbstbegrenzung formuliert wurde, wird bei Luhmann ausschließlich als Selektion diskutiert. Sowohl der ›Gegenstand‹ (Kunst oder auch die Gesamtgesellschaft) als auch das eigene Buch müssen nicht produziert werden, sondern beruhen auf Selektionen: »Von Produktion wollen wir sprechen, wenn einige, aber nicht alle Ursachen, die zum Bewirken bestimmter Wirkungen nötig sind, unter Kontrolle durch ein System eingesetzt werden können. […] Diese Differenz ermöglicht Selektion, und Selektion ermöglicht Bewährung.« (SoSy, S. 40) In Bezug auf die Produktion der Theorie als Buch ist die Frage nach Selektion eine nach Limitierung. Ingo Stöckmann spricht insofern von der »literarisch-rhetorische[n] Selbstkonditionierung der Systemtheorie«222 . Zunächst einmal geht zwar auch Luhmann von einem symmetrischen Verhältnis zwischen einem Gegenstand und dessen Beobachtung, zwischen Schließung und Öffnung aus: »Autopoiesis ist ein rekursives, daher symmetrisches, daher nichthierarchisches Geschehen«. (SoSy, S. 654) Zum Aufbau einer kontrollierten und kontrollierbaren theoretischen Einheit ist es jedoch notwendig, Asymmetrien einzuführen, etwa als

220 Luhmann: Ist Kunst codierbar, S. 66. 221 Hier wie auch sonst wird interessanterweise der Name Hegel als Stellvertreter für die Vorstellung eines geschlossenen Buchs verwendet. Vgl. dazu auch Blanchot: Die Buchabwesenheit, S. 19: »Der Bezug des BUCHS zum Namen ist immer in dem historischen Bezug enthalten, der das absolute Wissen des Systems mit den Namen Hegels verband: dieser Bezug des BUCHS zu Hegel, diesen mit dem Buch identifizierend, ihn in seine Entfaltung mitreißend, machte aus Hegel den Nach-Hegel, Hegel-Marx, dann Marx radikal Hegel fremd, der fortfährt das absolute Gesetz des geschriebenen Diskurses zu schreiben, zu berichtigen, zu wissen, zu bejahen.« 222 Stöckmann: Unbegrifflichkeit bei Schleiermacher und Luhmann, S. 65. Stöckmann kommt dabei auch auf die Frage des Anfangs zu sprechen (Kap. 6.4.1). Diesen definiert er als Übergang von der Unbegrifflichkeit zur Begrifflichkeit: »Wie also reflektiert die Theorie ihren eigenen Anfang? […] Oder, noch einmal anders gefragt, wie transformiert sie die anfängliche Unbegrifflichkeit in komplexe Begrifflichkeit?« Stöckmann unterscheidet im Anschluss zwei verschiedene Strategien dieser Transformation für die Systemtheorie: eine beobachtungstheoretische Perspektive, die »den Anfang der Theorie als Handhaben von Unterscheidungen [behandelt], in deren differentieller Kontextur Begriffe allererst erzeugt werden« und auf der anderen Seite die immer wieder als Thema vorkommende evolutionstheoretische Perspektive. Als Ergebnis sieht Stöckmann eine »selbstreferentiell-zirkuläre[...] Begründung, in der sich die beiden Pole dieser Begründungsschleife zur wechselseitigen Voraussetzung haben«.

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»Differenzierung von Erkenntnis und Gegenstand« (SoSy, S. 656) und der »Suche nach Auswegen aus tautologischen Strukturen der Selbstreferenzbeziehung« (SoSy, S. 656). Es ist also die »vertikale Bewegung der Theorie«, die jede »horizontale«223 Bewegung des Vergleichs steuern muss. Eine solche Möglichkeit der Kontrolle besteht für Luhmann, wie in Kap. 6.1 schon betont, in begrifflicher Strenge: »An dieser Literatur [biologischer Literatur, CC] fällt auf, daß epistemologische Verwicklungen zwingender und weittragender und ›interessanter‹ werden, wenn die Ausgangstheorie selbst strenger wird.« (SoSy, S. 659) Schon die Wahl des Kriteriums, das hier in Anführungszeichen gesetzt ist, der Grad an ›Interessantheit‹224 weist darauf hin, dass Luhmann die angestrebte Asymmetrisierung, die erst die Produktivität und Geschlossenheit der Theorie für ihn verspricht, im Bereich der Kunst zu finden sucht. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1984 mit dem Titel Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst interessiert ihn die Kunst in Bezug auf die Art, wie sie ihr »Umweltverhältnis auf zirkulär-geschlossene Operationsverknüpfungen«225 stützt. Schließung wird also zur »Basis für ein offenes und komplexes Umweltverhältnis […]. Nur wenn dieser Zusammenhang herstellbar ist, können Geschlossenheit und Offenheit zugleich gesteigert, zugleich komplexer werden.«226 Zentral dabei ist der Begriff des Ornaments und sein Bezug zum Formbegriff. Das Ornament ist das Paradebeispiel für eine »well organized form[...]«227 im Sinne der Designtheorie des US-amerikanischen Philosophen und Architekten Christopher Alexander. Dessen bereits 1964 erschienenes Buch Notes on the Synthesis of Form wird von Luhmann in Soziale Systeme nicht erwähnt228 , wohl aber in Gesellschaft der Gesellschaft. Hier adressiert er die Mehrdimensionalität und Selbstbezüglichkeit des Formbegriffs plötzlich nicht mehr an George Spencer Brown, sondern eben an Alexander: Der Formbegriff unterscheidet sich damit nicht mehr nur vom Begriff des Inhalts; aber auch nicht nur vom Begriff des Kontextes. Eine Form kann im Unterschied von etwas zu allem anderen liegen, ebenso auch im Unterschied von etwas zu seinem Kontext (etwa eines Bauwerks zu seiner städtischen oder landschaftlichen Umgebung), aber auch im Unterschied eines Wertes zu seinem Gegenwert unter Ausschluß dritter Möglichkeiten. Immer dann, wenn der Formbegriff die eine Seite einer Unterscheidung markiert unter der Voraussetzung, daß es noch eine dadurch bestimmte andere Seite gibt, gibt es auch eine Superform, nämlich die Form der Unterscheidung der Form von etwas anderem. (GdG, S. 62)

223 Vgl. Baecker: Wenn etwas der Fall ist, steckt auch etwas dahinter, S. 42. 224 Die Unterscheidung interessant/langweilig ist in der systemtheoretischen Literaturwissenschaft als Leitunterscheidung vorgeschlagen worden, vgl. etwa Werber: Literatur als System, bes. S. 6878; Plumpe, Werber: Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft, bes. S. 36-41. Eine Zusammenfassung und Kritik dieser Debatte um die Codierung des Kunst- und Literatursystems findet sich bei Sill: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, bes. S. 41-94. 225 Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 620. 226 Ebd., S. 622. 227 Alexander: Notes on the Synthesis of Form, S. 5. 228 Hier geht er allerdings zweimal auf einen Aufsatz von Christopher Alexander mit dem Titel A city is not a tree ein. Dieser Aufsatz beglaubigt für Luhmann interessanterweise das nichthierarchisierbare Verhältnis von System und Teilsystem, vgl. dazu SoSy, S. 39, Anm. 13.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Hier interessiert sich Luhmann plötzlich für die tatsächlich begriffliche Formatierung des Formbegriffs, und kommt dabei auf Alexander zu sprechen. Christopher Alexander selbst unterscheidet drei Stufen von Designprozessen: Auf der ersten gibt es eine zweidimensionale Interaktion zwischen Kontext und Form. Auf der zweiten Stufe ist die Form von einem bewussten mentalen Repräsentationsmodell abhängig, das dann in eine Form übersetzt wird. Schließlich beschreibt Alexander eine ›Formalisierung‹, in der nur noch die abstrakten Strukturmerkmale des ›mental picture‹ übernommen werden.229 Im Lichte von Luhmanns Interesse an diesen Bestimmungen Christopher Alexanders lässt sich Theorie auch als adäquates, also fruchtbares Design verstehen. Dieses ist im Falle Luhmanns auf der beschriebenen dritten Stufe anzusiedeln, insofern es nur aus »abstract structural features«230 besteht. Als ebensolche strukturellen Eigenschaften können seine Begriffe beschrieben werden, die ornamental organisiert sind. Es geht um das Steigern von Redundanz und Varietät aneinander, um die »Organisierung von Raum und Zeit«, die »Füllung dieser Medien mit Redundanz und Varietät« (KdG, S. 185). Die mit der Lektüre einhergehende Öffnung muss das Buch als Ornament, wie auch Schlegel Arabeske, erst selbst konstruieren. Dies kann nur ein ›ausgewählter Leserkreis‹: »Aber wenn die Gesamtanlage einer Theorie Alltagssprache wird, dann wäre das erstens unvorstellbar und zweitens unheimlich. Das kann man gar nicht wünschen. Die Theorie sollte also ein Faktor sein, der Irritation erzeugen kann, um andere Leute dazu zu bewegen, selbst zu denken. Und das ist ein ausgewählter Leserkreis. Das ist gar nicht anders möglich und gar nicht anders sinnvoll.«231 Die Exklusivität der Lektüresituation ist nicht, wie bei Schlegel, sichergestellt durch die Doppelung von intimer Kommunikation und öffentlicher Kommunikation, also durch die Übercodierung der Kommunikationssituation selbst. Vielmehr ist es die Verweisstruktur der Begriffe, die nurmehr eine dieser Verweisstruktur folgende Lektüre zulässt. Aus dieser Selbstrepräsentation der ›Theorie‹ als geschlossenes ideales Begriffssystem ergibt sich erst die Möglichkeit der Öffnung gegenüber Lektüre. Auch die Systemtheorie hat und ist ein Lektüreprogramm. Dieses ist aber nicht sozial definiert, sondern strukturell. Die Schließung der Lektüre ist hier ein technisches Problem der Asymmetrisierung von Signal und Rauschen, kein soziales Problem des idealen Gesprächs. Die Möglichkeit einer falschen Lektüre ist natürlich mit der Programmierung einer richtigen Lektüre ebenfalls gegeben – und sie erscheint paradox, insofern die falsche Lektüre gerade diejenige ist, die Buchförmigkeit als Schließung realisiert und die Theorie als Werk behandelt: »Luhmann fürchtete weniger [sic!] mehr als eine Umwandlung seiner Theorie in eine klassische, also nur noch exegetisch wichtige und damit gleichsam abgehalfterte Theorie. Zu genau wusste er, dass das System der Wissenschaft auf Kritik angewiesen ist und nicht wie die Kunst die Musealität eines Werkes als Gütekriterium prozessiert.«232 Diese Kristallisation als Werk wird bei Luhmann versuchsweise unterbunden durch eine interne Asymmetrisierung der Bücher, die unermüdliche Binnendifferenzierung

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Vgl. Alexander: Notes on the Synthesis of Form, S. 75-78. Ebd., S. 78. Luhmann: That’s not my problem, S. 23. Fuchs: Die Metapher des Systems, S. 64.

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zwischen Signal und Rauschen innerhalb jeder Form der schriftlichen Äußerung schafft. Dies zeigt sich im Großen in einer Hierarchisierung der Metaebenen in Bezug auf die Schichten der Theorie, insofern sich Luhmann, wie er in Soziale Systeme ankündigt, eine »Orientierung an einer allgemeinen Systemtheorie, die umfassendere Ansprüche einzulösen versucht« (SoSy, S. 32) vorschreibt und dann den »Umweg der Generalisierung und Respezifikation« (SoSy, S. 32) anstrebt. Die beiden Bewegungen der Generalisierung und Respezifikation erinnern an Schlegels Programm der Transcendentalphilosophie und die hier ins Feld geführten zwei Bewegungen des Centrifugalen oder Centripetalen – allerdings sind sie ihrer bei Schlegel angenommenen Symmetrie enthoben und in ein asymmetrisches Paradigma überführt. Nur dieses asymmetrische Paradigma erlaubt eine Kontrolle im Sinne der obigen Relation von Signal und Rauschen. Diese Kontrolle bezieht sich auf die Begriffe selbst, die insofern eine spezifische Form von Begriffsförmigkeit aufweisen: Will man die Ergiebigkeit von Verallgemeinerungen kontrollieren, muß man die Begriffe der allgemeinsten Analyseebene, die man benutzt, nicht als Merkmalsbegriffe, sondern als Problembegriffe anlegen. Die allgemeine Systemtheorie fixiert dann nicht die in allen Systemen ausnahmslos vorzufindenden Wesensmerkmale. Sie wird vielmehr in der Sprache von Problemen und Problemlösungen formuliert, die zugleich begreiflich macht, daß es für bestimmte Probleme unterschiedliche, funktional äquivalente Problemlösungen geben kann. (SoSy, S. 33) Immer wieder taucht jedoch bei Luhmann die Erkenntnis auf, dass es nicht nur um die Begriffe an sich gehen kann, sondern dass auch die Form des Buchs als Vernetzung der Begriffe eine Rolle spielen muss, die sich nicht einfach invisibilisieren lässt. Das letzte Buch Luhmanns, die Gesellschaft der Gesellschaft enthält ein Kapitel, das mehr oder weniger offen über die eigene Buchförmigkeit spricht und »Fragen der Wortwahl bis hin zu Fragen der literarischen Form« (GdG, S. 1129) als Problem der soziologischen Beschreibung bestimmt. Die Möglichkeit einer vollständigen semantischen Entleerung wird hier nicht nur in die Begriffe verlagert, sondern offen ausgesprochen: »Wenn zusätzliche Wissenschaftserfordernisse reflektiert werden, könnte man auch die Unterkühltheit der theoretische erzwungenen Abstraktionen als Ausdrucksform wirken lassen bis hin zu der Paradoxie, daß die Texte, weil zu schwierig, den Leser vom Mitdenken entlasten und dann nur noch dem Satzfluß folgend durchgelesen werden können.« (GdG, S. 1129) Vor dem Hintergrund dessen, was hier diskutiert wurde, wird deutlich, worin die Paradoxie besteht: die Paradoxie besteht darin, dass alle Abstraktion eigentlich auf die Invisibilisierung von Medialität abzielte, dass an ihrem Ende jedoch die reine Medialität, nämlich der reine »Satzfluß« übrigbleibt. Hier ist man dann doch – von der anderen Seite aus – wieder bei der »(romantischen) Ironie« (GdG, S. 1129) und ihrem Augenmerk auf die konkreten Formulierungen angelangt. Eine ähnliche Bewegung findet sich schon zuvor in Gesellschaft der Gesellschaft, wenn das reine Rauschen evoziert wird: »Ich, der ich beim Schreiben dieses Buches an dieser Stelle angelangt bin, brauche nur den nächsten Satz zu finden. Hier ist er,« (GdG, S. 569) schreibt Luhmann und verweist mit diesen beiden Sätzen auf die Kohärenzkraft der Materialität des Buchs, die jedes Rauschen auffangen und in Sinn verwandeln kann. In der Gesellschaft der Gesellschaft wird die Hierarchisierung von Luhmann selbst ironisch gebrochen.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Am anderen, abstrakten Ende der hierarchischen Binnendifferenzierung zwischen Buch und Paratext, zwischen Signal und Rauschen, steht das Diagramm als letzte Schwundstufe des materiellen aber damit gleichzeitig oberste Stufe des idealen, signalförmigen Buchs. Insofern das Diagramm, wie Christopher Alexander es beschreibt, »an abstract pattern of physical relationships« darstellt, ist es »independent of all other forces, and of all other possible diagrams.«233 Genau in dieser Unabhängigkeit besteht die auch in der Immaterialität realisierte Buchförmigkeit. Das Diagramm kann gelesen, verbessert und vervollständigt werden. »Because the diagrams are independent of one another, you can study them and improve them one at a time, so that their evolution can be gradual and cumulative.« Das einzelne Diagramm in seiner Unabhängigkeit ist die vervielfältigte, nämlich unendlich reproduzierbare Buchförmigkeit: »More important still, because they are abstract and independent, you can use them to create not just one design, but an infinite variety of designs, all of them free combinations of the same set of patterns.«234 Die in diesem Sinne vielleicht ›buchförmigste‹, nämlich reduzierteste, Darstellung der Theorie findet sich im Aufsatz zur Unverständlichen Wissenschaft, in der Luhmann ein Diagramm seines Buchs Soziale Systeme präsentiert (vgl. Abb. 4)235 , anhand dessen er die bereits beschriebenen Arrangierprobleme thematisiert. Hier spricht er von einem »Plan für ein Buch über die Theorie sozialer Systeme«, welchen er »mitgebracht« habe, und aus dem »zumindest optisch deutlich wird, weshalb dieses Buch bisher nicht geschrieben worden ist«236 .

233 Alexander: Notes on the Synthesis of Form, Preface. 234 Ebd. 235 Interessant ist außerdem die auffallende Ähnlichkeit zu einem Schaubild von Rainald Goetz, welches die Akteinteilung des Stücks Jeff Koons in ihrer wechselseitigen Bezogenheit darstellen soll. Das Schaubild, welches im Programmheft zu Jeff Koons auftaucht, wird von Lena Hintze in ihrer ebenfalls in dieser Reihe erschienenen Studie Werk ist Weltform abgebildet und bezeichnenderweise als »Ornament« (Hintze: Werk ist Weltform, S. 124) sowie »Zentrum eines Buchkomplexes« (S. 125) interpretiert. 236 Luhmann: Unverständliche Wissenschaft, S. 197.

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Lektüre als Form

Abbildung 4: Soziale Systeme/Themenplan.

Quelle: Luhmann: Unverständliche Wissenschaft, S. 201.

Wie in Abb. 4 deutlich wird, manifestiert sich die Buchförmigkeit von Soziale Systeme als geschlossener Kreis, der sich aus den unterschiedlichen Problemkomplexen ergibt, die oft nicht mehr als Begriffe darstellen: so etwa »5. Sinn«, oder »7. Komplexität« (vgl. Abb. 4). Die Selbstbezüglichkeit der Begriffe manifestiert sich bereits in der Logik dieser Grafik. Es kommt dem Begriff »12. Selbstreferenz« zu, den Kreis zu schließen und damit zu den »Soziale[n] Systeme[n] als allgemeine[m] Gegenstand« zurückzuführen. Signalförmig sind also weniger die »geschriebenen, sondern vor allem [die] nichtgeschriebenen Bücher«237 , welche die abstrakte Verbindung von Konzepten als reine Stellen und somit als reines Signal kommunizieren können. Die Vormachtstellung des Mündlichen (im Interview) wird hier auf das Register des Bildlichen verschoben. Doch auch hier findet sich die bei Schlegel bereits angesprochene Paradoxie wieder. Auch für das Sichtbarmachen eines Plans ist man auf die Schrift angewiesen: Da das System als immer erst noch schriftlich vollständig zu erarbeitende Ganzheit faktisch nie ›eher als die Theile‹ vorhanden ist, ist der Systematiker, wenn die Geltung des Prinzips der mereologischen Präzedenz des Ganzen vor den Teilen nicht eine bloße Behauptung bleiben soll, auf die ostentative Temporalisierung der logischen Präzedenz durch schriftliche Präparation angewiesen. Genauer: Auf die Schreibarbeit eines vorab verfassten schriftlichen ›Plans‹.238 Die »innere Form als ideelle Seite des Plans, die nicht mit der schriftlichen Manifestation identisch ist«239 , aber doch gerade nur in ihr als Differenz zur dann folgenden schriftlichen Ausführung realisiert werden kann, gibt es also in dieser Radikalität und 237 Ebd., S. 196. 238 Spoerhase: Der Plan. Über die literarische Form komplexer Systeme um 1800, S. 193. 239 Ebd., S. 196.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Konsequenz nicht schon bei Schlegel, sondern erst bei Luhmann. Allerdings kommt hier, wie in der obigen Abbildung deutlich erkennbar, eine andere Gattung an Zeichen240 ins Spiel, die dezidiert nicht auf sprachliche Kommunikation verweist. Eine solche konsequente Orientierung an den nichtgeschriebenen Büchern, ja an nichtsprachlichen Kommunikationsformen überhaupt verfolgt Dirk Baecker mit seiner ›Formtheorie‹.

6.5.

Die reine Form – Dirk Baecker und die Haken

Die Transformation der Systemtheorie in eine Formtheorie wird insbesondere von Dirk Baecker betrieben. Dieser lokalisiert sich in der Nachfolge der Schriften Luhmanns aus den 90er Jahren, die laut Baecker »unter der Überschrift einer Ausarbeitung einer Formtheorie der Kommunikation«241 stehen.242 Dirk Baeckers Inanspruchnahme des Formbegriffs bildet den Endpunkt der hier vorgestellten asymmetrisierenden Verschiebungskette, die maßgeblich durch ebenjenen selbst vorangetrieben wird. Die Transformation einer System- in eine Formtheorie ist dazu geeignet, das dem Formbegriff innewohnende Potential einer Vermittlung zwischen verschiedenen Ebenen und Zeichensystemen zu verdeutlichen. Ziel von Baeckers Weitertreibung der Systemtheorie als Kulturtheorie ist es, »so nah wie möglich an einem qualitativen Verständnis von Mathematik zu bleiben und die Theoreme zu sammeln, die sich für eine Theorie des Beobachters als hilfreich erweisen«243 . Moritz von Stetten hat in seiner Arbeit zur Rezeption der Systemtheorie diese Arbeiten Baeckers als »dogmatische und orthodoxe Position« bezeichnet, »die mit einer gewis240 Zur Definition dieser anderen Gattung an Zeichen wäre auch an Adornos instruktiven Text zu den Satzzeichen zu denken, deren paradoxale Stellung als Residuen der Stimme und gleichzeitig als Ort der Differenz zwischen Sprache und Schrift Adorno hervorhebt. Vgl. Adorno: Satzzeichen. Das Verhältnis zwischen Schrift und den zum Plan gehörenden graphischen Markierungen wäre hier sicherlich noch einmal anders zu bestimmen, insofern diese nicht die Zäsuren der Stimme nachzubilden suchen, sondern scheinbar direkt logische Operationen der Verknüpfung und Gegenüberstellung abbilden. Hier müsste sich auf einer anderen Ebene die Paradoxie wiederholen, insofern etwa diese logischen Zeichenformen einen direkten Zugang zum ›Denken‹ nahelegen, doch aber gleichzeitig den Ort der Differenz zwischen Kommunikation und Bewusstsein bestimmen. Vgl. dazu auch Kap. 7. 241 Baecker: Niklas Luhmann und die Manager, S. 17. 242 Eine andere Version der systemtheoretisch inspirierten Formtheorie findet sich bei Athanasios Karafillidis. In seiner Monographie zu Sozialen Formen stellt er ebenfalls eine an George Spencer Brown orientierte Formtheorie vor: »Das führte zu dem Versuch, nicht eine bestimmte Unterscheidung, sondern erst einmal die Form der Unterscheidung selbst zum Ausgangspunkt soziologischer Theorie zu machen. Genau deshalb haben wir auf den Formbegriff gesetzt, seine Methodologie skizziert, seine Kongruenz zum Kommunikationsbegriff betont und ihn an einer Differenzierungstheorie erprobt.« (S. 349) Im Gegensatz zu Baecker betrachtet Karafillidis die Formtheorie aber gerade nicht als Universalinstrument, sondern vielmehr als Theorie of the middle range, insofern sich Karafillidis zufolge die »Variationsspielräume und Kombinationsmöglichkeiten dieser Einzeltheorien multiplizieren« (S. 353) können. 243 Baecker: Beobachter unter sich, S. 10.

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Lektüre als Form

sen Unangreifbarkeit einhergeht«244 . Diese Unangreifbarkeit verbindet sich in zentraler Weise mit dem Formbegriff245 und mit dem an diesen geknüpften angestrebten »engen Anbindungsverhältnis an die Mathematik«246 . Wie diese »mathematische[...] Formalisierung von Luhmanns Systemtheorie«247 aussehen soll, lässt sich etwa an Baeckers 2014 erschienenem Buch zum Kulturkalkül248 ablesen. Mir kommt es darauf an, eine Möglichkeit des Arbeitens mit George Spencer-Browns Formkalkül vorzulegen, die die Geschichte des Kulturbegriffs seit der Antike, jedoch mit besonderem Akzent auf der Moderne erhellt. Und zugleich gehe ich dem Eindruck nach, dass der Formbegriff die formale Anzeige dessen ist, was der Kulturbegriff inhaltlich erfahrbar macht: eine nichtbeliebige Verwicklung von Kontingenz in Komplexität.249 Die hier aufscheinende begriffliche Redundanz des Formbegriffs, der als ›formale Anzeige‹ des Kulturbegriffs verstanden wird, wird im Verlauf des Buchs selbst aufgelöst, insofern an die Stelle einer rein begrifflichen Darstellung eine graphische Darstellung »mithilfe der Notation des Formkalküls von George Spencer-Brown«250 tritt, also mithilfe des »Haken[s] ¬«251 . Die Einführung dieser Notation in den Text evoziert eine neben der Sprachlichkeit herlaufende andere Form von Kommunikation, die in folgender Baeckerscher Entsprechung paradigmatisch verdeutlicht wird: In seinem Text Ein neues Zeichen gibt Baecker zwar vor, nicht »unsere Symbolwelt in Zweifel ziehen« zu wollen, sondern »sie durch ein weiteres Symbol [zu] ergänzen, von dem ich mir wünschen würde, dass es eines Tages so routiniert und damit auch unreflektiert Verwendung findet wie die oben genannten Zeichen«252 . Tatsächlich aber ist dieser Spencer Brownsche Haken selbstverständlich nicht einfach nur ein weiteres Zeichen, das der Symbolwelt hinzugefügt wird, sondern ein Zeichen, das anstrebt, alle anderen Zeichen auszulöschen. Das Symbol habe, so Baecker, Spencer Brown eingeführt »um dem alten Traum der Reduktion mathematischer Kalküle auf ein einziges Zeichen einen Schritt näher zu kommen«253 . Spencer Browns Zeichen steht also nicht einfach friedlich neben den anderen Zeichen des Vokalalphabets – es ist ein Zeichen einer anderen Ordnung und wird von Dirk Baecker schon rein typographisch auch genau so behandelt.

244 245 246 247 248

249 250 251 252 253

Von Stetten: Verfremdungsspiele, S. 218. Vgl. ebd. S. 228, der von der »Erarbeitung einer abstrakten Formtheorie« spricht. Ebd., S. 227. Ebd., S. 229. Interessanterweise basiert dieses Buch, wie in der Einleitung deutlich wird, auf einem Vorlesungsskript – die Abstraktion, die wie schon bei Schlegels Vorlesung zur Transcendentalphilosophie in eine nur mehr graphische Darstellung gipfelt, wird also nicht nur vom Formbegriff selbst voran getrieben, sondern auch von der Performativität des kommunikativen Akts, der eine asymmetrische, direkte Mündlichkeit mit einer konzeptionellen Schriftlichkeit verbindet. Baecker: Kulturkalkül, S. 7. Ebd., S. 11. Baecker: Die Unterscheidung zwischen Kommunikation und Bewußtsein, S. 223. Baecker: Ein neues Zeichen, S. 242. Ebd.

6. Ornament: Signal/Rauschen

Abbildung 5: Einführung des Kulturkalküls

Quelle: Baecker: Kulturkalkül, S. 117.

Die mathematische Notation verspricht eine radikale Entfernung vom Rauschen der Alltagssprache. »Das Formkalkül ist somit nichts Geringeres als die zum Imperativ gewordene Verfremdungsbewegung.«254 Für die ›Theoriesprache‹ Baeckers gilt damit das von Kittler auf das von den Mathematikern Shannon & Weaver eingeleitete Informationszeitalter gemünzte Diktum einer neuen Sprache: »Sie hat die Bahnen von Literatur und Philosophie, also des Buchstabens mit seinen beschränkten Kombinationsmöglichkeiten verlassen, [sic!] um mathematischer Algorithmus zu werden.«255 Wiederum ist es der Formbegriff, welcher als »Operator und Operand« den Übergang von einer begrifflich verfahrenden Sprache hin zu einem mathematischen Kalkül vollziehen kann und damit die Reinigung, die »Zuflucht in reine Theoriekonstruktion«256 vollendet. Die Mathematik, welche »nicht allein im Kopf statt[findet], sondern auf dem Papier«257 , verspricht, wie bereits angedeutet, ein gegenüber der sprachlich verfahrenden Kommunikation optimiertes Verhältnis von Signal und Rauschen: »Der Versuch, das Rauschen zu eliminieren, ist die Voraussetzung für das Erkennen der abstrakten Form und zugleich die Voraussetzung für das Gelingen der Kommunikation.«258 Die Kommunikation mittels abstrakter Prozessbegriffe, welche Setzung und Bezeichnung verbinden, wird durch die Kommunikation mittels graphischer Haken ersetzt. Die Paradoxie des Signal-Rausch-Verhältnisses, die zuvor als gegenseitige Steigerung beschrieben wurde, steigert sich dadurch allerdings weiter. 254 255 256 257 258

Von Stetten: Verfremdungsspiele, S. 231. Kittler: Signal-Rausch-Abstand, S. 343. Von Stetten: Verfremdungsspiele, S. 232. Von Heiseler, Kittler: Flaschenpost an die Zukunft, S. 56. Serres: Hermes I. Kommunikation, S. 52. Herv. i. O.

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Lektüre als Form

Die Last der Selbstlegitimation, die bei Luhmann noch den Begriffen aufgebürdet wurde, wird externalisiert. Sie wird in den Haken selbst verschoben. Das Buch ist so zu einer variierenden Lektüre des Hakens geworden, der gleich einem Gemälde immer wieder neu ausgelegt und transkribiert werden muss. Schreibt man etwa a.¬ dann heißt das so viel wie: Betrachte die Markierung von »a« im Kontext ihrer Unterscheidung von etwas Unbestimmtem, etwa von allem, was »nicht a« ist. Diese Aufforderung wird bereits graphisch geleistet: Ich »sehe«, dass sich das »a« durch einen Unterschied an diesem spezifischen Ort befindet, und mein Blick wandert unwillkürlich auf die Außenseite der Unterscheidung, hier unbezeichnet, wieder zurück auf das mark of distinction, das jetzt selbst einen operativen Charakter, den Charakter des Machens einer Trennung, des Treffens eines Unterschieds, erhält. Ich »sehe« plötzlich, dass die Unterscheidung des Raums oben und unten, rechts und links ausfranst und ihm nur ein Blatt Papier eine Begrenzung gibt, das selbst nur ein Unterschied in einem ausfransenden Raum ist.259 Die Komprimierung des Signals zwecks Rauschfreiheit geht einher mit immer mehr Rauschen; auch in Form von immer ›salopperen‹260 , also rauschbehafteteren Vorträgen. Es kommt nun dem mathematischen Zeichen zu, die Schließungsfiguren zu realisieren, die in einer Anweisung des Wie der Lektüre liegen. Dirk Baecker muss diese Anweisungen, die als Aufmerksamkeit auf die Logik der Schrift fassbar sind, nur noch wiederum in tatsächliche Sprache umformulieren. Die Schließungsfigur und damit die Selbstlegitimation übernimmt der Haken. Damit wird – so könnte man diese Entwicklung zusammenfassen – der tatsächlich sprachliche Anteil des Buchs in seiner Gesamtheit zum Paratext – zur Ausfaltung des Verhältnisses von Öffnung und Schließung, der ihre Struktur bloß kopiert und sichtbar macht, sie aber nicht mehr eigens begründen muss. Der Vorgang der Formalisierung, mit welchem die Abstraktion im Zeichen des Formbegriffs begonnen hatte (vgl. Kap. 6.2.1), hat damit seinen Zenit erreicht, wenn nicht überschritten; der Traum vom Exorzismus des Dämons (vgl. Kap. 6.4.2), wie Serres ihn beschrieben hatte, ist ausgeträumt. Mit diesem Blick auf die (einseitigen) Weiterentwicklungen des dem Formbegriff innewohnenden Potentials beschließe ich meine historische Rekonstruktion der Funktionalisierung und Asymmetrisierung des Formbegriffs. Das Verhältnis von Signal und Rauschen lässt sich vermutlich – zumindest im Kontext der noch sprachförmigen Soziologie – nicht mehr weiter auseinandertreiben, als es bei Baecker der Fall ist. Un259 Baecker: Ein neues Zeichen, S. 243. 260 Hier sei verwiesen auf eine persönliche Erinnerung an den Vortrag Baeckers auf der Tagung »Theorie-Geschichte schreiben. Zu welchem Ende, wie und für wen« am ZfL in Berlin vom 03.11.2016 bis zum 04.11.2016. In seinem Vortrag zum Thema »Theorie 4.0«, der den Endpunkt der Tagung bildete, ›erklärte‹ Dirk Baecker in relativ umgangssprachlich gefassten Sätzen freisprechend die Implikationen von Spencer Browns Formkalkül für eine mögliche Theorie des digitalen Zeitalters.

6. Ornament: Signal/Rauschen

abhängig davon, wie man den wissenschaftlichen oder auch ästhetischen Ertrag dieser Auslegungen des Hakens einschätzt – ob man die mathematische Eleganz genießen kann oder doch eher die »irreversible[...] Verarmung semiotischer Prozesse« durch den »reduktiven Sog«261 beklagt – treiben sie doch die hier beleuchtete Bewegung einer Verschiebung von Buchförmigkeit weg vom Gesprächsparadigma hin zum Informationsparadigma konsequent weiter. Sie beleuchten so rekursiv die zentralen Aspekte des Zusammenhangs zwischen Schlegel, Benjamin und Luhmann, der abschließend als Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität betrachtet werden kann. Die Kontinuität besteht in der Problematisierung der Frage von Buch und Lektüre als Verhältnis von Öffnung und Schließung, sowie in der Identifikation des Formbegriffs als zentralem Operator dieser Problematisierung. Die jeweilige Modellierung von Buchförmigkeit und die darauf bezogene Programmierung von Lektüre stellte sich jedoch als gegensätzlich heraus. Im Zeichen der Arabeske verfolgte Schlegel die Strategie einer Übercodierung des Buchs durch das mündliche Gespräch und versuchte so, das Verhältnis von Buch und Lektüre symmetrisch zu gestalten. Dagegen war für Luhmann eine Programmierung der Lektüre im Sinne des Ornaments und damit der Signalförmigkeit zu beobachten. Dieses Lektüreprogramm weist dazu an, die Materialität und konkrete Formierung des Buchs gerade zu vernachlässigen, zugunsten der Rekonstruktion eines immateriellen Netzwerks aus reinen Positionen. Die Konfiguration des Formbegriffs erwies sich als entscheidender Indikator für die jeweilige Buchförmigkeit und das jeweilige Lektüreprogramm. Im Zeichen der Arabeske behielt der Formbegriff seine spezifische Bedeutung als symmetrischer Gegenbegriff zum Stoff. Im Zeichen des Ornaments entfaltete sich die Selbstbezüglichkeit und damit Asymmetrie des Formbegriffs. Die entscheidende Vorbereitung dieser Asymmetrisierung des Formbegriffs leistete Walter Benjamin in seiner Dissertationsschrift zu Schlegel.

261

Koschorke, Vismann: Einleitung, S. 10.

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7. Fazit: Die Ornamentalisierung der Arabeske

Die zurückliegenden Ausführungen haben es sich zum Ziel gesetzt, zwei verschiedene aber miteinander verbundene Thesen zu belegen. Zunächst galt es, einen inhärenten Zusammenhang zwischen Friedrich Schlegels Lektürereflexion und seinem Buch Lucinde, Walter Benjamins Transkription der Frühromantik in seiner Dissertationsschrift und Niklas Luhmanns Soziale Systeme herauszuarbeiten, der sich insbesondere über den Begriff der Form vollzogen hat. Dieser wiederum hat sich als Knotenpunkt literarischer ›Intentionalität‹1 erwiesen, die hier als Konstruktion des Buchs gerade in der Lektüre erwiesen wurde. Am Formbegriff konnten zentrale Transformationen innerhalb und zwischen den in den Texten evozierten Versionen von Buchförmigkeit aufgezeigt werden. Hier galt es, zentrale Unterschiede zwischen zwei verschiedenen, sich gegenüberstehenden Paradigmen herauszuarbeiten. Das von mir als Gesprächsparadigma bezeichnete Modell des Verhältnisses von Lektüre und Buch begreift Lektüre als atmosphärisch dichtes und somit manipulierbares symmetrisches Gespräch und überformt mit dieser Vorstellung von Gespräch auf paradoxe Weise das Buch. Solcherart wird die Wiederherstellung von Buchförmigkeit als Schließung in der Lektüre eingerichtet. Auf der anderen Seite identifizierte ich das als Informationsparadigma bezeichnete Modell des Verhältnisses von Lektüre und Buch, welches die Strukturförmigkeit des Buchs, seine funktionale Schließung, als Voraussetzung jeglicher Lektüre ansieht und insofern eine Asymmetrie zwischen Buchförmigkeit und Lektüre als Asymmetrie zwischen Signal und Rauschen einrichtet, »einfach und paradox wie die Null«2 . Das Buch als »poetische und hermeneutische Hinsichten stiftende und strukturierende Entität«3 gestaltet sich als Zusammenspiel dieser konzeptionellen und materiellen Elemente, die nur in der (Selbst-)Lektüre miteinander in Berührung kommen. Der sich dabei ergebende Unterschied zwischen Schlegel auf der einen Seite und Niklas Luhmann auf der anderen Seite lässt sich mit einem Vergleich von Luhmanns italienischem Kollegen Raffaele De Giorgi gut zusammenfassen: »Zunächst kommt mir 1

2 3

Zum Begriff der literarischen Intentionalität und seinem Zusammenhang mit dem Formbegriff vgl. Wellberry: Selbstbezüglichkeit und Ursprünglichkeit der Form. Siehe auch die Erläuterungen in Kapitel 2.2 zur Lektüre. De Giorgi: Niklas Luhmann, Die Zukunft des Gedächtnisses, S. 30. Spoerhase Das Format der Literatur, S. 46.

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Lektüre als Form

Novalis in den Sinn. Wir suchen überall das Unbedingte, sagte er, und finden immer nur Dinge. Das ist der springende Punkt: Luhmann fand keine Dinge. Er ließ sich von den Dingen, von ihren Namen (!), in Erstaunen versetzen.«4 Die in der Frühromantik in der Form noch aufgehobene Materialität und ›Dichte‹ verschwindet, idealtypisch ausgedrückt, bei Luhmann hinter der reinen Information des Signals. Walter Benjamins Dissertation Zum Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik erwies sich in der zurückliegenden historischen Rekonstruktion als entscheidender Ort und Motor der Transformation. In Benjamins Buch vollzieht sich die Verschiebung von einem symmetrischen hin zu einem prozessualen Formbegriff. Damit verbunden ist die Transformation des Lektüreprogramms als Gespräch, das um die Unterscheidung von Reden und Schweigen organisiert ist, hin zum asymmetrischen Lektüreprogramm Signal/Rauschen. In Kapitel 2 wurden die beiden entscheidenden Pole der jeweiligen Konfigurationen von Buchförmigkeit im Sinne einer ›Lektüre als Form‹ ausgefaltet und begrifflich sowie systematisch definiert. Lektüre wurde medial als In-Bezug-Setzen zur Buchförmigkeit und somit nicht nur als Öffnungsbewegung, sondern als Vermittlung von Öffnung und Schließung beschrieben. Die zentrale Problematik der Reflexion von Lektüre ab Schlegel wurde so als Wiedererrichtung von Buchförmigkeit im Sinne einer Schließungsfigur in der Lektüre verstanden. Dabei wurde schon auf die unterschiedliche Ausrichtung der Selbstreflexion von Buchförmigkeit aufmerksam gemacht, die bei Schlegel in einer emphatischen Aufladung des Buchs etwa als ›Bibel‹ und damit als sozial verbindliches, tatsächlich religiöses, Werk bestand, bei Luhmann in einer Problematisierung der konkreten Materialität von Lektüre und Buch als zwar notwendiges, aber überwindbares Grundrauschen der reinen Theoriearbeit. Für den Formbegriff wurde eine funktionale Perspektive eingenommen, die auf das spezifische Potential des Formbegriffs gerichtet war. Wie eingangs vorbereitet und von der historischen Rekonstruktion erwiesen, ist der Formbegriff in hohem Maße dazu geeignet, eine Übersetzbarkeit zwischen sehr konkreten und sehr abstrakten Sachverhalten zu ermöglichen und darüber hinaus den Übergang zwischen diesen Ebenen durch seine inhärente Selbstbezüglichkeit und Verdopplungsmöglichkeit zu organisieren. Der Begriff der Form ist Resultat einer Unterscheidungsoperation und findet sich auf der einen Seite der Unterscheidung wieder. Gleichzeitig jedoch erbringt er die Legitimation der Unterscheidung selbst, insofern die Funktion des Begriffs Form sich darin erschöpft, anzuzeigen, dass es noch etwas anderes gibt. Der Formbegriff ist so der paradigmatische Begriff sowohl für derartige aus Unterscheidungen gewonnene und dann symmetrische funktionierende Gegensatzpaare, wie sie bei Schlegel zu finden sind, als auch für selbstbezügliche und damit prozessual funktionierende Begrifflichkeiten, wie sie bei Luhmann dominieren. Die Wichtigkeit, die dem Formbegriff in Benjamins Transkription zukommt, lässt sich aus dieser spezifischen Wirkweise begründen. Die beiden Begriffe der Arabeske und des Ornaments führte ich im letzten Abschnitt (Kapitel 2.3) ein als konkrete Versinnbildlichungen zweier sich zwar in manchen Punkten berührender, in anderen aber auch gegenseitig ausschließender Konzeptionen von Buchförmigkeit gerade im Prozess der Lektüre, also gleichzeitig als Projektionen einer formalen Verknüpfung von Öffnung

4

De Giorgi: Niklas Luhmann. Die Zukunft des Gedächtnisses, S. 28, eigene Hervorhebung.

7. Fazit: Die Ornamentalisierung der Arabeske

und Schließung. Die symmetrische Verbindung von Figürlichkeit und Abstraktion, welche die Arabeske kennzeichnet, diente dazu, diese gegenüber einer ornamentalen und damit dezidiert asymmetrischen Textproduktion abzugrenzen. Mit Rückgriff auf ihre zeitgenössische Definition beschrieb ich die Arabeske als Vision einer symmetrischen Sinnvervielfältigung und dem Verschmelzen von Sphären. Das Ornament definierte ich hingegen mit Bezug auf Luhmanns Ausführungen in der Kunst der Gesellschaft als Organisation einer fundamentalen, asymmetrischen Selbstbezüglichkeit und damit als Invisibilisierung von materiellen und medialen Bezügen. Auf diese sehr abstrakten und systematischen Ausführungen folgte im dritten Kapitel eine detaillierter arbeitende, auch biographische Fremd- und Selbstbeschreibungen mit einbeziehende, Thematisierung der konkreten Lektürepraktiken Schlegels, Benjamins und Luhmanns. Unter dem Stichwort der Bibliophilie beschrieb ich für Schlegel die Praxis des intensiven persönlichen und brieflichen Austausches über Bücher und ihre Lektüreerfahrungen mit Vertrauten. Das symmetrische Gespräch unter Liebenden und die Lektüre von Büchern erwiesen sich so als sich wechselseitig bedingende, strukturell homologe Kommunikationssituationen und die im Gesprächsparadigma situierte Unterscheidung von Reden und Schweigen wurde so bereits biographisch situiert und plausibilisiert. Demgegenüber stellte das Kapitel zu Benjamins Lektürepraxis insbesondere dessen Ambivalenz in Bezug auf das Buch heraus, die sich in nebeneinander bestehenden, Zettelkasten und Briefverkehr über einzelne Bücher gleichermaßen umfassenden, Lektürepraxen manifestierte. Diese Gleichzeitigkeit der disparaten Umgangsformen mit Büchern spiegelt sich, wie gezeigt wurde, auch in der globalen medienhistorischen Einschätzung Benjamins wider, die zwar auf die Materialität und Haptik des Buchs aufmerksam macht, dieses aber als überkommenes Medium der Wissensproduktion begreift. Unter dem Stichwort »Zettelkasten« widmete ich mich abschließend der Luhmannschen Lektüre- und insbesondere Transkriptionspraxis. Ziel war es dabei, die materielle Architektur des Zettelkastens als Fluchtpunkt und Möglichkeitsraum einer immateriellen Theoriearchitektur zu begreifen, die auf der Buchförmigkeit beruht, diese aber im Rahmen eines mehrstufigen ornamentalen Übersetzungsprozesses in die Unsichtbarkeit verschiebt. Diese in Kapitel 3 beschriebenen unterschiedlichen Lektürepraktiken bildeten den Übergang zur eigentlichen historischen Arbeit in den Kapiteln 4-6. Diese Kapitel führten die in den vorangegangenen systematischen Bemerkungen ausgeführten Thesen in einer tatsächlichen Lektüre der vorhandenen Bücher und der in ihnen enthaltenen Lektüreprogramme aus, indem sie jeweils einerseits die Reflexion von Lektüre und Buchförmigkeit, andererseits den Formbegriff in den Blick nahmen. Das vierte Kapitel befragte das Werk Schlegels auf die hier allgegenwärtige Reflexion von Lektüre und Buchförmigkeit sowie auf das damit verbundene Wirken des Formbegriffs. Der erste Abschnitt war der Lektürereflexion gewidmet, die sich insbesondere in der Arbeitsgemeinschaft von Schlegel und Schleiermacher, also in Schleiermachers Vorlesungen zur Hermeneutik und Schlegels diesbezüglichen Fragmenten nachvollziehen lässt und ihren paradigmatischen praktischen Ausdruck in Schlegels Über Goethes Meister findet. Dieses Unterkapitel, welcher der theoretischen und praktischen Lektüre gewidmet war, erwies Schlegels Interesse am Wie der Buchform. Dieses Interesse an der Buchform und ihrer Erhaltung in der Lektüre manifestierte sich in der Engführung von prozessua-

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Lektüre als Form

len und gegenständlichen Begriffen, die mit einer ›Abwesenheit‹ des Formbegriffs zur abstrakten Bezeichnung dieses Wie einherging. Die Begründung für diese Abwesenheit ist, so zeigte dann das zweite Unterkapitel unter der Überschrift »Buch«, in der idealen Konzeption von Lektüre als symmetrisches Gespräch zwischen Freunden oder gar Liebenden zu finden. Die Vision einer umfassenden Symmetrie, die sich in Schlegels Buch Lucinde manifestiert, entpuppte sich als Versuch der prospektiven Schließung künftiger Lektüren und als Selbstinszenierung des eigenen Buchs als »Bibel, Buch schlechthin, absolutes Buch« (KFSA II, S. 265, Fragment 95). Die Lektüre von Schleiermachers Vertrauten Briefen zeigte, dass sich das Phantasma des Buchs der Bücher als paradoxe Inanspruchnahme der Unterscheidung von Reden und Schweigen beschreiben lässt, die ich als Gesprächsparadigma bezeichne. Schweigen (nämlich stille Lektüre) ist ideale Rede, muss aber insofern durch das Reden begleitet und von der hierin eingeschlossenen sozialen Situation überformt werden. Die ideale Lektüre, die im Text evoziert wird, entpuppte sich als Paradoxon. Schlegels Vorlesungen lösen dieses Paradoxon, wie in Kapitel 4.4 gezeigt, auch aufgrund ihrer medialen und sozialen Alterität auf. Hier konnte gezeigt werden, wie eine explizite Bezugnahme auf den dann bereits prozessual gewendeten Formbegriff diesen als Indikator und Agens einer zunehmenden Abstraktions- und Asymmetrisierungsbewegung aufweist. Die aufscheinenden Konsequenzen für den Formbegriff in der Frühromantik erläuterte insbesondere das abschließende Unterkapitel 4.4.6. Die Tendenz zur Asymmetrisierung des Formbegriffs, die sich in den philosophischen Vorlesungen Schlegels Bahn bricht, findet ihren Wiederhall, wie in Kapitel 5 unter dem Stichwort »Reflexion« gezeigt, in der berühmtesten Schlegel-Transkription überhaupt, in Walter Benjamins Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Die Benjaminsche Abstraktion der Frühromantik im Zeichen der Lektüre, die als immaterielle »Reflexion« eine spezifische Lektüre darstellt, konnte so gleichermaßen als Abstraktionsleistung des Formbegriffs selbst begriffen werden. In einer detaillierten Rekonstruktion der Benjaminschen Argumentation wurden die Verschiebungen weg von einem symmetrischen hin zu einem prozessualen Formbegriff nachgezeichnet und insofern auch gezeigt, wie sich die Konzeption von Lektüre und Buchförmigkeit gegenüber derjenigen Schlegels geändert hat. Anstelle eines symmetrischen Gesprächs zwischen Lesenden/Transkribierenden und Buch tritt der souveräne Vergleich zweier Positionen (Schlegel und Goethe) zu einem beiden übergeordneten philosophiegeschichtlich eingeordneten Problem, das nunmehr als Einheit und abstrakte Schließungsfigur fungiert. Das letzte Kapitel, welches diesen Vergleich zwischen der frühromantischen Position und derjenigen Goethes zumindest andeutungsweise ins Auge fasst, wurde in seiner ambivalenten Stellung beleuchtet. Einerseits wird hier die vermeintliche Symmetrie der Form/Gehalt-Unterscheidung wiedererrichtet und die Radikalität des prozessualen Formbegriffs damit gemildert, andererseits bestätigt die symmetrische Gegenüberstellung von Schlegel und Goethe die demgegenüber asymmetrisch fungierende Position Benjamins als scheinbar neutralem Mittler. Daraus ergab sich eine unentschiedene Gleichzeitigkeit des Gesprächs- und des Informationsparadigmas. Das Kapitel zu Benjamin deutete bereits die zentralen Tendenzen an, die schließlich in Kapitel 6 für Niklas Luhmann in ihrer hier stattfindenden Radikalisierung zur ›reinen Theorie‹ und somit zu einer rein informationstheoretisch zu begreifenden Buchför-

7. Fazit: Die Ornamentalisierung der Arabeske

migkeit beschrieben wurden. Im ersten Unterkapitel wurde das Zusammenspiel von begrifflichen und konzeptuellen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen der frühromantischen und der systemtheoretischen Lektürereflexion dargelegt. Anhand der zentralen Begriffe konnte gezeigt werden, dass sich bei Luhmann in der Verwendung von prozessualen Begriffen stets eine ornamentale Selbstreferentialität und damit eine Schließung nach innen beobachten ließ, die der Schlegelschen Suche nach Vollständigkeit und Symmetrie entgegensteht. Diese Unterschiede in der Begriffsverwendung bei gleichzeitiger Kontinuität der tatsächlich verwendeten Begriffe deuteten dann schon auf die im Anschluss aufgezeigte Veränderung des Formbegriffs hin. Diese wurde dargelegt in einer Genealogie des Formbegriffs insbesondere aus den kunsttheoretischen Schriften Luhmanns, die der ›offiziellen‹ Adressierung des Formbegriffs an George Spencer Brown gegenübergestellt wurde. Der Formbegriff erfüllt in seiner Einbettung in die Begriffsarchitektur die parallel zur Ebenenhierarchie der Sozialen Systeme verlaufende Hierarchisierung und damit Asymmetrisierung zwischen Signal und Rauschen, welche aber paradoxerweise durch immer mehr Rauschen stabilisiert wird. Im letzten Abschnitt des Luhmann-Kapitels wurden die Unterschiede in der Begriffsverwendung auf die verschobene Konzeption von Buchförmigkeit bezogen. Anstelle einer symmetrischen Integration von Lektüre und Schreiben im Buch ließ sich bei Luhmann ein paradoxer Ausschluss von Lektüre und auch Buchförmigkeit aus dem eigenen Buch beschreiben, der sich über die Verdeckung jedes medialen Bezugs durch den Formbegriff vollzog. Am besten beobachten ließ sich dieser Versuch des Ausschlusses, der ebenfalls als Strategie der Schließung begriffen werden kann, an Luhmanns Buch Soziale Systeme. Hierbei handelt es sich – so meine These – um den Versuch, ein reines Signal vom Rauschen der qua Kommunikationszusammenhänge notwendigen und daher in nach unten hin unendlich ausdifferenzierbare Ebenen5 verlagerten Textproduktion zu unterscheiden, die im Extremfall jeden tatsächlichen Text als Paratext rahmt. So lässt sich Soziale Systeme als nur immanentes, immaterielles und dennoch gerade deshalb paradigmatisches Buch beschreiben, das die in den kunsttheoretischen Texten Luhmanns problematisierte Engführung von Schließung und Öffnung auf ideale Weise umsetzt und so ereignishaft die Asymmetrie zwischen Signal und Rauschen etabliert. Die darin begriffene Paradoxie, dass ein Mehr an Signalförmigkeit (mit dem nicht mehr begrifflichen, mathematischen Zeichensystem als Fluchtpunkt) ein Mehr an Rauschen zur Folge hat, wurde abschließend an der Weiterentwicklung von Luhmanns Systemtheorie in Dirk Baeckers Formtheorie aufgewiesen. Bei den oben noch einmal rekapitulierten historischen Rekonstruktionen ging es mir darum, von etablierten Unterscheidungsmöglichkeiten wie Theorie/Kunst,

5

Man könnte zunächst die ›geschwätzigeren‹ Bücher (etwa Gesellschaft der Gesellschaft) davon unterscheiden, dann aber auch die Veröffentlichungen der Interviews, die Interviews selbst und schließlich sogar die Fernsehaufnahmen, in denen das Verhältnis von Signal und Rauschen immer mehr in Richtung Rauschen abdriftet, aber in der oben geschilderten Paradoxie gerade dadurch (etwa durch Repetition und Nennung zentraler Begrifflichkeiten) versucht wird, das Signal zu verstärken.

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Theorie/Literatur bzw. Theorie/Philosophie6 sowie Philosophie/Literatur abzusehen und mich jeweils auf das Verhältnis von Öffnung und Schließung im medialen Paradigma des Verhältnisses von Buch und Lektüre zu konzentrieren. Hier ließen sich verschiedene Möglichkeiten von Schließungsfiguren nachzeichnen, die sich entlang der aufgezeigten Paradigmen und ihrer Leitunterscheidungen vollziehen. Die hierbei aufgezeigten Paradigmen des Gesprächs mit der Leitunterscheidung Reden/Schweigen und der Information mit der Leitunterscheidung Signal/Rauschen ließen sich wahrscheinlich wieder zurückübersetzen in die hier zunächst suspendierten Unterscheidungen, so wie es etwa bei Blanchot nahegelegt wird. Jedoch ist das Werk gewordene Buch – der ganze literarische Prozeß, ob er sich in der langen Kette von Büchern behauptet, ob er sich in einem einzigen Buch bekundet oder in dem Raum, der dessen Stelle einnimmt – zugleich mehr Buch als die anderen und schon außerhalb des Buchs, außerhalb seiner Kategorie und seiner Dialektik. Kein Buch mehr: ein Wissensbuch existiert fast nicht als Buch, abgespulter Band; hingegen neigt das Werk zu einer Einzigartigkeit: einzig, unersetzlich, ist es fast eine Person; daher die gefährliche Tendenz des Werks, sich zum Meisterwerk zu befördern, sich so zu verwesentlichen, das heißt, sich durch eine Signatur zu bezeichnen (gar nicht nur vom Autor signiert, sondern, was viel schwerwiegender ist, in gewisser Weise von sich selbst signiert).7 Auch Blanchot beschreibt hier den Unterschied zwischen Theorie und Literatur als verschiedene Formen der Buchförmigkeit, einmal als ›abgespulter Band‹ und andererseits als individuelles ›Meisterwerk‹. Gegenüber dieser knappen Gegenüberstellung ging es mir hier darum, ein detaillierteres Modell zu entwickeln, anhand dessen sich diese ›Gattungsfragen‹ in Bezug auf das Verhältnis von Schließung und Öffnung, von Buchförmigkeit und Lektüre noch einmal neu und anders, auch historisch oder gar national8 oder konfessionell9 , stellen lassen. Es ist also, dies wollte ich hier zeigen, die Buchförmigkeit selbst, die als Voraussetzung für disziplinäre Unterscheidungen gelten kann, wie implizit bei Spoerhase deutlich wird, der eine buchförmige »autonome ästhetische Praxis« einer zeitschriftenförmigen »heteronomen ästhetischen Praxis«10 gegenüberstellt und damit implizit die Autonomie von Literatur als ›Gattung‹ an die Buchförmigkeit bindet. Die vorliegenden Überlegungen haben sich also auch verstanden als Beitrag zur Frage nach den Konstruktionsbedingungen von Theorie, insofern hier die These erprobt wurde, dass Theorie – wie Literatur – auf Buchförmigkeit beruht, und dass die gerade in Bezug auf ›dunkle‹ Autoren wie eben Friedrich Schlegel oder Niklas Luhmann beliebten Short Cuts,

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Oder auch, etwas anders gelagert Philosophie/Soziologie. Vgl. zu dieser Unterscheidung für die Systemtheorie zuletzt von Stetten: Verfremdungsspiele. Blanchot: Die Buchabwesenheit, S. 12. Wie in der Einleitung zumindest andeutungsweise gezeigt wurde, zeichnet sich etwa die französische Theorie durch ein sehr stark medienbezogenes Thematisieren der Unterscheidung Öffnung/Schließung als explizite Frage nach dem Verhältnis von Buch und Lektüre aus. Von Heiseler, Kittler: Flaschenpost an die Zukunft, S. 52: »Die Protestanten werden Programmierer und die Katholiken Designer.« Spoerhase: Linie, Fläche, Form, S. 37.

7. Fazit: Die Ornamentalisierung der Arabeske

also Interviews, Inszenierungen, Dialoge etc. insofern Paratexte sind, als sie die Buchförmigkeit in ihrer Herausforderung gerade auch wiederum zementieren. Dies wird etwa deutlich in der Interaktion zwischen Till Nikolaus von Heiseler und Dirk Baecker als Medientheater. Im Gespräch weist Heiseler dem ›Theoretiker‹ Bäcker die Buchform zu: »Sie haben gerade gesagt, ich würde denken, Sie seien wie ein Buch, aber Sie sind wie ein Buch.«11 Ein Unterschied zwischen der ›Gattung‹ Roman und der ›Gattung‹ Theorie könnte dabei (wie oben angedeutet, aber bewusst nicht ausgeführt, um diese disziplinierenden Oberbegriffe nicht wieder einzuführen) in der sich gegensätzlich verhaltenden expliziten Bezugnahme auf die Form Buch begründet liegen. Während die ›Theorie‹ im emphatischen Sinne die eigene Buchförmigkeit und damit die Materialität auszuschließen sucht, würde der ›Roman‹ genau diese Buchförmigkeit selbst zum Thema machen. Bei einer solchen Unterscheidung zwischen verdeckter und offener Buchförmigkeit handelte es sich dann selbstverständlich nicht um eine binäre Sortierung, sondern vielmehr um ein Kontinuum mit zwei Polen, die jeweils nicht idealtypisch eingelöst werden könnten. Folgt man etwa einem Hinweis Luhmanns selbst, scheint die Unterscheidung zwischen Theorie und Literatur nicht entlang disziplinärer Grenzen zu verlaufen, sondern eine Qualität der Texte oder Bücher selbst darzustellen. So erinnert sich Franz Xaver Kaufmann etwa an eine Bemerkung Luhmanns zu einer Habilitation, in der ein Vergleich zwischen Talcott Parsons und Ralf Dahrendorf angestrebt wurde: »Es handelt sich hier um den Versuch, einen soziologischen Theoretiker mit einem soziologischen Schriftsteller zu vergleichen, und das wirft spezifische Schwierigkeiten auf«12 , soll Luhmann sinngemäß geäußert haben. Eine Bestimmung von Literatur anhand des Ausmaßes ihrer explizit relevanten Buchförmigkeit schlägt etwa Torsten Hahn in seinem Aufsatz Drucksache. Medium und Funktion der Literatur vor. Hahn bestimmt Literatur hier »materiell im Buch aufgehoben«13 und insofern das Register des Visuellen betreffend. Literatur wird – einhergehend mit den hier angestellten Überlegungen – nicht mehr über ihren Inhalt oder einen spezifischen ästhetischen Wert, sondern über ihr »Primärmedium […] also technisierter Schrift, die auf die Buchform abzweckt«14 und darauf aufbauend über ihre Codierung als »buchförmige Drucksache«15 definiert. Die Verzögerung des normalen Lesens führt also im Falle der Literatur zu einem emphatisch aufgeladenen ›Mehr‹ an sinnlicher Wahrnehmung, nämlich der Wahrnehmung des »Buch[s] in all seinen (visuellen und haptischen) Dimensionen, zuzüglich der eben nicht ›bedeutungslosen‹ Teile wie Umschlag, Schmutzseiten usw«16 bzw. im Falle von Schlegels Buch Lucinde der arabesken Schönheit der Druckschrift, die allerdings bei Schlegel im Sinne einer Begrenzung der eigentlich unbegrenzt möglichen Lektüren gleichzeitig rückgebunden wird an das Paradigma der mündlichen, durch die Schrift jedoch auf paradoxe Weise vollständi-

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Von Heiseler, Baecker, Schulz: Gespräch ohne Titel, S. 153. Zitat nach Kaufmann: Ein Wittgenstein’sches Schweigen, S. 14. Hahn: Drucksache, S. 436, Anm. 5. Ebd., S. 437. Ebd. Ebd., S. 438.

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geren17 , Verständigungssituation. Die Verzögerung des normalen Lesens im Falle der ›Theorie‹ nach Luhmann führt dagegen zu einer Separierung zwischen alltagssprachlichem Verstehen und damit zu einer Isolierung der Begriffe von jedem Kontext, im Sinne des Entwurfs eines rein abstrakten Ornaments und im Sinne einer Verweisung des Lesers ›nach innen‹, auf die nicht-materielle Struktur ihrer Relationen. Das Verhältnis von Öffnung und Schließung, von Lektüre und Buch habe ich dabei selbst nicht im ›luftleeren Raum‹ untersucht, sondern angeregt durch die Frage nach den Veränderungen des Formbegriffs zwischen 1800 und der Gegenwart. Diese begriffliche Exploration war wiederum eingebettet in die Frage nach dem Status von Begrifflichkeiten überhaupt und der Beziehung zwischen Begriffen, Lektüre und Buchförmigkeit über unterschiedliche ›Genres‹ hinweg. Abschließend möchte ich einige Hinweise darauf geben, in welchen theoretischen Kontexten ich die vorhergehenden Überlegungen situiere und welche weiterführenden Fragestellungen sich anbieten. Seit einigen Jahren besteht in Analogie zu den science studies, die sich etwa als Akteur-Netzwerk-Theorie mit den grundlegenden Materialitäten, Performanzen und Übersetzungsprozessen der Naturwissenschaften beschäftigen, das Projekt einer ähnlich gestalteten Praxeologie der Geisteswissenschaften.18 Unter dem Stichwort der »Praxeologie der Literaturwissenschaft« beschäftigt sich etwa eine Forschergruppe um Carlos Spoerhase und Steffen Martus mit den »Praxisformen der philologischen Arbeit«19 , also mit den materiellen und performativen Grundlagen des eigenen Fachs. Nicht überraschend stoßen derartige praxeologische Erkundungen auf die basale Praxis der Geisteswissenschaften, die nach wie vor materiell in einer Auseinandersetzung mit der Buchform und somit performativ als Lesen formiert ist.20 Fern von einer empirischen Leseforschung ging es mir in meiner historischen Rekonstruktion verschiedener Lese-, Exzerpier- und darauf aufbauender Buchveröffentlichungspraktiken um den systematischen Zusammenhang zwischen diesen Praktiken und um die Möglichkeit einer Rekonstruktion dieses Zusammenhangs im Zusammenspiel von tatsächlicher und konzeptuell idealisierter Buchform, Lektüre und Begrifflichkeit. Nichtsdestotrotz lässt sich diese Rekonstruktion als Bestandteil des praxeologischen Projekts

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Siehe dazu etwa auch die ästhetische Definition von Gregory Bateson, die in eine ähnliche Richtung geht, insofern sie Kunst als vollständigere Kommunikation begreift, die etwa das Unbewusste mit einbeziehen kann, vgl. Steps to an Ecology of Mind, S. 137: »Art becomes, in this sense, an exercise in communicating about the species of unconsciousness. Or, if you prefer, it is a sort of play behavior whose function is, amongst other things, to practice and make more perfect communication of this kind.« Vgl. dazu etwa Krause, Pethes: Scholars in Action, S. 74: »Während die modernen Naturwissenschaften seit der Wende zum 20. Jahrhundert von einer ›historischen Epistemologie‹ begleitet werden, in der ihre Methodologie und Praxis reflektiert und ihre Postulate methodischer Rationalität und empirischer Positivität insbesondere seit Ausbildung der ›science studies‹ relativiert werden, sind Beschreibungen derjenigen Praktiken, die der Produktion kultur- und geisteswissenschaftlichen Wissens dienen, weder methodisch noch institutionell in vergleichbarem Maße etabliert.« Spoerhase: Gegen Denken? Über die Praxis der Philologie, S. 638. Vgl. Spoerhase: Gegen Denken? Über die Praxis der Philologie, S. 638: »Ich werde mich an dieser Stelle auf die Skizze einer grundlegenden philologischen Praktik beschränken, die mit der ehrwürdigen Praxisform des Exzerpierens eng verknüpft ist: Lesen.«

7. Fazit: Die Ornamentalisierung der Arabeske

begreifen, insofern genau der Zusammenhang zwischen der medialen und materiellen Produktion und dem Endprodukt, dem fertigen Buch, in den Blick genommen wurde. Darüber hinaus versteht sich die Arbeit als Beitrag zu einer Differenzierung verschiedener ›Gattungen‹ von Buchförmigkeit als Binnendifferenzierung des geisteswissenschaftlichen Bereichs. Damit ist sie im Kontext der Bemühungen um eine mediale Definition des Gegenstandsbereichs ›Literatur‹ zu situieren, wie sie etwa Oliver Jahraus21 oder – wie oben beschrieben – Torsten Hahn22 verfolgen. Gleichzeitig steht sie im Zusammenhang mit Versuchen, eine Eingrenzung dessen zu leisten, was emphatisch als ›Theorie‹ prämiert wird. Gegenüber den stark kontextbezogenen, sozialwissenschaftlichen Studien etwa von Philipp Felsch23 und gegenüber einer stark auf Kontinuität zwischen der Frühromantik und den Theorien des 20. Jahrhunderts setzenden Forschungsrichtung etwa bei Rüdiger Campe24 oder Rodolphe Gasché25 ging es mir darum, die in der Frühromantik geleistete Reflexion von Lektüre als Umstellung auf den Buchdruck zwar als Grundlage einer Ausdifferenzierung zwischen Literatur und Theorie anzusetzen, dann aber in einer größeren Auflösung gerade die Unterschiede in Bezug auf den Umgang mit Buchförmigkeit und Lektüre als maßgeblich für diese Unterscheidung hervorzuheben. Als weiterer Anlehnungskontext lässt sich die Frage nach dem Status von Begrifflichkeit in unterschiedlichen Diskursformen hervorheben, sowie die Frage nach dem Verhältnis von Begrifflichkeit und Unbegrifflichkeit nicht nur für literarische, sondern auch für theoretische Gattungen. Diese maßgeblich von Blumenberg unter dem Stichwort der Metaphorologie betriebene Untersuchung der ›Literarizität‹ insbesondere des philosophischen Diskurses wird hier aufgegriffen, allerdings modifiziert, insofern es nicht um die Untersuchung eines begrifflich oder unbegrifflich verfahrenden Diskurses, sondern explizit um die Organisation von Buchförmigkeit geht, die sich in den unterschiedlichen Gattungen auf je spezifische Weise als Vermittlung von Öffnung und Schließung fassen lässt. In diesem Kontext wäre die in Kap. 6.4.3 und 6.4 angeschnittene Frage nach der Funktion und Stellung von nichtsprachlichen und somit auch nichtbegrifflichen graphischen Zeichen noch einmal relevant, die in den letzten Jahren etwa in Form der Forschung zum Diagramm und zur Diagrammatik einige Aufmerksamkeit erregt hat.26 Die paradoxe Stellung von solchen Diagrammen bestünde in ihrer Suggestion eines direkten Zugangs zu nicht-materiellen, logischen Operationen, den diese aber nur in der konkretisierten, bildlichen Materialität aufrecht zu erhalten vermögen. Insofern deuten solche Diagramme, in Anlehnung an Adornos paradoxe Bestimmung der Satzzeichen27 zwischen Stimme und Schrift, gerade auf die Differenz zwischen

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Vgl. Jahraus: Literatur als Medium. Vgl. Hahn: Drucksache. Vgl. Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Vgl. Campe: Kritik der Poetik, Theorie der Ästhetik. Vgl. Gasché: The Honor of Thinking. Vgl. etwa Stjernfelt: Diagrammatology, Treude, Freyberg: Diagrammatik und Wissensorganisation, Gleiter/Gasperoni: Architektur und Diagramm, Bogen: Diagramm, Experiment und die Anschaulichkeit von Theorie, Schmidt-Bukhardt: Die Kunst der Diagrammatik, Krämer: Figuration, Anschauung, Deppner: Zur Gestaltung von Philosophie. Vgl. Adorno: Satzzeichen.

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Kommunikation und Bewusstsein hin. Der Umgang mit diesen insofern zweischneidigen nichtschriftlichen, bildlichen oder eben diagrammatischen Anteilen wäre jeweils – im Kontext einer an der Materialität des Buchs orientierten Perspektive – für einzelne ›Theorien‹ und Veröffentlichungsformen zu diskutieren. In Bezug auf die Veröffentlichungsformen wäre außerdem noch stärker auf die Differenzierung von konzeptionell buchförmigen oder zunächst auf den Vortrag ausgerichteten Texte zu achten, wie sie insbesondere für die Philosophie eine wichtige Rolle spielt – aber auch im Kontext der Literatur, etwa in Bezug auf Poetikvorlesungen, die dann später als Buch veröffentlicht werden. Hier wäre über die sehr vielfältigen Ansätze in der Buchmaterialitätsforschung28 hinausgehend jeweils zu fragen, inwiefern das konzeptuelle Veröffentlichungsformat die ästhetische und poetische Strukturierung, etwa das Verhältnis zwischen Begriffen und nichtbegrifflichen Anteilen, beeinflusst. Darüber hinaus könnte auch die Frage nach der jeweiligen institutionellen Kontextualisierung lohnend sein, da diese maßgeblich die konzeptionelle und mediale Formatierung der Kommunikation mitbestimmt. Hier wäre etwa an Überlegungen zum Zusammenhang von Theorie und Akademie zu denken, die sich in aktuellen Fragestellungen zum Antiakademismus niederschlagen.29 Eine sich direkt aus der vorliegenden Arbeit ergebende Forschungsfrage wäre in der Problematisierung von Buchförmigkeit auch für die anderen romantischen Autoren, allen voran Novalis zu finden. Novalisʼ Texte konnten in der vorliegenden Rekonstruktion nicht berücksichtigt werden, wären aber – gerade im Hinblick auf das gemeinsame Bibelprojekt – in den hier beleuchteten Zusammenhang integrierbar. Dies wurde in der mehrfachen motivischen Voranstellung eines Novalis-Zitats zumindest, im Sinne der obigen Untersuchung paratextuell, deutlich gemacht. Zu fragen wäre etwa nach arabesken Mustern als Figuren der Schließung und Buchförmigkeit in Novalisʼ Heinrich von Ofterdingen (1802), in dessen Zentrum ein ›Buch des Lebens‹ als »real-imaginäres Objekt […] das Heinrich in der Höhle des Einsiedlers, dem Grafen von Hohenzollern findet«30 steht. Insofern es sich bei diesem Buch um ein sprachlich fremdes, bildlich aber bekanntes Buch handelt, tritt hier ebenfalls die Buchform als von der tatsächlichen Schrift unabhängige, diese vielmehr überformende Schließung in den Blick. Zusammenhängend mit der konzeptuellen Buchförmigkeit in Novalisʼ Roman wäre zu fragen nach dem Formbegriff Novalisʼ, wie er sich etwa in den Blüthenstaub-Fragmenten oder der Enzyklopädie darstellt. Ein weiterer lohnender Autor in dieser Hinsicht wäre Jean Paul – sowohl was den Formbegriff angeht31 , als auch was die Reflexion und Programmierung von Buchförmigkeit und Lektüre betrifft, insofern zahlreiche seiner Figuren auf entscheidende Weise mit Büchern, Lektüre und Buchförmigkeit sowie auch mit Zettelkästen konfrontiert sind.

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Siehe zuletzt etwa das von Monika Schmitz-Emans herausgegebene Kompendium zu Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst sowie Carlos Spoerhases in dieser Arbeit vielfach zitierte Monographie Das Format der Literatur. Vgl. die von Philipp Felsch und Hannah Engelmeier im Jahr 2017 veranstaltete Tagung und den anschließend herausgegebenen Sammelband zum Antiakademismus. Pott: Der zarte Maaßstab und die ›sanfte Sage, S. 64. Vgl. dazu auch Simon: Form und Formbegriff bei Jean Paul.

7. Fazit: Die Ornamentalisierung der Arabeske

Neben dem Übertrag der Fragestellung nach der Organisation von Buchförmigkeit auf andere Autoren um 1800 ließe sich dieselbe Frage auch historisch erweitern. Zu denken wäre etwa an eine Möglichkeit der Differenzierung nicht nur nach Genre, wie hier vorgeschlagen, also zwischen Literatur und Theorie, sondern auch in Bezug auf literarische Epochen. So wäre etwa daran zu denken, dass die Autoren um 1900 im Sinne einer Opposition von Literatur und Leben, und damit von Buch und Lektüre, noch sehr viel stärker auf interne Schließungsfiguren abstellen, die dann aber notwendigerweise misslingen müssen. Zu untersuchen wäre hier etwa der Fragment gebliebene Roman Andreas oder Die Vereinigten (1932) von Hugo von Hofmannsthal, der das Liebesmotiv der Lucinde aufnimmt, jedoch nicht mehr zu einem Gespräch entwickeln kann. Schließlich ließe sich die Frage nach der Organisation von Buchförmigkeit in der Lektüre auch auf andere literaturinterne Gattungen neben dem Roman übertragen.32 Schließlich erschiene eine Weiterentwicklung der Fragestellung hin zur tatsächlichen Materialitätsforschung denkbar. Die verdienstvollen Studien zur Materialität des Buchs, die teilweise in diese Arbeit eingeflossen sind, ließen sich stärker ergänzen durch die parallellaufende Fragestellung nach der tatsächlich materiellen Schreibumgebung. Im Sinne des hier vorgestellten Zusammenhangs von Lektüreprogrammierung und Buchförmigkeit könnten der Vorgang der Textgenese und die Lektüre wieder stärker aufeinander bezogen werden, ohne das hermeneutische Modell der Seelenlektüre um 1800 unreflektiert zu übernehmen. Vielmehr würden die, wie anzunehmen ist maßgeblich von der materiellen Schreibsituation beeinflussten33 , Lektüreimaginationen und -programme gerade in ihrer Differenz zur tatsächlich materiellen Buchform in den Blick geraten. Das Verhältnis zwischen dem hier beschriebenen Metatext und etwa dem Hypertext34 , sowie die Frage nach einer konzeptuellen Buchförmigkeit des Hypertexts wären vor diesem Hintergrund zu bestimmen. Das Konzept des Lektüreprogramms könnte insofern einen Knotenpunkt für die Vermittlung verschiedener

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Hier hat etwa Spoerhase schon entscheidendes beigetragen, vgl. Das Format der Literatur, S. 45: »Im Zentrum steht die Frage, wie die Formate materieller Textualität mit der literarischen Form verknüpft sind.« In Bezug auf die Lyrik etwa Stefan Georges hat Stefan Martus in seiner Monographie zur Werkpolitik bereits den entscheidenden Zusammenhang zwischen Lektüreprogrammierung und Materialität der Veröffentlichungen der Gedichtzyklen herausgearbeitet. Hier scheint insgesamt noch ein Bedarf an einem Lückenschluss zu herrschen zwischen medienund kulturwissenschaftlichen Forschungen zu Schreibwerkzeugen und tatsächlich empirischer Schreibforschung. Martin Stingelin etwa bezeichnet die Frage nach ihnen als »Stiefkind[…] der Schreibprozeßforschung« (Stingelin: Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken, S. 283) und konstatiert an anderer Stelle: »Noch sind die Historiographie des – als literarisches in seiner Materialität bislang ohnehin noch kaum berücksichtigten – Schreibens und die Historiographie der Schreibwerkzeuge keine glückliche Verbindung eingegangen.« (Stingelin: Schreibwerkzeuge, S. 101) In einem Überblicksartikel zur empirischen Schreibforschung aus dem Jahre 2013 (Baurmann: Empirische Schreibforschung) wird das Schreibinstrument selbst nicht erwähnt. Der einführende Beitrag zur Textproduktion weist als ein wichtiges Forschungsgebiet zwar die »Technisierung der Kommunikation« (Antos: Textproduktion. Ein einführender Überblick, S. 43) aus, der gesamte Band zur Textproduktion berücksichtigt dies aber nur in Bezug auf tatsächlich maschinelle Textproduktion. Zur Literatur als hypertext literature zwischen der emphatischen Anrufung einer neuen Literaturepoche und der Rückkehr in die ›Normalität‹ vgl. etwa Cramer: Postdigitales Schreiben.

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Lektüre als Form

Strömungen der Materialitätsforschung einerseits und der weiterhin auf das ›Innere‹ des Buchs fokussierten Forschungsinteressen andererseits darstellen.

8. Bibliographie

8.1.

Quellen

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8. Bibliographie

8.2.

Darstellungen

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8. Bibliographie

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8. Bibliographie

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8. Bibliographie

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Lektüre als Form

Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Kommunikations- und Informationstechnologien. Frankfurt a.M. 1991. Rüdiger Görner: Die Pluralektik der Romantik. Studien zu einer epochalen Denk- und Darstellungsform. Wien, Köln, Weimar 2010. Gerart von Graevenitz: Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes »West-östlichen Divan«. Stuttgart und Weimar 1994. Robert Gugutzer, Moritz Böttcher: Zur Einführung. In: Körper, Sport und Religion. Zur Soziologie religiöser Verkörperungen. Hg. von Robert Gugutzer und Moritz Böttcher. Wiesbaden 2012, S. 9-23. Hans-Ulrich Gumbrecht: »Alteuropa« und »der Soziologe«. Wie verhält sich Niklas Luhmanns Theorie zur philosophischen Tradition? In: Burckhardt (Hg.): Luhmann Lektüren, S. 70-90. — : Form ohne Materie versus Form als Ereignis. In: de Berg, Prangel (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik, S. 31-46. Hektor Haarkötter: Fäden und Verzettelungen. Eine kurze Geschichte des Zettelkastens. In: Gfereis, Strittmatter (Hg.): Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, S. 3042. Wolfgang Hagen: Gegenwartsvergessenheit. Lazarsfeld Adorno Innis Luhmann. Berlin 2003. Torsten Hahn: Drucksache. Medium und Funktion der Literatur. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 49 (2019), S. 435-449. — : Schwarze Flächen und weiße Leerräume. Selbst- und Fremdreferenz in der Oberflächenästhetik. (Eine Buchseite von Thomas Meinecke). [Manuskript]. Erscheint in: TEXT+KRITIK Thomas Meinecke. München: voraussichtlich Januar 2021. Werner Hamacher: Hermeneutische Ellipsen. Schrift und Zirkel bei Schleiermacher. In: Nassen (Hg.): Texthermeneutik, S. 112-148. Klaus Hammacher: Spinoza und Fichte. In: Transformation der Metaphysik in die Moderne. Zur Gegenwärtigkeit der theoretischen und praktischen Philosophie Spinozas. Hg. von Michael Czelinski et al. Würzburg 2003, S. 192-201. Fritz Heider: Ding und Medium (1921). Wieder in: Kursbuch Medienkultur. Hg. von Claus Pias et al. Stuttgart 1999, S. 319-333. Till Nikolaus von Heiseler, Friedrich Kittler: Flaschenpost an die Zukunft: eine Sendung. Berlin 2013. Heinrich Henel: Friedrich Schlegel und die Grundlagen der modernen literarischen Kritik (1945). Wieder in: Schanze (Hg.): Friedrich Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit, S. 95-111. Philip G. Herbst: Alternatives to Hierarchies. (= International series on the quality of working life 1). Leiden 1976. Matthias Herweg, Stefan Keppler-Tasaki: Mittelalterrezeption. Gegenstände und Theorieansätze eines Forschungsgebiets im Schnittpunkt von Mediävistik, Frühneuzeitund Moderneforschung. In: Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur. Hg. von Matthias Herweg

8. Bibliographie

und Stefan Keppler-Tasaki. (= Trends in Medieval Philology, 27). Berlin, Boston 2012, S. 1-14. Lena Hintze: Werk ist Weltform. Rainald Goetzʼ Buchkomplex HEUTE MORGEN. Bielefeld 2020. Andreas Hjort-Møller: Der lebensphilosophische Frühromantiker. Zur Rekonstruktion der frühromantischen Ethik Friedrich Schlegels. (= Schlegel Studien, 9). Paderborn 2014. Gerrit Hoche: Utopische Liebesentwürfe der Moderne. Zur narrativen Produktion und Reflexion von Geschlechterdifferenzen in Friedrich Schlegels Lucinde und Ingeborg Bachmanns Malina. (= Berliner Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte 7). Frankfurt a.M. 2010. Ansgar Maria Hoff: Das Poetische der Philosophie. Friedrich Schlegel. Friedrich Nietzsche. Martin Heidegger. Jacques Derrida. Bonn 2002. Stefan Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs. (= Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft Jahrgang 2002). Hamburg 2002. Werner Holly: Fernsehen. Tübingen 2004. Boris Holzer: Netzwerke. Bielefeld 2006. Edith Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel. Paderborn, München 2000. Jochen Hörisch: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien. (= Die andere Bibliothek, 195). Frankfurt a.M. 2001. — : Der Mittler und die »Wut des Verstehens«. Schleiermachers frühromantische AntiHermeneutik. In: Behler, Hörisch (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik, S. 19-32. Cornelia Hotz-Steinmeyer: Friedrich Schlegels »Lucinde« als »neue Mythologie«. Geschichtsphilosophischer Versuch einer Rückgewinnung gesellschaftlicher Totalität durch das Individuum. Frankfurt a.M. et al. 1985. Esther Hudgins: Nicht-epische Strukturen des romantischen Romans. Den Haag, Paris 1975. Lore Hühn: Das Schweben der Einbildungskraft. Eine frühromantische Metapher in Rücksicht auf Fichte. In: Fichte-Studien 12 (1997), S. 127-151. Ivan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos »Didascalicon«. Aus dem Englischen von Ylva ErikssonKuchenbuch. München 2010. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976. — : Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972. Ludwig Jäger: Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik. In: Jäger, Stanitzek (Hg.): Transkribieren. Medien/Lektüre, S. 19-42. —, Georg Stanitzek (Hg.): Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002. Georg Jäger, Alberto Martino und Reinhart Wittmann (Hg.): Die Leihbibliothek der Goethezeit. Exemplarische Kataloge zwischen 1790 und 1830. Hg. mit einem Aufsatz zur Geschichte der Leihbibliotheken im 18. und 19. Jahrhundert. (= Texte zum literarischen Leben um 1800, 6). Hildesheim 1979. Georg Jäger, Jörg Schönert (Hg.): Die Leihbibliothek als Institution des literarischen Lebens im 18. und 19. Jahrhundert: Organisationsformen, Bestände, Publikum: Ar-

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Lektüre als Form

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8. Bibliographie

Christoph König: Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate Zur Philologie als Form des Romans Lucinde. In: Breuer, Buni, Erlinghagen (Hg.): Friedrich Schlegel und die Philologie, S. 15-43. Josef Körner: Neues vom Dichter der ›Lucinde‹. Mitteilungen aus Friedrich Schlegels jüngst entdecktem handschriftlichen Nachlaß. Wieder in: Schanze (Hg.): Friedrich Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit, S. 7-33. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. — : Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie. In: Koschorke, Vismann (Hg.): Widerstände der Systemtheorie, S. 49-60. — (Hg.): Komplexität und Einfachheit. DFG-Symposion 2015. Stuttgart 2017. Albrecht Koschorke, Cornelia Vismann: Einleitung. In: dies. (Hg.): Widerstände der Systemtheorie, S. 9-18. — (Hg.): Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk Niklas Luhmanns. Berlin 1999. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg, München 1959. — : Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. Hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck. (= Poetik und Hermeneutik, 12). München 1987, S. 269-282. Susi Kotzinger, Gabriele Rippl: Einleitung. In: dies. (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, S. 5-24. — (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Konferenz des Konstanzer Graduiertenkollegs ›Theorie der Literatur‹. Veranstaltet im Oktober 1992. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 5-24. Markus Krajewski: Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek. Berlin 2002. — : Kommunikation mit Papiermaschinen. In: Maschinentheorien/Theoriemaschinen. Hg. von Hans-Christian von Herrmann und Wladimir Velminski. Frankfurt a.M. u.a. 2012, S. 283-305. Dieter Krallmann, Andreas Ziemann: Grundkurs Kommunikationswissenschaft. München 2001. Marcus Krause, Nicolas Pethes: Scholars in Action. Zur Autoreferentialität philologischen Wissens im Wandel medialer Praktiken. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 91 (2017), S. 73-108. Detlef Kremer und Andreas B. Kilcher (Hg.): Romantik. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2001. Helmut Kreuzer: Gefährliche Lesesucht? Bemerkungen zu politischer Lektürekritik im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle Achtzehntes Jahrhundert. Gesamthochschule Wuppertal. Schloß Lüntenbeck, 24.-26. Oktober 1975. (= Beiträge zur Geschichte der Literatur und Kunst des 18. Jahrhunderts, 1). Heidelberg 1977, S. 62-75. Julia Kristeva: Die Revolution der Poetischen Sprache. Aus dem Französischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Reinold Werner. Frankfurt a.M. 1978. — : Σημειοτικη. Recherches pour une sémanalyse. Essais. Paris 1969.

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Lektüre als Form

Hans-Peter Krüger: Luhmanns autopoietische Wende. Eine kommunikationsorientierte Grenzbestimmung. In: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften 1 (1990), S. 129-147. Ernst Kühnel: Die Arabeske. Sinn und Wandlung eines Ornaments. Wiesbaden 1949. Gerhard Kurz: Der Roman als Symposion der Moderne. Zu Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie. In: Matuschek (Hg.): Wo das philosophische Gespräch, S. 63-80. Jacques Lacan: Namen-des-Vaters. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. Wien 2006. Renate Lachmann: Intertextualität als Sinnkonstitution. Andrey Belyis Petersburg und die ›fremden‹ Texte. In: Poetica 1-2 (1983), S. 66-107. Lars Bang Larsen (Hg.): Networks. (= Documents of Contemporary Art.) London 2014. Bruno Latour: Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas. In: ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. Frankfurt a.M. 2002, S. 3696. Byung-Ok Lee: Der Begriff der Individualität beim frühen Schleiermacher. Tübingen 2000. Maren Lehmann: Theorie in Skizzen. Berlin 2011. Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers. Stuttgart 1987. Rita M. Lennartz: Inszenierung der Lektüre. Das Zusammenspiel von Buchgestaltung, Narration und Metaphorik in Brentanos »Godwi«. Paderborn 2010. Robert Leventhal: Gattungen und System der Kritik beim jungen Friedrich Schlegel. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 24 (2014), S. 99-145. Caroline Levine: Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network. Princeton, Oxford 2015. Mirco Limpinsel: Diaskeuasen des Geistes. Perspektiven auf den philologischen Gegenstand bei Friedrich Schlegel, Wolf, Ast und Boeckh. In: Breuer, Buni, Erlinghagen (Hg.): Friedrich Schlegel und die Philologie, S. 145-164. Burkhardt Lindner: Zu Traditionskrise, Technik, Medien. In: Walter BenjaminHandbuch: Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Burkhardt Lindner. Stuttgart 2006, S. 451-464. Richard Littlejohns: The ›Bekenntnisse eines Ungeschickten‹: A Re-Examination of Emancipatory Ideas in Friedrich Schlegel’s Lucinde. In: Modern Language Review 72 (1977), S. 605-614. Alfred Locker: On the Ontological Foundations of the Theory of Systems. In: Unity Through Diversity. A Festschrift for Ludwig von Bertalanffy. Hg. von William Gray und Nicholas D. Rizzo. Band I. New York, London, Paris 1973, S. 537-571. Bernd Lorenz: Systematische Aufstellung in Vergangenheit und Gegenwart (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen. 45). Wiesbaden 2003. Thomas Luckmann: Das Gespräch. In: Stierle, Warning (Hg.): Das Gespräch, S. 49-64. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied/Berlin 1971. Matthias Luserke-Jaqui: Deutsche Literaturgeschichte in 10 Schritten. Tübingen 2017. Ute Maack: Ironie und Autorschaft. Zu Friedrich Schlegels Charakteristiken. Paderborn u.a. 2002.

8. Bibliographie

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Lektüre als Form

Michael Multhammer: Von der Methodus Polemica zur romantischen Ironie. In: Breuer, Tabarasi-Hoffmann (Hg.): Der Begriff der Kritik in der Romantik, S. 39-53. Stephan Mussil: Literaturwissenschaft, Systemtheorie und der Begriff der Beobachtung. In: Kommunikation und Differenz: Systemtheoretische Ansätze in der Literatur und Kunstwissenschaft. Hg. von Henk de Berg und Matthias Prangel. Opladen 1993, S. 183-202. Armin Nassehi: Kommunikation verstehen. Einige Überlegungen zur empirischen Anwendbarkeit einer systemtheoretisch informierten Hermeneutik. In: Sutter (Hg.): Beobachtung verstehen. Verstehen beobachten, S. 135-163. Ulrich Nassen (Hg.): Texthermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik. Paderborn u.a. 1979. Barbara Naumann (Hg.): Die Sehnsucht der Sprache nach der Musik. Texte zur musikalischen Poetik um 1800. Stuttgart 1994. Harald Nehr: Ein schweigender Hermes. Zur Krisis einer epistemologischen Fragestellung um 1800. In: Krisen des Verstehens um 1800. Hg. von Sandra Heinen und Harald Nehr. Würzburg 2004, S. 9-20. Gerhard Neumann: Ideenparadiese. Untersuchungen zu Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976. —, Günter Oesterle: Einleitung. In: Bild und Schrift in der Romantik. Hg. von Gerhard Neumann und Günter Oesterle. (= Stiftung für Romantikforschung, 6). Würzburg 1999, S. 9-26. Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Göttingen 1986. Günster Oesterle: Arabeske. In: Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe 1, S. 272286. — : Das Faszinosum der Arabeske um 1800. In: Goethe und das Zeitalter der Romantik. Hg. von Walter Hinderer. (= Stiftung für Romantikforschung, XXI.) Würzburg 2002. — : »Kunstwerk der Kritik« oder »Vorübung zur Geschichtsschreibung?«. Form- und Funktionswandel der Charakteristik in Romantik und Vormärz. In: Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. Hg. von Wilfried Baner. Stuttgart 1990, S. 64-86. — : Von der Peripherie ins Zentrum. Der Aufstieg der Arabeske zur prosaischen, poetischen und intermedialen Reflexionsfigur um 1800. In: Busch, Maisak (Hg.): Verwandlung der Welt, S. 29-36. — : Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente. Kontroverse Formprobleme zwischen Aufklärung, Klassizismus und Romantik am Beispiel der Arabeske. In: Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert. Hg. v. Herbert Beck et al. (Frankfurter Forschungen zur Kunst, 11.). Berlin 1984, S. 119-140. Peter L. Oesterreich: Spielarten der Selbsterfindung. Die Kunst des romantischen Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling. (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, 139). Berlin, New York 2011. Walter J. Ong: From Mimesis to Irony: The Distancing of Voice. In: The Bulletin of the Midwest Modern Language Association 9.1 (1976), S. 1-24.

8. Bibliographie

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Lektüre als Form

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Lektüre als Form

— : Form, Information, Potentiale. In: Just not in Time. Inframedialität und non-lineare Zeitlichkeiten in Kunst, Film, Literatur und Philosophie. Hg. von Ilka Becker, Michael Cuntz und Michael Wetzel. (Mediologie, 20). München 2011, S. 221-248. Christian Sinn: Soziologie der Unbegrifflichkeit: Schleiermacher, Simmel, Luhmann. In: Todorow, Landfester, Sinn (Hg.): Unbegrifflichkeit, S. 17-32. Peter Sloterdijk: Luhmann, Anwalt des Teufels. Von der Erbsünde, dem Egoismus der Systeme und den neuen Ironien. In: Burckhardt (Hg.): Luhmann Lektüren, S. 91158. Alfred Smudits u.a.: Kunstsoziologie. München 2014. Carlos Spoerhase: Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830. Göttingen 2018. — : Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buchs in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne. (= Ästhetik des Buchs, 8). Göttingen 2016. — : Der Plan. Über die literarische Form komplexer Systeme um 1800. In: Koschorke (Hg.): Komplexität und Einfachheit, S. 181-202. Klaus Städtke: Form. In: Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe 2, S. 462-49. Georg Stanitzek: Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive. In: Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Hg. von Ursula Rautenberg. Berlin 2010, S. 156-200. Georg Stanitzek: Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung. In: Jäger, Stanitzek (Hg.): Transkribieren. Medien/Lektüre, S. 7-18. Jacob Steiner: Aether der Fröhlichkeit. Zur Frage nach einer dichterischen Ironie aus Anlass eines Buches von Beda Allemann. In: Orbis Litterarum 13.1 (1958), S. 64-80. Susan Leigh Star: This is Not a Boundary Object: Reflections on the Origin of a Concept. In: Science, Technology, & Human Values 35.5 (2010), S. 601-617. Uwe Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den frühen Schriften Walter Benjamins. Würzburg 1989. — : Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Schlüsseltexte der kritischen Theorie. Hg. von Axel Honneth et al. Wiesbaden 2006, S. 108-112. — : »Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren.« Kunst, Religion und Politik in Walter Benjamins Kritik der Romantik. In: Walter Benjamin und die romantische Moderne. Hg. von Heinz Brüggemann und Günter Oesterle. Würzburg 2009, S. 83-104. — : Kommentar. In: Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Hg. von Uwe Steiner. (= Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3). Frankfurt a.M. 2008., S. 165-397. Moritz von Stetten: Verfremdungsspiele. Zur Unterscheidung von vier Formen des systemtheoretischen Denkens. Weilerswist 2018. Rudolf Stichweh: Niklas Luhmann. Theoretiker und Soziologe. In: ders. (Hg.): Niklas Luhmann. Wirkungen eines Theoretikers, S. 61-69. — (Hg.): Niklas Luhmann. Wirkungen eines Theoretikers. Gedenkkolloquium der Universität Bielefeld am 8. Dezember 1998. Bielefeld 1999. Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität. In: Das Gespräch. Hg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning. (= Poetik und Hermeneutik, XI). München 1984, S. 139-150.

8. Bibliographie

— : Text als Handlung und Text als Werk. In: Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch. (= Poetik und Hermeneutik, IX). Hg. von Manfred Fuhrmann, Hans Robert Jauß und Wolfhart Pannenberg. München 1981, S. 551-560. —, Rainer Warning (Hg.): Das Gespräch. (= Poetik und Hermeneutik, XI). München 1984. — : Vorwort. In: dies. (Hg.): Das Gespräch, S. I-II. Martin Stingelin: Schreibwerkzeuge. In: Binczek, Dembeck, Schäfer (Hg.): Handbuch Medien der Literatur, S. 99-118. — : »Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.« Die poetologische Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche. In: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Hg. von Sandro Zanetti. Berlin 2012, S. 283-304. Ingo Stöckmann: Die Zeit der Geselligkeit und der Text der Systemtheorie. Über Unbegrifflichkeit bei Schleiermacher und Luhmann. In: Todorow, Landfester, Sinn (Hg.): Unbegrifflichkeit, S. 51-70. — : »Überhaupt stammt der Strukturalismus ja aus Deutschland.« Zur theoriegeschichtlichen Bedeutung der formalen Ästhetik im 19. Jahrhundert. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und Wissenschaften 19.1 (2016), S. 88-135. Barbara Stollberg-Rilinger: Politische und soziale Physiognomie des aufgeklärten Zeitalters. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band II: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. Hg. von Notker Hammerstein und Ulrich Herrmann. München 2005, S. 1-32. Werner Strube: Über verschiedene Arten, den Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hg. von Fotis Jannidis et al. Tübingen 1999, S. 135-155. Henry Sussmann: Around the Book. Systems and Literacy. New York 2011. Tilmann Sutter (Hg.): Beobachtung verstehen, Verstehen beobachten. Perspektiven einer konstruktivistischen Hermeneutik. Opladen 1997. — : Einleitung. Beobachten und Verstehen – eine überwundene Differenz? In: ders. (Hg.): Beobachtung verstehen, Verstehen beobachten, S. 11-31. Thomas Alexander Szlezák: Gespräche unter Ungleichen. Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge. In: Literarische Formen der Philosophie. Hg. von Gottfried Gabriel und Christiane Schildknecht. Stuttgart 1990, S. 40-61. Władysław Tatarkiewicz: Geschichte der sechs Begriffe Kunst, Schönheit, Form, Kreativität, Mimesis, ästhetisches Erlebnis. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese. Frankfurt a.M. 2003. Gunter Teubner: Drei persönliche Begegnungen. In: Stichweh (Hg.): Niklas Luhmann. Wirkungen eines Theoretikers, S. 19-25. Bianca Theisen: Chaos. Die frühromantische Poetik der komplexen Form. In: Grenzwerte des Ästhetischen. Hg. von Robert Stockhammer. Frankfurt a.M. 2002, S. 23-43. — : Chaos-Ordnung. In: Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe 1, S. 751-771. Barbara Thums: Religion – Kunst – Lebenskunst. Romantische Tendenzen aufs Unendliche. In: von Bormann (Hg.): Romantische Religiosität, S. 19-44.

369

370

Lektüre als Form

Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser: Editorischer Bericht. In: Walter Benjamin: Abhandlungen. Teilb. 1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Gesammelte Schriften, Bd. I.1.), S. 749-796. Almut Todorow, Ulrike Landfester, Christian Sinn (Hg.): Unbegrifflichkeit. Ein Paradigma der Moderne. (= Literatur und Anthropologie, 21). Tübingen 2004. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Hg. von Bettina Clausen und Dieter Haselbach. (= Kritische Ferdinand Tönnies Ausgabe, 2.) Berlin/New York 2019. Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. 12 Bände. Darmstadt 19942015. Jan Urbich: Darstellung bei Walter Benjamin. Die ›Erkenntniskritische Vorrede‹ im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne. Berlin, Boston 2012. Paul Valéry: Die beiden Tugenden des Buchs. In: ders.: Zur Ästhetik und Philosophie der Künste. Hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt. (= Werke, 6). Frankfurt und Leipzig 1995, S. 476-471. Silvio Vietta: Die Romantisierung der Diotima. Friedrich Schlegels Lucinde und die Philosophie der weiblichen Geselligkeit. In: Matuschek (Hg.): Wo das philosophische Gespräch, S. 125-135. Klaus Vieweg: Philosophie des Remis. Der junge Hegel und das ›Gespenst des Skepticismus‹. (= jena-sophia. Studien und Editionen zum deutschen Idealismus und zur Frühromantik, Abt. 2, Bd. 4). München 1999. Rahel Villinger: Form und Mimesis. Elemente frühromantischer Kunsttheorie bei Husserl, Benjamin und Adorno. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunsttheorie 60.2 (2015), S. 277-298. Wilhelm Voßkamp: Der Roman des Lebens. Zur Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman. Berlin 2009. Nikolaus Wegmann: Schlegels intellektuelle Konversion. Eine Skizze. In: Figuren der Konversion. Friedrich Schlegels Übertritt zum Katholizismus im Kontext. Hg. von Winfried Eckel, Nikolaus Wegmann. (= Schlegel-Studien, 5). Paderborn u.a. 2014, S. 148-159. Nikolaus Wegmann: Philologische Selbstreflexion. Die Frage nach der disziplinären Einheit. In: Wissenschaft und Nation. Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. München 1991, S. 113-126. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989. — : Historische Einleitung zur literaturwissenschaftlichen Hermeneutik. Tübingen 1975. Michael Weitz: Die romantische Arabeske als ›Klartext‹. In: Kotzinger, Rippl (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, S. 263-270. David Wellberry: Die Ausblendung der Genese. Grenzen der systemtheoretischen Reform der Kulturwissenschaften. In: Koschorke, Vismann (Hg.): Widerstände der Systemtheorie, S. 19-28. — : Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800. In Morphologie und Moderne: Goethes ›Anschauliches Denken‹ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800. Berlin u.a. 2014, S. 17-42.

8. Bibliographie

— : Selbstbezüglichkeit und Ursprünglichkeit der Form. In: Klammer et al. (Hg.): Formbildung und Formbegriff, S. 181-200. Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003. — : Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen 1992. Burkhard Wessel: Captatio Benevolentiae. In: Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2, Sp. 121-123. Waltraud Wiethölter: Witzige Illumination. Studien zur Ästhetik Jean Pauls. Tübingen 1979. — : Ursprünglicher Gedanken Refrain – Wiederholung. Zum Phänomen früh-romantischer Zyklik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 75 (2001), S. 587-656 Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer. München 1997. Frank Wörler: Das Symbolische, Das Imaginäre und das Reale. Lacans drei Ordnungen als erkenntnistheoretisches Modell. Bielefeld 2015. Sandro Zanetti: Auratische Theorie: Walter Benjamin. In: Mersch, Sasse, Zanetti (Hg.): Ästhetische Theorie, S. 75-93. Christoph Zeller: Mythologie. In: Endres (Hg.): Friedrich Schlegel-Handbuch, S. 319-321. Ulrike Zeuch: Das Unendliche. Höchste Fülle oder Nichts? Zur Problematik von Friedrich Schlegels Geist-Begriff und dessen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen. Mainz 1990. Jure Zovko: Friedrich Schlegel als Philosoph. Paderborn 2010. — : Witz, Ironie. In: Endres (Hg.): Friedrich Schlegel-Handbuch, S. 309-312. Paul Zumthor: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. Aus dem Französischen von Klaus Thieme. (= Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 18). München 1994.

8.3.

Sonstige Quellen

Niklas Luhmann: Beobachter im Krähennest. Luhmann zur Ökologie-Debatte. Bericht von Thomas Strauch. Fernsehreihe »Philosophie heute« (Westdeutscher Rundfunk Köln/WDR/West 3, 1989). Online abgerufen unter: https://www.youtube.com/ watch?v=_kcdOKeBlns.

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Erste Seite des Prologs .......................................................... 139 Abbildung 2: Diagramm in Schlegels Transcendentalphilosophie ............................... 203 Abbildung 3: Filmstill, Minute 26:00 ........................................................... 264 Abbildung 4: Soziale Systeme/Themenplan. ................................................... 328 Abbildung 5: Einführung des Kulturkalküls .................................................... 331

Literaturwissenschaft Werner Sollors

Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen September 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1

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Literaturwissenschaft Renata Cornejo, Gesine Lenore Schiewer, Manfred Weinberg (Hg.)

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Claudia Öhlschläger (Hg.)

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Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11. Jahrgang, 2020, Heft 1 August 2020, 226 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-4944-4 E-Book: PDF: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4944-8

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