Fremdheitsfähig werden: Zur Bedeutung der Selbstsorge für die Begegnung mit Fremdem 9783495820681, 9783495490983


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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Umwendung zum Selbst – Verortung und Herleitung
1.1 Verortung der Umwendung zum Selbst
1.2 Herleitung: Ein Fall grenzüberschreitender Fremderfahrungen
1.2.1 Einführung und Kontextualisierung: Truth and Reconciliation in Kanada
1.2.2 Falldarstellung: Schilderung der Szene
1.2.3 Der Fall als Herleitung und Begründung der Selbstsorge
2. Reflexionen zur Methode
2.1 Phänomenologie der Erfahrung und die Begründung der Methode aus dem Leben
2.2 Umsetzung in der Untersuchung oder: Wie zeigt sich die Methode?
3. »Dichte Beschreibung« des Falls: Aufgaben für die Selbstsorge
3.1 Motive der Fremdheitserfahrung der Inuk
3.1.1 Die Schande der »primitiven« Herkunft – das Selbst ohne Grund und Boden
3.1.2 Die finstere Macht unerledigter Verletzungserfahrungen
3.1.3 Das Geheimnis der transgenerationellen Übertragung
3.1.4 Leibhaftige Spuren von Fremdem im Selbst
3.2 Die Erfahrung des Fremden im Selbst der Polizisten
3.2.1 Uniform und Mensch – Rolle und Person
3.2.2 Normalität und Normierung – Ordnung und Unordnung
3.2.3 Von der Ohnmacht zur Macht
3.3 Die Fremdheitserfahrung der »unbeteiligten« Beobachter
3.3.1 Einbruch in das Eigene: Zwischen Faszination und Bestürzung
3.3.2 Zwischenleibliche Resonanz und Interaffektivität
3.3.3 Grenzverlust und Grenzen – Moral oder was man tun sollte …
3.4 Ertrag der Studie: Anknüpfungspunkte der Selbstsorge
4. Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem
4.1 Fremdes im Selbst und die Begegnung mit dem Schatten
4.1.1 Vom Bewusstsein und dessen Gewahrnis des Unbewussten
4.1.2 Schattenbegegnung und Wege der Individuation
4.1.3 Heilung durch Wahrsprechen und die Selbstsorge als Therapie
4.2 Dialogizität und Zwischen statt Ordnung und Klarheit
4.2.1 Der zwischenmenschliche Dialog, das Hören und die Transformation des Selbst
4.2.2 Das Selbst als Dialog
4.3 Selbst(e) & Kultur(en) – Möglichkeiten der Selbstkultivierung
4.3.1 Plurale Kulturen – Polyphonie des Selbst
4.3.2 Inneres und äußeres Bedeutungsgewebe
4.3.3 Zur Praxis der Selbstkultivierung
4.4 Leiblichkeit (er)leben – Körpererfahrung und Körperbegegnung
4.4.1 Leiberfahrung und Körperbewusstsein
4.4.2 Zwischenleiblichkeit und Interaffektivität
4.5 Epimeleia Heautou: Philosophie als Selbstsorge
4.5.1 Sokrates und die unerhörte Aufforderung zur Selbstsorge
4.5.2 Selbstsorge als Übungspraxis zwischen Freiheit und Disziplin
4.5.3 Selbstsorge und die Priorität des Anderen
5. Versuch eines Resümees
5.1. Zur Notwendigkeit spannungsreicher Zwischenräume
5.2 Bildung zwischen Eigenem und Fremdem
5.3 Phänomenologie als Praxis der Selbstsorge
Persönliches Nachwort
Literatur
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Fremdheitsfähig werden: Zur Bedeutung der Selbstsorge für die Begegnung mit Fremdem
 9783495820681, 9783495490983

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Barbara Schellhammer

Fremdheitsfähig werden Zur Bedeutung von Selbstsorge für den Umgang mit Fremdem

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820681

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B

Barbara Schellhammer Fremdheitsfähig werden Zur Bedeutung von Selbstsorge für den Umgang mit Fremdem

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Barbara Schellhammer

Fremdheitsfähig werden Zur Bedeutung von Selbstsorge für den Umgang mit Fremdem

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Barbara Schellhammer Becoming »Alien-able« The Importance of Selfcare for the Encounter with Otherness The intuitive starting-point of the book has been the realization that people are not learning to deal well with otherness by gaining competencies or knowledge about another culture. We are not becoming »alien-able« through solely focusing on the otherness of the other trying to handle or grasp it. Rather, these endeavors aim at overcoming one’s own insecurities. Therefore, the core argument of the book is that we ought to concern us with ourselves when we experience alienating situations; we ought to care for ourselves. Barbara Schellhammer begins her phenomenological investigation of some key motives for the practice of self-care with a concrete scenario in which people weren’t able to deal well with a disturbing situation. Here, the encounter with unconscious shadow-parts of the self, inter-bodily experiences, culture as practice to find meaning and the ability to question oneself play a significant role. The book contests the common – and politically highly problematic – idea that identity and the stranger are opposing dimensions of personal and societal life. Thus, it presents an important contribution to current socio-political realities.

The Author: Barbara Schellhammer is born in 1977. She got her Social Work degree in 2001 and received her PhD in Philosophy in 2009. In 2018 she finished her Post-Doc work (Habilitation). Since 2019 she has been Professor for Intercultural Social Transformation at the Munich School of Philosophy. Her research focuses on questions of cultural and intercultural philosophy, conflict transformation and peace studies.

https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Barbara Schellhammer Fremdheitsfähig werden Zur Bedeutung von Selbstsorge für den Umgang mit Fremdem Ausgangspunkt des Buchs ist die Einsicht, dass Menschen nicht durch den Erwerb von Kompetenzen oder durch das Wissen über eine andere Kultur fremdheitsfähig werden. Fremdheitsfähigkeit wird nicht dadurch erreicht, dass die Andersartigkeit des Anderen behandelt und damit begreifbar wird. Denn all dies dient vielmehr dem Zweck, die eigene Verunsicherung zu bewältigen. Deshalb gilt es, so die Kernthese des Buchs, sich angesichts verstörender Fremdheitserfahrungen mit sich selbst zu befassen. Ausgehend von der phänomenologischen Beschreibung der konkreten Situation einer mehrfach misslungenen Fremdheitserfahrung untersucht Barbara Schellhammer einige Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem. Dabei spielen die Auseinandersetzung mit unbewussten Schattenregionen des Selbst, zwischenleibliche Körpererfahrungen, die Kultur als Praxis sinnstiftender Verortung und die Fähigkeit, sich selbst in Frage stellen zu lassen, eine besondere Rolle. Das Buch widerlegt die übliche – und politisch höchst wirksame – Vorstellung, dass Identität und Fremdheit rivalisierende Dimensionen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens sind, und leistet damit auch einen wichtigen gesellschaftspolitischen Beitrag.

Die Autorin: Barbara Schellhammer, Jahrgang 1977, hat nach dem Studium der Sozialen Arbeit 2009 in Philosophie promoviert und sich 2018 in Hildesheim habilitiert. Seit 2019 ist sie Professorin für Intercultural Social Transformation an der Hochschule für Philosophie in München. Sie forscht und schreibt zu Fragen der Kulturphilosophie, der Interkulturalität und der Friedensbildung.

https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © Peter Hoffmann-Schoenborn Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49098-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82068-1

https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

für Wolfgang

Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein. Friedrich Nietzsche

https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die Umwendung zum Selbst – Verortung und Herleitung 1.1 Verortung der Umwendung zum Selbst . . . . . . . . 1.2 Herleitung: Ein Fall grenzüberschreitender Fremderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Einführung und Kontextualisierung: Truth and Reconciliation in Kanada . . . . . . . 1.2.2 Falldarstellung: Schilderung der Szene . . . . . 1.2.3 Der Fall als Herleitung und Begründung der Selbstsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Reflexionen zur Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Phänomenologie der Erfahrung und die Begründung der Methode aus dem Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Umsetzung in der Untersuchung oder: Wie zeigt sich die Methode? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»Dichte Beschreibung« des Falls: Aufgaben für die Selbstsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Motive der Fremdheitserfahrung der Inuk . . . . . 3.1.1 Die Schande der »primitiven« Herkunft – das Selbst ohne Grund und Boden . . . . . . 3.1.2 Die finstere Macht unerledigter Verletzungserfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Das Geheimnis der transgenerationellen Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Leibhaftige Spuren von Fremdem im Selbst . 3.2 Die Erfahrung des Fremden im Selbst der Polizisten 3.2.1 Uniform und Mensch – Rolle und Person . .

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3.

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. 90 . 97 . 101 . 101 9

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Inhaltsverzeichnis

3.2.2 Normalität und Normierung – Ordnung und Unordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Von der Ohnmacht zur Macht . . . . . . . . . . . 3.3 Die Fremdheitserfahrung der »unbeteiligten« Beobachter . 3.3.1 Einbruch in das Eigene: Zwischen Faszination und Bestürzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Zwischenleibliche Resonanz und Interaffektivität . 3.3.3 Grenzverlust und Grenzen – Moral oder was man tun sollte … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Ertrag der Studie: Anknüpfungspunkte der Selbstsorge . 4. Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem . . 4.1 Fremdes im Selbst und die Begegnung mit dem Schatten . 4.1.1 Vom Bewusstsein und dessen Gewahrnis des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Schattenbegegnung und Wege der Individuation . 4.1.3 Heilung durch Wahrsprechen und die Selbstsorge als Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Dialogizität und Zwischen statt Ordnung und Klarheit . 4.2.1 Der zwischenmenschliche Dialog, das Hören und die Transformation des Selbst . . . . . . . . . . . 4.2.2 Das Selbst als Dialog . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Selbst(e) & Kultur(en) – Möglichkeiten der Selbstkultivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Plurale Kulturen – Polyphonie des Selbst . . . . . 4.3.2 Inneres und äußeres Bedeutungsgewebe . . . . . 4.3.3 Zur Praxis der Selbstkultivierung . . . . . . . . . 4.4 Leiblichkeit (er)leben – Körpererfahrung und Körperbegegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Leiberfahrung und Körperbewusstsein . . . . . . 4.4.2 Zwischenleiblichkeit und Interaffektivität . . . . . 4.5 Epimeleia Heautou: Philosophie als Selbstsorge . . . . . 4.5.1 Sokrates und die unerhörte Aufforderung zur Selbstsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Selbstsorge als Übungspraxis zwischen Freiheit und Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Selbstsorge und die Priorität des Anderen . . . . .

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106 111 114 114 118 122 128 130 130 132 147 165 184 186 207 228 232 242 263 278 283 300 314 318 333 350

Inhaltsverzeichnis

5. 5.1. 5.2 5.3

Versuch eines Resümees . . . . . . . . . . . . . . . Zur Notwendigkeit spannungsreicher Zwischenräume Bildung zwischen Eigenem und Fremdem . . . . . . Phänomenologie als Praxis der Selbstsorge . . . . .

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Persönliches Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur

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Einleitung

Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Einsicht, die über viele Jahre im Kontext interkultureller Forschung und Bildung, vor allem in konkreten Fremdheitserfahrungen in der kanadischen Arktis und in Afrika gewachsen ist. Sie besteht darin, dass die Fremdheitsfähigkeit einer Person nicht durch Methoden oder Kompetenzen als »psychotechnische Optimierungsprogramme« (Gelhard 2012, 10) erworben werden kann. Fremdheitsfähigkeit kann auch nicht durch das Errichten von Ordnungen und Typologien oder durch fixe Zuschreibungen und Gesetze gewährleistet werden. Kurz: sie wird nicht dadurch erreicht, dass die Andersartigkeit des Anderen 1 »begrenzt«, »behandelt« oder »verstanden« wird. All dies hat vor allem den Zweck, die eigene Unsicherheit in den Griff zu bekommen. 2 »Die Grenze zum Anderssein liegt nicht im anderen, sondern in jedem selbst«, schreibt Evelyn Roll (2015, 49). Die Fokussierung auf Kompetenzen und Zuschreibungen begrenzt, denn sie ermöglicht keine Auseinandersetzung, die Spuren im Eigenen hinterlässt, d. h. transformativ oder bildend wirkt. Karl Jaspers, in gewissem Sinne Experte für Grenzerfahrungen, rät, wir sollten auf Grenzsituationen »nicht durch Plan und Berechnung« reagieren, um sie zu überwinden, sondern durch »das Werden in der uns möglichen Existenz […], indem wir in die Grenzsituation offenen Auges eintreten« (Jaspers 1956, 204). Fremdheitsfähigkeit erwächst aus einer Umwendung zum Selbst und zwar in Formen der Selbstsorge und Selbstkultivierung. Bei der Verwendung der männlichen sowie der weiblichen Form sind selbstverständlich immer alle Geschlechter gleichermaßen gemeint. 2 Ein anschauliches Beispiel dafür konnte man vor einiger Zeit in der Süddeutschen Zeitung lesen. Christoph Möllers setzt sich hier mit der Diskussion um ein Burkabzw. Niqab-Verbot auseinander. Seinem Eindruck nach bestünde der Zweck eines solchen Verbots vor allem darin, »unser Unwohlsein an der Burka loszuwerden, also einer sehr unangenehm erscheinenden Wirklichkeit ihre Sichtbarkeit zu nehmen« (Möllers 2016, 10). 1

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Einleitung

Dabei spielt die Auseinandersetzung mit Erfahrungen des Außerordentlichen, Unheimlichen und Unfassbaren in einem selbst, die bewusste Begegnung mit Fremdem im Selbst, eine besondere Rolle. Die Frage, die sich im Anschluss daran insbesondere für die interkulturelle Bildung stellt, ist, wie diese Arbeit an sich selbst gelingen kann: Welche Formen geistiger, aber auch emotionaler und körperlicher Übungen bieten sich an, um die Fremdheitsfähigkeit einer Person zu entwickeln? Die Rede von der »Umwendung zum Selbst« soll jedoch ebensowenig wie die enge Fokussierung auf die Andersartigkeit des Anderen, einseitigen Thesen das Wort reden, als wären Fremdheitserfahrungen vornehmlich Spiegelungen einer Art subjektivistischer oder gar solipsistischer Selbsterfahrung. Fremdes hat seinen eigenen Stand, es lässt sich durch das Selbst weder vereinnahmen noch auf es reduzieren. Es geht hier gerade nicht um eine Funktionalisierung des Fremden zugunsten der Etablierung eines bestimmten Selbstverhältnisses. Im Zentrum steht vielmehr das Selbst als Antwort auf einen Anspruch, der ihm immer schon zuvorkommt. Zudem ereignet sich jede menschliche Begegnung in einem Zwischenreich 3. Sie sprengt die Grenzen des Eigenen, das immer schon durch Anderes gebildet wird und von Fremdem durchwachsen ist. Mit Erfahrungen dieser mehrfachen Entgrenzung gilt es umgehen zu lernen – mehr noch, es geht darum, sie als Voraussetzung von Bildungsmöglichkeiten überhaupt wahrzunehmen. Christoph Wulf führt aus: Wenn die Frage nach dem Anderen die Frage nach dem Eigenen und die Frage nach dem Eigenen die Frage nach dem Anderen beinhaltet, dann sind Prozesse interkultureller Bildung auch Prozesse der Selbstthematisierung und Selbstbildung. Wenn sie gelingen, führen sie nicht nur zur Einsicht in die Nicht-Verstehbarkeit des Fremden. Sie bewirken auch Selbstfremdheit. (Wulf 1999, 69–70)

»Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden«, schreibt Emmanuel Lévinas (2007, 120). Auch wenn Lévinas die Erfahrung dieses Rätsels positiv deutet, scheint es ein Grund3 Vgl. Bernhard Waldenfels (1971, XI-XIII), der erläutert, die Rede von einem Zwischenreich deute auf den intermediären Charakter des Dialogs hin, »in dem zwischen uns zustande kommt, was keiner für sich zustände brächte.« Es wäre die »Gleichursprünglichkeit von Eigenem und Fremdem«, so fährt er fort, die das Zwischenreich begründen. Der Einzelne muss sich dem Anspruch dieser wechselseitigen Verbundenheit stellen, sie als solche begreifen und sich entsprechend verhalten.

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Einleitung

bedürfnis des Menschen zu sein, es lösen zu wollen. Denn der Zustand des Wachgehaltenwerdens bedeutet inneren Aufruhr, Verletzlichkeit und kraftraubende Präsenz. Es impliziert, Momenten der Selbstfremdheit, der Nichtwissenheit und der Unberechenbarkeit ausgeliefert zu sein. Es bedeutet auch, nicht zu einer umfassenden Erkenntnis oder zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen und Fremdes einreihen zu können in eine Ordnung und Gesetzmäßigkeit, die Klarheit schafft, sodass Ruhe einkehrt. Die Begegnung kann eine zutiefst verstörende Erfahrung der Ohnmacht sein, denn nicht ich habe die Rätselhaftigkeit im Griff, sondern sie mich. Auf der anderen Seite, und das hat Lévinas hier im Sinn, ist gerade dieses Rätselhafte anziehend und aufregend – wir suchen es, um dem Leben Spannung zu verleihen. Dabei liegt der Ursprung der rätselhaften Erfahrung nicht allein im Anderen, sie geht nicht nur vom Anderen aus, sie ist vor allem eine Erfahrung des Selbst – und auch das Bedürfnis, das Rätsel zu lösen oder es in der Schwebe zu halten, ist im Selbst verankert. Dennoch machen Menschen vornehmlich die Fremdartigkeit des Anderen für das eigene Erleben verantwortlich, sie scheint »das Problem« 4 zu sein, anstatt dem Rätsel in sich selbst auf die Spur zu kommen. Dies hatte und hat fatale Folgen für den Umgang mit Menschen, die einem fremd sind. Der Versuch, die Rätselhaftigkeit aufzulösen, kann auf einer Bandbreite von Idealisierung bis hin zur Vernichtung von Fremdem verschiedene Formen annehmen und hat dementsprechend auch unterschiedliche Konsequenzen – und zwar für alle Beteiligten. Es geht hier deshalb nicht darum, Theorien, Methoden und Techniken zu entwickeln, die helfen könnten, das Rätsel der Fremdheit zu lösen oder ihm noch trickreicher auf die Schliche zu kommen. Es geht vielmehr um das, was Lévinas mit dem »Wachgehaltenwerden« meint. Es geht um ein Wachsein für das eigene Denken und Meinen, für die eigenen emotionalen, leibhaftigen Regungen und für die bewussten und unbewussten Handlungen, die daraus resultieren. Damit ist vor allem die bewusste Reflexion und aufmerksame Empfindsamkeit für fremde Facetten des Selbst gemeint, die meine

4 W. E. B. DuBois (1994, 1) schreibt von seiner Erfahrung als black folk, er schildert Momente, wo er das Gefühl hat, als wollten ihn die Leute fragen, wie es sich anfühlt, »ein Problem« zu sein. Ohne jemals darauf direkt zu antworten, reflektiert er: »[B]eing a problem is a strange experience – peculiar even for one who has never been anything else.«

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Einleitung

Handlungsfreiheit immer wieder anfechten (vgl. Lévinas 2007, 202). Denn ich kann es gut meinen und das Beste wollen, mich engagieren und interkulturell weiterbilden, vielleicht viel über eine andere Kultur wissen, und dennoch bahnt sich in der Konfrontation mit Fremdem ein Gefühl und ein Verhalten den Weg, das ich so nicht wollte. Hinsichtlich der Wachsamkeit sich selbst gegenüber gab und gibt es in der Philosophie zahlreiche Anregungen, die sich mit Begriffen wie Selbstsorge, Selbstkultivierung oder Selbstbildung verbinden, die in ihrer Übung und Praxis zu einer Lebenskunst werden. Diese betrifft das gute Leben, d. h. es geht um ein ethisch wertvolles Leben, das sich am Wohl anderer messen muss und in der zwischenmenschlichen Gemeinschaft gründet. Die Gründung in zwischenmenschlichen Erfahrungen bedeutet, dass es zumindest im Verständnis vorliegender Untersuchung nicht um konkrete Ziele, Vorstellungen des Guten oder festgelegte Ethiken, also um eine bestimmte »Kunst« geht, sondern vielmehr um die permanente Auseinandersetzung, die selbst zur Übung wird und gerade dazu führt, für diese Auseinandersetzung befähigt zu werden. Es geht also auch um die Frage, wie die Aufgeschlossenheit Fremdem gegenüber kultiviert, wie die Impertinenz des spannungsgeladenen Andersseins ausgehalten, vielleicht sogar in eine offene und »wachsame« Neugierde verwandelt werden kann. Die der Untersuchung zugrundeliegende Motivation und ihr erkenntnisleitendes Ziel sind es, Wege der Selbstzuwendung zu erkunden und Möglichkeiten zu entdecken, sie beschreiten zu können, sie als eine Art Lebenspraxis zu kultivieren. Damit ist die Hoffnung verbunden, Fremdem auf eine Weise begegnen zu können, die gemeinsames Wachstum und Selbstbildung ermöglicht. Es geht um die Entwicklung der Fremdheitsfähigkeit einer Person. Ein zentraler Schlüsselbegriff dabei ist »Fremdes«, das, so zeigt die sozialphilosophische Debatte der letzten Jahre, nicht einfach nur »Anderes« ist. 5 Eine präzise begriffliche Unterscheidung ist vor allem deshalb wichtig, um die Brisanz und Intensität der Fremdheitserfahrung ins Bewusstsein zu bringen. Denn Fremdes ist nicht etwa bloß eine »Variante des Eigenen« oder eine »potentiell auf Eigenes rückführbare Abweichung«, sondern es unterscheidet sich »als dasjenige, was jenseits einer Grenze als das Ausgeschlossene liegt« (Bedorf

5

vgl. Röttgers 1997; Röttgers 2002, 273–278; Därmann 2005; Bedorf 2007.

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Einleitung

2007, 23). Wenn man also die beiden Begriffe »Fremdes« und »Anderes« nicht klar trennt und stattdessen auf einer Art Kontinuum ansiedelt, ist Fremdes bloß ein Anderes, das nur noch etwas mehr anders oder fremder ist, d. h. noch weiter weg vom Eigenen liegt. Im Gang der Untersuchung zeigt sich allerdings, dass eine völlig einwandfreie Unterscheidung zuweilen schwer ist, was bereits daran liegt, dass unterschiedliche Autoren und Autorinnen die Bezeichnungen teils synonym verwenden bzw. mit dem einen Wort die Bedeutung des anderen meinen. So spricht beispielsweise Lévinas in Die Spur des Anderen von dem Anderen als dem an sich selbst Anderen, d. h. nicht bezogen auf ein anderes Selbst und trifft somit eher das, was Autoren wie Kurt Röttgers oder Bernhard Waldenfels mit »Fremdem« meinen. Auch wenn ich bei meinen Ausführungen deshalb vielleicht begrifflich nicht immer ganz klar differenziere, halte ich mich prinzipiell an die wichtige Feststellung Waldenfels’ (2016, 20–21), dass sich »[d]ie Fremdheit einer anderen Sprache, einer anderen Kultur, die Fremdheit des anderen Geschlechts oder die des ›anderen Zustands‹ […] keineswegs darauf [reduziert], daß etwas oder jemand sich als verschieden erweist.« [H. B. S.] Denn bei der Erfahrung von Fremdheit gibt es keine vermittelnde Metaperspektive, die eine Verschiedenheit feststellen könnte, sondern nur eine tiefe Kluft zwischen Eigenem und Fremdem, die Waldenfels immer wieder als unüberbrückbare Diastase oder als eine Schwelle beschreibt. (vgl. Waldenfels 1997, 21; 2015, 24) Fremdes ist also auch nicht bloß ein »alter ego«, es liegt vielmehr außerhalb des eigenen Bereichs. »[Es] ist nicht einfach anderswo, es ist das Anderswo.« [H. i. O.] (Waldenfels 1997, 26) Fremdes markiert eine Grenze, die eine asymmetrische Beziehung beschreibt. Insofern wird die Fremderfahrung immer auch zur Grenzerfahrung, die die Selbstverständlichkeit des gewohnten Lebens auf die Probe stellt und äußerst bedrohlich wirken kann. Deshalb wohl plädiert Kurt Röttgers (2012, 316) für eine »Kultivierung des Umgangs mit der Grenze, mit Abgrenzungen und mit den Ereignissen der Übergänge«. Diese könne aber nicht bedeuten, Fremdheit in bloße Andersheit aufzulösen, was beispielsweise beim sog. »Fremdverstehen« der Fall ist, das grundsätzlich davon ausgeht, dass Fremdes ein Defizit darstellt, »was wir zwar noch nicht kennen, was aber auf seine Erkenntnis wartet und an sich erkennbar ist« [H. i. O.] (Waldenfels 1997, 26). Man solle daher eher von einem »Fremd-Gehen« der Vernunft sprechen, meint Röttgers (2012, 137), wenn sie sich auf die Erfahrungen des 17 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Einleitung

Fremden einlässt, und liegt damit ganz auf einer Linie mit den Bemühungen dieses Buches. Der Aufbau der Untersuchung stellt sich wie folgt dar: Zunächst wird die impulsgebende Annahme der Notwendigkeit einer Umwendung zum Selbst spezifischer verortet. Diese kann auch als eine Art Umschlagplatz beschrieben werden: von der einseitigen Fokussierung auf die Bewältigung von Fremdheit hin zu einer selbst-bewussten Wahrnehmung dessen, was in einem vorgeht, wenn man mit Fremdem konfrontiert wird. Die Verortung dient der Klärung dessen, auf was es in der Folge der Untersuchung ankommt, nämlich auf die Wahrnehmung der Vielschichtigkeit und Rätselhaftigkeit des Selbst sowie dessen Dynamiken und Entwicklungspotential im Sinne der Selbstkultivierung. In einem weiteren Schritt wird die Herleitung dieser Intuition im Rückblick auf eine konkrete Erfahrung nachgezeichnet und verdeutlicht. Bei diesem Schlüsselereignis, »das sich nicht vergisst«, weil es Sinn stiftet, eine Geschichte eröffnet und zu Antworten herausfordert (vgl. Waldenfels 2016, 63), geht es um den Fall eines mehrfach negativen Umgangs mit Fremdheit und seinen Auswirkungen, die sich in verschiedensten Facetten zeigen. Die geschilderte Szene dient später zugleich als Fallstudie, die im Sinne der dichten Beschreibung interpretiert und so für das weitere Vorgehen nutzbar gemacht wird. Ziel dabei ist es, anhand von drei verschiedenen Perspektiven, d. h. von den unterschiedlichen Erfahrungshorizonten beteiligter Personen, zentrale Motive der Selbstzuwendung herauszuarbeiten. Anders formuliert könnte man sagen, dass aus dem Knäuel an Verstrickungen unterschiedlichster intra- und interpersonaler Auseinandersetzungen mit Fremdheit einige Fäden herausgezogen werden, die später als Aufgaben oder Motive für die Selbstsorge aufgegriffen werden. Dieses »Herausziehen« erfolgt durch die Interpretation dessen, was sich in der Studie zeigt und vor allem wie es sich zeigt, was beobachtet und beschrieben werden kann. Methodisch steht die Erfahrung im Mittelpunkt, nicht eine bestimmte theoretische Idee oder eine exakte Vorstellung davon, wie sich die Argumente entwickeln und aufeinander aufbauen sollen. Es geht darum, »wahrnehmend über den Bereich des Wörtlichen in die eigentliche Welt des Nichtwörtlichen, des Erfahrbaren, aber nie zureichend Sagbaren vorzudringen« (Mitscherlich 1954, 10). Bereits die ausschlaggebende Intuition für die Suche nach einer Praxis der Selbstkultivierung entsprang der Erfahrung und dem Nach-denken 18 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Einleitung

bzw. -spüren darüber, was sich in der realen Auseinandersetzung mit Fremdem zeigte. Dies wird anhand erwähnter Fallstudie verdichtet und konkretisiert. Die Rede von den »Fäden«, die als Motive oder Ausschnitte aus der gesamten Erlebniswirklichkeit beteiligter Personen herausgelöst werden, verdeutlicht, dass es sich dabei nur um Facetten handelt, die etwas aufzeigen, aber nicht abschließend erklären möchten. Dies entspricht auch voll einer Situation, bei der es um Fremdheitserfahrungen geht, die sich per se dadurch auszeichnen, dass sie eben nie gehabt oder fein säuberlich seziert werden können – und die uns darüber hinaus noch im Wege stehen, die Welt unverstellt und klar zu sehen. Ronald D. Laing liefert hier mit seiner Phänomenologie der Erfahrung wertvolle Hinweise. Auch das sich zyklisch vollziehende phänomenologisch-hermeneutische Vorgehen der dichten Beschreibung von Clifford Geertz (1983), der sich als Ethnograf sein Leben lang dezidiert mit Fremdheit auseinandergesetzt hat, wird Anwendung finden. Hilfreich und inspirierend zugleich sind zudem die Ausführungen von Max van Manen (2014) in seiner Phenomenology of Practice, in der er vor allem der Bedeutung menschlichen Handelns (lived meaning) auf die Spur kommen will. Auch er betont die Bedeutung der Wachsamkeit für vortheoretische Erfahrungen: »Wakefulness requires that we constantly try to work in the tension between the theoretic and what lies outside of it.« (ebd., 14) Eine Phänomenologie der Praxis ist nicht nur deshalb wichtig, weil sie anknüpfen kann und will an Erfahrungen und diese zum ernstzunehmenden Ausgangspunkt wissenschaftlicher Untersuchungen macht, sondern sie will auch für die Praxis schreiben und arbeiten. D. h. sie will Einsichten ans Licht bringen, die konkret hilfreich sein können für das Leben (und nicht nur für »die Wissenschaft«). Denn es ist zweifelhaft, »daß der Intellektuelle mit seinem Buchwissen und seiner akademisch-gelehrten Forschung allein die wirklichen Probleme der Gesellschaft, in der er lebt, formulieren kann« (Foucault 1996a, 101). Das phänomenologische Nachdenken und Schreiben über das Erlebte verändert bereits, man könnte sagen, es hat transformative oder »kultivierende« Wirkung – und es zielt darauf ab, Gedanken entwickeln zu können, die im konkreten zwischenmenschlichen Handlungsvollzug wirksam werden. Dies ist gerade für das hier angestrebte Ziel, der Entdeckung von Möglichkeiten der Selbstkultivierung, von enormer Bedeutung. Die Unabschließbarkeit der Erfahrung, die als Erkenntnisgegenstand zunächst einen so großen Raum einnimmt, bringt es mit sich, 19 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Einleitung

dass die Methode »weich« sein muss, d. h. sie wird durch ihre Anwendung auf die Sachfrage entwickelt und geformt. »Eine Phänomenologie der Erfahrung«, so Waldenfels (1997, 19), »steht und fällt mit der Voraussetzung, daß Sachverhalt und Zugangsart nicht voneinander zu trennen sind.« Dies gilt in besonderer Weise für den Versuch, sich mit Fremdheitserfahrungen zu befassen, die sich per se als solche nicht fassen lassen. Insofern wird es hier nicht nur aufschlussreich sein, sich mit der Sache zu beschäftigen, sondern auch mit der Methode, die diese in ihrer prinzipiellen Unverfügbarkeit zu beschreiben versucht. 6 Ermutigend bei diesem methodisch offenen Vorgehen ist Michel Foucault, der ohne Scheu erläutert, ihm sei, wenn er ein Buch beginne, nie klar, was er bei seiner Vollendung denken würde, er wisse nicht einmal, welche Methode er verwende: Jedes meiner Bücher ist eine Weise, einen Gegenstand zu konturieren und eine Methode zu seiner Analyse zu erfinden. Ist meine Arbeit beendet, so kann ich – gewissermaßen im Rückblick – aus der soeben gemachten Erfahrung eine methodologische Reflexion entwickeln, welche die Methode herausarbeitet, der das Buch hätte folgen sollen. (Foucault 1996a, 25) 7

Die aus der Fallstudie erwachsenen Motive, die aus einem zunächst völlig verwickelten Durcheinander komplexer Zusammenhänge zunehmend Gestalt gewinnen, werden in einem weiteren Schritt aufgegriffen, um der Frage nachzugehen, wo die Sorge um sich selbst konkret ansetzen könnte und welche Themen dabei eine Rolle spielen. Denn die Untersuchung soll nicht bei einer Phänomenologie des Fremden (vgl. Bernhard Waldenfels) oder bei einer Beschreibung

Wie sehr sich eine Methode gerade durch ihre Anwendung auf eine konkrete Sachfrage selbst herausschält und sich beide, Methoden- und Sachfrage gegenseitig erhellen, zeigt Rolf Elberfeld (2004) eindrucksvoll in seiner Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. 7 Seine Bücher seien für ihn Erfahrungen, erklärt Michel Foucault (1996a, 24): »Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht. Wenn ich ein Buch schreiben sollte, um das mitzuteilen, was ich schon gedacht habe, ehe ich es zu schreiben begann, hätte ich niemals die Courage, es in Angriff zu nehmen. Ich schreibe nur, weil ich noch nicht so genau weiß, was ich von dem halten soll, was mich so sehr beschäftigt. […] Ich bin ein Experimentator [kein Theoretiker] in dem Sinne, daß ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor.« An anderer Stelle erklärt er: »Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war. Wenn Sie ein Buch beginnen und wissen schon am Anfang, was Sie am Ende sagen werden, hätten Sie dann noch den Mut, es zu schreiben?« (Foucault 1993, 15) 6

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Einleitung

möglicher Ausdrucksweisen der Fremdheitserfahrung im Selbst (vgl. Julia Kristeva) enden. Sie möchte vielmehr daran anknüpfen und der Frage nachgehen, wie die Fremdheitsfähigkeit einer Person durch eine Lebenspraxis der Selbstsorge kultiviert werden kann. Dieser Teil stellt das Herzstück der Arbeit dar. Methodisch zeigt sich dabei, dass die Suche nach Antworten unweigerlich transdisziplinär, d. h. in einem dichten Wechselspiel von Philosophie, (Sozial-)Psychologie und (Kultur-)Anthropologie stattfinden wird, »denn die Begegnung mit dem Fremden und das dafür notwendige Instrumentarium […] kann kein Wissenschaftszweig allein erstellen« (Sundermeier 1996, 8). In den letzten Jahren zeichnet sich immer mehr ab, dass eine klare Grenze zwischen den Disziplinen, vor allem bei Problemstellungen, die eben nicht an diesen Grenzen haltmachen, weder eingehalten werden kann, noch Sinn macht, wenn man die Komplexität und Vielschichtigkeit (zwischen-) menschlicher Erfahrungen ernst nimmt. 8 Die Untersuchung führt zu keinem abschließenden Ergebnis – gerade darin zeigt sich ihr wichtigstes Ergebnis. Denn die Spannung zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Bekanntem und Unbekanntem, muss jeder Mensch selbst aushalten und sich selbst darin üben. Fremdheitsfähigkeit drückt sich genau in dieser Fähigkeit aus, Spannungen nicht nur hinzunehmen oder erfolgreich zu bewältigen, sondern diese in den verschiedenen Erfahrungsbereichen menschlichen Lebens bewusst zu kultivieren. Hier schält sich ein Verständnis von (interkultureller) Bildung heraus, das nicht im Sinne klar definierter »Lernziele« bestimmt werden kann, sondern sich immer wieder eigenen Grenzen in der Wechselwirkung von Ich und Welt aussetzt. Einige Gedanken dazu werden am Ende als Versuch eines Resümees aufgegriffen. Als letzter Punkt wird dabei auch noch einmal pointiert auf das methodisch offene Vorgehen im Gang der Untersuchung Bezug genommen. Denn hier zeigt sich, dass die Phänomenologie einer kontinuierlichen Praxis der Selbstsorge bedarf und als solche zu einem unverzichtbaren Bestandteil für die Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit wird.

8 Vgl. hier exemplarisch die Einführung von Wolfgang Müller-Funk (2016) in Theorien des Fremden, die Fremdheit dezidiert als »transdisziplinäres Paradigma« (ebd., 29 ff.) verstanden wissen will. Auch Joachim Renn und Jürgen Straub (2002, 29) betonen im Zusammenhang der Bearbeitung des Identitätsproblems die »besonders sinnvolle Interdisziplinarität«.

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Einleitung

Am Ende meiner Einleitung und zu Beginn des Buchs darf nicht unerwähnt bleiben, dass mir sehr wohl bewusst ist, bei meiner Untersuchung eine Engführung vorzunehmen. Durch die Fokussierung auf die Fremdheitserfahrung einer Person richtet sich meine Hauptaufmerksamkeit nicht auf die verhängnisvollen Dynamiken struktureller Gewalt und gesellschaftspolitischer Vorgaben, die unweigerlich zu Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten – und damit häufig auch zu entsprechenden Gegenreaktionen – führen. Es sollte aber durchgehend deutlich werden, dass die personale Erfahrung von Fremdheit sowie der Umgang damit immer eingebettet sind in Strukturen und Dispositive, die bestimmte Gruppen besser oder schlechter stellen, ein- und ausgrenzen und damit auch Fremdheitserwartungen wecken, die häufig fehl am Platze sind. Dies wird aktuell an der Befestigung und Militarisierung europäischer Außengrenzen deutlich, die nötig erscheinen, um sich nach innen vor allem hinsichtlich der eigenen Identität durch die Aus- und Abgrenzung von Anderen und Fremden selbst zu vergewissern. Dabei produzieren politische Maßnahmen der Grenzziehung und Exklusion in paradoxer Weise gerade jene Fremden, vor denen sie zugleich vorgeben, schützen zu wollen. 9 Auch die Fallstudie, die gewissermaßen den Dreh- und Angelpunkt meiner Ausführungen darstellt, bzw. das Handeln der darin vorkommenden Personen ist nur zu verstehen als ein Resultat politischer Entscheidungen, die in konkreten Formen von impersonaler Herrschaft und gesellschaftlichem Zwang auf diese einwirken und zu verheerenden sozialen Pathologien führen. Ich möchte also gerade nicht einer Entpolitisierung des »Fremdheitsproblems« das Wort reden oder gar die Last der Veränderung auf die Schultern einzelner Individuen legen, zumal diese oft noch die Leidtragenden unterdrückerischer Strukturen sind. Dies wäre für einen nachhaltigen sozialen Wandel ebenso wenig zielführend wie eine einseitige Pädagogisierung des »Integrationsproblems«. Hier ist die Politik nicht aus der Pflicht zu nehmen, die, ganz im Gegenteil, auf gesellschaftlicher Ebene Mitsprachemöglichkeiten und gleichbeDiese wichtige Analyse verdanke ich Andreas Hetzel, vgl. hier auch dessen Ausführungen zur Gewaltausübung durch Grenzen. Bezugnehmend auf Foucault schreibt er: »Das Dispositiv der Grenze kontrolliert nicht einfach nur Subjekte und ihre Praktiken, sondern bringt Subjekte hervor, weist ihnen einen Ort innerhalb einer bestimmten realen wie symbolischen Ordnung zu. Die Grenze produziert vor allem Zugehörigkeit und Ausschluss, ein Wir und damit zugleich diejenigen, denen der Zugang zu diesem Wir verwehrt bleibt.« [H. i. O.] (Hetzel 2016, 11–12)

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Einleitung

rechtigte Begegnungsräume schaffen muss, damit sich eine Praxis der Partizipation – und gerade auch der Kontroversen und des Streits – etablieren kann, die letztlich die Basis für eine gelebte Demokratie darstellt, ja, diese Demokratie sogar selbst ist. Dass es jedoch häufig auch auf Individuen ankommt, ihre Rechte mutig und entschlossen einzufordern und sich damit gegen herrschaftliche Unterdrückungsmechanismen aufzulehnen, zeigt die Geschichte eindrücklich an zahlreichen Beispielen. Ohne also diese einflussreichen gesellschaftspolitischen Strukturen ausblenden zu wollen, sondern sie vielmehr im Hintergrund immer mitzudenken, richte ich in der Folge meiner Ausführungen das »Spotlight« auf inter- sowie intrapersonale Dynamiken, weil mich, wie eingangs bereits erwähnt, vor allem die Frage bewegt hat, warum Menschen unterschiedlich auf Fremdes reagieren und ob man so etwas wie »Fremdheitsfähigkeit« lernen kann. Dass es dafür mehr bedarf, als nur eine Umwendung zum Selbst, steht außer Frage.

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1. Die Umwendung zum Selbst – Verortung und Herleitung

Das erste Kapitel bestimmt die der Untersuchung zugrundeliegende Einsicht näher, dass die Fremdheitsfähigkeit einer Person nicht vornehmlich mit eigens zu erwerbenden Kompetenzen oder einer besonderen Fähigkeit des Fremdverstehens zu tun hat, sondern vor allem aus einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der Erfahrung einer unergründlichen, manchmal auch unberechenbaren Eigensinnigkeit des Selbst resultiert, die gerade dann zutage tritt, wenn jemand mit Fremdheit konfrontiert wird. Dies soll auf zwei Weisen geschehen: Erstens wird der Ort der Umwendung zum Selbst mit Hilfe eines stark vereinfachenden Modells spezifiziert und skizzenhaft näher erläutert. Damit wird zugleich die Zielrichtung der weiteren Überlegungen angezeigt sowie das Thema näher bestimmt und begrenzt. Zweitens wird die Herleitung dieser »nachträglichen Einsicht« (hindsight vs. insight) aufgezeigt, die auch eine Art Begründung für diese Einsicht liefert. »Nachträglich« meint, dass sie sich vor allem zurückführen lässt auf zunächst unreflektierte Erfahrungen. 10 Entsprechend erfolgt die Herleitung der Intuition anhand der Schilderung des konkreten Falls eines gescheiterten Umgangs mit Fremdheit während der Truth and Reconciliation Hearings in Inuvik, Nordkanada im Jahr 2011. 11 Welche Bedeutung die nachträgliche Reflexion einer Erfahrung für die Erkenntnisgewinnung hat, zeigt Clifford Geertz in seinem Buch After the Fact (dt., Spurenlesen). Er schreibt: »The after-the-fact, ex post, life-trailing nature of consciousness generally – occurrence first, formulation later on – appears in anthropology as a continual effort to devise systems of discourse that can keep up, more or less, with what, perhaps, is going on.« (Geertz 1995, 19) Ähnlich betont Mark Freeman (2010) in Hindsight, es gebe eine Art von »›lateness‹ that characterizes the human condition, a delay or deferral in seeing and understanding, such that it can only occur after the fact, after the passage of time, when the air of the present moment has cleared – that is, in hindsight.« (Freeman 2016, 9) 11 Der offizielle Bericht der Anhörungen erschien im Dezember 2015. (vgl. TRC 2015) 10

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Verortung der Umwendung zum Selbst

1.1 Verortung der Umwendung zum Selbst Die Fremdheitsfähigkeit bzw. -unfähigkeit sich selbst oder einem anderen Menschen gegenüber kann unterschiedliche Formen annehmen, sich auf verschiedene Weisen zeigen. Diese lassen sich heuristisch vereinfacht als konzentrische Kreise (unten als Rechtecke) darstellen. Es handelt sich dabei aber nicht um stufenlos verstellbare Grade, die sich etwa als unterschiedliche »Kompetenzlevels« bestimmen ließen. Sie beschreiben vielmehr ein bestimmtes Verhältnis von Eigenem und Fremdem, das diverse Erlebens- und Verhaltensmöglichkeiten hervorbringt. Die Grenzen zwischen den einzelnen Ebenen sind nicht starr und abschließend, sondern situations- und kontextabhängig, offen und fließend – sie scheinen jedoch in den äußeren Schichten unbeweglicher und undurchlässiger zu werden. Insofern gibt es auch Mischformen und dynamische Prozesse, welche die Weise des Umgangs mit Fremdheitserfahrungen je nach beteiligten Personen, Situation und Kontext ändern. Negation von Fremdem: Mit Fremdem … Fremdes … Der Andere … Begegnung mit Fremdem im Selbst.

Fremdheitsunfähigkeit Behandlung des Anderen Umwendung zum Selbst

Sorge um sich selbst

ist fremd für mich. … verstehen. … »kompetent« umgehen. Ablehnung – Assimilation/Auflösung – Xenophobie

»Ripple-Effekt«

Abb. 1: Ort der Umwendung zum Selbst

In den äußeren Schichten finden sich Formen, die den Anderen in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken bzw. wo es in erster Linie um die »Behandlung« des fremden Anderen geht. Hier reicht das Spektrum von der Negation von Fremdem, die zur Ablehnung, zum Versuch der Auflösung oder sogar in Fremdenhass umschlagen kann, über den »kompetenten« Umgang mit Fremdem, der auf Techniken

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Die Umwendung zum Selbst – Verortung und Herleitung

und typologische Vorstellungen von Kultur 12 zurückgreift, bis hin zum Ziel, Fremdes zu verstehen. Dazwischen gibt es eine ganze Reihe von Formen der Idealisierung und Romantisierung von Fremdheit. Auch die aktuell viel diskutierten Maßnahmen der Integration oder Inklusion könnte man zwischen den einzelnen Ebenen ansiedeln, bzw. können sie je nach Ausrichtung Aspekte aus allen Ebenen beinhalten. All diese Umgangsformen lassen sich exemplarisch an unterschiedlichen theoretischen Strängen und darauf fußenden »Methoden« zum Umgang mit Fremdem nachzeichnen, auf die hier nicht vertieft eingegangen werden soll. Einige Beispiele seien dennoch kurz genannt – auch um die Bedeutung der Umwendung zum Selbst herauszustellen. Menschenverachtende Theorien zur Begründung der Ablehnung oder sogar Vernichtung von allem, was nicht zur eigenen Ordnung passt, finden sich in nationalsozialistischen Rassenlehren oder in kolonialistischen Ausführungen, wie mit »Wilden« zu verfahren sei. Davon zeugen auch Berichte von wissenschaftlichen Untersuchungen indigener Menschen, die als exotische Wesen aus einer fernen Welt in Europa zur Schau gestellt wurden. 13 Es waren vor allem Vertreter der interkulturellen Philosophie, die auf den tiefsitzenden Eurozentrismus westlicher Philosophietraditionen hinwiesen, indem sie zeigten, wie diese durch ihre Geisteshaltung einem rassistischen und evolutionistischen Zeitgeist Vorschub leisteten. 14 Assimilationspolitische Maßnahmen beriefen sich auf die vermeintliche Notwendigkeit, »unterentwickelte«, primitive Kulturen zu zivilisieren und sie auf den Stand der zivilisatorischen Entwicklung Europas zu bringen. Auch wenn rassistische Vorstellungen längst abgelehnt und deren verheerende kulturelle, gesellschaftliche und psychosoziale Folgen intensiv erforscht wurden (vgl. Postcolonial Studies), spielen sie dennoch, in der Regel unterschwellig und unbewusst, nach wie vor eine Rolle im Umgang mit betroffenen Menschen. Vgl. hier das viel zitierte »Kugel«-Modell von Kultur, das i. d. R. (allerdings nur bedingt richtigerweise) auf Johann Gottfried Herder zurückgeführt wird, oder auch der ebenso intensiv diskutierte wie kritisierte Kampf der Kulturen von Samuel Huntington. Im Trainings- und Ausbildungsbereich werden zudem die Konzepte von Geert Hofstede (Kulturdimensionen) oder Alexander Thomas (Kulturstandards) stark gemacht. 13 vgl. Dreesbach 2005 14 vgl. bspw. Kimmerle 2002 (v. a. 41 ff.), Wimmer 2004 (v. a. 53 ff.), Yousefi/Mall 2005 (v. a. 11 ff.). 12

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Verortung der Umwendung zum Selbst

Die Vermittlung von »Kompetenzen« für einen guten Umgang mit »dem Fremden« ist das Ziel zahlreicher theoretischer Abhandlungen und methodischer Handreichungen eine Ebene weiter. Vor allem im Bereich der interkulturellen Pädagogik gibt es mittlerweile eine unüberschaubare Vielfalt an Ansätzen, die überaus kontrovers und zunehmend kritisch diskutiert werden. Ziel einer Mehrzahl dieser Bemühungen ist es, entweder Ausländer so zu bilden, dass sie sich gut in die Mainstream-Gesellschaft integrieren können, oder Inländer »fit« zu machen für den Umgang mit Menschen fremdkultureller Herkunft, indem sie entsprechende Kompetenzen vermittelt bekommen. 15 Häufig steht hier im wahrsten Wortsinn der gewinnbringende Austausch im Vordergrund, denn es geht um ökonomische Interessen im In- und Ausland. Dazu gehört, dass auch Firmen »lernen« 16, Diversity Management zu betreiben, um das Potential der Vielfalt richtig nutzen zu können. 17 Schulungen zur interkulturellen Kompetenz versprechen Werkzeuge zur Bewältigung von Fremdheit, sie vermitteln den Eindruck, dass es möglich sei, Schwimmen zu lernen, ohne dabei nass zu werden. Das Lernen über die anderen ersetzt die befremdliche Auseinandersetzung mit ihnen. Ein problematischer Nebeneffekt dabei ist jedoch, dass sich die Gräben der Unterschiede noch vertiefen. Erst wenn man sich Fremdem und dem eigenen Befremden wirklich aussetzt, findet eine echte Annäherung statt und es vollzieht sich ein Verstehen, das weit über theoretisches Fachwissen und Kommunikationstechniken hinausgeht. Nicht nur der fachlich kompetente Umgang, sondern vor allem das »Verstehen« des Anderen steht im Zentrum der Bemühungen auf der nächsten, noch einmal tieferliegenden Ebene, wobei dieses im Rahmen der interkulturellen Kompetenz auch in »Lernzielen« wie kultureller Sensibilität, Fremdverstehen oder Empathie-Fähigkeit eingefasst ist. Ein Vertreter, der in diesem Zusammenhang eine prominente Rolle spielt und mittlerweile als Klassiker gilt, ist Theo SunEine »kleine« Auswahl einschlägiger Literatur ist: Hamburger 1994, Hofstede 1997, Thomas 1996, Dreyer/Hößler 2003, Holzbrecher 2004, Mecheril 2004, Auernheimer 2007, Bolten 2007, Otten/Scheitza 2007, Straub/Weidemann/Weidemann 2007, Weidemann/Straub/Nothnagel 2010, Gogolin/Krüger-Potratz 2010, Hamburger 2012, Aydt 2015; eine Übersicht über weitere Literatur findet sich in Schellhammer 2017, 112 ff. 16 vgl. Senge 2006 17 vgl. bspw. Fons 1993, Stuber 2009, Thomas 2001, Trompenaars 1993, Becker/Seidl 2006, Bendl/Hanappi-Egger/Hofmann 2002. 15

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Die Umwendung zum Selbst – Verortung und Herleitung

dermeier (1996) mit seinem Buch Den Fremden verstehen. Zu Recht siedelt er das Verstehen »ganz unten« als langwierigen Lernprozess an, denn allzu oft begnügen sich Menschen in einer kompliziert und undurchsichtig gewordenen Welt mit einfachen Erklärungen »über« die Anderen, an die sie sich klammern. Sie geben sich nicht länger damit ab, mühsam »das Verstehen einzuüben« (ebd., 14). Sundermeiers These, dass das Verstehen des Fremden die Basis gelingender Fremdbegegnungen darstellt, ist jedoch auch kritisch zu betrachten – ohne damit die vielen wichtigen Aspekte einer »praktischen Hermeneutik« über Bord zu werfen. Das Verstehen darf nämlich nicht beim Verstehen des Anderen enden. 18 An dieser Stelle ist Sundermeier nur noch bedingt zuzustimmen, wenn er als Kernthese seiner Arbeit behauptet, dass die Selbstreflexion in der Begegnung mit dem Fremden überwunden werden muss, »weil sie dort mehr Schaden anrichtet als Hilfestellung zum Verstehen bietet.« (ebd., 10) Ganz im Gegenteil soll in der Folge gezeigt werden, dass die Fremdheit des Selbst genauso wenig »überwunden« werden kann und darf wie die Fremdheit des Anderen und dass ein Fremdverstehen nur gelingen kann, wenn auch das Selbstverstehen kultiviert wird. Sundermeier hat natürlich Recht damit, dass die Begegnung mit Fremdem nicht »als Umweg zur Selbstfindung mißbraucht werden [darf]«, sie »darf nicht der Identitätsfindung dienen [das tut sie allerdings automatisch!], sondern setzt Identitäten voraus.« (ebd., 10–11) Die in der Folge näher zu bestimmende Umwendung zum Selbst geht über die »unausweichliche Selbstreflexivität unseres Denkens und Handelns« (ebd.) hinaus, die Sundermeier als Grundlage psychologischer Deutung von Fremdheitserfahrungen kritisiert. Außerdem möchte sie kritisch über das eigene Bedürfnis, den Anderen verstehen zu wollen, reflektieren. Denn: »Nicht der Anspruch, den Anderen zu verstehen, sondern die Man dürfe sich im Umgang mit Fremdheit nicht an ontische Bezugsgrößen klammern, mahnt auch Jürgen Straub (2010, 86). Denn die »bedrohende Erfahrung des Entzugs des Anderen und Fremden sowie die Erfahrung des Selbstentzugs […] widerstreitet all unseren Versuchen zu verstehen. Sie nimmt solchen Versuchen nichts von ihrem Wert und untergräbt keineswegs ihre Notwendigkeit, konfrontiert uns aber mit den unüberwindbaren Grenzen des Verstehens und des eigenen Selbst. Wer das vergisst, wird in interkulturellen Trainings und anderen Maßnahmen zur Förderung interkultureller Kompetenz, die allesamt auf der empirischen Erforschung kultureller Unterschiede aufbauen, eine meistens nur vage und schemenhaft zu Bewusstsein kommende Erfahrung unterschlagen und vergessen machen – ohne sie dadurch aus dem Erleben von Menschen und ihrer alltäglichen Handlungs- und Lebenspraxis entfernen zu können.« [H. B. S.]

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Verortung der Umwendung zum Selbst

Erkenntnis, daß der Andere different und nicht verstehbar ist, muss zum Ausgangspunkt interkultureller Bildung werden.« (Wulf 1999, 61) Diese Erfahrung, so erläutert Christoph Wulf (vgl. ebd.), sei jedoch schwer auszuhalten und führe zu einem Umdenken innerhalb der interkulturellen Bildung, denn alle Ansätze, denen es nur um das kompetente »Behandeln« und Verstehen des Anderen geht, führen nicht weit genug. Die Selbstsorge beschreibt eine solche Weise des Umdenkens. Dabei geht es nicht darum, im Fremden »nur uns selbst zu suchen und das Fremde […] nur als das Fremde in uns selbst zu sehen«, so wie Sundermeier (1996, 11) das bemängelt. Der Andere ist der Andere und ich bin ich – es bringt wenig, sich entweder auf die Seite des Fremdverstehens oder auf die Seite der monologischen Selbsterkundung zu schlagen, beides muss zusammengedacht werden, es sind zwei Seiten eines Prozesses, die sich zwar unterscheiden, aber nicht trennen lassen – deswegen kann weder die eine noch die andere Seite je völlig verstanden (und damit »überwunden«) werden. Fremdes darf nicht auf »etwas Fremdes in mir« reduziert werden, genauso wenig wie das, was in mir passiert, allein auf die Fremdartigkeit des Anderen zurückgeführt werden kann. 19 Ein weiterer äußerst problematischer Aspekt des Verstehensansatzes sei hier noch erwähnt, den es gerade durch die Auseinandersetzung mit sich selbst zu überwinden gilt. Christoph Wulf bringt diesen zugespitzt mit der Formulierung einer »Wut des Verstehens« auf den Punkt. (vgl. auch Hörisch 1988) Er bezieht sich dabei auf die Anmaßung der europäischen Kultur, andere Völker und Menschen verstehen zu wollen. Dies aber nicht nur um »den Anderen in seiner Andersheit zu akzeptieren. Häufig wird Verstehen zu einem Mittel für die Ausübung von Herrschaft und zu dem Versuch, den anderen zu unterwerfen.« (Wulf 1999, 61) 20 Ähnlich argumentiert Paul Mecheril (2004, 127) wenn er herausstellt, »dem Verstehen wohnt eine Machtförmigkeit inne, die Mario Erdheim (2002, 44) schreibt dazu knapp: »Das Fremde existiert wirklich und autonom. Und man kann damit vertraut werden.« Ähnlich kurz und treffend bemerkt Jean-Paul Sartre (1991, 452) v. a. in kritischer Abgrenzung zu Husserl und Heidegger: »Man begegnet dem Anderen, man konstituiert ihn nicht.« Anderes als konkrete Anwesenheit ließe sich, so meint er, in keiner Weise von mir ableiten. Die Existenz des Anderen habe die Natur eines kontingenten und unreduzierbaren Faktums. (vgl. ebd.) 20 Vgl. Bernhard Waldenfels (1990, 60–61), der von »Aneignung als Bändigung der Fremdheit« spricht, die auf egozentrischen und logozentrischen, letztlich ethnozentrischen, Prämissen basiert. 19

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Die Umwendung zum Selbst – Verortung und Herleitung

in Situationen der Asymmetrie und Machtungleichheit […] noch einmal verstärkt wird.« Das Verstehen zielt auf die Auflösung der Fremdheit, letztlich auf Integration oder Assimilation, damit die eigene Verunsicherung bewältigt werden kann. Dieser Prozeß führt oft zur Zerstörung des Fremden. Denn als völlig Unbekanntes ist das Fremde weder sprachlich noch gedanklich faßbar; greifbar wird es erst, wenn es in etwas transformiert wird, das so strukturiert ist, daß es auch Momente des Vertrauten enthält. (Wulf 1999, 62)

Die Aussage »ich verstehe dich« kann einerseits natürlich empathisch bekunden, dass man versucht, sich in die Situation des Gesprächspartners zu versetzen, sie kann aber auch ignorant und überheblich wirken, denn sie ist immer auch eine Anmaßung, sie stellt mich über den Anderen. 21 Zugespitzt erklärt Sybille Krämer mit Lévinas, die Gewalt des Bösen nehme da ihren Ausgang »wo wir die Unverfügbarkeit, Unzugänglichkeit und Fremdheit anderer Menschen nicht respektieren« (Krämer 2005, 13). Deshalb plädiert Paul Mecheril (2004, 128) für die Annahme der »hermeneutischen Unzugänglichkeit des Anderen«, welche zum Ausgangspunkt der interkulturellen Begegnung werden soll, da so die Gefahr der Vereinnahmung durch das Verstehen verringert wird. Herfried Münkler und Bernd Ladwig (1997, 37) differenzieren dabei noch etwas, wenn sie auf einen kurzschlüssigen »Kategorienfehler« aufmerksam machen: »Es ist ein Unterschied, ob ich etwas verstehe oder ob ich mir etwas aneigne«. Insofern wäre es auch voreilig, alles Fremdverstehen mit der Vereinnahmung, Unterwerfung oder Zerstörung des Verstandenen gleichzusetzen: »Nicht alles, was wir verstehen, beherrschen wir auch,

21 In diesem Zusammenhang sei exemplarisch auf die »Writing Culture Debatte« verwiesen, die ethnografisches Schreiben kritisch in den Blick nahm und genau auf diese Anmaßung kulturanthropologischer Studien hinwies. Vgl. z. B. Geertz 1988, Clifford/ Marcus 1986, Fabian 1990, Lassiter 2001, Berg/Fuchs 1993. Die Aussage Sundermeiers (1996, 49) »Verstanden aber ist das Fremde nur, wenn es in seiner Besonderheit unangetastet bleibt […]« ist problematisch zu bewerten, denn das Fremde kann prinzipiell nicht verstanden werden – was nicht heißt, dass man in der Begegnung und Auseinandersetzung natürlich Einsichten und Erkenntnisse gewinnt: sowohl über sich selbst als auch über den anderen – diese müssen aber immer in der dialogischen Situation neu zur Disposition gestellt und kritisch geprüft werden, abschließend »verstanden« hat man hier nie. Paul Mecheril (2004, 128–129) beschreibt dies treffend mit der Verschränkung von Verstehen und Nicht-Verstehen, die immer auch die eigene »Selbstunvertrautheit« beinhalte, welche die Fremdheitserfahrung begleite und die ausgehalten werden müsse.

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Verortung der Umwendung zum Selbst

nicht alles, was wir begreifen, halten wir als unseren Besitz in Händen.« (ebd.) Bei alldem wird deutlich: Wir können dem eigenen Erleben und Empfinden, den eigenen Bedürfnissen ebensowenig ausweichen, wie der eigenen Haltung bezüglich des Ziels, welches wir mit einem wie auch immer gearteten Ansatz des Fremdverstehens verfolgen. Deshalb tut es not, sich mit sich selbst zu befassen, sich um sich selbst zu sorgen. Der Gedanke der Selbstsorge ist alles andere als neu. Genau genommen begann so mit Sokrates als dem »Meister der Selbstsorge« (Foucault 2015, 61) die Geschichte der westlichen Philosophie. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen darauf hinzuweisen, dass man nicht die Welt, wohl aber sich selbst kontrollieren kann. Die einseitige Bearbeitung der Andersartigkeit des Anderen greift zu kurz, um Fremdem besonnen begegnen zu können. Und dennoch scheint gerade diese »Außenperspektive« die Hauptstrategie der meisten Menschen zu sein – nicht zuletzt um Eigenes zu schützen, sich selbst nicht, oder nur innerhalb möglichst sicherer Grenzen, verändern zu müssen. Ronald D. Laing (1977a, 128) bemerkt dazu kritisch: »Unsere Zeit ist mehr als durch irgend etwas anderes gekennzeichnet durch den Drang, die äußere Welt zu kontrollieren, und durch eine fast totale Außerachtlassung der inneren Welt.« Dies führe dazu, dass wir von uns selbst entfremdet lebten, bildlich schreibt er: »Das Außen ohne Beleuchtung von innen befindet sich im Zustande der Dunkelheit. […] Der Zustand äußerer Dunkelheit ist ein Zustand der Entfremdung vom inneren Licht.« (ebd., 130) Diesen Gedanken aufgreifend liegt es nahe, beim Wort »Umwendung« an Platons Höhlengleichnis und auf den dort beschriebenen steinigen Weg der Erkenntnisgewinnung zu denken. In Anlehnung an Platons periagogische Denkfigur verweisen die letzten beiden Ebenen im Bild der konzentrischen Kreise auf einen mühsamen Bildungsprozess, der seinen Ausgang nimmt in der ungeschminkten Selbstbegegnung. Anders als im platonischen Verständnis geht es dabei jedoch nicht um ein rein rationales Erkennen höchster Ideen, sondern um eine alltägliche Praxis der Selbstkultivierung, die dem »Zustand der äußeren Dunkelheit« dadurch begegnen möchte, dass sie »den Zustand der inneren Entfremdung« reflektiert und hartnäckige Trugbilder aufdeckt und entlarvt. Platon beschreibt mit dem Bild der Umwendung der Seele eine Umkehr oder Neuorientierung des ganzen Menschen, die zu einem wahrhaftigeren Verhältnis zu sich selbst und der Welt führt und zu einem neuen Sehen 31 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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verhilft. 22 Es geht darum, die Perspektive zu wechseln, »nämlich von einer von den individuellen Leidenschaften beherrschten Sicht der Dinge zu einer Weltanschauung […], die von der Universalität und der Objektivität des Denkens bestimmt wird.« (Hadot 1991, 32) Bei der Rede von einer Umwendung des Selbst in Begegnungen mit Fremdheit liegt auch der Gedanke an Immanuel Kants Kopernikanische Wende nahe. Denn jedes menschliche Urteil über die Welt ist subjektgebunden, d. h. wir tappen im Dunkeln unserer eigenen egologischen Höhle, wenn wir nicht darüber nachdenken, wie wir durch Raum und Zeit, d. h. durch unsere sozio-kulturellen und geschichtlichen Bindungen geprägt sind, und mit Hilfe welcher Kategorien wir unsere Wahrnehmung wie einordnen, d. h. mit welchen Filtern wir Eindrücke von Fremdheit sortieren, zugleich reduzieren und begrifflich fassen. 23 Aber auch bei Kant bleibt die Selbstkultivierung in einer rationalistischen Engführung stecken. Platons universalistische Ideenschau verlagert sich in einen tiefen Glauben an die menschliche Vernunftbegabung, die alles Irrationale verdrängt. Die Umwendung zu einer Beschäftigung mit der »inneren Welt« um die es hier geht, nimmt jedoch eben diese Facetten des Selbst ernst, die Hartmut und Gernot Böhme (1983) nach Nietzsche und vor allem Freud »das Andere der Vernunft« nennen. Fremdheit sei ein relativer Begriff, schreibt Eva-Maria NasnerMaas (2000, 133), »der nur vom jeweiligen Erfahrungsstandort und der entsprechenden Wahrnehmungsperspektive zu verstehen ist.« 24 Insofern beginnt die erste Ebene der Selbstbegegnung mit der EinDazu lässt er Sokrates im Gespräch mit Glaukon zur »Kunst der Umlenkung der ganzen Seele« ausführen: »[D]ieses der Seele eines jeden einwohnende Vermögen und das Organ, womit jeder begreift, wie wenn ein Auge nicht anders als mit dem gesamten Leibe zugleich sich aus dem Finstern ans Helle wenden könne, so [muss] auch dieses nur mit der gesamten Seele zugleich von dem Werdenden abgeführt werden […], bis es das Anschauen des Seienden aushalten lernt.« (Politeia VII 106c) Alle hier verwendeten Platon-Quellen stammen aus Platon Sämtliche Werke Bd. 1, 2 und 3, übers. Friedrich Schleiermacher, hrsg. Ursula Wolf (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002). 23 Vgl. in der neueren Debatte um die Konstruktion von Wirklichkeit (Konstruktivismus) z. B. Maturana/Valera (2010): Der Baum der Erkenntnis oder Watzlawick (1997) (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. 24 Karl-Heinz Kohl (1993, 95) erklärt dazu in seinen Ausführungen zur Ethnologie als die Wissenschaft vom kulturell Fremden: »Der durch das Studium fremder Kulturen geschulte ethnologische Blick wirkt verfremdend, sobald er sich der eigenen Kultur zuwendet. Relationale ›Fremdheit‹ kann so in den Rang eines methodischen Prinzips erhoben werden.« Ethnologie sei, so führt er mit Merleau-Ponty fort, »eine 22

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sicht, dass es »den Fremden« an sich nicht gibt: der Andere »ist« fremd, weil er fremd für mich ist. Hier steht die Relationalität der Fremdheitserfahrung im Vordergrund, die »phänomenologisch als Perspektivität betrachtet werden [muß]« [H. i. O.] (Bracht 1994, 73). Denn die Fremdheitserfahrung ist immer situiert, raum- und zeitgebunden, d. h. »[n]ur von einem bestimmten Standpunkt aus erscheint eine Person oder Gruppe mehr fremd als vertraut« (ebd.). Noch einmal anders formuliert: »Fremdheit ist […] keine Eigenschaft von Dingen oder Personen, sondern ein Beziehungsmodus.« (Schäffter 1991, 12) 25 Demgemäß »scheint es nicht angebracht, Fremdes und Eigenes, oder auch Fremde und Heimat als binäre Oppositionen zu begreifen, sondern als Pole einer unaufkündbaren Relation und damit als Teil eines kulturellen Prozesses« (Müller-Funk 2016, 15). Das bedeutet aber nicht, dass die Fremdheitserfahrung eine rein subjektive Illusion oder gar Erfindung des Selbst wäre. Sie nimmt ihren Anfang in der tatsächlichen Begegnung, sie entspringt einem multidimensionalen Raum-Zeit-Kontext und umfasst auch das Gegenüber in seiner/ihrer Eigentlichkeit. Kant schreibt dazu an bekannter Stelle: Wenn ich sage: im Raum und Zeit stellt die Anschauung sowohl der äußeren Objecte, als auch die Selbstanschauung des Gemüths beides vor, so wie es unserer Sinne afficirt, d. i. wie es erscheint, so will das nicht sagen, daß diese Gegenstände ein bloßer Schein wären. Denn in der Erscheinung werden jederzeit die Objecte, ja selbst die Beschaffenheiten, die wir ihnen beilegen, als etwas wirklich Gegebenes angesehen, nur daß, so fern diese Beschaffenheit nur von der Anschauungsart des Subjects in der Relation des gegebenen Gegenstandes zum ihm abhängt, dieser Gegenstand als Erscheinung von ihm selber als Object an sich unterschieden wird [H. i. O.]. (Kant, KrV, B, 69) 26 Denkweise, die sich aufdrängt, wenn der Gegenstand ein ›anderer‹ ist und uns eine Wandlung unserer selbst abverlangt«. 25 Elke Bracht (1994, 73) betont, es sei ein Strukturmerkmal der Fremdheitserfahrung, dass sie relational bzw. multivalent sei und nicht eine Eigenschaft oder Disposition von jemandem oder von etwas per se. 26 Alle Kant-Zitate stammen aus der Akademie-Ausgabe. An dieser Stelle sei auf die einschränkende Kritik Merleau-Pontys an Kant (und Descartes) verwiesen, die besagt, dass das Subjekt nicht einfach so durch die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis transzendental aus der Welt aussteigen kann, sondern vielmehr permanent im Fluss des Einbezogenseins in diese steht. Reflexion hat stets »Ereignischarakter«: »Wahrnehmung ist nicht den Synthesen des Urteils […] zu assimilieren. In jedem Augenblick ist mein Wahrnehmungsfeld erfüllt von Reflexen, Geräuschen und Tasteindrücken flüchtiger Art, die dem wahrgenommenen Kontexte genau zu verbinden ich außerstande bin. […] Gehe ich, alle Dogmen des gemeinen

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Die Fremdheitserfahrung birgt jedoch eine Herausforderung der besonderen Art, da sie sowohl ontologische wie auch epistemologische Grenzen sprengt. Bernhard Waldenfels (1997, 25) erläutert dies mit der paradoxen Bestimmung Edmund Husserls, der »das Wesen des Fremden in der ›bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen‹ (Hua, Bd. I, S. 144)« verortet. Bezüglich der Relationalität von Eigenem und Fremden bedeutet das, dass eine gemeinsame Basis, ein möglicher Zugang, fehlt: »Das Fremde […] tritt auf in einer besonderen Art von Bezug, der durch einen gleichzeitigen Entzug charakterisiert ist, in einer Beziehung, die nicht auf ›Beziehungsfundamenten‹ ruht und deshalb, wie Levinas uns einschärft, eigentlich keine Beziehung darstellt.« (ebd., 27) Diese Tatsache erschüttert in besonderem Maße, weil es zunächst keine bekannten Formen gibt, wie überhaupt mit dieser Fremdheit eine Verbindung herzustellen sei, es gibt nichts, wo man ansetzten könnte. »Die Figur des Fremden widersetzt sich jedweder Substanzialisierung.« (Müller-Funk 2016, 16) Sie ist da, aber sie entzieht sich, sie ist gerade durch diesen Entzug. Hinsichtlich dessen, was eine Person in solchen außer-ordentlichen Situationen erlebt, kommt erschwerend hinzu, dass sie sich selbst nie völlig im Griff hat, denn sie ist durchdrungen und durchsetzt von Rückständen, Spuren und Nachklängen vorangegangener Erfahrungen. Diese scheinen zuweilen eine Art Eigenleben zu führen, sie unterliegen nur bedingt dem Willen und der bewussten Kontrolle, sie fordern uns heraus als Fremdes in uns selbst. 27 Diese »negative Präsenz« (Morgenthaler in: Erdheim 1984, 13) der Selbstfremdheit besteht ebenfalls in der paradoxen Erfahrung »der Anwesenheit des Anderen in mir, die mit einer Abwesenheit meiner selbst für mich Hand in Hand [geht].« (Waldenfels 1997, 30) So kann es vorkommen, dass ich mich auf eine Weise verhalte, dir mir selbst

Verstandes wie auch der Wissenschaft hinter mir lassend, zurück auf mich selbst, so ist, was ich finde, nicht eine Heimstätte innerer Wahrheit, sondern ein Subjekt, zugeeignet der Welt.« (Merleau-Ponty 1966, 6–7) 27 Es gibt zahlreiche prominente Versuche, diese innerpersonale Fremdheitserfahrung zu beschreiben. Zu den bekanntesten gehört wohl das »innere Ausland« oder das »Unheimliche« von Sigmund Freud. Aber auch Arthur Rimbauds »Ich ist ein Anderer« und Goethes »dunkeles Wesen« trifft diese Erfahrung. C. G. Jungs »Schatten« beschreibt den Ort des inneren Fremden. Julia Kristevas Fremde sind wir uns selbst ist mittlerweile ein Klassiker. Aber auch in der Literatur, wie z. B. in Hermann Hesses Steppenwolf oder in Albert Camus’ Der Fremde wird die Selbstentfremdung zum Thema.

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fremd ist, wo »etwas in mir« eigensinnig reagiert, wofür ich mich hinterher vielleicht sogar schäme. Der Andere ist also nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Individuums. Das im Ich internalisierte andere erschwert den Umgang mit dem äußeren Anderen. Denn aufgrund dieser Konstellation gibt es keinen festen Standpunkt diesseits oder jenseits des anderen. (Wulf 1999, 68)

Die beiden inneren Kreise der Grafik, die sich nicht in erster Linie um die Fremdartigkeit des Anderen sorgen und diese in den Griff bekommen wollen, sondern die Umwendung zum Selbst vollziehen, weisen darauf hin, dass die eigenen Wahrnehmungsweisen, Erfahrungshorizonte und innere unbekannte Teile die Außenwelt (aber auch sich selbst) zu befremden vermögen und entsprechendes Empfinden und Verhalten hervorrufen können. (vgl. Schäffter 1991, 7) Diese Herausforderung einer dynamisch-wechselwirkenden »doppelten Fremdheit« 28 ist es, die im Zentrum der weiteren Überlegungen steht. Damit ist auch die Umgrenzung der Aufgabe markiert bzw. die Perspektive, um die es hier gehen soll, angezeigt. Im Bild der konzentrischen Kreise, das eines der ältesten menschlichen Symbole darstellt und an vielen Orten in der Welt gefunden wurde, spielt der Mittelpunkt eine besondere Rolle, denn er hat Auswirkungen auf die äußeren Kreise. Veränderungen in der Mitte bewirken einen »RippleEffekt«, wie bei einem Stein, der ins Wasser geworfen wird und Wellen erzeugt. Die Umwendung zum Selbst hat transformierende Wirkung, die Beschäftigung mit sich selbst verändert – sie verändert auch den Umgang mit anderen. Welche mächtige Bedeutung »die Mitte« hat, zeigt sich auch im Negativbeispiel: Ärger, Wut oder Angst können ohne weiteres mühsam erlernte Kompetenzen oder Wissen über die andere Kultur und jedes noch so gut gemeinte Verstehenwollen mir nichts, dir nichts aushebeln. Dieser Punkt ist wichtig: denn die Sorge um das eigene Ich soll nicht zur Nabelschau 29 verkommen, sie soll nicht in sich selbst verBernhard Waldenfels (1997, 30) spricht von dem Antworten auf Fremdes als einem Doppelereignis, »an dem ich selbst ebenso beteiligt bin wie der Andere« – gemeint ist damit auch Anderes in mir. 29 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sowohl die berühmte Inschrift gnothi seauton, »Erkenne dich selbst«, als auch der omphalos, der »Nabel der Welt«, im antiken Delphi zu finden waren. Die Selbstsorge oder eine Haltung der Selbstkultivierung darf nicht mit einer rein rationalen Selbsterkenntnis gleichgesetzt werden, die oft eben genau zu dieser Nabelschau verkommt und dazu beiträgt, die Welt nur von diesem eigenen Mittelpunkt her (zentristisch) zu begreifen. 28

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harren und zu einen einsamen »Kultus der Innerlichkeit« (Böhme 2002, 47) werden – ganz im Gegenteil: sie zielt auf die gelebte Sozialität des Menschen, auf das alltägliche Miteinander. Mit anderen Worten: Umwendung meint weder Abwendung noch ist sie ein Gegenbegriff zur Zuwendung. 30 Die Umwendung zum Selbst ist eine Bedingung der Möglichkeit, dem anderen in größerer Freiheit und Unvoreingenommenheit zu begegnen. Sie hilft, Distanz zu sich selbst zu gewinnen. Pierre Hadot betont, es bestehe eine enge Verbindung zwischen dem Gespräch mit sich selbst und dem anderen: Nur derjenige, der einer echten Begegnung mit dem anderen fähig ist, ist einer authentischen Begegnung mit sich selbst fähig, und das Umgekehrte ist ebenfalls wahr. Ein authentischer Dialog ist nur gegeben, wenn man für andere und für sich selbst präsent ist. (Hadot 1991, 26)

Es mag paradox klingen, doch liegt der Gedanke nahe, dass ich umso mehr beim anderen sein kann, je mehr ich bei mir bin – und umgekehrt. Ähnlich wie beim schmerzhaften Gang aus Platons Höhle oder bei Kants Wende zum Subjekt geht es bei der Umwendung nicht um sich selbst als Endzweck der Bewegung, sondern um den Weg (zurück) zum anderen. 31 Diese Haltung der epimeleia heautou, der Sorge um sich selbst, beunruhigt, schreibt Michel Foucault (2004, 28), denn den anderen hat man nie voll im Griff. Immer ist man der Unberechenbarkeit ausgeliefert: der Gang zurück in die Höhle ist gefährlich, die vermeintliche Erkenntnis beklemmend, weil man ahnt, dass es auch ganz anders sein könnte – wenn man sich nicht hinter der beruhigenden Selbsterkenntnis verschanzt. Foucault (ebd., 31) spricht hier von dem »cartesianischen Moment«, der zwar das »Er-

Hier ist der Begriff der Umfassung als ein »bipolares Erleben« von Martin Buber (vgl. Buber 1922, 97) hilfreich, denn er will sich weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen. »Umfassung birgt in sich die Spannung zwischen ›Beisichbleiben‹ und Hinwendung zum Anderen, zwischen dem Sich-nicht-Entziehen und dem Sich-nichtAuferlegen. Die Umfassung ist Einnahme eines eigenen Standpunkts bei gleichzeitiger Erfahrung der Gegenseite.« (Meilhammer 2005, 177) Mehr dazu in 4.4.2. 31 Deutlich wird dies auch in der Lehre des Zen-Buddhismus. Denn die höchste Form der Meditation besteht nicht in einem Verharren in der Kontemplation, dies, so meint Stefan Bauberger (2010, 52) berge vielmehr die Gefahr einer »Art Meditationssucht mit Tendenz zur Weltflucht« oder einer Überheblichkeit im »Bewusstsein, zu Eingeweihten zu gehören, die weiter fortgeschritten sind auf dem spirituellen Weg«. Die letzte Verwirklichung des Weges bestünde vielmehr in der Rückkehr auf den Marktplatz. »Selbstlosigkeit im Kloster zu üben ist zu einfach, besser ist Übung in den Wirrnissen des Lebens.« (ebd.) 30

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kenne dich selbst« rehabilitiert, die Selbstsorge dagegen disqualifiziert habe. Denn die unbezweifelbare Selbsterkenntnis erschlösse einem vermeintlich den Zugang zur Wahrheit. Durch sie werde die Erkenntnis – auch über Anderes oder Fremdes – gerechtfertigt. Die Selbstsorge dagegen bleibt dem skeptischen Zweifeln verhaftet, immer wieder bricht Fremdes ein und stellt das Selbst in Frage – darin besteht der eklatante Unterschied zwischen Sokrates und Descartes. Der Selbstsorge geht es nicht darum, dieses Fremde (sich selbst) erkennend festzuzurren, sondern (Übungs-)Formen zu finden, um sich in der offenen Auseinandersetzung mit den Unwägbarkeiten des Lebens selbst zu bilden und sich so immer wieder neu Zugänge zur Wahrheit zu erschließen. Diese liegen dann aber gerade nicht in der Schau göttlicher Prinzipien oder qua Vernunft im autonomen Subjekt, sondern in der beständigen Arbeit an sich selbst, die eingebettet ist in das Mitsein mit der Welt. Die Selbstsorge ist eine »bestimmte Form der Aufmerksamkeit, des Blicks«. Es ist ein Blick, der sich umkehrt, so »daß man ihn von außen […] nach ›innen‹ wendet« (ebd. 26–27), d. h. weg von den anderen, der Welt, auf sich selbst, sodass man wachsam wird für das, was sich im eigenen Denken abspielt. Sie belässt es aber nicht bei diesem Denken über sich, sondern beinhaltet »auch eine Reihe von Handlungen […] durch die man sich verändert, reinigt, verwandelt und läutert« (ebd., 27). Bei der Selbstsorge handelt es sich um ein Paradox, das sich, wie Foucault herausstellt, auch dadurch ausdrückt, dass die Rede von der Selbstsorge »für uns eher Egoismus und Weltflucht bedeutet, während es doch Jahrhunderte lang einen positiven Grundsatz darstellte, ein positives Prinzip, aus dem sehr strenge Morallehren hervorgegangen sind.« (ebd., 30). Es geht also um eine spannungsreiche, dialogische Bewegung zwischen Selbstsorge und Fremdsorge, beide Enden sind zutiefst aufeinander verwiesen. Im Anschluss an diese einführenden Überlegungen steht zu vermuten: Je weiter sich eine Person von der Beschäftigung mit sich selbst entfernt und dabei den Blick vor allem auf die Probleme mit dem fremden anderen richtet, diese auch dort verortet, sich also immer mehr vom Mittelpunkt der konzentrischen Kreise wegbewegt, umso weniger fremdheitsfähig ist sie.

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1.2 Herleitung: Ein Fall grenzüberschreitender Fremderfahrungen In der Folge wird die verstörende Szene einer mehrfach grenzüberschreitenden Fremderfahrung geschildert. Sie legt in vielerlei Hinsicht beispielhaft Zeugnis für einen negativen Umgang mit Fremdheit ab und stellt zudem ein Schlüsselerlebnis auf dem Weg zur Einsicht dar, dass eine Person erst dann mit Fremdheitserfahrungen gelungen umgehen kann, wenn sie in einen Prozess der reflektierten Selbstbegegnung (bzw. hier auch -heilung) eintritt. Die Schilderung des Falls dient zunächst der Herleitung und Begründung für die Notwendigkeit einer Sorge um sich selbst.

1.2.1 Einführung und Kontextualisierung: Truth and Reconciliation in Kanada Im Juni/Juli 2011 fanden in Inuvik, in den Nordwest-Territorien Kanadas, die so genannten Truth and Reconciliation Hearings statt. Eine von der Regierung bereits im Jahr 2008 eingesetzte Kommission sollte sich die Erfahrungsberichte der Ureinwohner anhören, die im Zuge der kanadischen Assimilationspolitik als Kinder in Internate (sog. Indian Residential Schools) gebracht wurden, um sie zu »zivilisieren« und in den kanadischen Mainstream einzupassen. 32 Diese Maßnahme war eine von vielen, die der Indian Act von 1876 vorgab (u. a. wurde hier auch die Errichtung und Verwaltung von Reservaten, den Indian Reserves, geregelt). Vertreter der Kirchen und der Regierung waren zu dem Schluss gekommen, dass dem »Indianerproblem« am effektivsten dadurch begegnet werden könnte, wenn man die Kinder schon früh aus ihren traditionellen Familienzusammenhängen nehmen und in entlegenen Internaten entsprechend dem

Die erste Residential School wurde bereits 1849 errichtet, die letzte wurde erst 1996 geschlossen. Im Jahr 1931 war mit 80 Schulen verteilt in ganz Kanada der Höchststand erreicht. Innerhalb dieser Zeit besuchten ca. 150.000 indigene Kinder und Jugendliche die Internate. In Kanada gilt der Begriff Aboriginals (nicht zu verwechseln mit den Aborigines in Australien) als Oberbegriff für die Gesamtheit der indigenen Bevölkerung. Diese ist unterteilt in First Nations (ehemals Indianer), Inuit (ehemals Eskimos; Einzahl Inuk) und Métis (Nachkommen von First Nations und europäischen Siedlern). (vgl. Schellhammer 2019)

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Christentum und den Vorstellungen der »zivilisierten« Kultur unterrichten und erziehen würde. (Schellhammer 2015a, 127)

Die psychosozialen Folgen dieser Zeit sind heute noch virulent: hohe Selbstmordraten (vor allem unter Kindern und Jugendlichen), Alkoholmissbrauch und Gewalt in Familien lassen sich kaum bewältigen und ziehen ihre traurige Spur von einer Generation in die nächste. (vgl. Schellhammer 2019) So gut wie noch nie hatten die Betroffenen eine Plattform erhalten, um von ihren Erlebnissen zu berichten. Viele von ihnen unterdrückten die Eindrücke der Vergangenheit und waren jetzt erstmals konfrontiert mit Verletzungen, die sie über Jahre, manchmal Jahrzehnte, sorgsam weggesperrt hatten. Die Anhörungen waren von der indigenen Bevölkerung selbst ersucht und im Rahmen der größten Sammelklage der kanadischen Geschichte erfolgreich eingefordert worden. (vgl. Residential School Settlement) Endlich sollte sich der Rest Kanadas mit dem auseinandersetzen, was den Menschen widerfahren war. Zudem sollte eine Basis geschaffen werden, mit dem Leid der Menschen auf eine Weise umzugehen, die nachhaltig Heilung verspricht. Das Mandat der Truth and Reconciliation Commission of Canada (TRC) lautete »to educate all Canadians about the complete history of the so-called ›Indian residential schools‹, and to inspire reconciliation for individuals, families, communities, religious entities, government, and the people of Canada.« [H. i. O.] (TRC 2011, vgl. Schedule N in: Residential School Settlement) Die Aufgabe der Kommission bestand vor allem darin, mehrere Anhörungen an verschiedenen Orten in Kanada zu organisieren und dabei Erzählungen, Geschichten und Dokumente zu sammeln, die in einen Bericht mit einer Empfehlung für das weitere Vorgehen der Regierung mündeten. 33 Eine Gruppe »Betroffener«, das sog. Indian Residential School Survivor Committee (IRSSC), sollte ihnen dabei beratend zur Seite stehen. Im Sommer 2015 veröffentlichte die Kom-

»During the six years of its operation, the Commission held events in all parts of the country. The largest and most visible of these were the National Events held in Winnipeg, Inuvik, Halifax, Saskatoon, Montreal, Vancouver, and Edmonton between June 2010 and March 2014. The Commission estimates there were as many as 155,000 visits to the seven National Events; over 9,000 residential school Survivors registered to attend them (while many others attended but did not register). […] It also held 238 days of local hearings in seventy-seven communities across the country.« (TRC 2015, 25)

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mission ihr Executive Summary (vgl. TRC 2015), im Dezember 2015 erschien der Abschlussbericht. Die Berichterstattungen in Inuvik hatten unterschiedliche Formate: In der offiziellen Anhörung berichteten die Menschen den drei eingesetzten Commissioners von ihren Erfahrungen in den Residential Schools und was diese Zeit der Zwangseinweisung der Kinder für die Menschen und ihre Kultur bedeutete. Daneben gab es auch die Möglichkeit, dass Betroffene unter Ausschluss der Öffentlichkeit von ihren Erlebnissen erzählten. In einer dritten Variante, in so genannten Sharing Circles (traditionelle Austauschrunden) 34, teilten die Menschen reihum ihre Erfahrungen mit weiteren »Überlebenden« (sog. residential school survivors). Jeder war eingeladen, hier zuzuhören, denn die Hearings dienten ja auch dem Zweck, dass sich die kanadische Bevölkerung mit den Konsequenzen der Assimilation direkt auseinandersetzen sollte. Bis auf einige freiwillige Helfer gab es in diesem eher informellen Setting allerdings kaum professionell ausgebildete Psychologen, Sozialarbeiter oder Seelsorger, die sich um die Menschen in ihrer prekären Lage kümmern konnten. Die Geschichte einer Frau, die sie im Sharing Circle preisgab, erschütterte besonders. Eindrücklich waren dabei vor allem die Reaktionen der Frau auf ihre eigene Geschichte und die der anwesenden Personen. Darin zeigten sich vielfältige Facetten des Umgangs von Menschen mit zutiefst befremdlichen Erfahrungen, die unten »dicht«

34 Der Austausch im Sharing Circle dient vor allem Heilungsprozessen und wird häufig in Bereichen der Therapie und der Sozialen Arbeit, aber auch im Kontext des außergerichtlichen Täter-Opfer-Ausgleichs eingesetzt. Diese Methode soll unterstützend wirken für Menschen »who are dealing with issues such as addictions, violence, grief and trauma […]. The Healing Circles are a fundamental component of Aboriginal perspectives on and approaches to healing.« (Stevenson 1999, 8) Der Kreis ist ein zentrales Symbol in der Kultur der Aboriginals. Er symbolisiert den Kreislauf des Lebens (lineare vs. zirkuläre Vorstellung von Zeit), es gibt kein Anfang und kein Ende, kein Oben und kein Unten, keine Hierarchien. In ihm liegen die vier Himmelsrichtungen, die vier Jahreszeiten, der Ablauf eines Tages, die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft. Er verdeutlicht die Einheit und das Einssein mit der Natur und allen Menschen. Er weist auf die Notwendigkeit hin, alle Ebenen menschlicher Existenz gleichwertig ernstzunehmen: den Körper und leibhaftiges Erleben, die Rationalität und die Fähigkeit zu denken, Emotionen und Spiritualität. Deshalb gilt das Medizinrad in vielen indigenen Völkern Nordamerikas als die zentrale Lehre, die je nach Tradition unterschiedliche Schwerpunkte betont. Der Sharing Circle macht deutlich, dass diese Lehre keine bloße Theorie ist, sondern praktisch gelebt wird, im konkreten Leben seine Wirksamkeit entfaltet. (vgl. Bopp u. a. 1989; mehr dazu in 4.1.3)

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beschrieben (vgl. Geertz 1983) und so für den weiteren Gang der Untersuchung nutzbar gemacht werden.

1.2.2 Falldarstellung: Schilderung der Szene Im Sharing Circle saßen etwa acht Personen in einem abgeschirmten platzmäßig großzügigen Raum des Gemeindehauses, ungefähr 15 Personen scharten sich in einem gewissen Abstand als Zuhörer um sie. Zwei RCMP-Polizisten (kanadische Bundespolizei) waren ebenfalls anwesend, sie standen etwas abseits in der Nähe des Ausgangs. Nacheinander teilten die Betroffenen ihre Geschichten miteinander, der sog. Circle Keeper moderierte den Prozess. Ein Mann, etwa 55 Jahre alt, stand als erster auf und begann zunächst mit fester Stimme zu erzählen, wie er sich als neunjähriger Junge von seiner Familie verabschieden musste, als er ins Flugzeug stieg, das ihn in die weit entfernte Schule brachte. Als er dort ankam, musste er seine warme Inuit-Winterkleidung ausziehen und bekam dafür eine unbequeme Schuluniform, in der er oft fror. Er wurde von seinem jüngeren Bruder getrennt und durfte mit ihm nicht in ihrer traditionellen Sprache sprechen – wenn er es dennoch tat, bekam er einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf, so dass er heute noch manchmal innerlich zusammenzuckt und ängstlich um sich blickt, wenn er in Inuktitut spricht. Nach dieser kurzen Einführung, die sich wie eine völlig rational-abgeklärte Erzählung anhörte, die wenig mit ihm selbst zu tun hatte, hielt er erst einmal inne. Alle anderen im Kreis verhielten sich völlig still und blickten regungslos in die Mitte des Kreises, denn der Mann hielt immer noch das Talking Piece, eine Feder, in der Hand, d. h. er war noch nicht fertig mit Reden. Mühsam rang er nach Worten, er schien sie nur unter größten Schwierigkeiten in sich zu finden und begann schließlich so leise, dass man ihn kaum verstand, abgehackt zu berichten, wie er nachts öfter in das Büro des Schulleiters, ein katholischer Ordensmann, gerufen wurde, sich auf dessen Schoß setzen sollte und dort von ihm an vielen Stellen seines Körpers unangenehm berührt wurde. Er brach abrupt seine Erzählung ab und stammelte nach einer kurzen Pause, das eigentlich Schlimme sei aber gewesen, dass er seinen kleinen Bruder nicht schützen konnte, denn er wusste genau, dass ihm das gleiche widerfuhr. Schluchzend brachte er dann nur noch heraus, dass er ohnmächtig zusehen musste, einfach nicht wusste, was er hätte tun können. 41 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Das Schlimmste sei die große Hilflosigkeit gewesen. Weinend sank er auf seinen Stuhl nieder, reichte die Feder weiter und verharrte in Schweigen. Im Anschluss daran begann eine etwa 40jährige, kleine und schmächtige Inuk 35 ihre Geschichte zu erzählen. Sie hatte ihre langen, dunklen Haare zu einem Zopf geflochten, aus dem ihr einige Strähnen ins Gesicht hingen. Tiefe Furchen in ihrem Gesicht ließen auf ein schweres und bewegtes Leben schließen. Auch sie berichtete von eisiger Kälte ohne richtige Kleidung, von Isolation und furchtbarem Heimweh, auch von großer Einsamkeit trotz der vielen Kinder um sich, denn sie hatte nichts mehr, das eine Verbindung herstellen konnte: keine Sprache, keine Symbole, keine Rituale. Oft weinte sie nachts heimlich unter dem Kopfkissen und sehnte sich nach ihren Eltern und Großeltern. Spirituelle Vorstellungen von Schutzgeistern alter Ahnen, die ihr hätten helfen und sie innerlich stark machen können, fielen dem Bild eines strafenden Gottes zum Opfer, der alles sah und alles hörte. Sie berichtete von großer Angst, die noch geschürt wurde von schrecklichen Geschichten vom Fegefeuer, wenn sie sich nicht ordentlich benehmen würde. Alles war fremd und bedrohlich. Schließlich begann auch sie von Szenen sexueller Übergriffe zu erzählen: Erst passierte es in der Schule, aber dann später auch in ihrer Familie zu Hause. Sie hatte mehrere Männer und sei von einigen brutal geschlagen worden. Oft erholte sie sich nur langsam von den Verletzungen und versuchte, blaue Flecken so gut wie möglich zu verbergen. Mehrere Schwangerschaften resultierten aus den Vergewaltigungen und ein missglückter Selbstmordversuch bescherte ihr einen längeren Krankenhausaufenthalt weit ab von der vertrauten Umgebung. Sie begann zu trinken und nach und nach wurden ihr alle Kinder genommen und in die Obhut von Pflegefamilien gegeben, denn sie sei nicht mehr in der Lage gewesen, sich um sie zu kümmern – ganz im Gegenteil, auch sie verhielt sich gewalttätig ihnen gegenüber und sie wusste, dass auch sie Opfer des Missbrauchs in der Familie wurden, tun konnte sie aber nichts dagegen. Sie schämte sich

35 Inuk (ᐃᓄᒃ) ist in der Sprache der Inuit (Inuktitut) die Singularform von Inuit und bedeutet »Person«. Inuit (ᐃᓄᐃᑦ) ist Plural und bedeutet »Menschen«. Die Inuit der westlichen Arktis Kanadas, d. h. diejenigen, die in den Nordwest-Territorien leben, werden Inuvialuit genannt. Die Sprache der Inuvialuit wird auch Inuvialuktun genannt, dabei handelt es sich um einen speziellen Dialekt des Inuktitut.

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Herleitung: Ein Fall grenzüberschreitender Fremderfahrungen

schrecklich dafür und taumelte noch weiter in die Sucht, um sich zu betäuben und all das nicht mehr wahrnehmen zu müssen. Phasenweise sei sie innerlich völlig taub und gelähmt gewesen, traurig und niedergeschlagen. Geredet habe sie über all das nie. Die Angst und Scham seien viel zu groß gewesen. Auch sie beschrieb eine unsägliche Hilflosigkeit, das Gefühl, ausgeliefert zu sein und nur noch überleben zu müssen. So viele Jahre hatte sie trainiert, den Schmerz unter Kontrolle zu halten, sie hatte ihre Verletzungen kaschiert, musste stark sein, um so gut wie möglich für ihre Familie sorgen zu können. Doch das war auch schwer geworden, weil ihr die Kinder, je älter sie wurden, umso mehr entglitten. Eine ihrer Teenage-Töchter hatte erst neulich versucht, sich umzubringen und ihr Sohn war schon mehrfach im Jugendarrest, weil er gewalttätig andere schwer verletzt hatte. Wie fast alle in der Runde hatte sie es zeitweise sogar geschafft, die Alkoholabhängigkeit und den Drogenkonsum zurückzudrängen, sie sei aber auch immer wieder hineingerutscht, ganz raus käme man wohl nie. Sie berichtete all das kontrolliert mit monotoner Stimme, abgehackt und wenig emotional. Es war, als stünde sie hinter einer dicken, schützenden Scheibe, die sie trennte von ihrer eigenen Geschichte, die sie erzählend im Griff hatte. Völlig unvermittelt und überraschend jedoch, von einem Moment zum anderen, wurde die Frau plötzlich von einem heftigen Heulkrampf gepackt. Der Schutzschild ihrer distanzierten Erzählung hatte an Kraft verloren. Die Erlebnisse der Vergangenheit standen nun unverhüllt und ausgesprochen vor ihr und griffen erbarmungslos nach ihr. Ihre Geschichte entwickelte nun, entgrenzt und freigesetzt, ein Eigenleben. Auch ihr Körper schien die Kontrolle über sie zu übernehmen, denn sie zitterte am ganzen Leib, setzte sich hin, stand wieder auf und konnte sich keine Minute ruhig halten. Sie schluchzte, schrie, klagte und jammerte so laut und heftig, dass einige der Zuhörer offenkundig unangenehm berührt waren, denn sie blickten im Raum umher, suchend nach Hilfe für die Frau – aber wohl auch, um sich selbst aus dieser unangenehmen Situation zu befreien. Der Moderator der Runde legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter um sie zu beruhigen, doch sie schien ihn überhaupt nicht mehr wahrzunehmen, wirr blickte sie durch ihn hindurch, als sie die Hand mit einer aufgebrachten Geste wegwischte. Ich erlebte mich selbst wie im Film, auch ich wollte mich befreien, ich spürte, wie das Trauma der Frau wie eine dunkle, furchteinflößende Gestalt nach mir griff. Ich rettete mich durch den Ab43 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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stand von mir selbst, durch rationale Analysen und Erklärungen des Geschehens, durch die distanzierte Beobachterrolle, an der ich versuchte, krampfhaft festzuhalten. Alles Wissen über die Geschichte der Ureinwohner, über psychologische Zusammenhänge und die Bedeutung des Kulturverlusts konnten sich an dieser schrecklichen Szene beispielhaft ablesen lassen. Ich wollte dem, was ich in diesen Momenten in mir erlebte, nicht begegnen. Zugleich spürte ich, wie seltsam nah mir die unerhörte Intimität des Leidens einer fremden Person kam. Es packte mich und tauchte bald mein ganzes Innenleben in eine traurige Trance. Das Ausgeliefertsein an die Situation machte mich auch zunehmend wütend und plötzlich fiel mir die Absonderlichkeit der Situation auf: Was sollten die Zuhörer hier, die sich um die Erzählenden versammelt hatten? Es war eine unwirkliche Szene, wie in einer Reality Show, ein Prickeln, Schaudern und Entsetzen machte sich breit. Die vermeintliche Sensationslust der Zuhörer verärgerte und beschämte mich zugleich, denn ich war ja auch hier. Die Frau wurde immer lauter, sie konnte keine Worte mehr formulieren, sondern stieß nur noch unartikulierte Laute aus. Fahrig schien sie aufgesogen zu werden von ihren Bewegungen. Sie sprang auf, wälzte sich am Boden und konnte auch durch die anderen im Kreis, die sich zunehmend um sie zu kümmern versuchten, nicht aufgefangen oder beruhigt werden, der Circle Keeper wirkte mittlerweile machtlos, wie versteinert. Wiederholt hatte er versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen, schien aber überhaupt nicht zu ihr durchzudringen. Sie war nicht mehr ansprechbar, brach innerlich und äußerlich völlig zusammen, verlor jede Scham und wirkte entstellt, beinahe unmenschlich. Es war, als hätte sie ein Geist gepackt, der sein gnadenloses Spiel mit ihr trieb, alles wollte irgendwie aus ihr heraus. Die Frau hatte sich mit dem Erzählen ihrer eigenen Geschichte selbst emotional überwältigt, etwas in ihr brach auf, platze aus ihr heraus, das sich durch Rationalität, Willen und Regeln des Anstands nicht mehr einsperren ließ. Natürlich konnte der weitere Ablauf nicht mehr wie geplant weitergehen, alle warteten immer noch darauf, dass irgendetwas passierte, zugleich legte sich eine Art Schockstarre über alle Anwesenden und die Minuten schienen sich endlos zu ziehen. Die Menschen wollten ausbrechen, nur weg, raus aus diesem falschen Film, sie wirkten nervös und aufgebracht, zugleich waren sie wie festgewurzelt. Jeder war im eigenen Erleben eingesperrt und in gewissem Sinne Geisel der Situation, alles verengte sich auf das, was sich hier abspielte. Keiner 44 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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konnte sich befreien und es erschien auch niemand, der sich der Sache annahm, ein Therapeut oder anderer Experte, der offiziell beauftragt worden war, für solche Fälle da zu sein. Dafür hielt es jetzt einer der Polizisten nicht mehr aus. Mit beinahe mechanisch wirkenden Bewegungen schritt er zielstrebig auf die Runde zu, während er noch seinem Kollegen zunickte, und näherte sich zügig der laut klagenden Frau. Alsbald begann er, sie zu packen, um für Ruhe zu sorgen. Sein Kollege zögerte noch, auch er blickte hilfesuchend um sich, sah sich dann aber wohl verpflichtet, ebenfalls einzuschreiten und half, die zappelnde Person aus dem Stuhlkreis zu zerren und davon zu tragen. Die schlug nun wild um sich und schrie laut, als sie versuchte, sich aus den Fängen der Männer zu befreien und schien dabei enorme Kräfte zu entwickeln, denn die beiden hatten große Mühe, sie festzuhalten. Vor der Tür wartete ein Polizeiauto, in das die Frau hineinbugsiert wurde, bevor es davonfuhr. Eine lähmende Stille machte sich breit. Keiner wagte, sie zu durchbrechen. Einige der Zuschauer verließen langsam, ohne zu sprechen und möglichst lautlos den Raum, sie stahlen sich davon, fast wie in Zeitlupe. Sie erweckten den Eindruck, als würden sie sich am liebsten unsichtbar machen, als schämten sie sich dafür, Zeugen dieser Szene gewesen zu sein. Andere fühlten sich wohl durch eine überwältigende Schwere wie gelähmt, innerlich wund und beschämt, vielleicht auch schuldig, nicht eingegriffen zu haben. Länger saßen sie noch da, kaum in der Lage, sich zu bewegen, irgendwie wohl auch ratlos. Schließlich verließen aber alle nach und nach den Ort des Geschehens, ferngesteuert, einem Phantom gleich, erst im Freien kehrte das Leben zurück und die belastende Enge wurde abgeschüttelt durch den einen oder anderen Ausbruch der Empörung über die schlechte Organisation, das unsensible Eingreifen der Polizisten oder die Zügellosigkeit der Frau.

1.2.3 Der Fall als Herleitung und Begründung der Selbstsorge Vielleicht müsste gar nicht viel dazu gesagt werden, inwiefern diese bestürzende Begebenheit ein wichtiges Erkenntnismoment und ein eklatanter Beleg für die Einsicht darstellt, dass die Fremdheitsfähigkeit einer Person eng verwoben ist mit einer sensiblen Wachsamkeit dem eigenen inneren Erleben und den damit zusammenhängenden gesellschaftlichen sowie geschichtlichen Verstrickungen gegenüber. 45 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Denn jeder der Beteiligten war ganz offensichtlich überfordert mit dem, was die äußere Erfahrung innerlich ausgelöst hatte, was sich vor allem daran zeigte bzw. dazu führte, dass keiner wirklich gut mit dieser Situation umgehen konnte. Dennoch sollen hier einige Gesichtspunkte kurz zusammengefasst werden, die zu dieser Einsicht führten, um sie anhand des Beispiels zu verdeutlichen und zu begründen. Als theoretische Hintergrundfolie dient noch einmal das Bild der konzentrischen Kreise. Die Geschichte nimmt ihren Anfang in der Negation des Fremden, d. h. konkret im Versuch der strategisch geplanten Assimilationspolitik Kanadas, Fremdes aufzulösen und einzugliedern in die zivilisatorische Ordnung. Beim Eintritt eines Kindes in die Residential School geschah dies schon rein äußerlich: der traditionelle Parka aus Leder und Fell musste der Schuluniform weichen, anstatt des InuitNamens bekamen die Kinder christliche Namen und die langen Haare wurden zum kurzen Einheitsschnitt. Bei diesen Maßnahmen bestand nicht der geringste Anlass für die Verantwortlichen, über die eigene Herkunft, die eigene relative Situiertheit und begrenzte Perspektive nachzudenken, denn diese schien unumstößlich die Richtige zu sein. Die feste Überzeugung der zivilisatorischen Überlegenheit ließ keinen Raum mehr für eine Begegnung auf Augenhöhe, die in den Anfängen der Besiedelung Kanadas noch möglich war, denn hier waren die Neuankömmlinge auf der teilweise schwer zugänglichen und lebensfeindlichen terra nova noch auf das Wissen und Überlebensgeschick der Ureinwohner angewiesen. Zu dieser Zeit war ihnen noch sehr klar, dass sie Fremde in einer fremden Umgebung waren. 36 Ähnlich wie die Menschen der First Nations dann später aber vermeintlich zu ihrem eigenen Schutz in Reservate gedrängt wurden, wird die Inuk in geschilderter Szene aus dem öffentlichen Raum entfernt. Das, was stört und befremdet, was die Ordnung, die Normalität und Sicherheit gefährdet, wird exkludiert – auch um Eigenes zu schützen und den status quo wieder herzustellen. Die Ohnmacht angesichts einer beunruhigenden Szene führt dazu, Macht auszuüben; die Unordnung ruft die Ordnung, die Entgrenzung Gesetze und Grenzen auf die Bühne. Diese verhindern die Auseinandersetzung, sie helfen, dass sie gar nicht erst stattfinden muss; das Entgrenzte ist wieder eingefangen, in seine sicheren Schranken verwiesen.

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Royal Commission on Aboriginal Peoples 1996, 94 ff.

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Herleitung: Ein Fall grenzüberschreitender Fremderfahrungen

Hinsichtlich der Sprechsituation während der Truth and Reconciliation Hearings ist zu fragen, inwiefern postkoloniale Implikationen diese mehr oder weniger unterschwellig bestimmten. Wer hat beispielsweise unter welchen Bedingungen das Recht, was zu sagen und wer legt die Dikursregeln fest? Was gilt als legitime Äußerung und was als bloße Störung, als unartikulierter Lärm oder als somatischer Ausdruck? Selbst wenn also indigene Menschen die Möglichkeit erhalten, ihre Stimme zu erheben, stellt sich mit Gayatri Spivak (2008) die Frage, ob sie als Gefangene »subalterner« Strukturen tatsächlich sprechen können oder ob sie nicht vielmehr geknebelt sind durch intra- und interpersonal tradierte Herrschaftssysteme und ihre artikulierten Bedürfnisse deshalb ungehört und unverstanden bleiben. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen Jacques Rancières (2016, 48) zur »Wortergreifung« Anteilloser, die, ähnlich wie dies Michail Bachtin beschreibt, mit der Möglichkeit der Erfindung einer paradoxen, ernsthaft-komischen Sprache einhergeht. Dadurch verschaffen sich die an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen Gehör, ohne dabei den Regeln etablierter Sprechweisen und Diskursformen folgen zu müssen. 37 Die Ent-Identifizierung als Deklassierte, die verbunden ist mit einem karnevalistisch-widerständigen Weltempfinden, »besitzt gewaltige belebende und transformierende Kraft« (Bachtin 1985, 119). 38 Fremdes, das, was die eigenen Grenzen herausfordert und in Spannung versetzt, stellt nicht nur eine Bedrohung, sondern bekanntlich auch eine Faszination dar. Noch immer sind die exotisch anmutenden Inuit deshalb beliebte Forschungsobjekte – und der öffentliche Zusammenbruch der Frau lässt einen zusätzlich erschaudern. In vorsichtigem Abstand ist der Zuschauer der Szene hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, alles genau zu beobachten, nichts zu verpassen, und es zugleich nicht sehen zu wollen, nicht mit dem menschlichen Schicksal, das sich da vor den eigenen Augen abspielt, konfrontiert zu werden. Außerdem ist es natürlich eine Sache des Auch diesen Gedanken verdanke ich Andreas Hetzel. Vgl. auch Hetzel 2017, 555. Umgekehrt hat aber auch Ronald Niezen (2013) mit Truth & Indignation eine wichtige Studie vorgelegt, die v. a. den Ausschluss der Beschuldigten aus den Anhörungen und dessen Konsequenzen bei der Wissensproduktion und Manifestierung von Täter- und Opferrollen untersucht. Er hinterfragt kritisch die Filter der political correctness – was darf über Ureinwohner und deren Erfahrungen in der Residential School gesagt werden und was nicht? Wie muss das Leiden der »Residential School Survivors« dargestellt werden, damit es »richtig« ist und möglichst »leidvoll« wirkt? 37 38

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Die Umwendung zum Selbst – Verortung und Herleitung

Anstands, die Privatsphäre des anderen zu achten, keiner will dabei ertappt werden, sensationslüstern und schaulustig das Geschehen zu verfolgen. Auch das Wissen über den Anderen und eine gewisse professionelle Kompetenz helfen nur bedingt, sich wirklich mit dem, was hier passierte, auseinanderzusetzen. Denn die Kenntnisse der Geschichte der Ureinwohner in Kanada und die Auswirkungen der Residential School Legacy gepaart mit sozialarbeiterischen und psychologischen Fachkenntnissen verschaffen Distanz. Die Analyse der Situation geschieht im Kopf, sie ist ein fachkundiger, ordnender Vorgang, der ablenkt vom emotionalen Erleben bzw. versucht, dieses in begrenzte Bahnen zu lenken. Dieses »kompetente« Nachdenken über die Situation hilft auch, ganz bei sich, also bei dem eigenen, der Situation enthobenen, Rationalisieren zu sein. So wird man nicht hineingezogen in die Sphäre des Zwischenmenschlichen, in echte Momente der Betroffenheit, die einen womöglich in die Gefahr bringen, selbst die Kontenance zu verlieren und emotional zu entgleisen. Die fachkundige Analyse zielt ab auf die Behandlung des gebrochenen Menschen, der armselig sich selbst verloren hat und jetzt die Hilfe eines Experten braucht, um wieder heil und auf die rechte Spur gebracht zu werden. Das »Problem« liegt im Anderen, in der psycho-sozialen Verfasstheit der Frau, die sich in ihrem Aus- oder Zusammenbruch offenbart. Die Konfrontation mit der eigenen inneren Verstörung muss so nicht stattfinden bzw. wird sie verschoben auf die Fokussierung des abweichenden Verhaltens des anderen. Die beiden Polizisten handelten ihrem Auftrag gemäß, sie hatten die Situation im wahrsten Sinne des Wortes im Griff. Sicherlich half ihnen ihre Funktion als Gesetzeshüter, mögliche innere Kontroversen oder Zweifel auszublenden oder zu übertrumpfen und entsprechend fachmännisch einzuschreiten. Nicht umsonst gibt es zahlreiche Kurse zur »Krisenintervention«, die genau zu einem solchen »kompetenten« Handeln ausbilden. Auch die Aussage einiger Anwesenden, die Polizisten seien zu grob und unüberlegt vorgegangen, kann ein Indiz dafür sein, dass sie von der eigenen Verunsicherung ablenken und die Verantwortung auf die Männer in Uniform übertragen. Das Bemühen, die Frau zu verstehen, sich empathisch in sie einzufühlen, kann auch motiviert sein durch den Wunsch, selbst besser mit der emotional angespannten Situation klarzukommen, sie in die eigenen Kategorien einordnen zu können. Denn wenn man etwas versteht, ist es nicht mehr so befremdlich. Dabei spielt auch die Bedeu48 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Herleitung: Ein Fall grenzüberschreitender Fremderfahrungen

tung dessen, was wir »normal« nennen, eine Rolle: Was liegt noch im Verstehenshorizont des »Normalen« und was geht darüber hinaus bzw. welches Verhalten wird bereits unnormal oder gar pathologisch? Denn, so führt Ronald Laing (1977a, 22) aus: »Formen der Entfremdung außerhalb der geltenden Entfremdungsnorm werden von der ›normalen‹ Mehrheit mit dem Etikett ›wider-‹ oder ›wahnsinnig‹ versehen.« Diese Etikettierung ist jedoch eigentlich ein Zeichen der Selbstentfremdung, denn sie »ist ein Produkt von Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion, Introjektion und anderen Formen destruktiver Aktion gegen die Erfahrung.« (ebd., 21) Die Etikettierung ist ein Zeichen von Macht, vielleicht aber eher auch von Ohnmacht einer Person, die versucht, sich mit Hilfe von Rastern und Ordnungen Sicherheit und Orientierung zu verschaffen. Das, was man nicht mehr versteht, wird dadurch »verstanden«, dass es unter der Kategorie »prinzipiell nicht verstehbar«, also irre, wild, wahnsinnig, jenseits der Norm, abgelegt wird. Meist geschieht dies auf Kosten derer, die so eingeordnet und kategorisiert werden, aber letztlich geht es auch auf Kosten des Selbst, das so in sich, in der eigenen »Normalität« eingesperrt bleibt und automatisch mit eingeordnet wird. Professionelles Verstehen kann und muss vielleicht Distanzen aufbauen, um »professionell« zu sein. Es kann aber auch distanzlos sein und zu Grenzüberschreitungen führen, wenn der »Professionelle« sich anmaßt, den anderen zu verstehen. Beides hilft, dem eigenen unguten Gefühl der prinzipiellen Nichtverstehbarkeit des anderen zu entkommen. Im ersten Fall gilt der andere als eine Art Untersuchungsgegenstand, den es im Rahmen gewisser Theorien und Gesetze zu verstehen gilt, im zweiten wird ihm seine Eigen- bzw. Andersartigkeit genommen, denn das Verstehen dringt ein und erklärt das Absonderliche, es markiert die eigene, übergeordnete Grenze und negiert dabei die Grenze des anderen. Auch das empfundene Mitleid führt nur bedingt zu einer echten Auseinandersetzung mit dem, was sich in einem selbst regt, wenn es einseitig darauf abzielt, den anderen zu verstehen, ohne sich mit dem eigenen Nichtverstehen ins Benehmen zu setzen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass sich viele der Zeugen dieser bestürzenden Szene dadurch Luft machten, heftig auf die äußeren Umstände zu schimpfen: Andere seien schuld an dem, was hier vorgefallen war, andere hätten Sorge dafür tragen müssen, dass es nicht so weit kommt, die Regierung ist schuld an den Folgen der Assimilation, die Ureinwohner sollen sich endlich mal zusammennehmen usw. 49 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Die Umwendung zum Selbst – Verortung und Herleitung

Bei all dem »lernt« auch die betroffene Inuk, vermutlich zum wiederholten Male, »unnormal«, krank, psychotisch und hilfsbedürftig zu sein. Sie entwickelt bzw. bestärkt fixe Erklärungen und Glaubenssätze über sich selbst und die Welt. Sie lernt, dass das, was sie in ihrer Erfahrung überwältigt hat, böse und schädlich ist. Vermutlich schämt sie sich auch für das, was ihr passiert ist. Somit kann dieses Fremdheitserlebnis mit sich selbst auch entsprechend eingeordnet werden, ohne weiter nach dessen Bedeutung zu fragen und wirklich in einen inneren Dialog einzutreten, der sich neugierig dem öffnet, was sich hier offenbart hat. Wenn die Erfahrung nicht sein darf, was sie ist, weil sie abgewertet, verdrängt und negiert wird, wenn sie in Gesetze gepresst wird, die vorgeben, was normal und unnormal ist, wird sie zerstört – und dann »haben wir unser eigenes Selbst verloren« (ebd., 22). Wir verlieren es auch, wenn wir die Verantwortung für unser Erleben an andere abtreten, und das geschieht beispielsweise durch die Identifikation mit einer Opferrolle oder wenn die Konfrontation mit dem Erlebten so unerträglich schmerzt, dass dieses Gefühl durch Alkohol oder andere Rauschmittel betäubt werden muss. Die Abwehr dessen, was Menschen in sich selbst erleben, führt zur Selbstentfremdung, sie »ist eine Aktion gegen das eigene Selbst« (ebd., 29). Diese kurze zusammenfassende Analyse, die sicher unabgeschlossen nur einige wenige Aspekte herausstellen konnte, soll vor allem der Illustration der Problemanzeige anhand des konkreten Falls dienen. Sie beschreibt einen wichtigen Impuls für diese Arbeit, erhellt den Begründungszusammenhang und offenbart die Motivation für die Suche nach Formen der Selbstsorge, weil damit die Hoffnung verbunden ist, in ähnlichen Situationen Fremdem achtungsvoller und achtsamer begegnen zu können – und zwar in sich selbst und in anderen. Die Suche nach Übungsformen der Umwendung zum Selbst soll anknüpfen an die geschilderte Szene. Sie soll ihren Anfang nehmen in der dichten Beschreibung dessen, was beteiligte Personen erlebt haben könnten und vor allem wie sich dies zeigte. Ziel dabei ist es, Themen und Aufgaben für die Selbstsorge zu finden. Davor gilt es, einige Gedanken zur Methode darzustellen, wie dies sinnvollerweise geschehen kann. Diese Ausführungen sind jedoch, wie in der Einleitung bereits angedeutet, nicht in einem abstrakten Raum formaler, technischer oder allgemein theoretischer Überlegungen bereits vorab entstanden. Sie entsprangen vielmehr dem Prozess dieser Auseinandersetzung mit gelebten Erfahrungen 50 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Herleitung: Ein Fall grenzüberschreitender Fremderfahrungen

und dem Versuch, diese für die Untersuchung nutzbar zu machen. Deshalb könnten die Ausführungen zur Methode auch nach der Untersuchung, also nach ihrer eigentlichen »Anwendung« 39, stehen. So erfolgt ganz zum Schluss in 5.3 noch einmal eine abschließende Reflexion zur ver-rückten Tatsache, dass umgekehrt auch die Erkenntnisse aus der Auseinandersetzung mit einer Sachfrage auf die Methode »angewendet« werden müssen. Das heißt, der Versuch, aus den Erfahrungen des gescheiterten Umgangs mit Fremdem Erkenntnisse zu ziehen, brachte nicht nur inhaltliche, sondern auch methodische Einsichten hervor – beides erhellte sich wechselseitig. Deshalb ist der Teil zur Methode auch nicht überschrieben mit »Darstellung der Methode« oder mit »Methodische Vorgehensweise«, sondern mit »Reflexionen zur Methode«.

Das Wort »Anwendung« passt hier eigentlich nicht, denn es suggeriert den einseitigen methodischen Klammergriff, mit dem eine Sache in die Zange oder unter die Lupe genommen wird, um ihr die Erkenntnis beinahe schon gewaltsam zu entlocken. Richtig ist vielmehr, dass es sich dabei um eine Wechselwirkung zwischen Sachfrage und Methode handelt, die sich im Erkenntnisprozess wechselseitig entwickeln.

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2. Reflexionen zur Methode

2.1 Phänomenologie der Erfahrung und die Begründung der Methode aus dem Leben »Jedermann muß heute bei seinem Denken, Fühlen oder Handeln ausgehen von seiner (oder ihrer) eigenen Entfremdung«, schreibt Ronald Laing (1977a, 9) in der Einleitung zu Phänomenologie der Erfahrung. Eine Realisierung dieser bis an die Wurzeln reichenden Entfremdung sei der notwendige Ausgangspunkt »für jede ernsthafte Reflexion über irgendeinen Aspekt zwischenmenschlichen Lebens« (ebd., 10). Wir realisieren diese Entfremdung durch Erfahrung: durch ein Geschehen, das uns aufschreckt und uns aus unserer alltäglichen Selbstverständlichkeit reißt. Gerade dann, wenn wir uns selbst nicht mehr »verständlich« sind, uns frag-würdig werden, öffnet sich ein Spalt jenseits aller methodischen Vorkehrungen, in Zusammenhänge, die zunächst auch nur »irrational« erfahren und (noch) nicht erkannt oder begriffen werden können. Eine Methode dagegen, die das Verfahren und den Gang der Untersuchung von vorneherein festlegt, entspringt dem Zustand der Entfremdung und bleibt in ihm verhaftet – und sei sie auch noch so »empathisch«. Sie schützt uns gewissermaßen vor den Einschlägen »echter« Erfahrung, vor der Eigensinnigkeit des Fremden, weil sie im Raum des Selbstverständlichen bleibt. Doch diese Erfahrungen sind keine Störfaktoren der Untersuchung, sondern die Voraussetzung der Möglichkeit, zu Erkenntnissen zu gelangen, die einer Begegnung mit etwas entspringen, das nicht ich bin. Fremdheitserfahrungen ent-entfremden. Deshalb muss die »methodisch unmethodische« Erfahrung rehabilitiert werden, 40 denn: »Einzig Erfahrung ist evident.« [H. i. O.] Käte Meyer-Drawe (2010, 15) betont, dass die Phänomenologie als »Philosophie der Erfahrung« Erfahrungen als Weisen von Rationalität ernst nimmt und damit den Vernunftgebrauch erweitere, statt ihn zu verlassen. »Dergestalt begreift sie sich

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Phänomenologie der Erfahrung und die Begründung der Methode

(ebd., 12) Nur sie wirft Fragen auf, die, um mit Waldenfels zu sprechen, woanders ihren Ursprung haben und Neues bringen. Die Begründung der Methode muss aus dem Leben kommen, Evidenz ist ereignishaft und muss erfahrbar sein. Denn: »Das Leben als reine Wirklichkeit geht jeder Theorie und Deutung voraus. Im Leben begegnet der Mensch den Dingen und sich selbst.« (Yousefi 2008, 51) 41 Theorie und Praxis sind dabei keine Antagonismen, sondern positive Gegensätze, die sich wechselseitig brauchen. Was die Theorie von der Praxis unterscheidet, ist nicht, dass die Praxis theoretische Konzepte auf etwas in der Erfahrung anwendet, vielmehr stellen Theorie und Praxis unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit dar. Sie beinhalten unterschiedliche Weisen zu wissen: »Whereas theory ›thinks‹ the world, practice ›grasps‹ the world – it grasps the world pathically.« (van Manen 2007, 20) Gerade wenn es um die Analyse von etwas geht, das fremd und begrifflich nicht fassbar ist, ist eine Phänomenologie der Praxis von besonderem Wert, denn es geht ihr nicht um eine Erklärung über die Welt, sondern um ein Beziehungsgeschehen, es ist »relational, situational, corporeal, temporal, actional« (ebd.). Genau in dieser Form eines, wie es van Manen nennt, pathic knowledge, drückt sich auch Fremdheitsfähigkeit aus: »the sense and sensuality of the body, personal presence, relational perceptiveness, tact for knowing what to say and do in contingent situations, thoughtful routines and practices, and other aspects of knowledge that are in part prereflexive, pre-theoretic, pre-linguistic« (ebd.). Es kann passieren, dass wir etwas praktisch oder »pathisch« 42 wissen, ohne es kognitiv zu wissen oder theoretisch mit Worten wiedergeben zu können, weil die Welt in uns zum Schwingen kommt. Dann sind es unser Leib, unser Verhalten oder unsere Emotionen, die etwas von diesem Wissen preisgeben. Es ist kein Wunder, dass phänomenologische Texte oft als Dienst am wissenschaftlichen Forschen. Es geht nicht um eine Alternative, sondern um Interventionen, welche der konkreten Erfahrung eine Mitsprache einräumen.« 41 Besonders deutlich weist Merleau-Ponty (vgl. 1966, 4–5) darauf hin, dass Wissenschaft immer auf dem Boden der Lebenswelt gründet und insofern prinzipiell sekundär ist. Deshalb gelte es, auf diese primäre Erfahrungswelt als Seinsgrund zurückzugreifen. 42 Das Wort »pathisch« oder »Pathos« wird später im Zusammenhang mit der Phänomenologie des Fremden von Bernhard Waldenfels nochmal eine besondere Rolle spielen – allerdings mit einer etwas anderen bzw. pointierteren Bedeutung. Für Waldenfels geht es dabei um das Widerfahrnis einer Fremdheitserfahrung, die unserer Antwort darauf immer zuvorkommt.

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Reflexionen zur Methode

lyrisch und poetisch verfasst sind oder dass gerade Dichter und Schriftsteller etwas von der Wirklichkeit zu beschreiben vermögen, etwas künstlerisch formen und gestalten, was viel mehr trifft, viel weiter und tiefer geht, als abstrakte Analysen faktischer Tatsachen. 43 Beide Erkenntnisweisen sind für die Forschung unerlässlich, wenn diese nicht nur für »die Wissenschaft«, sondern auch für das Leben relevant sein will – und das sollte sie, denn angesichts überwältigender globaler Probleme steht zu viel auf dem Spiel. »Wir fühlen«, so bemerkt Wittgenstein (1963, 114) am Ende seines Tractatus, »daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind« [H. i. O.]. Ganz offensichtlich hat er es bei dieser Feststellung nicht bewenden lassen, sondern ging diesem »Gefühl« nach, was seinen Niederschlag in den Philosophischen Untersuchungen fand. Er beließ es nicht beim Schweigen über all das, über was man nicht sprechen kann, sondern überführte vielmehr die philosophische Sprache ihrer krankhaften Enge. Nicht jeder grammatisch wohlgeformte Satz drückt auch einen Gedanken aus, »es gibt ungezählte Sätze, die an der Oberfläche in Ordnung sind, aber keinen echten gedanklichen Gehalt haben und eigentlich nur Geschwätz darstellen« (Bieri 2011, 17). Ein philosophisches Problem wird nicht dadurch gelöst, dass es gelöst wird, es zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass mit ihm gerungen wird, weil man sich nicht mehr auskennt. Entwickelten wir Regeln und Techniken für ein philosophisches Spiel, so Wittgenstein (2003, 85), würden wir feststellen, dass sie nicht so weit gehen, wie wir angenommen hatten. »Daß wir uns also gleichsam in unsern eigenen Regeln verfangen.« (ebd.) Anstatt zu versuchen, die Regeln zu entwirren und dabei immer weiter aufs Glatteis zu geraten, wartet Wittgenstein mit zwei Empfehlungen auf: »[D]enk nicht, sondern schau!« (ebd., 57) und »Zurück auf den rauhen Boden!« (ebd., 80). Die Philosophie kann nicht länger »das Andere zum Leben« sein. Denn wenn »sie als Werk von Spezialisten eine disziplinierte Anstrengung und denselben Zeitreglements und Erfolgskontrollen unterworfen ist wie die übrigen Tätigkeiten der Arbeitswelt auch [und] Insofern überrascht es nicht, dass Wittgenstein (1984, 483) seine Stellung zur Philosophie dadurch zusammenfasst, dass er sagt: »Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten.« [H. i. O.] Damit setzt er sich bewusst ab »von dem typischen westlichen Wissenschaftler«, wobei es ihm gleichgültig sei, ob dieser ihn schätze oder nicht. Er begründet dies damit, dass dieser den Geist, in dem er schreibe, ohnehin nicht verstünde. (ebd., 459)

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[…] in ihrem Gleichmaß an Besonnenheit, Diskursivität und synthetischem Erkenntnisstreben eine abgesonderte Erfahrung darstellt, kann sie nicht das sein und sagen, was sie zu sagen vorgibt: im Sinne eines synthetischen Verfahrens die Summe aller menschlichen Möglichkeiten zu ziehen« (Gamm 2009, 127). Kurz: Wer das Leben untersuchen, etwas über das Leben sagen will, muss an ihm teilnehmen – und zwar mit allem, was zum Menschsein dazugehört; das beinhaltet auch Grenzsituationen intensivster Gemütsbewegungen, in welchen es einem die Sprache verschlagen kann und man besser schweigt. Foucault spricht bezüglich seiner akademischen Gewordenheit von einer Befreiung aus universitären Prägungen, die er durch die Aneignung »jener großen philosophischen Maschinerien« mitbekommen habe, in die er sich hineingedrängt sah. Diese Befreiungstat sei ihm gelungen durch eine Reihe eigener Erfahrungen und durch Denker wie Bataille, Nietzsche oder Blanchot, deren »Problem nicht darin bestand, ein System zu konstruieren, sondern eine persönliche Erfahrung zu machen« (Foucault 1996a, 26). Was ihn an diesen »unsystematischen« und »nicht-institutionalisierten« Denkern begeisterte, war deren Streben nach unmittelbaren (Grenz-)Erfahrungen, die es vermögen, das Subjekt von sich selbst loszureißen und es daran hindern, dasselbe zu bleiben. (vgl. ebd., 27) Nicht zuletzt deshalb plädiert er dafür, Wissenschaft als eine transformative Erfahrung zu sehen. (vgl. ebd., 47) Dabei geht es aber nicht nur darum, selbst verändert aus den Erfahrungen des Forschungsprozesses hervorzutreten, sondern auch gesamtgesellschaftlich Veränderungen zu erwirken. 44 Die »Wahrheit«, die sich aus reflektierten Erfahrungen schält, ist in der Lage, verkrustete Machtverhältnisse aufzubrechen – das zeigte sich deutlich an den feindseligen Reaktionen einiger Psychiater auf Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft, die darin einen Angriff auf ihre Arbeit sahen, weil es »für diejenigen, die es gelesen und benutzt haben eine Veränderung unseres (historischen, theoretischen, aber auch moralischen und ethischen) Verhältnisses zum Wahnsinn, zu den Irren, zur psychiatrischen Institution und sogar zur Wahrheit des psychiatrischen Diskurses bedeutete« (ebd., 30).

Ähnlich bemerkt Wittgenstein (1984, 536), er könne keine Schule gründen, weil er nicht nachgeahmt werden wolle. »Jedenfalls nicht von denen, die Artikel in philosophischen Zeitschriften veröffentlichen.« Er wünsche sich keine Fortsetzung seiner Arbeit durch andere, lieber bewirke er »eine Veränderung der Lebensweise, die all diese Fragen überflüssig macht« [H. B. S.] (ebd., 537).

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Reflexionen zur Methode

Foucault möchte, dass man mit seinen Büchern Erfahrungen macht, die verändern. Sie tun dies, weil sie befremden, denn sie nehmen ihren Ausgang in Begegnungen mit Menschen, die als abnorm »aussortiert« am Rande der Gesellschaft stehen und von dort aus immer wieder unbarmherzig nach uns greifen, weil sie durch ihre bloße Existenz Unbehagen auslösen. Auch Sandra Kirby und Kate McKenna weisen in Experience, Research, Social Change. Methods from the Margins auf die transformative Bedeutung der Wissenschaft hin. Sie betonen, wie wichtig es ist, sich für gesellschaftlich ausgeblendete und wissenschaftlich marginalisierte Erfahrungen zu öffnen – vor allem, um einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen und Machtungleichgewichte aufzudecken: »We believe that researching from the margins is a necessary part of action for change.« (Kirby/ McKenna 1989, 24) 45 Dies ist auch ein Grundanliegen der vorliegenden Untersuchung. Denn es geht ihr nicht darum, Methoden und Techniken zu entwickeln, um Fremdheitserfahrungen möglichst »schmerzfrei« bewältigen zu können. Sie zielt vielmehr darauf ab, zu einer Erfahrung zu werden, die einen nicht so ohne weiteres »außen vor« lässt – und zwar gerade deshalb, weil sie sich bewusst einlässt auf Ausgegrenztes. Anders gesagt geht es um die Freisetzung der »produktiven Anarchie der Erfahrung, die sich aus unkontrollierbaren Widerfahrnissen speist« (Waldenfels 2015a, 218). Demzufolge beginnt sie mit einer Szene, die sich zwar weit weg in völlig anderen Kontexten zugetragen hat, aber dennoch trifft, weil man sich schnell in der einen oder anderen Rolle wiederfindet. Sie trifft, weil sie Bedeutungsebenen berührt, die trotz aller Unterschiedlichkeit in ihren Ausdrucksformen etwas mit dem (eigenen) Menschsein zu tun haben. Van MaWie schnell eine philosophische Arbeit, die »sich aktiv den Zonen der Fremdheit, den individuellen wie gesellschaftlichen Tabus und insgesamt dem Ausgegrenzten [zuwendet]«, politisch wird, betont auch Rolf Elberfeld (2017, 449) Auch er möchte nicht vor provozierenden Fragen und unkonventionellen Methoden zurückschrecken – selbst wenn man dann häufig selbst zum Ausgegrenzten werde. »Denn ohne die Bearbeitung der vielfältigen Machtstrukturen, die nicht nur das gegenwärtige Philosophieren in Europa und Nordamerika bestimmen, können die kanonischen Wissensordnungen weder erforscht noch kritisch befragt werden.« (ebd.) Dies würde Foucault sicher unterstreichen, denn er meint, eine kritische Ontologie (er bezieht sich hier auf Kants Diktum einer Kritik der Vernunft) müsse in der Kritik dessen, was wir sind, zugleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen und der Möglichkeiten, diese zu überschreiten, beinhalten. [H. B. S.] (vgl. Foucault, in: Erdmann/ Forst/Honneth 1990, 53) 45

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Phänomenologie der Erfahrung und die Begründung der Methode

nen (2014, 26–27) führt bezüglich einer Phänomenologie der Praxis aus, dass der Phänomenologe seinen Blick in Regionen richtet, »where meanings and understandings originate, well up, percolate through the porous membranes of past sedimentations – and then infuse, permeate, infect, touch, stir us, and exercises a formative and affective effect on our being«. Dieser Gedanke ist nicht neu, Heinrich Rombach spricht bereits 1980 von einer »Phänopraxie«, die ganz im Sinne Laings zur Überwindung der »Schizophrenie des gegenwärtigen Bewußtseins« beitragen soll. Damit meint er die »Spaltung zwischen Lebenspraxis und wissenschaftlicher Einstellung« (Rombach 1980, 17). 46 Es geht ihm darum, nicht nur etwas, das erscheint, zu zeigen, sondern darum, Erscheinen zu machen, »konkreativ«, d. h. wechselwirkend mit der Welt, an der Hervorbringung eines neuen Bewusstseins zu arbeiten. (vgl. ebd., 22) Diese tätig gewordene Philosophie will sich dem (Er-)Leben öffnen, es dicht verstehen und transformieren. Das Gewahrwerden der eigenen Entfremdung und einer bewussten methodologischen Offenheit für Erfahrungen ist nicht nur epistemologisch geboten, sondern auch ethisch. Hier deutet sich an, dass die Selbstsorge auch von methodologischen Erwägungen nicht wegzudenken ist. In einer glatten und reinen Erkenntnis hat das Leben mit all seinen Ecken und Kanten keinen Platz. »Wenn unsere Erfahrung zerstört ist«, so Laing (1977, 22), »haben wir unser eigenes Selbst verloren«. Damit stehen wir in der Gefahr, »die Humanität anderer Menschen [zu] zerstören« (ebd., 23). 47 Das gilt umso mehr für Menschen, die als »Wissenschaftler« und Pädagogen Deutungshoheit genießen, z. B. über normal/anormal, richtig/falsch oder gut/ schlecht. Ein gesellschaftlich höherer »Stand« kann es schwer machen, sich noch zum eigenen Leben und zum anderen in Bewegung Ein treffendes Bild für diese lebensfremde und zugleich befremdliche Schizophrenie in der Philosophie findet Roger Poole (1972, 72): »The philosophers dress up to play their favourite game, ›objectivity‹. It is an embarrassing re-occurrence of the problem of the Emperor’s clothes. An admirable desire for accuracy and method turns into charade.« 47 Umgekehrt gilt dasselbe. So bemerkt zur Lippe, ein erfahrungsloser, »bloß registrierender Blick« zerstöre nicht nur die Begegnung mit einer Sache, sondern auch sich selbst: »Indem er das Begegnende zum Gegenstand macht, als Objekt seinem Urteil unterwirft, löscht er in sich selbst das eigentlich Subjekthafte aus. Er erhebt sich zwar zum Herrn der Versuchsanordnung. Doch dieses Subjekt ist genauso stillgelegt wie der Gegenstand, ist genauso auf quantifizierbare Objektivität festgelegt, wie er es seinem Objekt antut.« (zur Lippe 2000b, 340) 46

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Reflexionen zur Methode

zu setzen. Deshalb distanziert sich das Geschäft der Philosophie allzu leicht vom Ringen mit den Fragen, die das Leben aufwirft, und flüchtet sich in hoch spezialisierte und akribisch ausformulierte Theorien oder propositionale Wahrheiten. Zuweilen geht es dabei gar nicht mehr um die »Sache«, sondern vor allem um strategisch-politische Überlegungen. Es ist, als wolle man sich die Hände nicht schmutzig machen mit der leidigen Praxis, die einem den Makel subjektivistischer Verflachung anheftet oder sogar den Eindruck vermittelt, keine ernstzunehmende Wissenschaft mehr zu betreiben. Dabei »kann eine schlichte Erzählung – erzählte Geschichte – ebenso ›tief‹ die Welt bedeuten wie eine philosophische Abhandlung«. (Merleau-Ponty 1966, 18) 48 Vor allem dann, wenn das Denken ins Straucheln gerät, wenn sich Fremdes dem Zugriff der Vernunft entzieht, weil sich, um mit Kant (Anthropologie, AA 7, 135–136) zu sprechen, das große »Feld dunkler Vorstellungen« breit macht und wir es nicht vermögen, uns »wider die Ungereimtheiten zu retten«, lenkt die Philosophie – vor allem seit ihrer »Erleuchtung« durch die Aufklärung – gern ihren Blick auf die Klarheit »deutlicher Vorstellungen«. Für Kant gehören all die »Vorstellungen, die wir haben, ohne uns ihrer bewußt zu sein« (ebd.), die sich bloß als passives »Spiel der Empfindungen« wahrnehmen lassen, »doch nur zur physiologischen Anthropologie, nicht zur pragmatischen, worauf es hier eigentlich abgesehen ist« [H. B. S.] (ebd.). Als hätte sich das Problem damit gelöst. Bereits bei Nietzsche wird deutlich, dass sich die vielen dunklen Stellen »auf der großen Karte unseres Gemüts« [H. i. O.] (ebd., 418) nicht einfach so abschütteln oder wegrationalisieren lassen. 49 Und dennoch tut sich die Philosophie bis heute schwer, sich ernsthaft mit den psycho-leiblichen bzw. leib-psychischen Kräften des Menschseins zu befassen, was auch daran liegen mag, dass dies nicht allein rational möglich ist, sondern auch eines leibhaftigen Empfindens oder emotionalen Verstehens bedarf. Doch auch hier sitzt die Angst tief, den Boden »ernstzunehmender«, d. h. »wissenschaftlich« betriebener Philosophie im geschützten

Wittgenstein (1984, 380) bemerkt: »Manche Philosophen (oder wie man sie nennen soll) leiden an dem, was man ›loss of problems‹, ›Problemverlust‹ nennen kann. Es scheint ihnen dann alles ganz einfach, und es scheinen keine tiefen Probleme mehr zu existieren, die Welt wird weit und flach und verliert jede Tiefe.« 49 Vgl. hier die aufschlussreiche Aufsatzsammlung Kant und Nietzsche im Widerstreit (Himmelmann 2005). 48

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Phänomenologie der Erfahrung und die Begründung der Methode

Rahmen universitärer Vorgaben zu verlassen und auf Felder zu geraten, die eher abschätzig als Psycho-Talk, Selbsterfahrungstrip oder Esoterik abgetan werden. Die Geschichte der Wissenschaft sei eine Geschichte des menschlichen Bewusstseins, schreibt Mario Erdheim (1991, 15). Dazu gehöre, alles Unbewusste, »Es-hafte« zu überwinden, die Lust an sich selbst und alles vernunftwidrig Widerständige abzuschütteln. Denn nur so könne sich der Mensch ein wissenschaftliches Bild von sich und seiner Welt schaffen. Allerdings, so fährt er nüchtern fort, gebe der Mensch seinen Narzissmus und seine Allmachtswünsche nicht so leicht auf: »Auch das wissenschaftliche Bewußtsein ist nicht Herr im eigenen Haus, und die Wissenschaft steht im Dienste des Narzißmus und der Allmacht.« (ebd.) Ohne eine Selbstsorge, die sich ehrlich mit allen Ausdrucksformen menschlicher Existenz befasst, führt das einseitige Streben nach Bewusstsein in gleichem Maße zu einer Produktion von Unbewusstheit – mit folgenschweren Konsequenzen. 50 Denn das, was in einem selbst nicht erkannt werden darf, wird als irrational in die Welt verschoben und dient dort als willkommenes Medium der Abgrenzung für die eigene Selbstbehauptung. Alles, was mit Erfahrungen zu tun hat – und vor allem mit solchen, die einem suspekt und unerklärlich vorkommen –, muss abgewehrt und abgewertet werden, denn sie bedrohen das Bild der reinen Wissenschaft bzw. des objektiven Wissenschaftlers. »Der Wunsch, sich von der Masse abzugrenzen, abzuheben«, so Erdheim (ebd., 100), »schlägt sich in der Lebensfremdheit und Trockenheit nieder, die nicht zufällig dem Worte ›akademisch‹ anhaften«. Der Mensch – und vielleicht ganze Völker – müssten wieder zum Staunen aufwachen, meint Wittgenstein (1984, 457) und fährt fort: »Die Wissenschaft ist ein Mittel um ihn wieder einzuschläfern.« So kann es passieren, dass sich Vertreterinnen und Vertreter der akademischen Elite hinter einem Empirismus verschanzen, der sich auf unumstößliche Tatsachen stützt, oder hinter einem Rationalismus, der sich fixer Denkschemata bedient. Sie stehen so in der Gefahr, einen verdrängten Narzissmus offen auszuleben, ohne dabei mit den Problemen in Berührung zu kommen, die sie vorgeben,

»Die aufklärerische Reinigung der Welt von Gespenstern, ihre Reduktion auf einen bloßen Tatsachenzusammenhang«, so meint auch Böhme (1985, 11), »wird damit erkauft, daß der Mensch sich selbst fremd und unheimlich wird. […] Die Zurechenbarkeit und vernünftige Stabilität wird erreicht durch eine Apathie gegenüber Stimmungen und leiblichen Regungen«.

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Reflexionen zur Methode

behandeln zu wollen. »In dem komplexen gesellschaftlichen Organismus von heute«, so Whitehead (2012, 145), »kann das Abenteuer des Lebens nicht vom intellektuellen Abenteuer getrennt werden«. Besonders deutlich wird dies auch bei Merleau-Ponty (vgl. 1966, 18), der die Phänomenologie als eine mühsame Bewegung beschreibt, die sich auf Erfahrungsgeschehen einlässt, um den Sinn in statu nascendi zu fassen, ohne jemals zu einer Vollendung zu gelangen. Mit Rombach (1980, 332) gesprochen könnte man auch sagen: »Sich selbst in dieses Geschehen zurücknehmend gewinnen die Individuen ihr ›Selbst‹ und die Gemeinschaften ihren ›Geist‹, ohne den sie nicht menschlich, nicht lebenswert sind.« Eine wissenschaftliche Methode, die dem Leben entspringen und dem Leben dienen möchte, muss sich nicht nur der fragwürden Sache offen annähern, sondern auch sich selbst immer wieder fragwürdig werden. »[Sie] muß also ständig sich selbst überholen; sie ist notwendig […] endloser Dialog, endlose Meditation, und gerade wenn sie ihrer Absicht treu bleibt, wird sie nie wissen, wohin sie geht« (Merleau-Ponty 1966, 18). Hier zeigt sich hinsichtlich der Methode, was inhaltlich durchgängig Thema der Untersuchung ist: Wie schwer es ist, sich im wahrsten Wortsinn mit Haut und Haar Fremdem, vor allem auch Fremdem in sich selbst und dem eigenen Nichtwissen, auszuliefern, um so die innere Freiheit zu erhalten, etwas zu erfahren, das man nicht schon vorab in ein vorgegebenes Korsett zwängt. Trotz aller Herausforderungen, die sich damit abzeichnen, ist dem leidenschaftlichen Plädoyer Laings zuzustimmen: Wir brauchen endlich eine Phänomenologie der Erfahrung unter Einschluß der sogenannten unbewußten Erfahrung, der Erfahrung in Beziehung zum Verhalten, der Person in Beziehung zur Person – ohne Isolierung, Verleugnung, Entpersonalisierung und Reifikation als fruchtlosen Versuchen, das Ganze am Teil zu erklären. (Laing 1977, 45) 51

Das heißt, dass man nicht nur über den eigenen Schatten springen muss, wie Waldenfels (vgl. 2015, 210) meint, sondern mitten in ihn Gerhard Gamm (2009, 15–16) zitiert Feuerbach, der ähnlich pointiert schreibt: »›Der Philosoph muß das im Menschen, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Philosophie ist, dem abstrakten Denken opponiert, das also, was bei Hegel zur Anmerkung herabgesetzt ist, in den Text der Philosophie aufnehmen. […] Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, der Nichtphilosophie‹, zu beginnen.« [H. i. O.] Auch die Philosophie steht vor der Aufgabe, fremdheitsfähig zu werden.

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hinein. »Wer in sich selbst nicht heruntersteigen will, weil es zu schmerzhaft ist«, so Wittgenstein (in: Rhees 1987, 238), »bleibt natürlich auch beim Schreiben an der Oberfläche«. Es gilt, sich in der wissenschaftlichen Arbeit selbst verändern zu lassen, um der lebendigen Erfahrung Raum zu geben. Dazu gehört, dem Drift der eigenen Einbildungskraft zu folgen und sich unbewussten Regungen zu stellen, um sie »als kreativen Impetus in die Arbeit einfließen zu lassen« (Erdheim 1991, 100). Whitehead (2012, 144 ff.) geht sogar so weit, zu sagen, die Rechtfertigung für eine Universität als Ort wissenschaftlichen Arbeitens bestünde darin, dass sie die Verbindung zwischen Wissen und Lebenshunger bewahre, dass sie eine »Atmosphäre der Aufregung« erzeuge, die aus der phantasievollen Betrachtung zahlreicher Erfahrungen heraus Wissen verändere. Gerade wenn man sich in der wissenschaftlichen Arbeit mit undurchsichtigen und befremdlichen Phänomenen befasst, die einen an die eigenen Grenzen bringen und das Gefühl vermitteln, nicht genügend »gerüstet« zu sein, um zu guten Ergebnissen zu gelangen, geben klare methodologische Vorgaben Sicherheit. Georges Devereux hat diese Dynamiken aufgedeckt und meint, dass die wissenschaftliche Erforschung zu Fragen des Menschseins (er befasste sich vor allem mit der Ethnologie und der Psychologie, also mit Disziplinen, die sich dezidiert Fremdartigem zuwenden) häufig zu Ängsten führt, die »durch eine von der Gegenübertragung inspirierte Pseudomethodologie abgewehrt werden« [H. B. S.] (Devereux 1967, 18) 52. Diese führe zu einer Verzerrung der Wahrnehmung und Deutung von Daten. Deshalb sei es wichtig, gerade auch subjektive Erfahrungen (wie etwa Angst, Verunsicherung, Zweifel) im Forschungsprozess ernstzunehmen – und zwar nicht, um diese möglichst effizient auszumerzen, sondern weil gerade sie signifikante Hinweise bezüglich des zu erforschenden Phänomens geben. Es gelte, »sich die aller Beobachtung in-

Ganz ähnlich spricht auch Medard Boss von einem »Pseudo-Halt« an psychologistischen Konstrukten, von dem man sich radikal lösen müsste, um »einen wahrhaften Sprung aus der uns westlichen Menschen geläufigen gegenständlichen Vorstellungswelt heraus […] auf den Boden, auf dem wir immer schon stehen [zu wagen]« (Boss 1979, 352). Wir sollten uns einlassen auf ein »unvoreingenommenes Blicken auf die Art und Weise […], wie wir als Menschenwesen immer schon zur Welt sind« (ebd.). So könne man auch die kartesianische Subjekt-Objekt-Spaltung und die künstliche Vorstellung, »der Mensch bestehe aus dem Konglomerat eines körperlichen Organismus und einer Psycho-Kapsel« (ebd.) überwinden.

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härente Subjektivität als den Königsweg dienstbar [zu] machen« (ebd.) und herauszufinden, was das Verstehen hemmt. 53 Ignoriert man diese »Störungen« oder wehrt sie durch als Methodologie getarnte Gegenübertragungswiderstände ab, so werden sie zu einer Quelle unkontrollierter und unkontrollierbarer Irrtümer, obwohl sie, wenn man sie […] als elementare und charakteristische Daten […] behandelt, gültiger und der Einsicht förderlicher sind als irgendeine andere Art von Datum. (ebd.)

Jede Erkenntnis ist eine Antwort. Das Wie unseres Antwortens verrät etwas von dem, worauf wir antworten und zugleich auch etwas von demjenigen, der antwortet. Das eine lässt sich vom anderen nicht trennen – auch wenn man das angesichts der Forderung nach Objektivität gern verdrängt. Die Selbstsorge wird so zur Voraussetzung einer Untersuchung, die tatsächlich mit dem Leben verbunden sein will und nicht bloß möglichst intersubjektiv nachvollziehbare Ergebnisse auflistet. »Responsivität wäre ein bloßes Prinzip«, meint auch Waldenfels (2015c, 3) über den Gang seines eigenen Denkens reflektierend, »wenn sie nicht ihrerseits aus einer Antwort auf bestimmte Problemlagen hervorginge«. Ohne diese Sorge, die es wagt, den Schutzpanzer der strikten Sachlichkeit bzw. bloßer Prinzipien abzulegen, »kann man es nur zu einer Sammlung von immer bedeutungsloseren, zunehmend segmentären, peripheren und sogar trivialen Daten bringen, die das, was am Organismus lebendig oder am Menschen menschlich ist, fast gänzlich unbeleuchtet lassen« (Devereux 1967, 19). Authentisch werden die Ergebnisse dann, wenn sie von Menschen gewonnen werden, »die sich ihres eigenen Menschseins vollkommen bewußt sind, was vor allem bedeuten muß, daß dieses Bewußtsein in ihre wissenschaftliche Arbeit eingeht« (ebd., 22). Dabei muss dieses Bewusstsein sämtliche Erfahrungsdimensionen der Selbstfremdheit beinhalten, denn »[e]ine theoretische oder praktische Thematisierung des Eigenen und des Fremden, die diese Erkenntnis vernachlässigt, wird zwangsläufig im Namen einer bestimmten VorVgl. hier auch die Ausführungen von Roger Poole in seinem Buch Towards Deep Subjectivity. »European man had fallen madly in love with his excluded self«, schreibt er und fährt fort: »He was inebriated by the idea of impersonal knowledge.« (Poole 1972, 108) Subjektivität stehe der Objektivität nicht gegenüber, argumentiert er, sondern: »Deep subjectivity emerges finally then as a concern for objectivity, for a full, real and adequate objectivity.« (ebd., 152) Entsprechend fordert er: »Subjectivity as originating source of genuine philosophic concern must be allowed, openly, methodologically, as a founding reality in our inquiries.« (ebd., 111)

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stellung vom Eigenen und Fremden operieren, die reduktionistisch verfährt« (Yousefi 2008, 51–52). Auch Jürgen Straub betont in einem Beitrag zum Verstehen kultureller Unterschiede mit Hilfe einer »relationalen Hermeneutik« die Bedeutung eigener Erkenntnis- und Wissensbestände sowie eines Alltagswissens, das der eigenen Lebenserfahrung und deren Reflexion entspringt. Was man aus Daten »herausliest«, hinge von den eigenen Erfahrungen »und ihren diesbezüglichen emotionalen, affektiven und kognitiven Verarbeitungsprozessen und daraus erwachsenen Dispositionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ab« (Straub 2010, 74). Es kommt nicht von ungefähr, dass Nietzsche seine Kritik an Kant unter anderem mit der Aussage begründet, dieser vereinfache die Komplexität menschlicher Erfahrungen, reduziere den Menschen auf fahrlässige Weise und argumentiere weit entfernt von der Wirklichkeit, weil er selbst nichts erlebt habe, in gewissem Sinne im Vernunftgebäude seines eigenen moralischen Systems »erfahrungsresistent« geblieben sei und sich dem Intellekt als Meister der Verstellung unterworfen habe. (vgl. Williams 1999, 209) 54 Kümmert man sich bei seinem Forschungsvorhaben bewusst auch um sich selbst, braucht man weder Angst vor Fiktionen, also etwas »(Selbst-)Gemachtem«, als Ergebnis, noch vor Beliebigkeit zu haben. Gerade die vermeintliche Objektivität, die sich jegliche subjektive Färbung vom Hals halten will, steht ohne eine Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen in der Gefahr, beliebig zu werden. Denn sie regrediert zu einer unbewussten, kompensatorischen (Gegen-)Reaktion auf subjektive Regungen. Foucault schien sich dessen sehr bewusst zu sein, wenn er schreibt, dass Leute lächelnd bemerken würden, im Grunde wisse er genau, dass alles, was er schreibe, nur Fiktion sei. »Natürlich«, antworte er, »daß es etwas ganz anderes wäNur der »bedürftige« Mensch hängt sich an Begriffe als künstliche Vehikel der Selbstsicherung angesichts tobender Stürme und aufgepeitschter Wellen auf dem unberechenbaren Meer menschlicher Leidenschaften: »Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht, und dass er jetzt nicht von Begriffen sondern von Intuitionen geleitet wird.« (Nietzsche, KSA, 1, 888; vgl. Blumenberg 1979, 23) Alle Nietzsche-Zitate stammen aus: Kritische Studienausgabe (= KSA), hrsg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Neuausgabe 1999, München: dtv).

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re, davon kann gar keine Rede sein« (Foucault 1996a, 28). Gerade weil man sich dessen bewusst ist und weiß, dass das Schreiben nie von der eigenen Person zu trennen ist, wird man freier bei seinem Vorgehen und kann selbst-bewusst Schwerpunkte setzen. Das Problem besteht darin – und auch hier ist Foucault (vgl. ebd.) zuzustimmen – selbst eine Erfahrung zu machen, die man als wichtig und relevant erachtet, und es darüber hinaus auch noch zu schaffen, andere in sie hineinzunehmen. »Perhaps a phenomenological text is ultimately successful only to the extent that we, its readers«, so van Manen (2007, 26), »feel addressed by it – in the totality or unity of our being«. Ähnlich betont Geertz (vgl. 1983, 26), die Güte oder Wahrheit einer Beschreibung bestehe darin, dass sie die Leute mitten in das hineinversetze, was beschrieben werde. Dabei gilt es, diese Erfahrung so präzise wie möglich zu beschreiben und wissenschaftlich valide zu arbeiten, um nicht einem »wissenschaftlichen Obskurantismus« (ebd., 42) zu verfallen. 55 Dazu gehört, auf einschlägige, beweiskräftige Theorien, Quellen, Experten und Autoritäten zu verweisen, klare Bezüge herzustellen, bereits bestehende Erklärungsmodelle auf ihre Plausibilität hin zu testen und anzuwenden, um so in einer Zusammenschau verschiedener Gedankenstränge der Beantwortung dessen, was man herausfinden möchte, näherzukommen bzw. eigene Gedanken dazu kritisch zu überprüfen. Bereits Gedachtes oder Altbekanntes erscheint so, kombiniert mit weiteren Überlegungen und Theorien, in einem neuen Licht und dient als wichtiger Baustein im Gesamtgefüge eines Gedankenstrangs. Leitfaden und Korrektiv muss dabei immer die konkrete Erfahrung bleiben. Sie hilft, die »Verbindung zur harten Oberfläche des Lebens« (Geertz 1983, 43) nicht zu verlieren. Rudolf zur Lippe vermag die Verknüpfung von Erleben und theoretischem Wissen darüber in seinem Erfahrungsbegriff prägnant auf den Punkt zu bringen: Erfahrung geht aus von einem Erleben, das sie reflektierend mit dem Wissen von seinen Hintergründen und Zusammenhängen verbindet. Dabei werden dessen Beziehungen zu Übergreifendem so deutlich, daß die eine besondere Erfahrung [hier die Fallstudie] reif wird, in andere Situationen, Zusammenhänge übertragen werden zu können. Dort wird die übertragene Denn die Erkenntnis, dass vollständige Objektivität unmöglich ist, bedeutet nicht, waghalsigen Intuitionen freien Lauf zu lassen. »Wie Robert Solow bemerkte, könnte man dann mit gleichem Recht sagen, daß man – da eine völlig keimfreie Umgebung nicht möglich sei – Operationen auch in einer Kloake vornehmen könne.« (Geertz 1983, 42–43)

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Phänomenologie der Erfahrung und die Begründung der Methode

Erfahrung aber nicht das Gemeinsame nur in der abstrakten Vergleichbarkeit suchen, sondern auch wieder die existentielle Einbindung in ein neues, anderes Erleben. (zur Lippe 2000b, 339)

Das Potential eines reichhaltigen Erfahrungswissens kann ohne die bewusste Auseinandersetzung mit sich selbst jedoch auch schnell zu Hindernissen des Fremdverstehens werden, wenn neue Erkenntnisse, einem eingeschliffenen Automatismus folgend, im Rahmen der eigenen Ordnung angepasst und vereinnahmt werden. Um dies so gut wie möglich zu vermeiden, tut es not, sich von sich selbst und seinen eigenen Erfahrungen zu distanzieren. Dies gelingt paradoxerweise nur dann, wenn man sich mit sich befasst, denn sonst bleibt man im Klammergriff der natürlichen Weltanschauung hängen. »Die Arbeit an der Philosophie ist […] eigentlich mehr die Arbeit an einem selbst«, meint Wittgenstein (1984, 472) und präzisiert: »An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht.« Es gilt, Selbstverständliches in Frage zu stellen bzw. in Frage stellen zu lassen und dabei Routinen der Weltbeherrschung abzurüsten. Die Phänomenologie beschreibt ein intentionales Verhältnis zur Welt: Wir nehmen etwas immer als etwas Bestimmtes wahr. Das »als« wird sowohl von meinem Blickwinkel als auch von der Sache bestimmt, um die es geht. Um dieser die Chance und den Freiraum zu geben, sich möglichst als das zu zeigen, was sie ist, muss ich meinen Teil der Einflussnahme so gut wie möglich zurücknehmen – und dazu gehört, dass ich mir meiner Zugangsweisen zur Welt bewusst werde. Dies beschreibt Husserl bekanntlich als einen Akt des Innehaltens, als eine Übung der Epoché, in der ich mich vorschneller (Vor-)Urteile über eine Sache enthalte. Die Bewegung der Enthaltung geht einher mit einer »Hingabe an die Sachen, so wie sie sich unter bestimmten Bedingungen zeigen, d. h. zu Gehör bringen, empfinden lassen, wie sie schmecken und riechen« [H. i. O.] (Meyer-Drawe 2010, 12). Dabei stellt sich die Frage, wie diese vorurteilslose Enthaltsamkeit als »kritische Offenheit für Neues und […] methodische Skepsis gegenüber dem ›Natürlichen‹« [H. B. S.] (Gmainer-Pranzl 2011, 31) gelingen kann. Die Antwort liegt auf der Hand: durch eine kontinuierliche Praxis der Selbstsorge (mehr dazu in 5.3). Denn es geht bei der Epoché um eine grundlegende Einstellungsänderung, die keinesfalls bloß methodisch-technisch zu bewerkstelligen wäre, sondern einer Konversion des ganzen Menschen bedarf. Es handelt sich um eine Blickumkehr von der Direkteinstellung auf die Welt im Licht einer unhinterfragt hingenom65 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Reflexionen zur Methode

menen Generalthesis zu einer Rückwendung auf sich selbst, die ihren Anfang jenseits der eigenen Ordnung nimmt. 56 Diese Umwendung kann zwar nicht allein denkerisch vollzogen werden, sie ist aber auf die bewusste und (selbst-)kritische Reflexion angewiesen, denn Menschen sind »Gewohnheitstiere«, die zuweilen in unreflektierten dysfunktionalen Mustern kleben bleiben, ihre ganze Weltsicht daraufhin anpassen, perpetuierend rechtfertigen und aus ihrem Blickwinkel immer wieder bestätigt bekommen. Die Selbstzurücknahme allein reicht aber noch nicht, denn auch wenn ich meine natürliche Einstellung bewusst einklammere, nehme ich eine Sache doch immer nur in der perspektivisch-kontingenten »Abschattung« wahr, die sich mir in diesem Moment zeigt. Mein eigener »Seinsglaube« braucht den Austausch mit weiteren Perspektiven – auch um immer wieder ent-täuscht und voreiliger Schlüsse überführt zu werden. Dies führt zwar in größere Freiheit, denn man entkommt der Enge eigener – auch methodischer – Setzungen und disziplinärer Grenzen, es bedeutet aber auch, schmerzhaft Geltungsansprüche aufgeben zu müssen und sich einzugestehen, dass wir die Dinge nur als das erkennen können, als was und wie sie uns erscheinen. Die Tatsache, dass uns die Welt immer nur perspektivisch gegeben ist, ist aber kein Grund zur Resignation, denn unser Bewusstsein wird ja tatsächlich affiziert und berührt von etwas, das wirklich ist. Der »Verlust des Natürlichen«, so ermutigt Gmainer-Pranzl (2007b, 35), sei kein Defizit, sondern überhaupt erst die Voraussetzung von Erkenntnis. Es gibt etwas – und sei es auch noch so fremd und diffus –, das seinen Schatten auf unser Bewusstsein wirft (das gilt auch für Anteile des Unbewussten). In der Kontingenz unserer Erfahrung und Auffassung von Wirklichkeit liegt die unablässige Aufforderung zum Dialog, denn nur im Hören auf andere und im Sehen aus anderer Perspektive kommen wir der Wirklichkeit näher. Dabei ist klar, dass dieses selbst-kritische Potential nicht rein rational zu entfalten ist, denn Unterströmungen des bloß irrational Zugänglichen können nur bedingt vernünftig »eingeklammert« werden. Hier bleibt uns nichts anderes übrig, als für das eigene leiblich-emotionale Erleben sensibel zu werden und uns auf zwischenleibliche Erfahrungen einzulassen. Denn eine neue »Haltung«, d. h. einen Zustand der »Enthaltung«, einzuüben, kann den Körper, die Gefühle, die unkontrolVgl. hier die Ausführungen von Gmainer-Pranzl 2007a, 219 ff.; 2007b, 36; 2011, 29 ff.

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Phänomenologie der Erfahrung und die Begründung der Methode

lierbaren Erfahrungen im Zwischenreich mitmenschlicher Begegnungen nicht außen vor lassen. Wenn wir der »gefühlten« oder »mitgefühlten« Bedeutung eines Konzepts keinen Raum geben, so könnte man in Anlehnung an Eugene Gendlin (2004) sagen, haben wir das Konzept überhaupt nicht, sondern bloß verbalen Lärm. »Wir dürfen nicht aufhören, uns durch unsere Konfusion hindurchzukämpfen«, mahnt Laing (1977, 49). »Erfahrung bringt unsere Theorien ständig zum Schmelzen, formt sie um.« (ebd.) Die phänomenologische Reduktion als Zurückführung dessen, was wir in der Welt vorfinden, auf die Art und Weise wie sie mit uns in Beziehung tritt, wie wir sie erfahren, wahrnehmen und erkennen, gelingt nur, wenn wir uns selbst zum Thema werden – und zwar auf allen Ebenen unserer menschlichen Existenz. 57 Dabei ist die multiperspektivische Zusammenschau unerlässlich, die wissenschaftlich inter- bzw. transdisziplinär in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Bedeutungsschattierungen und Erklärungsvariationen ihren Niederschlag findet – denn sonst bleiben wir trotz aller selbstkritischen Bemühungen im Radius unseres eigenen Horizonts gefangen. Das bedeutet, dass wir uns den Erfahrungen anderer aussetzen müssen, um neue Perspektiven zu erlangen. Denn, so betont Merleau-Ponty (1966, 88): »Die Erfahrung antizipiert die Philosophie, wie Philosophie nur erhellte Erfahrung ist.« In diesem Zusammenhang darf keinesfalls fehlen, auf die besondere Bedeutung der »vielsprachigen« Annäherung an ein Phänomen hinzuweisen, die vor allem Rolf Elberfeld (2004, 2014) immer wieder stark macht. Die von ihm vertretene transformative Phänomenologie – aber nicht nur sie, sondern jede Philosophie, die sich aufrichtig globalen Herausforderungen stellen möchte – »ist von Anfang an philosophisch auf die Vielheit der Sprachen angewiesen.« (Elberfeld 2014, 382) Denn Sprache und Erfahrung sind grundsätzlich aufeinander verwiesen: Sprache schafft Wirklichkeit und Wirklichkeit schafft Sprache. 58 Rombach (1980, 23) spricht hier auch von einer »anthropologischen Phänomenologie«. Zu ihr gehörten »nicht nur die abstrakten Grundstrukturen des Erkennens, sondern auch – und zuerst – die Grundstrukturen seines praktischen Lebensvollzugs, die ihm gewöhnlich verborgenen Grundgesetze seiner Lebenswelt, der ganze innere Bau seiner konkreten Existenz« [H. i. O.]. 58 Deshalb ist es als äußerst problematisch zu bewerten, dass sich vielerorts die sog. Internationalisierung der Hochschullandschaft vor allem auf Englisch vollzieht. Genau genommen handelt es sich dabei nämlich nicht um eine »Internationalisierung«, sondern um eine »Amerikanisierung« der akademischen Welt – und damit eines zen57

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Reflexionen zur Methode

Jede ernst gemeinte wissenschaftliche Unternehmung enthält die Ambivalenz des Fremden unweigerlich in sich. Sie wirft den Erkenntnissuchenden in ein Wechselbad der Gefühle zwischen neugieriger Faszination, der Entdeckungslust des Wissenwollens, und der Furcht vor einem ungewissen Ausgang, vielleicht auch vor dem Versagen in der Konfrontation mit etwas, das man (noch) nicht kennt. Die Versuchung ist groß, sich aus dieser Erfahrung dadurch zu retten, dass man seine ganze Aufmerksamkeit auf die Fremdartigkeit der Sache richtet und sie nach allen Regeln der Kunst untersucht. Eine Methode, die sich dem Anspruch des Lebens stellt und in die Undurchsichtigkeit von Erfahrungen eintauchen möchte, wagt es, sich vom Rettungsring eines methodologischen Objektivismus zu lösen und das Schwimmen in unsicheren Gewässern zu üben. Um dabei nicht gänzlich den Boden unter den Füßen zu verlieren und wahllos getrieben zu sein, gilt es, sich selbst zur Aufgabe zu werden, das eigene Denken, Erleben und Handeln im Prozess der Erkenntnisgewinnung zu reflektieren. 59 Um zu wissen, warum man etwas wie methodisch tut oder meint, tun zu sollen, muss man wissen, wer man ist und in welchen Zusammenhängen man schreibt. Der Wissenschaftler solle aufhören, so Devereux (1967, 19–20), »ausschließlich seine Manipulation am Objekt zu betonen, und stattdessen gleichzeitig – und bisweilen ausschließlich – sich selbst qua Beobachter zu verstehen suchen«. Es sei allerdings nicht leicht, meint Rombach (1980, 18), »den Zeitgenossen klar zu machen, daß die Vernunft erst noch erforscht werden muß, noch schwieriger ist es, einsichtig zu machen, daß die Selbstklärung der Vernunft einer (schrittweisen) weitergeführten Selbsthervorbringung gleichkommt« [H. B. S.]. Dies tralen Bereichs des Denkens, der gesellschaftspolitische Auswirkungen hat. Maria Medved und Jens Brockmeier weisen auf die äußerst heikle Bedeutung der Sprache bei ihrer Forschung unter Ureinwohnern in Kanada hin: »The traditional languages of our participants are Cree or Objibwa, and even if many Aboriginal individuals cannot speak their indigenous languages any more, English unavoidably carries with it many symbolic connotations. It is, after all, the language of ›White man’s research‹.« (Medved/Brockmeier 2015, 81) 59 »Die meisten Menschen wollen nicht eher schwimmen, als bis sie es können«, lässt Hermann Hesse seinen Steppenwolf sagen. »Natürlich wollen sie nicht schwimmen! Sie sind ja für den Boden geboren, nicht fürs Wasser. Und natürlich wollen sie nicht denken; sie sind ja fürs Leben geschaffen, nicht fürs Denken! Ja, und wer denkt, wer das Denken zur Hauptsache macht, der kann es darin zwar weit bringen, aber er hat doch eben den Boden mit dem Wasser vertauscht, und einmal wird er ersaufen.« (Hesse 1972, 21)

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Phänomenologie der Erfahrung und die Begründung der Methode

sei aber wichtig, denn – und hier zeigen sich Ähnlichkeiten zu den Ausführungen von Devereux – menschliches Erkennen beruhe auf »ungeklärten und verzerrten Grundlagen […], die eine Klärung und Korrektur bis in die untersten Fundamente hinab erforderlich machen« (ebd., 19). Ein Beweis dafür seien die zahlreichen »Grundlagenkrisen«, die selbst die strengsten Wissenschaften immer wieder heimsuchten. Vernunft sei, so betont er, weder gegeben noch nicht gegeben, sondern aufgegeben. Es gelte, »die Vernunft durch die Vernunft zur Vernunft zu bringen« (ebd.). In Anbetracht dieser Überlegungen zeigt sich, dass nicht in erster Linie die Methode eine Sachfrage beantwortet bzw. hilft, sie zu beantworten, sondern umgekehrt, die Beschäftigung mit einer Sachfrage wichtige Hinweise für die Frage nach der Methode liefert. Man könnte auch sagen, dass sich die Methode aus der selbstreflektierten Auseinandersetzung mit der Sache wie von selbst entwickelt. 60 So stellen die Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem, die sich in Kapitel 4 herauskristallisieren, wichtige Implikationen für den Prozess der Erkenntnisgewinnung dar. Denn sie helfen, die Fähigkeit zu kultivieren, mit dem eigenen Nichtwissen, mit Verunsicherungen und Rückschlägen, der Sehnsucht nach klaren methodischen Vorgaben und fixen, vorzeigbaren Ergebnissen umzugehen. Sie machen fremdheitsfähig, damit sich die Wirklichkeit im »Zwischen« in all ihrer Unbegreiflichkeit zeigen darf, wie sie ist und man auf der Suche nach Antworten der Sache und sich selbst näher kommt. Das Schreiben über die Selbstsorge und die Praxis der Selbstsorge geEin eindrückliches Beispiel dieser Erkenntnis liefert auch der Psychiater Medard Boss, der durch seine therapeutische Arbeit mit Patienten bzw. Patientinnen und seine Reflexion dieser Erfahrungen die psychoanalytische Methode als zu mechanistisch und restriktiv kausal verwirft. Daraufhin entwickelt er – v. a. in der Auseinandersetzung mit Heidegger – seine Daseinsanalyse. Seine Analysanden hatten ihn gezwungen, nach einer tragfähigeren Grundlage seines Tuns, das er »mangels besseren Wissens streng gemäß der orthodoxen psychoanalytischen Methodik ausübte« (Boss 1979, 19), zu suchen. »Sie begannen mir schlicht und einfach die Gefolgschaft zu versagen, solange sich meine ›deutenden‹ Interventionen innerhalb des Vorstellungsrahmens der psychoanalytischen Metapsychologie bewegten. Sie nannten meine Erklärungen nicht ›Deutungen‹, sondern willkürliche Umdeutungen, für deren Berechtigung es keinerlei Anhaltspunkte an den Sachen selbst gebe, die vielmehr lediglich einer vorgefaßten, unbegründbaren Theorie entstammten. Vor allem wollten sie von mir adäquater als das verstanden werden, was sie faktisch sind, nämlich als existierende Mitmenschen und nicht bloß als Triebbündel.« [H. B. S.] (ebd., 8) Für Boss war klar: abstrakt-hypothetische Begriffe kommen einer Verstümmelung des Menschen gleich, sie mussten phänomenologisch-daseinsanalytischen Einsichten weichen. 60

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Reflexionen zur Methode

hören zusammen. In Anlehnung an Rombach (vgl. 1980, 24) könnte man auch sagen, das Erscheinenlassen der Selbstsorge ist zugleich ein Erscheinenmachen – und umgekehrt.

2.2 Umsetzung in der Untersuchung oder: Wie zeigt sich die Methode? Die Rede von der methodischen Umsetzung in der Untersuchung bedarf angesichts des eben Ausgeführten einer Erläuterung. Denn es wird ja eben gerade keine Methode vorausgesetzt, die dann schlichtweg umgesetzt werden könnte. Anknüpfend an Rombach ist es vielmehr so, dass eine methodisch offene Herangehensweise zugleich erscheinen lässt und Erscheinen macht. Dies gilt nicht nur für die Sache, um die es inhaltlich geht, sondern genauso für die Methode selbst, die sich in ihrem Vollzug immer wieder neu (auf die Sache) einstellt, entsprechend konfiguriert und in diesem Prozess neue Ansichten und Einsichten hervorbringt. Treffend beschreibt Waldenfels (2015, 166) Umsetzung als »Heterogenese«, denn sie bedeute alles andere als die kontinuierliche Entfaltung von Anlagen und Keimen und lasse sich »weder auf bloße Setzung noch auf bloße Gegebenheit [zurückführen]« (ebd., 267). Sie besagt eben gerade nicht, dass eine bestimmte Methode eindeutige Erkenntnisse zutage fördert. Denn immer geben wir, die wir eine Methode anwenden, dem, was wir vorfinden, Sinn. Dabei, so führt Waldenfels (ebd., 166) aus, überquere die Sinngebung oder Sinnstiftung eine Kluft, die sich nie völlig schließe: »Was uns widerfährt, wird ver-gegenwärtigt, es wird als etwas vor-gestellt und her-gestellt, aber es behält einen ›Bodensatz‹ des Fremden, der sich unserem Zugriff entzieht.« Zum Glück, könnte man sagen, denn nur in dieser Kluft, die sich zwischen meiner bewussten Verarbeitung und den nie restlos fassbaren »originären Supplementen« (ebd.) auftut, die in meinen blinden Flecken verborgen bleiben, steckt mein Entwicklungspotential – und die Freiheit, dass sich Fremdes in seinem Sosein zeigen darf und dadurch wiederum die Methode formt. Der unabwendbare »Zwang zur kreativen Antwortarbeit« (ebd.) in einem Beziehungsgeschehen, die der methodischen Umsetzung im hier beschriebenen Sinne innewohnt, birgt vor allem in der wissenschaftlichen Arbeit enormes Angstpotential. Denn Kreativität und ihr schöpferischer Ausdruck gelten eher als Stümperei oder Makel denn als Gewinn für eine Erkenntnis, die be70 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Umsetzung in der Untersuchung oder: Wie zeigt sich die Methode?

ansprucht, »wissenschaftlich« zu sein. Was hilft, ist aufzuzeigen, dass man nicht einfach nur irgendwie »aus dem Bauch heraus« vorgegangen ist, sondern sich selbst im Prozess reflektierend begleitet hat. Deshalb soll in der Folge gezeigt werden, wie sich die Methode in welcher Form zeigte und wo sie in ihrem Sichzeigen wie Anwendung fand. Noch einmal anders gesagt, soll deutlich werden, wo sich aus der Auseinandersetzung mit einer Sachfrage heraus methodische Hinweise schälten, die dann »umgesetzt« und in dieser Umsetzung weiter transformiert wurden. Devereux erwähnt, dass ihm schon früh einige der wichtigsten Probleme, die er erst später wissenschaftlich untersuchte, deutlich vor Augen standen: »In dem Maße, in dem sich mir weitere Einsichten aufdrängten, glich meine Lage der von K. T. Gauss so treffend beschriebenen: ›Meine Resultate habe ich schon längst; ich weiß nur noch nicht, wie ich zu ihnen kommen werde.‹« (Devereux 1978, 9) Es ist in der Tat nicht unproblematisch, eine Intuition zum Ausgangpunkt einer wissenschaftlichen Studie zu machen. Denn auch wenn sie als eine Art innere Überzeugung, tiefere Einsicht oder unmittelbare Anschauung wesentlich mehr ist als eine dunkle Ahnung oder eine bloß flüchtige Annahme, lässt sie sich zunächst nur schwer in Begriffe fassen und ist dem Verstand nicht ohne Weiteres zugänglich – an eine intersubjektive Nachprüfbarkeit wagt man nicht einmal zu denken. 61 Hier empfiehlt es sich, aus der Not eine Tugend zu machen und die Einsicht als erkenntnisleitendes Prinzip zu nehmen, denn ohne ihr »Einleuchten« in die Sache bliebe das philosophische Denken ein leeres Argumentieren. Dazu ist es wichtig, zunächst so intensiv wie möglich in die Intuition einzudringen und sie so deutlich wie nur möglich zu beschreiben, ihre Kernaussage zu fassen, um sich selbst und anderen klar zu machen, worum es geht. In der vorliegenden Untersuchung geschieht dies durch den Versuch einer Verortung der Umwendung zum Selbst, um diese abzusetzen von anderen Möglichkeiten des Umgangs mit Fremdheit und um zu zeigen, dass Fremdheitsfähigkeit nicht allein durch festgelegte Kompetenzprofile oder die typologische Feststellung kultureller Unterschiede mit vorab definierten Methoden oder Techniken erlernt werden kann (vgl. 1.1). Die Psychologin Ruth Cohn (1980, 136) beschreibt eine Intuition als »einzigartige und komplizierte Fähigkeit zur spontanen Erkenntnis«. Sie basiere auf einer Klarheit von Wahrnehmungen, der Speicherung entsprechender Fakten, geschultem Denken und unblockierten, wachen Gefühlen.

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Zudem ist es hilfreich, die Intuition an eine Erfahrung zu knüpfen, sie von dieser herzuleiten und damit zu plausibilisieren (vgl. 1.2). Denn man fängt immer an einem bestimmten Ort an, immer hat man einen »Grund« zum Schreiben. So erwähnt auch Foucault (vgl. 1996a, 32), dass es kein Buch gebe, das er nicht aus einer unmittelbaren Erfahrung heraus geschrieben habe. An der konkreten Erfahrung anzusetzen, bedeutet, ein Phänomen so zu beschreiben, wie es sich zeigt und vorsichtig dessen Bedeutung zu interpretieren. Dabei rät Waldenfels: »Statt direkt auf das Fremde zuzugehen und zu fragen, was es ist und wozu es gut ist, empfiehlt es sich von der Beunruhigung durch das Fremde auszugehen.« [H. i. O.] Denn die Erschütterung durch einen »wilden« Moment innerhalb des eigenen Erlebens (vgl. Waldenfels 2016, 120) öffnet den Zugang zu Fremdem, der über »exotische Neugierde oder besserwisserische Kritik […] hinausgeht« (ebd., 121). 62 Dieser Zugang soll hier (vgl. 3.) gewählt werden, um aus befremdlichen Erlebnissen und negativen Umgangsweisen damit, Aufgaben für die Selbstsorge zu entwickeln. Das tatsächlich erlebte »Problem« gibt die Richtung der Suche nach möglichen Lösungen vor. Dies geschieht mit einem dezidiert »unmethodischen« Methodenverständnis, das man im Anschluss an obige Ausführungen als nachträglich-reflexiv bezeichnen könnte, weil es aus evidenten Erfahrungen stammt und keine Methode im Sinne einer instrumentellen Handlungsanweisung sein will. Nutzbar gemacht wird hier die »dichte Beschreibung«, die der amerikanische Kulturanthropologe Clifford Geertz nicht für seine Feldforschung entwickelt hat, sondern aus dieser heraus. 63 Zentral ist dabei die semiotische Interpretation von beAn anderer Stelle schreibt Waldenfels (2011, 12) bezüglich eines »methodischen Vorbehalts«, der die Zugangsweise zu Fremdem betrifft: »wer nicht vom Fremden ausgeht, findet keinen Zugang zum Fremden. […] Wer auf Fremdes zugeht, ohne sich von ihm ansprechen und beanspruchen zu lassen, verlässt nicht den altvertrauten Zirkel der Aneignung […]. Wer glaubt, er könne das Fremde vorwegnehmen, benimmt sich wie jemand, der meint, man könne Erstaunliches, Erschreckendes und Überraschendes zu fassen bekommen, bevor man erstaunt, erschrickt oder überrascht wird.« 63 Ich habe mich in meinem Buch »Dichte Beschreibung« in der Arktis. Clifford Geertz und die Kulturrevolution der Inuit in Nordkanada ausführlich mit dem ethnologischen Vorgehen von Geertz befasst und auch kritisch auseinandergesetzt. (vgl. Schellhammer 2015a, inbes. 92 ff. und 355 ff.) Deshalb gehe ich hier nicht intensiver darauf ein. Verweisen möchte ich zudem auf den Tagungsband zum 10. Todestag des weit über disziplinäre Grenzen hinweg bekannten Wissenschaftlers. Dieses Buch geht 62

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Umsetzung in der Untersuchung oder: Wie zeigt sich die Methode?

deutungsvollen Symbolen. (vgl. Geertz 1983, 9) Als »ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen« (ebd., 21) tragen sie Bedeutungen in »fassbarer Form« nolens volens in den öffentlichen Raum zwischenmenschlicher Interaktionen und sind somit realiter beobachtbar und beschreibbar. Durch Sprache, Körperhaltung, Gesten, Blicke, Verhalten usw. können wir eine Ahnung von dem bekommen, was Menschen erleben. Selbst Unbewusstes lebt nicht nur »in den verborgenen Kammern einer psychischen Innenwelt«, es zeigt sich »im präsentistischen Raum der Beziehung« (Fuchs 2003, 16). In einem kontinuierlichen Wechselspiel von phänomenologischer Beschreibung und hermeneutischer Analyse verdichtet sich das Verständnis dessen, was sich vor unseren Augen abspielt, ohne jemals an ein Ende zu gelangen. In der dichten Beschreibung verschränken sich das eigene Erleben und Wahrnehmen, die bewusste und die unbewusste, gleichsam natürliche oder automatische Interpretation von diesem mit den Bedeutungsgehalten dessen, was beobachtet wird, also mit den Bedeutungen, die die Menschen selbst ihrem Handeln beimessen. Dieses Hin und Her zwischen Erste- und Dritte-Person-Perspektive gilt es selbstkritisch zu kultivieren, d. h. beides so gut wie möglich zu unterscheiden. Das bedeutet auch, die Spannung einer zugewandten Distanz zu halten und sich zugleich in engagierter Gelassenheit zu üben ohne entweder vornehmlich sich selbst zu beschreiben oder distanziert-abgehoben vermeintlich bloß die anderen. Das ist nicht leicht, denn man hat es mit einer »Vielfalt komplexer, oft übereinandergelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen [zu tun], die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind und die [man] zunächst einmal irgendwie fassen muß« (ebd., 15). Wieder und wieder muss man sich einlassen auf die Rekapitulation der Erfahrung und auf das, was man meint, verstanden zu haben, d. h. Erleben wird reflektierend verknüpft mit theoretischem Wissen von Hintergründen und Zusammenhängen. (vgl. zur Lippe 2000b, 339) Hier heißt das konkret, herauszuarbeiten, warum die verschiedenen Akteure der geschilderten Szene, die Inuk, die Polizisten und die anwesenden Beobachter, so handelten und reagierten, wie sie es taten, insbesondere auf die Bedeutung seines Denkens für aktuelle Entwicklungen – darunter auch den Umgang mit Fremdem – ein: Gmainer-Pranzl/Schellhammer (2019): Culture. A Life of Learning. Clifford Geertz und aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen.

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welche Erlebnisgründe, Sinn- und Bedeutungsstrukturen sich dahinter verbergen. Dabei spielt das Schreiben eine zentrale Rolle – und auch hier eröffnet sich die Schwierigkeit, aufzuschreiben, aber nicht festzuschreiben, sondern weiterzuschreiben, zu feilen, zu präzisieren, ohne Unterlass um die besten Worte zu ringen. 64 Auf die Gefahren des schriftlichen Fixierens von Philosophie wies bereits Platon hin, wenn er Sokrates im Phaidros (274 b ff.) sagen lässt, dass die Schrift letztlich nur totes Wissen vermitteln könne, das von der Lebendigkeit des Lebens abgeschnitten sei. So verließen sich Menschen im Vertrauen auf das geschriebene Wort und bildeten sich ein, viel zu wissen, ohne wirklich weise zu sein. »Writing is not just externalizing internal knowledge«, schreibt van Manen (2002, 237), »rather it is the very act of making contact with the things of our world« [H. B. S.]. Nur wenn man so dicht wie möglich erfasst, was »echte« Probleme sind, kann man auch »echte« Lösungen finden. Im Prozess des Schreibens stellt man fest, dass sich Erkenntnisse zum Teil plötzlich Eine Auseinandersetzung, die sich mit einem Phänomen beschäftigt, das sich gerade darin ausdrückt, dass es sich nicht in klare Ordnungen und Grenzen – auch nicht in sprachliche – bringen lässt, steht vor einer besonderen Herausforderung. Allein schon die Rede von »dem« Fremden erweckt den Eindruck, als handle es sich dabei um eine klar umrissene und beschreibbare Entität, die im Kontext des Eigenen eingeordnet und begriffen werden könnte. Fremdes lässt sich aber eben gerade nicht eindeutig bestimmen und begrenzen – schon gar nicht durch einen definiten Artikel, der Informationen angibt, die etwas vorwegnehmen, das so eigentlich nicht gewusst oder gesagt werden kann. Die Aufmerksamkeit darauf, dass jede Begriffssprache relativ ist, sollte, so gut es eben geht, das Schreiben begleiten. Denn jede Begrifflichkeit hat die Tendenz, »einen Prozeß statisch zu formulieren, zu definieren, d. h. einzugrenzen« (Mitscherlich 1954, 9). Sie stehe, so betont Mitscherlich, »immer in Gefahr, über der bewegteren Wirklichkeit eine zweite, abbildliche zu errichten. Im nächsten Schritt, nämlich in der Gewohnheit, pflegt dann diese zweite Wirklichkeit mit der ursprünglicheren verwechselt zu werden.« (ebd.) In gewissem Sinne zeigt sich darin der klassische Fall einer fallacy of misplaced concreteness (vgl. Whitehead 1988), die schon einiges darüber aussagt, warum so viele Projekte interkultureller Bildung scheitern. (vgl. dazu Aydt 2015) Ähnlich wie van Manen (2002) die Schwierigkeiten phänomenologischen Schreibens in Writing in the Dark thematisiert, gestaltet sich der Versuch, über die Erfahrungen mit Fremdheit zu schreiben, als eine seltsam einsame Erfahrung; es ist, als würde man vorsichtig tastend einen Weg durch dunkle Räume suchen – ohne zu wissen, wo man sich am Ende wiederfindet. In der eigenen Sprache ist man mehrfach gefangen – und zwar in der Weise, in welchen Grenzen man die eigene Welt erlebt und in der Weise, wie man von diesen Erfahrungen spricht oder schreibt und damit einen umgrenzten Horizont aufspannt, der eigentlich gerade nicht »grenzt«. 64

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Umsetzung in der Untersuchung oder: Wie zeigt sich die Methode?

und unerwartet einstellen, sie lassen sich nicht erzwingen. Geertz (ebd., 36) spricht von »ruckartigen« Einsichten, die mikroskopisch genauen Einzelbeschreibungen entspringen. 65 Die Analyse eines fremdartigen Verhaltens »gleicht nicht so sehr einer ansteigenden Kurve kumulativer Ergebnisse, sondern zerfällt in eine Abfolge einzelner und dennoch zusammenhängender, immer kühnerer Vorstöße« (ebd.). Insofern ist die dichte Beschreibung praktische Phänomenologie, denn wir tun etwas, wenn wir Worte gebrauchen, mit Worten spielen und experimentieren, um Unterschiedliches möglichst genau in Erscheinung zu bringen und darin Allgemeines entdecken. Man könnte diese ereignishafte Bewegung der phänomenologischen Beschreibung auch mit Whiteheads zyklischen Stadien geistigen Wachstums beschreiben, die unten noch einmal in einem anderen Zusammenhang zur Sprache kommen werden. (vgl. 4.5.2) Das erste Stadium der »Schwärmerei« ließe sich angesichts des vorliegenden Falls allerdings eher mit einem betroffenen Befremden oder aufgeschreckten Staunen beschreiben, mit einer inneren »Unruhe, die sich im Geist regt« (Whitehead 2012, 59) und die in der Phase der »Präzision« durch die Reflexion, das Nachdenken und die Interpretation vorläufig eingeordnet wird in ein Bedeutungsgeschehen, das »der Genauigkeit der Formulierung untergeordnet [wird]« (ebd., 60) 66. Die Rede von »mikroskopisch genauen Einzelbeschreibungen« ist zentral. Geertz widersetzt sich universellen Großideen und zieht es vor, so akribisch wie möglich »ethnografische Miniaturen« (Geertz 1983, 31) zu beschreiben. Denn es sei diese Art von Material, »das den gigantischen Begriffen, mit denen es die heutige Sozialwissenschaft zu tun hat – Legitimität, Modernisierung, Integration, Konflikt, Charisma, Struktur, Bedeutung – jene Feinfühligkeit und Aktualität verleihen kann, die man braucht, wenn man nicht nur realistisch und konkret über diese Begriffe, sondern – wichtiger noch schöpferisch und einfallsreich mit ihnen denken will«. [H. i. O.] (ebd., 33–34) Die Allgemeinheit, die eine Kulturtheorie möglicherweise erlange, verdanke sich, so meint Geertz (ebd., 35), »der Genauigkeit ihrer Einzelbeschreibungen, nicht dem Höhenflug ihrer Abstraktionen«. Diesen Gedanken, noch einmal anders formuliert, bringt Rolf Elberfeld (2017, 418) mit Marcel Proust auf den Punkt, der meint, auf der äußersten Spitze des Besonderen komme das Allgemeinste zur Entfaltung. Dieser Hinweis erlaube es, so Elberfeld, »in einer transformativen Phänomenologie keine Angst vor dem konkreten und dem ›Subjektiven‹ zu haben, denn nur wenn das Konkrete und das Subjektive auf die Spitze getrieben wird, gelangt man zum Allgemeinsten.« Es gebe keine grundsätzlichen Gestalten außer in diesen und jenen besonderen, einmaligen Ausprägungen, meint auch zur Lippe (vgl. 2000b, 355). Dem Einfachsten werde in der Erfahrung die höchste Bedeutung abgewonnen. 66 Ähnlich betont van Manen (2007, 12), dass die Phänomenologie zwar das Projekt 65

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Reflexionen zur Methode

Daran schließt sich das Stadium der »Verallgemeinerung« an (hier v. a. in 3.4 und 5.1 bzw. 5.2): Erkenntnisse werden behutsam typisiert, um daraus grundsätzliche Gesichtspunkte zur Bildung von Fremdheitsfähigkeit zu entwickeln, die auch in anderen Kontexten von Bedeutung sein können. 67 Eine Theorie müsse sich auch als »intellektuell tragfähig« erweisen, d. h. auch gegenüber weiteren Realitäten behaupten können, meint Geertz (1983, 38), den man an dieser Stelle um das Wort »interkulturell« ergänzen muss. Denn schließlich geht es auch ihm darum, das »menschliche Diskursuniversum« (ebd., 20) über kulturelle Grenzen hinaus zu erweitern und nicht unsere tiefsten Fragen zu beantworten, »sondern uns mit anderen Antworten vertraut zu machen, die andere Menschen […] gefunden haben, und diese Antworten in das jedermann zugängliche Archiv menschlicher Äußerungen aufzunehmen« (ebd., 43). Mit Hilfe der dichten Beschreibung lassen sich aus einem singulären Fall Facetten herauslösen, die auf die eine oder andere Weise Menschen typischerweise betreffen, wenn sie mit Fremdheit konfrontiert werden: Wir werden uns selbst fremd, wenn wir von unbewussten Regungen getrieben sind, wir tragen Verletzungen in uns, die uns an wunden Punkten besonders empfindsam machen, wir werden überrollt von Körperempfindungen und unwillkürlichen Gefühlsansteckungen, wir sind angewiesen auf ein Gefühl von (Selbst-) Sicherheit und Bodenständigkeit, wir streben nach Macht und Kontrolle, wenn wir uns ohnmächtig und hilflos fühlen, usw. Um ein möglichst breites Spektrum von Erfahrungswirklichkeiten zu erhalten, erfolgt die Analyse des Falls aus den drei Perspektiven der Akteure: der Inuk, der Polizisten und der Beobachter. Das ist wichtig, denn es geht darum, Möglichkeiten zu eröffnen, »daß diese Erfahrung auch von anderen gemacht werden kann« (Foucault 1996a, 32) einer möglichst nüchternen Reflexion gelebter Erfahrung sei, sie aber angeregt und getrieben werde von Momenten der Faszination: »being swept up in a spell of wonder, a fascination with meaning. The reward phenomenology offers are the moments of seeing-meaning or ›in-seeing‹ into the ›heart of things‹«. 67 Ganz ähnlich beschreibt zur Lippe, bezugnehmend auf Goethes Metamorphosenlehre, »wissenschaftliches Arbeiten« in drei Schritten: Es setze zunächst bei einem empirischen Phänomen an, mache sich zweitens einen Begriff von diesem, das dann in einem »wissenschaftlichen« Licht erscheine, bevor es drittens grundlegende Einsichten preisgebe, die typischerweise zuträfen. So nähere (»amalgiere«) sich der menschliche Geist den Gegenständen in ihrer Allgemeinheit. Dies sei jedoch kein abstrakt-distanziertes Wissen, das beherrschen will, sondern drücke sich aus in einer Lebenspraxis, die den »arbeitenden« Menschen bildet. (vgl. zur Lippe 2000b, 349)

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Umsetzung in der Untersuchung oder: Wie zeigt sich die Methode?

– auch wenn die Szene zunächst nichts mit dem eigenen Leben zu tun haben scheint. Die Fremdheitserfahrung, die uns herausfordert, ängstigt, lähmt, wütend macht oder traurig stimmt, wird uns zur Aufgabe, sie wird zur Aufgabe einer Sorge um sich selbst. Motive dieser Selbstsorge stellen das Herzstück der Untersuchung (vgl. 4.) dar. Bereits in der dichten Beschreibung zeigt sich, dass eine adäquate Problemdarstellung bzw. -interpretation nur transdisziplinär erfolgen kann. Verschiedene Disziplinen vermögen das Phänomen von verschiedenen Seiten zu erhellen, nur in der multiperspektivischen Zusammenschau ergibt sich ein vollständigeres Bild. Dies setzt sich im 4. Kapitel fort, in welchem sich durchgängig die Frage aufdrängt, wo sich hilfreiche Theorien, Gedanken und Ansatzpunkte finden lassen, die das jeweilige Motiv der Selbstsorge treffen. Von der Analyse des Problems ausgehend, zeichnet sich hier ein Weg ab, der von tiefen- und sozialpsychologischen Theorien über kulturanthropologische Hinweise bis hin zur Philosophie verläuft, ohne dass sich die einzelnen Abschnitte klar trennen ließen. Dabei befruchten sich verschiedene Theorien und Erklärungen wechselseitig und gewinnen durch die Arbeit an einem gemeinsamen »Problem« neue Formen. Am Ende der Untersuchung (vgl. 5.) zeigt sich, dass sich keine abschließende Antwort auf die Frage nach der Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit, etwa im Sinne eines Fazits oder einer »to-doListe«, finden lässt. Vielmehr wird deutlich, dass es auf den Weg ankommt. Eine Untersuchung, die ihren Ausgang in phänomenologischen Beschreibungen von Erfahrungen nimmt, vollzieht sich als ein Prozess mit offenem Ende. Denn ein vorab bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, würde einen von vorneherein festlegen. Der Weg würde zur Phrase, den es bloß zu absolvieren gälte. Man würde sich in die eigene Tasche lügen Widerstände hastig aus dem Weg räumen, ohne deren Sinn zu verstehen, der aber wichtig sein kann, um nicht den falschen Idealen nachzujagen. Wir müssten bereit sein, uns ganz dem Begegnenden zu öffnen, schreibt zur Lippe (2000b, 350), »also frei werden von Erwartungen und Plänen, die unsere Aufnahmefähigkeit kanalisieren würden«. Nur in dieser Übung einer »progressiven Regression« (ebd., 356) finden sich Antworten als unterschiedliche Motive entlang einer Suche, die selbst zum Ziel wird. Man könnte auch sagen, die philosophische Methode wird zu einer Praxis ohne letzten Grund. Es gebe eine indische Geschichte von einem Engländer, erzählt Geertz (1983, 41), »dem man erklärt hatte, die Welt stehe auf 77 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Reflexionen zur Methode

einem Podest, das auf dem Rücken eines Elefanten stehe, der selbst wiederum auf dem Rücken einer Schildkröte stehe; und dieser Engländer fragte daraufhin […], worauf denn die Schildkröte stehe? Auf einer anderen Schildkröte. Und diese andere Schildkröte? ›Oh Sahib, dann kommen nur noch Schildkröten, immer weiter hinunter.‹« Das phänomenologische Schreiben ist, genau wie es Geertz bezüglich der Untersuchung von Kultur beschreibt, seinem Wesen nach unvollständig. »Und mehr noch, je tiefer [es] geht, desto unvollständiger wird [es].« (ebd.) Die »dichte« Beschäftigung mit einer Erfahrung führt aber, ähnlich wie dies Pierre Hadot (1999) in den geistigen Übungen der Antike herausarbeitet, zu einem feineren Spürsinn, denn sie sensibilisiert die Aufmerksamkeit für kleine, aber wichtige Details und öffnet den Geist für Sonderlichkeiten, die sonst leicht im Strom des Alltäglichen verschluckt oder vielleicht sogar bewusst vermieden werden. So kann man zurückblicken auf das Erlebte und sich fragen: Was hat sich gezeigt und was ist dabei wichtig geworden? Ein solches Vorgehen mit offenem Ende ist nicht leicht, denn vor allem in akademischen Kreisen wollen wir etwas vorzeigen können, das nachvollziehbar und überzeugend ist und uns entsprechend Anerkennung bringt, anstatt aufzuwarten mit Erklärungen, die auf unsicherem Grund stehen. Genau dieser schwankende Boden ist es aber, der auf die Beantwortung der Frage nach Übungswegen zur Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit passt. Denn hier muss jeder und jede seine bzw. ihre eigenen Wege finden. Insofern vollzieht sich die »Umsetzung« der Methode am Schluss als ein Zurückblicken auf den bisherigen Gang der Untersuchung, das man als ein vorläufiges Stadium der Verallgemeinerung (vgl. Whitehead 2012, 83) bezeichnen könnte, »in der Details zugunsten der aktiven Anwendung von Prinzipien abgeschüttelt werden« (ebd.). Das, was sich zeigt und behutsam typisieren lässt, wird in der konkreten Umsetzung wieder zur individuellen Aufgabe, vor die wir alle ein Leben lang gestellt sind. »Hier geht die wissende Erfahrung, indem sie vom Abstrakten sich dem sinnlich Konkreten neu zuwendet, weiter ihrer Vervollkommnung entgegen.« (zur Lippe 2000b, 353)

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3. »Dichte Beschreibung« des Falls: Aufgaben für die Selbstsorge

Die Analyse des Falls im Sinne der dichten Beschreibung möchte aus der Vielzahl verworrener Erfahrungsmomente 68 in der missglückten Auseinandersetzung mit Fremdem einige Fäden herauslösen, die Anknüpfungspunkte liefern für die Selbstsorge mit dem Ziel der Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit. Dies soll entlang der Erfahrungshorizonte involvierter Personen, der Frau, der Polizisten, der Beobachter und Beobachterinnen, geschehen.

3.1 Motive der Fremdheitserfahrung der Inuk Die Geschichte der Ureinwohnerkulturen in Kanada ist vielschichtig und komplex, sie ist zutiefst geprägt und durchdrungen von »kollektiven Verletzungsverhältnissen«, d. h. von »sozial bedeutsamen und psychisch wirksamen Hinterlassenschaften ausgeübter und erlittener Gewalt« (Straub 2014a, 86). Diese über Jahre verfestigten psychosozialen Verwundungen bergen bis heute erhebliche Verletzungsrisiken, da sich dysfunktionale Muster hartnäckig wiederholen. In dem, was in beschriebener Szene passierte, zeigen sich zahlreiche Symptome von diesen unterschwellig wirksamen Dynamiken. Ohne hier ausführlich in die geschichtlichen Details eindringen zu können 69, sollen einige Gesichtspunkte der meist unbewältigten Vergangenheit vieler indigener Menschen zur Sprache kommen, um geschildertem Hier sei noch einmal auf den Erfahrungsbegriff zur Lippes verwiesen, der dem Folgenden zugrunde liegt. Dieser geht von einem Erleben aus, das er »reflektierend mit dem Wissen von seinen Hintergründen und Zusammenhängen verbindet« [H. B. S.] (Lippe 2000b, 339). Genau diese Hintergründe und Zusammenhänge sollen nun unter Zuhilfenahme verschiedener Theorieangebote herausgearbeitet werden. 69 Vgl. hierzu die detaillierte Darstellung z. B. in Royal Commission on Aboriginal Peoples 1996, Hamilton 1994, Schellhammer 2015a, Schellhammer 2019, Truth and Reconciliation Commission of Canada 2015, Monchalin 2016. 68

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»Dichte Beschreibung« des Falls: Aufgaben für die Selbstsorge

Fall einen Kontext zu geben. Dies soll helfen, dem Phänomen der verstörenden Selbstentfremdung der Inuk und dessen psycho-sozialen Auswirkungen näherzukommen.

3.1.1 Die Schande der »primitiven« Herkunft – das Selbst ohne Grund und Boden Die Spuren des massiven Selbstverlusts lassen sich vor allem zurückverfolgen zum erklärten Ziel der Assimilation durch die Indian Residential Schools »to kill the Indian in the child«, wie dies der ehemalige kanadische Premierminister Stephen Harper in seinem offiziellen Statement of Apology von 2008 auf den Punkt brachte (vgl. Harper 2008) 70. Im Zuge dessen lernten und verinnerlichten die First Nations, Inuit und Métis schnell, dass es nicht gut sei, »unzivilisiert und wild« zu sein und versuchten, den Ureinwohner in sich zu töten, zumindest aber so weit wie möglich zu verdrängen. Unter dem Druck von außen entwickelte sich etwas in den Menschen, das es als »Kern des Fremden« (Erdheim 2012, 2) zu bekämpfen galt: »Dieses Eigene, das als Fremdes deklariert worden ist, wird als Wildes behandelt, das kolonialisiert und so zivilisiert werden soll.« (ebd., 3) Angst und Scham prägten den Umgang mit der anglo-amerikanischen und frankophonen Gesellschaft, die nicht selten auch in Rückzug, Selbstverletzung und Hass umschlugen. Ausgrenzungserfahrungen, symbolisch unverkennbar vor allem durch die Errichtung von Reservaten, und speziellen »Indianergesetzen« inklusive des Verbots traditioneller Zeremonien trennten die Ureinwohner auch äußerlich im Bereich des gesellschaftlichen Lebens vom Rest der Bevölkerung. Dies führte zu der schizophrenen »double-bind«-Situation, dass sich Ureinwohner zwar anpassen und eingliedern sollten, aber zugleich nicht dazugehörten, eigene Räume zugwiesen bekamen – und bspw. erst 1960 das Wahlrecht erhielten, also erst dann das öffentlichen Leben offiziell mitbestimmen konnten. (vgl. Bombay u. a. 2009, 14) Dieser Widerspruch kann mit Zymunt Bauman auch als Assimilierungsfalle bezeichnet werden: Die Assimilation war zwar erfolgreich, führte aber dennoch nicht zur vollen Anerkennung durch die herrschende Es wird mittlerweile – vor allem nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts der Truth and Reconciliation Commission – auch von »kulturellem Genozid« gesprochen. (vgl. Austen 2015)

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Nation. »Sehr zu ihrer Verzweiflung«, so schreibt Bauman (2012, 179), »fanden die Assimilierten, dass sie sich in Wirklichkeit einzig an den Prozess der Assimilation selbst assimiliert hatten«. Die lustigernste Metapher eines Inuit-Ältesten beschreibt treffend das zwiespältige Gefühl, nicht so recht in die anerzogene bzw. erzwungene neue Haut zu passen, diese aber auch nicht mehr abstreifen zu können: Als Aboriginals seien sie als natürlich gewachsene »Gurke« auf die Welt gekommen, durch die Assimilation aber zur »Gewürzgurke« gemacht worden – einen Weg zurück gebe es nicht. Er sehe sich hoffnungslos gefangen oder verloren in der unentrinnbaren Falle zwischen einem »Nicht-mehr« und einem »Noch-nicht«. Dieser Zustand sei existenziell bedrohlich und unerträglich lähmend. (vgl. Schellhammer 2015a, 211) Durch den Verlust der indigenen Sprachen in der Residential School war es den Menschen einer oralen Tradition kaum mehr möglich, Geschichte und Geschichten von einer Generation zur nächsten weiterzugeben. 71 Zudem waren ohnehin die Kinder als Adressaten der Erzählungen nicht mehr da. Bei den zurückgebliebenen Erwachsenen entstand eine große Leere, Sinn- und Sprachlosigkeit. Sie fühlten sich hilflos und schuldig, ihre Kinder nicht besser geschützt zu haben und so als Eltern nicht länger gebraucht zu werden. Traditionen, altes Wissen und Kenntnisse des Überlebens auf dem Land gingen ebenso verloren wie das verbindende Ritual des Geschichtenerzählens an sich. Die bekannte Aussage Wittgensteins (2003, 21), sich eine Sprache vorzustellen, bedeute, sich eine Lebensform vorzustellen, bewahrheitet sich hier auf besonders drastische Weise. Es käme auf den tatsächlichen Gebrauch der Wörter an, betont er, um deren Bedeutung für das Leben zu verstehen und Leben entsprechend gestalten zu können. Nur den Gebrauch abgehoben und abstrakt zu erlernen, reiche dagegen nicht. (vgl. ebd., 17) Der Verlust der vielen unterschiedlichen Worte der Inuit für Schnee hatte zur Folge, dass die Menschen nicht mehr über das Wissen verfügten, gefahrlos auf die Jagd zu gehen – womit bis heute nicht nur eine Form der selbständigen Versorgung mit lebenswichtigen Nahrungsmitteln wegfällt, son-

Medved und Brockmeier (2015, 82) erklären dazu: »[I]ndigenious languages were systematically suppressed. One form of such suppression was to forbid children in residential schools to speak in the language of their parents and communities. The explicitly pronounced purpose of this policy was to break the people’s link to their language and the associated cultural meanings and traditions.«

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dern auch ein zentrales kulturelles Symbol und zahlreiche Rituale, die über Jahrhunderte zur Stärkung des sozio-kulturellen Netzwerks und zum Selbstverständnis der Menschen beigetragen haben. 72 Eine schwerwiegende Folgeerscheinung der Trennung der Kinder von ihren Familien war die tiefe intergenerative Kluft, die sich mit einem Mal auftat: »familial bonds were disrupted and often irreparably broken« (Bombay u. a. 2009, 14). Kinder schämten sich für ihre »primitiven« Herkunftsfamilien, distanzierten sich von diesen äußerlich und innerlich, und litten zugleich an großer Einsamkeit. Der Kulturverlust ging einher mit dem Identitätsverlust – mehr noch, die Kultur war nicht nur verloren, sie war auch beschmutzt, sie galt als diskreditierendes Stigma (vgl. Goffman 2010). Spirituell ging dies soweit, dass die Kinder, die von Priestern und Nonnen erzogen worden waren, ihren Eltern beizubringen versuchten, nicht mehr an Schamanen, Spirit Animals und Geister zu glauben, weil sie befürchteten, diese kämen mit ihrem irrigen Naturglauben in die Hölle. Die Missachtung und Erniedrigung der Herkunft der Kinder war vor allem auch ein Angriff auf deren Selbstwert, der massive Folgen für das zwischenmenschliche Miteinander zeitigte. Die Familientherapeutin Virginia Satir (1998) wies eindrücklich auf den Zusammenhang zwischen dem Zweifel am eigenen Wert, psycho-sozialer und körperlicher Gesundheit und Verhalten hin. Menschen mit geringem Selbstwert kommunizieren häufig in dysfunktionalen Mustern. Wenn ein Mensch keine Selbstachtung hat, »gebraucht er die Handlungen und Reaktionen eines anderen, um sich selbst zu definieren« (ebd., 82). D. h. er wird in vielerlei Hinsicht Spielball sozialer Umstände, immer auf der verzweifelten, krampfhaften, manchmal sogar gewaltvollen Suche nach Anerkennung. Der Bruch zwischen den Generationen zeigt sich auch in Vorstellungen, welche die Zukunft betreffen. Während die ältere Generation häufig versucht, alles, was noch an Vergangenem geblieben ist, festzuhalten, möchte die junge Generation ihren eigenen Weg gehen. Sie fühlen sich gefangen zwischen den widersprüchlichen Ansprüchen, moderne Es gibt mittlerweile zahlreiche Versuche, die Sprachen der Inuit zu »konservieren«, doch auch hier zeigt sich die Bedeutung von Wittgensteins These: Es handelt sich dabei häufig nicht mehr um einen aktiven Wortschatz, sondern eher um Folklore. Denn die Zeiten, in denen die Inuvialuit von einem »Leben auf dem Land«, von der Jagd, lebten, sind vorbei. Geschichten sind häufig zu Erzählungen vergangener Tage geworden und dienen immer weniger der Weitergabe einer tatsächlich praktizierten traditionellen Lebensform.

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Kanadier zu sein und zugleich die Tradition aufrechtzuerhalten. Nicht selten wird ihnen vorgeworfen, keine »richtigen« Inuit, Gwich’in oder Cree zu sein – Kabloonak 73 sind sie aber auch nicht. 74 Das, was sich während der Truth and Reconciliation Hearings dramatisch für die Frau abspielte, zeugt von einer tiefen, existenziellen Haltlosigkeit, von einer »abstrakte[n] Nacktheit des nur Menschseins« (Arendt in: Gruen 2014, 27). Menschen, die ihrer Kultur entrissen werden, sind entblößt und schutzlos, sie haben nichts, auf das sie sich stützen können. Viele Ureinwohner stehen der eigenen Herkunft mittlerweile ebenso distanziert gegenüber, wie dem unbekannten Neuen, in das sie sich einfügen sollen. Das geschichtlich-traditionell Ureigene wurde durch die erzwungene Ablösung zu etwas Fremden. Die Menschen wurden sich selbst »ein Anderer«, sie entwickelten sich zu etwas künstlich Hergestelltem, ohne wirklich wurzeln zu können. Der Verlust des »kulturellen und sozialen Heimatbodens« ist äußerst schmerzhaft und »oft nicht vollends zu bewältigen« (Straub 2015a, 136) 75. Es setzt eine »Veranderung des Selbst voraus, eine einschneidende Identitätstransformation, die nicht bloß an der Oberfläche kratzt und lediglich in der Peripherie des Selbst für ein wenig Unruhe sorgt« [H. i. O.] (ebd.). [Solche identitätsrelevanten Veränderungen] ziehen Trauer nach sich. Sie machen Angst. Sie bringen Anforderungen und Herausforderungen mit sich, die niemand beiläufig meistert – vielleicht niemals restlos zu »erledigen« und zu »verwinden« vermag. Manche Verluste oder anders initiierte Selbst-Veranderungen schaffen Unerledigbares, das als »unerledigte Vergangenheit« leiblich und seelisch präsent bleibt. (ebd., 137) Kabloonak ist Inuktitut und bedeutet »Menschen mit buschigen Augenbrauen«. (vgl. Alia 2007, 152) Valerie Alia (2007) hat sich in Names and Nunavut: Culture and Identity in Arctic Canada intensiv mit der Bedeutung von Namen und Namensgebung in der Tradition der Inuit beschäftigt. 74 Sehr eindrücklich beschreibt Dennis Allen (2005), Sohn eines Inuk und einer Gwich’in (ein Stamm der First Nations im Nordwesten Kanadas) diese innere Zerrissenheit in seinem Film My Father, My Teacher. Er erklärt: »One school of thought tells me my past is dead and now is the place to be. The other tells me my past is alive, and that to be in the here and now I must acknowledge it.« (ebd.) Vgl. auch die Ausführungen von Nelson Graburn (2006, 150 ff.) zu Being a Real Inuk. 75 Iris Graef-Calliess, leitende Ärztin des Zentrums für Transkulturelle Psychiatrie & Psychotherapie der Klinik Wahrendorff weist bei ihrer Arbeit mit Migranten und Migrantinnen in Deutschland immer wieder darauf hin, dass Heimweh krank machen kann. Gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen konnte sie zeigen, dass Assimilationserfahrungen zu schweren Depressionen führen. (vgl. Behrens u. a. 2014, Buschlinger 2014, Graef-Calliess/Schellhammer 2017) 73

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Menschen, die sich in einem »existenziellen Vakuum« befinden, weil sie kein sozio-kulturelles Netzwerk haben, auf dem sie gründen, laufen Gefahr, entweder nur das zu wollen, was andere tun oder nur das zu tun, was andere wollen. (vgl. Frankl 2005, 13) Personsein drückt sich jedoch in Formen der Selbstbestimmung aus, in der Möglichkeit, ein stabiles Orientierungssystem zu entwickeln, das auf Bedeutung und Sinn gründet und auf dem sich ein gelungenes Leben gestalten lässt. Das sichere Gefüge sozio-kultureller Beheimatung ist eine anthropologische Notwendigkeit. Ohne Menschen gäbe es natürlich keine Kultur, erwähnt Clifford Geertz (1973, 49), aber umgekehrt gäbe es ganz sicher auch keine Menschen ohne Kultur, denn diese entscheide über ihre »kreatürliche Lebensfähigkeit« (Geertz 1983, 60). Der Verlust von Kultur als ein geschichtlich-symbolhaft tradiertes Bedeutungsgewebe führt dazu, dass Menschen haltlos ins Leere stürzen und sich selbst und anderen Schaden zufügen. Dies wird in geschilderter Szene und bei all dem, was die Inuk von sich und ihrem Leben willentlich und unwillentlich preisgab, deutlich: Ohne Kultur, so schreibt Clifford Geertz, wäre der Mensch »nicht etwa bloß ein begabter Affe, der wie ein benachteiligtes Kind unglücklicherweise an der vollen Entfaltung seiner Möglichkeiten gehindert wäre, sondern eine Art formloses Monster ohne Richtungssinn und ohne Befähigung zur Selbstkontrolle, ein Chaos sprunghafter Impulse und unbestimmter Emotionen«. (ebd.) Ähnliches findet sich bei Viktor Frankl, wenn er argumentiert, Menschen, die keinen Sinn im Leben mehr sähen, verlören den Boden unter den Füßen, sie hätten keinen Grund mehr, Glück im Leben zu erfahren. In der Folge versuchten sie mit dem direkten Griff nach Lusterfüllung die Haltlosigkeit zu kompensieren. Desto mehr sie jedoch nach diesem »grundlosen« Glück griffen, je weniger würden sie es erreichen können. Wie ein Fass ohne Boden rutschen Menschen so in Gewaltspiralen, Abhängigkeiten und Süchte – und entfernen sich dabei immer weiter von sich selbst. In dieser Selbstentfremdung liegt eine Wurzel der Begegnungsschwierigkeiten mit Fremdem. Vor allem die Fremdheit, die uns an verkannte, verdrängte und geopferte Eigenheiten erinnert, hinterlässt tiefe Spuren (vgl. Waldenfels 2016, 120). So ist es kein Wunder, dass sich die Gewalt auf Reservaten und in den Inuitsiedlungen der Arktis häufig gegen die engsten Familienangehörigen richtet.

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3.1.2 Die finstere Macht unerledigter Verletzungserfahrungen Ganz ähnlich wie es die beiden Inuit in ihren traurigen Geschichten berichteten, kam es in den schlecht geführten Internaten zu sexuellen Übergriffen und anderen Formen des Missbrauchs oder der Vernachlässig der Kinder und Jugendlichen, die mit diesen massiven Verletzungserfahrungen auf sich gestellt und alleingelassen umgehen mussten. Eine wichtige Überlebensstrategie der Opfer ist es, sich von sich selbst zu distanzieren und die schlimmen Erlebnisse zu verdrängen. Menschen müssen ihren Schmerz verschweigen, so Arno Gruen (2014, 32), »weil er den alten Terror wieder zum Leben erwecken würde«. Die verletzenden Erfahrungen lassen sich jedoch nicht einfach so wegdrücken oder auslöschen, denn sie brannten sich tief ein und treiben als dunkle Schatten der Vergangenheit ihr Unwesen. Bis heute hängen sie wie klebrige Kletten an den Betroffenen. Als ständige Begleiter beeinflussen sie eigenmächtig die Art und Weise des Umgangs mit anderen und lasten schwer auf dem Selbst. Die hohen Selbstmordraten, vor allem unter jugendlichen Inuit, extremer Alkoholkonsum, das sog. binge-drinking (»Koma-Saufen«), und die Gewalt in Familien können als verzweifelte Versuche interpretiert werden, sich dieser dunklen Mächte der Vergangenheit zu entledigen. Als die Frau im Sharing-Circle ihre Geschichte vielleicht zum ersten Mal offen und schutzlos erzählte, so die Erinnerungen aus dem über Jahre sorgsam verriegelten Verlies ihrer Seele ans Licht brachte, wurde sie von diesen überwältigt. »Etwas« übernahm die Kontrolle, das sie nicht mehr im Griff hatte. Mathias Hirsch (2000, 213; vgl. 1995, 124) berichtet von ganz ähnlichen Erfahrungen mit traumatisierten Menschen, wenn ein Teil der Person »außer sich« gerät. Dieses sei ein Gebilde, »das als Fremdkörper wirkt und das Verhalten des Patienten steuert wie ein fremdes Programm einen Automaten«. Es lasse »das Verborgene Wirklichkeit werden«, was zu »Gefühlen der Leere, des mangelnden Selbstwerts, der ›grundlosen‹ Depression« führe. Auch die Begriffe, welche die Inuk für ihre Erlebnisse fand, in die sie das Erlebte packte, konnten die Emotionen darin nicht mehr begrenzen und in Schach halten, sie suchten sich ihren Raum, unartikulierbar barsten sie aus ihr heraus. »Was Menschen tun und lassen, was sie denken und fühlen, wünschen und wollen«, so Straub (2014a, 76), »ist in einem doppelten Sinn geschichtlich konstituiert«: Das, was sie symbolisch, d. h. vor allem narrativ von sich erzählen, fasst nur einen kleinen Teil ihrer tatsächlichen Wirklich85 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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keit. Es sind vor allem die »ehemaligen Ereignisse oder Geschehnisse selbst, die das […] Erleben und Handeln von Menschen bestimmen«. Straub spricht hier treffend von einem »soziokulturell vermittelten und zugleich individuellen Erlebnisgrund einer Person« [H. i. O.]: Darunter verstehe ich den strukturell verfestigten »Niederschlag« aller subjektiven Erlebnisse in Gestalt eines niemals vollständig explizierbaren, teilweise unbewussten Geflechts oder Netzwerks von Dispositionen. […] Personen leben nicht allein auf dem Boden bedeutungsvoller Geschichten, die sie als Vergangenheit repräsentieren, also sich selbst und anderen erzählen mögen. Sie handeln auch im Wirkungsfeld eines (erlebten) ehemaligen Geschehens, dem sie ausgesetzt waren. (ebd., 76–77)

Dadurch, dass gerade traumatische Erlebnisse über Jahre in den seelischen Untergrund gedrängt wurden, sind sie den Menschen nicht mehr bewusst. Obwohl sie in gewissem Sinne auf dieser Basis ihr Leben gestalten, können sie oft nicht erklären, warum sie so handeln wie sie handeln oder warum sie sich in bestimmten Momenten emotional gereizt fühlen oder Ängste entwickeln. Insofern dürfen die für die Person oder ihr Umfeld leidbringenden Verhaltensweisen wie Drogenkonsum, Gewalt oder auch das aufsehenerregende Verhalten der Frau nicht als die eigentlichen Probleme verstanden und behandelt werden, sie weisen vielmehr symptomatisch auf hochkomplexe unterschwellige, wirkmächtige, unerledigte Widerfahrnisse hin. Es sind Zeichen und Spuren des Erlebten in der dem Bewusstsein nur teilweise zugänglichen Erinnerung. »Symptome sind Antworten, die der Organismus auf ganz bestimmte an ihn gerichtete Fragen gibt.« (Goldstein, in: Waldenfels 2015a, 277) In ihrem Buch Never in Anger berichtet Jean Briggs davon, wie Inuit traditionell gelernt haben, ihre Emotionen zu kontrollieren, um sich in einem Leben in Eis und Schnee auf das Wesentliche konzentrieren zu können: Als Inuk weint man nicht – und man wird schon gar nicht wütend. 76 Dazu kommt, dass Inuit sich ihrem Selbstverständnis nach als Teil der natürlichen und spirituellen Welt erleben und fatalistisch alles hinnehmen, was ihnen widerfährt: »Native

Ähnlich argumentiert Rupert Ross in Dancing with a Ghost, dass das Prinzip »anger must not be shown« zu einer Reihe von psychologischen Schwierigkeiten führt: »For instance, it gives rise to explosiveness under the influence of alcohol. That is to say, anger has been stored up, never shown, not ventilated and discharged, comes pouring out when the person is intoxicated.« (Ross 2006, 164)

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people appear simply to accept the ups and downs of life« (Ross 2006, 65). In einer stoischen Annahme dessen, was mit ihr geschah, fügte sich die Inuk ihrem Schicksal. Sedimente dieser sozio-kulturell geprägten, ethischen Grundeinstellung trugen womöglich zusätzlich dazu bei, dass die Menschen so lange nichts von dem erzählten, was ihnen widerfahren war. Das Erlebte, das wir wegsperren oder abstreifen wollen, nimmt ein dynamisches Eigenleben an, es wird zu einer Dunkelstelle, einem »schwarzen Loch« unseres Selbst, vielleicht auch zu einem unheimlichen Verfolger, dem wir permanent versuchen, zu entkommen. Je mehr wir ihm davonlaufen und je tiefer wir uns zurückziehen und verstecken, umso dunkler und fremder wird es in und um uns. Dieses Unheimliche lebt in unserem Denken, Handeln und Fühlen – ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Ein teuflischer Kreislauf entsteht: Der mit Angst und Scham besetzte Teil bricht durch, zeigt sich in seiner bösen Gestalt, richtet Unheil an und muss entsprechend wieder zurückgedrängt, betäubt und bestraft werden. In der Erzählung der Inuk scheinen viele Formen dieser Selbstanklage und Bestrafung durch, bis hin zur Vernichtung durch Selbstmord. »Je heftiger wir uns widersetzen«, so betont Brigitte Rauschenbach (1998, 244), »desto tiefer und langanhaltender sind die Spuren des Unbewußten.« Nur was bewußt ist, kann in seiner Wirkung beeinflußt werden. Was unbewußt bleibt, entzieht sich jedoch der Verstandeskontrolle, ist wirkungsmächtig im Unverstand, wirkt nach der Art unvergänglicher, urgeschichtlicher Kräfte. Einerseits vermutete Freud in diesen Kräften die Abkömmlinge besonders starker Affekte. Andererseits sind sie als unbewußte seelische Aufwallungen den Einflüssen der Zivilisierung entzogen. Niemand weiß von ihnen, niemand erinnert sich ihrer. Statt sprachlich faßbar und verständlich zu werden, behielten sie die Qualität eines inneren Aufruhrs. Statt Erinnerung zu sein, werden sie wiederholt. Aus archaischen Tiefen werden seelische Überbleibsel unbelehrt nach oben geschleudert. Wir beobachten ihr Erscheinen mit Unverständnis. An sie führt keine Erkenntnis heran. Denn unser Deutungs- und Verständnisvermögen hat sich vom Ursprung jener Affekte längst entfernt. (ebd., 244–245)

Jürgen Straub (2014a, 83) spricht in diesem Zusammenhang von Formen »aktionaler Erinnerung« bzw. von »dramaturgischen Enactments, die als aufgenötigte, nicht bewusste Erinnerungen gelesen werden können, als dem Leib und der Seele eingeschriebene Erlebnisrelikte und Gedächtnisreste, die sich artikulieren, indem sie sich verbergen, und verbergen, indem sie sich artikulieren« [H. i. O.] 87 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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(Straub 2015a, 140) 77. Das, was die Frau in diesen Momenten mit sich erlebte und aus sich heraus lebte, verstand sie vermutlich selbst nicht. Fremdes im Eigenen »spricht« eine eigene Sprache, es repräsentiert eine Episode roher, unbearbeiteter und vergessener Vergangenheit, die sich eigensinnig Raum verschafft. Der Sinn und die Bedeutung dessen, was hier innerlich (wieder-)erlebt wird und sich auch im Raum zwischenmenschlicher Begegnungen Ausdruck verschafft, kann nur wie bei einer Fremdsprache mühsam entschlüsselt werden. Dies ist jedoch »unsäglich« schwer, weil ein betroffener Mensch sich ja gerade nicht mit den schrecklichen Erinnerungen konfrontieren möchte, sie sollen vielmehr undurchsichtig und fremd bleiben – und möglichst weit weg. 78 Deshalb findet oft auch lange keine Heilung statt, weil die traumatische Begebenheit nicht verarbeitet, sondern verdrängt wurde, »weil die Art der Verwundung eine allmähliche Vernarbung ausschloß« (Rauschenbach 1998, 247). Dazu kommt ganz grundsätzlich, »dass ›Lebensrückblicke‹ nichts so ›wieder-geben‹, wie es dereinst wirklich geschehen ist und war« (Straub 2015a, 119). Menschen können sich sowohl aktiv erinnern als auch passiv von der Erinnerung eingeholt werden – oftmals, wie auch im Fall der Inuk, geschieht beides zusammen. In beiden Fällen ist die Erinnerung aber nicht einfach eine »Wiederkehr des einst Erlebten« (Angehrn/ Küchenhoff 2015, 9), denn eine unüberwindliche Kluft gähnt jäh zwischen Damals und Heute, ähnlich wie zwischen Fremdem und Eigenem. Das Verdrängte bildet eine »Leerstelle«, schreibt Thomas Fuchs (2008b, 44) bezugnehmend auf Merleau-Ponty, »gleichsam das ausgesparte Negativ einer unbewältigten Erfahrung, die sich unbemerkt vor jede neue Situation schiebt und damit den Traumatisierten in einer noch unvergangenen Vergangenheit festhält«. Das einstmals Erlebte kann einem so nah kommen, dass es die Gegenwart voll auszufüllen vermag, dass es deutlich spürbar ein zutiefst Eigenes ist; es kann aber auch distanziert und fremdartig vor uns stehen, wie eine

Vgl. hier auch Arvid Erlenmeyer (1991, 120), der von der »Wiederkehr des Verdrängten« in Form von »Reinszenierungen« im Leben der betroffenen Menschen spricht. 78 Emil Angehrn und Joachim Küchenhoff (2015, 9–10) erläutern dazu: »Das Vergangene selbst kann ein Hindernis für das Wiedererkennen und Erinnern darstellen so wie Verstehen generell nicht nur durch die zeitliche oder kulturelle Ferne seines Gegenstandes – eines alten Textes, einer fremden Kultur –, sondern durch dessen eigene Intransparenz und Verzerrtheit erschwert oder verunmöglicht sein kann.« 77

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Art innerer Film, den wir von außen betrachten und uns wundern, dass wir darin vorkommen. Wilhelm Mader (1993, 26) erklärt, dass die Tatsache der »Unmöglichkeit, aus traumatisierenden Gewalterfahrungen psychische Repräsentanzen als Bedingung der Auseinandersetzung, Befreiung und Heilung bilden zu können«, zur Bildung von »unassimilierten Introjekts« führt. Er erläutert, diese isolierten Ich-Anteile würden »als ›Fremdkörper‹, als ›obskurer hartnäckiger Gast im Ich‹, als ›Intropression‹, als ›Destruktor‹ erfahren und beschrieben«. Dies führe »zu einem gefrorenen inneren Zustand, zu einem Sich-totstellen, zu einem ›turning off‹«. (ebd.) Vor allem stark irritierende sexuelle Gewalthandlungen in Familien, die von einem geliebten Angehörigen verübt werden, in der Regel mit einem Redeverbot belegt sind und zu Geheimnissen werden, die zwar einige wissen, aber nichts dagegen tun, sind »prädestiniert, introjektiv eingekapselt zu werden« (Hirsch 2000, 220). Die Introjekts nehmen den Charakter einer fremdkörperartigen Abkapselung an, weil es für die betroffene Person unerträglich wäre, sich wirklich mit der traumatischen Erfahrung zu konfrontieren. Wie bei einer Muschel wird der schmerzliche Gegenstand eingehüllt in eine dicke Schutzschicht, mit der es sich leben lässt ohne ständig neu verletzt zu werden. »Nicht das Trauma allein bewirkt das Introjekt, ›nicht nur die Vergewaltigung, sondern auch die ihr folgende Verleugnung und Verleumdung‹ (Sabourin 1985, 287).« (ebd., 215) Es entstehen fest eingeschliffene Verhaltensmuster, die sich um das eingekapselte Fremde drehen, welches nicht mehr im Austausch mit dem Eigenen steht, »sondern diesem bloß noch feindlich gegenüber. Als Fremdkörper, aber als ein Dreh- und Angelpunkt, auf den sich bald schon fast alles bezieht (›Ich entkomme dem nicht‹).« [H. i. O.] (Färber 2015, 289) Die Brutalität der Verletzungserfahrungen durch die Geschehnisse im Zusammenhang der Assimilationspolitik erfährt noch dadurch eine Steigerung, dass mit dem Verlust wichtiger Kultursymbole und Rituale auch über viele Generationen tradierte CopingStrategien wegbrachen. Es gab für betroffene Menschen keine Form der effektiven Bearbeitung und kein soziales Netzwerk, das ihnen bei der Aufarbeitung helfen konnte. Auch das trug dazu bei, dass alles, was sich bei der Frau unbearbeitet über die Jahre aufgestaut hatte, jetzt plötzlich unkontrollierbar aus ihr herausbrach. Rupert Ross (2006, 163) spricht von einer verhängnisvollen, gewalttätigen Wechselwirkung zwischen den wenig effektiven, oft sogar schädlichen, 89 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Coping-Strategien, die durch die Assimilation induziert wurden und der Tatsache, dass die ureigenen Möglichkeiten, mit Stress, Traumata oder Verletzungserfahrungen umzugehen, nicht mehr zur Verfügung standen: I use the word »violent« because one of our first acts after contact was to denigrate or outlaw the very mechanisms which permitted them to cope with the traumas of life. […] we took away much of their capacity to heal themselves. […] The result was that a people about to face the most overwhelming social disintegration imaginable were left virtually defenceless against the anger, grief and sorrow that inevitably followed. (ebd., 163–164)

An die Stelle spiritueller, gemeinschaftsorientierter und naturheilkundlicher Heilungsriten traten Formen der vornehmlich rationalintellektuellen Aufarbeitung, die Einzelbehandlung und -betreuung auffälliger Jugendlicher oder für viele Ureinwohner beängstigende, medizinische Eingriffe, wie z. B. die Vergabe von Antidepressiva und anderer Medikamente. Anstatt eines ganzheitlichen Umgangs mit Verletzungen und den daraus resultierenden verdrängten, fremden Anteilen des Selbst wurden Einzelne als krank, dysfunktional und anti-sozial abgewertet und entsprechend behandelt, von ihrer Familie isoliert oder eingesperrt. Von besonders schlimmer Wirkung waren und sind – und auch hiervon legte die Inuk traurig Zeugnis ab – die Versuche der Ureinwohner, ihren Schmerz in Alkohol zu ertränken. Ross führt dazu aus: »At the same time as our culture effectively took away all traditional mechanisms for coping, it added a different, very seductive ›coping‹ assistant: alcohol.« (ebd., 170) Alkohol kompensiert viele Mangelerfahrungen: Menschen fühlen sich locker und selbstbewusster, sie haben Spaß, lassen ihren Emotionen freien Lauf und benebeln den schmerzhaft geschundenen Geist.

3.1.3 Das Geheimnis der transgenerationellen Übertragung Die vielen Fälle sexuellen Missbrauchs, die bereits von Kindern und Jugendlichen an jüngeren, schwächeren Familienmitgliedern auf den Reservaten verübt werden, schockieren nach wie vor. 79 Vielen betrofStatistische Zahlen (2014) belegen, dass vor allem Menschen indigenen Ursprungs – und hier allen voran Frauen – Opfer von Gewalttaten, insbesondere von sexuellem Missbrauch sind. Die Verbrechen werden in aller Regel in den Familien oder Gemeinden selbst begangen, aus Opfern werden Täter. »The differences between Aboriginal

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fenen Familien werden infolgedessen die Kinder genommen und in die Obhut staatlicher Vormundschaft gegeben, weil Eltern nicht in der Lage sind, sich zu kontrollieren und sich gut um ihre Kinder zu kümmern. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sie durch eine Kindheit im Internat nie lernen konnten, was es heißt, Eltern zu sein und das rechte Maß an Freiheit und Disziplin in der Erziehung zu finden. Ian Austen (2015) berichtet in einem Artikel der New York Times von der Veröffentlichung des Abschlussberichts der Truth and Reconciliation Commission und stellt in diesem Zusammenhang heraus: A disproportionate number of aboriginal people are imprisoned in Canada, and aboriginal children account for a much larger part of the child welfare system’s caseload than their share of the population. The commission said both of those trends were consequences of the regimented residential school system. People raised in the schools, the report said, »sometimes found it difficult to become loving parents«. Those who were abused often went on to abuse other people as adults, or fell victim to substance abuse.

Die Suche nach der fehlenden Liebe für ihre Kinder und nach positiven Weisen des Umgangs mit ihnen, läuft ins Leere, wenn sie nur in so genannten Parenting Workshops mündet, wo Eltern theoretisch (Inuit sagen: »from the book«) beigebracht werden soll, wie man Kinder richtig erzieht. Denn die Wurzel des intergenerativen Bruchs liegt viel tiefer: [Aboriginal] adults reported that their parents’ attendance at Residential Schools negatively affected the quality of parenting they received as children. Moreover, the majority of adults also indicated that their grandparents’ attendance at Residential Schools negatively affected the parenting that their own parents had received. (Bombay u. a. 2009, 16)

Die Erfahrung der Kinder, in der Residential School ohnmächtig und hilflos ausgeliefert zu sein, führte häufig dazu, dass dieses durch eigene Übergriffe kompensiert wurde, was zu Gewalthandlungen unter den Kindern und später auch in deren Familien führte. Hier zeigt sich deutlich das psychologische Phänomen, dass die Opfererfahrung durch die eigene Täterschaft weitergegeben wird. Das Opfersein wird »zur Quelle eines unbewußten Zustandes, in dem das eigene Erleben als etwas Fremdes ausgestoßen und verleugnet werden muß«. (Gruen

and non-Aboriginal people were most pronounced for break-ins and sexual assaults, with the rates for Aboriginals being more than double those for non-Aboriginals.« (Statistics Canada 2015a) vgl. Monchalin 2016, 145 ff.

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2014, 7) Dieser Teil des Selbst ist jedoch nicht einfach weg, der Mensch wird es »fortan suchen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Es ist dieses Suchen, das uns zum Verhängnis wird.« (ebd.) Indem das Eigene als fremd von sich gewiesen wird, wird es zum Auslöser der Notwendigkeit, Feinde zu finden, um die so erlangte Persönlichkeitsstruktur aufrecht zu erhalten. Die Folgen dieses Prozesses sind verheerend: Man verleugnet nicht nur, daß man selbst zum Opfer gemacht wurde. Man kann auch die Ursachen des eigenen Opferseins nicht mehr erkennen. Statt dessen muss der Prozeß weitergegeben werden, indem man andere zum Opfer macht. Dies geschieht so lange, wie das eigene Opfer nicht erkannt werden darf. (ebd., 23) 80

So tradiert sich eine Kultur der Identitätsverstümmelung, Entwurzelung und Heimatlosigkeit von einer Generation zur nächsten. »Der Haß auf das Eigene«, schreibt Arno Gruen (ebd.), »bringt Kinder hervor, die sich nur noch als aufrecht gehend erleben können, wenn sie diesen Haß nach außen wenden können«. Ein noch viel schwerer fassbares Phänomen innerer Fremdheit ist das, was Sigmund Freud als »archaische Erbschaft des Menschen« bezeichnet, die »nicht nur Dispositionen, sondern auch Inhalte umfasst, Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Generationen.« (Freud 1981, 104) Einschlägige Forschung unter First Nations (vgl. Bombay u. a. 2009; Monchalin 2016, 138 ff.) expliziert, was Freud im Sinn hat: Die intergenerationelle Übertragung von Traumata – leidvolle Erfahrungen, welche die seelischen Bewältigungsmöglichkeiten der Betroffenen übersteigen und in das Leben der nachfolgenden Generationen eindringen. 81 Die Initialverletzung der Elterngeneration wird identifikatorisch von den Kindern übernommen, sie erfassen »unbewusst das Erlittene, bearbeiten Anzeichen mit ihrer Phantasie und agieren diese Phantasien in der äußeren Welt aus« (Bohleber 1998, 256). Dabei handelt es sich nicht um die eigenen Verletzungen und die damit Joachim Küchenhoff (2015, 34) weist darauf hin, dass die Tatsache der Perpetuierung transkultureller Gewalt traumatherapeutisch häufig übersehen wird. Auch er führt aus: »Die Aggressivität, der das Opfer kultureller Gewalt ausgesetzt ist, verschwindet nicht, sie löst sich nicht in Luft auf […]. Vielmehr wird die angetane Gewalt verinnerlicht, sie wird Teil der Opferidentität und führt dazu, dass das Opfer selbst gewalttätig wird.« 81 Die wohl bedeutsamsten bzw. am intensivsten erforschten Erkenntnisse zu transgenerationeller Tradierung von Traumata stammen aus der psychologischen Forschung der Folgen des Holocausts für die zweite Generation von Opfern und Tätern. (vgl. bspw. Bohleber 1998, Moré 2013, Straub 2001, Bar-On 1993) 80

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zusammenhängende Verdrängungsleistung, sondern um Formen der Einfühlung »in den unbewußten, verschwiegenen oder totgesagten Inhalt eines elterlichen Objekts« (ebd., 263). Es ist erschütternd zu sehen, dass die Generationen nach der »Residential School Ära« ähnliche Erlebens- und Verhaltensmuster zeigen, wie ihre Eltern oder Großeltern. Insbesondere handelt es sich dabei um suizidale Gedanken, Depression, geringes Selbstbewusstsein, Vernachlässigung der Elternrolle und Gewalt in Familien. (vgl. Bombay u. a. 2009) Das Delikate an der Weitergabe von Spuren traumatischer Erfahrungen ist, dass diese nicht reflektiert, klar kommuniziert und verständlich übermittelt werden, sondern in Form von Geheimnissen (vgl. Faimberg 1987, 118), Heimlichkeiten und Mysterien, und damit nicht explizit angenommen oder abgewiesen werden können. Brigitte Rauschenbach (1998, 251) vergleicht dieses Phänomen mit dem Kinderspiel der »stillen Post«, das gerade dadurch seine Spannung erhält, dass der Sinn der Botschaft nicht klar verständlich ist und sinnverstellt weitergegeben wird. Der Unterschied zwischen Spiel und Wirklichkeit besteht allerdings darin, dass in der Wirklichkeit der Befreiungseffekt durch das richtige, auflösende Anfangswort fehlt – dieses liegt nämlich tief im Dickicht transgenerationeller Übertragung verborgen. 82 Kinder verstricken sich in »Dunklem, Rätselhaftem, Unverständlichem, das in seiner affektiven Qualität bedrückend, irritierend und wie ein Fremdkörper wirkt und zugleich ein unauflösbares Band zu den Eltern oder/und Großeltern und deren Geheimnissen knüpft« (Moré 2013, 10–11). Was bei den Kindern ankommt, ist nicht nachvollziehbar, sie erschrecken über ihre eigenen Handlungen, Zwänge, Schuldgefühle, Ängste, Erfahrungen von (Selbst-)Fremdheit, impulsiven Reaktionen oder automatischen Affekte. In gewissem Sinne werden sie durch die Geschichte ihrer Eltern oder Großeltern gekapert und fremdbestimmt (vgl. Faimberg 1987, 126) »Was da entlehnt, in sich aufgenommen wird«, so Mathias Hirsch (1995, 123) »ist das Fremde«. Ähnlich schreibt Jean Laplanche (2005, 19): »›Innerer Fremdkörper‹, ›Reminiszenz‹, das ist das Unbewußte als Fremdes in mir und sogar vom Fremden in mich hineingetan.« Dazu kommt, dass die »Erben« einstiger Traumata zeitlich gesehen in mehreren Welten gleichzeitig leben, d. h. sie finden sich verwickelt in einer VergangenDazu kommt: Jede Erzählung von etwas, das in der Vergangenheit passiert ist, ist Fiktion, sie kann das eigentliche Geschehen nicht wiedergeben. (vgl. dazu ausführlich Angehrn/Küchenhoff 2015)

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heit wieder, die sie nur diffus wahrnehmen und müssen zugleich ihr Leben in einer ganz konkreten Gegenwart meistern. 83 (vgl. Moré 2013, 10; Bohleber 1998, 263) Das Leben im Hier und Jetzt ist gespickt mit unbewussten Erfahrungen einer entfernten Vergangenheit, diese wird interpretiert und mystifiziert vor dem Hintergrund aktueller zwischenmenschlicher Verstrickungen. 84 Auch mit Hilfe der Bindungstheorie lässt sich zeigen, »dass die Traumatisierung einer zentralen Bezugsperson des Kindes ausreichend für das desorganisierte und desorientierte Bindungsverhalten des Kindes sein kann« (Moré 2013, 18; vgl. Huber 2012, 87). Negative Bindungserfahrungen hinterlassen regelrechte »Stressnarben« im Gehirn betroffener Kinder (vgl. Wettig 2006, 455) 85. Ohne zu wissen, wovor Vater oder Mutter Angst haben, warum sie trinken und dann gewalttätig werden oder weshalb sie in Depressionen und Phasen völliger Apathie stürzen, müssen sie mit diesem Verhalten umgehen. Das wirkt doppelt irritierend, denn »die Person, die normalerweise für die Lösung von beängstigenden Situationen aufgesucht wird, wird selbst zur Quelle der Angst« (Moré 2013, 19). Dies führt dazu, dass sich betroffene Kinder zurückziehen, selbst kaum beziehungsfähig sind und nur schwer Bindungen zu anderen Menschen aufnehmen können. Selbstredend gilt dies auch für das Verhältnis zu ihren eigenen Kindern: »Eltern mit einer ungelösten Traumageschichte«, so Michaela Huber (2003, 95), »neigen dazu, ihre Kinder zu erschrecken und ein desorganisiertes Bindungsverhalten in ihnen auszulösen«. Auch die menschliche Leibgebundenheit (mehr dazu unten) ist maßgeblich daran beteiligt, fremde Selbstanteile einer unbewältigten Werner Bohleber (1998, 263) mutmaßt, eine mögliche Folge des Lebens in »zwei Wirklichkeiten« sei die »partielle Identitätsverwirrung oder das Gefühl einer fragmentierten Identität«. Gleiches zeigt sich auch bei Migrantinnen und Migranten der zweiten oder dritten Generation, denn diese sind schon eher in der neuen Welt angekommen als ihre Eltern, unterliegen aber zugleich noch dem Zwang religiös-traditioneller Vorstellungen ihrer Herkunftsfamilie. Innere und äußere Konflikte sind die Folge. 84 Vgl. hierzu die bekannte These der »Ineinanderrückung der Generationen im Hinblick auf die Genealogie gewisser Identifizierungen«, des Telescopings, die von Haydée Faimberg (1987) entwickelt wurde. 85 Neuere Forschungsergebnisse berichten sogar davon, dass massive Verletzungserfahrungen (z. B. Genozid, Missbrauch in der Kindheit) auch »Narben« in den Genen zurücklassen und potenziell zu einem erhöhten Selbstmordrisiko oder Erkrankungen wie Diabetes führen können. Es gibt also eine Art »epigenetisches Gedächtnis«, das auch weitervererbt werden kann. (vgl. Spork 2017) 83

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Vergangenheit an die nächste Generation weiterzugeben. Studien zu Formen nonverbaler Synchronie, Imitation (mimicry) oder »Übertragung durch Ansteckung« vor allem im Säuglingsalter zeugen von unwillkürlich weitergegebenen Gefühlserbschaften 86. (vgl. Tschacher/Storch 2012, Moré 2013) Die von Eltern körperlich repräsentierten Gefühle übertragen sich schon früh auf ihre Kinder. So passen sich beispielsweise Babys depressiver Mütter an deren affektiven Ausdruck an und wirken »selbst bereits im Alter von 12 Monaten eher ruhig, apathisch und depressiv« (Moré 2013, 21). Die scheinbar äußere Anpassung hat jedoch auch ihren Niederschlag im Affekt- und Selbsterleben des Kindes. Diese Form des Austauschs bleibt auch beim sprachfähigen Kind und später beim Erwachsenen unterhalb der bewussten, gesprochenen Sprache stets wirksam. Unbewusste Gefühlserbschaften nehmen ihren Weg in die Psyche der Kinder über diese unbewussten oder vorbewussten affektiven Mitteilungen. Das Vokabular der unbewusst wirksamen Affektsprache sind der traurige, leere, abwesende Blick oder ein Ausdruck von Ekel, Zorn oder Scham in Blick, Mimik und Stimme, sind die zusammengepressten Lippen, die stillen Seufzer, unwirsche oder müde Gesten, resignierte Körperhaltungen und viele andere körpersprachliche Mitteilungen in der Begegnung und Berührung mit dem Kind. (ebd.)

Analog zur Bindungstheorie wird die Mutter (oder auch der Vater) zum Referenzpunkt, wenn das Kind in bedrohlichen Situationen Schutz sucht. Es blickt dann auf die (nonverbale, körperliche) Reaktion der »Beschützer«, um herauszufinden, ob diese erschrocken, freudig oder ängstlich reagieren – je nachdem wird das Kind die Situation entsprechend einschätzen. Die dunklen Flecken der unverarbeiteten Vergangenheit werden sowohl in die personale Identität eines Menschen eingewoben als auch in das sozio-kulturelle »Bedeutungsgewebe« (vgl. Geertz 1983, 9) Man könnte auch sagen, das personale, innere Gewebe einer sich transitorisch entwickelnden Identität ist dicht verwoben mit dem kollektiv-historischen Gefüge des Zwischenmenschlichen. Durch bedeutungsgesättigte, zumeist aber unbewusst wirkende Symbole wie z. B. die Aussage, dass man als Inuk nicht wütend wird oder weint, tradiert sich sowohl das Selbstverständnis als auch ein bestimmtes

86 Dieser Begriff geht zurück auf Freud, der in Totem und Tabu damit ausdrücken will, wie eine Generation ihre Erfahrungen unbewusst an die nächste weitergibt: »Dann dürfen wir aber annehmen, daß keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen.« (Freud 2013b, 192–193)

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Weltbild betroffener Personen – sie dient zugleich als Ethos, d. h. als spezifische Verhaltensaufforderung, wie man sein oder handeln soll. So prägen Menschen das sozio-kulturelle Geflecht, auf dem sie leben, und werden zugleich davon geprägt. Durch diese permanente Wechselwirkung können transgenerationell übertragene Verletzungserfahrungen äußerst hartnäckig sein. Menschen verheddern sich darin wie in einem klebrigen Spinnennetz, denn selbst wenn sie sich auf einen Weg der Heilung begeben, müssen sie noch gegen den Druck der über Jahre fest eingeschliffenen sozio-kulturellen Muster kämpfen. Das Weinen und Toben mag individuell gut tun und therapeutisch wirkungsvoll sein, wenn es aber dazu führt, sozial ausgegrenzt oder nicht mehr ernstgenommen zu werden, werden die Schmerzen und die Wut doch wieder hinuntergeschluckt. Dazu kommt, dass jede Gruppe immer angrenzt, sich abgrenzt, eingeschlossen ist und beeinflusst wird von weiteren Gruppen, die, einem Mobile gleich, systemisch dazu beitragen, dass dysfunktionale Muster über Generationen hinweg aufrechterhalten werden. Hier erweist sich oben bereits erwähnter Begriff »kollektiver Verletzungsverhältnisse« als hilfreich, um diese Dynamiken erklären zu können. Mit ihm »wird die Tatsache fokussiert, dass sich Personen als verletzbare und verletzungsfähige Subjekte begegnen, deren in Dispositionen verfestigte Vulnerabilität auch als Ergebnis erlittener und zugefügter Gewalt in historischen Konstellationen aufgefasst werden kann«. [H. B. S.] (Straub 2014a, 74) So hat sich unter indigenen Menschen in Kanada über die letzten Jahrzehnte ein hartnäckiges Selbstverständnis als Opfer eingeschliffen, das durch die emotional aufwühlenden Geschichten während der Truth and Reconciliation Hearings erneut bestätigt wurde (vgl. Niezen 2013). Auch wenn die von den »Opfern« selbst eingeforderten Anhörungen auch ein Zeichen von Stärke und Selbstbehauptung darstellen, lässt sich die Gefahr nicht von der Hand weisen, dass sich dadurch Täter- und Opferrollen als identitätsstiftendes Merkmal für Einzelne sowie für das »kollektive Gedächtnis« weiter festschreiben. 87 Die eigenen inneren Konflikte, die Ablehnung bzw. Unassimilierbarkeit ererbter innerer Anteile führen dazu, dass auch äußere Konflikte und Feindbilder »vererbt« und aufrechterhalten werden. Dies zeigt sich im Verhältnis von Ureinwohnern und non-Aboriginal Kanadiern z. B. an überzogeVgl. hier Dan Bar-On 2001, der dies exemplarisch an der israelisch-palästinensischen Geschichte aufzeigt.

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nen Vorstellungen von Wiedergutmachungsleistungen, offenem Argwohn, Rassismus, Unversöhnlichkeit und Misstrauen. Die dadurch hervorgerufenen zwischenmenschlichen Konflikte, Zahlungen der Regierung an Residential School Survivors in beachtlicher Höhe, wiederholte Schuldbekenntnisse, usw. bestärken die innere Überzeugung, als Opfer ohnmächtig auf die Hilfe von außen angewiesen zu sein. Insofern kann man auch feststellen, dass die »Erbschaft« der Eltern nicht nur passiv übernommen, sondern teilweise auch aktiv von den Generationen der Kinder und Kindeskinder angetreten wird, denn es kann durchaus lukrativ sein, sich auf die Opferseite zu schlagen, um so weiterhin in den Genuss diverser Sonderleistungen und einer Sonderstellung in der Gesellschaft zu kommen. Der hoffnungsvolle und vielleicht auch naheliegende Gedanke, dass die Zeit alle Wunden heilt und dass sich die transgenerationelle Transmission gleichsam von allein abschwächt, scheint leider nur bedingt realistisch zu sein. Es steht vielmehr zu erwarten, dass Entfremdungsdynamiken weiter zunehmen, weil die Kluft zur ursprünglichen Verletzungserfahrung weiter wächst. Man kann also kaum von »abschwächen« reden, eher vielleicht von einer wachsenden Undurchsichtigkeit oder Rätselhaftigkeit, wo bestimmte Erlebens- und Verhaltensmuster herkommen. »Wo die Aufarbeitung nicht oder nur unvollständig gelingt«, resümiert Moré (2013, 27), »wird die Gefühlserbschaft zur Last auch noch für die Enkel/innen und Urenkel/ innen«.

3.1.4 Leibhaftige Spuren von Fremdem im Selbst Am ehesten »weiß« oder »spürt« das Bewusstsein unseres Körpers, (v. a. durch Merleau-Ponty phänomenologisch gewendet: unseres Leibes 88), wo das innere Fremderleben seinen Ursprung nahm, d. h. unser Leib »merkt« sich sowohl schöne als auch leidvolle Erfahrungen: ein Geruch, eine Geste, das Betrachten eines Bildes oder die Tonlage einer Aussage bringt uns unversehens zurück in den Strom des damals Erlebten. Das Ereignis kommt uns ganz nah, es kommt über uns, auch wenn es längst in einer vergangenen Welt seinen Ort hat. Eine ausführlichere Unterscheidung des Begriffspaars Körper und Leib erfolgt in 4.4.1. Hier sei nur schon einmal vorab bemerkt, dass in den folgenden Ausführungen der Grundunterscheidung von Körperhaben und Leibsein gefolgt wird.

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Deshalb heißt es wohl auch, dass wir in solchen Momenten nicht wir selbst sind, dass wir räumlich »neben uns« stehen oder »außer uns sind« – man kann dieses Gefühl vor allem körperlich empfinden. Antonio Damasio (2010, 237 ff.) entwickelte die »Hypothese der somatischen Marker«. Er behauptet darin, dass die Erfahrungen, die ein Mensch macht, in einer Art »emotionalem Erfahrungsgedächtnis« gespeichert werden und als somatische Marker, d. h. als Körperempfindungen, die eine Erfahrung auf eine bestimmte Weise kennzeichnen, dienen. Der somatische Marker wirkt als automatisches Warnsignal und hält uns davon ab, Dinge zu tun, die Leid bringen könnten; er kann aber auch motivierend wirken, wenn die abgespeicherte Erinnerung etwas Positives signalisiert. Die Marker, so erklärt Damasio, wirken häufig verdeckt, ohne direkt ins Bewusstsein zu gelangen, sie können uns fremd bleiben und dennoch unterschwellige Mechanismen aktivieren. (vgl. ebd., 252) Auf was es hier ankommt, ist, dass die Theorie des bekannten Hirnforschers zeigt, dass Körper, Geist und Seele untrennbar miteinander verbunden sind, dass Fremdheitserfahrungen körperlich und emotional erlebt werden und dies direkt Einfluss nimmt auf das Denken über diese Erfahrung und damit auf unser Verhalten. Unser Gehirn fungiert nicht etwa wie eine isolierte Datenbank oder eine Festplatte, die bloß Informationen abspeichert; es gleicht eher einem »Schuttabladeplatz der Zeit« und unterliegt selbst der ständigen Veränderung. Es ist ein mit dem Leib permanent interagierender dynamischer Erfahrungsspeicher von Inhalten, die dem Bewusstsein nur in ganz kleinen Teilen direkt zugänglich und dennoch emotional und leibhaftig »spürbar« sind. Thomas Fuchs (2008b, 37) spricht von einem »Leibgedächtnis«, das die Vergangenheit nicht vergegenwärtigt, sondern sie als gegenwärtig wirksame in sich enthält. D. h. es »verkörpert und agiert das einmal Erlernte im leiblichen Vollzug« (Fuchs 2012, 103; vgl. auch Gamm 2009, 69). Erinnerungen bleiben nicht in unserem Kopf, sie suchen sich den leiblichen Ausdruck und können uns auch gegen unseren Willen in Beschlag nehmen. In gewissem Sinne macht sich unser Körper dann selbständig, er wird zum Fremdkörper. Dies gilt in besonderer Weise für unbewältigte Schmerzerfahrungen, die Menschen in eine permanente Angstbereitschaft, innere Anspannung und Nervosität versetzen. (vgl. Fuchs 2008b, 44) Deutlich wird das in der Aussage des Inuks, er würde immer noch manchmal zusammenzucken und den Kopf einziehen, wenn er etwas auf Inuktitut sage, so tief sitze der 98 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Schlag, der ihn traf, wenn er sich im Internat mit anderen Kindern in seiner Muttersprache unterhielt. Abgekapselte Erinnerungen setzen sich leiblich fest und haben die Macht, immer wieder zu re-traumatisieren – ähnlich einer Wunde, die nicht heilen will. Gepaart mit chronisch wiederkehrenden Emotionen hinterlassen sie deutlich sichtbare Spuren am Körper. Unwillkürlich spiegeln sie nach außen, was im Inneren vor sich geht. »Die Spannungsmuster des Körpers«, so beschreibt dies David Boadella (2009, 17), »können wir als die erstarrte Geschichte eines Menschen ansehen«. Das harte, unnahbare Gesicht der Inuk und ihre monotone Sprache versuchen die Erinnerung in Schach zu halten und die Gefühle zu kontrollieren, um sich so vor weiteren Verletzungen zu schützen. Ihr Körper ist gezeichnet durch die schmerzlichen Erfahrungen, er fungiert als Hülle, als Schutzschild, als gefühllose Maschine, die sich durch die Welt bewegt, ohne von ihr berührt oder getroffen zu werden. Schließlich bricht sich der innere Aufruhr Bahn. Durch die Preisgabe der schmerzlichen Erfahrung, so könnte man vielleicht sagen, wachen Damasios somatische Marker auf: die Frau kann ihren Körper nicht mehr kontrollieren, er lehnt sich auf, wird so stark, dass selbst zwei kräftige Männer Mühe haben, sie wegzutragen. Vor allem der Schmerz sei ein Paradigma des leiblichen Bewusstseins, meint Gernot Böhme (2012, 198): »Keine andere Erfahrung macht uns so zwingend deutlich, dass wir nicht nur einen Körper haben, sondern Leib sind.« Dabei sei eine Form der Schmerzbewältigung, sich vom Leib zu distanzieren und ihn zum Körperding zu veräußerlichen. Paradoxerweise zeige sich unser Leibbewusstsein gerade da, »wo wir eigentlich nicht Leib sein wollen« (ebd.). In der permanenten Wechselwirkung von Leibempfinden, Reflexion bzw. Verdrängung und emotionalem Erleben zeichnet sich ein gefährlicher Teufelskreislauf ab, der zu chronischen psycho-somatischen Verhärtungen führen kann. Denn nicht nur der Körper ist ein »Spiegel der Seele«, sondern auch die Seele ist ein »Spiegel des Körpers« – in dieser wechselseitigen Spiegelung schaukelt sich das, was beide voneinander »sehen«, hoch. Ein gekrümmter Körper und ein gesenkter Blick können schwerlich hoffnungsfroh, optimistisch und fröhlich sein und eine betrübte Seele ist nicht in der Lage, ein wirklich empfundenes Lächeln auf das Gesicht zu zaubern. Theorien des Embodiment (vgl. Tschacher/Storch 2012, 261) zeigen, dass eine bestimmte Geste oder Körperhaltung implizit Einstellungen, Emotionen und Handlungen beeinflusst – was wiederum Auswirkungen 99 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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auf den Körper hat. Diese verhängnisvollen Wechselwirkungen befördern komorbide Störungen, d. h. mehrere parallel auftretende Erkrankungen befeuern sich wechselseitig, wenn beispielsweise eine posttraumatische Belastungsstörung mit Alkoholabhängigkeit, starker Migräne oder Diabetes einhergeht. Mit dem Körper tragen Menschen ihr Trauma in die Welt, überall wittern sie Gefahr und trauen sich nicht, sich für neue, vielleicht sogar heilsame, Erfahrungen zu öffnen – ganz im Gegenteil inszenieren sie gleiche Erfahrungen unbewusst wieder. Darin zeichnet sich das unheilvolle und schwer verständliche Phänomen eines selbstzerstörerischen Wiederholungszwangs ab: Menschen bilden Verhaltensmuster aus, in die sie, so sehr sie auch versuchen, sich ihnen zu widersetzen, immer wieder hineingezogen werden. Die Missbrauchserfahrung in der Residential School wiederholte sich später mehrfach im Leben der Inuk. Dabei mag sich diese Erfahrung unterschiedlich präsentiert haben, aber ihre impliziten, im Leibgedächtnis niedergelegten Verhaltensmuster haben sich im Sinne einer Selbsterfüllung ihrer Erwartungen ausgewirkt und den vertrauten Typus von Beziehungen wieder erzeugt (vgl. Fuchs 2008b, 46) 89. Es entsteht eine Art fremdes Kraftfeld, das sich dynamisch in zwischenmenschlichen Beziehungen aufspannt und alle darin Verstrickten in seinen Bann zieht. Es bleibt im Verborgenen, manifestiert sich aber »in den Fehlleistungen und Fehlhandlungen; in den Beziehungsmustern, in die ein Mensch immer wieder hineingerät; in den Handlungen, die er vermeidet, ohne es zu merken; in den Räumen, die er nicht betritt, den Lebensmöglichkeiten, die er nicht zu ergreifen, ja gar nicht zu sehen wagt« (ebd., 47). Unser Leib lebt aber nicht nur mit der sozialen Umwelt, Ureinwohner erzählen oft, dass sie Zeit »on the land« brauchen, d. h. sich in eine abgeschiedene Hütte, in die ursprüngliche Abhängigkeit von der An anderer Stelle erklärt Thomas Fuchs mit Erkenntnissen der Hirnforschung: »Jeder Umgang mit Anderen hinterlässt durch synaptisches Lernen auch Spuren auf neuronaler Ebene, freilich nicht in Form von lokalisierbaren, fixiert gespeicherten ›Erinnerungen‹, ›Abbildungen‹ oder ›Repräsentanzen‹ der Interaktionen bzw. der Bezugspersonen, sondern in Form von Dispositionen des Wahrnehmens, Fühlens und Verhaltens. Diesen Bereitschaften liegen weit verteilte Muster von Netzwerkverbindungen zugrunde, die sensorische, motorische und limbisch-emotionale Zentren gleichermaßen einbeziehen. Sie treten in Resonanz zu aktuellen Umweltsituationen oder Personen und aktivieren dazu passende Verhaltensformen, auch ohne dass sich [die Person] explizit an frühere Lernprozesse erinnern muss.« (Fuchs 2008a, 190)

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Natur, zurückziehen müssen, um Heilung zu erfahren. Denn die Wände der Zimmer in den Häusern der Kabloonak zerstörten die Gemeinschaft des Iglus, das nur einen einzigen großen Raum kannte. Die Freizügigkeit eines nomadischen Lebensstils musste der Sesshaftigkeit auf kleinem Raum weichen, das weite Land war reduziert worden auf ein begrenztes Leben im Reservat. In den Großstädten Kanadas leben die meisten Ureinwohner in ärmlichen Stadtteilen, die nicht selten als »Ghetto« bezeichnet werden. 90 Die räumliche Beschneidung führte zu einer einschneidenden Reduktion möglicher Lebensweisen. Dies hat bis heute massive Auswirkungen auf Gesundheit und Körper. Viele indigene Menschen sind übergewichtig und leiden an Diabetes, denn die meisten von ihnen gehen nicht mehr auf die Jagd und ernähren sich hauptsächlich von fett- und zuckerhaltigem »Junk-Food«. 91 Fremdes im Selbst zeigt sich im Verhalten unseres Leibes, in der Weise, wie er uns durchs Leben trägt und wie er unseren Lebensraum strukturiert.

3.2 Die Erfahrung des Fremden im Selbst der Polizisten 3.2.1 Uniform und Mensch – Rolle und Person Auf der Homepage der Royal Canadian Mounted Police (RCMP), der Bundespolizei Kanadas, liest man unter der Abbildung eines stattlichen Polizeibeamten in der berühmten roten Paradeuniformjacke der »Mounties« den Slogan: »It’s not just a uniform; it stands for action. A uniform with your name is waiting for you.« (RCMP 2016) So wirbt die Polizei für junge Rekruten, die in spezialisierten Teams »help ensure public safety and security, investigate crimes and enforce the law« (ebd.). Waldenfels (2008, 129 ff.) erwähnt, bestimmte Ein solches »Ghetto« gibt es beispielsweise im Stadtteil North-Central in Regina, Saskatchewan, der auch »Moccasin Flats« genannt wird, weil dort beinahe ausschließlich Ureinwohner leben. Schon lange gilt dieser Bezirk als sozialer Brennpunkt. (vgl Hafsteinsson/Bredin 2010, 105) 91 Statistiken belegen, dass »First Nations cohort members were at higher risk of dying prematurely and from avoidable causes, compared with their non-Aboriginal counterparts. The disparity was particularly evident among women and younger age groups. Differences were also apparent for unavoidable deaths, but the gap was narrower. Diabetes, alcohol and drug use disorders, and injuries were the causes contributing most substantially to excess avoidable deaths among First Nations cohort members.« (Statistics Canada 2015c) vgl. Monchalin 2016, 154 ff. 90

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Berufsgruppen böten sich besonders gut als »Moralinseln« an, um eine in der heutigen Zeit »frei flottierende Moral« an ihnen anzusiedeln. Dazu zählt er auch Polizisten, die als »Freund und Helfer« quasi für Moral und richtiges Handeln stehen. Moralisch sein bedeutet Ordnung schaffen, es »heißt im Kern, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu kennen und zu wissen, wo die Grenze zwischen beiden verläuft. Und es bedeutet, beides voneinander unterscheiden zu können, wenn man es in Aktion beobachtet« (Bauman 2016, 80). Insofern taten die beiden Polizisten, was ihrem Berufsethos entsprach bzw. ihre Aufgabe war, und was von ihnen erwartet wurde: für Ruhe und Ordnung zu sorgen und den öffentlichen Frieden wiederherzustellen. Sie taten dies allerdings nicht sofort und auch nicht ohne zu zögern und länger abzuwarten. Sie standen eine ganze Weile am Ausgang und verfolgten die Szene beinahe regungslos aus sicherem Abstand. Ein bisschen vermittelten sie den Anwesenden den Eindruck von Stärke und Sicherheit, denn sie waren die einzigen im Raum, die aufrecht standen, so den Überblick behielten und Ruhe bewahrten. Immer wieder suchten verzweifelte Blicke aus der Runde diese Ruhe und Sicherheit. Als dann einer der beiden »in Aktion« trat, schien er dies nicht als jemand zu tun, der emotional von dem angerührt wurde, was sich da vor seinen Augen abspielte, um dann tröstend oder beruhigend auf die Frau zuzugehen, sondern vielmehr in seiner Rolle als kontrolliert agierender Ordnungshüter. Seine Bewegungen waren zackig und schnell, beinahe wie eine ferngesteuerte Maschine schritt er entschlossen ein – allerdings nicht ohne seinen Partner aufzufordern, es ihm gleich zu tun. Dass beide Männer hin und her gerissen waren zwischen der professionellen Rolle als Polizeibeamte und Personen mit allen Emotionen und großer Verunsicherung wurde vor allem an ihrem hilflosen Zögern deutlich. Sie spürten wohl, dass in dieser Situation nicht nur der handlungsmächtige Polizist gefragt war, sondern vor allem der verletzliche Mensch. »Das Zögern beim Betreten eines fremden Bezirks«, so Waldenfels (2015a, 216), »ist nicht Ausdruck einer Ungeschicklichkeit, sondern eines Schwebezustandes, der uns weder hier noch dort zur Ruhe kommen läßt.« Schwellenängste halten einen davon ab, sofort einzuschreiten. Denn die Erfahrung des Überschreitens einer Schwelle ist immer mit Momenten des Kontrollverlusts verbunden: Wir suchen Unfassliches zu fassen. (vgl. ebd., 217) Es könnte sich hier auch ein möglicher innerer Konflikt der Polizisten zeigen, der sich zwischen Name und Uniform, zwischen Person 102 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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und Rolle auftut. Das anfängliche Zögern und dann plötzliche Einschreiten könnten ein Ausdruck dieses innerpsychischen Geschehens sein: zunächst stand die Leiderfahrung des verletzlichen Menschen im Vordergrund. Als die Inuk dann aber mit ihrem Jammern und Klagen den Bogen überspannte, trat der Ordnungshüter auf die »innere Bühne« der Polizisten und übernahm die Kontrolle. Erving Goffman (2004, 20) bedient sich in Wir alle spielen Theater der Bühnen-Metapher und beschreibt diesen Konflikt zwischen Rolle und Person anhand von zwei Extremen: »der Einzelne kann von seinem eigenen Spiel getäuscht werden oder ihm zynisch gegenüberstehen«. Im ersten Fall verschmilzt die Person gleichsam mit ihrer Rolle, der Uniform, sie wird »vollständig von [ihrem] eigenen Spiel gefangengenommen« – das Selbst, das die Rolle spielt, wird kaltgestellt bzw. völlig von den Anforderungen der Rolle in Beschlag genommen. Im zweiten Fall durchschaut es die symbolische Bedeutung der Rolle und distanziert sich von ihr. Je nachdem, wie stark eine Person mit ihrer Rolle verwachsen ist, kann eine Erfahrung, wie die in der Szene geschilderte, eine Fremdheitserfahrung mit sich selbst sein. Als uniformierter Polizist kann das eigene Rollenhandeln, v. a. als öffentliche Person unter dem Druck gesellschaftlicher Erwartungen, befremden (was man v. a. beim zweiten der beiden Männer vermuten könnte). Denn die intuitive Empfindung erscheint näher, authentischer, vielleicht sogar richtiger, als das pflichtgemäße Einschreiten. Die Uniform wird zu einer Art fremden Hülle, die einen automatisch handeln lässt. Umgekehrt kann es aber auch sein, dass die eigenen inneren Regungen nicht passen und in den Hintergrund gedrängt werden müssen, um seinen Job ordentlich tun zu können. Dieses Spiel, bzw. die dramaturgisch nach außen gekehrte Wirklichkeit innerer Konflikte, findet sich in vielen bekannten Theorien des psychosozialen Erlebens wieder. Gerade wenn es um die Bedeutung von Rollenübernahmen geht, wären hier neben Goffman die Pragmatisten William James und George Herbert Mead zu nennen. Sie konstatieren, dass sich personale Identität im Spannungsfeld von Rollenerwartung und Selbsterleben entwickelt und vollzieht. Der sich seiner selbst bewusste Mensch (I) nimmt die Haltung eines »verallgemeinerten Anderen« (Me), in diesem Fall die gesellschaftlich determinierte Rolle des Polizisten, an oder lehnt sie ab und passt sein Verhalten entsprechend an (vgl. Mead 1973, 198 ff.):

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Das »Ich« [I] ist die Reaktion des Organismus auf die Haltungen anderer; das »ICH« [Me] ist die organisierte Gruppe von Haltungen anderer, die man selbst einnimmt. Die Haltungen der anderen bilden das organisierte ICH [bspw. in Form einer Uniform], und man reagiert darauf als ein »Ich«. (ebd., 218)

Interessant ist, dass Mead darauf hinweist, »daß diese Reaktion des ›Ich‹ mehr oder weniger unbestimmt ist« (ebd., 219), sie ist spontan und lässt sich nicht berechnen (vgl. ebd., 258). Mit anderen Worten, die Rolle als Polizist und die dadurch zu erwartenden Handlungen waren festgelegt und eindeutig, »[d]as ›ICH‹ tritt auf, um diese Pflicht zu erfüllen […]. Er [der Polizist] hatte in sich alle Haltungen der anderen, die nach einer bestimmten Reaktion verlangten« (ebd.) – wie er sich selbst aber in dieser Rolle erlebte und wie er daraufhin auch noch hätte handeln können, bleibt offen: »Die Handlung des ›Ich‹ ist etwas, dessen Natur wir im vorhinein nicht bestimmen können« (ebd., 220) – denn das »Ich« widersetzt sich der gesellschaftlichen Norm, es ist Ausdruck individueller Freiheit und eigensinniger Selbstbestimmung, die einen auch selbst überraschen kann: »Im Hinblick auf [die Handlung] ist nichts sicher.« (ebd., 221) Diese Unsicherheit kann durchaus auch einschüchtern, denn das Ich ist häufig ein unberechenbarer »Wackelkandidat«, der auch einmal impulsiv und unkontrolliert reagieren kann. Die »Default«-Strategie ist dann, sich hinter der Sicherheit der Rolle zu verschanzen. Denn sie »funktioniert im Sinne eines Zensors« (ebd., 254), der den Ausdruck bestimmt, der in entsprechender Situation zulässig ist. Die Verunsicherung angesichts der erschütternden Erfahrung wird durch das kühne Einschreiten und vermeintliche »Retten« der Situation nicht nur für die Anwesenden, sondern auch für die beiden Polizisten selbst bewältigt. Die hohe Identifikation der RCMP-Beamten mit ihrem Beruf ist bemerkenswert: sie tragen nicht irgendeine Uniform, sondern eine Uniform »mit ihrem Namen«. Dies ist eine ebenso interessante wie spannungsreiche und konfliktträchtige Aussage, denn sie ist außerordentlich widersprüchlich. Eine Uniform uniformiert, d. h. sie soll gerade nicht individuell unterschiedlich sein, sondern gleichförmig. Sicherlich erleben Uniformträger immer wieder diese Spannung, unweigerlich ein Individuum mit vielen verschiedenen Wünschen, Ängsten, Vorstellungen, Erwartungen usw. zu sein und zugleich als eine geschlossene Einheit erscheinen zu müssen. Die Polizisten zögern, weil sie sich betroffen und verunsichert fühlen. Sie sind verletzlich und wissen zugleich um ihre Verletzungsmacht, denn sie sind 104 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Die Erfahrung des Fremden im Selbst der Polizisten

Träger des staatlichen Gewaltmonopols. Bei der Beschreibung der Arbeit der RCMP (»What does the work involve?«) auf besagter Homepage kommt beides deutlich zum Ausdruck, denn hier findet sich unter anderem aufgelistet: »exposure to trauma, violence and disturbing events« und »carrying a weapon and use of force«. (ebd.) Beide Polizisten sind Männer, die von erlittenen Gewalterfahrungen einer Frau hören. Sie spüren den eigenen Wunsch, auszubrechen aus dieser unangenehmen Situation und sollen zugleich für soziale Sicherheit und Frieden sorgen. Sie wissen um die problematische Geschichte der Ureinwohner und erahnen vielleicht, welche Macht ihre Anwesenheit hat – es gibt wohl kaum ein Symbol, das die Regierung von Kanada und das Land als solches mehr repräsentiert und verkörpert als das der Mounties. Ihre Uniform ist Programm, sie kommuniziert ein Weltbild und vertritt ein Ethos, sie ist Modell von und Modell für die Wirklichkeit. (vgl. Geertz 1983, 52) Sie löst in den Menschen, die RCMP-Beamten gegenüberstehen, Ehrfurcht und eine Haltung des Respekts aus. Gewalt hat, so stellt Sybille Krämer heraus, neben der physischen immer auch eine symbolische Dimension. Dies liege, so erläutert sie, in der Eigenart unseres Personseins, in unserer »Doppelkörperlichkeit«, begründet: »[Personen] sind zugleich physischleiblicher wie auch sozial-symbolisch konstituierter Körper.« (Krämer 2007, 36; vgl. 2005, 6) In der Äußerung, die Uniform trage einen Namen, zeigt sich deutlich, was Krämer hier meint. Sie erläutert weiterhin, dass die soziale Natur unserer Existenz, unsere »soziale Körperlichkeit«, vor allem durch unseren Eigennamen geschaffen wird: Er stiftet Unverwechselbarkeit und Identität. 92 Dies hat mehrere Implikationen: Zum einen bedeutet das gewaltvolle Hinaustragen der Frau nicht nur, dass sie physisch entfernt wird, sondern auch sym-

Im Bild der »Doppelkörperlichkeit« zeigt sich, dass Menschen nicht nur physisch, sondern auch symbolisch verletzt werden können. Es ist interessant, dass die Uniform der RCMP dadurch eine Aufwertung erfahren soll, dass sie einen Namen trägt – und zugleich zeigt sich darin, wie gewalttätig es war, den Kindern in der Residential School ihren Namen zu nehmen. Denn dieser weist Menschen »eine bestimmte Stelle im sozialen Raum einer Gemeinschaft [zu]. [Er] macht augenfällig, dass wir verankert sind in einer sozialen Lebensform« (Krämer 2005, 6). Diese Lebensform galt es zu zerstören, die Herkunft der Kinder wurde eliminiert, sie bekamen eine Nummer oder einen christlichen Namen (bei Ureinwohnern haben Eigennamen zudem eine wichtige spirituelle Signifikanz, Kinder wurden im Rahmen einer naming ceremony benannt, vgl. Devine 2004). 92

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bolisch, oder, wie Krämer erwähnt, »moralisch«: Wir sind moralisch verletzbar »weil wir nicht nur leben, sondern dieses Leben kommunizierend in einer sozialen Gemeinschaft auch führen. Als Personen sind wir unvertretbar Einzelne und Teil einer Gemeinschaft«. [H. i. O.] (Krämer 2005, 7) Gerade während der Truth und Reconciliation Hearings, auch in vielerlei Hinsicht ein wichtiger symbolischer Akt, ist dies von enormer Bedeutung. Denn wieder schreitet »die Regierung« ein und entledigt sich des »unbezähmbaren Wilden«. Wieder erfolgt die gewaltvolle Eingliederung des Fremden in den Mainstream der Mehrheitsgesellschaft. Insofern könnte man vielleicht bezüglich der Bedeutung des Namens in der Uniform festhalten, dass die Verantwortung im Umgang mit beunruhigender Fremdheit über die Rolle hinausgeht, sie lässt sich nicht auf die Uniform begrenzen. Der Name ist nicht in erster Linie ein Privileg, sondern eine Pflicht, der man auch in der Rolle nicht entkommt. Die Uniform kann leicht dazu führen, sich hinter ihr bzw. den Anforderungen des »verallgemeinerten Anderen«, zu verstecken. Der Name in der Uniform bedeutet dann, sich trotz ihrer schützenden Hülle berühren zu lassen, beides zu sein: Polizist und Mensch und nicht in das eine oder in das andere Extrem abzugleiten.

3.2.2 Normalität und Normierung – Ordnung und Unordnung Die beiden Polizisten leben qua Beruf ein Leben der Rechte und Gesetze, der Ordnung und der Uniformität. Es könnte sein, dass sie dadurch in besonderer Weise Schwierigkeiten haben mit der Unordnung, dem Unberechenbaren, den Ungereimtheiten, lauten, eigensinnigen, launenhaften Tönen und dass sie das, was sie in sich und um sich, in ihrem eigenen Leben und Sein nicht aushalten, auch in der Welt begradigen, beruhigen oder aufräumen möchten. Zumindest sind sie als »Wachmänner« in besonderem Maße sensibilisiert für »Störenfriede«. Wenn jemand ein Verhalten zeigt, das verstört, erwacht der projektive Reiz, diese Störung zu beheben. Die innere Ablehnung von etwas, das verwirrt und verunsichert, was einen aus der Bahn der gewohnten Abläufe wirft, wird zu einer Reaktion nach außen, damit die Welt wieder im Lot und die innere Balance wieder hergestellt wird. Das Leben in Ordnungen, Dienstgraden, Protokollen und Gesetzen kann unbemerkt dazu führen, dass man die Welt in Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Delinquenz und Normalität ein106 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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teilt. 93 Mit der Errichtung von Ordnungen und Standards wird das Außerordentliche, Untypische, Andersartige unweigerlich mit produziert. 94 Gernot und Hartmut Böhme (1983, 13) sprechen dabei vom »Anderen der Vernunft« als »das Irrationale, ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische«. Es ist »inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle« – all das repräsentiert und lebt die Inuk und ruft damit die Aufforderung zur Zivilisierung, Disziplinierung und Selbstbeherrschung auf den Plan. Auf der anderen Seite ist es doch auch so, dass sich gerade Polizisten für einen Beruf, der sie permanent mit Unordnung und Grenzerfahrungen konfrontiert, entschieden haben. Tagtäglich müssen sie mit Gesetzesübertretern, mit Chaos, undurchsichtigen und unberechenbaren Geschehnissen umgehen. Sie werden gerufen, wenn es brennt, wenn etwas aus dem Ruder läuft oder jemand überdreht. Dann müssen sie entscheiden, was noch »normal« ist oder was von der Norm abweicht, deviant ist, und wie damit umzugehen sei. Dabei spielt die eigene Erfahrung und die bewusste oder unbewusste Einordnung und Bewertung des abnormalen Verhaltens eine bedeutsame Rolle. Diese Ordnung ist es, die hilft, auch mit stark befremdlichen Situationen klarzukommen, denn so wird Fremdes mit dem entsprechenden Label versehen und dingfest gemacht, damit man weiß, wie man damit umzugehen hat, und man das eigene Verhalten entsprechend rechtfertigen kann. Ronald Laing stellt heraus, dass es prinzipiell eine Schwierigkeit im Umgang mit dem Verhalten anderer ist, dass man nie Einblick nehmen kann in die dahinterstehende Erfahrung, denn: »Erfahrung ist die Unsichtbarkeit des Menschen für den Menschen« (Laing 1977a, 12). Die Erfahrung eines Menschen, wie die der Inuk, kann kein anderer Mensch genauso machen oder mit ihr erfahren – beobachtbar ist nur ihr Verhalten, das zu einer Erfahrung derer wird, die sie erleben. Schnell reduziert sich dann die Erfahrung der Frau auf

Die Tatsache, dass es bei Polizei und Militär immer wieder zu Vorfällen kommt, wo Menschen mit nationalistischer, rechtsextremer oder sogar fremdenfeindlicher Gesinnung auffallen, unterstreicht die Tatsache, dass diese Berufsgruppen Menschen anziehen, die enge Raster und klare Abgrenzungen brauchen. 94 Vgl. auch die Gedanken einer »zwielichtigen Ordnung« von Bernhard Waldenfels (1987). Damit meint er eine Ordnung, »die ermöglicht, in dem sie verunmöglicht, die eingrenzt, indem sie ausschließt, die formt, indem sie verformt« (ebd., 11). 93

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ihr Verhalten – bzw. vor allem auf das, was dieses in der Erfahrung der Beobachter bei diesen auslöst: Ich erfahre nicht deine Erfahrung. Aber ich erfahre dich als Erfahrenden. Ich erfahre mich als von dir Erfahrenen. Und ich erfahre dich als dich Erfahrenden als von mir Erfahrenen. Und so weiter. Das Bemühen um die Erfahrung anderer beruht auf Schlußfolgerungen, die ich ziehe – aus meiner Erfahrung von dir mich erfahrend, wie du mich erfahrend dich erfahrend mich erfahrend … bist. […] Da deine und der anderen Erfahrung für mich so unsichtbar ist wie meine Erfahrung für dich und die anderen, versuche ich den anderen durch ihre Erfahrung von meinem Verhalten evident zu machen, was ich durch meine Erfahrung von deinem Verhalten auf deine Erfahrung schließe. (ebd., 13)

In dem, was sich mit der Frau abspielte, zeigt sich die gesellschaftspolitische sowie psycho-soziale Unfähigkeit, gut mit Fremdheitserfahrungen umzugehen: Nachdem die Absicht, die Fremdartigkeit der Ureinwohner durch Assimilation aufzulösen und sie in die Mehrheitsnorm einzupassen, fehlschlug, diese Strategie sogar in das extreme Gegenteil kippte, wird die nun aufbegehrende Anomalie erneut gepackt und von uniformierten Ordnungshütern aus dem öffentlichen Raum gebracht. Eine Begegnung findet nicht statt. Das Verhalten der Inuk führt dazu, dass ihre Erfahrungen nicht weiter gehört, sondern abgeschoben und isoliert werden. Genau diese Momente des abgebrochenen Dialogs bzw. eines Monologs der Vernunft über das Befremdliche, sind es, die Foucault (1969) zum Anlass nimmt, in Wahnsinn und Gesellschaft eine »Archäologie des Schweigens« zu verfassen. Was wir als »normal« bezeichnen, erwähnt Laing (ebd., 21), »ist ein Produkt von Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion, Introjektion und anderen Formen destruktiver Aktion gegen die Erfahrung«. Insofern ist das, was wir »normal« nennen, nur ein kleiner Ausschnitt des gesamten unergründlichen Spektrums der Welt unserer Erfahrung. Denn vieles von dem, was außergewöhnlich, anders und unangenehm befremdlich ist, wird aus unserem Erfahrungsraum verbannt. »Die Gesellschaft schätzt ihren normalen Menschen«, schreibt Laing spitzzüngig. Diese Unternehmung, das Abnormale in Form zu bringen, führt jedoch zu einer wachsenden Entfremdung – es entfremdet von der Erfahrung, da so eine echte Auseinandersetzung mit sich selbst und dem anderen nicht erfolgen kann. Diese Entfremdung sei gefährlich 95, denn »[w]enn 95

Ähnlich schreibt Joachim Küchenhoff (2015, 25), die »festungsartig verpanzerte

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unsere Erfahrung zerstört ist, wird unser Verhalten zerstörerisch sein« (ebd., 22). Es ist bezeichnend, dass es bei den Truth and Reconciliation Hearings eigentlich gerade um diese Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Menschen in den Residential Schools gehen sollte, diese im Fall der Geschichte der Inuk aber schließlich scheiterte, weil Fremdes sich nicht mehr im Rahmen des Normalen, gesellschaftlich salonfähigen halten ließ, und entsprechend in seine Schranken verwiesen werden musste. Entfremdung, das Wegsperren und Ausschließen von Befremdlichem, wird zu einem »normalen Zustand« in einer Welt, in der »personales Handeln meist destruktiv wirken [muss] auf die eigene Erfahrung und auf die des anderen.« (ebd., 28) Es muss destruktiv wirken, weil Fremdes immer wieder zurückgedrängt, versteckt und verleugnet werden muss, wenn es sich nicht in den Mainstream des berechenbaren und handhabbaren Normalen einfügen lässt. Der Bruch zwischen Erfahrung und Verhalten, die Errichtung von Normen und damit die Festschreibung des Pathologischen zeigt sich besonders deutlich in der hohen Inhaftierungsrate von indigenen Menschen in Kanada. 96 Die strategisch induzierte Selbstentfremdung der Kinder in den Residential Schools durch gefängnisähnliche Lebensbedingungen und Bestrafungsmethoden führte beinahe nahtlos zu selbst- und fremdzerstörerischem Verhalten nach der Schulzeit: »Students who were treated and punished like prisoners in the schools often graduated to real prisons.« (Austin 2015) Der kurze Weg vom »Umerziehungs«-Internat zum Gefängnis hat aber nicht nur mit dem gewalttätigen und kriminellen Verhalten betroffener Menschen zu tun, sondern vor allem mit der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und der Polizei sowie mit deren Bewertung von Devianz. In diesem Zusammenhang gibt es mindestens zwei verhängnisvolle wechselwirkende Dynamiken: Erstens, das Normale braucht das Ab›normale‹ Identität« lasse sich selbst keinen Spielraum und werde dadurch »so brennend gefährlich«. Des weiteren erwähnt er, dass dieser »Normalitätspanzer« (diesen treffenden Begriff bezieht er von Wilhelm Heitmeyer) »zum Stammvater der Waffenkammern [gehört], die für interkulturelle Gewalt rüsten« (ebd.). 96 2013/2014 waren beinahe 25 % der Gefangenen in den Gefängnissen Kanadas Ureinwohner, diese machen aber nur etwa 3 % der Gesamtbevölkerung aus. (vgl. Statistics Canada 2015b; Brosnahan 2013) Nicht selten hört man deshalb in Kanada die zynische Bemerkung, Gefängnisse seien die größten Reservate des Landes. Dies weist plakativ darauf hin, dass die Bedrohung des Fremden – noch dazu, wenn er oder sie »gefährliche« Züge aufweist – weggesperrt werden muss, vor allem um das Eigene zu schützen.

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normale, um die eigenen Grenzen markieren zu können, Fremdes dient als »tragender Grund und Resonanzboden von Eigenheit« (Schäffter 1991, 15). Zweitens, die Lebenserfahrungen Straffälliger werden, wie oben erwähnt, auf deren Verhalten reduziert: Es ist eben nicht die Aufgabe der Polizei, nach den Erlebnisgründen eines Menschen zu fragen, der eine Straftat begangen hat. Sie muss vielmehr die Schuld nachweisen, den Übeltäter überführen und vor den Haftrichter bringen. Es geht um Schuld und Strafe, um Vergeltung und Abschreckung, um Recht und Gesetz in einer Normalisierungsgesellschaft mit ihren Praktiken der Aus- und Einschließung (vgl. Foucault 1996a, 49). Diese verkürzte Sichtweise im Umgang mit stigmatisiertem Verhalten hat auch zur Folge, dass sich Vorurteile hartnäckig festsetzen. Nachhaltig wirksam war (und ist) in Kanada beispielsweise die sog. »Feuerwasserlüge« (vgl. Thatcher 2004). Sie besagte, dass Ureinwohner aufgrund spezifischer historischer Entwicklungen und genetischer Veranlagungen schneller und stärker alkoholabhängig werden als Menschen europäischen Ursprungs. Dabei, so mutmaßt Rupert Ross, würden die Menschen schlichtweg aus demselben Grund zur Flasche greifen wie wir alle: »to blow off steam« (Ross 2006, 171). Dennoch reflektiert das Bild des »drunken Indian« eines der hartnäckigsten Stereotype in Nordamerika – und es beeinflusst natürlich den Umgang der Polizei und der Behörden mit Ureinwohnern. Eng an das Vorurteil des betrunkenen Indianers ist auch das des »faulen Indianers« geknüpft, beide führen im Sinne des Thomas-Theorems dazu, dass Menschen indigener Herkunft schlechtere Karten auf dem Arbeitsmarkt haben und entweder von der Sozialhilfe leben oder zwielichtigen Geschäften (v. a. Glückspiel, Prostitution, Drogenhandel) nachgehen (müssen) und eher geneigt sind, dem Alkohol zuzusprechen, sodass sich die Zuschreibung bestätigt und verhärtet. Ordnungen und Gesetze, vorgefertigte Meinungen und Vorstellungen von dem, was normal und unnormal ist, verhindern die Auseinandersetzung mit Fremdem. Die Uniform markiert eine sichere Grenze und gibt sterile Handlungssicherheit. Die beiden Polizisten sahen sich in der Pflicht, die Unordnung, das Entgrenzte und Befremdliche in Ordnung zu bringen. Die Grammatik diskriminierender, d. i. trennender und unterscheidender Sprache (wozu auch nonverbale Handlungen gehören), so stellt Sybille Krämer (2005, 9 ff.) fest, lässt sich dadurch charakterisieren, dass sie den anderen zum Schweigen bringt. Sie entzieht dem wechselseitigen Dialog, der Mög110 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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lichkeit des gegenseitigen Berührtwerdens und Erfahrens, den Boden – die Frau wird aus dem Raum getragen – das ist das Ende der Auseinandersetzung mit dem, was sich in ihr und durch sie in allen Anwesenden regte – zurück bleibt eine ratlose Leere. Außerdem bewirkt diskreditierende Kommunikation immer eine Über- und Unterordnung, die beinahe den Anschein einer natürlichen Ordnung erweckt – so können auch gewaltvolle Handlungen und der Ausschluss degradierter Personen legitimiert werden. 97 »Modalitäten des Fremderlebens«, so stellt Ortfried Schäffter heraus, »lassen sich nicht nur auf deren inhaltlichen Einfärbungen charakterisieren, sondern auch in Bezug auf ihre Strukturbedingungen«, d. h. welche Ordnungen die Unterscheidung begründet. Hier sei unbedingt zu beachten, dass es dabei »um gesellschaftliche Wirklichkeitsdefinitionen und damit um Fragen von Macht und Kontrolle geht« (Schäffter 1991, 14). Die Analyse des Einschreitens der Polizei legt nahe, noch einen Schwenk zu Jacques Rancières zu machen, der diese als Teil einer gouvernmentalen Ordnung beschreibt. Der Polizist sei »dazu geweiht, ebenso Berater und Animateur, wie Agent der öffentlichen Ordnung zu werden«, schreibt Rancière (2016, 40). Das System »Polizei« bestimme, was als Rede verstanden werde, und was als Lärm. (vgl. ebd., 41) Die polizeiliche Pflicht der Aufrechterhaltung der Ordnung beschreibt das unausgesprochene Gesetz, einzuschreiten und zu betonen, dass es »hier nichts zu sehen gibt« und verbirgt, was nicht öffentlich in Erscheinung treten soll.

3.2.3 Von der Ohnmacht zur Macht Die Reaktion der Polizisten lies vor allem eines vermuten: ein überwältigendes Gefühl der Ohnmacht und der Hilflosigkeit – und dies In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass sich Michel Foucault wie wohl kaum ein anderer akribisch, schonungslos entlarvend und äußerst hilfreich mit diesen implizit-perfiden Formen der Macht auseinandersetzte – er selbst erwähnt sogar, dass es ihm während seines ganzen Lebens genau darum ging, als er ein tiefes Unbehagen in sich aufklären wollte (vgl. Foucault 1996a, 97). Im Grunde habe er nichts anderes unternommen, »als den Versuch, zu verfolgen, wie eine bestimmte Anzahl von Institutionen, die im Namen von Vernunft und Normalität zu funktionieren begannen, ihre Macht auf Gruppen von Individuen ausgeübt haben, auf deren Verhaltensweisen, Seinsweisen, Weisen des Handelns und Sprechens, die als Anomalie, Wahnsinn, Krankheit und so weiter konstituiert werden.« (ebd., 98)

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kippte, beinahe schon psychologisch-lehrbuchartig in die Ausübung von Macht als »das Vermögen, sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen« (Popitz 1992, 22). In der Reaktion der Polizisten zeigt sich, wie schmerzhaft und schwer auszuhalten die Konfrontation mit Fremdem, vor allem mit den wenig kontrollierbaren Regungen, die es im Eigenen auslöst, ist. Das äußere Widerfahrnis wird unversehens zu einem inneren Widerfahrnis. In gewissem Sinne sahen sich die Männer konfrontiert mit einer doppelten Fremdheitserfahrung, die sich wechselseitig hochschaukelte. Die Irritation und Orientierungslosigkeit angesichts einer Situation, die man nicht verstehen kann, wo scheinbar keine alternativen Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, ließen die Polizisten zu einer Maßnahme greifen, in der sie wieder Herr der Lage waren. Die Machtlosigkeit der Frau, sich selbst noch im Griff zu haben, triggerte eine Re-Aktion, weil eine Antwort überfordert hätte. Es ist leicht, eine »responsive Einstellung oder Vernunft« (vgl. Waldenfels 2015a, 19 ff.) zu fordern, aber es ist schwer, sie tatsächlich zu leben, wirklich »vom Fremden her [zu] sprechen« (ebd., 22). Die Ohnmacht angesichts dessen, was man momentan an Verwirrendem, Verunsicherndem in sich erlebt, hält sich nicht an die Aufforderung der Vernunft oder folgt nicht einfach dem »Wissen«, was in dieser Situation richtig wäre. Dies zeigt sich auch daran, dass Polizisten im Laufe ihrer Aus- und Weiterbildung eine Vielzahl an »Kriseninterventionstechniken« lernen und sich damit ein reichhaltiges Methodenrepertoire aneignen – und dennoch machtlos erscheinen angesichts einer Situation wie der geschilderten. Es ist schwer zu sagen, ob die Polizisten letztlich das Gefühl hatten, die Situation gerettet zu haben, oder ob sie spürten, hilflos gewesen zu sein und genauso wie die Frau von etwas Unkontrollierbarem erfasst zu werden und dann zu reagieren, anstatt sich ihrer selbst bewusst zu agieren – wie auch immer das ausgesehen hätte. Die Überforderung durch die Blöße der Frau, die, ohne es zu wollen, unbegrenzt und unkontrolliert ihr Inneres nach außen gekehrt hatte, veranlasste die Männer dazu, ihrem eigenen Ausgeliefertsein in dieser Situation ein Ende zu bereiten. Ihre eigene Hilflosigkeit war eng an die der klagenden Frau gebunden. Sicherlich wollten beide helfen, die Frau schützen, sie aus ihrer misslichen Lage befreien – aber sie wussten nicht, wie. Die Zumutung menschlicher Verletzlichkeit und Verletzungsfähigkeit, die ihnen unter die Haut kroch, stürzte sie in eine existenzielle Hilflosigkeit. Trotz dieser seltsamen Nähe tat sich eine dunkle, tiefe Kluft auf, die drohte, alle ge112 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Die Erfahrung des Fremden im Selbst der Polizisten

fangen zu nehmen. Die Andersartigkeit eines anderen Menschen bleibt immer uneinholbar – keine Theorie, keine Analyse, keine Technik oder Methode der Einfühlung kann sie uns erschließen. Diese Ohnmacht der »Unendlichkeit« des Anderen beschreibt Emmanuel Lévinas treffend mit einer Nacktheit, die uns in unerhörter Weise in Frage stellt: Die menschliche Nacktheit fragt mich an, sie stellt das Ich, das ich bin, in Frage – sie fragt mich an in ihrer schutzlosen und wehrlosen Schwäche als Nacktheit. Aber sie fragt mich ebenso an mit befremdlicher Autorität, gebieterisch ohne Waffen, Wort Gottes und Wort im Antlitz des Menschen. (Lévinas 1993, 9)

Es ist nicht nur die Frau diejenige, die schwach und hilfsbedürftig ist – auch die beiden Männer sind es, auch sie sind »nackt« in ihrer Ohnmacht, mit dieser Situation umzugehen. Alle Augen sind in ihrer Lage großer Hilflosigkeit erwartungsvoll auf sie gerichtet. Sie können ihr nur entkommen, indem sie ihre Macht nutzen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Diese Handlung der Macht, die der Ohnmacht entspringt, muss letztlich jedoch eine Ohnmachtstat bleiben. Denn sie ist eher Reflex als abgewogenes Handeln, das aus einer inneren Ausgeglichenheit und Ruhe kommt. Dies ist, wie Platon Sokrates im Gorgias (466e) sagen lässt, ein Zeichen höchst geringer Macht: »Macht haben Redner sowohl als Tyrannen eigentlich am wenigsten im Staat, weil sie nämlich nichts tun, was sie wollen […]; jedoch tun sie freilich, was ihnen dünkt, das Beste zu sein.« Dass sie nicht »tun, was sie wollen«, weist darauf hin, dass sie in ihrer Machtausübung letztlich ohnmächtig sind, denn sie lassen sich bestimmen von Emotionen und unreflektierten, reflexartigen Beweggründen wie Selbstschutz, nicht das Gesicht zu verlieren, Herr der Lage zu sein, etc. Die seelische Unordnung und Unbeherrschtheit wird kompensiert durch den Versuch, die äußere Welt zu beherrschen. Damit wiederholten die beiden Polizisten die leidvolle Asymmetrie, das gewaltsame Gefälle von Macht und Ohnmacht in den schmerzhaften Erinnerungen der Frau. So wie sie ihr Leid viele Jahre lang weggeschoben hatte in der Hoffnung, Macht über ihr Leben zu haben, so haben die Polizeibeamten die Zumutung des Leids der Frau aus dem kollektiven Raum des gemeinsam Erlebten zu bringen versucht. Sie haben, um mit den Worten Lévinas’ zu sprechen, die Provokation der nicht eliminierbaren Unendlichkeit der Andersartigkeit des Anderen nicht ausgehalten und im Rahmen ihrer eigenen Macht totalitär gebannt. 113 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Auch das Nicht-sehen-wollen der eigenen, wenig rühmlichen Geschichte könnte dazu beigetragen haben, dass die Polizisten den »Beleg« dafür aus ihrem Sichtfeld und damit aus ihrem Bewusstsein schaffen wollten. Denn das Erbe der Geschichte ist eine Last, die sich nicht so einfach abschütteln lässt. Wie eine Klette klebt sie an den RCMP-Beamten, die als Stellvertreter staatlicher Macht auch heute noch ein Stückweit die Täterschaft von damals repräsentieren. Auch hier sind sie ohnmächtig, denn die Wunden der Vergangenheit lassen sich nicht ungeschehen machen – aber sie können durchaus verärgern, denn hier sind es die Opfer, die Macht haben und diese zuweilen auch ausspielen. Die Vergangenheit kann im Erleben und Handeln der Menschen zur Erpresserin werden. Die Inuk hat Macht über die Gefühlswelt der Anwesenden, zudem steht sie stellvertretend für die Opfer, die hohe Entschädigungsleistungen und diverse Sonderrechte von der Regierung gefordert haben und weiterhin fordern.

3.3 Die Fremdheitserfahrung der »unbeteiligten« Beobachter 3.3.1 Einbruch in das Eigene: Zwischen Faszination und Bestürzung Hans Blumenberg (1979) fragt sich in Schiffbruch mit Zuschauer, wie nicht betroffene Beobachter mit dem Leid anderer Menschen umgehen, das sie vom sicheren Ufer aus beobachten: Befällt sie verzweifeltes Mitleid oder stoische Gelassenheit, wenden sie sich entsetzt ab, überwiegt die blanke Schaulust, sind sie froh, nicht selbst in einer solch schlimmen Situation zu sein oder werden sie an die eigene Verletzlichkeit erinnert? Auch wenn alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Truth and Reconciliation Hearings damit rechnen mussten, verzweifelte, verstörende, auch traumatische Geschichten zu hören, wähnten sie sich doch in der Sicherheit eines formalen Settings. Der Ausbruch der Frau aus dem, was sich für gewöhnlich in einem klar strukturierten und moderierten Sharing Circle abspielt, glich einem Ausbruch aus diesen sicheren Grenzen, was alle zutiefst verunsicherte. Das, was sich ereignete, riss unversehens auch einen klaffenden Spalt in die Hülle des eigenen, ganz persönlichen inneren Schutzraums. Es war beinahe unmöglich, sich nicht berühren zu lassen, von dem, was da passierte. Die Frau ließ alle teilhaben an ihrem Schmerz – ohne dass sie 114 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Die Fremdheitserfahrung der »unbeteiligten« Beobachter

wusste oder bewusst kontrollieren konnte, was geschah und welche Bedeutung es hatte, was ihr widerfuhr, machte sie alle »mit-gegenwärtig«. Mit einem Mal ging es nicht mehr nur um etwas, das Geschichte war, ihre Narration platze in das Hier und Jetzt, sie machte sich breit und zog alle in ihren Bann. »Werden Erlebnisse in der einen oder anderen Weise mitgeteilt oder geteilt«, so beschreibt dies Jürgen Straub, »vollzieht sich an ihnen ein Wandel«, denn sie brechen aus dem Leben eines einzelnen Menschen aus und werden »zu inter-subjektiv nachvollziehbaren […] Erfahrungen« (Straub 2015a, 128). Auf diese Weise erwächst aus dem Individuellen etwas Interindividuelles, etwas Zwischenmenschliches, das jene Mit- und Nebenmenschen […] vielleicht sogar verbinden, aber auch voneinander entfernen und trennen, in polemogene Distanz zueinander bringen kann. Aus dem Erleben als einem im und am Subjekt sich vollziehenden Geschehen oder Ereignis wird im Zuge seiner Erinnerung und (zum Beispiel narrativen) Artikulation eine in der einen oder anderen Weise konjunktive Erfahrung […]. Diese Erfahrung […] mag den anderen vertraut oder fremd, sympathisch oder unheimlich vorkommen. Sie können vielleicht etwas dazu sagen, jedenfalls in der einen oder anderen Weise auf sie antworten, reagieren – nicht zuletzt mit Sprachlosigkeit, nacktem Entsetzen, wortlosem Mitleid, purem Abscheu, angewidertem Ekel, oder auch mit stummer Verwunderung, inniger Bewunderung, bloßem Staunen, stiller Ehrfurcht etc. (ebd.)

Die Erfahrung der Inuk brach in die Erlebniswelt aller anwesenden Personen ein. Etwas bildhaft gesprochen könnte man vielleicht sagen, die Druckwelle der unerwarteten Explosion einer äußeren Erfahrung führte zu einer Implosion im Selbst. Auch wenn das, was sie schilderte und was sie erlebte, weit entfernt gewesen sein mochte vom Leben und Erleben der Zuhörer, übertrat es unaufhaltsam eine Schwelle zum Eigenen. Es kam den eigentlich Unbeteiligten ganz nah, drang durch alle Poren ein – als fremde Erfahrung, die zu einer eigenen wurde. »Was in der Schwellenerfahrung jenseits der Schwelle auftaucht, ist nicht einfach draußen, sondern es drängt mehr oder weniger heftig über die Schwelle. […] Über die Schwelle hinweg sind wir dem ausgesetzt, was heraufflutet.« (Waldenfels 1987, 39) Einmal in die Situation hineingezogen, entkam ihr keiner mehr. Beinahe wehrlos schienen alle Zuhörer ausgeliefert zu sein. Sie fühlten sich gefangen und ihrer Freiheit beraubt, denn sie konnten weder einfach so aufstehen und den Raum verlassen, noch einschreiten und irgendwie helfen. Alle waren an ihren Stuhl gefesselt und mindestens so mit sich selbst beschäftigt, wie mit dem Schicksal der Inuk. Die Erzählung 115 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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der Frau hatte sich selbständig gemacht und riss sie selbst und alle Zuhörer in einen mächtigen Strom, der ihnen den Boden unter den Füßen wegzog und der sie scheinbar weit weg trug von einem rettenden Ufer. Auch die Zeit nahm gefangen, denn sie verlor jede Bedeutung – es hätten Minuten oder Stunden sein können, die vergingen –, sie griff nach den Teilnehmenden, ohne dass sie sich ihr entziehen konnten. Alle verband die Hoffnung, dass das, was da passierte, endlich vorbeiging. Keiner wagte, sich zu bewegen, niemand gab einen Laut von sich, es war völlig still, nur das Schluchzen und Klagen der Frau erfüllte den Raum – auch davon konnte sich keiner befreien. Einige versuchten ihrer Lage zu entkommen, indem sie auf den Boden oder an die Decke starrten oder sich anderweitig ablenkten. Sie versuchten sich an irgendetwas festzuhalten, blickten angespannt auf die Lampe an der Wand oder einige Kleidungsstücke, die achtlos über einem Stuhl hingen; oder sie bemühten sich, der schlimmen Szene durch den Blick aus dem Fenster zu entkommen. Andere folgten gebannt den Geschehnissen, sahen aber immer wieder hilfesuchend hinüber zu den Polizisten und den Verantwortlichen der Gesprächsrunde. Bei den Ablenkungsmanövern ging es aber nicht allein darum, Abstand von dem zu bekommen, was sich da vor einem abspielte – es ging vor allem darum, Abstand von dem zu bekommen, was das mit einem selbst machte. In diesem Hin und Her des Umgangs mit den Geschehnissen zeigen sich zentrale Facetten des ambivalenten Fremderlebens: Faszinosum und Tremendum 98 – man will neugierig alles mitbekommen, ist fasziniert erregt und will zugleich am liebsten die Flucht ergreifen, nichts sehen, nichts hören und nicht berührt werden. »Das war schon immer so. Vom traditionellen Dorf heißt es manchmal, dass beim Herannahen von Fremden sich in den Häusern unten die Tore schlossen, oben aber die Fenster aufgingen, wenigstens einen Spalt.« (Färber 2015, 281) Vor allem angesichts des dargebotenen menschlichen

Das Begriffspaar stammt von dem evangelischen Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1917/1987). Er beschrieb damit eine Form des Erschauderns angesichts eines unbegreiflichen Mysteriums der Gottesbegegnung, angesichts des Heiligen. Dieses Erleben ist anziehend und abstoßend, fesselnd und schockierend zugleich. Ähnlich ambivalent wird immer wieder die Erfahrung mit Fremdem – etwas, das sich zeigt, in dem es sich entzieht – beschrieben. Dies drücke sich auch in der Sprache aus, erwähnt Bernhard Waldenfels (1997, 45): »Man hat oft darauf hingewiesen, daß das lateinische Wort ›hostis‹ zwischen Gastfreundschaft und Feindschaft schillert.«

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Schicksals spürten die Teilnehmenden eine innere Zerrissenheit, die sich vielleicht vergleichen lässt mit der Situation eines Verkehrsunfalls, an dem man vorbeifährt und wissen möchte, was passiert ist, zugleich aber nicht den Eindruck erwecken will, sensationslüstern alles intensiv zu beäugen, oder mit dem Besuch in einem Elendsviertel: Man will die Not der Menschen sehen, in jeden Winkel der armseligen Verschläge blicken und zugleich will man es doch nicht sehen, nicht eindringen in die ausgelieferte Intimität der Menschen. Denn so gern man das vielleicht möchte: Man glotzt Menschen nicht an, schlägt vielmehr die Augen nieder, um sie vor den eigenen Blicken zu schützen. Ein bisschen erinnerte die Szene auch an Kinder, die sich beim Versteckspielen die Augen zuhalten, immer wieder vorsichtig hervorblinzeln, weil sie wissen wollen, ob sie entdeckt werden, es aber dann doch nicht wissen wollen, um die Spannung aufrecht zu erhalten und meinen, sie seien für die anderen unsichtbar oder nicht mehr da, wenn sie nur fest genug die Augen zukneifen. Das, was sich vor den Augen aller abspielte, berührte unangenehm. Es wies auf menschliche Untiefen hin, auf Abgründe, die sich auftun können – auch in einem selbst. Wie entblößt und entstellt fand sich die Frau vor einem öffentlichen Publikum wieder, des Schutzschildes ihrer vernünftigen Contenance beraubt. Sie offenbarte tiefe, aus guten Gründen verborgene Verletzungserfahrungen, die bei den Beobachtenden unmittelbar das Gefühl hervorriefen, sie schützen, ihre Blöße bedecken zu wollen – vor allem auch, um selbst Schutz zu finden, das nicht mehr sehen zu müssen. Jeder Mensch erlebt und kennt in seinem (Innen-)Leben diffamierende Szenen, innere Konflikte, Momente großer Verzweiflung oder überwältigender Zerrissenheit. Schon als Kinder lernen wir jedoch, uns gesellschaftlichen Gepflogenheiten anzupassen, wilde Gedanken oder außergewöhnliche Träume zu kontrollieren, sie zurückzudrängen, um anerkannt zu werden und nicht aus dem Rahmen gesellschaftlicher Vorgaben zu fallen. Alles, was unsere »Mitgliedschaft« und Ankerkennung gefährdet, wird verbannt und unterdrückt. Wir werden an diese »inneren Exkludierten« erinnert, wenn andere dieses despektierliche Verhalten zeigen, wir schämen uns für sie, aber eigentlich für uns.

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3.3.2 Zwischenleibliche Resonanz und Interaffektivität William James bemerkt in The Principles of Psychology eher nebenbei: »The trouble with the emotions in psychology is that they are regarded too much as absolutely individual things.« (James 1983, 1064–1065) Was alle Personen, die Zeuge des verzweifelten Zusammenbruchs der Frau wurden, erlebten, lässt sich zurückführen auf eine Form der unbewussten »Gefühlsansteckung« (vgl. Scheler 1913, Hatfield u. a. 1994). Die spürbare Emotionalität im Raum war insofern alles andere als eine rein »individuelle« Angelegenheit, sie hat alle Anwesenden »mithineingerissen« (Scheler 1913, 11). Unsere körperliche Existenz ist unweigerlich auch soziale Existenz. Unser Leib stellt immer eine Art unsichtbare Verbindung zu anderen Leibern her, d. h. er beeinflusst – ob wir wollen oder nicht – immer auch unser zwischenmenschliches Miteinander. Paul Watzlawick prägte in diesem Zusammenhang die bekannte Aussage: »Man kann nicht nicht kommunizieren«. Das wurde in der geschilderten Szene überdeutlich: wie oben bereits ausgeführt, ging den Beobachtenden das, was sie an leibhaftigem Ausdruck bei der Frau erlebten, selbst unter die Haut. Aber auch weniger massive Formen der nonverbalen Kommunikation hinterlassen Spuren im Raum des Zwischenmenschlichen, d. h. sie beeinflussen, wie sich andere Personen fühlen, die beispielsweise wahrnehmen, wie sich jemand zurückzieht, starr vor sich hin blickt oder fröhlich lacht. Diese Dynamik beschrieb Merleau-Ponty (1994, 194) treffend als »Zwischenleiblichkeit«: Unsere Körper kommunizieren schneller miteinander als unser Verstand hinterherkommt und »versteht«, was gerade geschieht. Für die Gefühlsansteckung sei charakteristisch, so Max Scheler (1913, 11), »dass sie lediglich zwischen Gefühlszuständen stattfindet; und daß sie ein Wissen um die fremde Freude [Trauer, Verzweiflung u. a.] überhaupt nicht voraussetzt«. Wie ist das möglich? Hier kann man nochmal auf William James und seine damals umstrittene, heute durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse (vgl. z. B. Damasio 2010) aber sehr plausibel gewordene These zurückgreifen, dass Emotionen den Körperreaktionen folgen und nicht umgekehrt: »bodily changes follow directly the perception of the exciting fact, and […] our feeling of the same changes as they occur IS the emotion« [H. i. O.] (James 1983, 1065; 1884, 189–190). Er führt aus, dass wir traurig sind, weil wir weinen, dass wir wütend sind, weil wir uns wehren, dass wir uns fürchten, weil wir zittern. Die Emotion ist 118 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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die unmittelbare Folge einer leiblichen Empfindung. Dabei können sich Körperreaktion und Emotion gegenseitig intensivieren: »Das eigene Herz in der Angst klopfen zu spüren, erhöht die Angst, das Brennen der Scham im eigenen Gesicht verstärkt die peinliche Erfahrung der Ausgesetztheit und Demütigung.« (Fuchs 2014, 15) Dies gilt auch, wenn wir Emotionen an anderen Menschen wahrnehmen und diese sich infolgedessen übertragen bzw. hervorgerufen werden »durch ein unwillkürliches, nichtbewußtes Mitmachen der fremden Ausdrucksbewegung« (Schloßberger 2005, 193) 99. Durch Formen nonverbaler Übertragung breiten sich Emotionen im Raum aus, sie lassen sich nicht in der Psyche oder im Gehirn einer einzelnen Person lokalisieren oder einsperren. 100 Emotionen schwingen nicht nur vertikal, d. h. zwischen Bewusstsein und Unbewusstem in einer Person, sondern auch horizontal: Gefühle entstehen und leben im Raum zwischenmenschlicher Interaktion, sie sind »wesentlich relationaler Natur« (Fuchs 2014, 17). Weil unsere Leiber in ihrer »Kommunikation« den Verstand umgehen, ist das Erleben der Gefühlsansteckung von einer eigenartigen Fremdheit geprägt: In einer diffusen Gewahrnis verstehe ich weder das genau, was im anderen geschieht, noch das, was ich erlebe. Die Frau merkte, dass sie ihre Gefühle nicht mehr im Griff hatte, dass diese ihren Leib übermannten, was dazu führte, dass sich die Emotionen weiter intensivierten. Ihre Körperreaktion war sowohl Ausdruck eines inneren Geschehens als auch »emotionaler Brandbeschleuniger«. Weil ihr Körper nicht einfach nur ihr Körper ist, sondern als eine Art »Umschlagstelle« Medium zwischenmenschlicher Interaktion, affizierte er alle Personen, die beobachteten, was sich abspielte. Als »sensibler Resonanzkörper« (ebd.) 101, löste der eigene Zu dem phänomenologischen Ereignis der »Gefühlsansteckung« oder auch der »Zwischenleiblichkeit« lassen sich mit den so genannten »Spiegelneuronen« mittlerweile auch neurophysiologisch Korrelate finden. »Spiegelneuronen werden sowohl dann aktiviert, wenn das Lebewesen [erste Untersuchungen wurden durch Rizzolatti (1998) und Gallese (2001) mit Makaken durchgeführt] eine ganz bestimmte Handlung wie etwa das Greifen nach einem Apfel oder eine Tasse selbst ausführt, als auch dann, wenn es die gleiche Handlung bei einem Artgenossen wahrnimmt.« (Fuchs 2008a, 195) 100 Bernhard Waldenfels (2000, 289) führt aus: »Die Freude ist nicht ein Zustand, in dem ich mich befinde oder den ich herbeiführe, sondern ein Sichbefinden mit den Anderen in der Welt. Damit verlieren die Gefühle den Anflug bloßer Subjektivierung.« 101 Mit Rolf Elberfeld (2011b, 218) könnte man hier auch von »Intersonanz« spre99

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Leib bei allen Anwesenden unwillkürlich ebenfalls körperlich spürbare Reaktionen aus: Anspannung, Verkrampfung, nasse Hände, Herzrasen, Kurzatmigkeit – und damit starke Emotionen: Hilflosigkeit, Wut, Sorge, Angst. D. h. der Ausbruch bzw. Ausdruck des inneren Erlebens der Frau führte zu einem je individuellen Eindruck der Beteiligten, die wiederum diesem Ausdruck verliehen, was zu einem erneuten »zwischenleiblichen« Eindruck für die Frau und alle anderen Anwesenden wurde. Die Unmittelbarkeit und auch die Unmöglichkeit, sich dieser multiplen leibhaftigen Beanspruchung durch andere zu entziehen, wirken beunruhigend und bedrohlich. Man wird gleichsam hineingesogen in dieses Kraftfeld der Zwischenleiblichkeit, das wir nur sehr begrenzt steuern und kontrollieren können – es kann sogar passieren, dass man emotional umso tiefer hineingezogen wird, je mehr man sich dagegen wehrt. Max Scheler (1913, 12) erläutert, dass sich im Hin und Her der Gefühlsansteckung die Emotionalität im Raum merklich aufschaukeln kann und zu einem »Anschwellen der emotionalen Bewegung« führt: Eigentümlich ist diesem Prozesse [der unwillkürlichen Gefühlsansteckung] vor allem dies, daß er die Tendenz hat, auf seinen Ausgangspunkt wieder zurückzukehren, so daß die betreffenden Gefühle gleichsam lawinenartig wachsen. D. h. das durch Ansteckung entstandene Gefühl steckt durch die Vermittlung von Ausdruck und Nachahmung wieder an, so daß das ansteckende Gefühl wächst; dieses steckt wieder an usf. (ebd.) 102

So verstörend diese interaffektive Dynamik ist, so hilfreich mag sie sein, um etwas von dem Erleben der Inuk selbst nachvollziehen zu können – auch wenn dies zunächst nur unterschwellig präverbal und vor aller Rationalität geschieht. Friedrich Nietzsche schildert das Phänomen der »Mitempfindung« 103 wie folgt: chen, wenn aus der Wechselbezüglichkeit wie von selbst »sinnliche, emotionale und intellektuelle Reagibilitäten entstehen, die nach dem Muster akustischer Wahrnehmung zu direkten Intersonanzen zwischen allen Momenten der Handlung und des Geschehens führen«. Vgl. Elberfeld 2017, 275 ff. 102 Scheler erwähnt, dass diese Dynamik dazu führen kann, dass sich Einzelne zu Handlungen hinreißen lassen, die sie ohne die emotionale Aufgeladenheit nicht tun, die sie intentional nicht »wollen« und »verantworten« würden – auch so könnte man das Verhalten der Polizisten erklären. 103 In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Max Scheler sich ausdrücklich von Friedrich Nietzsche mit seiner »völlig irrigen Wertung des Mitgefühls« (Scheler 1913, 13) distanziert wenn er betont, dass die »Gefühlsansteckung mit dem Mitgefühl auch nicht das mindeste zu tun hat« (ebd.).

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Um den Anderen zu verstehen, das heisst, um sein Gefühl in uns nachzubilden, gehen wir zwar häufig auf den Grund seines so und so bestimmten Gefühls zurück und fragen zum Beispiel: warum ist er betrübt? – um dann aus dem selben Grunde selber betrübt zu werden; aber viel gewöhnlicher ist es, dies zu unterlassen und das Gefühl nach den Wirkungen, die es am Anderen übt und zeigt, in uns zu erzeugen, indem wir den Ausdruck seiner Augen, seiner Stimme, seines Ganges, seiner Haltung […] an unserem Leibe nachbilden […]. Dann entsteht in uns ein ähnliches Gefühl. [H. i. O.] (Nietzsche, KSA, 3, 133)

Menschen benötigen keine rationalen Erklärungen, wie es zu den beobachteten Gefühlszuständen eines anderen Menschen kommt, um ihn oder sie auf eine nicht-rationale Weise zu verstehen. Das geht gleichsam automatisch, denn »[d]ie primäre Wahrnehmung der Anderen beruht nicht auf hypothetischen Schlüssen auf eine unsichtbare Innenwelt in ihren Köpfen, sondern auf der zwischenleiblichen Kommunikation und wechselseitigen Empathie verkörperter Subjekte.« (Fuchs 2008a, 187) Genau diese »irrationale« zwischenmenschliche Verbindung ist es, die auch Martin Buber im Sinn hatte mit seiner Differenzierung von Ich-Du und Ich-Es. In der Ich-Du-Begegnung ist der andere »kein Spiel meiner Vorstellung, kein Stimmungswert, sondern er leibt mir gegenüber und hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm« [H. B. S.] (Buber 1995, 8). Der Begriff der »Zwischenleiblichkeit« ist deshalb so passend, weil sich hier Eigenes, Fremdes im Selbst und die Erfahrung des anderen wechselseitig berühren. Max Scheler ist daher nur bedingt zuzustimmen, wenn er im Zusammenhang des Mitleids differenziert, dass »gerade da, wo ein Leiden ansteckend wird, Mitleid völlig ausgeschlossen [ist]; denn im selben Maße ist es mir nicht mehr als das Leid des Anderen gegeben, sondern als mein Leid« [H. B. S.] (Scheler 1913, 14). Es ist sicher richtig, dass Mitleid intentional auf das Leid des anderen ausgerichtet ist, es dieses meint und verstehen möchte, und die Gefühlsansteckung mein eigenes, wenngleich fremdes, Gefühl, das durch die Erfahrung des anderen ausgelöst wird, in den Mittelpunkt stellt. Es ist jedoch unmöglich, zwischen beiden eine klare Grenze zu ziehen (außer vielleicht bei einem rein funktionalen Mitleid ohne eigene Empfindung – aber selbst hier ist fraglich, ob es so etwas überhaupt gibt). »Du grenzt nicht« schreibt Martin Buber. »[W]enn man den Anderen spürt, spürt man immer sich selber auch mit« (Waldenfels 2000, 283). »Es gibt einen Selbstbezug im Fremd-

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bezug« (ebd., 284). 104 Mein Gefühl ist weder völlig exklusiv noch gänzlich inklusiv, es lebt im Zwischen unserer leibhaftigen Existenz.

3.3.3 Grenzverlust und Grenzen – Moral oder was man tun sollte … Die Betroffenheit durch die Erfahrung der Entgrenzung von Gefühlen, die alle Anwesenden erfasste, war schwer auszuhalten. Denn diese brachte »die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem in Bewegung« (Waldenfels 1997, 44) – und zwar dies umso mehr, je näher das Fremde dem Eigenen kam, je mehr es an Eigenes erinnerte. Sicherlich beschlich viele auch Angst: die Angst vor Unbekanntem und Unberechenbarem, denn es war nicht absehbar, was als nächstes passieren würde. Nachdem die Frau dann aber laut schreiend und zappelnd aus dem Raum gebracht worden war, herrschte eine beinahe unerträgliche Stille. Alle waren schon längst nicht mehr nur distanzierte Zuschauer, die jetzt bloß aufstehen und den Raum verlassen könnten. Keiner war mehr unschuldig und ahnungslos, denn alle waren Zeugen, merklich gezeichnet durch die befremdliche Szene und den sichtbar gewordenen Schmerz. Die Entäußerung des psychischen Erlebens der Frau hatte die Menschen nachhaltig verstört. Die Inuk hatte alle auf eine seltsame Weise mit sich selbst konfrontiert. Dies wurde gerade durch ihr abruptes Verschwinden deutlich spürbar – es war beinahe so, als hätte sie alle mit sich selbst zurückgelassen – keiner konnte die eigene Verunsicherung mehr vornehmlich an ihr festmachen. Mit stummen Blicken musterten sich die Zurückgebliebenen gegenseitig, man wollte wohl erahnen, wie es anderen geht, ohne selbst etwas preiszugeben. Zugleich hatten sicher viele das Bedürfnis, sich über das Erlebte auszutauschen. Keiner schien sich aber zu wagen, die Stille zu durchbrechen, keiner wollte als erster aufstehen und gehen, so saßen alle noch eine Weile ratlos abwartend da. Nur ganz langsam begannen einige nach ihrer Tasche zu greifen oder die Jacke zu nehmen, beinahe wie in Zeitlupe, manche tuschelten sich etwas zu und

104 Eckhard Frick (2005) spricht in Anlehnung an Jacob Levy Moreno treffend von interaktioneller »Zweifühlung« in Abgrenzung zur einseitigen Einfühlung der Empathie.

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schickten sich an, den Raum zu verlassen. Ein bisschen hatten die Menschen wohl auch den Eindruck, Verbündete zu sein, eine Art unfreiwilliger Schicksalsgemeinschaft. Dennoch blieben sich die Menschen fern – näher fühlten sie sich vielleicht der Frau, die durch die unwillkürliche Preisgabe ihrer selbst Spuren einer einprägsamen Berührung hinterlassen hatte. Wie betäubt und ferngesteuert verließen die Menschen schließlich langsam den Raum. Die Szene erinnerte an das Ende eines emotional anrührenden Kinofilms, an die vorsichtig tastenden Bewegungen der Zuschauer ins Freie, nachdem das Licht angegangen ist. Vielleicht war die Szene sogar auch vergleichbar mit dem Verlassen eines sakralen Baus wie eines großen, dunklen, kühlen Doms, der seinen Besuchern inmitten der lebendigen Großstadt eine gewisse Schwere aufs Herz legt. Draußen atmeten alle erst einmal tief durch, hatten sie doch im wahrsten Sinne des Wortes mehrfach den Atem anhalten müssen. Dann entlud sich bei einigen eine gehörige Portion Wut – der Schmerz, die Konfrontation mit den Verletzungserfahrungen schien den Menschen auf die Nerven gegangen zu sein, sie suchten Ventile, ihre Hilflosigkeit und Überforderung abzulassen. Sie begannen, über alles Mögliche zu schimpfen: über die unprofessionelle Organisation der Kommission und deren Versäumnis, eine bessere psychologische Betreuung sicherzustellen, über die Brutalität der Polizisten oder über die Ureinwohner, die doch jetzt endlich zu jammern aufhören sollten. Sie schienen zu versuchen, die Verantwortlichen – auch für das eigene Ausgeliefertsein – dingfest zu machen. Sehr schnell konnte man den Eindruck gewinnen, als würden die Menschen die eigene Verunsicherung nach außen verlagern. Denn niemand erzählte, wie es ihm oder ihr ging – immer ging es um die anderen, um deren Schuld, Versagen oder unsachgemäßes Handeln. Andere aus der Runde zeigten sich kühl und abgeklärt. Sie fanden rationale Erklärungen für das Geschehen, klammerten sich an sozialpsychologische Theorien und stellten allerhand Hypothesen auf, wie es so weit kommen konnte. Lautstark unterbreiteten sie ihre Vorschläge und Lösungen, wie man mit der Situation besser hätte umgehen können, was man daraus lernen könne und was nun geschehen solle. Durch das vermeintliche Verstehen schien sich die furchteinflößende Erfahrung bannen zu lassen, sie war nicht mehr unfassbar, grenzenlos und fremd. »Wüßte ich, worüber ich staune oder wovor ich mich ängstige«, so Waldenfels (1997, 44) knapp, »so würden Staunen und Angst verschwinden wie ein Phantom«. Die sach123 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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liche Analyse verhalf zu einer gewissen Immunität. Nüchtern stellten sich die vermeintlich Wissenden jenseits des Geschehens, betrachteten alles aus einer vernünftigen Distanz von außen – wie hinter einer unsichtbaren Wand oder einer kugelsicheren Scheibe. »[M]it der objektivierenden Lupe seines Nahblicks über die einzelnen gebeugt oder mit dem objektivierenden Feldstecher seines Fernblicks sie zur Szenerie zusammenordnend«, stellt sich der Mensch »vor den Dingen auf«, die er nicht verstehen kann – er spricht über sie, nicht mit ihnen, er steht ihnen nicht »gegenüber im Strom der Wechselwirkung« (Buber 1995, 29–30). Sehr passend ist hier noch einmal Blumenbergs »Metaphorik der gewagten Seefahrt«, die nie das Normale und »Landläufige« gewesen war, sondern eine Grenzverletzung darstellt. Denn der Mensch führe sein Leben und errichte seine Institutionen auf dem festen Lande. (vgl. Blumenberg 1979, 9) Der Schiffbruch ist deshalb so fatal, weil er Menschen, die über ihre naturgegebene Grenze hinausgehen und sich auf das offene Meer begeben, völlig in der Sphäre der Unberechenbarkeit, Unheimlichkeit, Gesetzlosigkeit, Orientierungswidrigkeit untergehen lässt. (vgl. ebd., 10 ff.) Der Mensch täte gut daran, »sich mit der Rolle des Zuschauers zu begnügen und seinen philosophischen Standort vor und über der Naturwelt nicht zu verlassen«, schreibt Blumenberg (1979, 29) wohl bewusst etwas zynisch. In dieser sicheren Position mit festem Boden unter den Füßen, aus einer geschützten »Distanz zum Ungemäßen« (ebd., 12) drückt sich eine gewisse moralische Überheblichkeit aus, denn angesichts des naturwüchsigen Ausrastens und erlittenen »Schiffbruchs« der Frau erscheinen die eigenen pathologischen Züge eher harmlos. Vielleicht tut es sogar gut, zu sehen, wie sehr man im Vergleich zu ihr heroisch »im Vollbesitz aller Besonnenheit« (ebd., 31) ist. Die Spannung zwischen Entgrenzung und Begrenzung spiegelte sich auch im Umgang mit der Leiderfahrung der Frau. Einerseits zeigten die Menschen so etwas wie ein sprachloses Mitleid: Viele konnten nur den Kopf schütteln oder stammelten etwas von »Wie man so etwas nur überleben kann …«. Andererseits wurde auch ein inneres Ärgernis deutlich, es war fast so, als seien sie empört und aufgebracht darüber, dass die Frau ihnen das angetan und sich nicht besser im Griff hatte. Im selben Moment offenbarte sich eine massive moralisierende Gegenstimme, die eine solche Empfindung keinesfalls zulassen konnte. Denn das Gebot der Stunde lautete: Mitleid und Empathie. Ärger über die Frau oder das Gefühl der Überlegenheit 124 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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durften nicht sein und wurden so gut es ging hinter zusammengebissenen Zähnen zurückgehalten. In Momenten der Orientierungslosigkeit helfen Grenzen, wieder Sicherheit zu erlangen. Die Heraus-Forderung wird dadurch umgangen, dass man sich auf die Grenzen des eigenen Verstehens besinnt, sich dorthin zurückzieht. »In bloßer Gegenwart läßt sich nicht leben«, bemerkt Martin Buber (ebd., 34), »sie würde einen aufzehren«. Deshalb müssen Menschen dafür sorgen, »daß sie rasch und gründlich überwunden wird« (ebd.). Er fährt fort: »Man braucht nur jeden Augenblick mit Erfahren und Gebrauchen zu füllen und er brennt nicht mehr« (ebd.). Das Irrationale, der Wahnsinn, die Verrücktheit werden vom Rationalen, Normalen, Geraden getrennt und abgespalten. Deutlich zeigte sich dies durch die Entfernung der »außer Rand und Band« geratenen Frau. Foucault sieht darin die Geschichte und Selbstrechtfertigung der Psychologie – in ihr findet der Mensch Erklärungen zu den Unheimlichkeiten in sich selbst, nun kann er sie entschlüsseln und in Erkenntnisse gefasst fixieren: Dadurch, daß er seinen Wahnsinn gemeistert hat, ihn in den Kerkern seines Blicks und seiner Moral gefangen hat, indem er ihn befreite, dadurch, daß er ihn entwaffnet hat, indem er ihn in eine Ecke seiner selbst zurückdrängte, war es dem Menschen möglich, schließlich jene Beziehung von sich selbst zu sich selbst herzustellen, die man »Psychologie« nennt. (Foucault 1969, 15) 105

Rationalität hilft das Zu-Ordnende in eine bestehende Ordnung zu bringen. (vgl. Waldenfels 1987, 202) Diese Ordnung dient der Begrenzung des Außerordentlichen, sie trägt dazu bei, die Welt außen geradezurücken, um wieder inneren Frieden zu finden. Das Bedürfnis zu verstehen, zu fixen Erkenntnissen über Fremdes zu gelangen, geht 105 Bis heute haftet der Psychologie aber der Hauch des Befremdlichen an. Zum einen hilft sie, Unaussprechliches in Worte zu fassen, zum anderen fürchtet man sich vor dem, was sie ans Licht zu bringen vermag. Sigmund Freud betont, das »Wahnsinnige« im Anderen erinnere einen an das eigene irrationale Getriebensein, was zur Folge habe, dass alles dämonisiert werde, was mit diesem »Wahnsinn« zu tun habe. »Der Laie sieht hier die Äußerung von Kräften vor sich, die er im Nebenmenschen nicht vermutet hat, deren Regung er aber in entlegenen Winkeln der eigenen Persönlichkeit dunkel zu spüren vermag. Das Mittelalter hatte konsequenterweise und psychologisch beinahe korrekt alle diese Krankheitsäußerungen der Wirkung von Dämonen zugeschrieben. Ja, ich würde mich nicht wundern, wenn die Psychoanalyse, die sich mit der Aufdeckung dieser geheimen Kräfte beschäftigt, vielen Menschen darum selbst unheimlich geworden ist.« (Freud 1970b, 266)

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letztlich auf das »Bedürfnis nach Bekanntem« zurück. Es ist getrieben von einem Willen, »unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt« (Nietzsche, KSA, 3, 594). Nietzsche spricht sogar von einem »Instinkt der Furcht […], der uns erkennen heisst« und mutmaßt, dass »das Frohlocken des Erkennenden […] das Frohlocken des wiedererlangten Sicherheitsgefühls« (ebd.) sei. Dieses Sicherheitsgefühl geht allerdings einher mit einer Begrenzung oder Entfremdung vom eigenen Erleben. Er gleicht eher einer Knebelung als einer wirklichen Befriedung. Durch die Abgrenzung unserer Erfahrung sind wir »benebelte […] Kreaturen, Fremde für unser wahres Selbst, für einander, für die geistige und für die materielle Welt.« (Laing 1977a, 10) Dies gehört zur Grundwahrheit der menschlichen Welt: nur Es kann geordnet werden. Erst indem die Dinge aus unserem Du zu unserem Es werden, werden sie koordinierbar. Das Du kennt kein Koordinatensystem. Aber da wir hierher gelangt sind, tut es not, auch das andere auszusprechen, ohne welches dieses Stück der Grundwahrheit untaugliches Bruchstück wäre: Geordnete Welt ist nicht die Weltordnung. (Buber 1995, 30–31)

Die Koordination einer geordneten Welt hilft das Unberechenbare zumindest vordergründig berechenbar zu machen. Damit wird »das Fremde, das uns anspricht, unterderhand zu etwas […], das sich besprechen läßt« [H. i. O.] (Waldenfels 1997, 51). Der Rettungsanker Rationalität mit seinen abgehobenen Erklärungen über beängstigende Phänomene steht damit in der Gefahr, »die Unverfügbarkeit, Unzugänglichkeit und Fremdheit anderer Menschen nicht [zu] respektieren« (Krämer 2005, 13). Dies beginnt sublim bereits da, »wo wir den anderen dadurch zu verstehen suchen, dass wir ihn unserem egologischen Bewusstsein eingliedern, den anderen der in unserem Ich verwurzelten solitären Perspektive und Weltsicht anverwandeln und subordinieren.« (ebd.) 106 Die Bewältigung von Fremdheit durch den Versuch der Aneignung sei, so stellt Bernhard Waldenfels (1990, 60) fest, »charakteristisch für die abendländische Rationalität«. Ihre Strategie setzt auf die Egozentrik einerseits und auf die Logozentrik andererseits: Der Andere wird unreflektiert vor dem Hintergrund des 106 Tzvetan Todorov (2010, 17) schreibt bezüglich der Auswirkungen von Angst in Fremdheitserfahrungen: »Die Angst vor den Barbaren droht uns selbst zu Barbaren zu machen. Und das, was wir uns damit antun, ist schlimmer als das, was wir anfangs fürchteten.«

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Die Fremdheitserfahrung der »unbeteiligten« Beobachter

Eigenen beurteilt und im Rahmen des rational Verständlichen in seine Grenzen verwiesen. Beides zusammen gibt die fatale Mischung, die zum Projekt der Assimilation in Kanada führte: eine Ethnozentrik, die dem Selbstverständnis einer überlegenen Zivilisation Vorschub leistete. Selbst-verständlich hat der Erwachsene »recht gegenüber dem Kind, der Zivilisierte gegenüber dem sogenannten Primitiven, der Gesunde gegenüber dem Kranken« (ebd., 62). Rechtzuhaben und sich selbst-sicher zu sein, ist eine begehrliche Position der Überlegenheit, verbunden mit einem Gefühl der Erhabenheit, die nur dadurch zustande kommt, dass es Menschen in unterlegenen Positionen gibt, die nicht viel zu sagen haben, die man einseitig behandeln kann bzw. denen man helfen muss. Es war deutlich spürbar, dass sich bei einigen, die sich bisher nicht zu Wort gemeldet hatten, ein Unbehagen, vielleicht sogar Unwillen, breit machte. Nach einiger Zeit erst wurden auch ihre vorsichtigen Stimmen laut, als sie sich über die rationalistische Überheblichkeit, das unsensible Urteilen und die gefühlsmäßige Kälte derer beschwerten, die sich aufschwangen, für das Erlebte Erklärungen und sogar Lösungen parat zu haben. Sie spürten, dass der Mensch ein »Doppelleben« führt: ein abstraktes und ein konkretes: »In dem einen ist er allen Stürmen der Wirklichkeit und dem Einfluß der Gegenwart preisgegeben […]. In dem anderen steht er neben, wenn nicht über sich selbst […]. Aus dieser Distanz erscheint ihm für den Augenblick fremd, was ihn dort ganz besitzt und heftig bewegt: hier ist er bloßer Zuschauer und Beobachter.« (Blumenberg 1979, 58) Die Geschichte schien sich wiederholt zu haben – und das in einem Kontext, der den Monolog der Mainstream-Gesellschaft unterbrechen sollte und Raum bieten für einen gleichberechtigten Dialog, weil man davon ausging, von der Geschichte gelernt zu haben. Immerhin schienen einige dies zu spüren. Ohne viel Aufsehen zu erregen verließen sie nachdenklich die Runde. Einige von ihnen bemerkten noch, sie würden sich zurückziehen, könnten jetzt keinen weiteren Anhörungen beiwohnen. Es war beinahe so, als wollten sie das, was die Inuk preisgegeben hatte, nicht durch weitere Geschichten entehren. Sie wollten nicht, dass das, was sie erlebt hatten, verflachte zu einer sensationellen Begebenheit, zu einer Show mit kurzem Nervenkitzel. All das sollte echt sein und in dem, was es auslöste, berühren dürfen. Die Sprachlosigkeit und innere Leere angesichts der Betroffenheit von Fremdem weist darauf hin, dass alle abschließenden Antworten oder Erklärungen der Jagd nach einem Phantom gleichen. 127 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

»Dichte Beschreibung« des Falls: Aufgaben für die Selbstsorge

Alles Ausweichen, Aneignen, Auflösen, Rationalisieren kann des Fremden nicht Herr werden. Es kriecht durch alle Ritzen und durchdringt den Raum des Zwischenmenschlichen genauso wie den des Innermenschlichen. Es hilft also nicht, sich weiter an diese Strategien zu klammern – es gilt vielmehr, mit Fremdem leben zu lernen und das bedeutet, sich mit sich selbst zu befassen, sich um sich selbst zu sorgen.

3.4 Ertrag der Studie: Anknüpfungspunkte der Selbstsorge Welche Anknüpfungspunkte ergeben sich aus der Analyse der Fallstudie für die Selbstsorge? Bezogen auf die Inuk zeigt sich zunächst, wie stark Fremdes im Selbst sein kann und wie wichtig die Begegnung mit den unbewussten Schattenteilen des Selbst ist, damit diese nicht zerstörerisch wirken. Bei ihr spielen dabei vor allem verdrängte Verletzungserfahrungen und eigene sowie transgenerationell übertragene Traumata eine zentrale Rolle, die sich schmerzhaft und beinahe gewaltvoll Raum verschaffen. Aber auch die Polizisten und die Beobachter der Szene merken, dass sie sich nicht völlig im Griff haben, auch sie spüren die unheimlichen Regungen ihres Unbewussten. Selbstsorge setzt bei dem bewussten Gewahrwerden dieser Regungen an. Sie zielt auf die Begegnung und ehrliche Auseinandersetzung mit diesen unbewussten Teilen des Selbst ab. Dabei muss sie Wege der Therapie und der Heilung, des Wahrsprechens und der Versöhnung einschlagen. Ein weiterer »Faden«, der sich aus dem vielschichtigen Bündel der missglückten »Fremdsorge« ziehen lässt, besteht in der Beobachtung, dass Menschen sich schwer tun mit der eigenen Ohnmacht angesichts der Unberechenbarkeit eines unkontrollierbaren, »pathischen« Verhaltens. Selbstsorge bedeutet hier, sich einzuüben in die transformative Wirkung zwischenmenschlicher Begegnungen, die auch intrapersonal als vielschichtige Subjektvielheit, als »dialogisches Selbst«, ihren Niederschlag finden. Diese Sorge nimmt die Dialogizität des Menschen ernst, die vor allem bedeutet, die Unübersichtlichkeit des Zwischen auszuhalten und Fremdes sein zu lassen. Sie übt sich im Hören auf den anderen und auf sich selbst. Die menschliche Abhängigkeit von Kultur einerseits und die Herausforderungen sozio-kultureller Unterschiede andererseits stellen ein weiteres Thema der Selbstsorge dar. Denn in der Studie wurde 128 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Ertrag der Studie: Anknüpfungspunkte der Selbstsorge

deutlich, wie existenziell die »Tiefendimension« der Kultur als Möglichkeit der Verwurzelung des Selbst in Sinn und Bedeutung ist, damit es nicht in große Verunsicherung und psycho-soziale Not gerät. Zugleich zeigt sich aber auch, wie wichtig es ist, Pluralität und Vielstimmigkeit auszuhalten, um trotz oder gerade in der kulturellen Verwurzelung fremdheitsfähig zu sein. In diesem Zusammenhang scheint der Begriff der Selbstkultivierung angebracht, denn die Selbstsorge muss hier den schwierigen Balanceakt zwischen Selbstvergewisserung und Offenheit meistern, d. h. ein tragfähiges kulturelles Gewebe entwickeln, das einen Boden für die Begegnung mit Fremdem bereitet. Ein besonders eindrückliches Motiv der Selbstsorge offenbart sich im Körperausdruck und leibhaftigen Erleben der involvierten Personen. Gefühle von Trauer, Schmerz, Verzweiflung, Hilflosigkeit affizieren sich wechselseitig, ohne dass der Verstand diesem Hin und Her Einhalt gebieten kann. Deshalb muss die Selbstsorge auch hier ansetzen. Denn der eigene Leib gerät leicht zum störenden Fremdkörper, obwohl es sich lohnt, auf seine Botschaft zu hören, weil er Fremdes oftmals schneller und dichter »versteht«, als es unser Verstand tut. Eine letzte Spur der Fallstudie führt zur Fähigkeit des Menschen, über sich selbst und sein Leben nachzudenken, sie führt zur Philosophie als Selbstsorge. Lautstark reflektieren die schockierten Beobachter über die Gründe des leidvollen Ausbruchs der Frau, sie bewerten das Vorgehen der Polizisten oder machen sich Vorwürfe, nicht selbst eingegriffen zu haben. Beim Nachdenken über das »richtige« Handeln zeigt sich, dass Philosophie selbst befremdlich ist, denn sie stellt unbequeme Fragen, auf die es keine endgültigen Antworten gibt, sie führt in Aporien und konfrontiert einen mit dem eigenen Nichtwissen. Selbstsorge besteht also auch darin, diese Unabgeschlossenheit auszuhalten und zu ertragen, dass weder die Andersartigkeit des anderen noch die Fremdheit meiner selbst je völlig gelöst werden kann.

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4. Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

In der Folge wird diesen Wegweisern aus der Studie nachgegangen. Man könnte diesen Weg als einen Übungsweg beschreiben, der von mutigen Erkundigungen in den dunkelsten Winkeln einer Person über zwischenmenschliche und kulturelle Verflechtungen sowie Leiberfahrungen zur distanzierten Betrachtung ihrer selbst und dem philosophisch reflektierten Nachdenken über ein gelingendes Leben führt. Letzteres heißt allerdings nicht, absolute Ziele vorauszusetzen, die es als Fixpunkte zu erreichen gilt; es geht vielmehr darum, sich mit allem, was Menschsein ausmacht, wachsam in den Strom des Lebens zu werfen und sich darin immer wieder neu auszurichten. Dieses Ausrichten vollzieht sich immer auf je unterschiedliche Weise in Erfahrungsräumen zwischen Eigenem und Fremdem. Auf diesem Weg werden nicht nur verschiedene Facetten einer Beschäftigung mit sich selbst thematisiert, gleichsam unterschwellig begleitend kristallisiert sich auch ein Verständnis von Selbst oder personaler Identität heraus, das grundlegend ist für die Fremdheitsfähigkeit einer Person. Dieses wird deshalb nicht vorab im Sinne einer Definition der Untersuchung vorangestellt, es erwächst vielmehr aus deren Genese. Denn so ist mit zur Lippe zu konstatieren: »Alle Definitionen wären Veranstaltungen, um ›den Pudding an die Wand zu nageln‹ […]. Das Leben, einmal in Begriffe gefasst, muss mehr diesen Begriffen […] folgen als seiner eigenen Wirklichkeit.« (zur Lippe 2014, 11)

4.1 Fremdes im Selbst und die Begegnung mit dem Schatten Der Mensch als »dunkeles Wesen«, so sinniert Goethe, wisse »nicht woher er kommt, noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt und am wenigsten von sich selber« (in: Meyer-Drawe 2008, 25). Ganz offensichtlich ist es besonders schwierig, sich mit den dunklen Seiten 130 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Fremdes im Selbst und die Begegnung mit dem Schatten

des Ich ins Benehmen zu setzen – hier erfährt das Projekt der Selbstsorge seine größte Herausforderung. Das hat viele Gründe: Am augenscheinlichsten ist die Tatsache, dass Fremdes im Selbst schichtweg unzugänglich, verworren und ungreifbar – eben fremd – ist. Dazu kommt, dass es häufig gute, aber in der Regel nicht bewusst reflektierte oder »gewusste«, Gründe dafür gibt, dass sich Teile des Selbst bedeckt halten: Sie werden verdrängt, verleugnet, missachtet und haben so kaum die Chance, ans Licht zu kommen, sich als das bemerkbar zu machen, was sie eigentlich sind und wofür sie stehen. Die so genannte Tiefenpsychologie 107 hat es sich zur Aufgabe gemacht, in diese dunklen Regionen des Selbst vorzudringen und sie – sofern das überhaupt möglich ist – ins Bewusstsein zu heben. Trotz des Unheimlichen, das die Begegnung mit Fremdem im Selbst fest im Griff hat, möchte sie so mit ihm in Kontakt zu treten, um seinem Geheimnis auf die Schliche zu kommen. Dabei erweist sich auch die Phänomenologie als hilfreich, weil sie sich nicht scheut, auch das zu beschreiben, was sich paradoxerweise gerade dadurch zeigt, dass es sich entzieht, also nur in diesem Entzug beschreibbar ist. In der Folge soll zunächst den Spuren von Fremdem im Selbst, dem Aufmerken dessen, wie es sich im Bewusstsein zeigt, nachgegangen werden. Hier werden die Entdeckungen Sigmund Freuds im Vordergrund stehen. In einem weiteren Schritt erweist sich der Begriff der Individuation von C. G. Jung als besonders hilfreich, um das kreative Potential des Schattens für die Entwicklung der Fremdheitsfähigkeit – auch sich selbst gegenüber – nutzen zu können. Gerade wenn es um Verletzungserfahrungen und die düsteren Ahnungen einer schlimmen Geschichte geht, vermag das Verständnis von Selbstsorge als Therapie und der Heilung durch Wahrsprechen wertvolle Hinweise zu liefern.

107 Als tiefenpsychologische Vordenker gelten u. a. Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, die dem neuzeitlichen Subjekt einen schweren Schlag versetzten. Systematisiert hat die Vorstellung unbewusster Tiefenschichten der menschlichen Psyche bekanntlich Sigmund Freud mit seiner Psychoanalyse. Auch Carl Gustav Jung (Analytische Psychologie) und Alfred Adler (Individualpsychologie) gelten als Vertreter der Tiefenpsychologie. In der Folge werden vor allem Freud und Jung eine zentrale Rolle spielen. Bezugnehmend auf Michel Foucault erwähnt Patrick Hutton (1993, 144), die Psychoanalyse sei, historisch gesehen, ein später Ausläufer einer langen Abstammungslinie von Techniken der Sorge um das Selbst. Es ginge ihr darum, »die Seele zu zwingen, ein geheimes Wissen preiszugeben, das uns erkennen hilft, was wir in Wahrheit sind« (ebd.). Außerdem ginge es darum, die Fähigkeit zu stärken, Macht über unser Verhalten zu gewinnen. (ebd., 155)

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Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

4.1.1 Vom Bewusstsein und dessen Gewahrnis des Unbewussten Sigmund Freud beschreibt das Unbewusste bekanntlich als »inneres Ausland« 108. Es gleicht dem unbekannten, weißen Fleck auf einer Landkarte, der sich allerdings weder klar einkreisen noch eindeutig bestimmen lässt. Denn am ichfremdesten, unzugänglichsten Ort der Seele ist keine Landvermessung möglich. Es gibt keine festen Grenzen, auch kein Zentrum oder einen Kern, sondern nur Facetten, verschwommene Gesichter und Erlebnisweisen dieser inneren Fremdheit. Ihre vielen Erscheinungsformen ziehen an uns vorbei, sie winden sich, flimmern und entgleiten uns permanent. Jeder Mensch erlebt sie anders und im Laufe seines Lebens unterschiedlich. Sie lässt sich nicht festnageln, um dann in Ruhe ausgeforscht werden zu können. Auch wenn sich Fremdes im Selbst nicht (be-)greifen oder auflösen lässt und uns ein Leben lang begleitet, werden wir seiner dennoch gewahr. Wir können uns auf Entdeckungsreisen in unser »inneres Ausland« begeben und uns öffnen für die Begegnungen, die wir dort machen. Denn Menschsein zeichnet sich dadurch aus, dass es, um die bekannte Formulierung Helmuth Plessners (1982, 9 ff.) zu bemühen, exzentrisch positionalisiert ist. Das heißt, der Mensch kann sich selbst zum Thema werden, er kann sich von sich selbst in seiner jeweiligen Gesetztheit distanzieren und so in ein Verhältnis zu sich selbst treten. Er kann aussteigen aus seiner bloßen Erlebnisbefangenheit und sein Erleben erleben. Dabei bleibt er aber immer auch »positioniert«, d. h. verstrickt in seine Geschichte, eingebunden in seine Umwelt, verbunden mit seinem Leib. Deshalb hat das »Instrument« unserer Erkenntnis, das Bewusstsein, nie einen ungetrübten Blick. Es gibt keinen reinen Blick von »nirgendwo« (vgl. Nagel 1986), immer ist er perspektivisch situiert und erzeugt zahlreiche tote Winkel. Die Spitzen, Haken und Einschüsse von Erfahrungen der Selbstfremdheit finden sich an allen Ecken und Enden unseres bewussten Erlebens. Der reflex bewusste Teil des Bewusstseins sei ein heller Fleck, schreibt Gerd Haeffner (2000, 151), »der von verschieden intensiven Dunkelheiten umgeben ist«. 109 108 »[D]as Verdrängte ist aber für das Ich Ausland, inneres Ausland, so wie die Realität – gestatten Sie den ungewohnten Ausdruck – äußeres Ausland ist.« (Freud 1991, 60) 109 Besonders rätselhaft dabei ist, dass unser Bewusstsein kein Bewusstsein von sich selbst erlangen kann. Das hängt mit dem berühmten Leib-Seele Problem zusammen: menschliches Erleben ist nicht aus seinen materiellen Bedingungen zu erklären. (vgl.

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Es kommt nicht von ungefähr, dass das lateinische Wort für Bewusstsein, conscientia, ein Wissen meint, das Eindrücke, Zustände, Gedanken, aber auch Handlungen begleitet, es ist ein Mit-Wissen, oder sogar das Gewissen, denn vor allem bei schwierigen Entscheidungen folgt uns immer auch das Zweifeln, Fragen, Hadern. Man könnte dieses Mit-Wissen aber auch deuten als ein »Wissen« des Bewusstseins um seine Trübungen und dunklen Flecken – dabei ist dieses »Wissen« oft nicht rein rationaler Art. 110 Deshalb blieben, so Haeffner (ebd., 150), unbewusste Inhalte trotz Verdrängung eine »seelische Tatsache«. Man könne, »wenn sie in die Helle des thematischen Bewusstseins aufsteigen, sagen: Im Grunde habe ich es immer gewusst.« Anders formuliert: Das Nichtwissen, Fremdes, lässt nie ab vom Wissen, es ist immer mit dabei. Deshalb wohl können uns Dinge auch mehr oder weniger bewusst sein: »Von der völligen Erlebnisbefangenheit bis zum festgestellten Wissen um Erlebtes, bis zur heraushebenden, analysierenden Reflexion gibt es viele Übergänge.« (Neuhäusler 1963, 37) Mit-Wissen bedeutet auch, dass immer ich es bin, der oder die etwas »weiß« – ohne dass ich mir dessen ständig bewusst bin, begleite ich selbst mein gesamtes Erleben. Ich bin die Trägerin dieses Erlebens. 111 In Anbetracht der Erfahrung, dass ich mir selbst immer auch fremd bin, gerät jedoch der »Status des Subjekts als aller Erfahrung notwendig voraus liegend ins Wanken« (Weidtmann 2011, 264). Immanuel Kants bekanntes Postulat, dass das »Ich denke« all meine Vorstellungen begleiten können muss, erfährt massive Einschränkungen durch die Tatsache, dass ich meiner selbst nicht mehr voll gewiss sein kann. dazu Brüntrup 2008) Insofern bleibt uns das Bewusstsein als solches immer ein Fremdes: Es ist da, wir brauchen es, um es wahrzunehmen, wir können aber aus der prinzipiellen Unmöglichkeit, es zu begreifen, nie aussteigen, weil wir es in gewisser Weise selbst sind. Licht kann nicht selbst beleuchtet werden, so ein berühmter Vergleich, es kann bloß das im Dunkel Liegende sichtbar machen. 110 Besonders treffend und hilfreich ist hier der Begriff des »Sinnenbewusstseins« von Rudolf zur Lippe. Er stellt damit die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung heraus und meint, diese beschäftige unsere Sinne, ließe in uns Empfindungen und Gefühle entstehen und präge auf diese Weise unser Bewusstsein. Insofern sei dieses als seelische Beteiligung und nicht als »bewusste« Kontrolle zu verstehen. (vgl. zur Lippe 2000a, 17) 111 Haeffner (2000, 144) erläutert, im Gegenstandsbewusstsein sei eine Art von Selbstbewusstsein eingeschlossen, aber eben verborgen: »Es ist nicht thematisch, sondern begleitet das eigentliche Thema des Bewusstseins nur: Es ist nicht selbständige scientia, sondern nur con-scientia.«

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Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

Das Subjekt erfährt sich angesichts des Fremden selbst als ein Korrelat der eigenen Erfahrung. Es liegt der Erfahrung zugrunde, geht ihr aber doch nicht voraus, sondern wird, was es ist, selbst erst im Prozess der Erfahrung. Mit Blick auf das Phänomen des Fremden bedeutet das konkret, dass sich das Subjekt angesichts des Fremden selbst fremd wird. (Weidtmann 2011, 264)

Auch hier zeichnen sich Stufen oder Klarheitsgrade der Selbst-Bewusstheit ab, d. h. man kann sich seiner selbst mehr oder weniger bewusst sein bzw. mehr oder weniger fremd werden: Das Spektrum reicht vom selbstverlorenen Wahrnehmen von etwas bis hin zur Unfähigkeit, noch etwas wahrzunehmen, weil man nur noch mit sich selbst beschäftigt ist. Waldenfels (1997, 35 ff.) spricht bezüglich der Wahrnehmung von Fremdem von »Steigerungsgraden des Fremdseins«: Fremdes, das mir im Rahmen einer bekannten Ordnung fremd ist, beschreibt er als »normale oder alltägliche« Fremdheit. Fremdheit, die den Rahmen meiner Ordnungen sprengt, nennt er »strukturelle« Fremdheit oder »Fremdartigkeit«, und Fremdheit, die sich in keine Ordnung mehr fassen lässt, ist »radikal«. 112 Die Tiefendimension der Erfahrung mit Fremdem korreliert mit dem Grad an Fremdheit, den ich in mir selbst erlebe: Je nach dem, wie tief sie geht, hat sie die Macht, die geordnete Welt meines Bewusstseins aus den Angeln zu heben – desto fremder werde ich mir selbst. Das bewusste Erleben unseres Erlebens ist ausschlaggebend dafür, dass wir uns als Subjekte erfahren und uns und anderen dieses Erleben in Form von Geschichten erzählen, also eine biografische oder narrative Identität entwickeln und damit einen Lebenszusammenhang und ein Selbstverständnis herstellen, welche die Grundlage dafür bieten, Leben gestalten zu können, Erlebnisse in einen Strom kohärenter Zusammenhänge einordnen und ihnen einen Sinn geben zu können. 113 Dieser Lebenszusammenhang ist nicht frei von Rissen und Löchern. Die Wirklichkeit unserer geschichtlichen Existenz durchbricht immer wieder die Erzählung. Wir merken, dass nicht nur wir, als »exzentrische« Subjekte wie distanzierte Autoren die Geschichte unseres Lebens schreiben. Denn dunkle Schattengestalten 112 Man muss hier jedoch aufpassen, dass einen die Rede von »Steigerungsgraden« nicht dazu verführt, zu meinen, dabei handle es sich um drei Stufen, die typologisch klar voneinander abgrenzbar wären. Dass dies nicht der Fall ist, liegt auf der Hand. 113 Vgl. hier die Unterscheidung zwischen der idem- und der ipse-Identität von Paul Ricœur (1987), in der die Antinomie von Gleichheit und Selbstheit, vom Gleichbleiben trotz Veränderung zum Ausdruck kommt.

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Fremdes im Selbst und die Begegnung mit dem Schatten

drängen immer wieder aus unserer Mitte heraus und haben die Macht, wie verborgene Souffleure unserer Geschichte eine neue Wendung zu geben. Durch die Erzählung versuchen wir, uns selbst zu bestimmen, unser Leben unseren Vorstellungen gemäß zu gestalten, und merken zugleich, dass viele Autoren, darunter einige Ghost Writer, am Drehbuch mitgeschrieben haben. Vor allem bei Erfahrungen, die uns aus der Fassung bringen, spüren wir, wie wenig wir Herr über uns selbst sind. Dann geschieht im Extremfall, was der Inuk passierte: Das Chaos bricht aus. Ein Tohuwabohu überrollt uns, für das es nicht nur keine Interpretation, sondern auch keine Interpretationsmöglichkeit mehr gibt (vgl. Geertz 1983, 61). Oft springt dann der Körper »mit sprachlosen Äußerungen berstender Heiterkeit des Lachens oder rüttelnden Weinens [ein] und überbrückt die unbeantwortbare ›Grenzlage‹, bis ein neuer sinnhafter ›Anknüpfungspunkt‹ erscheint.« (Fischer 2000, 283) Diese irrationalen Entgleisungen, die sich hartnäckig dem Zugriff der Vernunft entziehen, zeigen sich auch im Alltag: in Fehlleistungen und Komplexen, die auch die äußerlich gesetzte, sozio-kulturelle Ordnung durcheinanderwirbeln und oft zu peinlichen Situationen führen. Weil dies so ist, muss Fremdes im Selbst so gut wie möglich in Schach gehalten werden. Verrückterweise hat es so die Macht, Menschen noch mehr in Beschlag zu nehmen: Je stärker sie versuchen, es zu kontrollieren, desto schwerer wird es beherrschbar und desto mehr erfüllt es den Raum des Bewusstseins. Dies hat wohl auch mit der paradoxen Tatsache zu tun, dass Fremdes im Selbst gerade deshalb so verstörend wirkt, weil es uns nicht unbekannt ist – ganz im Gegenteil: Uns verbindet eine lange Geschichte des Aufbegehrens und Zurückdrängens. In seiner Abhandlung Das Unheimliche zeigt Freud, dass das Unheimliche mit dem Heimlichen zusammenfällt: »Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.« (Freud 1970b, 250) Das Unheimliche war ursprünglich das »Heimelige«, das zu einem »Heimlichen« wurde. Die tiefsten, intimsten Triebwünsche des Kindes durften unter dem Joch des Anstands nicht gelebt werden, sie wurden verdrängt. Das Unheimliche ist das deformierte, maskierte, verstümmelte, entstellte Es, das ein Ich werden musste. 114 Deshalb ist es uns auf eine geheimnisvolle Weise 114 Alexander Mitscherlich (1954, 10) erläutert bezüglich des häufig missverstandenen Freud’schen Diktums »Wo Es war, soll Ich sein«: »Das Ich, also das Bewußtsein, erweitert seinen Einfluß, zuerst aber seinen Wahrnehmungsbereich in neue, bisher

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näher als das Bewusste. Das einstmals Vertraute wurde »durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet« (ebd., 263). An anderer Stelle schreibt Freud: »Das Unheimliche ist […] das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe ›un‹ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.« (ebd., 267) Dieses Unheimliche macht sich auf vielerlei Weise bemerkbar – wir spüren es vor allem durch die Angst, die es auslöst und uns dazu veranlasst, es wieder und wieder zu verdrängen, so dass es noch unheimlicher wird. Deshalb ist das Unheimliche im Selbst so hartnäckig und resistent – es hat etwas mit konkreten inneren (und äußeren) Erfahrungen zu tun, denen wir immer wieder begegnen. (vgl. ebd. 273) »Der Begriff des Fremden«, so bemerkt auch Mario Erdheim (2000, 167), »deckt sich in vielerlei Hinsicht mit dem des Unbewussten: ebenso wenig wie das Unbewusste bloß das Nichtgewußte ist, ist nämlich das Fremde nur das Unbekannte«: Freuds Begriff des Unbewußten zeichnet sich durch seine aufs Bewußtsein bezogene Dynamik aus: was unbewußt ist, tendiert zum Bewußtsein, das sich dagegen wehrt und dennoch davon geprägt wird. Fremd ist nicht einfach das, was ich nicht kenne und wovon ich nichts weiß, fremd ist vielmehr das, was mich auf eine merkwürdige Weise betrifft, obwohl ich es nicht kenne. Die Ambivalenz von Angst und Faszination prägt mein Verhalten gegenüber dem Fremden und bestimmt zugleich meine Haltung zu mir selbst. (ebd.)

Hier zeichnet sich eine ebenso paradoxe Erkenntnis wie verhängnisvolle Dynamik ab: Wenn es stimmt, dass Fremdes im Selbst eigentlich das Ureigene ist, ist das Erleben innerer Fremdbestimmung eher eine Form der Selbstbestimmung, die nicht gelebt werden darf, sich aber immer wieder aufnötigt und mehr oder weniger gewaltvoll zurückgedrängt werden muss. Wir werden uns fremd, »wenn wir nur um unsere eigene Identität besorgt sind«, schreibt Gerd Böttcher (2000, 191) in diesem Zusammenhang treffend und Waldenfels (2016, 82) bemerkt: »Ich gerate außer mir, nicht durch Zufall, durch Krankheit oder aus Schwäche, sondern indem ich bin, der ich bin.« Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass die Entfremdung des Menschen von sich selbst als der durch gesellschaftliche Konventionen nicht bewußte Bereiche der Seelentätigkeit. Es weiß auf rational-bewußte Weise um das Nicht-Rationale. Aber dieses Wissen hebt das unbewußte Erleben nicht auf! Es fällt Licht in ein Dunkel.« Es geht also nicht darum, dem Es den Garaus zu machen, sondern es besser kennenzulernen.

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angetriebene Prozess einer Überwindung ursprünglicher Begegnungen und natürlicher Regungen, im Laufe der Geschichte immer wieder angeprangert wurde und wird. 115 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Selbstentfremdung dazu führt, dass wir dem anderen seine Fremdartigkeit nicht zugestehen, weil wir Eigenes nicht leben dürfen. Je mehr wir damit beschäftigt sind, das in uns fremd gewordene Eigene zurückzudrängen, desto weniger ertragen wir es in unserer Nachbarschaft. »Die Projektion stiftet ein Verhältnis zwischen dem nicht anerkannten Eigenen und der Konstruktion des Anderen«, schreibt Joachim Küchenhoff (2015, 23–24) und bestätigt: »Je mehr ich abwehren muss, was in mir unbekannt, unbewusst ist, umso mehr muss ich abwehren, was vom Fremden mir entgegengebracht wird.« (ebd.) »[Der Fremde] ist die verborgene Seite unserer Identität«, schreibt Julia Kristeva (2013, 11) und erläutert: »Das Fremde ist in uns selbst. Und wenn wir den Fremden fliehen oder bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unbewußtes – dieses ›Uneigene‹ unseres nicht möglichen ›Eigenen‹.« (ebd., 209) Für Elke Bracht (1994, 97) ist »[d]ieses Fremde, das Andere im Menschen, […] nicht nur nichtidentischer Rest, sondern das Nichtidentische an sich«. So erkennen wir an Fremdem das, was eigentlich zum Eigenen gehört, wir dort aber nicht wahrzunehmen wagen, es wird zu einer »idealen Projektionsfläche« (vgl. Erdheim 2000, 168; 2002, 29). Weil wir den inneren Konflikt vermeiden wollen, uns deshalb konfliktträchtiger Anteile des Selbst nicht bewusst werden dürfen, machen wir den anderen zum Gegner, Feigling oder Versager. Intrapsychische Konflikte werden zu zwischenmenschlichen, sie werden abgespalten und nach außen auf andere übertragen. Das, was zwi115 Ausführlich mit dem Thema beschäftigt hat sich Jahel Jaeggi (2016) in Entfremdung. Vgl. auch Ronald Laing (1977a, 10), der zentrale Argumente wie folgt auf den Punkt bringt: »Wir sind hineingeboren in eine Welt, in der uns Entfremdung erwartet. Wir sind potentiell Menschen, aber leben in der Entfremdung, und das ist kein natürlicher Status. Entfremdung als unsere gegenwärtige Bestimmung ist nur möglich durch Gewaltanwendung von Menschen gegenüber Menschen.« Friedrich Schiller kritisierte auch unter dem Einfluss der Kulturkritik Jean-Jacques Rousseaus bereits vor Karl Marx die Entfremdungszwänge der Moderne (vgl. ästhetische Erziehung, v. a. Briefe 1–9). Freud spricht vom Unbehagen in der Kultur als Quelle des Leids durch ihre Restriktion sexueller und aggressiver Triebwünsche. Auch die Identitätskritik in der Negativen Dialektik von Theodor Adorno thematisiert die Verblendung des Menschen durch gesellschaftliche Maßstäbe, welche die prinzipielle Eigensinnigkeit und unfassbare Nicht-Identität einer machtförmigen Ideologie (Identität) unterordnet.

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Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

schen mir und dem Anderen steht, ist mein ureigenes Fremdes. Das Fremde, so Mario Erdheim (2012, 1) würde dann zur bedrohlichen Gefahr: »Als Individuum, als Familie, als Gruppe schließt man sich von den anderen ab und traut nur dem eigenen.« Noch etwas drastischer erklärt Arno Gruen (2014, 10–11): Wenn wir verstehen wollen, warum Menschen andere Menschen quälen und demütigen, müssen wir uns zuerst mit dem beschäftigen, was wir in uns selbst verabscheuen. Denn der Feind, den wir in anderen zu sehen glauben, muß ursprünglich in unserem eigenen Inneren zu finden sein. Diesen Teil von uns wollen wir zum Schweigen bringen, indem wir den Fremden, der uns daran erinnert, weil er uns ähnelt, vernichten. Nur so können wir fernhalten, was uns in uns selbst fremd geworden ist. 116

Auf der Flucht vor den erschreckenden Regungen des Es läuft das Ich in die Arme eines mächtigen Über-Ichs, das dieses als strenges Ichideal gefangen nimmt und nicht so leicht wieder entkommen lässt – es reißt das Bewusstsein an sich und »wütet gegen das Ich oft in grausamer Weise«, schreibt Sigmund Freud (2013a, 55). 117 So verheddert sich das Ich zwischen Natur und Kultur: Es flieht aus den Fängen der Natur, ohne ihr völlig zu entkommen, denn es bleibt stets getrieben durch Leidenschaften und Triebwünsche der »eigentlichen Lebensabsicht« (Freud 1970a, 11). Zugleich ist der Mensch als instinktreduziertes Mängelwesen auf Kultur als Orientierungssystem angewiesen. (vgl. Geertz 1973) Hier verfängt er sich in den Netzen zahlreicher Ordnungen und Institutionen, in Konventionen und Tra116 Autoren unterschiedlichster Disziplinen stellen wie Gruen (2014, 10) fest: »Fremdenhaß hat auch immer etwas mit Selbsthaß zu tun.« Vgl. z. B. Arvid Erlenmeyer (1991, 128): »Im alltäglichen Fremdenhaß, der in unserem Land zu beobachten ist, kommt es zu einer Reinszenierung des kollektiv Verdrängten.« Oder Birgit Rommelspacher (1995, 144): »In der Begegnung mit Fremden begegnet uns nicht nur die eigene Selbstzerrissenheit und individuelle Borniertheit, sondern eben auch die reale Geschichte von Eroberung, von Rassismus und Antisemitismus, die sich in unser Denken und Fühlen eingeschrieben hat.« Oder Elke Bracht (1994, 97): »In unserem Umgang mit dem Fremden wird das nichtakzeptierte Fremde im eigenen Selbst nach außen projiziert. Manifester Haß entsteht so aus verdrängtem Selbsthaß.« 117 In Totem und Tabu führt Freud (2012b) aus, wie nach dem von Leidenschaften getriebene Mord des Urvaters die Söhne selbst dessen Inzestverbot übernahmen: Sie erklärten den Vater zum Totem und belegten sich mit dem Inzesttabu. Dabei zeichnet sich der Weg von Natur zur Kultur ab, denn nun mussten sich die jungen Männer mit »Fremden« anderer Stämme »befreunden« und dort ihre Sexualpartnerinnen finden. Dies stellt sich jedoch, wie Freud (1970a) in Das Unbehagen in der Kultur herausstellt, als Herausforderung dar, denn der natürliche Aggressionstrieb stiftete eine innere Feindseligkeit, die überwunden werden musste.

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ditionen, die das Leben einschränken und in seine Grenzen verweisen. Dazu gehört auch, dass Menschen sich einrichten in Gewohnheiten und Bequemlichkeiten, die ihren Alltag zu bestimmen drohen. Deshalb bereitet die Kultur »Unbehagen« (vgl. Freud 1970a) – restriktiv soll sie die Natur im Menschen beherrschen und menschliche Beziehungen gesellschaftskonform regeln. Der Blick des Bewusstseins wird so von beiden Seiten getrübt, es ist hin und her gerissen zwischen Natur und Kultur und steht in der Gefahr, sich an die eine oder andere Seite zu verlieren. Dennoch leben Menschen weder in die eine noch in die andere Richtung nur »zentrisch« – sie können in ihrer jeweiligen Situiertheit über ihr Erleben reflektieren und sich dazu verhalten. Sie können Träume, Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen, über ihr Gewordensein nachdenken und darin Verletzungen und Verhaltensmuster erkennen. Menschen sind in der Lage, sich in ihrem intentionalen Erleben über ihre »natürlichen Seinssetzungen« und Fremdheitserfahrungen Gedanken zu machen – und über die Grenzen ihrer Möglichkeit, diese begreifen zu können – eine Fähigkeit, die Husserl (2012, 34 ff.) »transzendentale Reflexion« nennt. Mit ihrem reflexiven (Selbst-)Bewusstsein haben Menschen die Möglichkeit (nach Kant die Pflicht), in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt nicht nur Reiz-Reaktions-Mechanismen fremdbestimmt zu folgen (seien sie natürlich oder kulturell bedingt), sondern vernunftgeleitet, selbst-bewusst zu antworten. Eine der zentralen Aussagen, die sich durch das Werk Viktor Frankls (1975, 2005) zieht, besagt, dass zwischen Reiz und Reaktion ein Raum liege, in welchem Menschen die Möglichkeit hätten, eine Reaktion zu wählen. Diese Reaktionsmöglichkeit – oder vielleicht besser »Antwortmöglichkeit« – sei die letzte Freiheit, die einem selbst unter den widrigsten Umständen keiner nehmen könne. Dieser Raum liegt – so muss man Frankl einschränkend entgegnen – jedoch nicht einfach so offen vor uns; er steht uns nicht ohne weiteres zur Verfügung, sondern muss vielmehr in mühevollen Übungswegen immer wieder neu aufgesucht werden. Er ist der Ort der Selbstsorge, wo wir auch unangenehme Tabuzonen betreten und unserer eigenartigen Fremdartigkeit begegnen müssen. Dazu gehört vor allem Mut. »Man muss unnachgiebig genau und offen für eigenes Tun werden«, schreibt Alexander Mitscherlich (1954, 8) – und dies sei eine Kunst, »die nicht ohne Mut gekonnt wird«. Sich auf eine Erkundungstour in die dunkle Höhle des eigenen Unbewussten zu begeben, 139 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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kann nämlich kein vornehmlich rationaler Akt sein, der logischen Gesetzen folgt. Er beinhaltet vielmehr, dass man sich ganz sich selbst aussetzt und dann womöglich nicht mehr alles im Griff hat. 118 Nur so sind Vorstöße in unbekannte Regionen möglich, nur so lässt sich der »helle Fleck« des Bewusstseins vergrößern, sodass wir uns selbst »bewusster« werden. (vgl. Haeffner 2000, 151) Gernot Böhme (2005) zeigt anhand der Kant’schen Vorstellung von Selbstkultivierung, wie stark die europäische Tradition und damit das europäische Selbstverständnis geprägt ist vom aufklärerischen Projekt der Erziehung des Menschen zum Menschen. 119 Als animal rationabile, als ein mit Vernunftheit begabtes Tier, sollen alle Menschen lernen, vernünftig zu handeln, und damit ihrer besonderen Bestimmung als Mensch nachkommen. Es gilt, sich zu disziplinieren, d. h. alles »Animalische« in sich zurückzudrängen, sich zu zivilisieren, was wiederum heißt, sich sittlich in eine Gesellschaft zu fügen und sich moralisch dem allgemeinen Vernunftgesetz zu unterwerfen. »Das Subjekt, das dabei herauskam«, so Böhme (ebd., 15), »erwies sich als höchst labil, weil es beständig von dem bedrängt wird, was es an sich nicht zulassen sollte: Phantasie, leibliche Regungen, Anmutungen.« Der Naturmensch, das Wilde und Unzivilisierte, durfte nicht sein – weder intrapersonal noch im Raum des sozialen Miteinanders. Nach wie vor sitzt der Zwang zur so verstandenen Selbstkultivierung tief. Er ist dicht verwoben in unser soziokulturelles Bedeutungsgewebe und verstrickt unser Selbstbewusstsein von Anfang an in eine Wirklichkeit, in der Fremdes immer nur bedrohlich wirken kann. Böhme plädiert daher für eine Wiederaneignung der Natur im Menschen, die er als »Leibsein-Können« bezeichnet, für eine Rehabilitierung der Subjektivität 118 Die Rede vom »sich Sich-Aussetzen« betont absichtlich in besonderer Weise das selbstbezügliche »sich«. Denn es weist auf die Beziehung zur eigenen Lebensführung hin (vgl. Meyer-Drawe 2008, 32). Auch darin zeigt sich das exzentrische Moment menschlicher Existenz. Diese exzentrische Beziehung zu sich selbst kann aber nicht rein rationaler Natur sein, sondern beinhaltet auch, dass wir über Emotionen Kontakt zu unseren Emotionen aufnehmen oder über den Körper Kontakt zum Körper. Denn: »›Ich bin, aber ich habe mich nicht‹ […] Stets kommt mein Erkennen zu spät, weil mein Sein bereits am Werk ist.« (ebd., 25) 119 Vgl. Elberfeld (2013, 32), der auch darauf hinweist, dass bei Kant das Wort Kultur »den Vollzug der Kultivierung am Menschen im Hinblick auf die verschiedenen Ebenen [Vernunft, Willen, Gefühl, Tugend, Geschmack, Talent, Geschicklichkeit], die der Kultivierung zugänglich sind« meint. Der Kant’sche Begriff der Kultur, so fährt er fort, sei weitgehend gleichbedeutend mit Bildung und als solche eine lebenslange Aufgabe.

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und eine »Ethik des Pathischen« (vgl. ebd., 15–16). Dies bedürfe eines souveränen Menschen, der sich auszeichnet durch »die Einübung in Widerstand, […] die Kraft zur Zivilcourage, den Mut zur Abweichung« (ebd., 16). Es ist nicht weiter verwunderlich, dass er seinen Aufsatz mit Freud beendet, der seiner Meinung nach diesen souveränen Menschen »durch die Forderung charakterisiert hat: Lieben können, Arbeiten können, Frustrationen hinnehmen können« (ebd.). In gewissem Sinne könnte man sagen, dass Freud eine zweite Welle der Aufklärung zurück zu einem ganzheitlich-freieren Verständnis des Menschen einleitete. Denn er zerstörte das Ideal des autonomen Vernunftmenschen und rehabilitierte den primitiven Animismus. Animismus heißt, dass wir manchmal gut daran täten, es der Inuk gleich zu tun und uns dem zu stellen, was wir als »pathisch« in uns erleben. Böhme kommt zu einem ähnlichen Schluss, wenn er meint, dass Freuds Denken »Aufklärung eines neuen Typs« sei (Böhme 2012, 170): »Sie verabschiedet die neuzeitliche Fortschrittsgläubigkeit, die Identifizierung von Vernunft und Wirklichkeit und die Irrationalisierung des Anderen.« (ebd.) Eine Selbstsorge, die nicht nur mutig, sondern vielleicht sogar neugierig-offen und positiv-erwartungsvoll der eigenen Fremdheit begegnen möchte, wagt es, in »Freud’schen Fehlleistungen« nicht das Fehlen vernünftiger Contenance oder einen Fehler zu sehen, sondern vielmehr eine eigentümliche Leistung des Unbewussten, auf tiefere Wahrheiten hinzuweisen, die nur hinsichtlich des sozialen Rahmens fehl am Platze sind und nicht hätten ausgesprochen oder angezeigt werden sollen. Dies bedeutet, dass man »sein ›vernünftiges Weltbild‹, an dem [man] sich jahraus, jahrein zur orientieren gewöhnt war, dispensieren muss.« (Mitscherlich 1954, 8) »Der Spuk der Unvernunft«, so Mitscherlich (ebd.), »die als närrische – oft als makabere – Wahrheit angenommen werden will, enthüllt […] einen Überfluß von Vernunft«. Denn die vom Bewusstsein her gesehen ungewollte Handlung »offenbart, in einem bewußtseinsfernen Zusammenhang der Seelentätigkeit erspürt, den Charakter besonderer Dringlichkeit der Mitteilung« (ebd.). Anstatt also einen peinlichen Ausrutscher als Anlass zu nehmen, sich in Grund und Boden zu schämen, womöglich sich selbst an den Pranger zu stellen oder die unangenehme Begebenheit möglichst bald zu vergessen, sollte man sich dem aufmüpfigen Teil des Selbst, der sich ungefragt Raum verschafft hat, nähern und ihn nach der Bedeutung seiner Mitteilung fragen. Denn: »das Dunkel verbirgt kein Chaos sondern eine unerbitterliche 141 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Ordnung.« (ebd., 10) Je mehr man die Intention fremder Anteile versteht (hier gerade nicht nur rational gemeint), desto weniger bedrohlich sind sie. Im Englischen gibt es den passenden Slogan für diesen Gedanken zur Selbstsorge: »Don’t be furious, be curious!« Die Auseinandersetzung mit Dimensionen des Unbewussten vollzieht sich in erster Linie emotional und leibhaftig: Diffuse Selbstgespräche, das Verdrängen von mit Angst und Scham besetzten Teilen, die Wortmeldungen des »inneren Kritikers« 120 bewegen uns gefühlsmäßig und spiegeln sich zwangsläufig in entsprechenden Körperhaltungen wider. Diese Tatsache macht es schwer, darüber zu sprechen oder zu schreiben. Es dennoch zu tun – und natürlich auch tun zu müssen – reduziert nicht nur die Wirklichkeit, es kann zudem leicht zu einem Verständnis von Selbstsorge führen, das die Ebenen des Nicht-Sprachlichen, Irrationalen ausblendet und damit den größten Teil des Selbst unberührt lässt. Dazu kommt, dass wir gerade dort, wo Unheimliches waltet, versuchen, es durch Begriffe zu bannen. Selbstsorge bedeutet daher nicht, das Fremde im Selbst als solches zu erklären. Dies käme Versuchen einer Selbsterkenntnis gleich, die heute in diversen Persönlichkeitstests ihre äußerst problematische Konkretion finden. Der Selbstsorge geht es darum, ein sinnlich-feinfühliges und leibliches Bewusstsein für befremdliche Regungen zu entwickeln; zu beschreiben, wie und unter welchen Umständen sie sich zeigen und der Bedeutung nachzuspüren, die darin liegen könnte. Denn wir können nur die Wirkungen oder Äußerungen von Fremdem im Selbst beschreiben, nie das Fremde an sich. Das Unbewusste spricht eine andere Sprache als das Bewusstsein. »Halte dich nicht für einen Selbstgesprächspartner, der dir ausreichend bekannt ist«, rät Mitscherlich (ebd., 7). Es gilt, sich immer wieder auf diese (Fremd-) Sprache einzulassen und sie unermüdlich zu üben – nur dann können

120 Dass viele Menschen eine Art »inneren Kritiker« erleben und beschreiben, der den eigenen Selbstwert in Frage stellt, zeigen zahlreiche populärwissenschaftliche Veröffentlichungen, wie z. B. Hermann! Vom klugen Umgang mit dem inneren Kritiker (Tom Diesbrock), Rote Karte für den inneren Kritiker (Jochen Peichl), Den inneren Kritiker zähmen (Angelika Rohwetter) oder Taming your Gremlin (Rick Carson). Natürlich drückt sich hierin vor allem der Versuch aus, ein diffuses Gewahrnis, das bedrohlich wirkt und das Selbst zuweilen auch massiv zu erschüttern vermag, ein Stück weit zu verniedlichen, es klar konturiert oder konterkariert greifbar zu machen und ihm damit seinen Schrecken zu nehmen. Diese heuristischen Methoden mögen durchaus hilfreich sein – wenn dabei deutlich gemacht wird, dass es sich dabei nicht um die »wirkliche Wirklichkeit« handelt.

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wir sie uns nach und nach aneignen und Zugang zu den produktiven Seelenkräften des Es erhalten. Es kommt nicht von ungefähr, dass Michel Foucault (2007, 282) im Zusammenhang der Selbstsorge von der »Suche nach einer Ästhetik der Existenz« spricht. In der künstlerischen Darstellung, in der Dichtung und Musik, im Tanz, im emotionalen Ausdruck, im Traum und spirituellen Erleben – also gerade dann, wenn die Rationalität ins zweite Glied des Bewusstseins rückt 121 – zeigt sich eine Seite des Menschen, die als Lebenskunst beschrieben werden kann. Die Vorstellung einer Selbstsorge, die der Ästhetisierung des Lebens dient, durchzieht die griechische und römische Antike, und zwar in Philosophie und Kunst sowie in Körperlichkeit und Erotik. Friedrich Schiller zeigt in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen wie wichtig die Schönheit, das Kunsterlebnis und die Sinnlichkeit sind, um Fremdartiges, Animalisches und Leidenschaftliches im Menschen nicht abzuspalten und zu verdrängen, sondern es vielmehr spielerisch mit dem Rationalen zu verbinden. 122 Zugleich bemängelt er den »nachhaltigen Einfluß einer überwiegenden Rationalität auf unsre Erkenntnis und auf unser Betragen« (Schiller 2000, 52, Fußnote). Denn in ihr sind wir festgelegt bzw. legen wir uns selbst fest. Alle Mannigfaltigkeit der Welt und der Möglichkeiten, mehr von sich selbst kennenzulernen, geht verloren – nur das zählt, was sein soll und sein darf. Das »voreilige Streben nach Harmonie […], die gewaltige Usurpation der Denkkraft in einem Gebiete, wo sie nicht unbedingt zu gebieten hat, ist der Grund der Unfruchtbarkeit.« (ebd.) Bezüglich der Begegnung mit Anderen schreibt er: 121 Die Methoden der Psychoanalyse zielen ja gerade darauf ab, die Kontrolle des Verstandes zu umgehen, um Zugang zu finden zu unbewussten Phänomenen, die sonst dem Bewusstsein verschlossen blieben. Ein Künstler auf diesem Gebiet war der Hypnotherapeut Milton Erickson. Er vermochte es, allein durch seine Stimme, durch Sinnlichkeit, Erzählungen, Sprachbilder, Wortspiele und Humor seine Patienten in einen gelösten Zustand der hypnotischen Trance zu versetzen, um so das kreative Potential des Unbewussten nutzen zu können. 122 Christoph Horn (1998, 11) erläutert, Schillers ästhetische Vorstellung von Persönlichkeitsentfaltung stehe historisch gesehen zwischen der Auffassung, »die sittliche Vervollkommnung des Menschen sei eine Aufgabe der Religion, und der späteren, bis heute vorherrschenden Vorstellung, für die Korrektur einseitiger, pathologischer oder krisenhafter Persönlichkeitsanteile seien Medizin, Psychologie und Pädagogik zuständig«. Diesen drei Modellen, dem religiösen, dem ästhetischen und dem psychologischen, sei noch ein viertes vorangegangen: die philosophische Lebenskunst der Antike, auf die sich Foucault hauptsächlich bezieht.

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Wie können wir, bei noch so lobenswürdigen Maximen, billig, gütig und menschlich gegen andere sein, wenn uns das Vermögen fehlt, fremde Natur treu und wahr in uns aufzunehmen, fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den unsrigen zu machen? Dieses Vermögen aber wird sowohl in der Erziehung, die wir empfangen, als in der, die wir selbst uns geben, in demselben Maße unterdrückt, als man die Macht der Begierden zu brechen und den Charakter durch Grundsätze zu befestigen sucht. [H. B. S.] (ebd.) 123

Deutlich stellt Schiller heraus, wie im neuzeitlichen Denken das physische Dasein des Menschen in den Hintergrund trat, getrennt wurde von seiner vernünftiger Natur, um »die Form von dem Inhalt zu befreien«. Man hatte sich angewöhnt, »das Materielle sich bloß als Hindernis zu denken und die Sinnlichkeit, weil sie gerade bey diesem Geschäfte im Wege steht, in einen nothwendigen Widerspruch mit der Vernunft vorzustellen« [H. i. O.] (ebd., 52, Fußnote). Selbstsorge besteht für ihn deshalb darin, »die Einheit der menschlichen Natur wieder her[zu]stellen« (ebd., 50). Sein Vorschlag zur Versöhnung der trennenden Gegensätze »beruht auf der Idee einer ästhetisch-moralischen Persönlichkeitsbildung: Die Kunst soll das Geistige mit dem Sinnlichen zu einer Synthese verknüpfen« (Horn 1998, 11). Dazu gehört es, sich dem auszusetzen, was man an »Kraft und Tiefe« in sich erlebt und der Vernunft möglichst viel Freiheit für dieses Erleben zu geben. Die Kultivierung des Selbst besteht darin: [E]rstlich: dem empfangenden Vermögen die vielfältigsten Berührungen mit der Welt zu verschaffen und auf Seiten des Gefühls die Passivität aufs höchste zu treiben: zweytens: dem bestimmenden Vermögen die höchste Unabhängigkeit von dem empfangenden zu erwerben und auf Seiten der Vernunft die Aktivität aufs höchste zu treiben. [H. i. O.] (Schiller 2000, 52)

Die beiden entgegengesetzten Triebe des Menschen, der Stofftrieb (die Sinnlichkeit, Natur) und der Formtrieb (die Persönlichkeit des Menschen, Vernunft) bedingen und begrenzen sich wechselseitig: Der Mensch »soll empfinden, weil er sich bewußt ist, und soll sich bewußt seyn, weil er empfindet« (ebd., 56). Diese beiden Momente 123 Ganz ähnlich bringt dies Rolf Elberfeld (2013, 30) auf den Punkt, wenn er fragt: »Was hilft uns die beste und komplexeste Begründung der Ethik, wenn diese keine Wirksamkeit im menschlichen Handeln entfalten kann?« Hier sieht er die Möglichkeit, den stiefmütterlich behandelten pragmatischen Teil des Denkens bei Kant durch buddhistische Meditations- und Denkübungen zu bereichern. Denn »Kant weist zwar auf verschiedene Ebenen der Kultivierung hin, gibt aber so gut wie keine Anweisung, wie diese geübt werden können« (ebd., 29).

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wirken zusammen in einer doppelten Erfahrung, in welcher sich der Mensch »zugleich als Materie fühlte und als Geist kennenlernte« (ebd.). In diesem Wechselverhältnis entsteht und zeigt sich der Spieltrieb. Den Gegenstand des Spieltriebs bestimmt Schiller als »lebende Gestalt«, denn er verbindet das Leben als Gegenstand des sinnlichen Triebs und die Gestalt als Gegenstand des Formtriebs. Das Ergebnis der Verbindung beider Triebe, d. h. des Spieltriebs, ist die Schönheit. Das so verstandene Spiel entfaltet die doppelte Natur des Menschen, der nur dort ganz Mensch ist, wo er spielt. Hier erhält die Aussage, »sich selbst aufs Spiel setzen« eine ganz neue Bedeutung: denn man muss nicht befürchten, sich dabei zu »verlieren«, vielmehr »gewinnt« man sich. Im Spiel darf sich der Mensch selbst begegnen. Durch die Schönheit, die sich hier entfaltet, wird die innere Zerrissenheit des Menschen berührt und umsorgt. Die ästhetische Erfahrung, die Neugierde und Lust auf Sinnlichkeit, werden zur Bedingung der Möglichkeit der Selbstbildung. Das Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigeren Lebenskunst, so postuliert Schiller, werde getragen von der Prämisse: »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« [H. i. O.] (ebd., 62). Es gibt vielfältige Formen und kreativ-künstlerische Methoden, diese Einsicht für die Begegnung mit Fremdem im Selbst umzusetzen. Als Beispiele seien hier genannt: das Psychodrama und das Stehgreiftheater von Jacob Levi Moreno, die Gestalttherapie von Fritz und Laura Perls (die sich u. a. stark auf Kurt Goldstein beziehen), Formen der Spiel- oder Kunsttherapie, der Poesie und des autobiografischen Schreibens (vgl. Freemans Rewriting the Self oder Foucaults Über sich selbst schreiben), des freien Tanzes oder der Musiktherapie. Auch die Hypnotherapie von Milton Erickson beinhaltet fantasievollkünstlerische Elemente, wie das Geschichtenerzählen und die Arbeit mit Metaphern. Patrick Hutton erwähnt, man könne die psychoanalytische Technik mit einer »Kunst des Erinnerns« vergleichen, die sich einer Vielzahl von Methoden bedient, die Feinsinnigkeit, Geschicklichkeit und Fantasie des Analytikers verlangen: »der freien Assoziation von Gedanken, des Erzählens von Träumen, der Analyse von Witzen und sprachlichen Fehlleistungen« (Hutton 1993, 147). Vor allem in asiatischen Traditionen spielen Meditationsübungen eine bedeutsame Rolle, die vielfach in ihrer Bedeutung für die Selbstsorge wiederentdeckt werden. Sie helfen, das Bewusstsein zu schärfen, die Wachsamkeit sich selbst gegenüber zu kultivieren. Hier ste145 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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hen häufig Formen der Selbstaufgabe im Vordergrund, d. h. die Aufgabe der Selbstkontrolle oder Selbstbestimmung durch das rationale Vermögen. Meditative Übungen sollen die Achtsamkeit und Sensibilität für innere Regungen stärken, sie öffnen erwähnten Frankl’schen Raum, durchlichten das Selbst und ermöglichen es, den eigenen Impulsen Fremdem gegenüber in größerer Freiheit zu begegnen. Denn man lernt, nicht nur auf eigene Neigungen zu reagieren, sondern Ansprüchen des Selbst – auch solchen, die tiefen seelischen Abgründen erwachsen – zu antworten. So erwähnt Jürgen Straub (2018, 194), interkulturelle Kompetenz sei »im Kern eine theoretische Bezeichnung für eine Art Entspannungsübung, durch die sich moderne Subjekte neu entdecken können, weil sie Andere und Fremde wahrzunehmen und anzunehmen in der Lage sind, weil sie sie ›an sich heranlassen‹ und sich mit ihnen unvoreingenommen auseinandersetzen können.« [H. i. O.] Alles Entdecken, alles Erkennen von Fremdem im Selbst bleibt jedoch immer vorläufig und unabgeschlossen, die völlige Ein- oder Durchsicht erhalten wir nie. Dies scheint Julia Kristeva dazu zu verleiten, Fremdes auf eine Art unerreichbare einsame Insel zu verbannen, indem sie es als etwas beschreibt, das nicht integriert, sondern akzeptiert und als Fremdes angenommen werden soll. (vgl. Kristeva 2013, 209) Sie möchte Fremdes in sich zwar »aufspüren«, unternimmt dann aber nichts weiter. Vielmehr fordert sie uns auf, mutig »uns selbst als desintegriert zu benennen« (ebd.). Fremdes bleibt dann aber fremd – es muss sogar fremd bleiben, denn: »Wenn wir unsere Fremdheit erkennen, werden wir draußen weder unter ihr leiden noch sie genießen«. Weil das Fremde in uns allen sei, so fährt sie fort, gebe es keine Fremden mehr. Dieses Fazit scheint jedoch wenig befriedigend, denn alle Beunruhigung durch Fremdes lässt sich weder in uns selbst noch in zwischenmenschlichen Begegnungen dadurch besänftigen oder ausmerzen, dass wir auf einer rational-theoretischen Ebene feststellen: Wir sind alle irgendwie Fremde. Kristevas Äußerung krankt daran, so kritisiert auch Waldenfels (1997, 29), dass sie über eine »allgemeine Ichfunktion« spräche, aber dabei nicht »ich« sagt und natürlich auch nicht »du«. Das »Aufspüren« von Fremdem im Selbst allein reicht nicht, man muss zu dem, was man vorfindet, in Beziehung und in den Dialog treten – wie immer das auch aussehen mag, ob spielerisch, künstlerisch, reflektiert oder meditativ. Zudem ist es doch gerade das »Leiden und Genießen« angesichts des Andersartigen, Neuen, Unbekannten, das das Leben auszeichnet. »Die ent146 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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scheidende Wendung, die das Fremde durchmachen kann«, so betont Mario Erdheim (2002, 28), »ist die ins Vertraute«. Das lässt natürlich das bisher vertraute Eigene nicht unberührt, denn die Begegnung mit unbewussten Momenten des Selbst verändert – und das macht Angst, denn dann kann auf einmal Vertrautes auch fremd werden. Fremdes durchzieht unser Leben, es ist aber nicht jenseits des Vertrauten, es ist anders vertraut, so wie Vertrautes immer auch fremd ist. Es besteht eine Art unterschwellige Verbindung zwischen beidem, die sich weder abschalten noch wegrationalisieren lässt. Die wechselwirkenden Dynamiken zwischen Fremdem und Bekanntem, der »fortwährende Prozess, der Fremdes in Eigenes und Eigenes in Fremdes verwandelt, schafft eine Spannung, die das Subjekt lebendig hält« (ebd., 29). Und dennoch bleibt in der Freud’schen Darstellung der Psychoanalyse der negative Aspekt des »Unheimlichen« vorherrschend. Mario Erdheim spricht dabei von »Verzerrungen« der psychoanalytischen Perspektive, weil in ihr das faszinierende Moment der Fremdheitserfahrung wegbricht. Die psychoanalytischen Zerrbilder entsprechen denen, »die im Bereich der Kultur, bzw. der Kulturtheorie auftreten: auch hier gilt das Fremde oft als etwas Negatives oder Bedrohliches, und es wird in der Regel übersehen, dass es eine wesentliche Leistung der Kultur ist, Fremdes aufzunehmen und verarbeiten zu können« (ebd., 21–22). Vor diesem Hintergrund eröffnen die Gedanken C. G. Jungs, des eigensinnigen Kronzeugen Sigmund Freuds, eine neue, weitere Sicht. Denn er weist insbesondere auf die Bedeutung der spannungsreichen Ambivalenz des Unbewussten und auf dessen kreative Kräfte für den Prozess der Selbstbildung hin.

4.1.2 Schattenbegegnung und Wege der Individuation Was bei Sigmund Freud das »innere Ausland« oder das »Unheimliche« ist, ist bei Carl Gustav Jung das Motiv des Schattens, welches im Zusammenhang mit Fremdheit metaphorisch besonders gut passt und wichtig für die Selbstsorge in ihrer Auseinandersetzung mit dem Unbewussten wird. 124 In gewissem Sinne könnte man sagen, dass das 124 Es ist interessant zu beobachten, dass im Zusammenhang der Erfahrung von Selbstfremdheit im deutschsprachigen Raum so gut wie ausschließlich auf Sigmund Freud Bezug genommen wird (anders als beispielsweise in den USA, wo Jung in aka-

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Jung’sche Verständnis des Selbst von Anfang an ausgerichtet ist auf Alterität. Denn seine »Psychologie des Paradoxen« möchte Fremdem im Selbst begegnen, es aufnehmen in die brüchige Ganzheit des Selbst, ohne dabei – und das ist wichtig – dessen Andersartigkeit einzuebnen. Gerade diese ist nämlich unerlässlich für die Entwicklung des Selbst, ein Prozess den Jung »Individuation« nennt. Jolande Jacobi (1983, 121) erläutert dazu: To be »whole« means, at the same time: to be full of contradictions. We falsify man when we try to sketch a homogeneous picture of him. The picture is true to life only when it is ambiguous and paradoxical. […] One of the most valuable insights and conclusions conveyed by the individuation process is that paradox is an essential feature of human existence and of the psyche, and that one must learn to accept it and live with it. [H. B. S.]

Jung macht deutlich, dass er mit seinem Begriff der Individuation keinen »selbstischen« Rückzug ins Eigene meint, keinen selbstbezogenen Individualismus. Ganz im Gegenteil, denn Letzteres wäre ein »absichtliches Hervorheben und Betonen der vermeintlichen Eigenart im Gegensatz zu kollektiven Rücksichten und Verpflichtungen« (Jung 1933, 92). Individuation bedeute, »eine bessere und völligere Erfüllung der kollektiven Bestimmungen des Menschen, indem genügende Berücksichtigung der Eigenart des Individuums eine bessere demischen Kreisen hoch im Kurs steht). Jung tritt maximal am Rande in Erscheinung – meine Recherche förderte nur einen Beitrag zutage, der sich explizit auf Jung stützt: Das Fremde als eigener Schatten von Valentina Veneto Scheib (1996). Dies könnte daran liegen, dass er »erst dort kreativ und eigenständig [wird], wo er die Raster der wissenschaftlichen Verlässlichkeit überschreitet« (Meier 1995, 13). Jung bricht aus der empirisch-wissenschaftlichen Welt aus, er ist Mystiker und Phantast, »rein empirisch ist [er] unberechenbar« (ebd.). Er widersetzte sich der binären Logik des abendländischen Denkens, ließ sich auf östliches Denken ein, das auch Intuition, spekulative, spirituelle und numinose Elemente einbezieht. »Das Paradox gehörte für ihn wesentlich zur Eigenart der Spezies Mensch.« (ebd., 15) Das machte ihn unbequem. Dazu kam, dass er beruflich und privat selbst mit Fremdem experimentierte – z. B. mit exzentrischen Liebschaften oder einer langen Phase des Abdriftens in eigene innere Abgründe nach seinem Bruch mit Freud. Dazu kam, dass er sich mit dem Vorwurf konfrontiert sah, faschistische und antisemitische Äußerungen gemacht zu haben (vgl. Heinz Gess, Aniela Jaffé oder Ernst Bloch, der Jung einen »psychoanalytischen Faschisten« nannte). Außerdem ist Jungs Analytische Psychologie vor allem was seine anima/animus-Beschreibungen angeht, gespickt mit männlichen Projektionen und stereotypen Geschlechterzuschreibungen. (vgl. Dorst 1995, 74 ff.) Vielleicht blieb Jung auch immer ein Stück weit im Schatten Freuds. All dies führt dazu, dass dem Jung’schen Denken ein Makel anhaftet, den sich viele Wissenschaftler wohl nicht anheften möchten.

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soziale Leistung erhoffen lässt« (ebd.). In der Folge soll argumentiert und gezeigt werden, dass Jungs Konzept der Individuation wertvolle Impulse für die Selbstsorge 125 liefert, die nötig ist, um die Fremdheitsfähigkeit einer Person – sich selbst und anderen gegenüber – zu kultivieren. Jungs Nähe zum Mystizismus, zum Außerordentlichen, zum Jenseitigen und Spekulativen macht ihn attraktiv für eine Suche nach Umgangsformen mit Fremdheit. Jung widersetzte sich dem Methodenideal der exakten Naturwissenschaften, dem Freud zeitlebens treu blieb. Deshalb witterte dieser in Jungs religiös-spirituellen, phantastischen und philosophischen Ausführungen eine »okkulte Verirrung, den Schlund und Dunst des Irrationalen« (Meier 1995, 15). Jung ließ sich aber nicht abbringen, auf seine Weise Erkundigungen über die Tiefen der menschlichen Seele einzuholen, ohne dabei der empirischen Forschung den Rücken zu kehren – er war überzeugt davon, dass Freud »die wahre Natur des Psychischen verschlossen und demzufolge die Welt in ihrer komplexen Vielgestaltigkeit letztlich unergründlich bleiben musste« (ebd.). [Jung] relativierte die Alleinherrschaft menschlicher Vernunft schon, als sich diese in Wissenschaft und Technik erst gültig zu installieren begann. Er sprach von einem Nebeneinander rationaler und irrationaler Wahrheiten und ortete die Psyche als den »allerrealsten« Ort menschlicher Erfahrung, ohne damit die aufklärerische Dimension des Intellekts zu missachten. (ebd.)

Jung würde wie Freud sagen, Fremdes im Selbst schlummert als energische und eigenwillige Kraft im Unbewussten. (vgl. Jung 1933, 12) Dieses umfasst und umhüllt das Bewusstsein, es durchdringt und beeinflusst es unablässig. Dabei ergänzt er die Freud’sche Vorstellung des persönlichen Unbewussten, welches lebensgeschichtliche Niederschläge des Individuums beinhaltet mit dem kollektiven Unbewussten, in welchem sich Sedimente originärer Reaktionsweisen, Vorstellungen und verdrängter Inhalte der Menschheit finden. 126 Er selbst Jung (1976, 51) führt aus: »Dieser Prozeß [der Individuation] entspricht eigentlich dem natürlichen Ablauf eines Lebens, in welchem das Individuum zu dem wird, was es immer schon war.« An anderer Stelle schreibt er: »Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte ›Individuation‹ darum auch als ›Verselbstung‹ oder als ›Selbstverwirklichung‹ übersetzen.« (Jung 1933, 91) 126 Häufig wird gerade die Vorstellung des kollektiven Unbewussten angeführt, um 125

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erklärt: »Für Freud ist das Unbewusste hauptsächlich ein Gefäß für verdrängte Dinge. Er betrachtete es aus dem Blickwinkel der Kinderstube. Für mich ist es ein gewaltiger historischer Lagerraum.« (Jung 1975, 135) Damit meint Jung allgemein, d. h. ohne Einschränkung auf kulturelle, ethnische oder andere Unterschiede, Empfindungen, Schlüsselreize, Muster und Zeichen, die Menschen gewissermaßen urtümlich bewegen, »Situationen wie Angst, Gefahr, Kampf gegen Übermacht, Beziehung der Geschlechter, der Kinder zu den Eltern, väterliche und mütterliche Gestalten, Haltungen zu Haß und Liebe, zu Geburt und Tod, die Macht des hellen und des dunklen Prinzips usw.« (Jacobi 1984, 20) Diese oftmals als Symbole und innere Bilder auftretenden Hinweise auf das kollektive Unbewusste nennt Jung Archetypen 127, »urtümliche Typen, d. h. seit alters vorhandene allgemeine Bilder« (Jung 1976, 12), »Kollektives in Form vererbter Kategorien« (Jung 1933, 30), die als psychoenergetische Einheiten, als Erlebniskomplexe, auftreten: Die Inhalte des persönlichen Unbewußten sind in der Hauptsache die sogenannten gefühlsbetonten Komplexe, welche die persönliche Intimität des seelischen Lebens ausmachen. Die Inhalte des kollektiven Unbewußten dagegen sind die sogenannten Archetypen. [H. i. O.] (Jung 1976, 12)

Menschen sind also mit ihrer persönlichen Geschichte eingewoben in den großen Bewusstseinsstrom der Menschheit und insbesondere geprägt von der Geschichte ihrer Eltern, Großeltern, Ahnen und Urahnen. Dies bewirkt zweierlei: Zum einen zeigt sich ein verbindendes Moment zwischen Generationen und Kulturen, die tief im kollektidie Kluft zwischen Freud und Jung hervorzuheben. Allerdings ist auch Freud eine solche kollektive Dimension alles andere als fremd, was bereits oben erwähnte »archaische Erbschaften« von einer Generation auf die nächste zeigt. Jung spricht auch von »Vererbung«, allerdings mit anderer Konnotation: »Es gibt in jedem einzelnen außer den persönlichen Reminiszenzen, die großen ›urtümlichen‹ Bilder […]: d. h. die vererbten Möglichkeiten menschlichen Vorstellens, wie es von jeher war. […] Damit meine ich keineswegs die Vererbung von Vorstellungen, sondern nur von der Möglichkeit des Vorstellens, was ein beträchtlicher Unterschied ist.« [H. i. O.] (Jung 1943, 118) 127 Die Schwierigkeit der Bestimmung dessen, was Jung mit dem Begriff des Archetyps meint, weist eindeutig Parallelen auf zur Unmöglichkeit der Bestimmung von Fremdheit. Jung selbst kam zu der Erkenntnis, dass »unser intellektuelles Urteil […] natürlich immer die Eindeutigkeit des Archetypus festzustellen [sucht]. Damit geht es am Wesentlichen vorbei, denn was vor allem als das seiner Natur Eigene festzustellen ist, das ist seine Vieldeutigkeit.« (Jung in: Jacoby 1995, 28) Der Archetypus ist unanschaulich und nur indirekt erfahrbar.

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ven Unbewussten verborgene Geheimnisse und Gemeinsamkeiten teilen. Das kollektive Unbewusste weist immer über das eigene Selbst hinaus. Zum anderen spiegelt die Fremderfahrung die Geschichte des eigenen Erlebens wider. »Was wir als fremd erfahren, sagt vor allem etwas über unsere eigene Erfahrungsgeschichte aus.« (Weidtmann 2011, 270) Geprägt und durchdrungen von tradierten Vorstellungen von Eigenem und Fremdem erscheinen »uns andere Kulturen auf eine Weise fremd […], die abhängig von der Erfahrungsgeschichte unserer eigenen Kultur ist« (ebd.). Beides vermischt sich natürlich und kann entweder förderlich sein für das Fremdverstehen oder eine trennende Wirkung haben. Die Angst vor Fremdem, böse Träume, fratzenartige Darstellungen von bösen Geistern sind Phänomene, die alle Menschen kennen und die in der Menschheitsgeschichte immer wieder aufscheinen; die spezifische Zuschreibung des Bösen, tradierte Täter-Opfer-Verhältnisse, die Bestimmung dessen, was als dysfunktional und anti-sozial gilt, ist sozio-kulturell geprägt. Häufig steht Letzteres hartnäckig der Chance im Weg, sich über Gemeinsamkeiten bezüglich des inneren Erlebens auszutauschen. 128 Ein weiterer wichtiger Unterschied zu Freud klang oben bereits an: Jung spricht dem Unbewussten eine unermessliche kompensatorische Wirkung zu, Bewusstes und Unbewusstes ergänzen sich wechselseitig. (vgl. Jung 1933, 98) Diese Wirkung nutzbar zu machen, ist jedoch alles andere als leicht, denn das bedeutete, dass man sich ehrlich und ungeschützt mit den Schattengestalten des Selbst auseinandersetzen müsste. »Jedermann weiß«, schreibt Jung (ebd., 93), »was es heißt, ›eine Amtsmiene auf[zu]setzen‹ oder ›eine gesellschaftliche Rolle [zu] spielen‹«. Er meint damit das menschliche Ansinnen, Persönlichkeitsanteile, für die man sich schämt, weil sie nicht zum vermeintlichen Idealselbst gehören, zu verbergen und sich zu bemühen, den sozialen Standards gemäß zu erscheinen. Dafür zuständig ist die Persona, eine Art Maske 129, die wir nach außen tragen – und mit der 128 Deutlich wird dies z. B. in der aktuell kontrovers geführten Debatte im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise in Europa. Menschen, die Angst vor Überfremdung haben, sprechen kaum über ihre Ängste und schimpfen dafür über das Versagen der Politik, über die Blauäugigkeit, einfach so Grenzen zu öffnen, und fordern Obergrenzen für die Aufnahme Schutzsuchender. Menschen, die Angst vor Rechtsradikalismus und Fundamentalismus haben, sprechen ebenfalls nicht über das, was sie eigentlich bewegt, sondern verteufeln PEGIDA-Anhänger oder Befürworter rechtspopulistischer Parteien. 129 C. G. Jung war (wie viele Psychoanalytiker der ersten Stunde) stark beeinflusst

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wir uns auch selbst zu zeigen versuchen, dass wir dem gesellschaftlichen Wunschbild entsprechen. »Im Grunde genommen«, so schreibt Jung (ebd., 64), »ist die Persona nichts ›Wirkliches‹. Sie ist ein Kompromiß zwischen Individuum und Sozietät über das, ›als was einer erscheint‹ […], wie eine sekundäre Wirklichkeit […], an der manchmal Andere noch vielmehr beteiligt sind als [der Betreffende]«. 130 Hinter dieser Maske verbergen wir den Schatten, »der unsere ›andere Seite‹ versinnbildlicht, unseren ›dunklen Bruder‹, der zwar unsichtbar, doch unzertrennlich zu uns […] gehört« (Jacobi 1984, 111). Die Maske schützt zwar einen Menschen davor, nicht unpässlich zu handeln und damit sich selbst und andere in ungute Situationen zu manövrieren, sie birgt aber auch die Gefahr, überangepasst die eigene Individualität zu verleugnen. Es kann sogar passieren, dass man sich selbst mit seiner Rolle verwechselt. Es gebe tatsächlich Leute, so Jung (1933, 126), »die glauben, sie seien das, was sie darstellen«. Die »Seelenlosigkeit« einer solchen Einstellung, so fährt er fort, sei eine Illusion, »denn das Unbewußte erträgt eine solche Schwergewichtsverschiebung unter keinen Umständen« (ebd.). Eine habituell gewordene Anpassung entfremdet, denn dann erstarrt die Maske, Handlungen werden mechanisch, das wahre Wesen verkümmert, ja droht sogar hinter ihr zu ersticken. Jung (ebd., 91) spricht von »Entselbstung« und »Selbstentäußerungen zu Gunsten einer äußeren Rolle oder zu Gunsten einer eingebildeten Bedeutung […]. In beiden Fällen überwiegt das Kollektive«, das Individuelle gerät ins Hintertreffen – es ist deshalb aber nicht einfach weg, sondern fristet sein Dasein im Untergrund: »Je mehr wir in der Persona leben, desto stärker wird der Schatten.« (Wickes 1953, 85) Wenn das ganze Innenleben dem Aufbau eines Personabildes geopfert wird, muß einmal die Zeit kommen, wo man sich in eine Hülse oder in einen von Friedrich Nietzsche (vgl. ausführlich dazu: Bishop 1995, Lesmeister/Metzner 2010), mit dem er sich zeitlebens auseinandersetzte, was sich auch in seinen Aussagen zur Bedeutung der Maske zeigt. Die bekannte Stelle bei Nietzsche lautet: »Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er giebt.« [H. i. O.] (Nietzsche, KSA, 5, 58) 130 Die Rede von der Persona als »Maske« geht zurück auf das antike Theater. (vgl. Wickes 1953, 70) In dieser Bedeutung wird sie von vielen Denkern aufgegriffen, um die Rollen, die Menschen im öffentlichen Leben spielen und alle Konsequenzen daraus, aufzuzeigen. Vgl. z. B. »ideal social self« bei William James, »me«/»generalized other« bei George Herbert Mead oder Erving Goffman: Wir alle spielen Theater.

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Magnet eingeschlossen wähnt, der alles von der Mitte zur Peripherie abzieht, so daß alles Innere ausgehöhlt wird und die Individualität in der Vorstellung verschwindet. Gleichgültig, ob es sich um eine Identifikation mit dem gesellschaftlichen Kollektiv außen oder mit dem kollektiven Unbewußten innen handelt, immer wird die sich so identifizierende Person sich nur als dieses ganz besondere wünschenswerte Bild erblicken, aber für den unvoreingenommenen Beobachter, der sie besser sieht, schaut hinter der Persona versteckt, ein anderes Bild hervor, das Bild des Schattens. (ebd., 83)

Vereinfacht gesagt befindet sich das Ichbewusstsein gerade in sozialen Kontexten in einem spannungsreichen Zustand zwischen der »Vorzeige-Persona« und dem naturwüchsigen Schatten, »wie zwischen Hammer und Ambos« (Jung 1933, 131). Was was ist, ist entspringt vor allem sozio-kulturellen Rahmungen (vgl. Goffmans RahmenAnalyse). Gesellschaftliche Normen und Vorstellungen unserer Eltern, z. B. von dem, was ein »liebes Mädchen« und ein »braver Junge« ist, prägen das Wunschbild von uns selbst – der Schatten entsteht gleichsam automatisch als Negativ dieses Ideals. (vgl. Jung 1943, 120, Fußnote 2) Er »hängt weitgehend mit […] der jeweiligen kollektiven Wertrichtung zusammen. Sobald wir uns nach Werten ausrichten, sind implizit auch Unwerte gesetzt.« (Jacoby 1995, 34) Fremdheit wird »durch das Heimischwerden miterzeugt«, erwähnt Waldenfels (1994, 210). Werte repräsentieren das Eigene, Unwerte das Fremde – als solche stehen sie leicht in der Gefahr, zu »Feindschemata« zu mutieren, die in Form von unbewussten Projektionen unliebsame sozialpsychologische Konsequenzen zeitigen. Die Verdrängung dessen, was oder wie wir nicht sein sollen, ist deshalb so effizient, weil daran Anerkennung, Zuneigung und Wertschätzung von den Menschen hängt, von welchen wir am meisten abhängig sind. Weil diese Anerkennung gerade als Kind so existenziell wichtig ist, fällt die Begegnung mit den Schattenanteilen des Selbst unsäglich schwer. Denn sie bedeutet, sich ins Abseits zu stellen und vielleicht auch diese Anerkennung zu verlieren. »Der Schatten ist […] ein Engpaß, ein schmales Tor, dessen peinliche Enge keinem, der in den tiefen Brunnen hinuntersteigt, erspart bleibt« (Jung 1976, 30–31). Jung spricht von einer »Mutprobe«, die viele davor zurückschrecken lässt, sich Fremdem im Selbst anzunähern: Wer in den Spiegel des Wassers [Jungs Symbol für das Unbewusste, vgl. Jung 1943, 160] blickt, sieht allerdings zunächst sein eigenes Bild. Wer zu sich selber geht, riskiert die Begegnung mit sich selbst. Der Spiegel schmeichelt nicht, er zeigt getreu, was in ihn hineinschaut, nämlich jenes Gesicht,

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das wir der Welt nie zeigen wollen, weil wir es durch die Persona, die Maske des Schauspielers, verhüllen. Der Spiegel aber liegt hinter der Maske und zeigt das wahre Gesicht. Dies ist die erste Mutprobe auf dem inneren Wege, eine Probe, die genügt, um die meisten abzuschrecken, denn die Begegnung mit sich selbst gehört zu den unangenehmeren Dingen, denen man entgeht, solange mal alles Negative auf die Umgebung projizieren kann. [H. i. O.] (ebd., 29)

Der Schatten 131 begleitet Menschen immer, insofern ist er prinzipiell archetypisch. Es gibt kein schattenloses Dasein, denn allem, was wir sind und was wir tun, haftet ein Schatten an. 132 Deshalb kann er nie neutralisiert oder ausgemerzt werden – das wäre auch weder sinnvoll noch nötig. Denn nicht der Schatten ist das Problem, sondern dessen Verdrängung. Nicht er ist böse, sondern er erlaubt uns, Böses zu tun, ohne es als solches zu erkennen. Seine Wirkung beruht auf seiner Tarnung: Wir schieben die Verantwortung auf andere ab, sie sind schuld an unserer Misere und am Leid der Welt. Wir weisen Menschen in unserem Umfeld auf die »Splitter« in ihrem Auge hin, sehen aber den »Balken« in unserem eigenen nicht. (vgl. Rohr 2012, 113 ff.) Die Verwechslung von Ursache und Wirkung kann fatale Folgen haben. Denn je mehr wir den Schatten in uns und anderen zurück-

131 Hier ist noch einmal eine sprachliche Anmerkung wichtig: Genauso wie die Rede von »dem Fremden« suggeriert, Fremdes wäre eine bestimmbare Entität mit klarer Form und Kontur, verführt auch das Bild des Schattens zu der Vorstellung, es handelte sich dabei um einen abgegrenzten Raum, den man einfach so betreten könnte – dies ist natürlich nicht der Fall. »Denn im Grunde genommen ist das Bewußtsein kein Hier und das Unbewßte kein Dort. ›Die Psyche stellt vielmehr eine bewußt-unbewußte Ganzheit dar‹, deren Berührungsgrenzen stets wechseln.« [H. i. O.] (Jacobi 1984, 42) Immer wenn hier vom Schatten die Rede ist, muss die Unergründlichkeit und Nichtbestimmbarkeit, die Unverfügbarkeit und Unabgeschlossenheit mitgedacht werden. 132 Jung unterscheidet zwischen dem eigenen und dem kollektiven Schatten – hier zeigt sich, was in der Fallstudie bereits deutlich wurde: Es gibt eine persönliche Geschichte und die einer transgenerationellen Übertragung. Letztere hinterlässt Spuren, die noch fremder und schwerer zugänglich sind als erstere: »Ist man imstande, den eigenen Schatten zu sehen und das Wissen um ihn zu ertragen, so ist erst ein kleiner Teil der Aufgabe gelöst.« (Jung 1976, 29) Der kollektive Schatten kann noch viel schwerer ausgeleuchtet werden, er bleibt immer fremd. »Es ist deshalb ein wichtiger Aspekt im Kampf gegen überwertige archetypische Ideen, sich einerseits der jeweiligen Schatteninhalte möglichst bewusst zu werden, andererseits aber auch die ständige Anwesenheit schattenhafter Anteile in allen Aktivitäten mit einzubeziehen. Irgendwo steckt immer Schatten […]. So kann Bewusstheit über den Schatten die kritische Sensibilität verfeinern und dabei helfen, die Verlockungen allzu einfach-einseitiger ›Wahrheiten‹ zu durchschauen.« (Jacoby 1995, 34)

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drängen und verachten, umso mehr Raum nimmt er in unserem Leben ein, umso schwärzer und dichter ist er. Der Schatten aber ist ein lebendiger Teil der Persönlichkeit und will darum in irgendeiner Form mitleben. Man kann ihn nicht wegbeweisen oder in Harmlosigkeit umvernünfteln. Dieses Problem ist verhältnismäßig schwierig, denn es ruft nicht nur den ganzen Menschen auf den Plan, sondern erinnert ihn zugleich an seine Hilflosigkeit und an sein Unvermögen. [H. B. S.] (ebd., 30)

Als lebhafter Teil des Selbst passiert es immer wieder, dass unbewusste Schattenanteile sich jäh ihren Weg in das Bewusstsein bahnen, als gefühlsbetonte Komplexe preschen sie mit unbezähmbarer Energie auf die innere Bühne und richten auch im sozialen Raum allerhand Schaden an. »Der Mensch kann sich eben nicht ungestraft seiner selbst zugunsten einer künstlichen Persönlichkeit entledigen«, erklärt Jung (1933, 127) Schon kleine Auslösereize genügen, um jegliche Willensintention zu brechen. Mit erstaunlich großer Autonomie schränkt der Komplex als spannungsreiche Antwort des Schattens die Freiheit des Menschen ein. »Das Individuum fällt von einem aktiv-bewußten Zustand in einen passiven, ›ergriffenen‹. Ein so aufsteigender Komplex wirkt wie ein Fremdkörper im Bewußtseinsraum.« (Jacobi 1984, 45) 133 Kurz auf den Punkt gebracht: Wir haben nicht Komplexe, Komplexe haben uns. Diese Tatsache ist zunächst nicht krankhaft, sondern normal, denn sie gehört zu unserer alltäglichen Erfahrung – sie birgt aber die Gefahr, zu größeren und kleineren Neurosen 134, also zu Formen dissoziierter Zwangshandlungen zu werden. Die Scham nach einem Ausrutscher ist natürlich groß, was dazu führt, dass der »Übeltäter« noch tiefer verborgen, noch intensiver abgewertet, verdrängt und abgespalten wird. Unsere ganze Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf ihn – aus lauter Angst, dass er uns 133 Jung (2011, 86) erwähnt sogar, »dass ein Komplex mit seiner gegebenen Spannung oder Energieladung die Tendenz hat, eine kleine eigene Persönlichkeit zu werden. Er besitzt eine Art Körper, eine gewisse eigene Physiologie. Er kann den Magen durcheinanderbringen. Er stört die Atmung, das Herz – kurz, er benimmt sich wie eine Teilpersönlichkeit. […] die beste Absicht wird durch den Komplex zunichtegemacht, genauso wie wenn man durch ein menschliches Wesen oder äußere Umstände gestört worden wäre.« 134 Eine Neurose ist eine »auf die Existenz von Komplexen zurückzuführende Dissoziation der Persönlichkeit« [H. i. O.] (Jung 2011, 181). Ihre Heilung besteht daher in der Integration und Ganzwerdung der Person – nur so arbeiten das Bewusste und das Unbewusste kompensatorisch zusammen und nicht etwa gegeneinander.

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erneut entwischen könnte. Dass dies einerseits enorme Kraft kostet und andererseits kontraproduktiv ist, nämlich in der Regel das Gegenteil bewirkt, also den Verbannten besonders stark ins Bewusstsein bringt, liegt auf der Hand. 135 Selbstsorge bei Jung bedeutet nicht, den Schatten als Quelle des Unglücks zu betrachten und entsprechend zu ignorieren oder zu bekämpfen, sondern darin, Ressourcen zu entdecken, die aufgrund zahlreicher Konzessionen an die Außenwelt nicht leben durften, was zuweilen dazu führt, wahre »Selbstopfer« zu erbringen (vgl. ebd., 126). Der Schatten sei kein lauerndes Übel, betont Frances Wickes (1953, 85), »er ist eine inferiore Persönlichkeit, die sich nicht in die allgemein gültigen kulturellen Vorstellungen einfügt«. Sehr oft wisse er aber von unseren wesentlichen Bedürfnissen mehr als die Persona. Ähnlich bemerkt auch Marie-Louise von Franz (2003, 169), der Schatten enthielte oft Werte, die dem Bewusstsein fehlten, »aber in einer Form, in der sie sich nicht ohne weiteres in den bewussten Lebensbereich einbauen lassen«. Es gilt also, sich dieses geheime Wissen immer mehr zu erschließen. Der erste Schritt dafür besteht darin, sich einzugestehen, »den Schatten in seiner destruktiven Form als einen Teil [des] Selbst und nicht als die böse Seite der anderen zu sehen« [H. B. S.] (ebd.). Dies bewirkt zweierlei: erstens das Ende der unheilvollen Projektion auf andere und zweitens die Befreiung aus der einseitigen Identifikation mit der Persona. Der zweite Schritt ist die Begegnung mit dem Schatten. Denn »[e]s genügt nicht, ganz allgemein zuzugeben, daß wir einen Schatten haben. Wir müssen sehen, welche Rolle er in speziellen Situationen spielt« (ebd.). Es gilt, seinen Wert für uns zu entdecken – und zwar nicht generell als Schatten, der uns nun einmal auf Schritt und Tritt begleitet, sondern auf die je spezifische Weise, wie er sich zeigt. Der »Wert« des Schattens zeigt sich vor allem in einer das gelungene Leben tragenden »Gegensatzspannung, die der Selbstregulierung unerläßlich ist« (Jung 1933, 131). Jungs paradoxe Psychologie zeichnet sich aus durch das Gesetz der »regulierenden Funktion der Gegensätze« (Jung 1943, 130), das er bezugnehmend auf Heraklit En-

135 In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, das unser Gehirn nicht in Negativen denken kann. Je mehr wir etwas nicht wollen, desto intensiver drängt es sich uns auf, weil es automatisch in den Vordergrund des Bewusstseins rückt (vgl. die bekannten Eisbär-Studien von Daniel Wegner (1989), in denen er nachwies, dass Menschen nicht an etwas nicht denken können).

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antiodromia nennt. 136 Er meinte damit, dass alle positiven Eigenschaften in ein negatives »Zuviel des Guten« abgleiten können, wenn sie nicht durch ihren entsprechenden polaren Gegensatz ausgeglichen werden. 137 Diese komplementären Gegensatzpaare finden sich durchgängig in der Struktur des Psychischen. Sie fallen auf, wenn eine Position in ihrer entwertenden Übertreibung extreme Züge annimmt, was vor allem dann passiert, wenn ihr positives Gegenteil verdrängt wurde. Jung (ebd., 131) spricht hier auch von einer einseitigen »Monomanie«. Der Schatten wird zu einer lebensbereichernden Fundgrube, wenn sich eine mutmaßlich schlechte Eigenschaft als das dringend benötigte Gegengewicht zu einer guten Eigenschaft entpuppt, die immer wieder über das rechte Maß hinausschießt. Denn »[s]o verschieden in Erscheinung und Vorsatz diese gegensätzlichen Mächte auch sind, im Grunde genommen bedeuten und wollen sie das Leben des Individuums; sie schwanken um dieses als der Mitte der Waage.« 138 (Jung 1933, 131) Ein Beispiel aus der Fallstudie soll das Gesagte unterstreichen und situativ verankern: Ein bei Jung häufig wiederkehrendes Gegensatzpaar ist das von Emotionalität und Rationalität (was auf die Bewusstseinsfunktionen von Denken und Fühlen zurückgeht), welches sich auch in dem Archetypenpaar Paar Anima und Animus, die weib-

136 Vgl. mehr dazu in: Jacobi 1984, 58 und Bishop 1995, 122 (hier auch nochmal Bezugnahme auf Nietzsche) 137 Interessant ist hier die Tatsache, dass Jung in einer Fußnote seines Buches Über die Psychologie des Unbewussten, dessen Erstausgabe 1916 und dessen sechste Auflage 1943 erschien, also jeweils während des Krieges, betont, er habe den Satz »So läuft die rationale Kultureinstellung notwendigerweise in ihr Gegenteil, nämlich in die irrationale Kulturverwüstung« (Jung 1943, 130) stehen gelassen – denn was das bedeute, sei offensichtlich. Man dürfe sich nicht mit der Vernunft selbst identifizieren – sonst passiere es leicht, dass alle »dem Dämon mit letzter Hingabe [helfen]« (ebd., 131, Fußnote). Kulturen, die andere dämonisieren, werden selbst zu Dämonen. Das Rationale und das Irrationale gehören zusammen, denn das eine ohne das andere läuft Gefahr, in ein Extrem abzugleiten, das katastrophale Folgen zeitigt. »Entartete« Kunst ist wichtig, damit »artige« Kunst nicht entartet. 138 Vor allem das Bild der Mitte erinnert natürlich an Aristotles’ Nikomachische Ethik und weist so auf die Normativität der Selbstkultivierung hin (Jung unterscheidet hier zwischen Moral als gesellschaftliche Setzung und Ethik als Grundprinzip der Individuation). Ein tugendhaftes Leben ist eines, das sich klug zwischen den Extremen zu entscheiden weiß und durch Übung und Gewöhnung diese Ausgeglichenheit zur charakterlichen Disposition macht. Ein solches Leben ist gesund, durchdrungen von einem »guten Geist«, von der eudaimonia, was Glückseligkeit bedeutet.

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liche und männliche Seite des Selbst, ausdrückt. 139 Wie oben ausgeführt, bringt es der Beruf des Polizisten mit sich, sachlich-kontrolliert zu sein, Disziplin und Härte (»Polizeigewalt«) zu zeigen – auch um Sicherheit und Schutz (»Schutzmann«) zu bieten. Im Laufe der Ausbildung, sicher aber bereits früher schon in Sozialisation und Erziehung, lernen die Männer, rational, kühl und forsch zu handeln – vor allem dann, wenn Not am Mann 140 ist. Dabei können sie weiche Züge oder irrationales, gefühlsbetontes Verhalten nicht gebrauchen. Wenn es sich dennoch zeigt (wie vielleicht im Zögern eines der Polizisten), wird es als Ausrutscher entschuldigt und abgewehrt. Jung (ebd., 130) bemerkt diesbezüglich, der »starke Mann« gäbe vielleicht zu, »daß er tatsächlich im ›Privatleben‹ bedenklich disziplinlos sei, aber das sei eben seine Schwäche, mit der er sich gewissermaßen solidarisch erklärt« [H. i. O.]. Sich selbst einer persönlichen Schwäche zu bezichtigen, diese vielleicht noch zu belächeln und ins Groteske zu ziehen, sei wesentlich leichter, als machtvolle, durch historische Voraussetzungen geschaffene, Ideale zu erschüttern, erklärt Jung weiter. Natürlich stehen die Polizisten der RCMP für »Zivilisation«, Autorität und Ordnung, vielleicht wissen sie auch um persönliche Schwächen; deutlich in der Situation wurde aber, dass sie mit dem emotionalen Ausbruch einer außer Rand und Band geratenen Frau nicht umgehen konnten und überreagierten. Die Tugend kühler Rationalität verfiel in gefühlskalte Kontrolle. Ein möglicher Weg der Kultivierung dieser Tugend ist jedoch nicht, sie abzulehnen und harsch in ihre Schranken zu verweisen, sondern ihre ausgleichende »Partnertugend« zu entdecken und zu entwickeln, d. h. zu erkennen, dass in der vermeintlichen Schwäche, Gefühle zu zeigen, eine bedeutsame Stärke steckt. Sonst verstrickt man sich allzu leicht in das gefährliche Spiel der Überkompensation und rutscht von einem Extrem ins andere, »[w]ie in einem ›Perpetuum mobile‹, ohne Hoffnung auf

139 Die Zuschreibung männlicher und weiblicher Attribute durch die Archetypenbildung führte einerseits zu aufgebrachter feministischer Kritik, andererseits aber auch zu bemerkenswerten Einsichten von Forschern, die gerade in der Polarität von beidem in Männern und Frauen eine Chance für die Emanzipation und ein gesünderes Geschlechterverhältnis sahen. (vgl. Dorst 1995) 140 »Es gilt dem Mann als Tugend, weibliche Züge möglichst zu verdrängen«, schreibt Jung (1933, 118). Das mag sich zwar heute im Zuge des »Gendermainstreaming« etwas geändert haben, ganz vorbei ist es aber wohl nicht mit der geschlechtsspezifischen Erziehung, denn das kollektive Unbewusste ist träge.

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Veränderung pendelt man zwischen eigenem Wert und ›Un-Wert‹ des anderen« (Scheib 1996, 22). Es ist natürlich ein Grundirrtum zu glauben, daß, wenn wir den Unwert in einem Werte einsehen oder die Unwahrheit in einer Wahrheit, dann der Wert oder die Wahrheit aufgehoben seien. Sie sind nur relativ geworden. […] Die Neigung […], alle früheren Werte zugunsten ihrer Gegenteile zu leugnen, ist ebenso übertrieben wie die frühere Einseitigkeit. Wer so handelt, wirft mit seinen Werten auch sich selbst über Bord […] Nicht um eine Konversion ins Gegenteil, sondern um eine Erhaltung der früheren Werte zusammen mit einer Anerkennung ihres Gegenteils: darum handelt es sich. [H. i. O.] (Jung 1943, 137)

Dadurch, dass die polaren Gegensätze für widersprüchliche Werte stehen, kommt es immer wieder zu inneren Konflikten und kraftraubenden Reibereien, die häufig nach außen ausgetragen werden. »[D]er Schatten stellt immer die ›andere Seite‹ des Ich dar und verkörpert meistens gerade diejenigen Eigenschaften, die man an anderen Leuten am meisten hasst.« (von Franz 2003, 172) Umgekehrt kann es auch sein, dass ein Mensch genau das in einem anderen Menschen sucht, was ihm in ihm selbst abhandenkam, um wieder »im Lot« zu sein. Dies kann zu problematischen Co-Abhängigkeiten und großer Unfreiheit für beide Seiten führen, weil ein Mensch den anderen braucht, um sich selbst ganz und ausgeglichen zu fühlen. Auch dazu ein Beispiel: Die Assimilationspolitik der kanadischen Regierung bewirkte, dass Inuit den Ureinwohner in sich in den Schatten abdrängten, und ihn infolgedessen auch in anderen, vorwiegend in ihren Großeltern und Eltern, bekämpften und sich von ihnen abwandten. Andere suchten den verlorenen Teil in starken Führungspersönlichkeiten in Jugendbanden der First Nations, mit denen sie sich identifizierten, für die sie kämpften und vor allem gegen »NonAboriginals« mit massiver Gewalt auftraten. 141 Wieder andere (über-) kompensierten und fielen in das andere Extrem, indem sie ihr Inuksein über alles stellten und all diejenigen ausgrenzten und verachteten, die versuchten, sich als Inuk in der »zivilisierten« Welt einzurichten. Die Maske der Persona zeigt sich bei diesen Menschen

141 Jugendliche Ureinwohner, die sich in »Gangs« organisieren, sind vor allem in den Großstädten der Prärie-Provinzen Kanadas (Saskatchewan und Manitoba) ein ernstzunehmendes Problem. Man spricht auch von Aboriginal-based organized crime. »The gang can be a source of both self-esteem and identity for lost youth.« (Grekul/ Laboucane-Benson 2006)

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sehr konkret und symbolhaft, beispielsweise mit entsprechend traditioneller Haartracht oder einem T-Shirt mit der Aufschrift: Proud to be Inuk. Hin- und Hergerissen zwischen der Maske »normal zivilisierter Kanadier« und »traditioneller Inuk« droht das Selbst zu ersticken und sucht in die eine oder in die andere Richtung nach Ausgleich – »[d]ie Enantiodromie ist das Auseinandergerissensein in die Gegensatzpaare« schreibt Jung (1943, 133). Sicherlich schämte sich die Inuk für ihren Kontrollverlust gerade auch deshalb, weil ihre Herkunft »Aboriginal« ist und es kann gut sein, dass einige der Zeugen ihres Ausbruchs tatsächlich ein Stück »primitiver« Herkunft darin vermuteten. 142 Die über Jahre eisern gewordene Fassade rationaler Disziplin zerbrach, weil der Schatten sich im Austausch des Sharing Circles zeigen durfte. Anstatt den Teil, der sich da mühsam ins Licht des Bewusstseins kämpfte, wieder zu verbannen, wäre es heilsam gewesen, sich fürsorglich und ernsthaft mit ihm auseinanderzusetzen. Nur so können die Symptome von Alkoholabhängigkeit und Gewalt gegen sich und andere als Hilferufe eines ewig Unterdrückten, als letztlich positive Zeichen umgedeutet werden. Dem grausamen Gesetz der Enantiodromie entrinnt nur der, der sich vom Unbewußten abzusondern weiß, nicht dadurch, daß er es verdrängt – denn sonst packt es ihn einfach von hinten –, sondern dadurch, daß er es sichtbar vor sich stellt als etwas von ihm Unterschiedenes. [H. i. O.] (Jung 1943, 132)

Es war und ist immer verletzend und schmerzhaft, wenn Teile unserer Persönlichkeit zurückgewiesen werden. Je älter wir werden, desto weniger wissen wir, wer sich hinter den Schattenanteilen eigentlich

Dies weist neben dem Wirken des persönlichen auch auf den kollektiven Schatten der Betroffenen hin, welcher gleichsam die »›Rückseite‹ des herrschenden Zeitgeistes« (Jacobi 1984, 113) versinnbildlicht. Natürlich würde keiner offen über seine Vorurteile Ureinwohnern gegenüber sprechen, das erlaubt die ehrbare Maske der Political Correctness nicht. Die Tatsache, dass Menschen indigenen Ursprungs jedoch schlechtere Anstellungschancen haben und wesentlich häufiger strafrechtlich verfolgt und verurteilt werden, als »weiße« Kanadier, deutet auf die leibhaftige Existenz einer gesellschaftlichen Schattenseite hin. Die bipolare Wirklichkeit des kollektiven Schattens zeigt sich auch in gängigen konfliktträchtigen Diskursen, wie z. B. zwischen Demokratie und Kommunismus, Christentum und Islam, Theorie und Praxis, Gesetzlichkeit und Verstehen. Immer wird dabei die eigene Seite hochgehalten und die andere als minderwertig abgetan. »Zweifellos ist die Fähigkeit zu solcher Einseitigkeit das Geheimnis gewisser Erfolge, weshalb die Zivilisation eifrigst bestrebt ist, solche Einseitigkeiten zu züchten.« (Jung 1943, 131)

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verbirgt, zu weit sind sie abgedriftet in die dunklen Regionen des Selbst. Deshalb ist es wichtig, nach ihnen zu fahnden, weil es heilende Wirkung hat, wenn sie ihre ursprüngliche Intention preisgeben dürfen. As [the ego and the shadow] form a pair of opposites which taken together constitute a »whole«, healing power is attributed to them. And indeed experience confirms that the conscious realization of the shadow, the disclosure of its qualities, and the integration of its contents always have a therapeutic effect because this is a step on the way towards man’s wholeness. [H. B. S.] (Jacobi 1983, 40)

Diese Auseinandersetzung mit der »fremden Seite des Ich« ist notwendig, um zu einem stimmigen Gesamtbild der eigenen Person zu kommen und zu einem »freiheitlichen« Umgang mit anderen. Die Entwicklung einer inneren Balance führt zu einer äußeren. Durch die Integration polarer Gegensätze in der eigenen Person gelingt es Menschen, auch dem fremden Anderen verbindend zu begegnen. Dies gilt für den persönlichen wie auch für den kollektiven Schatten. Valentino Scheib (1996, 20) führt dazu aus: Wegen der Spaltung in ein »Entweder-Oder«-Muster wird die reelle oder vermeintliche Andersartigkeit von »Fremden« polarisiert wahrgenommen und infolgedessen entweder geleugnet oder verabsolutiert. Das heißt, diese Gesellschaft reagiert auf die Herausforderungen ihrer Vielfalt mit einem Janusgesicht: Neben dem starren Bild der Assimilation steht ein ebenso starres Bild der Pluralität, im Sinne eines beziehungslosen Nebeneinander 143. Mir scheint es dringend notwendig, statt über die Integration der »Fremden« und »Ausländer« in die deutsche Gesellschaft, über die eines großen Teils der deutschen Bevölkerung mit sich zu reden.

Anstatt Energie im Kampf gegen die andere, dunkle Seite des Selbst zu verlieren, gewinnen wir sie, denn mit dem »Gewahrwerden unseres Schattens beschränken wir auch seine Macht. Wenn er angenommen […] wird, so fließt seine Energie dem Bewußtsein zu« (Wickes 1953, 91). Paradoxerweise bedeutet das allerdings auch die Erfahrung von Vereinsamung, denn man muss sich distanzieren von gesellschaftlichen Setzungen und bewussten Prinzipien, die dazu führen, dass sich diverse Schattengestalten in unserem Unbewussten ansam143 Dieses »beziehungslose Nebeneinander« wird jedem klar, der in Vancouver-Richmond spazieren geht und denkt, er sei in China. Darin drückt sich die kanadische Politik des Multikulturalismus aus, die sich mit der Metapher der Salad Bowl oder des Cultural Mosaic strikt abgrenzt vom Prinzip des Melting Pot in den USA.

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meln. Jolande Jacobi (1984, 108) spricht von der »Treue zum eigenen Gesetz«, die zu einer Distanzierung von sozialen Bezügen führen kann. Denn es kann passieren, dass man sich jetzt bewusst widersetzt, anstatt die rollenkonforme Maske eisern aufzubehalten und in ihrem Hintergrund gegen den Druck des inneren Aufbegehrens anzugehen. Das Ich müsse dann vielleicht ein Stück moralischen Hochmuts opfern, schreibt Marie-Louise von Franz (2003, 173), »und etwas ausleben, was ihm zwar dunkel erscheint, aber doch nicht ist«. Durch die bewusste Begegnung mit Fremdem im Selbst, so Jung (vgl. 1933, 129) lerne man, sein echtes Selbst von dem zu unterscheiden, als was man sich und anderen erscheint. Genau diese Unterscheidung zeichnet eine Fremdheitsfähigkeit aus, die gemeinschaftsbildende Kraft hat. Insofern kann der Individuationsprozess als zweifacher Weg der Emanzipation verstanden werden. Er beschreibt eine Entwicklung des Mündigwerdens durch die Ausdifferenzierung einerseits von kollektiven Werten und Rollenerwartungen der Gesellschaft und andererseits von undurchsichtigen Bestimmungen des Unbewussten. Aus der Fremdbestimmung des Ich, »das meist nichts mehr ist als ein bloßer Spielball der äußeren und der inneren Forderungen« (Jung 1933, 131), erwächst ein Selbst, das sich zunehmend selbstbestimmt und selbstlos Fremdem gegenüber verhalten kann. So beinhaltet der Individuationsprozess sowohl die Auseinandersetzung mit sich selbst als auch die Begegnung mit der Mitwelt. Dabei genügt es allerdings nicht, so warnt Jung (1971, 40), nur um den Begriff des Schattens (und analog dazu »des Fremden«) zu wissen und über ihn nachzudenken und fährt fort: Auch kann man durch Einfühlung oder Anempfindung [seinen] Inhalt nie erleben. Es nützt nichts, eine Liste der Archetypen [Merkmale fremder Kulturen] auswendig zu lernen. Archetypen sind Erlebniskomplexe, die schicksalmäßig eintreten, und zwar beginnt ihr Wirken in unserm persönlichsten Leben. [H. B. S.] (ebd.)

Des Weiteren erklärt er, dass Archetypen aufgrund ihrer relativen Autonomie nicht einfach rational integriert werden könnten, sondern ein dialektisches Verfahren, eine echte Auseinandersetzung verlangten. Dies gelinge als Dialogform oder als Meditation, »als inneres Zwiegespräch mit seinem guten Engel« (ebd., 52). Bloße (Selbst-)Erkenntnis sei dagegen in aller Regel ausgesprochen wirkungslos, »auch bedeutet sie keine sittliche Macht an sich«, man müsse daher auf die »sinngemäße Anwendung derselben dringen« (ebd.). Es reiche nicht, 162 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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den Schatten noch so deutlich zu sehen, betont Frances Wickes (1953, 91): »Man muß bereit sein, ihn anzunehmen, ihn zu verstehen und die Verantwortung für ihn auf sich zu nehmen.« Die Individuation zielt auf Vollständigkeit. Diese sei aber ein großes Problem und eine lebenslange Herausforderung, so Jung (2011, 112) – und fährt im Rahmen der Travistock Lecutres von 1935 fort: »darüber zu reden, ist unterhaltsam, aber es zu sein – darum geht es.« [H. B. S.] Die Rede von den Gegensatzpaaren, von der Balance, der Vollständigkeit und der Mitte soll nicht dazu verleiten, zu meinen, das Ziel wäre, in eine Art gleichförmiges, völlig identisches Leben zu driften und sich dort gemütlich einzurichten. Genau das Gegenteil ist der Fall: Fremdes und Eigenes im Selbst müssen unterscheidbar bleiben, sie müssen sich reiben, Fremdes muss seinen Stachel bewahren. Nur in dieser aufgeladenen Spannung wechselseitiger Bezogenheit gelingt überhaupt erst der Akt der Balance und damit die Selbstwerdung. One must agree with Jung when he says: »There is no light without shadow and no psychic wholeness without imperfection. To round itself out, life calls not for perfection but for completeness; and for this the »thorn in the flesh« is needed, the suffering of defects without which there is no progress and no ascent. (Jacobi 1983, 119)

Totale Einheit und Vollkommenheit ist nicht nur eine Illusion, sie anzustreben bedeutet Stagnation und Tod. Ein solches Streben ist brandgefährlich, wie die Denker der negativen Dialektik eindrücklich gegen Hegel hervorbrachten. Fremdes kann und darf nicht im Eigenen »aufgehoben«, vereinnahmt oder gar verschlungen, werden – das führt zu lebenszerstörenden Extremen. Werner Pohlmann (2000, 236) vermutet allerdings, in der Psychoanalyse gebe es eine Tendenz, die »sich gerade dieses Nichtidentischen als des Fremden in uns und im anderen zu entledigen« versucht – und zwar in Form von Beherrschung oder Kontrolle. 144 Jung macht vielleicht gerade deshalb deutlich: »Ich habe keinen Vollkommenheitswahn« und erklärt weiter: »Mein Grundsatz ist: Seid um Gottes willen nicht vollkommen, versucht aber mit allen Mitteln, vollständig zu sein – was immer das im Einzelfall bedeuten mag.« (Jung 2011, 111) 145 Wichtig in diesem Zu144 Pohlmann (2000, 236–237) bezieht sich dabei auf Freud, der eine »psychoanalytische Purifizierung« von dem Analytiker verlangt. Dieser solle laut Freud kein »annähernd normaler Mensch« mehr sein und dürfe »in sich selbst keine Widerstände dulden«. 145 An anderer Stelle betont Jung (1975, 141): »Niemand ist vollkommen […]. Nie-

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sammenhang scheint auch der warnende Hinweis von Roland Reichenbach (2000) zu sein, der sich gegen »Psychologien des ›wahren‹ Selbst« richtet und damit die Vorstellung einer besonderen »Tiefe« meint, die das Selbst nur noch um sich selbst kreisen lässt. Dies führe zu fundamentalistischen Zügen, die vor allem in pluralen Lebenswelten völlig fehl am Platze seien. Ohne sich auf Jung zu beziehen, meint der Soziologe Alois Hahn mit beinahe Jung’scher Terminologie, dass alle Definitionen von Fremdheit implizit oder explizit die Kehrseite von Identitätsbestimmungen seien. Fremdheit sei »die andere Seite des Selbst«, man selbst sei Distanz. Und dann fügt er an: »Sage mir, wen oder was du für fremd hältst und ich sage dir, wer du sein willst.« (Hahn 1997, 115) Im Sein-Wollen von etwas, das man nicht ist, im Ausgerichtetsein auf Nichtidentitsches, steckt das Potential der Selbstbildung. Diese kann nicht in der Identität ihren Ort haben, sondern in der Differenz. Meyer-Drawe (2008, 33) erklärt dazu, es gebe auch ein Übermaß an »Selbstgabe« – und zwar dann, wenn »in Vergessenheit gerät, dass wir uns selbst nicht in absoluter Evidenz gegeben sind […]. Wir verlieren dann die Distanz zu unserer eigenen Verhältnishaftigkeit und büßen die produktive Kraft unserer Versagungen ein.« Fremdheitsfähigkeit, das Verstehen des Fremdseelischen, erfordert das Bröckeln eines widerständigen, unangreifbaren, allzu kongruenten Ich. (vgl. Bittner 2000, 209) Menschen sind offene Systeme, die immer mit Fremdem konfrontiert sind, das neu die Dynamik im Inneren der Person entfacht. Der Prozess der Individuation ist nie abgeschlossen, was aber nicht heißt, dass man sich nicht besser kennenlernen könnte. »Die Überfülle der Gegenwart reduziert sich, indem wir in der Welt heimisch werden«, schreibt Waldenfels (1994, 210). Und zugleich gebe es keine Heimat »ohne einen Bodensatz an mand kann es sein. Es ist eine Illusion. Das einzige, was wir tun können, ist bescheiden danach zu streben, uns selbst zu erfüllen und möglichst vollständige menschliche Wesen zu werden, und das ist schon anstrengend genug.« Roman Lesmeister (2009, 23) spricht von der »unerhörten Idee« Jungs, wenn dieser meint, dass das Selbst eine irreduzible Ambiguität aufweise und letztlich immer gebrochen bleibe. Damit habe er sich einer Tradition widersetzt, aus der er selbst gekommen sei und den Weg bereitet, für ein Verständnis des Selbst, das passend ist für eine Zeit großer Unübersichtlichkeit: »Dass ich nicht sicher wissen kann, wer ich bin, wäre solchen Prämissen zufolge nicht einer Begrenzung des Erkenntnisvermögens geschuldet, sondern entspräche im Tiefsten der Wahrheit meines Selbst. Und dass ich nicht sicher wissen kann, wer ich bin, und trotzdem zu demjenigen werden will, der ich bin, entspräche einem von Grund auf paradoxen Projekt von Individuation, das solcher Wahrheit verbunden bleibt.« [H. i. O.]

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Unheimlichem und Unheimischem […]; denn eine heimische Welt, die alle Fremdheit abstreifen würde, wäre keine Lebenswelt mehr, sondern ein Mausoleum.« (ebd.)

4.1.3 Heilung durch Wahrsprechen und die Selbstsorge als Therapie Die Tatsache, dass unverarbeitete Verletzungserfahrungen und damit verbundene Täter-Opfer-Beziehungen tradiert, also sowohl individuell als auch kulturell weitergegeben werden, macht es dringend nötig, sich über Möglichkeiten der Selbstsorge im Sinne einer Therapie Gedanken zu machen. Die therapeutische Behandlung von Verletzungen heilt nicht nur etwas in einer Person, sondern auch zwischenmenschliche Beziehungen. Sie ist grundlegend dafür, dass sich die Spirale der Gewalt nicht weiter dreht. Die Einsicht, dass alle Menschen sowohl verletzlich als auch verletzungsmächtig sind – und unter beidem leiden – kann zudem die Basis für eine erhöhte Verletzungssensibilität schaffen. 146 Sie trägt dazu bei, über Unterschiede hinweg auf einer tieferen Ebene menschlicher Existenz wechselseitiges Verstehen zu erwirken. Dies ist allerdings gerade dann besonders schwer, wenn es um reale Verletzungsverhältnisse geht. Denn zum einen schmerzt die Berührung alter Wunden und zum anderen hat die Verletzungserfahrung zur Folge, dass die Gräben zwischen Tätern und Opfern unüberwindlich tief scheinen. Und dennoch sind beide durch die Erfahrung der Tat aneinander gebunden, sie sind – ob sie wollen oder nicht – auf Gedeih und Verderb aufeinander verwiesen. Sie werden nicht frei durch den Bruch, die Abspaltung oder die Verleugnung, sondern nur durch das Wagnis der Begegnung. Der Weg zum anderen führt über sich selbst und zugleich ist der Weg über den anderen, über die Versöhnung, ein wichtiger Schritt, um selbst heil zu werden. Die Sorge um sich, so stellt Michel Foucault (2015, 75; 2004, 131) fest, stehe der Tradition gemäß, die weit in die griechische Kultur zurückreicht, in enger Verbindung mit medizinischem Denken und

146 Jürgen Straub betont, dass die Tatsache, dass Menschen, anders als Dinge, verletzbar und in ihrer Existenz als Selbst darauf angelegt sind, nicht verletzt zu werden, die Grundprämisse einer psychologischen Anthropologie des vulnerablen Menschen ist, die das Geschichtsbewusstsein spätmoderner Migrationsgesellschaften noch viel mehr prägen sollte, als sie das tut. (vgl. Straub 2014b)

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Handeln. (vgl. auch Hadot 1991; Nussbaum 1994; Horn 1998; Waldenfels 2008) Das gemeinsame Begriffsspiel entwickle sich dabei um den Begriff des Pathos: [E]r bezeichnet ebensowohl die Leidenschaft wie die physische Krankheit, die Störung des Körpers wie die unfreiwillige Regung der Seele; und im einen wie im anderen Falle verweist er auf einen Zustand von Passivität, der für den Körper die Form einer Störung im Gleichgewicht seiner Säfte oder Qualitäten und für die Seele diejenige einer Bewegung, die Überhand über sie zu gewinnen vermag, annimmt. (ebd.)

Das Pathos bricht ein, es überfällt einen, wirft einen aus den gewohnten Bahnen. Es kommt ungefragt und plötzlich, man kann sich in dem Moment nicht wehren, nicht weglaufen oder wegsehen, man fühlt sich ausgeliefert und kann oft erst hinterher mit etwas Abstand überlegen, was passiert ist. Gänzlich distanzieren vom Einbruch des Pathischen kann man sich allerdings nie, denn es gräbt sich ins Bewusstsein und verändert den Blick; es lässt auch nach dem überfallartigen Geschehen nicht ab vom Erleben und Denken über das, was vorfiel. Der Begriff des Pathos spielt auch in der Phänomenologie des Fremden bei Bernhard Waldenfels eine zentrale Rolle. Er versteht darunter die »Urtatsache, daß uns etwas zustößt, zufällt, auffällt oder einfällt, daß uns etwas trifft, glückt und auch verletzt« (Waldenfels 2015a, 20). »Pathos bedeutet, daß wir von etwas getroffen sind, und zwar derart, daß dieses Wovon weder in einem vorgängigen Was fundiert, noch in einem nachträglich erzielten Wozu aufgehoben ist.« [H. i. O.] (Waldenfels 2016, 43) Natürlich ist Waldenfels zuzustimmen, dass sich der Moment pathischer Ergriffenheit weder durch einfache kausale Zusammenhänge noch durch den Versuch, im Nachhinein zu verstehen, restlos erklären lässt, denn hier überqueren wir unversehens eine Fremdheitsschwelle. Man sollte daraus jedoch nicht den Schluss ziehen, das Widerfahrnis sei eine Art Erscheinung aus dem Nichts und etwas prinzipiell Unzugängliches. Denn sonst wäre beispielsweise der Pathologie als Wissenschaft der Herkunft und Entstehungsweise von abnormen Auffälligkeiten und deren psycho-somatischen Auswirkungen von vorneherein der Boden entzogen. Die Tatsache, dass man nie alles verstehen und erklären kann, heißt noch lange nicht, dass man nicht versuchen könnte oder sollte, die Erlebnisgründe dessen, was einem da widerfährt, zu beleuchten. Genau das ist auch der tiefere Sinn des antiken Verständnisses von Philosophie als Therapie. »[Sie] bietet dem Menschen reflexive Möglichkeiten, 166 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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um die Schwierigkeiten im Umgang mit sich selbst, den anderen Menschen und der Welt zu beleuchten und zu reflektieren, so dass aus diesen Reflexionen Mittel und Wege entstehen können, anstehende Probleme, Schwierigkeiten und Widersprüche, die durch die metaphorische Verwendung von therapeia als ›Krankheiten‹ gesehen werden, zu lindern oder gar zu heilen« (Elberfeld 2017, 396) 147. Das Aufdecken der Genese, der vornehmlich rationale Versuch, das Wovon oder das Wozu zu klären, reicht jedoch gerade bei tiefen Verletzungserfahrungen oder transgenerationellen Traumata nicht aus, um wieder heil zu werden (ganz im Gegenteil sollte man sich davor hüten, durch das wiederholte Aufrollen der Verletzungsgeschichte Menschen zu re-traumatisieren oder Auffälligkeiten zu pathologisieren). Denn unassimilierte Introjekts (vgl. Hirsch 1995, 2000, s. o.) lassen sich als unwägbare Fremdkörper im Selbst nicht einfach durch eine Erklärung zu ihrer Entstehung unschädlich machen. Es gilt vielmehr, mit ihnen leben zu lernen. Oft erschließt sich erst in der direkten, offenen Auseinandersetzung mit dem, was uns als Pathos zustößt, dessen Sinn. Dieser Sinn liegt gleichsam zwischen dem Widerfahrnis und der Antwort, die eine Person darauf findet. Waldenfels betont, das Pathos sei nie ohne Response auf das, was uns widerfährt, zu denken. Pathos und Response präsentieren sich als Doppelereignis, wobei die Antwort unvermeidlich immer erst nachträglich, unvorbereitet und gewissermaßen zu spät auf den fremden Appell folgt. (vgl. Waldenfels 2015a, 20; 2016, 48 ff.) Das ist insofern wichtig, als Verletzungserfahrungen Spuren hinterlassen, die eine Antwort verlangen, der wir nie ausweichen können. Die Waldenfels’sche Response ist jedoch differenziert und vor allem je nach konkretem Fall zu betrachten. Denn es gibt, gerade wenn es um Heilungsprozesse geht, einen wichtigen Unterschied zwischen einer bloßen Reaktion, die einem instinkthaften Reflex auf einen Reiz entspringt und häufig in Kampf, Flucht oder Schockstarre mündet 148, oder einer Antwort, die, ohne jemals voll umfänglich auf das Pathos Vgl. in diesem Zusammenhang Martha Nussbaums (1994) The Therapy of Desire, insbesondere das Kapitel Therapeutic Arguments (ebd., 13 ff.). Bezugnehmend auf die hellenistische Tradition schreibt sie: »Philosophy heals human diseases, diseases produced by false beliefs. Its arguments are to the soul as the doctor’s remedies are to the body.« (ebd., 14) 148 Vgl. dazu die bekannte Pionierarbeit von Walter Brandford Cannon zu fight or flight als acute stress response in Wisdom of tbe Body von 1932 oder bezogen auf die Trauma-Arbeit: Huber 2012, 41–45. 147

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eingehen zu können, Wege der Heilung eröffnet. 149 Die instinkthafte Reaktion ließe sich mit Kurt Goldstein auch als eine Form der krankhaften Irresponsivität, als die Unfähigkeit adäquat zu antworten, beschreiben. »In solchen Fällen droht der Ausbruch angsterfüllter Katastrophenreaktionen oder umgekehrt das Erstarren in Apathie.« [H. B. S.] (Waldenfels 2015a, 150) Das heißt, Heilung bestünde in der Stärkung oder Wiederherstellung von Responsivität, um der Gefangenschaft automatischer Reiz-Reaktions-Dynamiken zu entkommen. Dies bezeichnet Waldenfels als eine responsive Therapie, »sofern sie nicht nur einen Normalzustand wiederherstellt wie bei der Reparatur einer Maschine, sondern die Antwortfähigkeit unter veränderten Bedingungen neu entfacht und Antwortblockaden durchbricht« (ebd., 23, vgl. auch Waldenfels 2008, 142). Dies gelte, so erwähnt er, auf spezielle Weise für die Behandlung Traumatisierter, »die förmlich mundtot sind und deren Verletzung sich in die Körpersprache der Symptome flüchtet« (ebd.). Etwas in ihnen »antwortet« gleichsam automatisch und insofern »pathologisch«. Dieses symptomatische Verhalten führt zu (Gegen-)Reaktionen in der sozialen Mitwelt, auf welche die betroffene Person (in der Systemtheorie spricht man auch von »Symptomträger«) wieder entsprechend reagiert: Verletzungen antworten auf Verletzungen. So können sich zirkuläre Muster und Provokationsketten bilden, die alle Beteiligten auf höchst perfide Weise gefangen nehmen. Es wäre jedoch falsch zu meinen, die antike Vorstellung einer »Fürsorgepflicht für die Seele« bestünde nur für »Kranke«. Es sind vielmehr alle Menschen aufgefordert, zu lernen, »ihr eigener Arzt« zu werden. (vgl. Foucault 1993, 41) Dabei, so stellt Foucault (2015, 77) heraus, zeige sich eine große Nähe zur antiken Bedeutung von Bildung, der paideia. Er bezieht sich dabei unter anderem auf Epiktet, der darauf beharre, die Schule als »Ambulanz der Seele« zu verstehen. Die bittere Medizin muss jeder schlucken, der sich in die »Arztpraxis« philosophischer Ausbildung begibt. Diese solle nicht genossen, sondern erlitten werden. Insofern ist Selbstsorge keine Streicheleinheit oder Entspannungskur, sie hat vielmehr mit der Be149 Waldenfels (2008, 135) erklärt zwar, dass sein Verständnis der Response nicht als bloße Reaktion auf vorhandene Reize (miss-)verstanden werden darf, »sondern als Antwort in der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Welt«, dennoch kann man den Eindruck gewinnen, dass die Response auf das Widerfahrnis in ihrer Koppelung als Doppelereignis immer auch Züge des Reaktiven aufweist. Hier gilt es, sauber zu unterscheiden, denn genau in dieser Unterscheidung liegt die Chance auf Heilung.

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reitschaft zu tun, sich etwas widerfahren zu lassen; sie bedeutet, eine grundsätzliche Schmerzbereitschaft einzuüben. 150 Auch wenn die ursprüngliche Bedeutung des altgriechischen Wortes therapeia von der Pflege und Bildung bis zur Heilung, also medizinischen Einflussnahme, reicht 151, bestehen zwischen beiden Enden doch beträchtliche Unterschiede. Denn angesichts massiver Verletzungserfahrungen bekommt die Rede von der Selbstsorge als Therapie noch einmal eine ganz andere Bedeutung – eine, die über die allgemeingültige Aussage, dass jeder Mensch der Heilung bzw. Bildung bedürfe, hinausgeht. Dennoch erweist sich hier gerade das Spektrum des Verständnisses von der Selbstsorge als Therapie als äußerst wichtig, denn es zeigt, dass es keine klare Grenze zwischen »gesund« und »krank« gibt, sondern beides ineinander übergeht. Beides könnte man als die Enden eines Kontinuums 152 beschreiben, das zahlreichen Interpretationen und »Feststellungen« ausgesetzt ist: Was in der einen Tradition noch als »normal« gilt, kann in der anderen schon »völlig daneben« sein. Denn das Verständnis von Gesundheit (ebenso wie das von Bildung) ist sozio-kulturell sowie geschichtlich bedingt und beeinflusst als gesellschaftliches Ordnungsinstrument unmittelbar das Erleben des eigenen Gesundheitszustandes (bzw. Bildungsstandes). Außerdem entwickeln Kulturen unterschiedliche Vorstellungen davon, was als Verletzung »gelten« darf und soll und was nicht – und wie damit umzugehen ist. Dazu kommt, dass vor allem Krankheiten der Seele oft »unbemerkt verlaufen oder daß man sie gar für Tugenden halten kann (den Zorn für Mut, die Liebesleidenschaft für Freundschaft, den Neid für Wetteifer, die Feigheit für Vorsicht)« (Foucault 2015, 80). 150 Dieses Verständnis von (Selbst-)Bildung erinnert an die Aussage Nietzsches (KSA, 3, 168), wahre Bildung beginne mit einer »Verzweiflung der Unwissenheit«, in die man geführt werden müsse, bei einem Hunger und der Begierde nach Wissen, bei dem Entzücken durch die Einsicht, die man erhalte, welche zu einer Ehrfurcht vor der Wissenschaft führe, die die Seele erzittern lasse. 151 Therapeia wird neben Heilung und Pflege auch mit Dienen oder Dienerschaft (v. a. bezogen auf die göttliche Dienerschaft) übersetzt (vgl. Preuschen 1963, 93; Elberfeld 2017, 395). Hier wird die Nähe zum Sorge-Begriff auch etymologisch deutlich. 152 Ganz ähnlich spricht Waldenfels (2015b, 150 ff.) von einer »Kontinuität von Normalem und Pathologischem«, die er mit der »Polarisierung von Pathos und Response« zusammenbringt. Je mehr eine Seite zu Gunsten der anderen kippt, desto größer ist die Gefahr, ins Pathologische abzustürzen: Pathos ohne Response führt in die sprachlose Hilflosigkeit des psychotischen »Anomalismus« und Response ohne Pathos in das mechanistische Agieren, in »Antworten auf Vorrat«, eines neurotischen »Normalismus«. (vgl. auch Waldenfels 2016, 50)

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In seinen letzten Vorlesungen am Collège de France widmete sich Foucault der Praxis des Wahrsprechens (Parrhesia) als Akt der freimütigen Rede, der Mut erfordert, weil er den Sprecher durch seine rückhaltlose Offenheit sich selbst und anderen aussetzt. Foucault sieht darin eine zentrale Form der Selbstsorge. (vgl. Foucault 2010, 1996b, 91 ff.) 153 Vielleicht könnte man spezifizieren, dass das ungeschminkte oder ungeschützte Aussprechen von Wahrheit als Ausdruck der Freiheit ein unabdingbarer Bestandteil der Therapie von gesellschaftlichen und individuellen Leiden ist. Weil gerade diese Vorstellung auch eine der zentralen Prämissen der Truth and Reconciliation Hearings war, soll in der Folge anknüpfend an die Fallstudie die Bedeutung des Wahrsprechens als Form der subjectivation verdeutlicht und diskutiert werden. Wie der Name schon sagt, ging es in den Anhörungen um Wahrheit und Versöhnung. Die Ureinwohner Kanadas begannen, sich gegen die »billig-teure« Maßnahme der Regierung zu wehren, durch hohe Entschädigungsleistungen zur »Wiedergutmachung« den kulturellen Genozid abzugelten. Ein solches Vorgehen ist, so kann man mit Straub konstatieren, »empirisch falsch, psychologisch naiv und politisch fahrlässig« (Straub 2014b, 75). Denn die Vergangenheit sei dadurch nicht einfach getilgt, sie durchdringe weiterhin das Zusammenleben und bringe kontinuierlich neue Verletzungsverhältnisse hervor, »die zu ignorieren ein wissenschaftliches Versäumnis sowie ein Zeichen praktischer Verantwortungslosigkeit wären« (ebd.). Einfach gesagt: Die Geschichte unverarbeiteter Verletzungserfahrungen schlägt unweigerlich immer wieder zurück, sie beeinflusst unmittelbar Gegenwart und Zukunft. Deshalb waren die Truth and Reconciliation Hearings wichtig. Denn sie wollten nicht nur eine Plattform schaffen für ein »schonungsloses Wahrsprechen«, sondern auch für den Versöhnungsprozess, der Wege eröffnen sollte für die Heilung tiefer Wunden. 154 Dabei ging es einerseits um die Selbstsorge der in153 Foucaults Vorlesungen von 1983/84 können vielleicht als sein Versuch gedeutet werden, auch für sich selbst noch einen Ort der Wahrheit zu finden, und zwar in Form eines freimütig-widerständigen Daseins, »das mehr ist als das Abziehbild ›liberaler‹ Herrschaftstechniken und das dumpfe Double des medialen Geplappers« (Assheuer 2010), das er jahrelang so akribisch beschrieben und entlarvt hatte. 154 Dass Sprache von ihrer öffentlichen und politischen Wirksamkeit her aufgefasst werden muss, zeigt Andreas Hetzel (2011) in Die Wirksamkeit der Rede. Er stellt heraus, dass die Rede über die Kraft verfüge, »die Last alter Erzählungen von uns zu nehmen, neue Geschichten beginnen zu lassen« (ebd., 9). Dabei sei sie zugleich per-

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digenen Menschen, zum anderen um die Zukunft des gelingenden Miteinanders von Aboriginal und non-Aboriginal Kanadiern – beides kann nur in wechselseitiger Bezogenheit nachhaltig Heilung versprechen. Es werden nun zunächst einige Gedanken zu Truth bzw. zur Parrhesia ausgeführt und dann zur Reconciliation, die mehr meint, als den Akt einer formalen Entschuldigung 155, weil sie auf den Prozess des Heilwerdens, d. h. auf die Selbstsorge als Therapie, abzielt. Dass hier trotz des gut gemeinten Vorhabens der Klammergriff gesellschaftspolitischer Rahmungen – man könnte auch sagen, das Foucault’sche Dispositiv der Macht, das unterschwellig im Namen der Vernunft und Normalität regiert – zuschlug, wurde bereits mehrfach deutlich. Ein weiterer Hinweis dazu sei mit folgender Feststellung gegeben: What has been a concern for some critics is […] the way in which […] the Commission work to contain the delicate process of reconciliation within a highly regimented and restrictive Western structure aimed at controlling expenses. As Jennifer Llewellyn rightly argues, »if reconciliation is about restoring relationships, it is more akin to a process than an end point to be achieved. Relationships are dynamic and ever changing« (190). Therefore, a Commission that wants to address reconciliation must be willing to accommodate an open-ended system, something which the current TRC […], with its focus on goals and timelines, fails to do. (Gaertner 2014)

»Schonungslos« war das Wahrsprechen während der Anhörungen sowohl für diejenigen, die den Mut aufbrachten, »alles zu sagen« formativ wie negativ: Rede ist unergründlicher Vollzug. Sie gründet gerade in dieser Wirkung, die nie künstlich erzeugt oder »gehabt« werden kann. Die Rede habe als Praxis ihren Zweck in sich selbst, sie positiviere ihre Grundlosigkeit. (vgl. ebd., 17) Wie sehr sie in der Lage ist, auch eigenmächtig um sich zu greifen, sich dann nicht mehr vollständig kontrollieren zu lassen, zeigten die Reaktionen der Polizisten und Beobachter auf die Inuk und die Reaktion von ihr selbst, die sich im Strom ihrer eigenen Rede verlor. (vgl. ebd., 441–442) 155 Hierzu meint Bernhard Waldenfels (2015a, 413–414) treffend: »Man befreit sich nicht selbst von Schuld, wenn man jemanden um Entschuldigung bittet.« Dass diese Form von Verzeihung gewährt und nicht hergestellt wird, zeigte sich an den Reaktionen der Ureinwohner nach der offiziellen Entschuldigungserklärung im Jahr 2008 vom ehemaligen Premierminister Kanadas, Stephen Harper. Diese könne bestenfalls ein Anfang gewesen sein, erklärten viele Residential School Survivors und forderten eine echte Auseinandersetzung, die weh tut und mehr »kostet« als die monetäre Entschädigung. An anderer Stelle schreibt Waldenfels (2016, 53) ähnlich wie Straub: »Selbst die Wiedergutmachung heilt nicht die ›Narben der Geschichte‹«.

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und nichts zurückzuhalten, als auch für die Zuhörer, die mit dieser unverstellten Wahrheit konfrontiert wurden. Diese Wahrheit war zunächst die Wahrheit des Sprechers, »der alles sagt, was er im Sinn hat: Er verbirgt nichts, sondern öffnet den anderen Menschen durch seine Rede vollständig sein Herz und seinen Sinn« (Foucault 1996b, 10). Offenheit ist ein erstes Merkmal der Parrhesia, denn es geht ihr nicht um technische Kunstgriffe der Rede, die manipulativ bei ihren Zuhörern etwas bewirken möchte, vielmehr drückt sich die Person, die spricht, selbst aus, sie zeigt sich in ihrer Rede. Bezüglich der Bestimmung von Wahrheit der Parrhesia erklärt Foucault (ebd., 12): »Meiner Meinung nach sagt der parrhesiastes, was wahr ist, weil er weiß, daß es wahr ist; und er weiß, daß es wahr ist, weil es wirklich wahr ist. […] Er sagt, was er als wahr weiß.« [H. i. O.] Bei dieser Aussage geht es Foucault eindeutig nicht um die faktische Beweisführung, um Kohärenz, um intersubjektive Nachprüfbarkeit oder den kartesianischen Evidenzbegriff. Es geht ihm um ein Wahrsprechen der Person: Er (oder sie) sagt, was er (oder sie) als wahr weiß. Damit stellt sich der Sprecher mit dem, was er für wahr hält, nicht einer Überprüfung etwa im Rahmen moderner epistemologischer Vorgaben, sondern er stellt sich den Menschen, die seine Rede hören. Die Rede zielt also ab auf ihre Bedeutung für das zwischenmenschliche Leben, sie will etwas auslösen und eine transformative Wirkung entfalten. Foucault meint, es ginge um Moral bzw. moralische Qualitäten des Sprechers – sie gewährleisteten das Wahrsprechen im Sinne der antiken griechischen (v. a. »sokratischen«) Kultur. Als möglichen »Beweis« für die Wahrheit führt Foucault an, dass es des Mutes bedarf, (vgl. ebd., 14) öffentlich etwas zu sagen, was vor allem für den Sprecher gefährlich werden könnte, weil er die Hörer mit etwas Unangenehmem konfrontiert, das sie betrifft, vielleicht sogar in Frage stellt, und zu dem sie sich verhalten müssen. 156 »Der parrhesiastes ist jemand, der ein Risiko eingeht.« (ebd., 15) »Es handelt sich […] um die Wahrheit mit dem Risiko der Gewalterfahrung.« (Foucault 2010, 27) – diese Gefahr ist ein weiteres Merkmal des Wahrsprechens. Dass es in der Tat gefährlich sein kann und Risiken birgt, frei-

156 Es ist naheliegend, hier an Sokrates zu denken, von dem Pierre Hadot (1999, 47) sagt: »Seine philosophischen Diskurse beißen wie eine Natter ins Herz und provozieren die Seele.« Sokrates geht es dabei vor allem darum, dass seine Gesprächspartner sich darüber Gedanken machen, wie ein moralisch wertvolles Leben gelingen kann – für diese riskante »Mission« steht er bis in den eigenen Tod ein.

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mütig und offen »aus sich heraus« zu sprechen, wurde in der Fallstudie unmissverständlich deutlich: Wie ein Bumerang schlug die Reaktion auf das Wahrsprechen »zweipolig« zurück: Im Inneren der Frau brach etwas auf, das sie völlig in Beschlag nahm und im öffentlichen Raum wurde sie alsbald in Gewahrsam genommen. Was hat nun das Wahrsprechen mit der Reconciliation, mit Formen der therapeutischen Selbstsorge, zu tun? In den Hearings der Kommission ging es zunächst einmal um die Aufarbeitung der kanadischen Geschichte, d. h. um ein allgemeines Gewahrwerden gesellschaftlicher Verletzungsverhältnisse. Was sich dann jedoch zeigte, war eine unerwartete Äußerung der »Wahrsprecherin«, der als Akt eines verzweifelten Aufschreis aus ihrem Inneren unüberhörbar nach außen drang. Ein lange unterdrückter Persönlichkeitsanteil widersetzte sich der Herrschaft des inneren Schweigens, Wahrhaftigkeit brach sich Bahn. Genau eine solche ehrliche Rede sich selbst gegenüber ist es, die nötig ist, damit der Heilungsprozess beginnen kann. Waldenfels (2016, 53) spricht hier von einer »Weckung«, derer es bedarf, bevor die archivarische, monumentalistische oder moralische Erinnerungsarbeit ihr Werk tue. »Die Lösung besteht darin, den Schmerz zuzulassen« (Gruen 2014, 214) und aus der Antwortblockade sich selbst gegenüber auszubrechen. Hendrik Wahler (2015, 147) betont, dass es großer Tapferkeit bedürfe, dem eigenen Schmerz zu begegnen. Er meint damit den Mut, sich echten Erfahrungen auszusetzen, die einen die »Widrigkeit der Welt« und die eigene Endlichkeit spüren ließen – und nicht die vermeintliche Tapferkeit des sprichwörtlichen Indianers, der keinen Schmerz kenne. Dass die Schmerzbegegnung immer auch einen inneren Kampf bedeutet, liegt daran, dass auch das Selbst machtförmig strukturiert ist: Es gibt überlegene Persönlichkeitsanteile, die andere unterdrücken. Im Laufe der Zeit tradiert sich eine innere »Kultur des Schweigens« 157, die unterdrückerisch alles Wahrsprechen unterbindet – natürlich auch oder vor allem um der Gefahr des Schmerzes zu entgehen. Hannah Arendt findet ähnlich wie Foucault in Sokrates denjenigen, der die Bedeu-

157 Diese Formulierung stammt von Paulo Freire (1993), der damit die Ergebenheit meint, mit der sich marginalisierte Randgruppen ihrer Situation fügen – und damit eben nicht »wahrsprechen« und aufbegehren. Die intrapersonale und die interpersonale Kultur des Schweigens sind dicht miteinander verwoben und verstärken sich wechselseitig.

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tung des Wahrsprechens für die Selbstsorge verkörpert. Bezüglich der Bedeutung eines »intrapersonalen Wahrsprechens« führt sie aus: Für Sokrates war das hauptsächliche Kriterium für den Menschen, der seine eigene doxa wahrhaftig ausspricht, dass er ›mit sich selbst zusammenstimme‹ – dass er sich nicht widerspreche und keine widersprüchlichen Dinge sage; die meisten Menschen tun dies, und doch haben wir alle irgendwie Angst davor. (Arendt 2016, 55–56)

Es ist die Angst vor dem, was sich zeigen würde, spräche man es aus oder ließe ihm mehr Freiheit. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Brüchen, Verletzungen, dunklen Seiten des Selbst schmerzt, sie verstört und erschreckt uns. Deshalb wollen wir nicht hören, was uns in Widersprüche bringt. Wir stellen uns taub und folgen den lautesten Stimmen – jenen, die vor allem von den Mächtigen und meist Geliebten in unserer sozialen Mitwelt die größte Anerkennung erhalten und unserem Idealselbst entsprechen. Ohne jedoch den abgedrängten, entrechteten Stimmen in uns Raum zu geben, können wir nicht »mit uns selbst zusammenstimmen«. Wir sprechen mit »gespaltener Zunge«, wie dies ein indianisches Sprichwort treffend beschreibt. Angesichts der Bedeutung des Hörens für das Wahrsprechen, ist der Kritik Waldenfels’ (vgl. 2015a, 420 ff.) an Foucault zuzustimmen, wenn er meint, dass das Wahrsprechen noch viel mehr aus einem Wahrhören bzw. einem Wahrnehmen erwachsen müsse. Denn das Wahrsprechen »spricht« nicht nur, es antwortet immer auch – und dieses Antworten sei riskant, »nicht weil wir die Folgen nicht in der Hand haben, sondern weil es ab ovo dem fremden Anspruch ausgesetzt ist« (ebd., 424). Die Parrhesia kommt also nicht aus einem leeren Raum, sondern hat Geschichte und Kontext. Sich selbst antworten (vs. reagieren) bedeutet, dass ich mir selbst erst einmal zuhören muss, dass ich den leisen, oft auch unangenehmen und schmerzhaften Stimmen in mir Gehör schenke (mehr dazu in 4.2.1). Erst dann übernehme ich auch Verantwortung für mein Handeln. Manchmal ist es jedoch so, dass sich erst im Aussprechen das Hören ereignet, deshalb brauchen wir Menschen, denen wir etwas erzählen können: Wir müssen uns selbst sprechen hören – vor allem dann, wenn wir das Gefühl haben, innerlich zerrissen zu sein. Insofern sollten die Anhörungen (»Hearings«) einen (Zwischen-)Raum eröffnen für die Sprecher und die Hörer, um sich selbst und einander zu hören. Dies sollte zur Reconciliation, zur Heilung lang verschwiegener Verletzungserfahrungen führen. 174 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass ein zentrales Ziel des Komitees der Anhörungen lautete, die Geschichten der Ureinwohner zu bezeugen: »The goals of the Commission shall be to […] witness, support and facilitate truth and reconciliation events.« (TRC s.d.) Beim Wort »witness« findet sich eine kurze Fußnote, die auf das »Aboriginal principle of witnessing« verweist, um das es hierbei ginge. Es wird aber an keiner Stelle näher erläutert, was darunter zu verstehen sei – eine Tatsache, die auch auf unausgesprochene Machtdispositive hinweist. David Gaertner (2014) ging dieser Frage nach und stellte fest, dass es eklatante Unterschiede zwischen dem »Western principle« und dem »Aboriginal principle« des Bezeugens gibt. Etwas zu sehen, also Zeugin eines Geschehens zu werden, ist in ersterem Fall eine eher isolierte Angelegenheit: ich sehe (höre, etc.) etwas, das mich außen vor lässt. Außerdem gilt mein Zeugnis nur, wenn ich es war, die etwas gesehen hat, ich also tatsächlich vor Ort war. Gaertner führt aus, dass das Cree-Wort für »sehen« (wapatam) in enger Beziehung zu wapamon, was Spiegel bedeutet, und zum transitiven Verb wapamiw, was so viel meint wie: »Sie blickt in den Spiegel und sieht sich selbst«, steht. Das heißt, die Beobachtung von etwas ist immer schon Reflexion: durch das, was ich beobachte, wird mir selbst ein Spiegel vorgehalten. Übertragen auf die Hearings bedeutet das, dass es für den Heilungsprozess unabdingbar ist, dass das Wahrsprechen nicht nur als isoliertes Zeugnis einer vergangenen Zeit festgehalten und in Form von Berichten für die Zukunft konserviert wird, sondern dass es die »Zeugen« des Wahrsprechens selbst betrifft, sie anrührt und bewegt. Jennifer Llewellyn (2008) macht eindringlich darauf aufmerksam, dass der Weg vom Wahrsprechen zur Versöhnung lang und beschwerlich ist – und dass er keinem Automatismus folgen, rein formal oder bloß äußerlich vonstattengehen kann, sondern die Beteiligten mit all dem, was sie ausmacht, auf den Plan ruft. Eine mögliche Brücke zwischen dem Wahrsprechen und der Versöhnung könne, so führt sie aus, das ursprünglich indigene Prinzip der Restorative Justice (RJ) sein. Dieses Verfahren der alternativen Streitschlichtung (Alternative Dispute Resolution) hat mittlerweile in das kanadische Strafrechtssystem Einzug gehalten. (vgl. Llewellyn/Howse 1999) Anstatt nach der Schuld des Täters zu fragen und eine »gerechte« Strafe zu verhängen, weil ein Gesetzesverstoß vorliegt, geht es bei der »wiederherstellenden Gerechtigkeit« um die Frage nach den Aus-

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wirkungen der Tat auf das Gemeinwesen. 158 Howard Zehr (2010), eine der Leitfiguren der Theoriebildung des RJ-Prinzips, bringt dies mit seiner Aussage auf den Punkt, dass das retributiv-punitive Strafkonzept die Verletzung von Gesetzen in den Vordergrund stelle, die RJ dagegen die Verletzung von Menschen und Beziehungen. 159 Im Gerichtsverfahren wird Tätern und Opfern das Sprechen abgenommen. Sie werden zu isolierten Zeugen ihres eigenen Falls und werden außen vor gelassen – die Streitgespräche ihrer Anwälte haben in der Regel wenig mit Wahrsprechen zu tun. Der Vollzug der Restorative Justice dagegen lebt vom Wahrsprechen und Zuhören. Tätern wird kein abstraktes Urteil vorgelesen, zu dem sie sich nicht mehr verhalten können, sie werden vielmehr mit all den Erlebnissen der Menschen konfrontiert, die durch ihre Tat in Mitleidenschaft gezogen wurden. Sie müssen sich verantworten, d. h. sich dem aussetzen, was Menschen erlebt und erlitten haben. Aber auch Täter erhalten die Möglichkeit, ihre Geschichte zu erzählen, was es schwerer macht, sie als »Asoziale«, »Schläger« oder »Kriminelle« zu dehumanisieren und ruhigen Gewissens wegzusperren. Ganz im Gegenteil steht von Anfang an die Frage im Vordergrund, wie die Wiedereingliederung gelingen kann. Denn es wird deutlich: Das Delinquente, Abnormale, Fehlerhafte entspringt dem Eigenen, es ist Teil der Gemeinschaft. Deshalb, so stellt auch Gruen (2014, 215) fest, »kann die Lösung nicht einfach Bestrafung sein«. Ganz im Sinne des Aboriginal witnessing wird allen Beteiligten ein Spiegel vorgehalten und anstelle einer binären Täter-Opfer-Optik vollzieht sich das Wahrsprechen als viel158 Dieser gemeinwesenorientierte Blick auf »existenzielle Schuld« zeigt sich auch in der dialogphilosophischen Konzeption Martin Bubers, der drei Schritte beschreibt, um ihr – im wahrsten Sinne des Wortes – zu begegnen: (1) ehrlich-wahrhaftige Aufdeckung dessen, was geschehen ist, (2) sich der Schuld aussetzen, sich mit ihr konfrontieren, (3) Verantwortung übernehmen, d. h. den zerbrochenen Dialog, die verletzten Beziehungen heilen. (vgl. Friedman 2002, 18) All diese Teile spielen im Restorative Justice Prozess eine bedeutsame Rolle. 159 Foucault (1996b, 106) erklärt bezüglich der Beziehung von Gesetzen (nomoi) zum Wahrsprechen, »daß es selbst in der von guten Gesetzen regierten polis immer noch jemandes bedarf, der parrhesia gebrauchen wird, um den Bürgern zu sagen, welches moralische Verhalten sie befolgen müssen.« Gesetze allein reichen nicht, um ein gelungenes Leben in der Polis zu gewährleisten, es braucht das mutige, aufrichtige Sprechen, damit Demokratie als ernsthaftes Spiel von Rede und Antwort gelingen kann. In der kynischen Tradition gilt es sogar, »eine permanent negative und kritische Haltung gegenüber jeder politischen Institution und jeder Art von nomos [einzunehmen]« (ebd., 106–107).

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stimmige Teilhabe. Wichtig ist dabei, dass es hier, wie bei der Parrhesia, nicht in erster Linie um die Versöhnung zwischen zwei Menschen geht, sondern um einen Prozess der gesamtgesellschaftlichen Transformation, der in sozio-kulturellen und politischen Räumen stattfindet. Jennifer Llewellyn macht deutlich: »it is not about getting parties to hug and make up; rather, it strives to create the conditions of social relationships in which all parties might achieve meaningful, just, and peaceful co-existence.« (Llewellyn 2008, 190) Methodisch findet in der Regel der »Sharing Circle« Anwendung. Hier gibt es keinen vorsitzenden Richter, keine Anklagebank und keine Vertreter der Staatsanwaltschaft. Alle sitzen in einem Kreis, alle sind gleichberechtigt und gleich wichtig. Zu Beginn findet ein Reinigungsritual wie beispielsweise das Sumdging 160 statt. Ein Circle Keeper lässt als Moderator das Talking Piece (eine Feder, ein Stein, ein Stock oder ein anderes Symbol, das für die Beteiligten von Bedeutung ist) reihum gehen. Jeder darf so lange sprechen, wie er möchte, erst dann gibt er das Redestück weiter, alle anderen müssen zuhören. Kommentare und Zwischenfragen sind nicht erlaubt. Es ist eine andere Art des Hörens, wenn man nichts erwidern kann, wenn man sich nicht verteidigen muss und in Gedanken nicht vornehmlich damit beschäftigt ist, die Rede des anderen möglichst geschickt zu widerlegen – denn es gilt zu warten, bis man selbst an der Reihe ist. Es ist auch eine andere Art des Sprechens, wenn man auf das Gehörte nicht nur reagiert, sondern auf die vielen Stimmen – in der Runde und in sich selbst – antwortet. »Speaking from the heart« nennen die Ureinwohner diese Form des Wahrsprechens – wie Foucault (2004, 179), der von einer »Öffnung des Herzens« spricht. Es gibt keine zeitlichen Beschränkungen und keine Zäsur, alles darf gesagt oder gezeigt werden, man kann auch eine Weile schweigend das Talking Piece halten oder es ohne etwas zu sagen weitergeben. Erst wenn die Rede im Kreis erschöpft und alles offen ausgesprochen ist, geht es darum, gemeinsam Wege zu finden, die einen Heilungsprozess ermöglichen. Ziel ist, einen Transformationsprozess anzuregen, der alle betrifft. Stan McKay, ein Mitglied der Fisher River Cree Nation, erläutert: Heilende Kräuter (»medicine« genannt) wie Salbei oder sweet grass sollen den Raum und die Personen darin durch den Rauch, den sie verbreiten, von bösen Gedanken und negativer Energie reinigen und sie spirituell auf den Austausch vorbereiten, sie dafür öffnen und den Schutz vor weiteren Verletzungen gewährleisten.

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Within this circle, the role of the listener is to recognize and accept differences. Verbalization gives the speaker a place in the community to speak his or her truth. Others, who sit in participatory silence, gain an understanding of themselves as they hear the stories of fear, strength, and hope. (McKay 2008, 105)

Im Grunde könnte man sagen, dass das, was im Sharing Circle passiert, eine Form von individueller und kollektiver Selbstsorge, die sich durch das Hören auf sich selbst, das Wahrsprechen und das Zuhören vollzieht. Ein ähnlicher Hinweis für den Umgang mit Verletzungserfahrungen findet sich bei dem jüdischen Psychologen Dan Bar-On. Auch er wagte es, Täter und Opfer zu Gesprächen an einen Tisch einzuladen – er nannte diese Treffen »TRT«: To Reflect and Trust. Bei den Gesprächspartnern handelte es sich meist um Nachfahren von Tätern und Opfern des Nazi-Regimes, die unter ähnlichen Symptomen litten: dem Verschweigen und der Sprachlosigkeit. Die einfache, aber sehr wirkungsvolle Idee dieser Treffen war es, sich gegenseitig die eigenen Lebensgeschichten zu erzählen. Allein das Zuhören half, die eigenen Gefühle, aber auch die der anderen Seite zu verstehen. Das Wissen um das Leid der Anderen schuf die Basis für einen (ersten) Dialog. (Kutz, in: Bar-On 2001, 11)

Ein Mitglied der Gruppe, Nitai Keren (in: ebd., 9), erläutert bezüglich seiner Erfahrungen, dass ein Mensch andere treffen müsse, um die Verbindung zum eigenen Selbst zu finden: »und wenn du andere triffst, ist es das Wichtigste zu geben, und du musst viel geben und zuhören«. Bezogen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt entwickelte Bar-On drei Stadien eines Friedensprozesses, der auf einer Transformation des Konzepts der israelischen Identität fußt. Die erste Phase beschreibt er als eine »monolithische«, in welcher ein bedrohlicher Anderer als »absolut Böser« im Gegensatz zum »absolut guten« Selbst – das sich als das Opfer dieser Bedrohung sieht – errichtet wird. 161 Das monolithische Selbst lässt keine inneren Widersprüche 161 Eine eindrückliche Beschreibung zur Entstehung monolithischer Identitäten liefert Amin Maalouf in Mörderische Identitäten. Überhaupt zeigen sich bei ihm und bei Dan Bar-On viele Parallelen hinsichtlich ihrer Erklärung zur Entstehung von Gewalt in Gemeinschaften, die sich erniedrigt oder in ihrer Existenz bedroht fühlen und Menschen hervorbringen, die in ihrer Überzeugung, im Recht zu sein, immer wieder schlimmste Gräueltaten verüben. (Vgl. auch: Amartya Sen: Identity and Violence. The Illusion of Destiny.)

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und Gegensätze zu, es ist in sich als fester Block einheitlich geschlossen. Solange die monolithische Phase der kollektiven Identität währte, solange es neben dem »absolut Bösen« im Bild des »Anderen« das »absolut Gute« im Bild des kollektiven Selbst gab, war auch der Dialog widerspruchsfrei und vorhersehbar. Der – hauptsächlich innere – Dialog fand zwischen der jeweils anderen Seite und sich selbst statt, wobei das »Andere« immer wieder als wesenhaft verschieden vom »Selbst« identifiziert und damit die Kontinuität der monolithischen Phase gerechtfertigt wurde. (ebd., 139)

Die zweite Phase besteht im Bröckeln dieser steinernen Einheit. Das egologische Motto »Ich gegen dich« wandelt sich – immer begleitet von Schmerzen, großer Verunsicherung und Verlustängsten – und macht einem dialogischen Verständnis Platz: »Wir gegen unser Problem«. Auch dieser Dialog ist zunächst ein innerer: Ich sehe in mir nicht mehr das »Opfer«, das ich verteidigen muss, in dem ich den »Täter« im Bild des bösen »Anderen« anklage. Jetzt bin ich bereit, auch den »Täter« in mir zu erkennen und zu versuchen, »Opfer« und »Täter« in einen Dialog zu bringen. Aufgrund dieses inneren Dialogs kann ich einsehen, dass auch der »Andere« nicht nur Täter sein muss, sondern in sich vielleicht ebenfalls ein »Opfer« hat, das anzuerkennen ich mich bisher geweigert habe. (ebd.)

Die dichotomen Blöcke, auf welchen die eigene Identität beruhte, werden weich. Dies führt vor allem in der eigenen Gruppe zu Momenten großer Einsamkeit, denn wenn man beginnt, sich selbst ehrlich gegenüberzustehen, tritt man automatisch aus dem Glied, man sieht sich mit den eigenen Leuten konfrontiert, die einem Schwäche, Verwirrung, im schlimmsten Fall sogar Nestbeschmutzung vorwerfen – auch hier zeigt sich deutlich das Risiko, das mit dem Wahrsprechen einhergeht. Wenn Menschen die eigene Schwäche ernst nehmen, können sie beginnen zu wachsen. Wenn sie anderen, womöglich Feinden oder ihren Opfern, von ihrer Schwäche berichten, heilen alte Wunden. Dan Bar-On schreibt über sich selbst in den Gesprächen mit Teilnehmern des 2. Weltkriegs: Jetzt spürte ich ihre Schwäche, die sie in der Öffentlichkeit nicht zugeben oder ausdrücken konnten. Erst jetzt konnte ich mich zu ihnen als Menschen, als Sterbliche verhalten und ihr Leiden würdigen, das in ihnen verschlossen war, weil es kein legitimes Ventil dafür gab. So lange hat es gedauert, bis ich im Bereich der Identität erwachsen wurde! (ebd., 87)

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Die Erfahrung des Bröckelns der monolithischen Identität macht es notwendig, die einzelnen Bruchstücke wahrzunehmen und sie in den Dialog zu bringen. Damit beginnt die dritte Phase, die Bar-On überschreibt mit: »Die Wahrnehmung der auseinanderfallenden Aspekte der Identität und die Entstehung eines Dialogs zwischen ihnen« (ebd., 21). Es ist nicht leicht, gegensätzliche, teilweise sogar verfeindete Teile des Selbst miteinander ins Gespräch zu bringen, geschweige denn, sie zu versöhnen. Erst wenn wir erkennen, dass wir Opfer und Täter sind und der Andere Täter und Opfer ist, steht der Weg zur Vergebung und Heilung offen. Das Selbstbild, was nun entsteht, würde allerdings als schwach oder weicher wahrgenommen, schreibt Bar-On (ebd.), »da es innere Widersprüche und Gegensätze umfasst«. Auch der Dialog zwischen ihnen wird als »zögernd« wahrgenommen, als ein Prozess, der unbeholfen und unstrukturiert wirkt und dessen Ergebnisse weder vorhersagbar noch garantiert sind. Deshalb kommt es oft zu Spannungen im Dialog zwischen dieser Komplexität und dem Wunsch, erneut ein Schwarz-Weiß-Bild der Welt zu übernehmen, »härter« und »stärker« als das erste, auch wenn es bestimmte Prozesse in der Realität nicht angemessen zu deuten vermag. Der Drang zur monolithischen Phase verschwindet deshalb nie wirklich. (ebd., 21–22) 162

Es gilt also, die eigene Brüchigkeit und Schwäche nicht aufzulösen und nach Einheitlichkeit und Stärke zu streben, sondern einen Dialog zu kultivieren, der gerade in den Widersprüchen lebt. Echte, nachhaltige Heilung ist dann schwer, wenn die Totalität (wieder) zuschlägt, wenn die Grenzen zwischen Mein und Dein, zwischen Freund und Feind, zwischen normal und abnormal undurchlässig werden. Selbstsorge als therapeutischer Prozess muss deshalb immer wieder mit Rückschlägen rechnen, weil sie den vermeintlich sicheren

162 Passend zur Bedeutung eines »schwachen« Selbstbildes für den friedensstiftenden Dialog schreibt Paul Mecheril (2004, 131) im Kontext der Migrationspädagogik: »Interkulturalität [erfordert] ein ›schwaches Subjekt‹ und fordert ein Subjekt, das in der Lage ist, sich als schwaches zu verstehen und als schwaches zu zeigen, ohne sich dadurch aus der Verantwortung zum Handeln und aus der Verantwortung zur Auseinandersetzung mit dem und der Anderen zu verabschieden.« Ähnlich hebt auch Wolfgang Welsch bezugnehmend auf Gianni Vattimos »schwaches Denken« das schwache Subjekt für die Pluralismus-Fähigkeit einer Person hervor: »Während das starke Subjekt durch Herrschaftlichkeit gekennzeichnet war, versteift sich das schwache Subjekt nicht auf die Selbstherstellung und komplementär dazu auf die Meisterung und Bewältigung alles Anderen, sondern ist bereit, sich auf Anderes einzulassen, sich auch verfremden zu lassen.« (Welsch 1991, 359)

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Boden eines fixen Selbstverständnisses (z. B. als Opfer) ins Wanken bringt, sie konfrontiert uns mit unserem Schmerz und fordert uns auf, wahrhaftig Verantwortung für unser Leben zu übernehmen und diese nicht an den schuldhaften Täter oder einen helfenden Retter abzugeben. Das kostet zwar momentan mehr Kraft, führt aber in größere Freiheit, die nicht alle Menschen ertragen können. 163 Deshalb wohl fragt sich Bar-On (ebd., 141): »Soll man uns, wenn wir in den Fluss steigen, das sichere Ufer auf der anderen Seite versprechen? Oder müssen wir jetzt den Menschen vielleicht beibringen, ad infinitum im Fluss zu schwimmen?« Dass sich eine gelingende Selbstsorge zwischen den Extremen der Totalität auf der einen und der Auflösung auf der anderen Seite entwickelt, wird sich später noch zeigen. Das Festhalten an der Opferrolle führt dazu, dass Menschen nicht nur Angst vor Konflikten haben, sie haben vielmehr Angst vor dem Ende des Konflikts, denn das eigene Selbst- und Weltverständnis hängt wesentlich davon ab. 164 Bar-On berichtet davon, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 80er Jahre in New York gewesen zu sein. Dort habe er erlebt, »dass der plötzliche Verlust des eingeschworenen kommunistischen Feindes für viele amerikanische Bürger ein Stressfaktor war; überall versuchte man damals, Anzeichen für den Fortbestand des Kommunismus zu finden.« (ebd., 140) Nach dem 11. September schloss sich die entstandene Lücke, denn die »islamischen ›Gotteskrieger‹, die […] in Afghanistan als nützliche Verbündete gegen den damaligen ›bösen Anderen‹ der Sowjetunion instrumentalisiert wurden, eigneten sich jetzt sehr gut, […]

163 Paulo Freire spricht von »fear of freedom« – einer Angst, die keiner gern zugibt: »Men and women rarely admit their fear of freedom openly, however tending rather to camouflage it – sometimes unconsciously – by presenting themselves as defenders of freedom. […] they confuse freedom with the maintenance of the status quo; so that if conscientização [Bewusstwerdung, Gewahrwerden] threatens to place that status quo in question, it thereby seems to constitute a threat to freedom itself.« (1993, 36) 164 Vielleicht steckt darin ein Grund für den Sturm der Entrüstung, mit dem sich Hannah Arendt nach der Veröffentlichung ihrer Berichte zum Eichmann-Prozess konfrontiert sah. Darin war das Böse kein teuflischer Dämon, sondern ein Mensch. Dieser Mensch hatte es nicht deshalb verdient, zu sterben, weil er diabolisch-böse ist, sondern weil er sich freiwillig als Mittäter in einem totalitären Apparat instrumentalisieren ließ, das in seiner binären Logik entschied, wer leben dürfe, und wer als nichtlebenswert umgebracht wurde. Genau dieses dichotome Prinzip sei ein Verbrechen gegen die Menschheit.

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die Rolle des ›bösen Anderen‹ zu übernehmen – und damit das alte dichotome Weltbild zu stabilisieren bzw. zu erneuern« (ebd., 141). Immer wenn Menschen andere Menschen für ihre Gefühle verantwortlich machen, ergeben sie sich ihrem Schmerz. Sie mögen zwar momentan Entlastung erfahren, Genugtuung und vielleicht sogar gewisse Entschädigungsleistungen erhalten. Sie geben damit aber die Macht über ihr Leben auf, denn sie machen sich abhängig von einem anderen, der Schuld ist an ihrem Leid – oder, im Falle positiver Gefühle, auch an ihrem Lebensglück. Aufrichtige Selbstsorge bleibt nicht bei der Suche nach dem Schuldigen und der Pflege der Wunden stehen, sie fragt vielmehr nach den Gründen der Gefühle in einem selbst, sie sucht nach unbefriedigten Bedürfnissen, deren Hilferufe im Kampfgetümmel und im Tauziehen um die Schuldfrage immer wieder untergehen. Gerade bei massiven Gewalterfahrungen muss natürlich die Frage der Verantwortlichkeiten geklärt werden – die Verantwortung dafür, wie das Leben weitergeht, darf aber nicht auf den Täter übertragen werden, sonst bleibt man als ewiges Opfer ein Sklave der Vergangenheit, ein Spielball im Strudel kollektiver Verletzungsverhältnisse. »You only get to be a victim once. After that, you are a volunteer«, besagt ein amerikanisches Sprichwort, das auf die Country-Sängerin Naomi Judd zurückgehen soll. Beim Blick auf gesamtgesellschaftliche Dynamiken diesbezüglich ist Jürgen Straub (2014a, 90) zuzustimmen, der vor einer »Tribunalisierung der Lebenswelt« warnt. Auch ohne es zu wollen, verletzen wir und werden wir verletzt – dies gilt ganz besonders in Einwanderungsgesellschaften, in welchen Menschen mit unterschiedlichen, teilweise historisch verstrickten Gewaltgeschichten miteinander leben. Ein Wahrsprechen, das aus lauter Sorge, etwas Falsches zu sagen, sich selbst den Mund verbietet, macht sich ebenso schuldig, wie eines, das wiederholt über die Stränge schlägt. Wir sollten uns »davor bewahren, ein larmoyantes Pathos des verletzbaren Menschen zu kultivieren und einem zweifelhaften Kitsch der Empfindsamkeit das Wort zu reden, der am Ende niemandem hilft« (ebd.). Es hilft nicht, weil so kein wahrhafter Dialog mehr möglich ist. Anstatt die Angst vor Fremdem offen auszusprechen, verkehrt sie sich in Hassparolen und düstere Zukunftsszenarien. Wer seine Aufmerksamkeit nur auf potentielle Gefahren richtet, überall Böses und Gewalt wittert, wird davon auch besonders viel erleben. Die Selbstsorge zielt ab auf die freimütige Sorge für sich selbst, was nicht zu verwechseln ist mit einer egologisch-engen Sorge um sich selbst, die eher 182 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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einem »Zersorgen« gleichkommt. 165 Es geht der Selbstsorge auch nicht um eine Unterdrückung der Lust, der Spontaneität, des Schönen und des Genusses. All dies ist nötig, um sein Leben nicht im Schatten des Schreckens zu verbringen, sondern im Nachdenken über Möglichkeiten, in Träumen und Visionen darüber, wie eine freudvolle Zukunft aussehen könnte. Dies sei, so Pierre Hadot (1999, 139) Epikurs Mission: »Man muß die kranke Seele pflegen und dem Menschen beibringen, die Lust auszuleben.« Auch hier zeigt sich, dass die Philosophie therapeutische Wirkung entfaltet – sie will dazu beitragen, »den inneren Frieden, die Seelenruhe« (ebd., 125) zu finden. Denn, so kann man mit Epiktet (2012, 11, § 5) sagen: Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen und Urteile über die Dinge. […] Wenn wir also auf Hindernisse stoßen, beunruhigt oder gekränkt werden, wollen wir die Schuld nie einem anderen, sondern nur uns selbst geben, das heißt unseren Meinungen und Urteilen.

Es ginge also darum, Menschen zu heilen, indem man ihre Werturteile ändert, resümiert Hadot (1999, 139). Modern ausgedrückt: »Problems are not the problem; coping is the problem«. Es wäre falsch, zu meinen, die heilende Selbstsorge ziele ab auf die Wiederherstellung einer »gesunden Ordnung« (wobei ohnehin zu fragen wäre, wer diese festlegt oder was diese begründet) – gerade im Fall traumatischer Lebensereignisse ist dies weder möglich noch sinnvoll, denn dies würde die Spuren der Vergangenheit untergraben oder bagatellisieren. Eine Krankheitsgeschichte lässt sich nicht einfach abschütteln, sie prägt das Hier und Jetzt genauso wie das Morgen. Es gilt daher, mit all dem, was einen ausmacht, verbunden zu sein und sensibel, wachsam und kreativ 166 das Leben zu gestalten – hier bekommt das Wort Heilkunst eine besondere Bedeutung: Vielleicht könnte man auch von Personen als sich ständig wandelnden, indivi165 Dieser Unterschied drückt sich auch in der bekannten Stelle der Bergpredigt Jesu (Matthäus-Evangelium 6, 25) aus: »Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?« Natürlich ist damit nicht gemeint, dass man sich nicht um sein leibliches Wohlbefinden kümmern müsste, sondern es geht darum, den Blick zu weiten für das, was das Leben sonst noch lebenswert macht. 166 Bernhard Waldenfels (vgl. 2008, 114) möchte Heilung nicht nur als re-kreativen Prozess (zurück zu dem, was der Norm entspricht) verstanden wissen, sondern als einen kreativen, schöpferischen, antwortenden.

183 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

duellen Kunstwerken sprechen, zu welchen alle Macken und Kanten, alle Narben und Wunden, die das Leben hinterlassen hat, dazugehören. Es gilt, ein schöpferisches Verhältnis zu sich selbst zu pflegen, eine »Ästhetik der Existenz« zu praktizieren und sich einem offenen Prozess der Veränderung durch Veranderung auszusetzen.

4.2 Dialogizität und Zwischen statt Ordnung und Klarheit Eine Auseinandersetzung wird dann besonders grauenvoll und schmerzhaft, wenn der Kontakt abbricht, wenn Menschen sich einander nicht mehr aussetzen möchten und sich in den stummen Monolog zurückziehen. Der Rückzug aus einer bedrohlich komplexen Welt zeigt sich auf eindrückliche Weise in der kartesischen Suche nach unzweifelhaften Eindeutigkeiten: Das neuzeitliche Subjekt formt und bearbeitet, was es als objektiv gegeben ansieht, und zwar ausgerichtet an scheinbar universalen Zielvorgaben. Das Fremdartige wird einer Vorstellung unterjocht, die als fortschrittlich gilt und vermeintlich den klaren Konturen einer sicheren Weltordnung entspringt. Das eigene Verständnis von Gut und Böse setzt klare Grenzen, es rettet das Selbst vor zermürbender Unsicherheit. Eine Erfahrung jedoch, die so etwas zulässt, wie die Erfahrung des Fremden, so Waldenfels (1990, 64), »muß auf gewisse Weise sich selbst fremd werden, so daß man Erfahrungen macht und nicht nur solche sammelt« [H. i. O.]. Eine solche Erfahrung entspringt dem Dialog, der, wenn man sich auf ihn einlässt, einen Zwischenraum eröffnet, der die eigenen Schranken ins Wanken bringt und einen abdriften lässt in unbekannte Gewässer. Das ist jedoch nicht leicht, denn das Gefühl, sich »auseinandergesetzt« zu erleben, ist schwer zu ertragen, es kann eine tiefgründig existenzielle Erfahrung sein. Es kann, wie Søren Kierkegaard es beschreibt, in große Verzweiflung führen, denn hier erfährt unsere Sehnsucht, das Selbst in Sicherheit zu wissen, als eine Einheit »zusammengesetzt« zu sein, eine Abfuhr. Ein so Verzweifelnder »hat nicht sein Selbst, er hat nicht sich selbst« (Kierkegaard 1986, 19). Er ist hin und her gerissen zwischen der Verzweiflung, er selbst sein zu wollen und verzweifelt sich selbst loswerden zu wollen. (vgl. ebd. 20) In dem Moment, wo Menschen außer sich sind, verlieren sie sich, im Englischen heißt es dann treffend »they have lost it«. Der Selbstverlust lebt in Extremen: im Klammern an Ordnungen, Prinzipien, Vorstellungen von Richtig und Falsch so184 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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wie an einem Rückzug in die vermeintlich sichere Festung des Eigenen. Beides zeigte sich deutlich in der Fallstudie: Die Polizisten setzen klare Grenzen, sie sehen sich in der Pflicht, dem Chaos ein Ende zu bereiten, dazu machen sie sich hart und unberührbar. Die unbeteiligten Beobachter finden rationale Erklärungen, stocksteif sitzen sie auf ihren Stühlen, blicken starr in eine Richtung, erleben alles wie betäubt, als hätte es nichts mit ihnen zu tun. Bei der Inuk ist es umgekehrt: sie verlor die Haltung der schützenden Selbstkontrolle und stürzte in die Schrankenlosigkeit. An beiden extremen Enden ist kein Dialog und keine Begegnung mehr möglich, weder mit sich noch mit dem anderen. Damit ist der Weg der Selbstsorge versperrt – obwohl sie gerade jetzt am dringendsten nötig wäre. Dieses Kapitel will auf die existenzielle Bedeutung der Dialogizität des Menschen für die Selbstsorge aufmerksam machen. Hier zeigt sich in besonderer Weise, wie eng das zwischenmenschliche Miteinander mit der Identität eines Menschen verflochten ist, denn Menschsein konstituiert sich immer in Bezogenheit. Dies hat Auswirkungen auf das Verständnis des Selbst, das sich als dialogisch-offene Einheit, als in sich relational-bezügliches Selbst – man könnte auch sagen als »Intersubjekt« (Elberfeld 2011a, 37) – herauskristallisiert. Als solches muss es einen Weg finden zwischen Totalität und Fragmentierung, der auch nur dialogisch zu beschreiten ist. Die Sorge um sich selbst kann sich nur in einem intermediären Wechselspiel ereignen, das nur gelingt, wenn es mehrere Spieler gibt, die sich darauf einlassen. 167 Sie vollzieht sich an einem Ort, der sich zwischen mir und einem anderen auftut, der aber weder mir noch dem anderen gehört oder aus mir allein heraus zu betreten wäre. Der Dialog verlangt von mir sowohl eine selbstbewusst-eigensinnige Position als auch eine freimütige Offenheit dem anderen gegenüber: Ich muss sprechen und hören, geben und nehmen. Hier passiert etwas seltsam Widersprüchliches: Das mutige Einbringen einer festen Position macht diese weich und wandelbar, und gerade meine Offenheit in der Auseinandersetzung hilft mir, Konturen einer klaren Position zu 167 Foucault betont, »daß man, um die Wahrheit über sich selbst zu sagen und sich selbst zu erkennen, einen anderen braucht« [H. B. S.] (Foucault 2010, 19). Dieser andere benötigt eine bestimmte Qualifikation, die aber nicht durch einen Beruf oder über eine Institution gewährleistet sei (hier drängt sich beispielsweise der Pädagoge, der Arzt, der Beichtvater, der Politiker/Mentor auf). Für diesen anderen muss vielmehr die Parrhesia wesentlich sein – nur im Dialog mit einem solchen wahrsprechenden Gegenüber kann sich das Individuum als Subjekt konstituieren.

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gewinnen. Denn ich setze meine Überzeugung Anderem aus und lasse sie formen; zugleich muss ich mich meiner selbst vergewissern, Klarheit finden und Stellung beziehen. Selbstsorge im Sinne einer immer neuen Transformation meint also nicht Auflösung, sondern die Entwicklung und Verdichtung personaler Identität.

4.2.1 Der zwischenmenschliche Dialog, das Hören und die Transformation des Selbst »Es gibt kein Ich an sich«, schreibt Martin Buber (1995, 4) und fährt fort: »sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es. Wenn der Mensch Ich spricht, meint er eins von beiden.« (ebd.) Ein Grundwort für zwei, die sich begegnen. Menschliches Leben ist nur in Beziehung denkbar. Mit den beiden »Grundworten« Ich-Du und Ich-Es unterscheidet Buber zwischen zwei Haltungen, die der Mensch der Welt gegenüber einnehmen kann. Beide sind auf ihre je eigene Weise untrennbar mit dem Menschsein verbunden, denn beide sind unerlässlich für ein »gesundes« Leben. IchEs ist die Grundlage dafür, dass wir etwas verstehen, begreifen, einordnen und erklären, auch uns selbst in der Welt verorten können. In Ich-Es begrenzen wir, wir ordnen, kategorisieren und legen fest. So haben wir uns selbst und das Leben im Griff, es ist berechenbar und vorhersehbar. Es ist dadurch, dass es grenzt. »Wo aber Du gesprochen wird, ist kein Etwas. Du grenzt nicht.« (ebd.) Die Erfahrung 168 von etwas vollzieht sich in einem Menschen, sie ist gleichsam monologisch eingeschlossen und einseitig: Ich erfahre etwas als etwas, ohne dass dies etwas mit mir zu tun haben müsste oder etwas in mir bewirken würde. Es bleibt außen vor. Auch die von mir erfahrene Welt hat keinen Anteil daran, »es geht sie nichts an, denn sie tut nichts dazu, und ihr widerfährt nichts davon« (ebd., 6). Ich »nehme« mir die Erfahrung, oder ich lasse es bleiben. Anders ist das mit dem beziehungsstiftenden Grundwort Ich-Du:

168 Der Erfahrungsbegriff bei Buber hat instrumentellen, eher utilitaristischen Charakter. Er benutzt ihn, um einen monologischen Zugang zur Welt im Sinne von Ich-Es zu beschreiben: »Der Erfahrende hat keinen Anteil an der Welt. Die Erfahrung ist ja ›in ihm‹ und nicht zwischen ihm und der Welt.« (ebd., 6) Demgegenüber steht das Wort »Beziehung«, das der Schlüsselbegriff für Ich-Du bzw. für einen dialogischen Zugang darstellt.

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Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen, keine Phantasie; und das Gedächtnis selber verwandelt sich, da es aus der Einzelung in die Ganzheit stürzt. Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme; und die Sehnsucht selbst verwandelt sich, da sie aus dem Traum in die Erscheinung stürzt. Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung. (ebd., 12)

Das Leben in Beziehung ist Umformung, Wandlung. Eine der bekanntesten Stellen bei Buber lautet: »Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du.« Wenn in Ich-Du nicht nur meine Meinung von der Welt, meine »Begrifflichkeit, Vorwissen und Phantasie«, auf dem Spiel stehen, sondern ich mich selbst aufs Spiel setze, kann ich schnell konfrontiert sein mit großen Ängsten vor Selbstauflösung und Weltverlust. Deshalb wohl ist jedem Du, so Buber, »seinem Wesen nach verhängt, Ding zu werden oder doch immer wieder in die Dinghaftigkeit einzugehen« (ebd., 18). Im Koordinatensystem des Es finden wir Zuflucht, hier erhält alles »seinen Platz, seinen Ablauf, seine Meßbarkeit, seine Bedingtheit« (ebd., 30). Wichtig ist, dass Buber nicht nur die topografisch–räumliche Ordnung im Blick hat, sondern auch die zeitliche: »insofern der Mensch sich an den Dingen genügen läßt, die er erfährt und gebraucht, lebt er in der Vergangenheit, und sein Augenblick ist ohne Präsenz« (ebd., 13). Auch die Vergangenheit lässt sich festlegen in Formen der gegenständlichen Erinnerung. In ihrer Geschichte über das Gewesene erklären Menschen das Heute. Identitäten werden wie Gegenstände festgelegt – Wesenheiten dagegen »werden in der Gegenwart gelebt« (ebd.). Hier wird die Gegenwart nicht eingereiht in die Geschichte, sie ist nicht bloß das »Flüchtige und Vorübergleitende, sondern das Gegenwartende und Gegenwährende« (ebd.). »Zeit ist nicht«, schreibt Rolf Elberfeld (2004, 337) ganz ähnlich in seinen phänomenologischen Untersuchungen der Zeit im Buddhismus und führt aus: »Sie ist nicht, da sie weder etwas Eigenständiges noch ›Etwas‹ an etwas anderem ist.« [H. i. O.] (ebd.) – Du grenzt nicht, das, was einem im Dialog widerfährt, lässt sich nicht kategorisieren und einordnen. Zeit ist hier nicht mehr einteilbar oder messbar. »Denn ›meßbar‹ ist nur ›etwas‹, das sich isolieren läßt und als selbständige Größe erfaßbar ist.« (ebd.) Sehr schön vermag dies auch Hermann Hesse in Siddhartha zum Ausdruck zu bringen: Vom Fluss könne man jenes Geheime lernen, »daß es keine Zeit gibt« (Hesse 1974, 87). Der Fluss sei überall zugleich: »am Ursprung und an der Mündung, 187 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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am Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall zugleich« (ebd.). Für ihn gebe es nur Gegenwart, nicht den Schatten der Vergangenheit, nicht den Schatten der Zukunft. So haben weder Ich noch Du in Ich-Du einen eigenen Stand im Sinne einer abgetrennten, substantiellen Entität. Hier geht es nicht darum, die Gewordenheit des anderen, also was oder wer er ist, zu erklären, sondern achtsam gegenwärtig zu sein, um wahrnehmen zu können, wie sich der andere im Hier und Jetzt zeigt – und was dieses Zeigen mit mir zu tun hat und in mir anstößt: »so finde ich den Menschen, zu dem ich Du sage, nicht in einem Irgendwann und Irgendwo vor« (ebd., 9), sondern in einem Zwischenreich, das nie einseitig gehabt oder behalten werden kann. »Gegenwart läßt das anwesen, was ist«, schreibt Elberfeld (2004, 338). Das, was sich hier als anwesend aufdrängt, kann aber oft nur schwer ausgehalten werden – die Minuten während des Ausbruchs der Frau zogen sich ewig, sie schienen kein Ende zu nehmen, die Zeit überforderte und wurde zur Qual; die Menschen wollten, dass der Spuk endlich ein Ende hat, dass es »vorbei« geht. Hilflos blickten sie zur Uhr, sie wollten raus aus Raum und Zeit. Wir sind bestrebt, die Gegenwart zu überwinden, um unser Leben in der Vergangenheit einzurichten und unsere Zukunft danach auszurichten. Vielleicht versuchen und versuchten Menschen deshalb seit jeher das Phänomen der Zeit aufzuteilen, einzuteilen, um selbst darin nicht unterzugehen. So verwundert es nicht, dass das Setting der Truth and Reconciliation Hearings räumlich und zeitlich »begrenzt« und reglementiert war, dass es eine klare »Agenda« gab und dass die Organisatoren im Rahmen ihrer eigenen Vorgaben überfordert waren mit einer Wahrheit, die sich an keine dieser Setzungen hielt, sie sahen sich überwältigt von den Geistern, die sie riefen. 169 Es ist allerdings wichtig zu sehen, dass Buber betont, das Grundwort Ich-Es sei nicht von Übel (ebd., 44). Nur wenn der Mensch sich ihm hingibt, »es walten läßt, überwuchert ihn die unablässig wachsende Eswelt, entwirklicht sich ihm das eigne Ich« (ebd.). Die sinnstiftende Bändigung einer überwältigenden Vielfalt und Dynamik der 169 Ver-rückt an dem Setting der Hearings in Inuvik war die Tatsache, dass die Inuit eine völlig andere Vorstellung von Zeit haben: Nicht die Zeit diktiert das Leben, sondern das Leben die Zeit. (vgl. Schellhammer 2019, o. S.) Die Organisatoren der Anhörungen haben diesen tiefgründig-existenziellen Unterschieden von Erfahrungswirklichkeit nur bedingt, nämlich nur im Rahmen ihrer eigenen Ordnungsvorstellungen, Rechnung getragen.

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Eindrücke zwischenmenschlicher Begegnungen ist wichtig, um Leben gestalten zu können und sich nicht gleichsam autistisch überfordert in sich selbst zurückziehen zu müssen, strengen Ritualen folgend, um überleben zu können. Das beginnt schon bei der Sprache, die die Welt ordnet, ohne dabei je die Weltordnung erfassen zu können 170, und zeigt sich daran, dass der Vollzug des Wahrsprechens im Sharing Circle bestimmten Prinzipien folgt – und folgen muss, damit es funktioniert (vgl. Llewellyn 2008, 196). Denn der Dialog braucht Ausdrucksformen, Rahmungen und Vehikel, um Bedeutungen transportieren zu können, und einen Ort, der gestaltet werden will. Dazu gehört – gerade wenn es um das frei-mutige Mit-Teilen geht –, vor allem Ich-Du-Momenten geflissentlich einen sicheren Raum zu geben. 171 Buber schreibt, mit-menschliches Leben sei seinem Wesen nach ein Schwingen zwischen Du und Es (vgl. Buber 1995, 50). Dieses Schwingen drückt sich auch in der dialogischen Bewegung der Selbstsorge aus: Auf der einen Seite gilt es, sich aufzumachen und in Beziehung zu treten: mit sich, den Menschen und der Welt. Auf der anderen Seite geht es darum, eine Sprache zu finden, um das dort Erlebte als Erfahrung zu fassen und sich so die Wirklichkeit zu erschließen. Das Erfassen, Begreifen, Einordnen kommt jedoch nie an ein Ende, denn nun muss es wieder zurückschwingen ins Ich-Du, um sich dort in der lebendigen Beziehung zu bewähren, und weiter bearbeitet und 170 Beim Gedanken an die »immerwährende Gegenwart« (s. o.) drohe unsere Sprache zu versagen, schreibt Elberfeld (2004, 338): »Sprechen wir von ›der Gegenwart‹, so ist sie bereits durch den bestimmten Artikel und die substantivierte Form als eigenständiges Selbstsein zum Ausdruck gebracht, was sie gerade nicht sein kann.« In der Bibel werden das Göttliche und das Menschliche durch die Macht der Zeiteinteilung mit Hilfe der Sprache getrennt. »Gott sprach: Es werde Licht!« Ab dem Moment wird die Zeit eingeteilt: In Tag und Nacht, in einen Rhythmus von sechs plus eins Wochentagen. Dabei scheint gerade das Sprechen ursächlich mit der Einteilung von Zeit zusammenzuhängen. Gott ist die ewige Anwesenheit, menschliches Sein ist zeitlich begrenzt. Wer spricht, hat Macht, schafft Wirklichkeit. Sprache prägt das Verständnis von Zeit, aber sie vermag es nicht, Gegenwärtiges, Unendliches und Ewigkeit zu fassen. 171 Auf der gesellschaftspolitischen Makro-Ebene funktioniert das Restorative-Justice Verfahren (wie andere außergerichtliche Verfahren auch) nur, weil es Gesetze, Regelungen und das reguläre Gerichtswesen gibt. Ebenso gelingt ein Mediationsgespräch oder ein Täter-Opfer-Dialog auf der Mikro-Ebene nur, wenn die Parteien vorab darüber sprechen, wie sie miteinander sprechen wollen und sich gemeinsam auf Gesprächsregeln einigen. In beiden Fällen wird so ein sicherer Rahmen für den Dialog geschaffen.

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verändert zu werden. »Ohne Es kann der Mensch nicht leben«, schreibt Buber und fährt fort: »Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch.« (ebd., 34) Foucault grenzt das Wahrsprechen scharf von der Kunst antiker Rhetorik ab. Dabei betont er, dass die Rhetorik »im Grunde eine Technik ist, die die Art und Weise betrifft, die Dinge zu sagen, die aber keinesfalls die Beziehungen zwischen dem Sprechenden und dem, was er sagt, festlegt« (Foucault 2010, 29). Dabei kann der Sprecher sich völlig von sich distanzieren, sich gleichsam hinter seiner Rede verschanzen, die mit ihm als Person nichts zu tun hat. Es geht dem Rhetoriker vor allem um die Ausübung von Macht – Foucault geht sogar so weit zu sagen, dass der Rhetoriker als geschulter Fachmann ein trickreicher Lügner sei, der die anderen vorsätzlich manipuliert und sie so im Griff hat. (vgl. ebd., 30) »[D]ie Es-Menschheit, die einer imaginiert, postuliert und propagiert«, so bringt dies Buber (1995, 14) ähnlich zum Ausdruck, »hat mit einer leibhaftigen Menschheit, zu der ein Mensch wahrhaft Du spricht, nichts gemein. Die edelste Fiktion ist ein Fetisch, die erhabenste Fiktivgesinnung ist ein Laster.« [H. B. S.] Ich-Du kostet, denn dieses »Grundwort« kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. »Ich-Es [dagegen] kann nie mit dem ganzen Wesen gesprochen werden« (ebd., 3). Das Wahrsprechen sei eine »Seinsweise, die mit der Tugend verwandt ist« [H. B. S.], schreibt Foucault (2010, 31). Eine Tugend ist keine Kompetenz, die technisch erlernt, dem Selbst gleichsam angeheftet werden könnte, sie sei vielmehr eine Sache des Charakters, die tief im menschlichen Miteinander wurzelt. Ich werde nur am Du, wenn ich mich freimütig aussetze, wenn ich Ich werdend Du spreche, und mich wie ein Stein im Meer von den Bewegungen des Zwischenmenschlichen schleifen lasse. Gerade im Umgang mit Fremdem zeigt sich, wie verhängnisvoll es ist, wenn man es nicht aushält, irritiert zu sein und nicht zu wissen, wie man sich verhalten soll. Selbstsorge heißt dann vor allem, sich darin zu üben, die eigene Hilflosigkeit zu ertragen. Denn sonst besteht leicht die Gefahr, dass man überkompensiert, wenn einen die Fremdartigkeit der Situation zu sehr bedrängt. Der Versuch zu begreifen, verkommt dann zu einem Zangen- oder Würgegriff, der bald schon nach einem selbst greift. Die Angst vor »Überfremdung« führt in Selbstentfremdung. So kann sich das Schwingen auch zwischen den Extremen einpendeln – die Ordnung der Eswelt kann Menschen die Freiheit und Lebendigkeit nehmen, die sie brauchen, um sich 190 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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selbst zu entfalten und dem anderen wahrhaftig und nicht nur »funktional« oder durch den Blick stereotyper Vorurteile zu begegnen. Buber spricht von »kranken Zeiten«, in welchen »die Eswelt nicht mehr von den Zuflüssen der Duwelt als von lebendigen Strömen durchzogen und befruchtet: – abgetrennt und stockend, ein riesenmächtiges Sumpfphantom, den Menschen übermächtigt.« (ebd., 52) Monologische Erklärungen über den anderen erschaffen ein Phantom, eine leblose Wirklichkeit, in der sich Fronten verhärten und Muster bilden, aus denen es so leicht kein Entrinnen gibt. »Indem sich [der Mensch] mit einer Welt von Gegenständen, die ihm nicht mehr zur Gegenwart werden, abfindet, erliegt er ihr.« Unmerklich wird man dann ein Rädchen im Getriebe, das gleichförmig im Takt läuft und dadurch den status quo des systemischen Tanzes aufrechterhält. Das gilt auch für alle abstrakten Theorien, die monologisch verbohrt an ihren eigenen Definitionen festhalten, ohne sie offen einer Bewährungsprobe im Vollzug des lebendigen Mitseins auszusetzen. »Halte keine philosophische These für gut begründet, an deren Zustandekommen nur Menschen einer einzigen kulturellen Tradition beteiligt waren« – so lautet die Minimalregel für die Praxis interkulturellen Philosophierens von Franz Martin Wimmer (2004, 51). Dabei ist hervorzuheben, dass Wimmer von Praxis spricht: d. h. Philosophie bzw. die Entwicklung einer bestimmten Vorstellung von Wirklichkeit ist kein rein denkerischer Akt, der abgeschieden und allein vollzogen werden kann. Er muss vielmehr alle Dimensionen menschlichen Seins umfassen. Gerade im Dialog, in der zwischenmenschlichen Begegnung, sind all diese Facetten menschlichen Erlebens lebendig. Auch hier zeigt sich, wie sehr Ich-Du und Ich-Es aufeinander verwiesen sind. Denn die große Herausforderung besteht darin, das, was man erlebt, gefühlt und vielleicht sogar verstanden hat, so in Worte zu fassen, d. h. in Sprache zu überführen, dass es dadurch nicht zerstört wird, dass man Fremdem darin noch genug Raum gibt, sein zu können, sich zu öffnen und nicht erdrückt zu werden. »Ist es möglich«, fragt Rolf Elberfeld (2004, 338), »daß uns die Sprache selbst in die ›Gegenwärtigkeit‹ der Gegenwart bringt, um diese so von der Sache selbst her zur Sprache zu bringen?« In der Tat kommt es darauf an, einen Weg zur Sache selbst zu finden, um sie von dort aus zu verstehen. Bezogen auf das Fremdverstehen schlägt Geertz vor, »näher am Boden der Tatsachen« zu bleiben, also sich lebendigem Mitsein auszuliefern, um einen »Zugang zur Gedankenwelt« der anderen zu finden, »so daß wir – in einem 191 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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weiteren Sinn des Wortes – ein Gespräch mit ihnen führen können« (Geertz 1983, 35). Längere Ausflüge ins Reich des Begriffsdenkens dagegen »führen leicht zu einem Abgleiten in logische Träumereien und akademische Gedankenspiele mit formalen Symmetrien« (ebd.). Auch er scheint sich hier gefangen zu fühlen zwischen Ich-Du und Ich-Es, was er folgendermaßen zum Ausdruck bringt: Die Spannung zwischen dieser Notwendigkeit, ein fremdes Universum symbolischen Handelns zu durchdringen, und den Erfordernissen eines technischen Fortschritts in der Kulturtheorie, zwischen der Notwendigkeit zu verstehen und der Notwendigkeit zu analysieren, ist […] groß und unaufhebbar zugleich. (ebd.)

Das Eigentümliche an dieser Reise in ein fremdes Universum ist, dass es sein kann, dass man tatsächlich in die »Gegenwärtigkeit der Gegenwart« eintaucht und auf unberechenbare Weise plötzlich etwas versteht, was einem kurz zuvor noch völlig undurchsichtig erschien (vgl. ebd., 36). »Das Du begegnet mir von Gnaden«, schreibt Buber (1995, 11), »durch [taktisches, strategisches, methodisches] Suchen wird es nicht gefunden.« Dennoch, so betont er auch, ist es eine aktive »Tat meines Wesens, meine Wesenstat« (ebd.), mich Fremdem auszusetzen. Geertz (1983, 36) beschreibt dieses voraussetzungslose Sich-aussetzen als ein unbeholfenes Umhertappen. 172 Das Verstehen, das sich hier möglicherweise einstellt, kann auch implizit, sinnlich, nichtsprachlich sein. Erst wenn man versucht, es zu greifen und sich selbst begrifflich zu vergegenwärtigen, tritt es auf eine Weise in Erscheinung, dass es einem anderen gegenüber darstellbar ist und sich dessen Antwort aussetzen kann. In Anlehnung an Foucault könnte Wimmers Minimalregel vielleicht auch lauten: »Halte keine These für wahr, die nicht in einem Akt des öffentlichen Aussprechens einer Prüfung unterzogen wurde« – wie oben erwähnt, drückt sich bei Foucault die Wahrheit sogar darin aus, dass sie überaus unbequem, ja, sogar gefährlich für den Sprecher werden kann, wenn dessen Gegenüber aufgebracht und wütend reagiert. Diese Wahrheit, einmal ausgesprochen, entlädt ihren Gehalt im 172 Ähnlich beschreibt zur Lippe den Gang der ästhetischen Hermeneutik, die nicht komparativ statisch oder analytisch zu einer Kenntnis von den Dingen kommen will. Denn solche strukturellen oder analytischen Bestimmungen könnten bestenfalls »Trittsteine« oder »Handläufe« auf der Suche nach Erkenntnissen sein. Das eigentliche Nachgehen ist dagegen immer eigenes Gehen, »der gesuchten Entstehungs- und Wirkungsgeschichte nacheiferndes Tasten« (zur Lippe 2000a, 53).

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Raum des Zwischen, dort hat sie weder der Sprecher noch der Hörer im Griff – ganz im Gegenteil, sie kann beide in ihren Bann ziehen und deren Beziehung gefährden. Foucault spricht von einem »Pakt zwischen dem, der das Risiko eingeht, die Wahrheit zu sagen und dem, der bereit ist, sie zu hören« (Foucault 2010, 29), welcher im Zentrum des parrhesiastischen Spiels stehe. Dass Fremdes sich zur Wehr setzt, wird also nicht nur billigend in Kauf genommen – es ist Teil des Spiels wechselseitiger Verständigung. Auch hier zeigt sich die grundlegende Bedeutung des Dialogs bzw. des Polylogs: Ein Sprechen ist erst ein Wahrsprechen, wenn es Zuhörer gibt. Ohne die Reaktion, ohne die Antwort der Hörer, verliert sich das Gesprochene im leeren Raum. Wenn jemand für sich allein spricht, ist kein Mut von Nöten; risikoreich wird es erst, wenn er sich coram publico die Blöße gibt, sich mit seiner Wahrheit anderen aussetzt. Außerdem bleibt das Sprechen ohne Hörer einfach nur ein Sprechen, ein Wahrsprechen wird es erst, wenn es andere Wahrheiten gibt, die sich der des Sprechers zur Seite oder entgegen stellen, nur dann kann dessen Sprechen wahr sein oder als falsch überführt werden. Hier zeigt sich auch, dass der Dialog nicht zu verwechseln ist mit der dialektischen Bewegung. Im Dialog bleibt der Raum der Differenz erhalten, er wird nicht aufgehoben. 173 Die dialogische Situation lebt von den Unterschieden, Beziehung ist nicht denkbar ohne Urdistanz (vgl. Buber 1978). In ihr werden die Beteiligten auf ihre je eigene Weise verändert. Es geht dabei aber nicht um einen melioratischen Fortschritt im Sinne der Synthese. Das Wahrsprechen ist aber nicht nur riskant für Beziehungen, sondern es vermag diese auch zu heilen und zu kräftigen. 174 Jennifer 173 In diesem Zusammenhang sei auf die wichtige Kritik Charles Taylors (1997) bezüglich einer moralischen Forderung nach unbedingter Anerkennung des Anderen verwiesen. Diese Forderung hat nämlich genau das Gegenteil zur Folge: Der Andere wird in seiner Andersartigkeit gerade nicht ernst genommen, sondern als gleichgültig betrachtet. Es sei sogar erniedrigend, Objekt einer derartigen Respektsbezeugung zu sein. (vgl. ebd., 68) Bedingte Anerkennung, d. h. eigene Grenzen zu setzen, erkennt den anderen an, nicht aber eine »unbedingte« Anerkennung. Vgl. hier auch Thomas Bedorf (2010): Verkennende Anerkennung. Bedorf plädiert für einen Prozess des Anerkennens, der sein Ziel, eine andere Kultur in ihrem Sosein zu bestätigen, notwendigerweise verfehlen muss, da eine »rekognitive Differenz« nie zu überspringen sei. 174 Maurice Friedman hat sich intensiv mit der Bedeutung dialogphilosophischer Grundlagen für die Psychotherapie befasst. Er arbeitete heraus, dass die Heilung nicht einer Art »einseitiger Reparatur« bedarf, sondern sich dialogisch zwischen Therapeut und Klient vollzieht. (vgl. Friedman 1987; 2002; vgl. auch Heard 1993) Dieser Gedanke wird in so genannten »Therapeutic Communities« aufgegriffen und umgesetzt.

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Llewellyn führt aus, welche grundlegende Bedeutung das Wahrsprechen für den Prozess des Wiederherstellens und Ermöglichens von Dialog – speziell im Kontext der Truth and Reconciliation Hearings – hat. Sie erläutert, dass es dazu einer besonderen Art der Wahrheit bedarf, die sie »Relational Truth« (Llewellyn 2008, 191) nennt. While truth is important in restorative justice, and thus to achieving reconciliation, a search for the truth can actually impede restoration of relationships. Differing perspectives and experiences make the idea of one single identifiable truth on any matter problematic. Further, the search for and determination of the truth presents either/or choices that are more likely to be fractious than relationship building. [H. i. O.] (ebd.)

Bei der relationalen Wahrheit geht es weder darum, herauszufinden, wer Recht hat und wer nicht, noch ist sie zu verwechseln mit einer bloß relativen Wahrheit, die ein Wahrsprechen von vorneherein ad absurdum führen würde. Relationales Wahrsprechen heißt vielmehr, sich der Komplexität menschlichen (Mit-)Seins zu stellen, ernst zu nehmen, dass hinter jedem Menschen eine Geschichte steht und diese dessen Wirklichkeitsauffassung unweigerlich färbt. Wie bei der berühmten Erzählung von den Blinden mit dem Elefanten, geht es nicht darum, den anderen von der eigenen Wahrheit zu überzeugen, sondern gemeinsam dialogisch, also relational, wahrzusprechen – auch wenn das bedeutet, eine Aussage neben der anderen als unvereinbar stehenlassen und Widersprüche aushalten zu müssen. Der Grund für die Unfähigkeit, sich für die Wahrheit eines anderen zu öffnen – im Fall der Inuk auf ihren Schmerz sensibel zu antworten – liegt darin, dass die Andersartigkeit überfordert, weil wir sie nicht im Horizont unseres eigenen Verstehens unterbringen. Deutlich bringt dies Lisbeth Lipari auf den Punkt, wenn sie sagt, »what underlies the failure to respond to the suffering of others is the presence of alterity – the radical otherness, difference, incomprehensibility of the other, and the simple impossibility of it being otherwise. (Lipari 2009, 50) Durch den Dialog werden Unterschiede offenbar und es zeigt sich, dass gerade darin eine Gemeinsamkeit steckt: Alle müssen mit diesen Unterschieden umgehen 175, alle sind gleich verletzlich und angreifbar, 175 Auch dies bestätigt Lipari: »Suffering, like alterity, is both unique and universal, both particular and ordinary.« (ebd.) Ähnliches beschreibt Bernhard Waldenfels mit der »paradoxen Form einer Universalisierung im Plural«, die nicht zu verwechseln ist »mit jenem schlichten kulturalistischen Relativismus, der sich umso leichter tut, je mehr die Dinge an Gewicht verlieren« [H. i. O.] (Waldenfels 1997, 83–84).

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wenn sie ihre Wahrheit preisgeben, und alle erleben, wenn es ihnen gelingt, wahrhaft zuzuhören, mit jeder Geschichte die Transformation ihrer eigenen Wahrheit. Reconciliation requires a truth that is able to contain the complexities borne by our interconnectedness and interdependence. [The Truth and Reconciliation Hearing’s] concern and aim is reconciliation and, as such, it cannot afford to strip away or ignore the messiness or complexity of truth. (ebd. 191–192)

Bei all dem wird noch einmal besonders deutlich, dass die dialogische Situation Menschen vor allem vor die Herausforderung des Hörens stellt. Dabei geht es nicht vornehmlich um ein rationales Verstehen des Gesagten, sondern »einfach« um ein Zuhören als Aufnehmen des Nicht-Verstehbaren. Jacob Jenkins berichtet von einem Interview mit Mutter Teresa, in welchem der Reporter einer großen amerikanischen Radio-und Fernsehanstalt fragt, was sie in ihren Gebeten sagen würde. She responded, »I don’t say anything; I listen.« Intrigued by her reply, Dan asked, »So what then does God say?« Mother Teresa smiled and said, »He doesn’t say anything; He listens.« A moment of awkward silence hung between them. »And if you don’t understand that, she concluded, »I can’t explain it to you.« (Jenkins 2015, 107)

Dialog bedeutet für die meisten Menschen zu sprechen, sich auszudrücken, dabei Stellung zu beziehen und dem anderen von dieser Warte aus zu antworten. Durch das Sprechen markieren wir unser Revier, wir stecken den Raum ab, in dem wir uns bewegen, sagen, was wir meinen. Durch das Sprechen erhalten wir Autonomie und Macht. Wir positionieren uns als Einzelperson. Häufig vernachlässigen wir dabei das Hören und vergessen, dass es ohne Hören gar kein Sprechen gäbe. Neugeborene und Kinder sind in den ersten Lebensjahren völlig dem Hören ausgeliefert. Eltern und Verwandte erklären ihnen die Welt durch Sprache. Der ontogenetische Primat des Hörens in den ersten Jahren ist wesentlich für die Entwicklung des Selbstverhältnisses. Das beginnt mit der Namensgebung und zeigt sich an vielen impliziten und expliziten Seins-Aussagen über das Kind, die vor allem von primären Bezugspersonen in dessen Leben hineingesprochen werden und dort zeitlebens – vornehmlich unbewusst – ihre Wirkung entfalten. Die Hilflosigkeit eines Kindes macht sich vor allem an dessen Sprachlosigkeit fest. Spricht es die ersten Worte, horchen alle auf – ein kleiner Mensch merkt, dass Sprechen Reaktionen 195 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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hervorruft. Kinder werden zur »Mündigkeit« erzogen, sie sollen der »Hörigkeit« entwachsen. Durch die Fähigkeit zu sprechen, brechen sie aus der elterlichen Abhängigkeit aus, mit der Mündigkeit geht die Zurechnungs- bzw. Deliktfähigkeit einher. Kinder lernen »nein« zu sagen und zu widersprechen. Gerade wenn sie dies tun, wird ihnen jedoch sehr schnell beigebracht, wo die Grenzen sind – vornehmlich durch Sprache, aber auch durch Zeichen und Gesten. Kinder werden aufgefordert, zu »gehorchen«, sich der »Ansage« der Erwachsenen ohne »Widerrede« zu beugen. Kinder müssen ruhig sein, wenn Erwachsene sprechen. Es wird ihnen die Sprechmöglichkeit versagt, der Mund verboten. In der Regel haben sanktionierende Formen des »(Ge-)Horchens« wenig mit einem Zuhören zu tun, sondern viel mehr mit einem Klarstellen der Machtverhältnisse. Die Erziehung zur Mündigkeit führt dazu, dass Menschen selbstbestimmt und frei, d. h. eigenverantwortlich leben. »Hier stehen Ich und Du einander frei gegenüber«, schreibt Buber (1995, 49), »in einer Wechselwirkung, die in keine Ursächlichkeit einbezogen und von keiner tingiert ist.« 176 Diese Maßgabe einer Mündigkeit, die sich vor allem sprachlich selbst behauptet, ist jedoch weder fraglos einfach so hinzunehmen noch stellt sie eine allgemeingültige Zielvorstellung menschlicher Entwicklung dar – denn sie ist vor allem ein Produkt westlicher Prägung. Der Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, die Fähigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und dadurch als autonomes Wesen einen eigenen Stand zu haben, wirkt beispielsweise für Inuit eher beängstigend. Sie erleben ihre Existenz als zutiefst abhängig: von den Gesetzen der Natur, vom Familienclan und von mächtigen Geistwesen und ihrem Schicksal. Eine Seinsauffassung, die grundlegend ist für alle indigenen Menschen Nordamerikas, drückt sich in einer Lakota-Redewendung aus, die oft am Ende eines Gebetes gesprochen wird: Mitákuye Oyás’in (»All my relations«), was so viel bedeutet wie: »Wir gehören alle zusammen und sind verMartin Buber ist stark vom kantischen Denken beeinflusst. Das drückt sich auch in seiner Bestimmung des Personenbegriffs aus, den er dann jedoch dialogisch weiterführt. Buber schreibt: »Das Ich des Grundworts Ich-Es erscheint als Eigenwesen und wird sich bewußt als Subjekt (des Erfahrens und Gebrauchens). Das Ich des Grundworts Ich-Du erscheint als Person und wird sich bewußt als Subjektivität (ohne abhängigen Genetiv). Eigenwesen erscheint, indem es sich gegen andere Eigenwesen absetzt. Person erscheint, indem sie zu anderen Personen in Beziehung tritt.« [H. B. S.] (Buber 1995, 60–61) 176

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bunden mit der Welt, in der wir leben« 177. In oralen Traditionen werden Ethos und Weltbild durch Geschichten, d. h. durch Zuhören, weitergegeben. Keiner konnte sich hier, anders als in der europäischen Tradition, eigenständig Wissen anlesen. Kinder lernen nicht aus Büchern, sondern von den Ältesten. 178 Ähnliches beschreibt Helmut Danner (2014, 356) im afrikanischen Kontext mit der Aussage des Kenianers John Mbiti: »Der Einzelne kann nur sagen: Ich bin, weil wir sind; und da wir sind, deshalb bin ich« [H. i. O.] und mit einem Spruch der Zulu: »Eine Person ist eine Person aufgrund anderer Personen«. Rolf Elberfeld (2011a, 33) erläutert, dass im Buddhismus die Vorstellung eines unabhängigen Personseins als Ursache des menschlichen Leids gesehen wird, die es durch Meditation, philosophische Analysen und Selbsteinsicht aufzulösen gilt. Dies bedeutet aber nicht, dass sich der langsam aus dem Leiden Herauslösende keine Reaktionen mehr zeigen kann. Vielmehr transformiert sich seine Ich-Vorstellung, die glaubt, an sich selbst und verschiedenen Dingen festhalten zu können, hin zu einem Selbst-Vollzug, der sich als Entstehen in Abhängigkeit, d. h. als grundsätzliche Beziehungshaftigkeit aller inneren und äußeren Faktoren realisiert. [H. i. O.] (ebd.)

Trotz dieser Befunde verwundert es nicht, dass der Reporter im Gespräch mit Mutter Teresa nicht so recht wusste, was er mit ihrer Darstellung des wechselseitigen Hörens anfangen sollte. Denn der Vorrang des Sprechens vor dem Hören scheint allgegenwärtig: Whether in law, politics, religion or education […], Western culture consistently places speaking at the center of the communication process. This reality is evidenced by the unmarked terms of »free speech« and »public speaking«, which require no explanation, as opposed to their counterparts that require further clarification: »free listening« and »public listening«. (Jenkins 2015, 107)

177 Vergleicht man dies mit dem »Amen« der christlichen Tradition, so drückt sich darin dagegen ein eher individuumzentriertes Weltbild aus. Die Theologische Realenzyklopädie (TRE) erläutert, Amen sei eine aus der semitischen Sprache kommende Formel und bedeute »so sei es« oder »so ist es«. (TRE 1978, 386) 178 Ein Inuk Ältester beschreibt seinen Wechsel vom nomadischen Leben »auf dem Land« zu einem »zivilisierten« Leben nach westlichem Vorbild in einem Haus wie folgt: »I do not like having so many rooms. It doesn’t feel good to have the children in another room […]. Now my children do not learn my thoughts or my stories. We do not talk as we would have on the land, in the igloo. It is because of the walls. Everyone goes to a different room. We do not talk all together anymore.« (Tookoome/Oberman 1999, 53)

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Das Hören geht bei all dem Reden häufig unter. Mühsam müssen wir es in Projekten partizipativer Zusammenarbeit einüben – wie schwer das ist, zeigte sich deutlich während der Truth and Reconciliation Hearings. Trotz des gut gemeinten, ausführlich begründeten und öffentlich propagierten Vorhabens zu »hören«, fiel es den Menschen unsäglich schwer, dem eigenen Nichtverstehen, dem Außerordentlichen, Widerständigen Gehör zu schenken. Manchmal hat es beinahe den Anschein, als würde vor allem im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit die ständige Hervorhebung der Bedeutung partizipativen Handelns die Sprecher davor bewahren, tatsächlich zuhören zu müssen. Dabei steht zu vermuten, dass deren überschwängliche Rede von Beteiligung, Mitsprache und Emanzipation auf die Sprecher vielleicht sogar betäubend wirkt und zugleich ihre Adressaten paternalistisch knebelt. Dies könnte auch daran liegen, dass im Kontext einer dialogischen Ethik vor allem der Antwortfähigkeit besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, das Zuhören tritt eher in den Hintergrund – obwohl es dem Antworten immer schon vorausgeht. Dies stellt auch Lisbeth Lipari (2009) in ihrem bemerkenswerten Aufsatz Listening Otherwise: The Voice of Ethics fest. Darin zeigt sie, dass ethische Verantwortung aus einem Hören erwächst, das sich verpflichtet fühlt, Fremdem einen Resonanzraum im Eigenen zu öffnen – bevor die Antwort erfolgt. Damit meint sie, nicht nur das zu hören, was man versteht, sondern vor allem auch das, was man nicht versteht. 179 Dieses Hören nennt sie Listening Otherwise: The ethics that emerges from this kind of listening arises from intentionally engaging with what is unfamiliar, strange, and not already understood. In its reception of otherness, the listening otherwise that gives rise to ethics is a profoundly difficult way of being in the world because it by necessity disrupts the sameness and familiarity of the always already known. […] [It is] a listening that is awakened and attuned to the sounds of difference rather than to the sound of sameness. (Lipari 2009, 45)

»Wie die Melodie nicht aus Tönen sich zusammensetzt«, schreibt Buber (1995, 9), »so der Mensch, zu dem ich Du sage«. Vergegenwärtigung heißt Innehalten, hellhörig sein und mit allen Sinnen aufnehmen, was sich mir zeigt. Das Hören erzeugt innere Klänge und Bilder, die aus der Begrenzung des Sehens äußerer Gegenstände ausbrechen, 179 Dass dies ein Problem sein könnte, wusste bereits Johann Wolfgang v. Goethe, der bemerkt: »Es hört doch jeder nur, was er versteht«. (Goethe 1907/2003, 163)

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weil sie zusammenklingen und bewegen. Sie sind fragil und flüchtig, sie lassen uns aufhorchen und wachsam umsehen. Wir spüren, dass es mehr gibt, als das, was offenkundig vor uns liegt. Dieses umfassende Hören vermag auch über Sprachgrenzen hinweg Stimmungen, Gefühle, Bewegungen oder Gedanken des anderen zu erahnen. Gerade das Unklare der ästhetischen Erkenntnis ist ihr Mittel, einer Wahrheit innezuwerden, schreibt zur Lippe (2000a, 24). Das Hören einer Melodie macht es schwer, noch einzelne Töne wahrzunehmen. 180 Darin steckt eine wichtige Erkenntnis im Umgang mit Fremdem. Denn »nur einen Teil eines Wesens kann man hassen«, schreibt Buber (1995, 16). In der reduktionistischen Festlegung eines Menschen auf nur wenige Aspekte seines Selbst steckt ein gehöriges Gewaltpotential. Allzu leicht werden Menschen beispielsweise auf ihre sexuelle Orientierung, ihre Religionszugehörigkeit oder irgendein hervorstechendes Stigma reduziert und entsprechend be- oder verurteilt. (vgl. Sen 2007, Maalouf 2000) Navid Kermani (2009, 26) nennt dies treffend eine »reale Verstümmelung der Persönlichkeit«. Identität sei per se etwas Vereinfachendes, etwas Einschränkendes: eine Festlegung dessen, was in Wirklichkeit vielfältiger, ambivalenter, durchlässiger ist. Er führt aus: Ich sage von mir: Ich bin Muslim. Der Satz ist wahr, und zugleich blende ich damit tausend andere Dinge aus, die ich auch bin und die meiner Religionszugehörigkeit widersprechen können – ich schreibe zum Beispiel freizügige Bücher über die körperliche Liebe oder bejahe die Freiheit zur Homosexualität. Das ist ein Widerspruch. (ebd., 17)

In seinem Buch Der Klang nimmt der Geigenbauer Martin Schleske ähnlich wie Buber das Motiv eines klingenden Instruments auf, um auf die nicht rational zu erfassende, »unerhörte« Dimension (zwischen-)menschlichen Seins hinzuweisen. Er schreibt, dass das Geheimnis der Klangfarben einer Geige die für ihre Akustik wesentlichen Eigenschwingungen sind. Diese werden gerade dann besonders reizvoll, wenn sie aus Widersprüchen, Gegensätzen und Brüchen entDie Metapher der Melodie als eine Form der Hörens, die es vermag, aus der Vielheit eine Einheit zu schaffen, findet sich, wie Rolf Elberfeld herausarbeitet, an mehreren Orten in der Philosophiegeschichte. Er erwähnt Kitarō Nishida und Johannes Scotus Eriugena und resümiert: »Das Vereinigte besteht in seiner Verschiedenheit, aber dennoch in Einheit. Einheit ist somit dasjenige, was in sich die Verschiedenheit zur vollen Geltung kommen lässt. Einheit ist gerade nicht Einerleiheit und einfache Vermischung. Einheit ist hier der Zusammenklang der Verschiedenheit.« [H. i. O.] (Elberfeld 2010a, 46) 180

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stehen: »Sie spannen den Klangraum erst auf. Ein faszinierender Klang kommt immer aus der Mehrdeutigkeit.« (Schleske 2014, 84– 85) Ohne dass ich je verstehen müsste, wie dieser Klang zustande kommt, wie er sich zusammensetzt oder was sein Geheimnis ist, kann er, wenn ich mich ihm hörend öffne, etwas in mir zum Klingen bringen, das aus mir allein heraus so nicht möglich gewesen wäre. Das kann jedoch bedeuten, dass dabei etwas in mir aufbricht, das mich verändert, ohne dass ich dies im Griff hätte. Insofern erfordert wahrhaftes Zuhören Mut – in Anlehnung an Kant könnte man formulieren: Habe den Mut, dich nicht deines eigenen Verstandes zu bedienen, sondern zu hören! Das so verstandene Hören von etwas Unbegreiflichem ist schwer, denn mit dem Nichtverstehen schwindet die räumliche und zeitliche Ordnung, an die wir uns noch klammern könnten. 181 So hören wir von einem Ort aus, an dem wir nichts mehr haben, außer der Wahrnehmung von uns selbst als ein Selbst, das sich nicht mehr hat. »Das Antlitz [des Anderen] ist gegenwärtig in seiner Weigerung, enthalten zu sein«, schreibt Lévinas (1993, 277). Es weigert sich, in dem, was wir wissen und verstehen, begriffen zu werden. Der Andere ist nicht einmal anders im Sinne einer relativen Andersheit, sondern einfach nur »unendlich transzendent, unendlich fremd« (ebd., 278). Damit sprengt das absolut Differente die eigenen Kategorien und fordert uns auf, neue Töne anzuschlagen, auf bislang ungehörte Weise neu zu schwingen und in der Unterschiedlichkeit zusammenzuklingen – ohne zu wissen, welche Melodie dabei herauskommt. Erst diese Fragilität und Schwäche macht empfänglich für die Stimme des Anderen. (vgl. Han 2016, 71) Denn die Stimme des ethischen Anspruchs spricht nicht aus einer universalen Idee des Guten, dem tugendhaften Charakter, allgemeingültigen Prinzipien oder utilitaristischen Erwägungen. Sie regt sich in einem unsicheren Zwischenreich, wo es nicht um schon bereits durchdachte Antworten geht, die dem eigenen (Geworden-)Sein und dem eigenen Weltverstehen entsprechen. Sie entspringt einem Raum

181 Um deutlich zu machen, dass das Verständnis einer Kultur sich nicht auf das Sammeln von Daten und Fakten beschränken kann, zieht auch Clifford Geertz das Beispiel des Geigenspiels heran: »Zum Geigenspielen braucht man bestimmte Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnisse und Talente, die Lust zum Spielen und (wie der alte Witz nun mal sagt) eine Geige. Aber Geigenspiel erschöpft sich weder in den Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnissen usw. noch auch in der Lust oder in der Geige.« (Geertz 1983, 18)

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zwischenmenschlicher Erfahrung, der sich zwischen nicht zu überwindenden Unterschieden wie ein Klangkörper öffnet, in dem Vertrautes und Unbekanntes, Fremdes und Eigenes zusammenklingen. (vgl. Lipari 2009, 45) Es sei keine Frage, »whether or not the voice of ethics speaks, for the voice is always speaking. The question is whether we are listening.« (ebd.) In diesem Ausgesetztsein ist es schwer, mit einer anderen Person die eigene Wahrheit zu teilen, weil man nicht weiß, was sie hört und wie sie mit dem Gehörten umgeht; und weil es schwer ist, auf sich selbst zu hören und das in sich Vernommene in Worte zu fassen. Eva Hoffman (1989, 279) beschreibt diese Schwierigkeiten aus der Erfahrung ihres migrationsgeschichtlichen Lebens zwischen den Welten wie folgt: It’s difficult to tell the truth to another person. The self is a complicated mechanism, and to speak it forth honestly requires not only sincerity but the agility to catch insight on the wing and the artistry to give it accurate words. It also requires a listener who can catch our nuances as they fly by. Spoken truth shrivels when it falls on a tin ear.

»Das Zuhören lädt den Anderen zum Sprechen ein«, schreibt Han (2016, 93–94) »[es] befreit ihn zu seiner Andersheit«. Das ist die Kunst, die es zu kultivieren gilt, um fremdheitsfähig zu werden: zu hören, ohne zu meinen, man müsste etwas verstehen, um den anderen verstehen zu können. Das vermeintliche Verstehen dagegen, in der Regel Empathie genannt, kann nämlich durchaus gewaltvoll sein und den Dialog zerstören, denn es reduziert das Irreduzible auf mein Verstehen – mit tatsächlichem Mitfühlen hat das kaum noch etwas zu tun. I can be empathic or intuitive in our relationship, but unless I swing boldly and wholeheartedly in your direction, I will not make you fully present to me. Any lesser action on my part will result in my including you in part: keeping you at a distance by way of distraction or disinterest. (Friedman 2002, 18)

So kommt Niels Weidtmann in seiner Auseinandersetzung mit der Waldenfels’schen Phänomenologie des Fremden zum Schluss: »Eine Philosophie der Interkulturalität muss sich deshalb vor aller Sachkenntnis auf das Wagnis einer Befremdung einlassen, die vor der Vernunft nicht halt macht.« [H. B. S.] (Weidtmann 2011, 267) Selbstsorge in diesem Sinne heißt also nicht nur wissend und mündig, sondern auch zurückhaltend und auf vorsichtig positive Weise »hörig« zu 201 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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sein. 182 Beides ist wichtig – denn es wäre ebenso falsch zu meinen, man müsse das eigene Sein abtun, um ganz beim anderen sein zu können. Denn selbst wenn ich versuche, eine Situation aus der Perspektive eines anderen zu betrachten, mich in ihn oder sie einzufühlen, stecke ich doch immer in meiner eigenen Haut. Hier zeigt sich die Zweipoligkeit der Selbstsorge, die sich in der Kunst ausdrückt, gleichzeitig bei sich und beim anderen zu sein, sich zugleich in Mündigkeit und »Hörigkeit« zu üben. Waldenfels würde dem allerdings nur bedingt zustimmen, denn er meint zwar, das Antworten schließe ein Hören auf die Stimme des Fremden ein, nicht aber die Hörigkeit. Er begründet dies mit der Aussage: »Antworten, die wir geben, sind zu erfinden, nicht bloß wiederzufinden« (Waldenfels 1997, 84). Bereits im nächsten Satz schränkt er dies jedoch wieder ein, wenn er ergänzt, dass das, worauf wir zu antworten hätten, nicht in unserer Hand läge und nicht unserer freien Erfindung entstamme. Obwohl sich dieser Gedanke der prinzipiellen Bedingtheit des Eigenen durch Fremdes durch sein gesamtes Werk zieht, scheint auch er dem Antworten mehr Raum zu geben als dem Hören. Die knappe Bemerkung, dass das Antworten das Hören einschließe, scheint dafür symptomatisch. 183 Eins steht fest: Ein Hören, das die Andersartigkeit des Anderen ernst nimmt, darf nicht »erfinderisch« sein (dass es das ohnehin immer schon ist, hat der Konstruktivismus unmissverständlich gezeigt) – die Antwort hingegen schon. Deshalb müssen das Hören und das Antworten so gut wie möglich voneinander unterschieden werden – auch wenn sie nie ganz zu trennen sind. Während nämlich die Haltung des Hörens noch viel stärker in der ästhetischen Un-Ordnung des Ich-Du wurzelt (vgl. zur Lippe 2000a, 22 ff.), ist das Ant182 In diesem Zusammenhang sei in Erinnerung gerufen, dass Selbstsorge als therapeia auch »dienen« oder »Dienerschaft« bedeutet. Dies hat jedoch nichts mit einer passiv-unreflektierten Gefügigkeit oder Willfährigkeit zu tun. Die hier gemeinte Hörigkeit zeichnet sich gerade dadurch aus, nicht passiv hörig zu sein, sondern die paradoxe Spannung einer bewussten Selbstzurücknahme zu kultivieren, sich bewusst abhängig zu machen. Gäbe man diese Spannung auf, verlöre man entweder die Fähigkeit zu hören oder fiele in Formen der Hörigkeit im herkömmlichen, negativen Sinne. 183 Man muss ihm jedoch zugutehalten, dass er in Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden schreibt: »Das Antworten beginnt nicht mit dem Reden über etwas, es beginnt überhaupt nicht mit dem Reden, sondern mit dem Hinsehen und Hinhören, das eine eigene Form der Unausweichlichkeit aufweist.« [H. B. S.] (Waldenfels 2016, 60) Man sucht jedoch vergeblich nach konkreten Hinweisen darauf, was genau dieses Hören impliziert und wie es gelingen könnte.

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worten bereits durchsetzt von der Klarheit eines Denkens in den Kategorien des Eigenen. Deshalb ist das »Hörigsein« vielleicht auch im Sinne des »unbeholfenen Umhertappens« von Geertz (1983, 36) nicht von vorneherein abzulehnen, denn es beschreibt ein Sich-selbst-zurücknehmen, das weder reaktiv, noch aktiv oder kreativ sein will, sondern sich einfach nur einlässt, vielleicht auch bewusst dem anderen in Abhängigkeit »gehörig« ist, bevor eine Antwort erfolgt. 184 Es liegt auf der Hand, dass dieses Hören nie bloß eine Technik sein kann, die sich nebenbei erlernen ließe, sondern den ganzen Menschen in Anspruch nimmt, der sich in diesem selbst-losen Hören lebenslang üben muss. »Obedient Listening« nennt Maurice Friedman (2002, 17) diese Tugend, die sich nicht auf »ready-made categories« stützt, sondern auf radikales Mitsein. 185 Dieses Üben kann sich nur gegenwartsbezogen in konkreten Begegnungsereignissen vollziehen, in welchen schmerzhaft spürbar wird, dass man nie völlig die Kontrolle über den sich hier eröffnenden Zwischenraum hat, sondern vielmehr von ihm getragen, durchdrungen und verändert wird. Dieser Raum wird von verschiedenen Denkern je unterschiedlich pointiert beschrieben. Besonders prominent drückt er sich im Wort Interkulturalität aus. Nähme man dieses ernst, so Waldenfels (2016, 110), gelänge man zu einer Zwischensphäre, »deren intermedialer Charakter weder auf Eigenes zurückgeführt noch in ein Ganzes integriert, noch universalen Gesetzen unterworfen werden kann«. Die Scheidung in Heim- und Fremdwelt bleibt erhalten. Für Buber entsteht die Wirklichkeit im Zwischen: 184 Rolf Elberfeld vergleicht verschiedene Formen der Selbstzurücknahme und stellt dabei fest, dass es einen Grundunterschied hinsichtlich deren Funktion zwischen den Traditionen in Europa und Indien einerseits und China und Japan andererseits gibt. Während in Europa und Indien Formen der Askese dazu dienen, »sich selbst von den weltlichen Bewegungen und Veränderungen zu distanzieren« (Elberfeld 2010b, 55), d. h. sich frei zu machen von leiblich-sinnlichen Erfahrungen, um sich ganz auf das vernünftige Erkennen zu konzentrieren, geht es in China und Japan darum, »sich selbst nicht von sondern für die weltlichen Bewegungen und Veränderungen zu befreien« (ebd.). Denn – und das ist besonders wichtig im Kontext der dialogischen Haltung – nicht die weltlichen Bewegungen erschienen dort als etwas Negatives, »sondern die menschliche Unfähigkeit, sich mit diesem Wandel zu verbinden und ganz in diesen einzugehen« (ebd.). Vielleicht ist dieser Unterschied auch ein Grund dafür, dass sich Bernhard Waldenfels schwer tut mit dem Wort »Hörigkeit«. 185 Ähnlich weist Liesbeth Lipari (2010, 349) darauf hin, dass listening lt. dem Oxford English Dictionary von crusti in Sanskrit stammt, was obedience bedeutet. Zusätzlich käme das Wort von lat. audire (obedience). Im Deutschen wird hier die Verbindung von Hören und Hörigsein zusätzlich durch das Wort Gehorchen deutlich.

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»Alles wirkliche Leben ist Begegnung.« (Buber 1995, 12) Maurice Friedman (2002, 14) umschreibt dies mit dem Begriff interhuman, als die Anerkennung einer ontologischen Dimension in der zwischenmenschlichen Begegnung. Ronald Laing befasst sich insbesondere mit der »Relation zwischen meiner Erfahrung von dir und deiner Erfahrung von mir« (Laing 1977a, 12), eine Erfahrung, die er Intererfahrung nennt. Man müsse versuchen, die Erfahrung des anderen zu verstehen, auch wenn man sie nie selbst erfahren kann, weil sie als die Erfahrung des anderen für mich immer unsichtbar bleibt. Was man aber erfahren könne, ist den anderen als Erfahrenden. Lisbeth Lipari spricht vom Phänomen des Zwischenhörens und meint damit das Ineinanderfließen von Reden und Hören, das ebenso wenig getrennt werden kann, wie das Berühren vom Berührtwerden: »interlistening thus aims to describe how listening is itself a form of speaking that resonates with echoes of everything we have ever heard, thought, seen, touched, said, and read throughout our lives.« (Lipari 2014, 9) An anderer Stelle schreibt sie: The listening […] does not absorb the other into conformity with the self but instead creates a dwelling space to receive the alterity of the other, and let it resonate.« [H. B. S.] (Lipari 2012, 237) Rolf Elberfeld versucht mit dem Begriff der Internomie eine Wortschöpfung, die sich aus der fruchtbaren Verbindung japanischer Philosophie mit dem kantischen Gegensatzpaar von Autonomie und Heteronomie ergibt und neue Möglichkeiten erschließen könnte, »Menschsein, Freiheit, Würde und Personsein zu denken« (Elberfeld 2011a, 40). 186 Auch Vertreter der Systemtheorie (z. B. Niklas Luhmann, Heinz v. Förster, Gregory Bateson, Norbert Wiener, Humberto Maturana, Paul Watzlawick, Virginia Satir, u. a.) weisen auf zirkuläre Dynamiken hin, die, durch Kommunikation und Musterbildung, Sinnbezüge und eine Wirklichkeit schaffen, in welchen Menschen, die Teil dieser Systeme sind, die Erfahrung machen, zugleich autonom und fremdgesteuert zu sein. Willie Ermine, ein 186 Auch Bernhard Waldenfels erwähnt, man könne das Subjekt nur zwischen Autonomie und Heteronomie finden. Dabei handelt es sich um eine Art Interim-Position, der »in der Zwischensphäre fixe Grenzen verweigert sind« (Waldenfels 1990, 78), weil sie sich im Wechselspiel der unaufhebbaren Diskrepanz von Anspruch und Antwort permanent ändert. In der Veränderung schimmert das Veränderte jedoch immer hindurch. (vgl. ebd., 75) Peter Zima (2010) zeigt in Theorie des Subjekts, dass der Subjektbegriff als solcher zerrissen ist zwischen dem Verständnis eines »Zugrundeliegenden« und eines »Unterworfenen«. Diese Ambivalenz zeigt sich deutlich im Wandel vom idealistischen Denken zur Subjektphilosophie der Nachmoderne.

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Cree Ältester der Sturgeon Lake First Nation, beschreibt in Anlehnung an Roger Pool ein Ethical Space of Engagement, als einen Begegnungsort zwischen indigenen und westlichen »Denkwelten«: The space is initially conceptualized by the unwavering construction of difference and diversity between human communities. These are the differences that highlight uniqueness because each entity is moulded from a distinct history, knowledge tradition, philosophy, and social and political reality. With the calculated disconnection through the contrasting of their identities, and the subsequent creation of two solitudes with each claiming their own distinct and autonomous view of the world, a theoretical space between them is opened. (Ermine 2007, 194)

Zunächst scheint dieser Ort leer zu sein, da der umgrenzte, geordnete Weltbezug der Beteiligten wenig in ihn fließen lässt und auch wenig aus ihm aufnimmt – zumindest an der Oberfläche. Was unausgesprochen und kaum wahrnehmbar ist, sind die Kräfte einer tieferen Ebene der Begegnung, die Ermine mit »Tiefen- oder Unterströmungen« beschreibt: »It is this deeper level force, the underflow-become-influential 187, the enfolded dimension that needs to be acknowledged and brought to bear in the compelx situation produced by confronting knowledge […] systems.« (ebd., 195) Es gilt also, in diesen Freiraum hineinzuhören und -spüren, der alles andere als leer ist, sondern bewegt wird von Strömungen, die im Hin und Her oberflächlicher Selbstbehauptungen zwar eine Rolle spielen, aber als »Störung« leicht dem anderen zugerechnet und damit ungehört beantwortet und abgewickelt werden. Sich zwischenmenschlich bewegen lassen, sich zurücknehmen, Sinnlichkeit üben, das Hören aushalten, sind, so kann man vorläufig zusammenfassen, grundlegende Momente einer Selbstsorge, die befähigen, gegenwärtig – und nicht gleich bei einer Antwort – zu sein. 188 Dabei kann es durchaus passieren, dass es einem geht wie 187 Kenneth Gergen betont, im Raum relationaler Bezüge ginge es nicht mehr um »influence«, sondern um »confluence« – anstatt also lineare Bezüge herzustellen und so Einflüsse festzustellen und einseitig Einfluss zu nehmen, bedeutet das Leben als Relational Being ein wechselseitiges »Zusammenfließen«. (vgl. Gergen 2009, 58) 188 Dass dies vor allem auch für die Herausforderungen als Führungskraft in der Organisationsentwicklung von großer Bedeutung ist, zeigen Peter Senge u. a. (2004) in ihrem Buch Presence. Exploring Profound Change in People, Organizations, and Society. Das von Jon Kabat-Zinn entwickelte Mindfulness-Based Stress Reduction Programm hat sich als Achtsamkeitspraxis auch in der medizinisch-psychologischen Therapie bewährt.

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Heinrich Bölls Dr. Murkes, der auf völlige Verständnislosigkeit und mitleidiges Kopfschütteln trifft, weil er Schweigen sammelt: »Noch etwas«, sagte Humhoke [Dr. Murkes Chef] und zog eine gelbe Keksdose aus seinem Regal, das neben Murkes Schreibtisch stand, »was für Bandschnippel haben Sie in dieser Dose?« Murke wurde rot. »Es sind«, sagte er, »ich sammle eine bestimmte Art von Resten.« »Welche Art Reste?« fragte Humhoke. »Schweigen«, sagte Murke, »ich sammle Schweigen«. Humhoke sah in fragend an, und Murke fuhr fort: »Wenn ich Bänder zu schneiden habe, wo die Sprechenden manchmal eine Pause gemacht haben – auch Seufzer, Atemzüge, absolutes Schweigen –, das werfe ich nicht in den Abfallkorb, sondern das sammle ich. […] Humhoke fragte: »Und was machen Sie mit den Schnippeln?« »Ich klebe sie aneinander und spiele mir das Band vor, wenn ich abends zu Hause bin. Es ist noch nicht viel, ich habe erst drei Minuten – aber es wird ja auch nicht viel geschwiegen.« »Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass es verboten ist, Teile von Bändern mit nach Hause zu nehmen.« (Böll 1958, 45–46)

Dieses Schweigen ist nicht leicht zu finden – sehr leicht landet es im »Abfallkorb« und wird reduziert auf wenige Minuten, denn die damit verbundene Absichtslosigkeit und Zweckfreiheit steht einem produktiven Leben, dem schnellen Lösen von Problemen, der Suche nach Ordnung und Klarheit, scheinbar entgegen. Dennoch verweisen gerade asiatische Traditionen, aber auch spirituelle Praxen indigener Völker wie beispielsweise der Visionquest oder der Sundance Way of Life auf die große Bedeutung meditativer Übungen für die Achtsamkeit sich selbst und anderen gegenüber. Auch die geistigen Übungen der Antike machen deutlich, dass Meditation, asketische Praktiken und philosophisches Nachdenken kein egoistisch-weltverneinendes oder gar sinnloses Geschäft sind, sondern eine Lebenskunst fördern, deren vortrefflichstes Ziel es ist, über die eigenen Grenzen hinauszugehen, sich in der Auseinandersetzung mit dem anderen in die dialogische Situation hinein verändern zu lassen. (vgl. Hadot 1991; 1999; mehr dazu unten) So betont Martin Buber, dass Beziehung auch entstehen und bestehen kann, »wenn der Mensch, zu dem ich Du sage, [es] in seiner Erfahrung […] nicht vernimmt. Denn Du ist mehr, als Es weiß.« (Buber 1995, 9) Vielleicht hätte es der Inuk geholfen, wenn jemand mit ihr geweint hätte, wenn man sie ruhig ausgehalten, gelassen hätte. Dieses Aushalten und Seinlassen ist nicht zu verwechseln mit einem Zustand der Trägheit, wo man sich in den Schutz der Gleichgültigkeit hüllt. Es ist keine leichte Aufgabe, sich in Gelassenheit zu üben – vor allem im Lassen von sich selbst. Es ist, 206 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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wie Buber meint, eine Gnade, eine wohlwollende, freiwillige Zuwendung, die verdirbt, »wenn wir nicht tätig damit umgehen« (Goes 1964, 200). Schweigen kann der Mensch der Gelassenheit, und dieses Schweigen ist nicht dies: daß wir das Mahlwerk der Zähne bewegen, um lautlos das Bitterkeitskraut wiederzukäuen. Das Schweigen, das hier gemeint ist, hat zu tun mit dem geduldigen Verarbeiten der Geschehnisse, mit der Mühe, hinter den Sinn der Dinge zu kommen, mit der Bereitschaft, die »lichte Seite« nicht zu übersehen. (ebd., 197)

4.2.2 Das Selbst als Dialog Selbstsorge bedeutet vor aller Explikation dessen, wie sie vollzogen werden könnte oder sollte, grundsätzlich die Beschäftigung mit sich selbst. Damit ist nicht nur etwas darüber ausgesagt, was das Selbst tut, sondern auch, wie es verstanden werden will. Denn wenn ein Selbst sich mit sich selbst beschäftigt, muss es als in sich dialogisch gedacht werden. Kierkegaard war in gewissem Sinne seiner Zeit voraus als er formulierte: »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.« (Kierkegaard 1986, 13) Etwas anders ausgedrückt kann man mit Peter Bieri sagen, dass es Menschsein auszeichnet, »daß wir, was unsere Meinungen, Wünsche und Emotionen anlangt, nicht nur blind vor uns hinleben und uns treiben lassen müssen, sondern daß wir uns um uns selbst kümmern können« [H. i. O.] (Bieri 2011, 15). Das heißt, dass unsere Wünsche, Emotionen, etc. nicht mit dem Selbst zusammenfallen, denn selbst wenn diese unbewusst wirken, gibt es doch ein Selbst, welches sich dazu verhalten kann. Diese Erkenntnis ist natürlich nicht neu. Sie zeigt sich bekanntlich schon bei Platon, der in seiner Seelenlehre das berühmte Bild des Wagenlenkers bemüht. Dabei muss der rational-lenkende Teil der Vernunft das Pferdegespann der beiden weiteren Seelenteile, das Begehrende und das Muthafte zügeln, um den Menschen zum Guten zu führen. Nur wenn alle drei mit ihren je unterschiedlichen Eigenschaften gut zusammenarbeiten, handelt der Mensch gerecht, dann gelingt ein Leben in Harmonie und Ordnung, denn nur »[d]ie von der Vernunft regierte Seele ist eine geordnete Seele.« (Taylor 1996, 225). Auf die Weise, wie sich das Selbst zu sich selbst ver207 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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hält, verhält es sich auch zu einem anderen. (vgl. Kierkegaard 1986, 13) Hannah Arendt erwähnt, dass Sokrates entdeckte, »daß man Umgang mit sich selbst haben kann, so gut wie mit anderen, und daß beide Arten von Umgang irgendwie miteinander zusammenhängen (Arendt 1989, 187). An andere Stelle erläutert sie: »Sokrates’ Lehre hieß: Nur wer versteht, mit sich selbst zu leben, ist geeignet für das Leben mit anderen.« (Arendt 2016, 58) Es kennzeichne »schlechte Menschen«, schreibt sie ebenfalls bezugnehmend auf Sokrates, »daß sie ›mit sich selbst entzweit sind‹ (diapherontai heautois) und sich selbst fliehen; ihre Seele ist in Aufruhr gegen sich selbst (stasiazei)« (Arendt 1989, 188). Bezüglich der Dialogizität des Selbst wies Sokrates insbesondere auf die kommunikative Natur des menschlichen Bewusstseins hin – dass das Denken als inneres Zwiegespräch reflektiert werden kann, kommt in den häufig zitierten Passagen im Sophistes (263e) und im Theaitetos (189–190a) deutlich zum Ausdruck. 189 Allerdings ist auch klar, dass bei Platon das Selbst letztlich auf den vernünftigen Teil der Seele reduziert wird. Nur dieser hat die höchsten Ideen bereits geschaut, hat Anteil am Göttlichen, ist unsterblich. Diese Vorstellung spitzt sich bei Descartes noch einmal zu, der alle Erkenntnis auf das denkende Subjekt zurückführt und von diesem Standpunkt aus selbst-sicher der Welt und dem eigenen Körper begegnet. Taylor spricht hier von »Verinnerlichung«, denn bei Descartes wird die Ordnung der Vernunftherrschaft nicht »geschaut«, sondern durch das eigene Denken »verfertigt« (Taylor 1996, 230). Peter Zima (2010) zeigt, wie in der Folge auch Kant, Hegel und Fichte das Subjekt als autonome Einheit gegen alles Irrationale monistisch abgrenzen. Beispielhaft zitiert er Fichte: »Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses blossen Setzens durch sich selbst« (ebd., 103). Hier hat, das wird deutlich, Fremdes keinen Platz – zumindest nicht als gleichwertiger Dialogpartner: »ausser dem Ich ist 189 Sophistes (263e): »Also Denken und Rede sind dasselbe, nur daß das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, was ohne Stimme vor sich geht, Denken genannt worden ist.« Theaitetos (189–190a): »Was verstehst du darunter [unter Denken]? – Eine Rede, welche die Seele bei sich selbst durchgeht über dasjenige, was sie erforschen will. […] Denn so schwebt sie mir vor, daß, solange sie denkt, sie nichts anderes tut als sich unterreden, indem sie sich selbst fragt und antwortet, bejaht und verneint. […] das Vorstellen ist ein Reden, und die Vorstellung ist eine gesprochene Rede, nicht zu einem andern und mit der Stimme, sondern stillschweigend zu sich selbst.« Nach Augustinus und Blaise Pascal haben vor allem die Pragmatisten William James und George Herbert Mead diesen Gedanken weitergeführt – dazu unten mehr.

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nichts« (ebd.). Die Schwierigkeit der neuzeitlichen Subjektivität besteht vor allem darin, dass eigensinnig bestimmte Subjekte, die auf dem Boden empirischer Bedingtheiten wurzeln, in einem allgemeinen Prinzip nicht mehr vorkommen – bzw. tun sie dies nur als Subjekte, die ihre irrationale, partikulare, individuelle Existenz vernünftig überwinden (v. a. bei Hegel) oder als andersartig, fremd und primitiv negiert werden. Wie sehr der deutsche Idealismus an diesem Punkt irrte bzw. Menschsein rationalistisch überschätzte und zugleich reduzierte, muss nach Nietzsche, Freud, Jung und vielen weiteren Denkern der neuesten Zeit nicht weiter vertieft werden. Vor allem auch der linguistic turn machte deutlich, dass das Subjekt nicht autark, sondern immer auf die Vermittlung durch etwas es Ermöglichendes (Sprache, Symbole, Tradition) angewiesen ist. Selbstsorge kann keinesfalls, auch das wurde bereits klar, als rein denkerisch-vernünftiger Akt verstanden werden, denn menschliche Existenz geht wesentlich über das Vernunftvermögen hinaus. Die glatten Formen begrifflicher Systeme einer überhöhten Philosophie zerplatzen an der Wirklichkeit des Lebens, die sich leider meistens besonders deutlich und grausam in Gewalt, Krieg und Zerstörung zeigt. 190 Das Selbst hat sich nicht. Sowohl der göttliche Garant bei Platon und Descartes als auch das große Vertrauen der Idealisten in die menschliche Vernunftbegabung hat sich als Münchhausentrick entpuppt. 191 Der Mensch wird am Du zum Ich, d. h. das Du hat immer Anteil am Ich. Insofern ist das Selbst ein Resultat von Differenz, die sich mit unzähligen Abschattungen, mal bewusst, mal unbewusst, in ihm niederschlägt. Die Vergangenheit hinterlässt Spuren und wirft zugleich ihre Schatten voraus, das belegen zahlreiche Studien zur transgenerationellen Übertragung. Auch gesellschaftlich tradierte Rollenvorstellungen und die Bedeutung zwischenleiblicher Kom190 Im Wort »Subjekt« spiegeln sich die beiden widersprüchlichen Bedeutungsgehalte wider, denn es meint sowohl ein Zugrundeliegendes (subiectum) als Grund der Erkenntnis und Wahrheit als auch ein Unterworfenes (subiectus) oder Zerfallendes: »als Produkt von Machtkonstellationen oder Ideologien, als Spielball von unbewußten libidinalen Impulsen, als Opfer von Diskontinuität und Kontingenz« (Zima 2010, 4; vgl. Reckwitz 2012, 9 ff.). 191 Vgl. Hermann Schmitz (2005, 165): »Die Person sitzt nicht, Zügel führend wie der Wagenlenker in Platons Gleichnis, fest im Sattel in einer ihr reservierten privaten Innenwelt, sondern schwebt zwiespältig zwischen Neutralisierung und Resubjektivierung, personaler Emanzipation und personaler Regression, auf wechselnden Niveaus; sie stabilisiert sich in diesem Schweben durch eine Fassung, die sie sich gibt und verliert, wenn sie die Fassung verliert.«

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munikation zeigen, dass Subjektivität nicht einheitlich geschlossen und monistisch gedacht werden kann. Von Anfang an sind Menschen verstrickt und verwickelt in zwischenmenschliche Bezüge, die nicht einfach nur an einer harten Schale des Selbst abprallen, sondern für dieses konstitutiv sind. Der Mensch als erkennendes und sich selbst wahrnehmendes Subjekt kann nicht als das zentrale Referenzsystem dessen gelten, was er erkennt. Dieser Aufbruch ins Ungewisse einer unbestimmten, partikular brüchigen Welt sei, so Jean Laplanche (2005, 11 ff.), der Kern der narzisstischen Kränkung des Menschen. Natürlich muss das Nachdenken über unterschiedliche Vorstellungen des Selbst historische Entwicklungen und sozio-kulturelle Gegebenheiten mitdenken – warum dies nötig und wie dies möglich ist, veranschaulichen beispielsweise Charles Taylor (1996) in Quellen des Selbst und Andreas Reckwitz (2012) in Das hybride Subjekt. Die spätmoderne Gesellschaft ist plural, ausdifferenziert, dynamisch und vielschichtig – diese Tatsache schlägt sich im Selbstverständnis der Menschen nieder, die sich als prozesshaft und fragmentarisch erleben, was in diversen theoretischen Debatten zu personaler Identität Resonanz findet, die längst sogar so weit gehen, vom Tod oder Verschwinden des Subjekts zu sprechen 192. Was zu Zeiten von Erik Erikson und George Herbert Mead als Anzeichen von Identitätsdiffusion gegolten hat, mag heute eher »normal« sein. Die Einheitsidentität könne es immer weniger geben, betont Roland Reichenbach (1998, 217) und fährt fort: »Sie entspricht auch überhaupt nicht mehr dem demokratischen Ethos pluralistischer Gesellschaften.« (ebd.) Andererseits hat der Identitätsbegriff gerade dann Hochkonjunktur, wenn Selbstverständlichkeiten und Sinnkrisen die Fundamente eines tradierten Selbstverständnisses empfindlich erschüttern. Dies weist darauf hin, dass Menschen natürlich auch das Gefühl einer relativen Beständigkeit bzgl. ihres Selbstverständnisses brauchen – insofern können und sollten Kohärenz und innerer Pluralismus zusammengedacht werden.

192 Hier sei nur auf die in diesem Zusammenhang vielzitierte Metapher Foucaults verwiesen, der am Ende von Die Ordnung der Dinge mutmaßt, »daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (Foucault 1974, 462). Dirk Quadflieg weist dabei richtigerweise darauf hin, dass mit der These vom Tod des Subjekts »die Erschöpfung eines erkenntnistheoretischen Paradigmas gemeint [ist] und nicht – wie zuweilen fälschlich angenommen – das Ende aller subjektiven Vollzüge« (Quadflieg 2008, 8). Vgl. auch Peter Bürger (2001): Das Verschwinden des Subjekts.

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Auch aufgrund erwähnter Schwierigkeiten, die sich mit dem neuzeitlich, d. h. idealistisch und rationalistisch geprägten Begriff des Subjekts verbinden, wird hier dem des Selbst der Vorzug gegeben. 193 In gewissem Sinne erfolgt dies im Anschluss an Foucault, der von seiner Kritik des Subjekts, das sich selbst durch gesellschaftlich determinierte Wahrheitsspiele und Machtpraktiken als wahnsinniges oder gesundes, als delinquentes oder nichtdelinquentes Subjekt konstituiert bzw. konstituiert wird (vgl. Foucault 1985, 18), übergeht zu einer Sorge um sich selbst, »die er als Alternative zur kritisierten modernen Vorstellung von Subjektivität im Sinne einer Selbsterkenntnis in Stellung zu bringen sucht« (Quadflieg 2008, 9). Was Foucault hier vor allem interessant macht, ist, dass er nicht nur machtförmige Strukturen einer monologisch gewordenen Vernunft aufzudecken vermag, die in der Regel Menschen unbemerkt in ihren Bann ziehen – und zwar gerade auch solche, die meinen, sie seien frei und autonom –, sondern dass er mit der Selbstsorge, die auf eine Praxis der Lebensführung abzielt, auch die Niederungen des konkreten Lebensvollzugs Einzelner in den Blick nimmt. Die Tatsache, dass in diesem alltäglichen Raum gesellschaftspolitischer Realitäten die Definition des Eigenen Fremdheit als dessen »andere Seite« mehr oder weniger ausdrücklich mitbestimmt (vgl. Hahn 1997, 115), hat zur Folge, dass in Zeiten einer Auflösung fixer Identitätskonstruktionen auch diese Kehrseite nicht mehr scharf konturiert gefasst werden kann. Die Entgrenzung von Eigenem und Fremdem löst Ängste und Unsicherheiten aus – diese Dynamik zieht sich jedoch durch die Geschichte hindurch und ist somit kein rein »postmodernes«, durch die Globalisierung hervorgerufenes Problem. Peter Zima (2010, 104) erläutert bezugnehmend auf Hartmut und Gernot Böhme, dass sich bei Fichte zeige, wie sehr die scheinbaren Gegensätze »Größenwahn« und »Angst« miteinander verknüpft seien: Die Angst vor Fremdem, das wir nicht sind, von dem wir aber dennoch abhängen, solle philosophisch vertrieben werden: »Es geht Auch wenn in der Folge von personaler Identität die Rede ist, ist damit das Selbst gemeint; weder bei Freud oder bei Jung noch im amerikanischen Pragmatismus bei James oder Mead stand der Begriff der »Identität« im Vordergrund. Diese brachte bekanntlich erst Erik Erikson in den 1940er/50er Jahren aufs Tableau wissenschaftlicher Diskurse. James (1983, 314) erwähnt allerdings bereits »the sense of personal identity«. Trotz aller begriffsgeschichtlichen Unterschiede beschreiben beide Begriffe das, auf was es hier ankommt: eine Person, die trotz aller Fragilität, Veränderung und Widersprüche eine einheitliche Struktur aufweist. 193

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hier […] um die narzißtische Wiederherstellung der verlorenen Einheit.« (ebd., 106) Bei Fichte werde Subjektivität ausschließlich monologisch gedacht »und von einer Allergie gegen alles Andersartige [beherrscht]« (ebd.). Diese Allergie scheint auch aktuell äußerst virulent und ansteckend um sich zu greifen. Auf der ganzen Welt ist das Erstarken nationalistischer, extremistischer und fundamentalistischer Bewegungen nicht zu übersehen. Catarina Kinnvall (2004) spricht von einer »ontologischen Unsicherheit und existenzieller Ungewissheit«, die dazu führt, Eigenes anhand plakativer »We-images« 194 zu schützen und Fremdes als Gefahr oder »Abject« abzulehnen und sogar zu bekämpfen. Exemplarisch lässt sich diese Dynamik im Grundsatzprogramm der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland überaus deutlich ablesen – hier ist von einem Bekenntnis zur deutschen Leitkultur, die es selbstbewusst zu verteidigen gelte, ebenso die Rede, wie von einer Bedrohung der Nation als kulturelle Einheit durch Fremdes: Die Alternative für Deutschland bekennt sich zur deutschen Leitkultur, die sich im Wesentlichen aus drei Quellen speist: erstens der religiösen Überlieferung des Christentums, zweitens der wissenschaftlich-humanistischen Tradition, deren antike Wurzeln in Renaissance und Aufklärung erneuert wurden, und drittens dem römischen Recht, auf dem unser Rechtsstaat fußt. […] Die Ideologie des Multikulturalismus, die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert, betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit. Ihr gegenüber müssen der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche kulturelle Identität als Leitkultur selbstbewusst verteidigen. (AfD Bundesvorstand, 32)

Im Anschluss daran ist es wichtig hervorzuheben, dass bezüglich der Bestimmung des Selbst keinesfalls einer binären Logik von Identität und Nicht-Identität das Wort geredet werden darf. Natürlich nimmt jede Selbstbeschreibung auch Alterität in Anspruch, wie dies Alois Hahn (1997) in seinen Ausführungen zu »partizipativen Identitäten« darstellt. Identität konstituiert sich jedoch nicht allein durch Fremd194 Ähnlich spricht Paul Mecheril von einer »Legitimation des ›Wir‹«. Dieses werde »durch die gemeinsame Abstammung, die geteilte Religion, die eine Geschichte, die selbstverständliche Sprache oder den einen Wertekonsens zusammengehalten.« (Mecheril 2011, 54) Wir sprächen so viel über die Anderen oder, im Zusammenhang der Zuwanderung, über deren Integration in unser Wir, so schreibt er, damit wir wüssten, wer wir seien.

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heit – auch wenn dies zuweilen den Anschein haben mag und medial und gesellschaftspolitisch zusätzlich forciert wird. Dies zu behaupten, ist nicht nur eine fatale Reduktion personaler Identität, sondern auch gefährlich, weil es die Gräben zwischen Eigenem und Fremdem vertieft. (vgl. oben die Ausführungen zur monolithischen Identität) Hier wird deutlich, wie sehr sich die subjektive Wahrnehmung einer psycho-sozialen Wirklichkeit und die Theoriebildung wechselseitig verstärken. 195 Dass dualistische Konstruktionen wenig zutreffend sind, zeigt sich weiterhin daran, dass wir uns, wie oben ausführlich dargelegt, selbst fremd sein können. »Das Nicht-Identische ist demnach nicht einfach nur ein Gegenbegriff, sondern auch – paradoxerweise – ein integraler Bestandteil personaler Identität.« [H. i. O.] (Straub 2012, 55) Deshalb soll hier ein dialogisches Verständnis des Selbst stark gemacht werden, welches personale Identität als ebenso dynamisches wie prekäres Spannungsverhältnis begreift, das sich einerseits konfrontiert sieht mit einer inneren Pluralität, diese andererseits aber permanent möglichst stimmig in Einklang bringen muss. Bezogen auf den Umgang mit Fremdem bedeutet dies, offen zu sein und zugleich eine klare Position zu beziehen, sich Grenzen auszusetzen und sich abzugrenzen. Ein solches Verständnis hilft, einer dichotomen Optik entgegenzuwirken, weil weder Fremdheit als Nicht-Ich ausgegrenzt noch Eigenes zugunsten der Offenheit aufgegeben werden muss, sich beides vielmehr wechselwirkend transformiert und dabei an Kontur gewinnt. Dieses für das Selbst konstitutive positive Gegensatzpaar von Offenheit und Abgrenzung droht permanent in seine Extreme abzugleiten, wenn eine der beiden Seiten wegbricht oder die Oberhand gewinnt. Ein Mensch kann sich Fremdem nur öffnen und Vielfalt aushalten, wenn er sich seiner selbst gewiss ist. Umgekehrt ist Abgrenzung nur dann lebensdienlich, wenn sie nicht zur Abschottung allem Fremdartigen gegenüber oder gar zu seiner Ablehnung verkommt. Ganz ähnlich fasst Jürgen Straub bezugnehmend auf Erik Erikson personale Identität als triadische Struktur in »Form eines Kontinuums, deren Enden durch die Begriffe Totalität einer-

Treffend weist Nietzsche darauf hin, dass der Glaube an ein Subjekt Fiktion sei: »das ist die Terminologie unsres Glaubens an eine Einheit unter all den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls […] aber wir haben erst die ›Gleichheit‹ dieser Zustände geschaffen; das Gleichsetzen und Zurechtmachen derselben ist der Thatbestand, nicht die Gleichheit«. [H. i. O.] (Nietzsche KSA, 12, 465) 195

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seits, Fragmentierung (Diffusion, Dissoziation) andererseits abgesteckt sind« (ebd., 54). Diese beiden Enden markieren gleichsam die erwähnten Extreme. Das Selbst ist somit hin- und hergerissen zwischen Totalität und Fragmentierung (was sich auch in den unterschiedlichen, entsprechend kontrovers vorgetragenen Identitätstheorien widerspiegelt) 196 und steht in der Gefahr, sich auf der einen oder anderen Seite selbst zu verlieren, was sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft zu fatalen Konsequenzen führt. Besonders verheerend ist die Tendenz, von einem Extrem ins andere zu stürzen, die man im Sinne C. G. Jungs als Überkompensation deuten kann: Fühlt sich das Selbst durch Vielfalt und Fremdheit, d. h. Fragmentierung, bedroht, ist es anfällig für totalitäres Denken; wähnt es sich gefangen in engen Begrenzungen, kann es leicht in relativistischen Theorien, großer Gleichgültigkeit und Grenzverlust den eignen Mittelpunkt verlieren. Entsprechend muss eine Sorge um das Selbst zum einen der inneren Vielfalt Rechnung tragen und zum anderen nicht nur trotz, sondern vor allem in oder zwischen allen Brüchen, Widersprüchen und Dissonanzen eine lebbare Einheit stiften. Mit der Feministin Françoise Rétif könnte man sagen: »Der Mensch muss die Gegensätze versöhnen, indem er sie bewahrt; er kann sich also nur ›finden‹ d. h. vereinheitlichen, indem er sich zwischen den verschiedenen Polen bewegt, ohne mit sich selbst übereinzustimmen. [H. i. O.] (in: Zima 2010, 291) Hier zeichnet sich eine enorme Herausforderung ab, welche Peter Zima als ein »Dilemma individueller Subjektivität« bezeichnet: 196 Konkret geht es dabei vor allem um die Kontroverse zwischen modernen und postmodernen Identitätstheorien, wobei gerade letztere in der Gefahr stehen, sich vor lauter Kritik an den totalitären Strukturen vermeintlich überkommener Identitätstheorien den eigenen Boden unter den Füßen abzugraben. Dazu bemerkt Straub (2012, 46): »Man schüttet das Kind mit dem Bade aus, wenn man z. B. der Psychoanalyse eine bloße Repressionsanstalt [hier bezieht er sich auf Foucault] oder im Denken personaler Identität eine einzige, zutiefst gewaltförmige Zwangsveranstaltung sieht, die Subjekte eher herrichtet als aufrichtet, eher bevormundet und entmündigt als auf dem Weg zur freiheitlich bedingten und begrenzten Freiheit sowie limitierten Autonomie begleitet.« Anstatt sich hier in Grabenkämpfen festzubeißen oder überfordert nur dem Pingpong-Spiel kontroverser Argumente ausgeliefert zu sein, gilt es, sich an der konkreten Lebenswirklichkeit von Menschen zu orientieren, die eben einerseits Ängste haben, durch »Überfremdung« das Eigene zu verlieren und sich in identitäres Denken flüchten oder sich andererseits in relativistischer Fragmentierung selbst verlieren. Man kann nicht gewinnen, wenn man das Subjekt entweder als ein Zugrundeliegendes oder ein Unterworfenes betrachtet, weil es immer beides ist.

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Wie ist es möglich, jenseits von ideologischer Vereinnahmung, d. h. in der Ambivalenz der Werte und im offenen Dialog, Subjektivität als Konsistenz, Kohärenz und Identitätskonstruktion gegen alle gesellschaftlichen Widrigkeiten durchzusetzen? Die provisorische Antwort lautet: Es ist nur dann möglich, wenn klar wird, daß nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Subjektivität (einer Regierung, einer Partei) stets eine Gratwanderung zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe ist. (Zima 2010, 369)

Hinsichtlich dieses Verweises auf eine Gratwanderung, die auch die »kollektive Subjektivität« zu meistern hat, ist die Aussage Jürgen Straubs (2012, 46), personale Identität sei ein Politikum, sehr ernstzunehmen. Die prekäre Situation des Selbst zwischen Aufgeschlossenheit für Fremdes und Selbstvergewisserung hat unweigerlich Auswirkungen auf sozio-kulturelle und gesellschaftspolitische Dynamiken. Dass dies beileibe keine neue Erkenntnis ist, stellt Hannah Arendt in ihrer Sokrates-Vorlesung dar: »Nicht der öffentliche Raum […] ist in Sachen unserer politischen Moral zuletzt entscheidend. Es ist […] die innere Zwiesprache.« [H. B. S.] (Arendt 2016, 33) Diese sei – und das drücke die politische Relevanz des sokratischen Denkens aus – »die notwendige Voraussetzung für das gute Funktionieren der Polis. Sie sei eine bessere Garantie als Verhaltensregeln, die durch Gesetze und die Angst vor Bestrafung wirksam werden wollen« (ebd., 62). Ganz im Gegenteil, so betont Arendt, neigten strikte Reglementierung und totalitäre Bedingungen dazu, dass das Gewissen nicht mehr funktioniere, sie seien ein Angriff auf das Wesen des Menschen. »Niemand, der nicht fähig ist, mit sich selbst einen Dialog zu führen, kann sein Gewissen bewahren.« (ebd., 63) Anders formuliert: Nur in einer freiheitlich verfassten Gesellschaft ist eine Regierung seiner selbst überhaupt möglich. Aber auch die vermeintliche Freiheit einer neoliberalen Gesellschaft führt leicht zu »selbst- und gemeinschaftsverlorenen« Identitäten, die u. a. Richard Sennett (2009) mit dem flexiblen Menschen, Heinz Bude (2010) mit den Ausgeschlossenen und Kenneth Gergen (2000) mit dem übersättigten Selbst beschreiben. Symptomatisch für die hier Beschriebenen sind Politikverdrossenheit und politisches Desinteresse auf der einen, Protestwahlen und Wutbürgertum auf der anderen Seite. 197 Wie sehr die personale Identität 197 Am 24. 6. 16 berichtete die Süddeutsche Zeitung nach der »Brexit«-Entscheidung der Briten etwas spöttisch, dass diese jetzt erstmals googlen würden, was die EU sei und was der Austritt Großbritanniens für das Land bedeuten könne. Die Wahlbeteiligung war vor allem unter jungen Briten sehr gering – gerade sie gingen hinterher auf die Straßen, um gegen den Austritt aus der EU zu protestieren.

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tatsächlich ein Politikum darstellt, zeigt sich auch an den geschilderten Konsequenzen der brutalen Assimilationspolitik in Kanada und an den Schwierigkeiten, mit welchen sich die deutsche Politik im Zusammenhang der Integration konfrontiert sieht. In beiden Fällen geht es um die Problematik, Vielfalt und Einheit zusammenzubringen. Was dabei allerdings in aller Regel übersehen wird, ist, dass es nicht nur um Gesetze, Verordnungen und eine geregelte Struktur des Zwischenmenschlichen geht, sondern vor allem um das Erleben Einzelner, die große Schwierigkeiten haben, innere Konflikte auszuhalten und einen gangbaren Weg zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe zu finden. Es ist bezeichnend, dass gerade diejenigen Philosophen, die einen wichtigen Grundstein für ein dialogisches Verständnis des Selbst legten, für die radikale Demokratie eintraten, allem Dogmatismus abschworen und sich sozial vor allem auch aktiv im Zusammenhang der Settlement-Bewegung in Chicago engagierten. Gemeint sind die beiden Pragmatisten William James und George Herbert Mead. (vgl. Joas 1980, 27 ff.) 198 William James unterscheidet in The Principles of Psychology zwischen einem »erkennenden Selbst« (self as knower, subject, I, pure ego) und einem »erkannten Selbst« (self as known, object, me, empirical self). Ein Subjekt kann über die vielen Facetten seiner Existenz und über all die Dinge nachdenken, die sein Sein beeinflussen. Es wird sich selbst zum Objekt: »In its widest possible sense, however, a man’s Self is the sum total of all that he can call his, not only his body and his psychic powers, but his clothes and his house, his wife and children.« (James 1983, 279) James argumentiert, das Selbst setze sich aus unterschiedlichen »Selbsten« zusammen, die 198 »Die Settlements waren Ansiedlungen von Sozialarbeitern in den problembeladenen Vierteln der Stadt, um damit eine Art von Kommunikationszentrum für die Slum-Bevölkerung entstehen zu lassen.« (Joas 1980, 28) Hans Joas erwähnt, James und Mead hätten sich insbesondere im sog. Hull House (gegründet von der bekannten Sozialarbeiterin und Frauenrechtlerin Jane Addams) engagiert. Dieses galt nicht nur als sicherer Zufluchtsort für Einwanderer, sondern auch als ein sozialwissenschaftliches Diskussionszentrum. »Der Grundgedanke dieser Einrichtung war, daß Demokratie nicht einfach als eine bestimmte Beschaffenheit der politischen Institutionen verstanden werden könne und Erziehung zur Demokratie nicht als Amerikanisierung der Einwanderer aufzufassen sei; Demokratie wandle vielmehr ihren Charakter von einer Freiheitsgarantie zum legalistischen Unterdrückungsinstrument, wenn sie nicht als Lebensform, anknüpfend an vorliegende soziale Organisationsformen, entwickelt würde.« (ebd.) Zur »Americanization« hat Jane Addams selbst einen Aufsatz verfasst, in welchem sie sich explizit auf William James bezieht. (vgl. Elshtain 2002, 240–247)

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auch miteinander in Konflikt stehen können: das materielle Selbst (Körperbewusstsein), das soziale Selbst (Anerkennung von anderen), das spirituelle Selbst (das Innere, psychische Dispositionen) als »empirische Selbste« und das pure Ego (erkennendes Selbst, oder I). (vgl. ebd., 280) James gilt als Wegbereiter für die Vorstellung einer Pluralität des Selbst, die in enger Verbindung mit der Relationalität menschlicher Existenz (vgl. 4.2.1) gedacht werden muss. George Herbert Mead knüpft in gewissem Sinne an William James an, entwickelt die Theorie »interaktionistisch« weiter, denn für ihn spielt vor allem der sprachlich bzw. symbolisch gefasste intraund interpersonale Austausch die zentrale Rolle für die Entwicklung des Selbst. Identität sei, so erläutert Mead (1973, 182), eine gesellschaftliche Struktur, die aus der gesellschaftlichen Erfahrung erwachse. »Die Identität ist nicht so sehr eine Substanz als ein Prozeß«, der sich im »Dialog zwischen Ich [I] und ich [Me]« (ebd., 222) entwickelt. Dabei würden wir im alltäglichen Miteinander hin und wieder erleben, dass eine Person nicht meint, was sie sagt oder tut: »Wir sagen oft, daß eine solche Person nicht sie selbst sei.« Es gibt also Teile der Identität, die bei einem Gespräch in den Hintergrund treten und an anderer Stelle umso wichtiger werden. Mead erklärt: »Das Ausmaß, in dem die Identität in die Kommunikation eintritt, wird von der gesellschaftlichen Erfahrung selbst bestimmt. […] Wir spalten uns in die verschiedensten Identitäten auf, wenn wir zu unseren Bekannten sprechen.« (ebd., 184) Diese verschiedenen Identitäten resultieren aus der menschlichen Fähigkeit, durch das gemeinsam geteilte Symbolhandeln vermittelte Rollen zu antizipieren, zu verinnerlichen und dann auch entsprechend zu spielen – dies ist nötig, damit eine Gesellschaft funktioniert. 199 Unsere Identität ist jedoch nicht einfach nur ein Konglomerat verschiedener Identitäten, die wir übernehmen, sie entwickelt sich durch kommunikative Aushandlungsprozesse im 199 Hier wird deutlich, dass Mead vornehmlich homogene Gesellschaften im Blick hat – dass dies in multikulturellen Gesellschaften sehr viel schwerer ist, liegt auf der Hand. Symbole sind immer bedeutungsgeladen und meinen für unterschiedlich sozialisierte Personen unterschiedliche Realitäten. Dies kann, wenn man beispielsweise an die Reaktionen auf die Mohammad-Karikaturen denkt, verheerende Folgen zeitigen. Außerdem kann eine diffuse Vorstellung der Rollenerwartung bereits innerhalb einer kulturellen Tradition zu schwerwiegenden Persönlichkeitsstörungen führen (vgl. die double-bind Forschung von Gregory Bateson und Paul Watzlawick). Umso schwieriger ist es für Menschen, die in verschiedenen kulturellen Kontexten leben, eine stimmige Identität zu entwickeln und entsprechend rollenkonform zu handeln.

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Selbst, welches sich zu seinen Rollen verhalten kann. Das ist wichtig, weil nur so die Einheit des Selbst trotz aller Rollenvielfalt gewährleistet ist: »Das Ich [I] reagiert auf die Identität [Self], die sich durch die Übernahme der Haltungen anderer [Me] entwickelt.« (ebd., 217) Außerdem sind Menschen so nicht nur Marionetten und tun, was ihnen ihre jeweiligen Rollen vorschreiben, sie bestimmen eigensinnig, ob und wie sie diese Rollen »spielen«. »Das Ich [I] liefert das Gefühl der Freiheit, der Initiative.« (ebd., 221) Dieser Gedanke ist für die Selbstsorge ganz entscheidend. Denn diese muss Menschen befähigen, den schwierigen Balanceakt zwischen gesellschaftskonformem und individuellem Verhalten zu schaffen. 200 Auch hier führen die Extreme auf beiden Seiten entweder zu Selbst- oder zu Gesichtsverlust: Bei ersterem wird man sich selbst fremd, bei letzterem entfremdet man sich von der Gesellschaft. So wie das Individuum die Vielfalt der Gesellschaft braucht, um Identität auszubilden, braucht die Gesellschaft die Individualität ihrer Mitglieder, um sich zu entwickeln. William James und George Herbert Mead stellen eine der zentralen Säulen der Dialogical Self Theory dar, die nicht nur als repräsentativ gelten kann für viele postmoderne Identitätstheorien (vgl. Staemmler 2015) 201, sondern darüber hinaus einen heuristischen 200 Diesen Gedanken führte insbesondere Lothar Krappmann mit seiner Theorie der »balancierenden Ich-Identität« weiter. Er baut dabei auf Erving Goffman auf, der ähnlich wie Mead, die soziale (durch gesellschaftliche Normen festgelegte) der persönlichen (der Person zugeschriebene Einzigartigkeit) Identität gegenüberstellt. Zwischen beiden muss eine Person permanent balancieren. »Ich-Identität erreicht das Individuum in dem Ausmaß als es, die Erwartungen der anderen zugleich akzeptierend und sich von ihnen abstoßend, seine besondere Individualität festhalten und im Medium gemeinsamer Sprache darstellen kann. Diese Ich-Identität ist kein Besitz des Individuums. Da sie ein Bestandteil des Interaktionsprozesses selber ist, muß sie in jedem Interaktionsprozeß angesichts anderer Erwartungen und einer ständig sich verändernden Lebensgeschichte des Individuums neu formuliert werden.« (Krappmann 2005, 208) Beachtenswert für das Thema der Selbstsorge ist, dass Krappmann vier identitätsfördernde Fähigkeiten beschreibt: (1) Rollendistanz, (2) »Role taking« und Empathie, (3) Ambiguitätstoleranz und Abwehrmechanismen und (4) Identitätsdarstellung. (vgl. ebd., 132–173) 201 Die Theorie des dialogischen Selbst sieht sich als Vermittlerin zwischen postmodernen und modernen Identitätskonzepten, sie möchte Argumente aus beiden Strömungen aufgreifen, anstatt sich auf die eine oder die andere Seite zu schlagen. Entsprechend rekurriert sie sowohl auf die relationale Vielfalt des Selbst als auch auf Begriffe wie Einheit und Kohärenz: »Multiplicity and unity are not mutually exclusive but inclusive.« (Hermans 2012, 9; vgl. Hermans/Hermans-Konopka 2010, 9)

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Dialogizität und Zwischen statt Ordnung und Klarheit

Wert hinsichtlich der Frage darstellt, wie die Sorge um sich selbst in erwähntem Kontinuum von Totalität und Fragmentierung gelingen kann. Als eine Theorie, die Brücken bauen und transdisziplinäre Räume als »meeting place for strangers« (Hermans/Gieser 2012, 1) eröffnen möchte, scheint sie auch im Kontext der hier angestellten Überlegungen zur Entwicklung der Fremdheitsfähigkeit einer Person vielversprechend. Die Theorie des dialogischen Selbst verbindet, wie der Name bereits andeutet, mit den Begriffen des Dialogs und des Selbst zwei theoretische Stränge, die von unterschiedlichen psychologischen und philosophischen Traditionen geprägt sind. Hier wird einerseits vor allem auf die Dialogphilosophie der europäischen Tradition verwiesen, andererseits auf den amerikanischen Pragmatismus. (vgl. Hermans/Gieser 2012) Usually, the concept of self refers to something »internal«, something that happens within the mind of the individual person, while »dialogue« is typically associated with something »external«, processes that take place between people […]. The composite concept »dialogical self« goes beyond this dichotomy by bringing the external to the internal and, in reverse, to infuse the internal into the external. […] We believe that the self-society interconnection allows one to abandon a conception in which the self is regarded as essentialized and encapsulated in itself. Moreover, it avoids the limitations of a »self-less society« that lacks the opportunity to profit from the richness and creativity that the individual human mind has to offer to the innovation of existing social practices. [H. B. S.] (Hermans/Hermans-Konopka 2010, 1)

Auch dieser Gedanke ist nicht neu 202, er hat jedoch insofern Relevanz, als er die nach wie vor einflussreiche Vorstellung eines ungeteilten Transzendentalsubjekts, das nach Unabhängigkeit und Autonomie strebt bzw. streben sollte, durchbrechen will. Denn »die dialogische Subjektivität [ist] auf Alterität ausgerichtet: Sie lebt trotz aller Ver202 Vgl. beispielsweise Wolfgang Welsch, der bereits 1991 schreibt, man könne nicht mehr mit der einfachen Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft operieren, denn »Subjekte sind von vornherein, sind schon in sich ›gesellschaftlich‹ verfaßt.« (ebd., 354) Auch bezüglich eines zentralen Arguments der Theorie des dialogischen Selbst, dass die Pluralität der Globalisierung im Subjekt seinen Niederschlag findet, gibt es eindeutige Parallelen zu Welsch, der hervorhebt, dass unter den Bedingungen zunehmender Pluralität »das Leben der Subjekte selbst ein ›Leben im Plural‹ werden [muss] – und zwar sowohl nach außen wie nach innen, also sowohl im Sinn eines Lebens inmitten dieser unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexte als auch im Sinn eines Lebens, das in sich mehrere solcher Entwürfe zu durchlaufen, zu konstellieren, zu verbinden vermag«. [H. i. O.] (ebd., 352)

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werfungen, die der Dialog mit sich bringt, von ihrem Anderen, auch von ihrem Gegenteil.« (Zima 2010, 369) Der Psychoanalytiker Günther Bittner macht dies konkret, indem er beschreibt, wie wichtig gerade innere Brüche, Zweifel und Konflikte sein können, um in seiner Praxis als Analytiker fremdheitsfähig zu sein. Das »multiple Ich« prädestiniere geradeso dazu, »in fremde Welten einzutreten und sie aufzufassen« (Bittner 2000, 210): Meistens halten wir es für einen Vorzug, ein ungespaltenes Ich und klare Ich-Grenzen zu besitzen. Wir tun uns etwas zugute auf eine authentische und mit sich kongruente Persönlichkeit. Die Ich-Spaltung wird meist unter dem Gesichtspunkt der Pathologie gesehen; ich halte sie für unvermeidlich, wie auch das Sterben unvermeidlich ist. Gerade der Analytiker sollte dieser Art von Sterben nicht aus dem Wege gehen, denn das Verstehen des Fremdseelischen verlangt eine Aufweichung eines allzu kompakten Ich. Wenn das Ich mit dem Fremden in Beziehung tritt – so sagen es auch die französischen Phänomenologen – ist es »nie völlig es selbst, sondern immer auch ein anderes«. (ebd., 209)

In diesem Zusammenhang ist mit Foucault und im Anschluss an obige Ausführungen zu sehen, dass die sokratische Aufforderung zur Selbstsorge, die durchaus in diesem Sinne als dialogisch interpretiert werden kann, schnell und nachhaltig verschlungen wurde – und immer wieder neu verschlungen wird – von einem monologisch sich vollziehenden »cartesianischen Moment«. Dieses habe das gnothi seauton (das »Erkenne dich selbst«) zwar philosophisch rehabilitiert, dafür aber die epimeleia heautou (die Sorge um sich selbst) disqualifiziert. (vgl. Foucault 2004, 31) 203 Bei Sokrates sei der Mensch noch nicht als bloß »vernünftiges Tier« erschienen, schreibt auch Hannah Arendt (2016, 61–62), sondern als ein denkendes Wesen, dessen Gedanken sprachlich, d. h. in Form innerer Dialoge, hervortreten. Auch sie plädiert eindringlich dafür, diese verschüttete Sichtweise und die Bedeutung eines vielstimmigen dialogischen Selbst als Voraussetzung des Denkens wiederzuentdecken. Sie erläutert:

203 Pierre Hadot, der sehr verbunden war mit Michel Foucault und mit ihm bis zu dessen Tod im Dialog stand, erwähnt, dass er an diesem Punkt nicht mit Foucault einer Meinung war. Denn er gehe davon aus, dass der Bruch »im Mittelalter in dem Augenblick stattgefunden haben muß, als die Philosophie Hilfswissenschaft der Theologie wurde und die geistigen Übungen [also die antike Sorge um sich selbst] in das christliche Leben integriert und somit unabhängig vom philosophischen Leben wurden.« (Hadot 1991, 180–181)

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Diese Konzentration auf die Sprache des Menschen gab es bis zu einem gewissen Grad schon bei den Vorsokratikern, und die Identität von Sprache und Denken, die zusammen den logos bilden, ist vielleicht einer der hervorstechendsten Züge des griechischen Denkens. Was Sokrates dieser Identität hinzufügte, war der Dialog meiner selbst mit mir selbst als primäre Voraussetzung des Denkens.« [H. B. S.] (ebd., 62)

Insofern könnte man sagen, dass die Theorie des dialogischen Selbst in gewisser Hinsicht auch Bruchstücke einer »Wiederentdeckung der antiken Erfahrung« (vgl. Hadot 1991, 181) aufweist – ohne dies jedoch explizit zu machen. Deshalb kann man ihr wohl auch eine fehlende philosophische Dichte vorwerfen – obwohl sie sich auf philosophische Theorien bezieht. Das Herzstück der Dialogical Self Theory ist die Metapher einer Society of Mind. Das Selbst wird analog zur Gesellschaft verstanden. Es ist, wie in Michail Bachtins (1985) Ausführungen zur Poetik Dostojewskis, polyphon. Dabei ist es eng verwoben in alle zwischenmenschlichen Bezüge, in welchen es lebt – und zwar in räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Das bedeutet, dass sozio-kulturelle und gesellschaftspolitische Veränderungen direkt Auswirkungen haben auf die relational verfasste Identität der Person. Bachtin ist für die Theorie des dialogischen Selbst von zentraler Bedeutung, weil bei ihm die Vollwertigkeit einzelner Persönlichkeitsanteile bzw. die »Vielfalt gleichberechtigter Bewusstseine mit ihren Welten […] in der Einheit eines Ereignisses miteinander verbunden [sind], ohne daß sie ineinander aufgehen« (Bachtin 1985, 10). Hans-Georg Ziebartz erklärt dazu, dass man sich die biografische Narration einer Person »als Geschichten aus den Perspektiven verschiedener Ich-Positionen vorstellt, die miteinander in ständigem Dialog stehen und dadurch Identität in biografischer Kontinuität und Kohärenz ausbilden« (Ziebartz 2009, 20). Eine Person nimmt, ob sie will oder nicht, zugleich immer auch Einfluss auf ihre Mitwelt. »Bestimmte Kulturen und Gesellschaften bringen bestimmte Formen des Selbst hervor – und bedürfen ihrer (vice versa).« (Straub/Chakkarath 2010, 7; vgl. auch Mead 1973, 260) Hubert Hermans bringt diese dynamische Bezogenheit von Selbst und Gesellschaft auf den Punkt, wenn er sagt: »The self is societyinclusive and, in its turn, society is self-inclusive.« (Hermans 2012, 4) Der Dialog findet also nicht nur zwischen Menschen statt, sondern auch in einem Raum zwischen verschiedenen Teilen des Selbst, die bestimmte Positionen einnehmen, welche Hermans I-Positions

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nennt, die in Form von Voices ihren Ausdruck finden. 204 Es gibt also nicht die eine große Erzählung des Subjekts, das unangefochten als Autor des eigenen Lebens gilt, sondern, um mit Bachtin zu sprechen, viele Erzählungen, die gleichberechtigt nebeneinander existieren und miteinander verflochten sind. In der polyphonen Narration steht die »ernsthaft verwirklichte und konsequent durchgeführte dialogische Position, die die Selbständigkeit und innere Freiheit, Unabgeschlossenheit und Unentschlossenheit [der einzelnen Voices] anerkennt« [H. i. O.] (Bachtin 1985, 71), im Mittelpunkt. Und dieser Dialog, so fährt Bachtin fort, »spielt sich nicht in der Vergangenheit ab, sondern jetzt, d. h. im Augenblick des künstlerischen Prozesses« [H. i. O.] (ebd.). Der große Vorteil dieser Sichtweise sei, so betont Hubert Hermans, dass weder die Vorstellung des Selbst noch die der Gesellschaft als abgeschlossene Entitäten haltbar seien. Beide seien offen, auf vielfache Weise miteinander verbunden und unterlägen prinzipiell immer der Veränderung. (vgl. Hermans 2012, 4) 205

204 Das Bild oder die konkrete (psychotherapeutische) Arbeit mit »inneren Stimmen« findet sich bei weitem nicht nur in der Theorie des dialogischen Selbst. Es spielt vor allem in der Gestalttherapie, in der Hypnotherapie, in der Traumatherapie, im Psychodrama, in der systemischen Familientherapie oder in der Transaktionsanalyse Anwendung. Einige Autoren in diesen Feldern sind John Rowan: Subpersonalities. The people inside us, Richard C. Schwartz: Internal Family Systems Therapy, Viginia Satir: »Parts Party« oder Meine vielen Gesichter, Friedemann Schulz von Thun: Das Innere Team und situationsgerechte Kommunikation, John und Helen Watkins: Ego States. Theory and Therapy, Jochen Peichl: Hypno-analytische Teilearbeit, Hal und Sidra Stone: »Voice Dialoge« oder Embracing Our Selves. Diese Anstäze stellen hilfreiche Impulse für die Praxis der Selbstsorge dar. 205 Hier finden sich auffällige Parallelen zu den Ausführungen Straubs, bei denen er sich neben Erik Erikson auch auf das pragmatistische Denken, vor allem auf George Herbert Mead, bezieht: »Personale Identität ist eine offene Struktur und als solche unweigerlich anfällig für Konflikte, Krisen und Wandel, für kontingente Veränderungen zumal, die nicht zuletzt von den Stimmen und Einflüssen von Anderen und Fremden herrühren. […] Dieses Konzept erweist sich […] bei genauerem Hinsehen als subjektivitätstheoretisches Analogon und Komplement der politischen Idee einer offenen Gesellschaft.« (Straub 2012, 52) Oder an anderer Stelle: »Der ›externen‹ Differenzierung der Gesellschaft (in relativ autonome Funktionsbereiche, etc.) entspricht eine ›interne‹ Differenzierung der menschlichen Seele und des Selbst. Kontingenzund Komplexitätssteigerungen sind wesentliche Kennzeichen beider eng miteinander verflochtenen Vorgänge.« (Straub 2018, 196) Ähnlich spricht Wilhelm Schmid von einer »demokratischen Verfassung des Selbst, in der zwar eine Instanz der Führung vorgesehen ist, das hegemonikon, aber auch die Partizipation aller Beteiligten« (Schmid 1996, 375).

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Dies drückt sich auch in der Aussage aus, »that people are continuously involved in a process of positioning and repositioning, not only in relation to other people, but also in relation to themselves« [H. B. S.] (Hermans/Hermans-Konopka 2010, 7). Die Verlaufsform des Gerundiums im Englischen erlaubt es, das transitorische Moment des Selbst besonders deutlich zu betonen: Positioning ist ein raumzeitlicher Prozess, den man sowohl aktiv vollziehen als auch passiv erleben bzw. erleiden kann. Häufig hängt beides zusammen, denn man kann – vor allem natürlich als Erwachsener bzw. wenn man die entsprechende (Macht-)Position hat – Position beziehen zu den Positionen, in die man gedrängt wird. (vgl. ebd., 8) Der zusammengesetzte Ausdruck I-Position erlaube, so Hermans und Hermans-Konopka, sowohl die Kontinuität (»I«) als auch die Multiplizität (»Position«) des Selbst darzustellen: »Unity and continuity are expressed by attributing an ›I‹, ›me‹ or ›mine‹ imprint to different […] positions in the self […]. As differentially positioned in time and space, the self functions as a multiplicity« (ebd., 9). Des Weiteren erwähnen sie, dass auch die Vorstellung einer Meta-Position Raum ließe, die Vielfalt und Einheit des Selbst zusammenzudenken. Damit meinen sie die Möglichkeit, sich selbstreflexiv über die verschiedenen I-Positions, die man einnimmt, Gedanken zu machen. Dazu müsse man gleichsam aus den jeweiligen Ich-Positionen aussteigen und diese wie aus einer Vogelperspektive von außen betrachten. In dieser Position sei es sogar möglich, als eine Art innerer Mediator zu fungieren, um intrapersonale Konflikte zu befrieden. Dies wiederum sei unerlässlich, um konfliktträchtigen Situationen mit Fremdem interpersonal ruhig und gelassen begegnen zu können: [E]xternal conflicts (e. g. with other cultural groups) and internal conflicts (with shadow positions in the self) are not to be viewed separately from each other. Confronting oneself – and coming to terms – with the stranger in the self, is a precondition for coming to terms with the stranger in a multi-cultural environment. (ebd., 339)

Hermans und Hermans-Konopka (2010, 4) charakterisieren fünf typische Reaktionen von Menschen auf große Verunsicherungen, die ihnen zufolge vor allem auf die Globalisierung und die zunehmende Konfrontation mit Fremdem zurückzuführen sind: (1) Menschen halten die wachsende Komplexität nicht mehr aus, sie können und wollen sich auf Fremdheit und Vielfalt nicht einlassen und ziehen sich ins Eigene zurück, sie leben ein »Scheuklappendasein«, (2) Menschen 223 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

folgen einer mächtigen Stimme, wie einer religiösen, ideologischen oder politischen Autorität und dem dazugehörigen »ordentlichen« Weltbild, (3) Menschen ziehen klare Grenzen zwischen sich und anderen, zwischen In- und Outgroup, wobei die eigene Gruppe als berechtigterweise übergeordnet angesehen wird, (4) Menschen flüchten sich in die paradoxe Reaktion von noch größerer Pluralität, sie wechseln vielfach den Arbeitsplatz, den Wohnort oder den Partner, sie sind ständig auf der Suche nach Halt und dennoch nie zu Hause. Die letzte und fünfte Reaktion ist diejenige, welche als »dialogisch« bezeichnet wird. Diese vermeidet Fremdes nicht, sondern will ihm offen begegnen, sich ihm aussetzen: »[A] dialogical reaction […] copes with uncertainty by going into and through this uncertainty rather than avoiding it, in such a way that initial positions are influenced or changed […] by the encounter itself.« [H. B. S.] (ebd.) All diese Formen des Umgangs mit Verunsicherung lassen sich leicht auf erwähntem Kontinuum von Totalität und Multiplizität verorten. Dabei wäre die »dialogische Antwort« in der Mitte angesiedelt, die jedoch keineswegs ein kuscheliger Ort ist, an dem es sich bequem einrichten ließe. Es gilt vielmehr, ganz im Sinne von Aristoteles, im ständigen Austausch mit der Umwelt dieses Leben in einer spannungsreichen Mitte einzuüben, so dass es als charakterliche Disposition, als feste Grundhaltung, in Fleisch und Blut übergeht. Hier zeigt sich, dass Identität »offenkundig nicht nur ein deskriptiver wissenschaftlicher Begriff [ist], sondern auch ein normatives Konzept, das eine Art Ideal darstellt, das von zweierlei Risiken oder Gefahren abgegrenzt wird« (Straub/Chakkarath 2010, 7). Die dialogische Antwort, die sich der Verunsicherung aussetzt und dadurch die Transformation eigener Positionen erfährt, zeichnet die Fremdheitsfähigkeit einer Person aus, die es anzustreben gilt. Hier stellt sich allerdings unmittelbar die dringliche Frage, was Menschen befähigt, in diesem Sinne »dialogisch« zu reagieren. Geht man ihr nach, zeigt sich schnell, dass die Metapher der Society of Mind nicht ausreicht, denn sie steht in der Gefahr, zu stark in Richtung der Fragmentierung des Selbst, ein Phänomen, das u. a. Ian Hacking (1996) mit dem Syndrom der multiplen Persönlichkeit nachzeichnet, zu kippen. Damit die Erfahrung der Selbstverunsicherung als Chance genutzt werden kann, braucht eine Person eine gewisse Basis. Diese kann natürlich nicht substanziell verstanden und nie endgültig gehabt werden, sie ist vielmehr im sozialen Miteinander handelnd und sprachlich interaktiv zu realisieren. Es gilt, »sich selbst 224 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Dialogizität und Zwischen statt Ordnung und Klarheit

im Existieren werden [zu] lassen« (Straub/Renn 2002, 17). Das heißt aber, dass es ein Selbst gibt, das sich in der Veränderung erhält. Bezugnehmend auf Martin Heidegger schreibt Dirk Quadflieg (2008, 18) optimistisch, dass sich erst durch die Erfahrung eines radikalen Seinsverlusts in der Angst das jeweilige Selbst ergreifen »und sich aus der gegebenen Situation auf seine Möglichkeiten hin entwerfen [kann]« (ebd.). 206 Es ist sicher richtig, dass die Erfahrung der SelbstEntwurzelung wichtig ist, damit sich sozio-kulturelle Unterschiede nicht verhärten und »Pluralismusfähigkeit« entwickelt werden kann. (vgl. Reichenbach 1998, 215) Oder, wie dies Wolfgang Welsch (1991, 353) ausdrückt: »[N]ur der intern Pluralisierte vermag auch externer Pluralität wirklich gerecht zu werden.« Ob eine Person sich jedoch tatsächlich in radikalem Seinsverlust und der Selbst-Entwurzelung finden kann, ist äußerst fraglich – eher ist zu erwarten, dass sie diese unerträgliche Situation durch totalitäre Reaktionen zu kompensieren versucht. Dies ist umso wahrscheinlicher, je prekärer sich die Lebenslage und die soziokulturellen sowie ökonomischen Bedingungen dieser Person darstellen. Es ist eine Binsenweisheit, dass ohne eine untrügliche Bodenständigkeit keine große Weltoffenheit erwartet werden kann und »schwer überwindbare Ängste vor der Alterität als solcher und der mit ihr grundsätzlich gegebenen Erschütterung der Selbstverständlichkeit unserer Annahmen über die Welt, das Normale, und Richtige, das Schöne« als tiefere Ursache gelten, die »[h]inter manchen politisch wie moralisch so abscheulichen und entsetzlichen Gewalttaten gegen Ausländer, Andersgläubige, Andersfarbige, Behinderte oder sexuelle Minderheiten steckt« (Hahn 1997, 147). 207 Aktuelle sozialpsychologische Forschung zeigt, »that a state

206 Emmanuel Bauer ist vorsichtiger, wenn er betont, eine genaue philosophische Analyse zeige, dass das Angstverständnis von Heidegger vielschichtig sei. Einerseits fände sich hier tatsächlich eine »ausgezeichnete Möglichkeit der Erschließung des eigenen Daseins«, andererseits offenbare sich in ihr aber auch »das Nichts in seiner vielfältigen Bedrohlichkeit«, das den Menschen existenziell in Frage stelle. »Denn es ist das Nichts, das am Werk ist, wenn uns […] die Nichtigkeit des eigenen Ganzseins in Angst versetzt« (Bauer 2003, 12). 207 Peter Zima erläutert diesbezüglich dass man angesichts der Tatsache, dass Subjektwerdung nur als dialogischer Prozess – auch in der Auseinandersetzung mit Fremdem – denkbar ist, geneigt sein könnte, Identitätsbildung mit einer permanenten Offenheit für Fremdes zu assoziieren. Aber: »Eine solche Assoziation käme nur wider besseres Wissen zustande, weil uns bekannt ist, dass der subjektiven Fähigkeit und Bereitschaft Fremdes aufzunehmen, enge Grenzen gesetzt sind.« (Zima 2015, 100)

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of such heightened anxiety and uncertainty creates a perfect breeding ground for ethnocentric thinking and antisocial behaviour« (Lüders u. a. 2016, 33). Angesichts dieser Befunde ist die Aussage Wolfgang Welschs (1991, 355) »Vielleicht müssten wir angesichts der pluralen Wirklichkeit mehr als schizophren, müssen polyphren werden« [H. B. S.], äußerst fragwürdig – zumal heutzutage gerade junge Menschen zunehmend unter Borderline-Störungen, verbunden mit schwerwiegenden Depressionen, zu kämpfen haben. Auch seine eher lapidare Randbemerkung, man müsse sich wohl mit der Angst beschäftigen (was er selbst dann aber nicht tut), da diese »ja der Generalnenner der Abwehr [ist], auf welche die Pluralisierung stößt«, bagatellisiert eine sowohl individuell als auch gesellschaftlich äußerst ernstzunehmende Macht. Dies gipfelt dann noch in seiner knappen Analyse, dass die Angst ein Reflex des narzißtischen, all-wollenden Ichs sei. »Dagegen gälte es, erwachsen zu werden – und das bedeutet (wie man von Lacan lernen kann) Vielheit zu akzeptieren und mit Vielheit umgehen zu können.« (ebd., 360) Als wenn das so einfach wäre und einfach so gefordert werden könnte. Jede vorschnelle Verabschiedung des Subjekts zugunsten eines multiplen Selbst läuft Gefahr, den Gewinn der modernen Subjektphilosophie zu verspielen. Dieser besteht vor allem in der Autonomie eines freiheitlich-selbstbestimmten Lebens. (vgl. Mayer 1996, 320) Eine durch die eigene innere Vielfalt fremdbestimmte Person ist dagegen schwerlich fremdheitsfähig. Insofern stellt sich die Frage, was bei all der Pluralität, die in der Dialogical Self Theory als vielstimmiges Geschehen dargestellt wird, die Einheit der Person – und damit die Fähigkeit, sich offen der Verunsicherung durch Fremdes auszusetzen – noch gewährleistet (dies fragt sich Wolfgang Welsch (1991, 360) übrigens beinahe wortwörtlich auch). Die starke Betonung der Dezentriertheit des Selbst laufe Gefahr, so kritisiert Barbara Zielke, »leidvolle Erfahrungen des Identitätsverlusts als demokratisch und postmodern zu stilisieren«. Was zu kurz käme, sei die Suche nach einer »synthetisierenden Instanz«. Diese darf nicht nur ein theoretisierendes Lippenbekenntnis bleiben, das dann aber schnell einer Kampfansage gegen den vermeintlichen Zwang zur Kohärenz zum Opfer fällt. Dass diese Suche auch in Kanada bislang zu kurz kam, zeigt die Reaktion der Inuk auf den kulturellen sowie psycho-sozialen Selbstverlust. Die »Rückgabe« der Selbstverwaltung bzw. -regierung an die Ureinwohner durch die ka-

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nadische Regierung 208 gestaltet sich nicht zuletzt deshalb an vielen Punkten als äußerst schwierig, weil es die genuine, ursprüngliche Form der Selbstverwaltung nicht mehr gibt – sie kann nicht mehr »zurückgegeben« werden. Es gibt sie nicht mehr »zwischenmenschlich« und auch nicht mehr im Inneren vieler indigener Personen. Die leere Hülle einer rein strukturellen, funktionalen Verwaltung und Versorgung von Individuen hat wenig mit tatsächlicher Selbstbestimmung oder gar Selbstsorge zu tun. »Jeder Soziologe, jeder Politikwissenschaftler (und Politiker) wird bestätigen«, so Peter Zima (2010, 283), »daß ohne Leitbilder, ohne Solidarität und subjektive Identität keine Politik zu machen ist«. Dennoch, so fährt er fort, reagierten Dekonstruktivisten auf Reizwörter wie Kohärenz, Subjektivität und Identität vornehmlich ideologiekritisch und skeptisch. (ebd., 284) Natürlich ist dies angesichts geschichtlicher Erfahrungen und aktueller Geschehnisse weltweit auch angebracht – man denke nur an die wichtige Kritik Adornos, der unermüdlich herausstellte, Identität sei die Urform der Ideologie, welche einer ausgrenzenden Einteilungslogik folge und einem mächtigen Herrschaftswillen unterlegen sei, von diesem instrumentalisiert werde und ihm somit unweigerlich Vorschub leiste. Trotzdem sollte man aufpassen, nicht über das Ziel hinauszuschießen, also mit der Warnung vor den Gefahren identitätstheoretischen Denkens, dessen wichtiges Potential mit zu verwerfen und so ebenso einseitig das zu tun, was man richtigerweise anprangert. Es bringt nichts, entweder nur für Vielfalt oder nur für Einheit zu argumentieren. Vielmehr gilt es, die Ambivalenz der Gegensätze auszuhalten, ohne sie aufheben zu wollen, damit sie nicht mehr oder weniger unmerklich in ihre entwertenden Extreme ausarten. Personale Identität kann nur als eine sich im Fluss befindliche, prekäre sowie paradoxe Einheit in Vielfalt verstanden werden. Nur eine Person, die es vermag, innere Spannungen, Zerreißproben, Konflikte und dunkle, undurchsichtige Seiten des Selbst als Chance zu begreifen bzw. all dies in die Praxis der eigenen Lebenskunst aufzunehmen, ist in besonderem Maße fremdheitsfähig. Damit ist aber immer noch nicht die Frage beantwortet, wie diese Person es vermag, einheitsstiftende Momente als Basis der Transformation zu bilden und selbst diese immer wieder verändern zu lassen – 208 Vgl. hier die Arbeiten des kanadischen Philosophen Will Kymlickas (2001) zu Multicultural Citizenship und seinem Argument für Sonderrechte nationaler ethnischer Minoritäten.

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ohne entweder in Pluralismus oder Extremismus abzugleiten. Dies ist natürlich eine Frage der Selbstsorge, denn Pluralität befreit in dem Maße wie sie ängstigt. Der Dialog zwischen den einzelnen Teilen der inneren Pluralität spielt hier, wie in der Theorie des dialogischen Selbst in besonderer Weise betont wird, eine zentrale Rolle. Er allein kann aber noch nicht die Kontinuität und Kohärenz personaler Identität zufriedenstellend klären. Es fehlt so etwas wie der »soziale Kitt«, der bedeutungsgeladen den vielen »Stimmen« des Selbst Orientierung und Halt gibt und sie so als dynamische Einheit zusammenhält. In der Folge soll ein Begriff diese einheitsstiftenden Möglichkeiten erschließen, der mit ganz ähnlichen Vorbehalten behaftet ist, wie der Identitätsbegriff: der Kulturbegriff. Sehr bewusst erhält hier die Rede von der Selbstsorge eine Wendung, die durch die Bezeichnung der Selbstkultivierung zum Ausdruck kommt. Die Vorstellung einer Society of Mind soll erweitert werden durch die einer »inneren Kultur«, welche es im Sinne von Clifford Geertz als dynamisch-stabiles Bedeutungsgewebe zu entwickeln gilt. Gerade mit Blick auf das, was sich in der Fallstudie hinsichtlich des Kulturverlusts vor allem psycho-sozial zeigte, macht deutlich, wie wichtig es ist, in Sinn und Bedeutung gründen zu können – als einzelne Person und als Menschen, die gemeinsam Leben gestalten. Hierbei spielen die Sprache, geteilte Symbole und gemeinsame Rituale eine besondere Rolle. In einer bloß funktional organisierten Gesellschaft darben Menschen und stehen bei ihrer Suche nach Sinn und Bedeutung in der Gefahr, besonders anfällig für missbräuchliche Ideologien oder für dominante, totalitäre Teile des Selbst zu sein, die plötzlich die innere Führung übernehmen. Migranten, Geflohenen und Einheimischen nicht nur Schutz zu bieten und sie mit dem zu versorgen, was sie augenscheinlich brauchen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre je eigene Bedeutung und gemeinschaftlich Sinn leben zu können, stellt die größte Herausforderung für die gegenwärtige und zukünftige Integrationspolitik dar.

4.3 Selbst(e) & Kultur(en) – Möglichkeiten der Selbstkultivierung Eine Suche nach Antworten auf die Frage, wie es einer Person gelingt, auf die eigene innere und die sie umgebende Pluralität und damit einhergehenden Fremdheitserfahrungen »dialogisch« zu antworten 228 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Selbst(e) & Kultur(en) – Möglichkeiten der Selbstkultivierung

(nicht nur zu reagieren), muss mindestens zwei Dimensionen menschlicher Existenz in den Blick nehmen, die als eine horizontale und als eine vertikale bezeichnet werden können. Dabei fällt auf, dass in der einschlägigen Literatur häufig eine Perspektive auf Kosten der anderen überbewertet wird. Die vertikale Dimension umfasst vor allem die Aspekte, die unter 4.1 zur Sprache kamen. Hier geht es um menschliche »Tiefendimensionen«, die, wie William Smythe (2013) darstellt, eine Theorie wie die des dialogischen Selbst, leicht vernachlässige. Denn es sei beispielsweise fraglich, ob die tendenziell optimistische Darstellung des agentic I, das sich selbstbewusst und frei positionieren kann, tatsächlich so haltbar sei, denn das Selbst gründe immer in unbewussten, teilweise nicht ohne weiteres rational steuerbaren Bezügen. Die Theorie übersehe »the sense of ›otherness‹ within the self: that from the earliest years our sense of self is intertwined with the voices of others, often in unwanted, unplanned, unwelcome, and surprising ways« [H. B. S.] (Burkitt, in: ebd., 636). Die vertikale Sicht ist wichtig, um zu verstehen, wie sehr wir als geschichtliche und soziale Wesen verwurzelt und so in gewissem Sinne eben auch »fremdgesteuert« sind. Wir leben vor einem »dialogical background« (ebd.), welcher unbemerkt und implizit wie »selbstverständlich« unser Selbstbild und unsere zwischenmenschlichen Begegnungen mit bestimmt. Die horizontale Dimension bezieht sich weniger auf das menschlich-individuelle Tiefenselbst, sondern fokussiert sich auf die Pluralität des Selbst, die in einer facettenreichen Polyphonie ihren Ausdruck findet. Hier wären natürlich die Theorie des dialogischen Selbst und andere Ansätze pluraler Identität anzusiedeln, die vor allem auch die Vielfalt der uns umgebenden Welt stärker in Betracht ziehen. Diese horizontale Sichtweise eines »Oberflächenselbst« ist wichtig, weil sie davor bewahrt, einem »Kult des Tiefenselbst« zu huldigen, wie dies Roland Reichenbach (2000, 7) bewusst »anti-psychologisch« und spitzzüngig formuliert. Ein Selbst könne sich nicht irgendwo in der eigenen Tiefe verborgen »finden«, meint er. Auch wenn die Rede von der »Suche nach sich selbst« – als könne man da etwas finden – irreführend sei, halte sie sich dennoch hartnäckig. Wir haben uns an die Redeweise und Denkfigur gewöhnt, das sogenannte Wesentliche des Menschen, seiner Bildung, seines Selbst, seiner Moral, seiner Vernunft in der »Tiefe« bzw. in der »Höhe« [d. h. im Vertikalen] zu

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Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

lokalisieren, in der Tiefe seines »wahren« Selbst oder in der Höhe eines »obersten« Moralprinzips. Das Wahre, Echte und Gute finden wir scheinbar nicht an der Oberfläche des Lebens oder in den sich dauernd wiederholenden banalen und weniger banalen Tätigkeiten des Alltags. (Reichenbach 1998, 218)

Für den Prozess der Entwicklung personaler Fremdheitsfähigkeit ist es wichtig festzustellen, dass die Tiefenmetapher mit ihrem einseitigegologischen (Tunnel-)Blick in das eigene Innere eher totalitäre, essentialistische Assoziationen weckt und damit nur bedingt hilfreich ist für eine pluralistische Weltsicht – zumindest, wenn sie ohne horizontale Weite vertreten wird. Tiefe und Pluralität vertrügen sich in der Regel denkbar schlecht, konstatiert auch Reichenbach: »Von tiefen Wahrheiten und obersten Moralprinzipien kann man eigentlich gar nicht im Plural sprechen.« (ebd.) Die vertikale Sicht bohrt in die Tiefe, die horizontale blickt in die Weite, sie überblickt. Erstere steht in der Gefahr, zum »Klotz am Bein« zu werden, Menschen zu erden, sie zu hindern, weitere Schritte zu tun, zu träumen oder kreativ zu denken. Letztere dagegen kann zuweilen die Bodenhaftung verlieren und sich im pluralistischen Einerlei verlieren. Beide Dimensionen unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer zeitlichen Ausrichtung: Die vertikale ist eher linear vergangenheitsorientiert, sie denkt über Erlebtes nach, will aus Traumata und frustrierenden Kindheitserfahrungen erwachsen, unbewusste Dynamiken sollen durch den Rückgriff auf (Lebens-)Geschichtliches geklärt werden. Die horizontale Dimension lebt gegenwartsbezogen, die konkrete Erfahrung zählt – und sie will lösungsorientiert und visionär nach vorne blicken, in die Zukunft denken. Die vertikale Sicht denkt zentrisch in einer binären Logik von innen und außen, mein und dein, gut und schlecht, »hier können konträre Empfindungen nicht gleichzeitig authentisch sein« (ebd.). Die horizontale Dimension dagegen vermag es, Unterschiedliches, auch Unvereinbares nebeneinander stehenzulassen, sie steht »über« den Dingen. Mit diesen Andeutungen dürfte bereits deutlich geworden sein, dass hier ein multidimensionaler bzw. vielleicht besser transdimensionaler Blick auf die Selbstsorge stark gemacht werden soll. Dabei hat man beinahe schon das Gefühl, dass es einer gehörigen Portion Mutes oder gar der Waghalsigkeit bedarf, den schillernden Begriff der Kultur als Kristallisationspunkt heranzuziehen. Denn bei den ausufernden, teilweise ambivalenten und kaum noch überschaubaren 230 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Ausführungen zum Kulturbegriff in den letzten Jahren und Jahrzehnten, die eher den Eindruck eines wissenschaftlich ambitionierten Tauziehens erwecken, bei dem es vornehmlich um die immer ausgefeiltere Debatte, als um tatsächliche Bedeutungsgehalte geht, möchte man eher den Kopf einziehen, weil man befürchten muss, sofort den Kugelhagel von allen Seiten auf sich zu ziehen. Zudem scheint es wenig befriedigend, in den Chor derer einzustimmen, die über eben diese begrifflichen Schwierigkeiten lamentieren oder womöglich nur zu rezipieren, was diesbezüglich schon zigmal geschrieben und gesagt wurde. Ganz ähnlich wie bei der These vom Tod des Subjekts würde es jedoch unentschuldbare Feigheit bedeuten, den Kulturbegriff zu meiden, ihn gar abschaffen zu wollen und nicht Stellung zu beziehen. Bereits 1973 sah sich Clifford Geertz vor ähnliche Probleme gestellt, als er erkannte: »Wenn der Eklektizismus zu nichts führt, so nicht deshalb, weil es nur eine Richtung gäbe, die sinnvollerweise einzuschlagen wäre, sondern weil es so viele gibt: man muß eine Wahl treffen.« (Geertz 1983, 9) In diesem Sinne wird in der Folge die Wahl für den Geertz’schen Kulturbegriff als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen getroffen, weil dieser hilfreich für die hier beabsichtigte Bestimmung der Selbstkultivierung ist. Natürlich soll diese wahlweise Tiefenbohrung nicht den transdisziplinären Weitblick außer Acht lassen – ganz im Gegenteil. Wichtig ist – und das ist ebenfalls ein triftiger Grund für die getroffene Wahl – nah dran zu sein am tatsächlichen (Er-)Leben der Menschen, anstatt in abstrakten Höhenflügen einem akademischen Spezialistentum anzuhängen. Im Geertz’schen Kulturbegriff spiegeln sich die vertikale und die horizontale Dimension menschlicher Existenz wider. Denn Geertz beschreibt Kultur als ein Symbolsystem, das die tiefe Verwurzelung in Bedeutung und Sinn verbindet mit Vorstellungen höchster spirituell-göttlicher Autorität und zugleich »flächig« als ein Gewebe gedacht werden muss, das grundsätzlich dynamisch und anschlussfähig ist an andere kulturelle Systeme und sich gerade durch vielseitige Musterbildung auszeichnet. Kultur ist sowohl geschichtlich übermittelt als auch symbolisch vermittelbar, d. h. transgenerationell weiterzuentwickeln: Menschen werden geprägt von Kultur und prägen Kultur, beides wechselwirkend und gleichzeitig. Veränderung geschieht dadurch, dass es beide Seiten mit einem Überschuss an Anderem zu tun haben, der gerade aus dieser Wechselwirkung resultiert. Auch hier zeigt sich, wie verhängnisvoll es wäre, entweder nur im Eigenen zu verharren oder sich, die eigene Gewordenheit ignorierend, in 231 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Weltläufigkeit zu verlieren. In diesem gedanklichen Licht steht auch die Selbstkultivierung, denn der monologische Blick nach innen kann schnell zum eigenen Grab werden, der selbstvergessende Blick in die Ferne führt zur Selbstauflösung. Die Angst vor beidem lässt Menschen fatalerweise von einem Extrem ins andere flüchten. In der Folge soll beiden Dimensionen, der horizontalen und der vertikalen, in ihren je spezifischen Facetten und Verbindungslinien zur jeweils anderen Beachtung geschenkt werden. Zunächst geht es um die Pluralität von Kulturen und die Polyphonie des Selbst, in einem nächsten Schritt um die einheitsstiftende »Dichte« von Kultur als Bedeutungsgewebe, also konkreter um die angekündigte Nutzbarmachung des Geertz’schen Kulturverständnisses. Im Zentrum der Überlegungen steht die Frage, wie eine Kultivierung des Selbst gelingen kann, die nötig ist, um Interkulturalität leben zu können. Aspekte einer Praxis der Selbstkultivierung behandelt der dritte Abschnitt.

4.3.1 Plurale Kulturen – Polyphonie des Selbst Rolf Elberfeld zeigt in Durchbruch zum Plural. Der Begriff der Kulturen bei Nietzsche, wie sich das Kultur- bzw. Kulturenverständnis bei Friedrich Nietzsche tiefgreifend gewandelt hat. Dieser führte, so meint Elberfeld, vor allem durch seinen Bewusstseinswandel und den damit zusammenhängenden Erkenntnisgewinn, den Plural Kulturen in die deutsche Sprache ein: »was zunächst Schreckensbild und höchste Bedrohung einheitlicher Kultur zu sein schien, wird später zur eigentlichen Kraftquelle für geschichtliche Entwicklung und für die ›Steigerung von Kultur‹« (Elberfeld 2008, 134). Man könnte vielleicht auch sagen, dass Nietzsche es vermocht hat, die eigene Fremdheitsfähigkeit zu kultivieren. Dies ist natürlich für den hier behandelten Zusammenhang von äußerstem Interesse. Deshalb ist es lohnenswert, die entscheidenden Wendungen in Nietzsches Erleben und Denken nachzuvollziehen. Dabei ist zunächst zweierlei besonders bemerkenswert: Erstens der Wechsel vom Singularetantum Kultur verbunden mit dem Verständnis von Kultur als einer in sich homogenen Einheit hin zum Plural Kulturen, die »nicht mehr unabhängig voneinander leben, sondern füreinander zur Inspirationsquelle werden, und zwar innerhalb der in sich selbst ›polyphon‹ gewordenen Subjekte.« [H. i. O.] (ebd., 119) Zweitens misst Nietzsche dem Vergleichen und Durchleben von 232 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten und Kulturen eine besondere Bedeutung bei, um angesichts drohender Orientierungslosigkeit durch die Vielfalt unterschiedlicher Interessen neue Sicherheit zu erlangen. Elberfeld erläutert: »Im Vergleichen geht der Blick hin und her zwischen Verschiedenem, wohingegen im Durchleben verschiedene Weltbetrachtungen und Kulturen nacheinander erfahren werden, ohne dabei ganz und gar in ihnen aufzugehen.« (ebd., 126) Auch hier verschränkt sich die horizontale Ebene eines eher meta-perspektivisch angelegten Vergleichs mit der vertikalen eines leibhaftigen Durchlebens. Vor allem Letzteres erinnert stark an obige Beschreibung einer dialogischen Reaktion auf die Verunsicherung durch Fremdes von Hermans und Hermans-Konopka (2010, 3): »going into and through this uncertainty rather than avoiding it«. Diese Reaktion, so meinen die Autoren, ziele auf eine »post-dialogical certainty« ab, anstatt sich in eine »pre-dialogical certainty« zu flüchten, vielleicht sogar zu verschanzen [H. B. S.] (vgl. ebd., 4), welche letztlich nur Stagnation oder sogar Rückschritt bedeuten kann. Leider beschreibt Nietzsche die beiden Bewegungen nicht näher – wichtig ist aber, dass es ihm um konkrete Erfahrungen im Vollzug des eigenen Lebens geht und nicht nur um ein angeeignetes Wissen über andere Kulturen (welches diese eher im Sinne von Kultur als ausschließlich im Singular stehend, d. h. als einheitlich-abgeschlossene Entität, verstünde). Die Tatsache, dass Nietzsche das Vergleichen und Durchleben in einem nennt und zudem von »Unruhe« angesichts eines »Durcheinanderflutens der Menschen« und einer »Polyphonie der Bestrebungen« spricht (vgl. Nietzsche, KSA, 2, 44), lässt vermuten, dass er nicht das typologische Vergleichen einer vornehmlich rationalen Durchdringung von Unterschieden meint, wie es heute in vielen interkulturellen Trainings angestrebt wird. Was er vielmehr im Sinn hat, ist, sich selbst buchstäblich durchfluten zu lassen von der Fremdheitserfahrung – nicht umsonst spricht er von einer »Vermehrung des ästhetischen Gefühls« [H. B. S.] (ebd.) und nicht von einer Aneignung verschiedener Kompetenzen, um möglichst reibungslos der »unruhigen« Situation gewachsen zu sein. Auch hier spielt das Hören eine Rolle, denn Nietzsche benutzt das Wort der »Vielstimmigkeit«, die eine gewohnheitsmäßige Ruhe und altbekannte Geräuschkulissen vielleicht sogar empfindlich lärmend durchbricht – zumindest aber so, dass einen der fremde Klang aufhorchen lässt und aus der eigenen Routine reißt. Um vergleichen zu können, muss man zuhören und erfahren. Dieses Sich-anderen –Kulturen-Ausset233 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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zen ist natürlich nie ohne Angst und Leiderfahrungen zu haben, das hat Nietzsche selbst am eigenen Leib gespürt – beinahe symptomatisch betreibt er zunächst massive Kulturkritik aus Furcht vor dem die eigene, sichere Einheit zerstörenden Chaos der Kulturen. Trotzdem fordert er uns auf: »Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht!« (ebd.). Elberfeld arbeitet heraus, dass durch dieses durchaus schmerzhafte Durchleben unterschiedlicher Kulturen die eigentlich leidbringenden »Krankheiten« wie »Vorurteile, Verengungen und Verhärtungen – geistiger wie leiblicher Art« (Elberfeld 2008, 130) aufgebrochen werden. Das Durchleben großer Verunsicherungen kann also auch als eine Art bittere Medizin verstanden werden, die geschluckt werden muss, um heil zu werden und sich gesund entwickeln zu können. Die Erfahrung des Sich–Einlassens auf unterschiedliche Kulturen lässt den inneren Menschen nicht unberührt, denn er lässt in diesen Momenten die kulturelle Vielfalt in sich ein. 209 So schreibt Elberfeld (ebd., 135): »In Nietzsche entsteht mit der Neubewertung der Pluralität der Kulturen auch ein neuer Blick auf das Ich.« Im Nachlass von 1885 bemerkt Nietzsche zu seiner Hypothese »Das Subjekt als Vielheit«: Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht nothwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zu Grunde liegt? Eine Art Aristokratie von »Zellen«, in denen die Herrschaft ruht? Gewiß von pares, welche miteinander an’s Regieren gewöhnt sind und zu befehlen verstehen? [H. i. O.] (Nietzsche, KSA, 11, 650)

Man könnte auch sagen, das Durchleben unterschiedlicher Kulturen hinterlässt Echos im Selbst, welche dort nachklingen, zusammen und 209 In der Theorie des dialogischen Selbst hört sich das folgendermaßen an: »Voices in the self are not purely individual constructions, as they reflect the collective voices of the society […] individual voices are deeply infiltrated by the culture of groups and institutions in which they participate, including their power differences. (Hermans 2012, 7). Liest man das nachfolgende Zitat von Nietzsche, wundert man sich, dass er von Hubert Hermans u. a. bislang scheinbar unentdeckt blieb, denn die Übereinstimmungen in den Aussagen sind an vielen Stellen frappierend. Ähnliches stellt Elberfeld (2008, 138, Fußnote 38) in Bezug auf Wolfgang Welsch (1991) fest, der zwar die These der »Subjekt-Vielheit« Nietzsches stark macht, sich dabei ausdrücklich auf ihn bezieht (vgl. Welsch 1991, 357 ff.) – ihn aber nicht im Zusammenhang seiner Aussage, Individuen seien weniger individuell als sozial konstituiert, trügen also schon diverse soziale Patterns in sich (vgl. ebd., 353), erwähnt.

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gegeneinander stimmen und so überhaupt erst die Voraussetzung für ein Reifen der Person bilden. Diese sich so entwickelnde Vorstellung einer Subjekt-Vielheit konstatiert Nietzsche lange Zeit vor der postmodernen Rede von einer plural verfassten personalen Identität. 210 In obigem Zitat klingt es bereits an: Auch Nietzsche sieht das Subjekt als eine Art »society of mind«, als eine dynamische Gesellschaft »nach dem Vorbild einer politischen Ordnung als ein komplexes und labiles Gleichgewicht, welches die unterschiedlichsten Teile einer intern konkurrierenden Lebensform schließlich gefunden haben« (Heit 2013, 186). Den Glauben an »die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges, Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon« solle man »aus der Wissenschaft hinausschaffen!«, so das harsche Urteil Nietzsches (KSA, 5, 27). Einzug halten solle stattdessen die verfeinerte Vorstellung der »›Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte‹« (ebd.), als ein »Gesellschaftsbau vieler Seelen« (ebd., 33). Helmut Heit erwähnt, Nietzsche sei mit seiner Auffassung, dass der ganze Organismus – und dabei vor allem der von der Seele nicht zu trennende Leib 211 – eine relative Einheit in Vielheit sei, auch von den naturphilosophischen Schriften Goethes beeinflusst gewesen. Zur Verdeutlichung zitiert er folgende Passage: Jedes Lebendinge ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit; selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es eine Versammlung von lebendigen selbstständigen Wesen, die der Idee, der Anlage nach gleich sind, in der Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können. (Goethe 1817, in: Heit 2013, 187)

210 Allerdings, so kann man wieder einmal mit Michel Foucault oder Hannah Arendt und deren Rückgriff auf Sokrates sagen: »Und wenn ich den Dialog der Einsamkeit führe, wo ich ganz allein bin, bin ich doch nicht völlig getrennt von jener Pluralität, welche die Welt der Menschen bildet. […] Die Menschen existieren nicht nur wie alle irdischen Wesen im Plural, sie tragen die Signatur dieser Pluralität in sich.« (Arendt 2016, 59–60) 211 Nietzsche verleihe, so führt Heit (2013, 186) aus, diesem Gedanken durch folgende Stelle im Nachlass besonders klaren Ausdruck: »Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils mit einander kämpfend, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze bejahen. Unter diesen lebenden Wesen giebt es solche, welche in höherem Maaße Herrschende als Gehorchende sind, und unter diesen giebt es wieder Kampf und Sieg.« [H. B. S.] (Nietzsche KSA, 11, 282) Folgenden Nachsatz zitiert Heit nicht mehr, er ist hier aber auch noch von Bedeutung: »Die Gesammtheit des Menschen hat alle jene Eigenschaften des Organischen, die uns zum Theil unbewußt bleiben hzum Theili in der Gestalt von Trieben bewußt werden.« (ebd.)

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Interessant ist, dass Nietzsche im Zuge der Wahrnehmung pluraler Kulturen und eines polyphonen Selbst auch eine Veränderung im Erleben des menschlichen Verhältnisses zu Natur und Kultur bemerkt. Die Grundüberzeugung ehemaliger Völker oder »jetziger Wilder« sei, dass sie gleichsam »automatisch« an ihre Herkunft gebunden seien und die Natur als bedrohliches »Reich der Freiheit, der Willkür« erlebten. (vgl. Nietzsche, KSA, 2, 113) Die Menschen brauchten Kultur – und damit verbunden natürlich religiöse oder spirituelle Vorstellungen –, um sich die unheimliche Macht der Natur erklären zu können. Zahlreiche Rituale und kulturelle Praktiken boten Schutz und beruhigten, weil sie Götter milde stimmten und böse Geister vertrieben. »Wir jetzigen Menschen empfinden gerade umgekehrt: je reicher jetzt der Mensch sich innerlich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, umso gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur.« (ebd.) Diese berechenbare Regelmäßigkeit und naturgesetzliche Gleichförmigkeit wirkt heute wie ein beruhigender Balsam für die geschundene Seele des durch ständige »innere Bewegung der Motive« (ebd., 44) und große Verunsicherung bedrohten Selbst. Nietzsche schreibt, wir alle würden »mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung für die moderne Seele [erkennen], wir hören den Pendelschlag der grössten Uhr mit einer Sehnsucht nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unser selbst erst kommen könnten« (ebd., 113). Hier deutet Nietzsche an, was für viele Menschen heute zunehmend wichtig wird: der Rückzug in die Natur, an Orte der Stille, um die Vielfalt um und in sich ordnen zu können und damit zu sich selbst zu kommen. Auch darin liegt natürlich ein wichtiges Moment der Selbstsorge: Wenn der sichere Rückzugsort in die Kultur nicht mehr gelingt, weil sie vielfältig, fragwürdig und unberechenbar geworden ist, hilft die Natur. Dabei ist nicht unwichtig zu sehen, dass unsere natürliche Umwelt – ob wir wollen oder nicht – zu einem gemeinsamen Bezugspunkt wird. Denn hier ist die Menschheit als Ganzes betroffen, »weil sie ein gemeinsames Schicksal teilt, ein Schicksal, das durch die unauflösliche Bindung des Menschen an die Erde besiegelt ist« (Zarka 2015, 2). In der Sehnsucht nach dem Heimischwerden in einer natürlichen Gesetzlichkeit lauert jedoch auch die Gefahr, die Komplexität menschlicher Existenz auf wenige Merkmale zu reduzieren und Kultur wieder zu essentialisieren, den Menschen zur Regel zu machen– in gewissem

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Sinne wäre dies ein Rückschritt in alte Zeiten, in »rohe, frühe Zustände« (Nietzsche, KSA, 2, 113). Nietzsche entlarvt den Glauben an das Subjekt als Einheit durch die Erfahrung unterschiedlicher Kulturen. Umgekehrt könnte man auch die vermeintlich homogene Einheit der Kulturen durch die Subjekt-Vielheit sprengen. Denn beides gehört untrennbar zusammen. Weder die Einheit des Subjekts noch die homogene Kultur hat mit der konkreten Erfahrungswirklichkeit etwas zu tun, sie sind vielmehr »Fiktionen«, also etwas künstlich Erzeugtes. »[W]ir glauben an unseren Glauben so weit«, schreibt Nietzsche (KSA, 12, 465) in einem bekannten Zitat, »daß wir um seinetwillen die ›Wahrheit‹, ›Wirklichkeit‹, ›Substanzialität‹ überhaupt imaginieren.« Unser »Gleichsetzen und Zurechtmachen« [H. i. O.] (ebd.) eines einheitlich in sich geschlossenen Selbst ist das eigentliche Faktum, nicht die tatsächliche Gleichheit dieses Substrats – diese sei, so betont er, vielmehr zu leugnen. Rolf Elberfeld ist, so lässt sich hier vorläufig zusammenfassen, völlig zuzustimmen, wenn er Nietzsches Gedanken und das, was er bei ihm vor allem hinsichtlich des »Durchbruchs zum Plural« entdeckt hat, als äußerst relevant erachtet für die interkulturelle Forschung und für das Phänomen der Interkulturalität. Denn dieses wird schon längst nicht mehr nur wissenschaftlich-theoretisch bearbeitet, sondern muss vor allem alltäglich von Menschen weltweit verarbeitet werden. (vgl. Elberfeld 2008, 141) Es stimmt auch, dass noch viele Fragen, »vor allem im Rahmen praktisch vollzogener Interkulturalität« (ebd.), offen bleiben – dazu gehört allerdings nicht nur, die Polyphonie des Subjekts zu kultivieren, sondern auch, so soll hier im Anschluss weiter argumentiert werden, die Frage, wie man es schafft, »diese Vielheit zusammenzuhalten, zu verbinden, mit ihr umzugehen« (Welsch 1991, 360). Denn vor allem Menschen, die in mehreren Kulturen lebten oder leben, spüren, wie sehr diese untrennbar mit ihrem Selbst verwachsen sind. Sie spüren die damit einhergehenden inneren Zerreißproben und merken, wie die verschiedenen lebensgeschichtlichen Stränge an ihnen ziehen. Nicht selten sehnen sie sich nach dem einen, wenn sie im anderen leben, und umgekehrt. Unweigerlich bringen sie die innere Vielfalt und alle Brüche mit in die Beziehungen und Kulturen ein, in welchen sie leben, was häufig auch zwischenmenschlich zu Spannungen, Missverständnissen und Konflikten – aber auch zu größerer Offenheit und Verständnis für Fremdes – führen kann. Jürgen Straub (2015b) zeichnet die Entwicklung einer polyphonen, nar237 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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rativen Identität anhand von Eva Hoffmans autobiografischer Geschichte Lost in Translation nach. Sie sei, so schreibt er, sowohl eine Erzählung der äußeren als auch der inneren Migration (vgl. ebd., 164). In ihr zeigt sich, dass vor allem ein erzwungenes »Durcheinanderfluten« unterschiedlicher Kulturen eine äußerst leidvolle, sogar traumatische Erfahrung sein kann, die zudem nicht unbedingt dazu führt, dass Menschen kreativ-schöpferische Kräfte freisetzen können – ganz im Gegenteil. Hier muss einem allzu optimistischen Bild des polyphonen Selbst, das »glücklich darüber ist […], viele sterbliche Seelen in sich zu beherbergen« [H. i. O.] (Nietzsche, KSA, 2, 386) 212, Einhalt geboten werden. Das Schicksal Eva Hoffmans, die mit ihren Eltern in den 1950er Jahren als Dreizehnjährige dem erstarkenden Antisemitismus in Polen entflieht und zunächst in Kanada, später in den USA lebt, kann paradigmatisch für viele Menschen stehen, die durch Vertreibung oder Krieg auf der Flucht sind und sich selbst in der Fremde verlieren – oder wie in Hoffmans Fall – schließlich doch ein Zuhause finden. Hoffmans Geschichte weist viele Parallelen zu Erfahrungen von Menschen auf, die, wie die Inuk, durch Zivilisierung oder Kolonialisierung weder hier noch dort wurzeln können und sich irgendwo »dazwischen« versuchen einzurichten – meistens in versteckten Nischen an zwielichtigen »Nicht-Orten« (vgl. Augé 2014), welche diejenigen meiden, die in Orten der Zugehörigkeit sicher ankern. An diesen »identitäts- und geschichtslosen« Orten, an Bahnhöfen, auf Parkplätzen großer Einkaufszentren, in Ghettos an den Randbezirken der Stadt, ist es schwer, einen polyphonen Zusammenklang mehrerer sozio-kultureller Wirklichkeiten zu erzeugen, wahrscheinlicher ist eine schmerzhafte Kakophonie, die stets in der Gefahr steht, »eigenstimmig« den Ton anzugeben und unweigerlich Einfluss nimmt auf die Art und Weise des Umgangs mit anderen. Zerstreute Menschen sammeln sich am Rand ihnen fremder Kulturen in einer 212 Friedrich Nietzsche gilt gewissermaßen als das Vorzeigesubjekt der Aussage, Genie und Wahnsinn lägen nah beieinander – was nicht zuletzt mit seinem, ihn sein ganzes Leben begleitenden, prekären Gesundheitszustand zusammenhängt. Wie sehr die Inhalte seines Denkens zwischen »Genie und Wahnsinn« schwanken, sei dahingestellt – zahlreiche Denker schlugen sich hier mal auf diese mal auf jene Seite der Beurteilung. Ob jedoch die vielen Seelen, die in Nietzsches Brust schlugen, ihm wirklich nur gut taten, bleibt fraglich. Wie sehr sich sein Herz und sein Geist immer neu verwandelten (vgl. Nietzsche KSA, 3, 355), zeigt sich deutlich im Vorspiel zur fröhlichen Wissenschaft: »Scharf und milde, grob und fein, Vertraut und seltsam, schmutzig und rein, Der Narren und Weisen Stelldichein: Diess Alles bin ich, will ich sein, Taube zugleich, Schlange und Schwein!«

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fragmentarischen und häufig einsamen Existenz. 213 Die so Exkludierten entwickeln eigene sozio-kulturelle Gefüge, häufig mit zerstörerischem und selbstzerstörerischem Potential – von Offenheit und Fremdheitsfähigkeit kann hier kaum mehr die Rede sein. Man denke beispielsweise an die bereits erwähnten kriminellen Banden indigener Jugendlicher in kanadischen Großstädten, an das Problem unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, denen es nicht gelingt, in Deutschland Fuß zu fassen und infolgedessen Halt in Terrormilizen suchen, aber auch an sogenannte »benachteiligte« deutsche Jugendliche (vgl. Schellhammer 2012), die den vielfältigen Anforderungen des Lebens nicht gewachsen sind, nirgends »landen« können und sich radikalisieren. Die so entstehenden »Ersatzgewebe« sind trügerisch und verhängnisvoll. Denn die darin Verstrickten sind bei ihrem Spagat zwischen den Kulturen innerlich zerrissen und werden leicht zum Spielball mächtiger dysfunktionaler Systeme, die sie aufsaugen und vereinnahmen. So ist es kaum noch möglich, innere Pluralität in »lebendiger Resonanz zur Pluralität der Kulturen« (Elberfeld 2008, 140) zu leben, die Betroffenen klammern sich vielmehr hilflos an zweifelhafte Fundamente. Zudem ist fraglich, wie unterschiedliche Kulturen miteinander zum Klingen kommen können, wenn der Klangkörper des Selbst löchrig oder gar völlig zerstört ist. Es ist wohl wahr, dass nicht jede Kultur in jedem Menschen resoniert, »so dass jeweils ein eigenes und vielfältiges kulturelles Gefüge entsteht« (ebd.) – doch erfolgt die Auswahl kultureller Gefüge, in welchen Menschen Orientierung und Halt finden, nicht immer bewusst geplant oder freiwillig. Dies ist eher eine Ausnahme und ein Privileg derer, die aus sicheren Orten aufbrechen, um Fremdem zu begegnen, es erfahren und »durchleben« möchten. Hier zeichnet sich noch einmal das Spannungsfeld der Extreme von Totalität und Fragmentierung ab: Es gibt auf der einen Seite Menschen, die sich bequem eingerichtet haben in ihren kulturellen Ordnungen, die stark dem Singularetantum von Kultur anhängen und meinen, alle Menschen »sollten« Kultur haben – und zwar diejenige, die sie selbst als »KulDiese »gatherings of exiles and émigrés and refugees« an anderen Orten und anderen Zeiten, »on the edge of ›foreign‹ cultures« führt nach Homi K. Bhabha (1994, 199) zu hybriden Identitäten und Kulturen, die sich in Zwischenräumen einrichten, dieses Zwischen auf sich ausrichten, von ihm durchdrungen und geformt werden. Oben erwähnte Geschichte des Inuit-Ältesten, der sich vorkomme, wie eine Gurke, die im Zuge der Assimilierung zu einer Gewürzgurke gemacht worden sei, zeigt, wie tief die Hybridisierung geht: sie lässt sich nicht mehr rückgängig machen.

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tur« erachten: ihre eigene 214. Diesen kulturell Wohlsituierten täte es gut, vielfältig von der Pluralität der Kulturen durchflutet zu werden, damit ihr Zentrismus aufgeweicht wird. Auf der anderen Seite gibt aber es eben auch solche, die haltlos getrieben sind und die nicht ohne Weiteres »die Vielfalt der Kulturen in Bewegungen und Bezügen in neuer Konstellation« (ebd.) in sich wirksam werden lassen können – weil ihnen gerade das fehlt, was Erstere im Überfluss besitzen. Nach wie vor fragt sich also, was eine Person braucht, um, wie es Eva Hoffman (1989, 280) am Ende ihres Buches beschreibt, (auch innerlich bei sich) anzukommen: Right now this is the place where I am alive. How could there be any other place? Be here now, I think to myself in the faintly ironic tones in which the phrase is uttered by the likes of me. Then the phrase dissolves. […] Time pulses through my blood like a river. The language of this is sufficient. I am here now.

Eva Hoffmans Satz: »I am here now« kann treffender für eine Beschreibung des Ankommens nicht sein: »Ich bin« meint, sie ist »bei sich« und »sie selbst«, nicht irgendwer. »Hier jetzt« zeigt, dass das Leben im Fluss ist, denn morgen oder übermorgen kann sie wieder woanders sein. Das »Ich bin« ist die Veränderung und das Immer-wieder-neu-Ankommen. An diesem Punkt geht es nicht mehr nur um die Pluralität der Kulturen, welche im Selbst ihre Wirkung entfaltet und die Selbstbezogenheit des Subjekts aufzubrechen vermag. Es geht auch darum, auf die Einheit des Selbst zu achten, d. h. angesichts einer – für viele Menschen – überwältigenden Vielfalt die eigenen Wurzeln zu pflegen – und zwar gerade ohne wieder in die Substanzialität zurückzufallen. Es bedarf also bei all der Vielstimmigkeit auch des Hörens auf sich selbst, eines Innehaltens, eines Pflegens der eigenen Seele. Dieses ist eng verbunden mit einer immer neuen Ausrichtung, wie man selbst leben möchte, sodass das Leben gelingt. Hier deutet sich die vertikale Dimension menschlicher Existenz an, die bei all dem Stimmengewirr der Verfechter multikultureller Lebenskonzepte leicht ins Hintertreffen gerät. Nietzsche (KSA, 8, 561) hat das sehr wohl auch im Blick, spricht er doch von einer »Privat-CulturThat« 215, die die Einheit des Ichs erzeugen möchte – auch wenn wir 214 Hieraus folgt jedoch nicht automatisch, dass die erfolgreich Assimilierten jemals eine gleichberechtigte Chance innerhalb der »Aufnahmekultur« hätten. 215 »Der größte Theil unseres Wesens ist uns unbekannt. Trotzdem lieben wir uns, reden als von etwas ganz Bekanntem, auf Grund von ein wenig Gedächtniß. Wir

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meinen, diese nur »entdecken« zu müssen. Mit anderen Worten geht es darum, an einer eigenen »inneren Kultur« zu arbeiten, die alle Widersprüche, Brüche und Unebenheiten aber nicht wegbügelt oder einebnet, sondern gerade darin reift und ihre eigensinnige Existenz entfaltet. Eva Hoffman (1989, 279) erkennt: »Human beings don’t only search for meanings, they are themselves units of meaning; but we can mean something only within the fabric of larger significations.« Kulturen stiften Sinn – nicht nur zwischen Menschen (»within the fabric of larger significations«), sondern auch zwischen einzelnen Persönlichkeitsanteilen (»units of meaning«) im Menschen. Vielleicht erahnt Nietzsche auch die Bedeutung der inneren Kultur als »Bedeutungsgewebe« – vielleicht ahnt er, dass nicht nur das Auflösen der homogenen Vorstellung von Kultur für die Selbstbildung entscheidend ist, sondern auch umgekehrt, die Entwicklung einer »Privat-Kultur«, damit sich das Selbst nicht in der Vielfalt und der eigenen Unerklärlichkeit verliert. Diese Ahnung bleibt allerdings eher vage und unterschwellig, denn die wachsende Begeisterung Nietzsches hinsichtlich seines »Durchbruchs zum Plural« wirkt – vor allem wenn man die Ausführungen Elberfelds liest – befreiend, sie befreit aus einer egozentrischen Weltsicht und öffnet den Blick für vielfältige Perspektiven. Viele Menschen heute – mehr als hundert Jahre nach Nietzsches Tod – erleben die große Vielfalt jedoch auch als Last, die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist gekippt. Sie sehen sich vor der Herausforderung, die »Polyphonie der Bestrebungen« irgendwie zusammenzuhalten. Das mache – »im Unterschied zur oberflächlichen Buntheitsfreude – die eigentliche Anstrengung [aus]«, schreibt Wolfgang Welsch (1991, 361) und bezieht sich – zum Bild des Gewebes passend – nochmal auf Nietzsche: Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt; freilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden. Als Baugenie erhebt sich solcher Maassen der Mensch weit über die Biene: diese baut aus Wachs,

haben ein Phantom vom ›Ich‹ im Kopfe, das uns vielfach bestimmt. Es soll Consequenz der Entwicklung bekommen. Das ist die Privat-Cultur-That – wir wollen Einheit erzeugen (aber meinen, sie sei nur zu entdecken!).« (Nietzsche, KSA, 8, 561)

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das sie aus der Natur zusammenholt, er aus dem weit zarteren Stoffe der Begriffe, die er erst aus sich fabriciren muss. [H. B. S.] (Nietzsche, KSA, 1, 882)

4.3.2 Inneres und äußeres Bedeutungsgewebe Die vertikale Dimension menschlicher Existenz, auf die es in der Folge ankommt, knüpft direkt an Nietzsches Bild der Spinnenfäden an und verbindet es mit Eva Hoffmans Erkenntnis von Menschen als »Sinneinheiten«, eingebettet in größere Sinnbezüge. Beides mündet im Geertz’schen Verständnis von Kultur und in dem, was hier mit »Selbstkultivierung« gemeint ist. Einen Gedanken, der dem, auf was es in der Folge ankommt, sehr ähnlich kommt, findet man in Georg Simmels Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Kultur. Grob gesagt könnte man dessen objektive Kultur mit der Vorstellung eines »äußeren Bedeutungsgewebes« beschreiben und dessen subjektive Kultur mit dem, was hier als »inneres Bedeutungsgewebe« bezeichnet wird. Andreas Hetzel (2001, 15) führt aus: Als objektive Kultur definiert Simmel die Summe kultivierter Phänomene wie, »Sprache, Sitte, Religion, Recht (…), Geräte, Verkehrsmittel, Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst«, kurz, all das, was objektivistische Theoretiker als Inbegriff der Kultur bezeichnen. Davon unterscheidet Simmel eine subjektive Kultur, die er als Selbstkultivierung im Durchgang durch die Kultivierung der objektiven Kultur beschreibt: als »Weg der Seele zu sich selbst« oder als »Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit«. [H. B. S.] 216

216 Natürlich beschränkt sich Geertz als Kulturanthropologe auf das »äußere Bedeutungsgewebe« – dies trifft wohl auch die Kritik Hetzels an Geertz, den er mit seiner »Kultur-als-Text-Metaphorik« unter objektivistische Kulturtheorien subsumiert und der er u. a. Simmels Vorstellung von Kultur als die »reflexive Praxis« einer »subjektiven Kultur« entgegensetzt (vgl. Hetzel 2001, 176 ff.). Ganz ähnlich wird hier in der Folge das Geertz’sche Verständnis des Bedeutungsgewebes hinsichtlich eines »inneren Bedeutungsgewebes« erweitert. Dabei zeichnet sich eine unaufhebbare Spannung zwischen der (objektiven) kulturellen Rolle, die ein Individuum spielen soll, und ihrer (subjektiven) praktischen Umsetzung ab. (vgl. ebd., 184) Diese Spannung ist die Voraussetzung der Entwicklung von Kultur sowie der Kultivierung des Individuums. Dieser Gedanke rückt auch in die Nähe bereits erwähnter Identitätstheoretiker wie Goffman oder Krappmann, die, ausgehend von James und Mead, das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft thematisieren.

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Der Mensch ist – im Unterschied zu Nietzsches Biene, die das Wachs »aus der Natur zusammenholt« – auf Symbolsysteme als »extrinsische Informationsquellen« (Geertz 1983, 51) angewiesen. Mit »extrinsisch« meint Geertz »anders als z. B. die Gene – außerhalb der Grenzen des einzelnen Organismus in jenem intersubjektiven Bereich allgemeiner Verständigung« (ebd.); mit »Informationsquellen« meint er »ebenso wie die Gene – Baupläne oder Schablonen« (ebd.), »what computer engineers call ›programs‹« (Geertz 1973, 44). Obwohl sich die Art der Information und die Weise ihrer Übermittlung bei Genen grundlegend von jenen kultureller Muster unterscheiden würden, so bemerkt Geertz, sei der »Vergleich zwischen Gen und Symbol mehr als nur eine der üblichen stark strapazierten Analogien vom Typus ›soziale Vererbung‹«. Denn es bestehe eine substanzielle Beziehung zwischen beiden: Gerade weil nämlich beim Menschen die durch die Gene programmierten Prozesse im Vergleich zu den niederen Tieren so unspezifisch sind, sind die durch die Kultur programmierten so wichtig; gerade weil das menschliche Verhalten nur wenig durch intrinsische Informationsquellen determiniert ist, sind die extrinsischen Quellen so wesentlich. (Geertz 1983, 51) 217

Demgemäß erschöpft sich eine Kultur nicht in den Verhaltensmustern ihrer Mitglieder (z. B. in Bräuchen, Sitten, Traditionen, Gewohnheiten), sie dient vielmehr als eine Art extragenetischer, »outside-the-skin« Kontrollmechanismus zur Regelung des Verhaltens: »Culture, the accumulated totality of such patterns, is not just an ornament of human existence but – the principal basis of its specificity – an essential condition for it.« (Geertz 1973, 46). Wir sind, so schreibt Geertz in The impact of the concept of culture on the concept of man, »incomplete or unfinished animals who complete or finish ourselves through culture – and not through culture in general but 217 Was bei Nietzsche die Biene ist, ist bei Geertz der Biber. Er veranschaulicht die anthropologische Bedeutung »extrinsischer Informationsquellen« wie folgt: »Ein Biber benötigt zum Bau einer Dammes nur den richtigen Platz und die geeigneten Materialien – seine Vorgehensweise ist durch seine Physiologie bestimmt. Der Mensch aber, dessen Gene bei baulichen Aktivitäten nichts zu sagen haben, benötigt dazu noch eine Vorstellung davon, was es heißt, einen Damm zu bauen; eine Vorstellung, die er nur aus einer symbolischen Quelle beziehen kann – aus einem Bauplan, einem Lehrbuch oder aus verschiedenen Äußerungen von jemandem, der bereits weiß, wie man Dämme baut – oder natürlich daraus, daß er graphische oder sprachliche Elemente so bearbeitet, daß er eine Vorstellung davon entwickeln kann, was Dämme sind und wie sie gebaut werden.« (Geertz 1983, 51–52)

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through highly particular forms of it: Dobuan and Javanese, Hopi and Italian, upper-class and lower-class, academic and commercial« (Geertz 1973, 49). Zwischen den »genetischen Grundplänen« für das Leben, die alle Menschen teilen, und der Weise, wie wir unser Leben dann tatsächlich gestalten, liegt ein komplexes System bedeutungsgeladener Symbole, mit welchen wir unserem Leben eine bestimmte Form geben. 218 Die außerordentliche Fähigkeit des Menschen, sich an verändernde Umweltbedingungen anzupassen, welche sich vor allem auch physiologisch in der Plastizität des Gehirns widerspiegelt, wird häufig als spezifisch menschliche Eigenschaft hervorgehoben. 219 Was nach Geertz aber noch bedeutsamer ist als die menschliche Fähigkeit zu lernen, ist die Tatsache, dass der Mensch von Anfang an und permanent lernen muss. Denn: Beavers build dams, birds build nests, bees locate food, baboons organize social groups, and mice mate on the basis of forms of learning that rest predominantly on the instructions encoded in their genes and evoked by appropriate patterns of external stimuli: physical keys inserted into organic locks. But men build dams or shelters, locate food, organize their social groups, or find sexual partners under the guidance of instructions encoded in flow charts and blueprints, hunting lore, moral systems and aesthetic judgments: conceptual structures molding formless talents. (ebd., 49–50)

Deshalb spricht Ernst Cassirer (1990, 51) vom Menschen als animal symbolicum (anstatt animal rationale), der im Gegensatz zur tierischen Reaktion einer Antwort fähig ist. (vgl. ebd., 52 ff.) 219 Biologisch lässt sich feststellen, dass menschliches Verhalten auf drei »Ursachen« zurückgeht: auf das, was angeboren ist (Gene), auf das, was erlernt ist (Erziehung) und auf Reflexion (nur zu einem relativ geringen Teil). Das, was »Prägung« genannt wird, befindet sich zwischen Angeborenem und Erlerntem, denn es gibt in der Entwicklung des Kindes »sensible Phasen«, die als spezifische Zeitfenster angeboren und besonders prädestiniert sind für den Lernerfolg eines bestimmten Inhalts (z. B. Sprachen, Musikinstrument). Je höher die Entwicklung des Lebewesens ist, umso größer ist die Lernfähigkeit bzw. der Einfluss von Erziehung. Auch wenn der Mensch ohne die Entwicklung von Kultur als Lebewesen wohl auch überlebt hätte (genauso wie Tiere, die sich per Mutation und Selektion anpassen), zeigt sich der Vorteil seiner Kultur darin, dass er wesentlich flexibler auf unterschiedliche Umwelteinflüsse reagieren kann – nur so konnte er die Welt erobern und verschiedene, hoch spezialisierte Kulturen ausbilden. Geertz schreibt (1973, 45): »One of the most significant facts about us may finally be that we all begin with the natural equipment to live a thousand kinds of life but end in the end having lived only one.« 218

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Insofern hat Nietzsche Recht: Menschen sind in der Tat »gewaltige Baugenies«. Sie müssen, so Geertz, eine tiefe Kluft (»information gap«) zwischen dem überbrücken, was ihnen ihr Körper sagt, und dem, was sie sonst noch wissen müssen, um innerhalb ihres soziokulturellen Gefüges sinnvoll handeln zu können. (ebd., 50) 220 Menschen füllen dieses Loch ihrer Instinktreduziertheit mit Informationen, die ihnen ihre Kulturen liefern. Wenn die Kultur allerdings nicht mehr zur Verfügung steht, weil Menschen ihrer – aus welchem Grund auch immer – verlustig gehen, stürzen sie, wie oben bezüglich des Zusammenbruchs der Inuk deutlich wurde, auch innerlich in ein »existenzielles Vakuum«, dessen Ursache Viktor Frankl (2005, 12) auf zwei Gründe zurückführt: auf den Instinkt- und den Traditionsverlust. Er führt aus: Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er muß; und dem Menschen von heute 221 sagen keine Traditionen mehr, was er tun soll; und oft scheint er nicht mehr zu wissen, was er eigentlich will. Nur um so mehr ist er darauf aus, entweder nur das zu wollen, was die anderen tun, oder nur das zu tun, was die anderen wollen. Im ersteren Falle haben wir es mit Konformismus zu tun, im letzteren mit Totalitarismus. (ebd.)

Die »extreme Unspezifiziertheit, Ungerichtetheit und Veränderbarkeit der angeborenen (d. h. genetisch programmierten) Reaktionsfähigkeit des Menschen« (Geertz 1983, 60) bringt es mit sich, dass er, wie Nietzsche schreibt, auf wackeligen Fundamenten, die sich zudem permanent im Fluss befinden, seine Wohnstatt bauen muss. Die220 Hier schimmert der pragmatistische Einfluss auf Geertz durch. Die organisierte Gesellschaft geht gleichsam in die Person ein – bei Mead durch den »generalisierten anderen«, d. h. meine Vorstellung der Rolle, die ich in der Gesellschaft spielen soll, um den Erwartungen eines bestimmten Weltbilds zu entsprechen. Die Gesellschaft wiederum kann nur funktionieren, wenn ich diese Rolle ordnungsgemäß verinnerlicht habe, Regeln einhalte und mich zum kompetenten Mitspieler entwickle. Dass sich diese Vorstellung vor allem in spätmodernen Identitätskonzepten gravierend gewandelt hat, wird später noch einmal aufgegriffen. 221 Heiner Keupp bezieht sich bei seiner Analyse »bedrohter und befreiter Identitäten in der Risikogesellschaft« auf Zygmunt Bauman, der die Frankl’sche »Traditionslosigkeit«, passend zu dessen Bild des »existenziellen Vakuums«, als »ontologische Bodenlosigkeit« beschreibt. Diese sei nach Bauman zwar nicht ohne weiteres heilbar, zöge aber ein unstillbares Bedürfnis nach unverrückbaren Fundamenten nach sich: »›Territoriale Grenzen‹, ›Heimat‹, die der Nationalstaat lieferte und noch mehr die vermeintlich biologisch gesicherten rassischen Blutskoordinaten scheinen diese Fundamente so zu konstruieren, daß sie als quasi natürliche Fundamente erscheinen, die einem keiner streitig machen kann.« (Keupp 1996, 394)

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se kann nur ein Bau »wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden« (Nietzsche, KSA, 1, 882). Im Anschluss an Frankl könnte man sagen, der Bau muss so beschaffen sein, dass er sowohl dem Fundamentalismus (»so zart«) als auch dem Konformismus (»so fest«) widersteht. Das Material, aus welchem dieser Bau besteht, ist bei Nietzsche der »zarte Stoff der Begriffe«, die der Mensch »erst aus sich fabriciren muss« (ebd.). Bei Geertz sind es geschichtlich übermittelte Symbolsysteme, mit denen Menschen sich ihr Bedeutungsgewebe der Kultur spinnen. Insofern ist der Dom in Chartres, um ein weiteres Bild von Geertz zu bemühen, zwar solide aus Stein und Glas gebaut – eine gewaltige Kathedrale, ein Meisterwerk menschlicher Baukunst. Sie ist aber nicht einfach nur eine Kathedrale wie jede andere auch, sondern eine ganz spezielle, gebaut zu einer bestimmten Zeit von Menschen einer bestimmten Kultur. Was sie für Menschen bedeutet hat und immer noch bedeutet, kann nur derjenige ermessen, der sich aufmacht, den »zarten Stoff der Begriffe« zu verstehen, welcher der Kathedrale eigentlich zugrunde liegt, d. h. Grund für ihren Bau und die Art und Weise ihrer Architektur ist. Denn hinter einer Kathedrale wie der in Chartres steht ursprünglich das »Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes«. In den Worten Geertz’: To understand what it [die Kathedrale] means, to perceive it for what it is, you need to know rather more than the generic properties of stone and glass and rather more than what is common to all cathedrals. You need to understand also – and, in my opinion, most critically – the specific concepts of the relations among God, man, and architecture that, since they have governed its creation, it consequently embodies. (Geertz 1973, 50–51)

Im Bild des Spinnennetzes wird die Fragilität und Verwundbarkeit von Kultur – und damit von menschlicher Existenz – deutlich. Zudem offenbart sich, wo die besonders verwundbaren Punkte liegen: in Begriffen und Symbolen, denn in ihnen verbergen sich die Sinnbezüge und Bedeutungsgehalte, die Menschen brauchen, um nicht im Chaos und in Haltlosigkeit zu versinken. Symbole und Begriffe sind deshalb so wichtig, weil sie sowohl als Modell »von« als auch »für« Wirklichkeit fungieren. (vgl. Geertz 1983, 52 ff.) Als Modell von Wirklichkeit beschreiben sie ein bestimmtes Weltbild. Schon als Kinder lernen wir, die Welt auf eine bestimmte Art und Weise zu verstehen, wir bekommen einen Begriff davon, wie die Welt ist. Als Modell für Wirklich246 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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keit liefern Symbole Verhaltensanweisungen, denn sie geben uns eine Vorstellung davon, wie die Welt sein soll, sie repräsentieren ein bestimmtes Ethos. Im Symbolhandeln greift beides sich wechselseitig verstärkend ineinander: »[Symbole] drücken das jeweilige Leben aus und prägen es zugleich.« (ebd., 55) Ein Beispiel soll das Gesagte verdeutlichen: Ein Kind, das in einem katholischen Elternhaus aufwächst, lernt von Anfang an bestimmte Rituale wie das Tischgebet, den sonntäglichen Kirchgang oder die Bedeutung der Beichte. Im Praktizieren dieser Rituale festigt sich die Vorstellung, dass es eine göttliche Autorität gibt, die Menschen helfend zur Seite steht, aber auch alles sieht und mögliche Fehltritte vergibt. Zugleich erwachsen aus diesem Weltbild zahlreiche Regeln und Direktiven, sich zu verhalten: die zehn Gebote zu befolgen, nicht zu sündigen, den Nächsten zu lieben und Gutes zu tun. Der kulturelle Kontext, in dem wir leben, wird uns zur ordnungsgebenden Disposition. Neurowissenschaftlich gesprochen: Alles, was wir tun und erleben, korreliert in unserem Gehirn und beeinflusst unsere Wahrnehmung der Welt bzw. die Wahrnehmung unserer Welt. Ethos und Weltauffassung verschmelzen in der Praxis kultureller Symbole, die starke und umfassende Stimmungen und Motivationen in den Menschen hervorrufen – selbst metaphysische Vorstellungen erreichen so den Status des Faktischen, eines »wirklich Wirklichen« (vgl. ebd., 77). Antonio Damasio (2012) hat – aus der Sicht des Neurowissenschaftlers – ebenfalls ein »künstlerisches« Bild geprägt, das die dichte Verwobenheit des Selbst in seine selbstgesponnenen Fäden »musikalisch« beschreibt. Er vergleicht das Zusammenwirken verschiedener Gehirnregionen bzw. Gedächtnissysteme einer Person mit den unterschiedlichen Instrumenten in einem Orchester. Dabei versteht er das Selbst als den Dirigenten, der aus seinem Orchester bzw. dessen gespielter Symphonie selbst hervorgeht. 222 Es steht sich selbst also nicht unabhängig gegenüber, sondern erwächst aus seiner sozio-kulturellen Gewordenheit bzw. aus dem Prozess seines Werdens. Zugleich prägt es in diesem Prozess aber auch die »objektive Kultur« durch seine individuelle Eigensinnigkeit. »Nur wo es dem Subjekt gelingt, die objektive Kultur zu kultivieren, sie über sich selbst hinauszutreiben«, so Hetzel (2010, 222 Folgendes Zitat von Fernando Pessoa stellt er den Ausführungen in seinem Buch voran: »My soul is like a hidden orchestra; I do not know which instruments grind and play away inside of me, strings and harps, timbales and drums. I can only recognize myself as symphony.« (Damasio 2012, o. S.)

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16), »vermag es sich auch selbst als Subjekt zu kultivieren«. Dieser Gedanke ist wichtig, denn wir sind keine Marionetten, die von den Spielleitern eines fixen Drehbuchs unserer Kultur in unseren Rollen festgelegt werden, wir sind vielmehr immer dazu aufgefordert, die Rollen so zu spielen, dass sie unserer Eigentlichkeit entsprechen. »Der Schauspieler füllt seine Rolle nicht nur aus«, schreibt Hetzel bezugnehmend auf die Definition von Kultur als Darstellung bei Simmel, »sondern entwickelt sie über ihre eigenen Grenzen hinaus weiter.« (ebd., 183) Das wichtigste kulturelle Symbol ist die Sprache, sie setzt »die Grenzen meiner Welt« (Wittgenstein 1963, 89) und hält mich in ihr. Der Mensch lebe hauptsächlich mit den Gegenständen, »so wie sie ihm die Sprache zuführt«, schreibt Wilhelm von Humboldt (2010b, 224) und fügt hinzu, da Empfinden und Handeln von seinen Vorstellungen abhänge, »sogar ausschließlich so«. Auch er nutzt bei seinen Ausführungen zur Bedeutung der Sprache die Metapher eines Gewebes, in welches sich Menschen durch den Gebrauch von Sprache »einspinnen«: Durch denselben Act, vermöge dessen der Mensch die Sprache aus sich heraus spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede Sprache zieht um die Nation, welcher sie angehört, einen Kreis, aus dem nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen Sprache hinübertritt. Die Erlernung einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht seyn, da jede das ganze Gewebe der Begriffe und der Vorstellungsweisen eines Theils der Menschheit enthält. Da man aber in eine fremde Sprache immer mehr oder weniger seine eigne Welt – ja seine eigne Sprachansicht hinüberträgt, so wird dieser Erfolg nie rein und vollständig empfunden. (ebd., 224–225)

Die menschliche Sprachbegabung ist angeboren, sie realisiert sich aber nur in jeweils konkreten Kontexten als spezifisch kulturelles Symbol, als eine bestimmte Sprache. 223 Als solche bedingt sie eine 223 Clifford Geertz (1973, 50) führt dazu aus: »Our capacity to speak is surely innate; our capacity to speak English is surely cultural. Smiling at pleasing stimuli and frowning at unpleasing ones are surely in some degree genetically determined […]; but sardonic smiling and burlesque frowning are equally surely predominantly cultural, as is perhaps demonstrated by the Balinese definition of a madman as someone who, like an American, smiles when there is nothing to laugh at. Between the basic ground plans for our life that our genes lay down – the capacity to speak or to smile – and the precise behavior we in fact execute – speaking English in a certain tone of voice, smiling enigmatically in a delicate social situation – lies a complex set of sig-

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Lebensform und umgekehrt. Wie sehr Sprache einem die Welt aufschließen kann, merkt man bereits dann, wenn man mit einem Biologen durch den Park spaziert. Denn man nimmt durch dessen Kenntnis der Namen unterschiedlicher Pflanzen eine Vielfalt an Blumen und Bäumen wahr, die man vorher so nicht sehen konnte, weil man keine Möglichkeit der Unterscheidung hatte. Humboldt deutet bereits an: Fremdheitsfähigkeit setzt das Hinaustreten aus den eigenen Sprachgrenzen und das Wagnis des mühsamen Herumstolperns in einer anderen Sprache voraus. Nur so kann man sich fremde Welten »dicht« erschließen und einen neuen Blick auf die eigene Herkunft gewinnen. Deshalb meint Elberfeld (2013, 54), es sei für eine kulturoffene Bildung und Kultivierungspraxis unumgänglich, möglichst viele Sprachen – auch aus fremden Sprachfamilien – zu lernen, um neue »Verstehens- und Kreativitätshorizonte« zu erschließen. Ähnlich betont Straub (vgl. 2018, 167), die Möglichkeit der Partizipation an einer (fremd-)kulturellen Lebensform sei von der Fähigkeit abhängig, Sprachspiele mitspielen zu können. Wie stark sich die Bedeutung ein und desselben Symbols bereits innerhalb einer Sprachfamilie unterscheiden kann, zeigt sich beispielsweise am Wort »Respekt«. So kann es passieren, dass ein Paar jahrzehntelang zusammenlebt und sich beide wechselseitig im Konfliktfall vorwerfen, vom anderen nicht respektiert zu werden. Ihre »situative Gebundenheit« in die »eigne Welt- und Sprachansicht« – in ihr jeweiliges Bedeutungsgewebe, das völlig der Realität zu entsprechen scheint – hindert sie daran, sich darüber auszutauschen, was jeder mit dem Wort Respekt konkret meint. »Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit«, schreibt Humboldt (2010, 228), »und dies erst vollendet den Begriff«. Fremdheitsfähigkeit beginnt also bereits hier – sie beginnt damit, nachzufragen, was ein Wort, dessen Bedeutung mir eigentlich völlig klar zu sein scheint, für jemand anderen bedeutet (und zwar nicht nur inhaltlich-rational, sondern auch emotional). Fremdes »versteckt« sich im Vertrauten, in längst »natürlich« gewordenen Symbolen – gerade hier, wo es am wenigsten erkennbar in Erscheinung tritt, kann es im Untergrund Strömungen erzeugen, welche die davon Erfassten mitreißt. Denn alles Verstehen ist immer zugleich ein Nicht-Ver-

nificant symbols under whose direction we transform the first into the second, the ground plans into the activity.«

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stehen, welches sich unter der vermeintlichen Allgemeinheit eines Begriffs verbirgt. (vgl. ebd.) Durch ihren täglichen Gebrauch verändert sich die Sprache, sie ist lebendig und insofern mit ursächlich für die Dynamik und den kontinuierlichen Wandel kultureller Gefüge. So gibt es beispielsweise in jeder Familie außergewöhnliche Wortschöpfungen, wenn Kinder zu sprechen beginnen. Diese haben eine ganz spezielle Bedeutung für die Familie, sie werden zu »Insider«-Begriffen, die nur Eingeweihte verstehen. Inuit mussten und müssen sich immer wieder überlegen, wie sie neue technische Errungenschaften wie den Computer, die Spülmaschine oder das Handy in ihrer Sprache benennen. Umgekehrt ringen sie um Worte, wenn sie etwas ausdrücken wollen, für das das Englische keine Worte bereithält – dies führte auch schon dazu, dass Inuktitut-Worte ins Englische übernommen wurden (z. B. Kabloonak für »Non-Inuit«). In zahlreichen »re-naming«-Projekten versuchten indigene Völker in den letzten Jahren ihren Lebensraum durch den Gebrauch ihrer Sprache wiederzugewinnen. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Umbenennung des höchsten Bergs Nordamerikas im August 2015 durch Barack Obama, der dem Mt. McKinley seinen ursprünglichen Namen, Denali, zurückgegeben hat. Zu Deutsch heißt Denali, das aus der Sprache der Athabasken stammt, »der Große«. Welche enorme Bedeutung die Benennung wichtiger Orte für die Inuit hatte, beschreibt Béatrice Collignon in Inuit Place Names and Sense of Place. Dabei betont sie vor allem »that place names are multidimensional: they carry much more meaning than just that of the name itself. They have a ›hidden meaning‹ that expresses itself in Inuit memory and in storytelling.« (Collignon 2006, 189) 224 Sie berichtet davon, dass sie ursprünglich dachte, markante Ortsnamen würden der Jagd und der besseren Orientierung in einer Gegend dienen, die – zumindest für einen Außenstehenden – überall gleich aussieht. Schnell musste sie jedoch von Ältesten lernen: »place names Um das Gesagte zu verdeutlichen, sei hier ein Beispiel von Collignon erwähnt: Sie berichtet davon, dass ein Ortsname, Hiuqqitak, zum einen übersetzt wurde mit »sandy and shallow place« und zum anderen mit »caribou crossing place«. Ein weiteres Beispiel sei Nilak, was übersetzt würde mit »where the ice piles up« und »hard to cross«. Als sie ihrer Verwunderung darüber Ausdruck verlieh, wurde ihr erklärt: »yes, the name means ›where the ice piles up‹ but its real meaning is ›hard to cross‹ because this is what people think about immediately when they hear the toponym Nilak.« [H. i. O.] (ebd., 196–197) 224

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were not for travelling« (ebd., 199). Die Orientierung durch sprachliche »Wegweiser« diente vor allem der Orientierung in einer »kulturellen« Landschaft: They tell the story of the land and of its people, a story that emphasizes space rather than time […]. They are a major piece in the construction of a memoryscape (Nuttall 1992) out of the neutral landscape. This memoryscape could also be called cultural landscape. […] As narratives, place names are useful not for the action of traveling but for later telling the story of the journey. […] They are words and as such they have a special power, much greater than the sometimes simple meaning they seem to carry at first glance. […] Place names appear as mediators between the land and the people as well as between the people themselves. They are one of the means through which the experiences of interactions with the land can be shared, and thus through which the land can be understood and become a human place where one can live a full life, not just survive. (ebd., 199–200)

Die Assimilation der Ureinwohner in Kanada war auch deshalb so »erfolgreich«, weil den Menschen ihre Sprache – und damit große Bereiche ihrer selbst-verständlichen Lebensform und Lebensmöglichkeit – genommen wurde (vgl. auch das oben erwähnte Beispiel der vielen Worte für Schnee in Inuktitut). Mit dem Verlust ihrer »geosophy«, einer Art sprachlich gefasster geografischer Weisheit, sich auf dem Land und im eigenen Leben orientieren zu können, wurden die Menschen sich selbst fremd, denn »geosophy goes beyond a practical efficient geografical knowledge. It encompasses feelings, dreams, hopes, values, and beliefs« (ebd., 202). Sprache fungiert als Brücke zur Welt. Ohne die Fähigkeit, mit Menschen im Ausland sprechen zu können, erleben sich die dorthin Emigrierten zunächst isoliert und allein. Vor allem Gefühle lassen sich nur schwer in einer fremden Sprache ausdrücken, denn man hat den Eindruck, als würde man sie in unpassende Container zwängen, die niemals das treffen, was man tatsächlich erlebt. Wenn einem die Worte fehlen, bleibt man allein mit dem inneren Erleben. Wie verloren, minderwertig, und begrenzt man sich fühlen kann, wenn man jenseits der eigenen Sprachgrenzen lebt, beschreibt auch Eva Hoffman, sie ist »lost in translation«: The words I learn now don’t stand for things in the same unquestioned way they did in my native tongue. »River« in Polish was a vital sound, energized with the essence of riverhood, of my rivers, of my being immersed in rivers. »River« in English is cold – a word without an aura. It has no accumulated associations for me, and it does not give off the radiating haze of connota-

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tion. It does not evoke. The process, alas, works in reverse as well. When I see a river now, it is not shaped, assimilated by the word that accommodates it to the psyche – a word that makes a body of water a river rather than an uncontained element. The river before me remains a thing, absolutely other, absolutely unbending to the grasp of my mind. (Hoffman 1989, 106) 225

Ein noch drastischeres Beispiel für die Bedeutung der Sprache als ́ Orientierungssystem ist der Vorfall um Robert Dziekanski im Jahr 2007 am Flughafen in Vancouver. Der junge Mann aus Polen flog nach Kanada, um dort bei seiner Mutter zu wohnen. Er wurde jedoch aufgrund bürokratischer Schwierigkeiten bei der Einwanderung viele Stunden im Sicherheitsbereich des Flughafens festgehalten. Da er kein Wort Englisch sprach und die Sicherheitsbeamten nicht polnisch, verstand er nicht, warum er nicht zu seiner Mutter in den Empfangsbereich durfte. Nach etwa zehn Stunden rastete er aus und warf mit Stühlen und anderen Gegenständen um sich, als er versuchte, gewaltvoll durch die Glastüren zu kommen. Er war nicht zu beruhigen, bis vier Beamte der RCMP eintrafen und ihn per Taser ruhigstellten. Leider schienen die Polizisten mit dem aufgebrachten Mann völlig überfordert zu sein, sodass ihr Eingriff derart massiv ausfiel, dass der Pole an den Folgen des Elektroschocks starb. Die Abhängigkeit des Menschen von Symbolen und Symbolsystemen sei derart groß, erklärt Geertz, dass er ohne sie »in seinen Funktionen defizient bliebe« (vgl. Geertz 1983, 60). Er fährt fort: »Schon der geringste Anlaß zu der Befürchtung, sie könnten mit irgendeinem Aspekt der Erfahrung nicht fertigwerden, löst daher die schwerwiegendsten Ängste in ihm aus.« (ebd.) Wenn eine Kathedrale zerstört wird, ist das nicht nur der Verlust eines geschichtlich bedeutsamen Gebäudes. Genauso wenig sind Mohammad-Karikaturen

225 Ähnliches findet sich bei Yoko Tawada, die ihr intensives Erleben zwischen den beiden Sprachwelten Japanisch und Deutsch wunderbar zum Ausdruck zu bringen vermag. Japanische Schriftzeichen werden als Bilder wahrgenommen. Deshalb sei es für sie schwierig gewesen, »daß man Buchstaben als Text im Kopf als gesprochene Sprache realisieren muss« (Tawada 2001, 27). »Der Schriftkörper eines Ideogramms ist nicht rätselhaft, denn er zeigt, was er bedeutet. Ich kann ruhig meinen Blick darauf verweilen lassen. Es besteht keine Gefahr, in Unsinn zu stürzen, auch wenn ein Ideogramm meistens mehrere Bedeutungen hat, die sich im Laufe der Geschichte in ihm versammelt haben. […] Dagegen ist jeder Buchstabe des Alphabets ein Rätsel. Was will zum Beispiel ein A mir sagen?« (ebd., 30)

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schlicht ein vermeintlich lustiger Comic-Strip, bloße Satire, oder das Verbot der indianischen Schwitzhütte nur die Untersagung einer kulturellen Praktik, die man leicht mit einer anderen ersetzen könnte. All diese Dinge sind mit dem Menschen nicht nur äußerlich, sondern existenziell mit ihm verbunden. Menschen seien (in gewissem Sinne wie die Kathedrale in Chartres) »kulturelle Artefakte«, schreibt Geertz (1973, 51): »Becoming human is becoming individual, and we become individual under the guidance of cultural patterns, historically created systems of meaning in terms of which we give form, order, point, and direction to our lives.« (ebd., 52) Der Angriff auf das Bedeutungsgewebe unserer zwischenmenschlichen Existenz, d. h. auf die Symbole, die es wie die Knotenpunkte zusammenhalten, ist ein Angriff auf die Person, die hier beheimatet ist. Denn die »äußeren« Fäden der kulturellen Existenz sind zutiefst mit den Fäden des »inneren« Gewebes personaler Identität verknüpft. »Im Gegensatz zum faktischen Ich ist das Selbst ein fakultatives«, schreibt Frankl (2005, 169), und führt aus, es repräsentiere den Inbegriff der Möglichkeiten des Ich. Diese seien solche der Sinnerfüllung und Wertverwirklichung. »Wer einen Menschen um diese Möglichkeiten betrügt, beraubt ihn des Selbst als des Spielraums, in dem das Ich atmet.« Das Bedeutungsgewebe der Kultur stellt diesen Spielraum der Sinnerfüllung dar. Das, was Frankl mit »faktischem Ich« meint, könnte man mit Plessner als den Anteil beschreiben, den wir von »zentrischen Lebewesen« noch übrig haben, die auf Gefahr instinktiv mit Flucht, Angriff oder Totstellreflex reagieren. Als exzentrisch positionierte Wesen kommen wir vor allem dann an unsere Grenzen, wenn wir nicht mehr auf Symbole zurückgreifen können, die uns das Unerklärliche erklären. Die Grundannahme, dass das Leben begreifbar sei und wir uns mit Hilfe unseres Denkens erfolgreich in ihm zurechtfinden könnten, wird radikal in Frage gestellt (vgl. Geertz 1983, 61). Wir fühlen uns unserer Möglichkeiten beraubt, gleichsam in einer Sackgasse, an die Wand gestellt. Es gibt keine sinnhaften Anknüpfungspunkte mehr, wir stoßen an Sinngrenzen, rutschen vielleicht sogar in Sinnkrisen, wo gefühlt unsere gesamte Existenz auf dem Spiel steht, weil uns die »Luft zum Atmen« fehlt. In den Momenten, wo Menschen der kulturelle Boden unter den Füßen wegbricht, sind sie nicht mehr in der Lage, eine Antwort zu finden, sie reagieren »zentrisch«. »Undirected by culture patterns«, schreibt Geertz (1973, 46), »man’s behavior would be virtually ungovernable, a mere chaos of pointless acts and exploding emotions, his experience 253 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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virtually shapeless.« Joachim Fischer (2000, 283) spricht von »Grenzreaktionen der exzentrischen Positionalität« und erklärt: Die »Stufen des Organischen« als Aufstufung der Lebensformen bis zum Menschen führen zugleich in die exzentrische Positionalität als »Bodenlosigkeit« – der exzentrische Punkt liegt hier gleichsam unterhalb der Positionalität. In den Krisen, die die verselbständigten Körperreaktionen […] auf sich ziehen, gerät die exzentrische Positionalität über ihre Sinngrenzen hinaus – und in dem der Mensch [in diese Körperreaktionen] »fällt« bzw. sich […] »fallen lässt« fängt der Körper positional diese unmögliche weil nicht lebbare Lage im Fallen ab. (ebd.)

Anders gesagt: Wenn Menschen nicht mehr »bodenständig« über verschiedene Lösungsoptionen nachdenken, d. h. distanziert über die eigene Lage reflektieren und auf kulturell tradierte Coping- bzw. »fall-back«-Strategien zurückgreifen können, gleiten sie ab in Verhaltensweisen, die einer angeborenen, instinkthaften Körperreaktion entspringen: 226 Sie fliehen, geben auf oder ziehen in den Kampf. Sie stehen in der Gefahr, dem Konformismus auf der einen oder dem Totalitarismus auf der anderen Seite zu verfallen. (vgl. Frankl 2005, 12) Eine Person, die befürchten muss, ihr Bedeutungsgewebe zu verlieren, ist gewillt, alles zu geben, um es zu verteidigen – auch das eigene Leben. Das erklärt die brutale Ermordung der Redakteure des Satire-Magazins Charlie Hebdo, zahlreiche Selbstmordattentate im Namen extremistischer Gruppierungen oder die Tatsache, dass sich Jugendliche auf einmal zum Islam bekehren und in Syrien in einen grausamen Krieg ziehen. Hier finden sie Gründe zu leben (oder zu sterben), hier gibt es starke Symbole, die einer zerbrochenen Identität neuen Halt versprechen. Etwas gemäßigtere Symptome stellen die PEGIDA-Aufmärsche von Menschen dar, die angesichts großer Fluchtbewegungen weltweit ihrer Angst vor »Überfremdung« Ausdruck verleihen und sich gegen die vermeintliche »Islamisierung des Abendlandes« wehren möchten. Dabei wundern sich außenstehende Beobachter der Kundgebungen immer wieder, dass sich gerade Menschen aus Thüringen, Sachsen und anderen Bundesländern der ehemaligen DDR in besonderem Maße an den Demonstrationen be226 Auch hier sei nochmals auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse verwiesen. Die Amygdala (auch das Angstzentrum des Gehirns genannt) leitet den angsterregenden Impuls u. a. an den Hirnstamm weiter – der älteste Teil des menschlichen Gehirns – der dann die Reaktionen Flucht, Kampf oder Schreckstarre veranlasst. Die Verbindung von Angst und Reaktion geht so schnell, dass eine Reflektion im Großhirn in der Regel erst hinterher erfolgen kann.

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teiligen, obwohl hier der Bevölkerungsanteil von ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern am niedrigsten ist. 227 Das Bild des Bedeutungsgewebes macht deutlich: Man kann Menschen in prekären Lebenslagen nicht mit Daten, Zahlen und Fakten überzeugen; was vielmehr ausschlaggebend ist für die besorgniserregenden Entwicklungen (auch im Zusammenhang des Erstarkens rechtsextremer Neigungen und populistischer Tendenzen), ist das Erleben der Menschen. 228 Denn Menschen in den neuen Bundesländern ringen bis heute mit der Stabilisierung ihres Bedeutungsgewebes, das durch das Ende der DDR gewaltige Risse und Löcher bekam. Das hauchdünne Netz einer »deutschen Identität«, das nur langsam die einer geschundenen, mit zahlreichen Makeln behafteten, »Ostidentität« ablöst, muss in besonderen Maße gegen Fremdes verteidigt werden. Das Fatale daran ist, dass der Kampf gegen andere das Eigene stärkt und stabilisiert: Die Deutschlandfahne, dumpfe Parolen simpler Aussagen (»Wir sind das Volk!«) und ein bestimmtes sowie bestimmendes Auftreten repräsentieren ein Selbstverständnis und ein Weltbild, das zum Handeln gegen Ausländer auffordert. In all dem zeigt sich: Alle Menschen – egal wo, wann und wie sie leben – sind existenziell auf Kultur angewiesen. Die Muster, die Menschen an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten in ihr kulturelles Bedeutungsgewebe einflechten, unterscheiden sich aber zum Teil erheblich. Deshalb gestaltet sich die Wegfindung im Kontext eines fremden Gewebes chaotisch und furchteinflößend. Es hilft daher meist wenig, Menschen theoretisch auf die Gemeinsamkeiten hinzuweisen oder sie mit Fakten überzeugen zu wollen, wenn sie sich durch die Unterschiede in ihrer sinnhaften Existenz bedroht fühlen. Es gilt, das Gefühl der Bedrohung, die Ängste und Befürchtungen ernst zu nehmen – und das hat etwas mit Selbstsorge zu tun. Viktor Frankl (2005, 9) schreibt, »wovon der Mensch zutiefst und zuletzt 227 Lt. Statistischem Bundesamt (2016) waren es am 31. 12. 2015 in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen jeweils zwischen ca. 30–40 Personen von 1.000 Einwohnern. In den anderen Bundesländern schwankte der Ausländeranteil zwischen ca. 100–160 Personen. 228 Vgl. hier Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen von Heinz Bude (2016). Darin schildert Bude, dass sich Ostdeutsche häufig als Einwanderer im eigenen Land fühlen, die sich nach der Wende einem fremden Regelwerk unterordnen mussten. Das eigene Erleben der Ohnmacht wird kompensiert durch Machtdemonstrationen denjenigen gegenüber, die jetzt kommen oder zu kommen drohen. Kein Wunder, dass so genannte »Fake-News« über die potentielle Gefahr für das Land durch die Geflohenen wirksamer sind, als tatsächliche Fakten.

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durchdrungen ist, ist weder der Wille zur Macht noch ein Wille zur Lust, sondern ein Wille zum Sinn«. Denn: »Was der Mensch wirklich will, ist letzten Endes nicht das Glücklichsein an sich, sondern einen Grund zum Glücklichsein.« [H. i. O.] (ebd.) Können Menschen nicht in Sinn gründen, so meint er, würden sie direkt nach Lust und Macht greifen. Anstatt dass die Lust also bliebe, was sie sein muss, »nämlich eine Wirkung (die Nebenwirkung erfüllten Sinns und begegnenden Seins), wird sie nunmehr zum Ziel einer forcierten Intention, einer Hyperintention« [H. i. O.] (ebd., 10). In ihrem verzweifelten Greifen nach Lust und Macht verstricken sich Menschen schnell in die »unbewegliche Notstruktur« (Färber 2015, 289) eines »Ersatznetzes«, das sie bald gefangen nimmt. Gewaltspiralen, fixe Feindbilder, Drogenabhängigkeit und Selbstmord sind die Folgen einer Hyperreflexion, wenn die Lust und die Macht zum alleinigen Inhalt und Gegenstand der Aufmerksamkeit werden. Auch die »Lust« an Neuem, Unbekanntem und das Gefühl, sich selbstsicher einer Begegnung mit Fremdem aussetzen zu können, braucht also eine gewisse »Bodenhaftung«. Selbstkultivierung heißt, das eigene »innere Bedeutungsgewebe« zu pflegen, um darauf selbstbestimmt Leben gestalten zu können. Udo Di Fabio führt aus, die Integration von Geflohenen in Deutschland gelänge nur, wenn wir unsere eigenen Wurzeln pflegen würden: Schließlich sollte bei Einschätzung der Integrationskraft eines Landes ein Punkt nicht vergessen werden – darauf hat auch Margot Käßmann mit ihrer Faustformel »Nur leere Kirchen machen Angst vor vollen Moscheen« jüngst hingewiesen. Eine Gesellschaft, die ihre eigenen kulturellen und religiösen Wurzeln nicht pflegt, die ihr Land und ihre Identität nicht bejaht, eine Gesellschaft, die nicht mit eigenen Kindern optimistisch und pragmatisch nach vorne schaut, eine solche Gesellschaft reagiert auf Veränderung eher ängstlich. Vor allem wird sie als Integrationsziel für die Hinzukommenden auf Dauer nicht anziehend, nicht ansteckend wirken. [H. B. S.] (Di Fabio 2015, o. S.)

Kurz gesagt: Integration gelingt nicht durch Gleichmachen oder Anpassen, sondern durch Selbstkultivierung. Denn in der Angst vor dem fremden Anderen spiegelt sich die Angst vor der eigenen Orientierungslosigkeit – in gewissem Sinne die Angst um und vor sich selbst. Das Bild der Wurzeln, die es zu pflegen gilt, d. h. die Aufforderung, sich selbst zu »kultivieren«, greift auf die etymologische Bedeutung des Wortes Kultur »als ein aus der Natur abgeleiteter Begriff« (Eagleton 2001, 7) zurück. Terry Eagleton erläutert diesbezüglich: 256 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Eine seiner ursprünglichen Bedeutungen ist »Urbarmachung«, die Pflege des natürlichen Wachstums. […] Das mit »Kultur« verwandte Wort »Kolter« bezeichnet das Messer vor der Pflugschar. Das Wort für die vornehmsten menschlichen Betätigungen entnehmen wir also der Feldarbeit und Agrikultur, dem Kultivieren und Ernten. Francis Bacon spricht einmal von »der Kultur und Düngung der Geister«. »Kultur« bedeutet hier eine Tätigkeit; erst viel später bezeichnet es eine abstrakte Größe. 229 [H. B. S.] (ebd.)

Die so verstandene Kultur bringt sich durch die intensive Bearbeitung von etwas, das brach und wild vor einem liegt, selbst hervor. Dabei muss sie mit den Bedingungen umgehen, die ihr das »natürliche Wachstum« vorgibt. Wichtig ist hier die Anmerkung Elberfelds, der feststellt, dass die Schwierigkeiten bei der Verwendung des Kulturbegriffs daher rührten, dass er auf mindestens drei verschiedene Weisen benutzt werde – dessen scheint sich Eagleton bewusst zu sein, wenn er in obigem Zitat von einer ursprünglichen Bedeutung spricht. Bezüglich dieser (ersten) Verwendungsweise führt Elberfeld ergänzend aus, dass Kultur als eine »Praxis der Kultivierung bzw. Bildung des einzelnen Menschen« (Elberfeld 2015, 1) 230 verstanden werde und fährt fort: »Aus diesem Begriff entsteht in Europa die Pädagogik.« (ebd.) Passend dazu erklärt Jürgen Straub (2007, 11) bezugnehmend auf Eagleton: »Von bäuerlichen Tätigkeiten und geschundenen Körpern führte der Weg zu Anstrengungen des Geistes und der Seele sowie ihrer ›Kultivierung‹, zunächst zur Erziehung, Bildung und Pflege des Menschen selbst.« Der Kulturbegriff in diesem Sinne, d. h. im Sinne einer Kultivierung des Selbst, steht in enger Verbindung mit dem philosophischen Ringen um den Bildungsbegriff. Dieser ist gerade in den letzten Jahren als kritisches Korrektiv einer ökonomisch verzweckten Bildungspolitik – auch im Bereich interkultureller Bildung – von unermesslichem Wert. 231 Denn: »Eine Philo229 Vgl. hier auch die Ausführungen von Andreas Hetzel zur Etymologie und Geschichte des Kulturbegriffs. Auch er stellt heraus: »Insbesondere die Antike thematisiert Kultur nicht als Summe der Kulturgüter, sondern als nicht-instrumentelle Praxis der Selbstsorge.« [H. B. S.] (Hetzel 2001, 20) 230 Die anderen beiden Verwendungsweisen seien, so Elberfeld (ebd.): (2) »Kultur als Singularetantum im Sinne einer Gesamtheit aller Praktiken und deren Ergebnissen, die der Mensch in Bezug auf sich selbst, die anderen Menschen und alle Dinge jemals hervorgebracht hat.« (ebd.) (3) »Der Plural Kulturen mit dem dazugehörigen Singular Kultur […] als in sich abgeschlossene Ganzheiten.« 231 Um nur einige der Veröffentlichungen diesbezüglich zu nennen: Johannes Rau (2004): Den ganzen Menschen bilden – wider den Nützlichkeitszwang; Konrad Paul Liessmann (2006): Theorie der Unbildung; Jochen Krautz (2007): Ware Bildung.

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sophie der Bildung vertritt jene Sinnperspektive, die im Eigenwert humaner Selbstkultivierung und einer von hier aus ermöglichenden sozial verantworteten Handlungsfähigkeit liegt.« [H. B. S.] (Lessing/ Steenblock 2010, 7) Das griechische Paideia ginge auf das Verb paideuein zurück, so Hetzel (2001, 23–24), »welches sich nicht nur aktivisch und passivisch gebrauchen läßt, sondern auch die dem Lateinischen und den modernen Sprachen fremde, sich zwischen Aktiv und Passiv situierende Form des Mediums zuläßt«. Dies begünstige die Denkmöglichkeit einer Selbstkultivierung, die zwischen Aktiv und Passiv oszilliere. Bildung oder Kultur kann man genauso wenig »machen«, wie man ein Pflänzchen wachsen lassen kann. Das bedeutet, dass es weder reicht, Ausländern möglichst schnell Deutsch beizubringen und ihnen in »Integrationsworkshops« kulturelle Gepflogenheiten zu erklären; noch reicht es, Deutsche »interkulturell kompetent« zu machen, damit sie mit »den Anderen« besser umgehen können. Beides ist natürlich nicht grundsätzlich falsch, geht aber nicht weit bzw. tief genug, wenn dabei nicht für die Entwicklung eines sinnstiftenden sozialen sowie personalen Bedeutungsgewebes Sorge getragen wird. Denn bei all den Bemühungen um das Gelingen einer »horizontalen Pluralität« darf die »vertikale Tiefendimension« nicht aus dem Blick geraten. Hier zeigt sich, wie wichtig eine kritisch-reflektierte Verwendung des Kulturbegriffs ist. Denn das Spektrum reicht von einer »Praxis, die im Dienst des Anderen steht, zu dessen Beherrschung und Reglementierung« (Hetzel 2001, 31). Sowohl Straub (2007) als auch Elberfeld (2015) beziehen sich unter anderem auf Cicero 232 und Samuel von Pufendorf und auf deren Rede von einer cultura animi, also der Seelenpflege, damit die eigenen Anlagen so entfaltet werden können, dass sie im persönlichen und gemeinschaftlichen Leben Frucht tragen. Pufendorf entwerfe, so Elberfeld

Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie; Martha Nussbaum (2012): Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht; Andreas Gelhard (2012): Kritik der Kompetenz; Bernd Lederer (Hrsg.) (2013): »Bildung«: was sie war, ist, sein sollte; Julian Nida-Rümelin (2013): Philosophie einer humanen Bildung; Dieter Lenzen (2014): Bildung statt Bologna. 232 In Ciceros Tusculanae Disputationes (II, 13) liest man: »[W]ie ein Acker, auch wenn er fruchtbar ist, ohne Pflege keine Frucht tragen kann, so auch die Seele nicht ohne Belehrung. […] Pflege der Seele ist aber die Philosophie: sie zieht die Laster mit der Wurzel aus, bereitet die Seelen dazu, die Saat zu empfangen, übergibt sie ihnen und säet – um so zu reden –, was dann, wenn es ausgewachsen ist die reichste Frucht bringt.« (Cicero 1991, 114)

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(2015, 3) ein »Kultivierungsprogramm, das ganz im Sinne der stoischen und hellenistischen Philosophie, alle Regungen in der Seele des Menschen mit der Vernunft in Übereinstimmung zu bringen versucht«. Diese Formen philosophisch-geistiger Übungen in der Antike werden in 4.5 weiter thematisiert. Die engmaschige Verwobenheit von Individuum und Gesellschaft bringt es mit sich, dass sich das Gewebe, auf dem Menschen leben, in ihrem »Inneren« widerspiegelt. Entsprechend verhalten sich Menschen aus dieser inneren Spiegelung heraus. So prägen und erhärten sich das innere und das äußere Gewebe wechselseitig. Das betrifft natürlich auch die Erfahrung von Fremdheit. Jean Laplanche, ein Schüler Jacques Lacans, bemerkt dazu: »Die innere Fremdheit wird durch die äußere Fremdheit ›gehalten‹ und die äußere Fremdheit ihrerseits durch das rätselhafte Verhältnis des Anderen zu seinem inneren Fremden.« (Laplanche 2005, 32) Andrew Samuels meint sogar, dass »einerseits der Ausdruck der eigenen Persönlichkeit und Selbstentfaltung […] und andererseits die politische Aktivität Momente ein und desselben Prozesses [sind]« (Samuels 1995, 20). Er bezieht sich dabei auf eine Aussage C. G. Jungs: »Ist einer imstande, sich selbst verantwortlich zu fühlen, so ist er sich auch der Verpflichtung zur Gemeinschaft bewusst.« (ebd.) Die Kultivierung des gesellschaftlichen Bodens dient dem Einzelnen, umgekehrt lohnt sich die Investition in eine gute Grundlage individueller Bildung für die politische Gemeinschaft. Denn, so erklärte C. G. Jung seinen Studierenden, »wenn man das Individuum behandelt, behandelt man die Kultur« (ebd., 25). »Angesichts der offenen, der prekären Lage wäre es fatal«, so schreibt Di Fabio (2015, o. S.) bezüglich der Flüchtlingskrise in Europa, »wenn dumpfe Ängste und Ressentiments auf der einen Seite oder aber selbstgefällige Tugendwächter auf der anderen Seite die Herrschaft über die politische Willensbildung gewönnen«. Deshalb wohl warnt Samuels davor, nicht die Verbindungen zwischen der äußeren und der inneren Welt zu übersehen. Er moniert, dass eine bewusst »schattenfreie« (intra- und interpersonale) Politik, die eigenen dunklen Flecken anderswo festmache: »an Männern, an Weißen, am freien Markt und dergleichen« (Samuels 1995, 25). Dabei werde der Blick auf tatsächliche Bedürfnisse getrübt. Wir würden uns für »einen kargen, puristischen, übersauberen Stil in der Politik« entscheiden, denn wir wollten vom eigenen Schatten nicht verunreinigt werden. »So groß ist jedoch die westliche Angst vor der inneren Welt, dass deren Implikationen noch kaum erkannt, geschweige denn 259 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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diskutiert oder gar genutzt werden.« (ebd.) 233 Allerdings, so sei hier noch angemerkt, sollte man sich davor hüten, politische Phänomene vorschnell zu psychologisieren und dabei die Wechselwirkung zwischen Politik und Psyche aus den Augen zu verlieren. 234 Denn beides sind Phänomene, die in ihrer Eigengesetzlichkeit ernstzunehmen sind. Wichtig ist es beispielsweise zu fragen, welche Spuren faktisch existierende Macht- oder prekäre Lebensverhältnisse in einzelnen Personen hinterlassen. Im Anschluss an die Ausführungen zur Bedeutung eines tragfähigen intrapersonalen Bedeutungsgewebes für die Begegnung mit Fremdem stellt sich die Frage, wie die Selbstkultivierung gelingen kann. Anders gesagt: Was ist wichtig für eine erfolgreiche »PrivatCultur-That«, die nicht trotz, sondern in ihrer ganzen Pluralität in der Lage ist, Einheit, Kohärenz und Kontinuität zu erzeugen? Die Angst vor Rissen und Löchern des eigenen kulturellen Gewebes durch »Verwestlichung« auf der einen oder »Islamisierung« auf der anderen Seite – um nur zwei aktuell präsente »Gefahrenhorizonte« zu nennen – könnte man mit Waldenfels auch als die Bedro233 Vielleicht könnte man sogar so weit gehen und sagen, dass die vielen Seminare zur interkulturellen Kompetenz, die derzeit überall angeboten werden, als die Maske der Persona davor schützen sollen, sich tatsächlich mit inneren kulturellen Verstrickungen auseinanderzusetzen. Die eigentliche »interkulturelle Kompetenz« resultiert aber vielmehr aus einer dynamischen Spannung zwischen subjektiver und objektiver Kultur, zwischen einem inneren und einem äußeren Bedeutungsgewebe; sie resultiert aus einer Arbeit an sich selbst zwischen den Kulturen, aus einem nie endenden Prozess der Selbstkultivierung. Straub (2018, 196) führt dazu aus: »Personale Identität und interkulturelle Kompetenz sind stets vorläufige Resultate einer massenhaften Anpassungsleistung an höchst dynamische Strukturen der modernen Welt. […] Kulturell komplexe Personen leben in ihrer inneren und äußeren Welt zwischen den Kulturen sowie im unaufhörlichen Übergang von einer (wandlungsanfälligen) Kultur zur anderen.« [H. i. O.] 234 Ebenso ist eine Pädagogisierung migrationsspezifischer Probleme wenig zielführend. Strukturelle Probleme, die nur politisch behoben werden können, werden so verschleiert und Verantwortlichkeiten verschoben. Vgl. dazu Paul Mecheril (2017), der in einem Interview erklärt: »Als reflexiver Pädagoge, der zu sein ich mich bemühe, muss ich immer vor der Gefahr der Pädagogisierung gesellschaftlicher Verhältnisse warnen. Mein pädagogischer Ansatz ist darum ein doppelter: Ich bin überzeugt, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse durch pädagogische Arbeit beeinflussen lassen – und zugleich warne ich davor, gesellschaftliche Veränderungen auf die Organisierung von Lernprozessen zu reduzieren.« Ähnlich warnt Franz Gmainer-Pranzl (2015, 36) vor einem »naiven Kurzschluss von Bildungs-impulsen auf politische Veränderungen […]; auch wenn interkulturelle Bildung gesellschaftliche Verhältnisse bewegen und verändern möchte, versteht sie sich nicht als ausführendes Organ der Politik«.

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hung von »Heimatschwund« bezeichnen. Dabei sieht er »zwei gegensätzliche Tendenzen am Werk, die beide darauf abzielen, diesen aufzufangen; die eine, indem sie die Ausdehnung des Lebensorts schrumpfen läßt, die andere, indem sie ihn überdehnt« (Waldenfels 1994, 204). Erstere führe zu einem Regress auf die exklusive Welt des Heimatbodens, zur Fixierung auf das Eigene: »Das Eigene wird abgeschirmt gegen Fremdes, das gleichzeitig ins Feindliche hinüberschillert.« (ebd., 205) Letzteres führe zu einem Progress, zu einer »Flucht nach vorn in die weite Welt« (ebd.), die aber unweigerlich eine Nivellierung des Eigenen mit sich bringt, »da sie nur über abstrakte Konstruktionen zu einer Einheit gelangt« (ebd., 205–206). So »wissen [wir] uns überall zu Hause, fühlen uns aber fremd« [H. i. O.] (ebd., 206). Während Ersteres einer Überzentrierung gleichkäme, einem engstirnigen Provinzialismus, verlöre sich Letzteres durch die Dezentrierung, denn das Hier verflüchtige sich in ein Überall und Nirgends. Zugespitzt könnte man auch sagen, dass die Überzentrierung zur Abgrenzung führt, im Akt vermeintlicher Selbstverteidigung sogar zu Formen einer tötenden Kultur. Die Dezentrierung als ihr extremes Pendant führt zum Tod der Kultur als Grenz- und Selbstverlust. Dabei muss wohl kaum mehr erwähnt werden, dass eine tötende Kultur zum Tod der eigenen Kultur beiträgt und die Angst vor dem Tod der eigenen Kultur dazu führt, andere zu bekämpfen. Bezüglich der Beziehung zu Fremdem, so könnte man mit Waldenfels argumentieren, führt der »überzentrierende« Regress zu Versuchen der Aneignung des Fremden mit dem Ziel, es zu bändigen: »Fremdes wird bewältigt, indem es am Eigenen gemessen wird.« (Waldenfels 1990, 61) Es wird »egozentrisch« (z. B. durch Methoden, wie die Einfühlung) verarbeitet, dem Eigenen einverleibt. 235 Es kann zudem bewältigt werden »durch Sammlung alles Verständlichen in einem Logos«. Das bedeutet, dass Fremdes haarklein in seine Einzelteile zerlegt und »logozentrisch« erklärt wird. Der »dezentrierende« Progress führt zu einer Enteignung als Auslieferung an das Fremde (vgl. ebd., 62). Die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem werden aufgelöst. »Eine ›Überseßhaftigkeit‹ (Leroi-Gourhan 1984, 235 Clifford Geertz bemerkt dazu: »Statt zu versuchen, die Erfahrungen anderer in den Rahmen unserer Vorstellungen einzuordnen – und nichts anderes steckt in den meisten Fällen hinter der so übermäßig betonten ›Empathie‹ – müssen wir, um zu einem Verstehen zu gelangen, solche Vorstellungen ablegen und die Erfahrungen anderer Leute im Kontext ihrer eigenen Ideen über Person und Selbst betrachten.« (Geertz 1983, 294)

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228) der Vernunft wird wettgemacht durch ein Nomadentum, das wahllos in Räume und Zeiten ausschweift.« (ebd., 63) Eine totale Aneignung, in der die Grenzen sich verfestigen, und eine ebenso totale Enteignung, in der diese verschwimmen, wären dann nur extreme Versuche, dem beunruhigenden Grenzspiel zwischen Eigenem und Fremdem zu entkommen, Versuche, die sich bis ins Pathologische steigern können. (ebd., 68)

Der Prozess der Selbstkultivierung zeichnet sich dadurch aus, dass er sich der Pflege des »Heimatbodens« widmen möchte, um Fremdem von hier aus zu begegnen. Denn nur derjenige, der ein Zuhause hat, kann sich Fremdem öffnen, den fremden Anderen empfangen. »Es braucht«, so schreibt Matthias Drobinski (2016, 45) in der Süddeutschen Zeitung, »mehr als bisher, eine selbstbewusst aufgeklärte Identität und Heimatliebe – gegen die Deutschtümelei und Fremdenangst.« In Anlehnung an Waldenfels könnte man auch sagen: Gelingende Selbstkultivierung vollzieht sich in einem Spannungsfeld zwischen Bodenständigkeit und Weltläufigkeit. (vgl. Waldenfels 1994, 204) Die Begriffe sind gut gewählt, denn sie sprechen durch die inneren Bilder, die sie erzeugen: »Boden-Stand« impliziert Sicherheit, Stabilität, emotionale Verankerung, auch so etwas wie Eigenstand und eine Form des positiven Stillstands im Sinne einer bewussten Selbstvergewisserung in kontemplativen Momenten der Selbstsorge, in der Erfahrung eines Ankommens bei sich selbst. Waldenfels erwähnt hier auch passend die so genannte »place identity« (ebd., 196) und meint damit die Bedeutung räumlicher Zugehörigkeit, die direkt Einfluss nimmt auf das Selbstverständnis von Personen. (vgl. hier den oben erwähnten Zusammenhang von Identitätsverlust und dem Leben in »Nicht-Orten« oder die vielschichtigen Bedeutungen von Ortsnamen gelebter Räume). »Welt-Läufigkeit« dagegen suggeriert Bewegung, Öffnung, Unterwegssein, Aufbruch in Neues, Flexibilität, den Versuch, das Eigene aus einer anderen Perspektive zu sehen, sich durch Fremdes bereichern zu lassen. Bodenständigkeit ohne Weltläufigkeit verkommt zum Regress oder zur Überzentrierung, Weltläufigkeit ohne Bodenständigkeit zum Progress oder zur Dezentrierung. 236 Dementsprechend beschreibt die Selbstkultivierung eine Kultivierungspraxis zwischen Bodenständig236 In den Extremen Regress bzw. Progress spiegeln sich oben erwähnte Phänomene von Totalität und Fragmentierung (Straub) oder Totalitarismus und Konformismus (Frankl) wider. Immer kann man hier sowohl die zwischenmenschliche also auch die

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keit und Weltläufigkeit, zwischen Begrenzung und Sich-GrenzenAussetzen, zwischen Eigenem und Fremdem. Selbstkultivierung ist also eine Übung in »Zwischenräumen«, eine Praxis der Verflechtung, die »weder Verschmelzung im Sinne einer Nichtunterschiedenheit noch Trennung im Sinne einer Wohlunterschiedenheit« (Waldenfels 1990, 65) bedeutet, sondern eine paradoxe Form niemals abschließbarer, »aktiver Selbstkontinuierung« (Straub 2000, 172). Diese Form der Selbstsorge richtet sich darauf, das Konglomerat eines, wie Wilhelm Schmid es bezugnehmend auf Kant beschreibt, »vielfärbiges verschiedenes Selbst« zu disponieren und »einen Zusammenhang weit unterhalb der strengen Einheit, aber weit oberhalb der bloßen Beliebigkeit herzustellen« (Schmid 1996, 371). Für ihn ist die Kohärenz »das Band, das die vielen ›Selbste‹ in einem vielfarbigen Selbst organisiert« (ebd.). Sie sei »ein Ausdruck der Selbstsorge« (ebd., 372). Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie diese transformative Praxis in einem multidimensionalen Zwischenraum gelingen, wie dieses »Band der Kohärenz« konkret seine Einigungskraft entfalten kann, steht im Mittelpunkt des nächsten Abschnitts.

4.3.3 Zur Praxis der Selbstkultivierung Die Praxis der Selbstkultivierung zielt darauf ab, die vertikale Dimension menschlicher Existenz, d. h. die Verwurzelung in Bedeutung bzw. Ausrichtung auf Sinn, mit der horizontalen »Oberflächendimension« der Vielheit zu verschränken. Dabei öffnet sich ein »Zwischen, das sich weder auf Einheit noch auf Vielheit zurückführen lässt« (Waldenfels 2015b, 217). Die Pluralität des Selbst sowie die intersubjektive Vielheit erhalten ihre individuelle Gestalt durch die beständige Interaktion einzelner Persönlichkeitsanteile bzw. Personen, die Bedeutungen in symbolischer Form tradieren. So entsteht eine dynamische Einheit in Vielfalt, wiedererkennbare Muster im Wandel. »Kontinuität, mithin auch Identität«, so könnte man mit Jürgen Straub (2000, 172) sagen, »ist nichts Gegebenes, sondern etwas mit symbolischen Mitteln Erschaffenes, Konstruiertes und somit Vorläufiges, Zerbrechliches«. Ähnlich stellt Wilhelm Schmid heraus, die Selbstsorge mühe sich um die Kohärenz des Selbst. Sie »ist personale Wirklichkeit in den Blick nehmen – und deren wechselseitige, dynamische Verschränkung.

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nicht einfach gegeben, sie ist ein Konstrukt, sie wird in der Lebenskunst bewußt und reflektiert erst hergestellt. Vorgängig ist nur die Sorge.« (Schmid 1996, 371) 237 Das sich durch innere und äußere Dialoge entspinnende Gewebe erhält so im Vergleich zu einer »society of mind« oder einer »Subjekt-Vielheit« ihre qualitative »Dichte«, die, wie oben ausgeführt, für eine tragfähige, zusammenhängende Sinnbildung und Fremdheitsfähigkeit unerlässlich ist. Für Jürgen Straub konstituiert sich personale Identität – ähnlich wie für Geertz Kultur – vor allem durch den Gebrauch von Symbolen, allen voran die Sprache. Bezugnehmend auf narrative Theorien (v. a. Paul Ricœur), vertritt er einen »erzähltheoretischen Zugang« (Straub 2000, 172), wenn er betont, dass Menschen eine Geschichte hätten, ihre eigene Geschichte seien: Eine Person erhält sich im Wandel der Zeit als ein und dieselbe (unter anderem) dadurch, daß sie Geschichten bzw. eine Selbst-Geschichte erzählt, die temporale Differenzen (und die damit verwobenen Selbst-Veränderungen) ›relationiert‹, synthetisiert und die präsentierte Lebensgeschichte dadurch als einheitlichen Zusammenhang, als autobiographische Gestalt, erscheinen läßt. (ebd.) 238

Wenn dies gelingt, so könnte man sagen, entfaltet die Erzählung ihre synthetisierende Wirkung: Die Person webt das Bedeutungsgewebe, auf dem sie sich selbst und anderen selbstsicher und offen begegnen kann. Dies drückt sich auf allen Ebenen menschlichen Seins aus: im Verhalten, Denken und Fühlen. Schwierig wird es jedoch, wenn Menschen zwar rational ihre Geschichte erzählen können, die einzelnen Teile aber emotional nicht zusammenbekommen, was dann auch im Verhalten seinen Ausdruck findet. Der Inuk schien es – zumindest zunächst – möglich zu sein, ihre Geschichte zu erzählen, es war ihr 237 Auch Wilhelm Schmid (1996) sieht das, was er mit »Kohärenz« bezeichnet, als eine vermittelnde Instanz zwischen dem Problem der Auflösung des Selbst und dem, was er Identität nennt (damit meint er ein rein kognitives, epistemisches Subjekt, das in sich selbst erstarrt). Das, was bei Jürgen Straub die Identität als Mitte zwischen Totalität und Fragmentierung ist, bezeichnet Schmid als »Kohärenz«. Denn er will sich bewusst von der Vorstellung einer fixen Identität als Einheitsprinzip, als ein ständiges »Sich-selbst-gleich-sein«, absetzen. Gerade eine solch vorschnelle Verurteilung des Identitätsbegriffs als totalitär und abgeschlossen kritisieren Straub und Chakkarath (2010, 6) jedoch, wenn sie meinen, dass hier der komplexen PragmaSemantik des Identitätsbegriffs nicht genügend Rechnung getragen werde. 238 Vgl. hier auch Dieter Thomä (1998), der dem sokratischen »Erkenne dich selbst« durch die Aufforderung »Erzähle dich selbst« eine neue Wendung gibt, deren Bedeutung er für die Frage nach dem gelingenden Leben einer Person nachgeht.

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aber nicht möglich, mit ihr glücklich und selbstbestimmt leben zu können. Ihr Gewebe wies zu viele Risse und Löcher auf, sie stand permanent in der Gefahr, mit den eigenen Abgründen konfrontiert zu werden und in gähnende Leere zu stürzen, »fremdgesteuert« zu sein. Es gibt – vermutlich in jedem Leben – Momente der Haltlosigkeit, »[s]chmerzliche, momentan oder für immer ›unfaßliche‹, narrativ nicht integrierbare, vielleicht in keiner Weise symbolisierbare Brüche und Zerrissenheiten […]. Phasen, in denen alle tragfähigen Antworten auf die Identitätsfrage ›Wer bin ich und wer will ich sein?‹ in unerreichbarer Ferne scheinen, sind niemandem völlig fremd.« (ebd., 172–173) Diese Erfahrungen mögen zwar in der Tat nicht bewusst symbolisierbar, also sprachlich fassbar und in eine stringente Geschichte integrierbar sein (das ist wohl in den seltensten Fällen der Fall). Sie finden aber dennoch durch nichtsprachliche Zeichen ihren Ausdruck – durch ein bestimmtes Verhalten oder inneres Erleben, durch Bilder, Träume und Visionen. »Wir können auch Andere ›innerlich wahrnehmen‹, insofern wir ihren Leib als Ausdrucksfeld für ihre Erlebnisse erfassen« [H. i. O.], stellt Max Scheler (2013, 6) fest. Denn hier liege eine Symbolbeziehung, keine Kausalbeziehung vor. 239 Solche Momente eigenmächtiger Symbolisierungsvorgänge vermögen es sogar, eine allzu glatte Geschichte ihrer Trugschlüsse zu überführen. Nichts sei stimmiger als die Wahnvorstellung eines Paranoikers oder die Geschichte eines Schwindlers, schreibt Geertz (1983, 26). Man kann sich selbst auch zur Genüge in die eigene Tasche lügen, um innere Brüche notdürftig zu flicken und vor allem nach außen den guten Schein zu wahren. Nicht selten bauen sich Menschen so gewaltige Luftschlösser, in denen sie sich einzurichten versuchen, bis ihre innere Wohnstatt durch ein unerwartetes Widerfahrnis wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzt, weil sie nicht »bodenständig« genug war. Der Praxis der Selbstkultivierung geht es nicht um die Darstellung einer möglichst kongruenten Geschichte, sondern zunächst, d. h. vorgängig, um das Wahrnehmen und Interpretieren von Symbolen, 239 Vgl. hier die symbolphilosophischen bzw. -anthropologischen Überlegungen von Ernst Cassirer. Für ihn lässt sich der Leib als eine vorbegriffliche, symbolische Form begreifen. Der menschliche Ausdruck gilt als Ursymbol, »in dem Inneres und Äußeres, Meinendes und Gemeintes noch nicht voneinander geschieden sind. […] Ausdruck ist demnach ein dem Sinnlichen unmittelbar innewohnender Sinn«. [H. i. O.] (Fuchs 2000, 195) Im Leib-Seele Verhältnis sieht Cassirer das Musterbild einer symbolischen Relation. (vgl. Wiegerling 2008, 44)

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deren Bedeutung sich nicht ohne weiteres offenkundig erschließt. Es geht um den vorsichtigen Versuch, Fremdes im Selbst zu verstehen, sich für dessen Botschaft zu öffnen. Das, womit man es zu tun hat, ist – ähnlich wie dies Geertz hinsichtlich der Arbeit eines Ethnografen beschreibt – »eine Vielfalt komplexer, oft übereinandergelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind und die [man] zunächst einmal irgendwie fassen muss« (Geertz 1983, 15). Dieses »Fassen« bedeutet aber nicht, nach Gesetzmäßigkeiten zu suchen, sondern semiotisch immer tiefer in die Bedeutung des Beobachteten einzudringen. C. G. Jung zufolge würde man das Symbol »töten«, wenn man es als Zeichen akribisch dekodieren oder restlos erklären wollte. (vgl. Frick 2009, 38) Symbole leben im Raum der kreativen Beschäftigung mit ihnen, in ihrer »interpretativen Lücke«, sie sind Ausdruck des Menschen auf allen Ebenen seiner Existenz. Symbole erleben wir in Träumen, in Phantasien, in Kunstwerken, in Faszinationen, im Alltag, in Märchen und Mythen, in Symptomen … Wird ein Symbol bedeutsam für unser Leben, dann beginnen wir, unsere aktuelle Lebenssituation auf dieses Symbol hin zu beziehen und zu verstehen. Emotionen und Bedeutungen, die mit diesem Symbol verbunden sind, werden erlebt und erinnert. […] Das Symbol meint einerseits unsere ganz aktuelle existenzielle Situation und verweist gleichzeitig auch auf Hinter-Gründiges, auf Zusammenhänge, die jeweils nicht besser als eben in diesem Symbol auszudrücken sind. Auch wenn wir meinen, ein Symbol zu verstehen, wenn wir mit ihm in Kontakt getreten sind, behält es doch immer noch einen Bedeutungsüberschuss. (Kast 1995, 35)

Geertz betont, Kultur sei öffentlich, weil menschliches Verhalten symbolisches Handeln ist, d. h. Bedeutungen in Symbole »verpackt« allen zugänglich zu Tage träten. Denken bestehe nicht aus rätselhaften Prozessen, »die sich in einer […] geheimen Grotte im Kopf abspielen, sondern im Austausch bedeutungshaltiger Symbole« (Geertz 1983, 136). Ganz ähnlich beschreibt Michail Bachtin (1985, 98) die Tatsache, dass Ideen keine subjektiven, individuell-psychologischen Gebilde seien: [N]ein, die Idee ist interindividuell und intersubjektiv, die Sphäre des Seins ist nicht das individuelle Bewußtsein, sondern die dialogische Kommunikation zwischen den Bewußtseinen. Die Idee ist ein lebendiges Ereignis, das sich dort abspielt, wo zwei oder mehrere Bewußtseine dialogisch aufeinanderstoßen. […] Ebenso wie das Wort will die Idee gehört, verstanden und »beantwortet« werden von anderen Stimmen mit anderen Positionen.

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Analog dazu verhält es sich mit der »inneren Kultur« einer Person. Auch wenn wir eine Emotion nicht greifen können, ist sie dennoch real, sie zeigt sich ganz konkret an inneren Zuständen und körperlichen Reaktionen. Sie will »gehört« und »beantwortet« werden. Ähnliches gilt für das Verhalten, das wir vielleicht nicht verstehen mögen, aber dennoch beobachten können. Sinn realisiert bzw. materialisiert sich in seinem Ausdruck. Weder die Emotion noch das Verhalten sind aber die Bedeutung. Sie können vielmehr als Hinweise gedeutet werden, die es in der Terminologie von Geertz »dicht« zu beschreiben gilt. Ähnlich wie Geertz sein ethnologisches Vorgehen schildert, könnte man versuchen, diese Spuren fremder Sinnbezüge und Bedeutungsgehalte im eigenen Leben und Erleben behutsam zu interpretieren. Dieses Vorhaben gliche »dem Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ›eine Lesart entwickeln‹), das fremdartig, verblaßt, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist.« (Geertz 1983, 15) Dieses »Lesen« der eigenen Geschichte führt, wie Jürgen Straub hervorhebt, »keineswegs zur nachträglichen ›Eliminierung‹ von Kontingenzerfahrungen. [Es] macht Kontingenz vielmehr deutlicher bewußt.« (Straub 2000, 173) Das Wichtige daran ist, dass so aus einer »erlebten Kontingenz, aus einem abrupten, diskontinuierlichen Vorfall, der ins Leben einbricht und für den Betroffenen dennoch etwas ›Äußerliches‹ darstellt, etwas Sinn- und Bedeutungsvolles [wird].« (ebd.) Die Löcher des Bedeutungsgewebes werden nicht bloß übertüncht oder oberflächlich geflickt, so dass man sich darauf vor lauter Angst, an den maroden Stellen durchzubrechen und entsprechend »außer sich« zu reagieren, wie auf einem Minenfeld bewegt. Es geht vielmehr um die anstrengende Arbeit an sich selbst, die nicht davor zurückschreckt, auch unangenehme, mit Angst und Scham besetzte Teile anzuhören, ernstzunehmen und sich von ihnen so berühren zu lassen, dass diese Begegnung transformative Wirkung zeigt. Wilhelm Schmid spricht hier von der »Integration des Anderen«, die einen »ständigen Prozeß der Veränderung [bewirkt], ohne dabei doch ›sich selbst‹ zu verlieren« (Schmid 1996, 372). Ganz im Gegenteil, so könnte man sagen, lernt man sich selbst immer besser kennen. Er führt aus:

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[Die Kohärenz] ist es, die macht, daß wir nicht dieselben bleiben, aber als uns selbst empfinden, und die dafür sorgt, daß auch die Brüche und Unsicherheiten noch ein Bezugsfeld haben und weder ins Leere laufen noch zur Auslöschung führen müssen. Das Subjekt besteht nun auch aus den Ruinen seines bisherigen Lebens, den abgebrochenen Linien und Beziehungen, den Fragmenten, die nicht mehr um der Herrschaft eines glanzvollen Ichs willen hinausgeworfen werden müssen. (ebd.)

Der Prozess der Selbstkultivierung kann unterschiedliche Formen annehmen. Zwei Bewegungen sind dabei aber immer von zentraler Bedeutung: Erstens die »dichte Beschreibung« von »symbolhaften« Erfahrungen, insbesondere von Verhalten und Emotionen, und zweitens die Frage nach einer sinnlich-sinnhaften (Neu-)Ausrichtung im Leben. Anknüpfend an die Fallstudie sollen zwei Beispiele das Gesagte verdeutlichen: Im ersten geht es um die mögliche Selbstkultivierung der Polizisten, im zweiten um die der Inuk. Hans-Georg Ziebertz und Markus Herbert (2009, 20) knüpfen an die Theorie des dialogischen Selbst an und erklären, Identitätsbildung sei ein ständiger Dialog mit bzw. zwischen realen wie fiktiven Anderen. Passend zur Reaktion der Polizisten in der Fallstudie schildern sie: So kann beispielsweise die moralische kollektive Stimme einer Person zwar mit einem Menschen Mitleid haben, die Polizisten-voice diesen jedoch trotzdem verhaften. […] Welche voice bzw. voices handlungsrelevant werden, ergibt sich aus dem Wechselspiel zweier Faktoren: Zum einen hat sich bei jeder Person im Laufe des Lebens eine Beziehungsstruktur der voices gebildet (Netz, Gewebe). […] Ein Polizist wird möglicherweise zunächst seiner Berufspflicht Folge leisten. Die Konstellation der voices variiert jedoch mit dem Kontext, in dem sich eine Person befindet. Je nach Situation und Gesprächspartner verändern sich die Beziehungen der Ich-Positionen. Es sind auch Situationen vorstellbar, in denen bei dem Polizisten eine empathisch-moralische Ich-Position über die Berufs-Ich-Position dominiert. (ebd.)

Eine ausführlichere Interpretation des Verhaltens der Polizisten wurde oben bereits versucht. Dabei ist es sicherlich richtig, dass sich im Laufe des Lebens der Männer eine »Beziehungsstruktur« des Selbst gebildet hat, die ein bestimmtes Verhalten wahrscheinlicher macht als ein anderes. Bei einem der Männer schien die »empathisch-moralische Ich-Position« stärker zu sein als beim anderen, was sich an dessen Zögern zeigte. Wie sehr der sozio-kulturelle Kontext sowie die persönliche Geschichte die personale Identität beeinflussen, wird 268 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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deutlich, wenn man sich überlegt, wie wohl die Menschen im Nachgang zu den Geschehnissen auf das Verhalten der Männer reagiert haben könnten und wie diese selbst darüber reflektierten. Wenn die Männer eine positive Rückmeldung bekommen hätten, weil sie die Situation »gerettet« hätten, hätte natürlich die »Polizisten-voice« Bestätigung bekommen. Hätten sie jedoch Kritik für ihr forsches Eingreifen einstecken müssen, wäre sie in Frage gestellt und ihr »Empathie-Teil« gestärkt worden. In den Reaktionen auf das Verhalten der Polizisten offenbart sich sowohl ein bestimmtes Weltbild als auch ein Ethos, das mit dem emotional aufgeladenen Symbol der »Mounties« als kanadische Identifikationsfigur verwoben ist: Was ist ein (guter) RCMP-Polizist und wie soll er sich verhalten? Anders gesagt: Wie muss man sich als Polizist verhalten, um dem Bild eines »richtigen« Polizisten zu entsprechen? Dieses richtige Verhalten und die damit verbundenen Emotionen sind, um mit Aristoteles zu sprechen, »relativ«, und zwar bezüglich des Kontexts bzw. der konkreten Situation und der Person, die das Verhalten zeigt. Das intra- sowie interpersonale kulturelle Gefüge beeinflusst die Lage der »Mitte« des ausgewogenen, »richtigen« Handelns. Es ist gut möglich, dass vor allem der Mann, der zunächst zögerte, sich hinterher Vorwürfe machte, nicht anders gehandelt zu haben. An diesem Punkt könnte der Kultivierungsprozess des Selbst ansetzen. Dazu müsste sich der Polizist fragen, welche Bedeutung hinter seinem anfänglichen Zögern und dem nachträglichen Zweifel an seinem Einschreiten stehen könnte (Was hat mich verunsichert? Was brauche ich, um »Boden« unter den Füßen zu haben, damit ich gelassen reagieren kann? Welche »Knotenpunkte« in meinem Gewebe müssen geflickt, neu geknotet, umgemodelt werden?). Denkbar wäre hier beispielsweise, dass er der Inuk lieber einfühlsam begegnet wäre, sie hätte schützen wollen, und sich nun Vorwürfe macht, nicht die anwesenden Personen des Raumes verwiesen zu haben, anstatt die Frau davon zu tragen. Es könnte auch der Wunsch dahinterstehen, als Mensch nahbar zu sein und nicht nur dem Mandat seiner Uniform folgend für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Außerdem wäre möglich, dass er sich für sich selbst wünscht, stimmiger und in größerer Freiheit zu reagieren, anstatt schließlich in einem Zustand innerer Überforderung sowohl seinem Kollegen als auch der »Polizisten-voice« in sich gefügig Folge zu leisten. All dies wären wichtige Erkenntnisse aus der Interpretation der »Symbole« des Zögerns und Zweifelns. Hier werden Bedeutungsgehalte offenkundig, die dem Mann bisher 269 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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vielleicht nicht so klar waren. Der Reflexion von Symbolen wohnt ein »Forderungscharakter« inne, denn hier blitzt ein Sinn auf, der gestaltgebender Impuls sein kann. (vgl. Frankl 2005, 15) Frankl macht dabei einen wichtigen Unterschied, wenn er schreibt, Sinn könne nicht gegeben, sondern müsse gefunden oder entdeckt werden: Einer Rorschach-Tafel wird ein Sinn gegeben – eine Sinngebung, aufgrund deren Subjektivität sich das Subjekt des (projektiven) Rorschach-Tests »entlarvt«; aber im Leben geht es nicht um Sinngebung, sondern um Sinnfindung. Das Leben ist kein Rorschach-Test, sondern ein Vexierbild. (ebd.)

Für die Selbstkultivierung reicht es nicht, der Situation oder dem eigenen Handeln im Nachhinein einen Sinn anzuheften, sie einzureihen in die Gesetzmäßigkeit der eigenen ego-logisch-begrenzten Weltsicht. Denn Sinn kann nicht erzeugt werden. Was sich erzeugen ließe, so Frankl, ist entweder subjektiver Sinn, ein bloßes Sinngefühl, oder Unsinn. Außerdem würde »Sinn geben […] auf moralisieren hinauslaufen« (ebd., 14) Sinn muss sich vielmehr aus der Situation heraus gewissermaßen eigensinnig erschließen. Das Vexierbild liefert dafür eine wertvolle Metapher, denn es zeigt, dass sich neben dem Offenkundigen eine weitere, zunächst verborgene Botschaft, eine andere Bedeutung, finden lässt. Sich beispielsweise selbst vorzuwerfen, »kalt« und unnahbar zu sein, »immer« so zu sein, gegen sich selbst gehandelt zu haben usw., ist nur die eine Seite des Kippbildes; die andere besteht darin, zu sehen, dass in dem Selbstvorwurf der Wunsch steckt, auch in Uniform emotional und fürsorglich zu sein und selbstbestimmt zu handeln. Dieser zweite, verborgene Sinn erschließt sich aber nicht einfach so – zumindest ist das nicht die Regel (denn: Was würde der Kollege denken? Darf ein Polizist auch einfühlsam reagieren?). Menschen verbeißen sich häufig in das Bild, das ihnen zunächst als die einzig mögliche Wirklichkeit erscheint. Nicht selten klammern sie sich umso fester an diese vermeintliche Wahrheit, je dünner der Boden wird, auf dem sie gründet. So könnte es sein, dass der Mann sich zu Hause selbst über sein Verhalten lautstark beschwert und die beschwichtigenden Worte seiner Frau, dass er nicht gefühlskalt und durchaus ein fürsorglicher Mann sei, nicht hört, sondern sie von seiner »Wahrheit« überzeugen möchte. Nach Sinn und Bedeutung von einem bestimmten Verhalten zu fragen – das »andere« Bild im selben Symbol zu suchen – führt zu einem Prozess des »Reframing«: Dem ursprünglichen Bild wird ein neuer Rahmen gegeben, es wird durch das Einnehmen einer anderen, 270 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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fremden Perspektive betrachtet. Selbstkultivierung bedeutet dann in einer zweiten Bewegung, sich in diesen neuen »Rahmen« einzuüben, sich selbst in diesem Sinne zu kultivieren, zu »bilden«. Für den Polizisten könnte dies bedeuten, sich zu überlegen und konkret vorzustellen, wie er das nächste Mal auf eine ähnliche Situation reagieren möchte: Wie würde er sich fühlen, was würde er denken, wie würde er handeln? C. G. Jung spricht von einem »schöpferischen Weg«, der es vermag, durch die wiederholte Praxis einer imaginativen Übung auch hartnäckige Stolperfallen eingeschliffener Verhaltensweisen zu umgehen und neue Wege anzulegen: Der schöpferische Weg ist der Beste, dem Unbewussten zu begegnen. Denken Sie sich zum Beispiel eine Phantasie aus und gestalten Sie sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Kräften. Gestalten Sie sie als wären Sie selber die Phantasie oder gehörten zu ihr, so wie Sie eine unentrinnbare Lebenssituation gestalten würden. Alle Schwierigkeiten, denen Sie in einer solchen Phantasie begegnen, sind symbolischer Ausdruck für Ihre psychischen Schwierigkeiten, und in dem Masse, wie Sie sie in der Imagination meistern, überwinden Sie sie in Ihrer Psyche. (Jung, in: Kast 1995, 35)

Symbole geben unserem individuellen und kollektiven Leben ihre besondere Gestalt, sie deuten auf unbewusste Sinnbezüge hin. Als solche sind sie diagnostisch und therapeutisch zugleich. Denn sie können auf ihren Sinn und ihre Bedeutung hin befragt werden (Diagnose) und sie können einem Menschen eine neue Richtung geben (Therapie). Vor allem Letzteres scheint im Hinblick auf die Selbstkultivierung der Inuk enorme Chancen zu bieten. In ihrem Verhalten zeigt sich ein seltsames Paradox: Die verstörenden Symptome (griech., sýmptōma: vorübergehende Eigentümlichkeit, zufallsbedingter Umstand), die sie zeigt, sind zutiefst ihre eigenen, sie kommen aus ihr, sie sind Ausdruck ihres Selbst. Zugleich verweisen sie auf innere Fremdkörper und wohl gehütete Geheimnisse, die zu Phänomenen der Selbstentfremdung und Fremdbestimmung führen. Symptome weisen auf etwas hin, das wir vor uns selbst und vor anderen – bewusst oder unbewusst – verstecken. Sie umgehen unser rationales Vermögen und bahnen sich einen Weg über unseren Leib. Sie machen darauf aufmerksam, dass etwas in uns aus der Balance geraten ist; insofern sind sie außergewöhnlich intensive Formen symbolischer Repräsentation. Symbole drücken Jung zufolge die spannenden Gegensätze aus, die unser Leben durchziehen, insbesondere unsere Beziehungen. Gelingt dieser Sym-

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bolausdruck nicht, wird also einer der beiden Pole der Gegensatzspannung unterdrückt, dann handelt es sich nicht um ein befreiendes Symbol, sondern um ein reines Symptom. (Frick 2009, 38)

Symptome können demnach auf den unterdrückten Pol der Gegensatzspannung hinweisen – darauf, dass eine Person ihre innere Mitte verloren hat. Ähnlich wie beim Betrachten des Vexierbilds sind Menschen zunächst eingenommen von der Massivität des Auftretens eines Symptoms, sodass es ihnen schwerfällt, die dahinterliegende, andere Botschaft zu erkennen. Gerade in dieser steckt jedoch der »schöpferische Weg« zur Heilung, denn Symptome sind besonders starke Sinnträger und es gilt zu erkunden, was sie »sagen« möchten. Häufig denken wir aber, das Symptom sei das »Problem«, weil es offenkundig so viel Leid verursacht: Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Selbstmord oder Gewalt in Familien. Dann ist es schwer zu sehen, dass jedes Verhalten – auch dysfunktionales –, vor allem für den, der es zeigt, Sinn macht. Anstatt also zu versuchen, das Symptom ruhigzustellen, z. B. den Alkoholismus zu bekämpfen, ist es wichtig, den Sinn des Symptoms – dessen »andere Seite« – zu verstehen. Um Lösungsansätze zu entwickeln, spielen Symbole eine wichtige Rolle. Denn sie vermögen es, Hoffnungen zu wecken, Möglichkeiten zu sehen und Erwartungen am Leben zu halten. »Erzähltheoretisch« gesprochen könnte man auch sagen, Symbole halten Erinnerungen fest und sind in der Lage, der eigenen Geschichte eine Wendung zu geben. Denn selbst wenn so viel an Vergangenem zerbrochen ist und tiefe Narben von schweren Verletzungen zeugen, wie dies im Leben der Inuk der Fall ist, können Menschen dennoch darüber nachdenken, wer sie in Zukunft sein möchten, wie sie sich ihr Leben vorstellen und wie ihre Geschichte weitergehen soll. Frankl, der selbst das Konzentrationslager überlebt hat, meint, auch im Leid einen Sinn zu finden, denn hier könne man »Zeugnis ablegen von etwas, dessen der Mensch fähig ist, eben noch im Scheitern« (Frankl 2005, 17). Er bemerkt zudem passend für die Situation der Inuk: »Der Sinn bleibt vom Zusammenbrechen der Traditionen verschont. Der Sinn ist nämlich jeweils etwas Einmaliges und Einzigartiges.« (ebd., 16) Hier wird deutlich, dass der Sinn, den Frankl im Blick hat, über den eher funktional gemeinten von Geertz hinausgeht. Es geht hier nicht mehr nur um ein »extragenetisches Orientierungssystem«, das Menschen nach unten hin gründet, sondern zudem um ein existenziell-spirituelles Moment menschlichen Seins, das eine »Höhen272 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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dimension« zum Ausdruck bringt. Nicht umsonst spricht Frankl (2002, 83) bei seinem psychotherapeutischen Ansatz in Abgrenzung zur Tiefenpsychologie von »Höhenpsychologie«. Diese möchte sich nicht nur körperlicher und seelischer Symptome annehmen, sondern vor allem auch der vernachlässigten geistigen Not des Menschen. Denn, so betont Frankl, erst die geistige Person stifte Einheit und Ganzheit des Menschen, von Leib-Seele-Einheit zu sprechen sei dagegen falsch: Leib und Seele mögen eine Einheit bilden – das ›einheitliche‹ Psychophysicum etwa –, aber nie und nimmer wäre diese Einheit imstande, die menschliche Ganzheit darzustellen: Zu ihr, zum ganzen Menschen, gehört auch das Geistige hinzu, und es gehört zu ihm hinzu sogar als sein Eigentlichstes. (Frankl 2002, 18–19)

Symbole sind nach »oben« offen, sie weisen über sich selbst hinaus. Sie geben Richtung und Raum zu kreativer Entfaltung. Wie wichtig Symbole insbesondere für die orale Tradition und das spirituelle Selbstverständnis indigener Völker in Nordamerika sind, verdeutlicht das Buch The Sacred Tree. Hier findet sich folgende Erklärung zum Symbol: [S]ymbols are eternally giving birth to new understandings of the essence of life as it emerges, ever elusive, out of the unknown mist of creation. Symbols thus create an ever increasing awareness of the ongoing flow of life. […] Meaning is important for the health, well-being and wholeness of individuals and communities. The presence of symbols in a community as well as the living out of a belief in these symbols, is a measurement of the health and energies present in the community. […] Thus every rebirth of the life and purpose of a people is accompanied by the revitalization of that people’s symbols. (Lane u. a. 2004, 20)

Wenn man mit Geertz davon ausgeht, dass Symbole die Knotenpunkte sind, die unser Bedeutungsgewebe zusammenhalten, so könnte man angesichts der Fetzen, die die Assimilation der Ureinwohner zurückgelassen hat, fragen, welche Symbole die Inuit in eine neue Zeit »hinüberretten« möchten und welche aus dem »modernen« Kanada passend wären, für ein tragbares Gewebe der Zukunft. (vgl. Schellhammer 2015a, 310 ff.) Verena Kast (1995, 35) betont, Symbole seien für den therapeutischen Prozess Brennpunkte und Verdichtungskategorien menschlicher Entwicklung; sie seien »Lebensthemen, die einerseits unsere Schwierigkeiten ausmachen, aber auch unsere Lebensmöglichkeiten in sich bergen, unsere Entwicklungsmöglich273 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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keiten abbilden.« (ebd.) Symbole verbinden und bewegen. Sie stellen keine fixen Tatbestände fest, sondern setzen Erfahrungen frei. Sprache schafft Wirklichkeit, das Sprechen über Erfahrungen kann diese verändern. Welche Symbole und welche Worte Menschen verwenden, um die eigene Situation oder Zukunftsvisionen zu schildern, macht einen Unterschied. 240 Die Praxis der Selbstkultivierung meint hier sehr wörtlich den eigenen Acker zu pflegen: umgraben, Nährstoffe zuführen, pflanzen, bewässern und Ungeziefer vertreiben – und sich am Wachstum freuen. Natürlich muss man gerade bei traumatischen Erfahrungen gewahr sein, wie sehr Menschen in ihre Vergangenheit verstrickt sind und wie schwer sich eigenmächtige Teile des Selbst bändigen lassen. Diese »inneren Zerstörer«, Widerstände und Zweifler können jedoch auch eine andere Seite haben. Durch die kreative Arbeit mit Symbolen, die öffnen, ohne bloßzustellen, weil sie aufdecken und zugleich verhüllen, lässt sich die Bedeutung furchteinflößender Anteile des Selbst behutsam entdecken, so dass sie ihren Schrecken verlieren und positive Wirkung entfalten. Gerade wenn es darum geht, Sinn- und Bedeutungsgehalte einzelner Selbstanteile zu entdecken, sei noch auf einen wichtigen Aspekt für die Kultivierungspraxis hingewiesen, der in gewissem Sinne mit dem Spannungsverhältnis zwischen Bodenständigkeit und Weltläufigkeit korreliert. Dabei geht es um die Fähigkeit des Menschen, sowohl »erfahrungsnahe« (emische) als auch »erfahrungsferne« (etische) Begriffe zu verwenden. D. h. Menschen können sich in Situationen, emotionale Zustände, andere Menschen, ehemals Erlebtes, etc. sowohl hineinversetzen, als auch diese aus einer reflektiert-distanzierten Perspektive betrachten – beides gelingt natürlich nur bedingt, denn es handelt sich dabei um graduelle Abstufungen eines Kontinuums und nicht um zwei voneinander unabhängige Erkenntnisweisen. Dabei ist das Wort »Begriff« zumindest hinsichtlich der Erfahrungsnähe nicht ganz passend, denn Menschen »verwenden ihre erfahrungsnahen Begriffe spontan und ohne sich dessen bewusst zu sein, sozusagen beiläufig im Gespräch: sie merken nicht oder höchstens gelegentlich und ganz flüchtig, daß da überhaupt ›Begriffe‹ im 240 Vgl. hier die Arbeiten von Gregory Bateson (insbes. Steps to an Ecology of Mind), der auf die systemisch-kommunikative Bedeutung von Unterschieden aufmerksam macht. Dies greift auch zur Lippe auf, der herausarbeitet, wie sich Beziehungen dynamisch durch die Wahrnehmung und »Machen« von Unterschieden verändern. (vgl. zur Lippe 2000a, 120 ff.) Durch veränderte Beziehungsgefüge ändert sich »rückbezüglich« auch die Art und Weise, wie Unterschiede erlebt werden.

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Spiel sind.« (Geertz 1983, 292) Gerade in »erfahrungsnahen« Momenten geht es nicht um ein Begreifen und bewusst reflektiertes Erleben, sondern um ein Eintauchen in das, was sich hier zeigt. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich Clifford Geertz bei der Entwicklung ethnografischer Methoden dieser beiden Begriffe bedient, die ursprünglich der Psychoanalytiker Heinz Kohut für seine Praxis eingeführt hat. Denn sowohl in der Ethnografie (hier wird häufiger das Begriffspaar emisch/etisch benutzt, das der Linguist Kennth Pike entwickelte) als auch in der Psychoanalyse geht es um den schwierigen Balanceakt einer zugewandten Distanz bzw. vorsichtig zurückhaltenden Annäherung an fremdartige Phänomene. 241 Es geht Geertz bei seinem Vorhaben darum, »eine Deutung der Lebensweise eines unbekannten Volkes zu gewinnen, die weder in den geistigen Horizont der Betreffenden eingesperrt bleibt […] noch der charakteristischen Färbung dieser Lebensform gegenüber systematisch taub und blind bleibt« (Geertz 1983, 291–292). Analog dazu ermöglichen es die gegensätzlichen Bewegungen von »Eintauchen« und »Abheben«, das in der konkreten Erfahrung Erlebte in Begriffe gehüllt aus der Unbegreiflichkeit der unmittelbaren Betroffenheit »zu heben«, um damit schöpferisch zu arbeiten. Um die (versteckte) Bedeutung einer Handlung oder einer Emotion dichter verstehen zu können, tut es Not, sich bewusst in den mit ihr zusammenhängenden Erlebnisstrom zu stellen und so gut wie möglich zu erfahren und zu beschreiben, was passiert. Verena Kast schreibt, beim therapeutischen Umgang mit Symbolen ginge es zunächst darum, »das jeweilige Symbol wahrzunehmen, es festzuhalten und sich von ihm gefühlsmäßig betreffen zu lassen.« (Kast 1995, 38) Im Erleben der emotionellen Wirkung zeige sich seine Bedeutsamkeit »und das damit verbundene Veränderungspotential für unsere Lebenssituation« (ebd.). Um nicht von diesem Strom mitgerissen zu werden, ist es dann jedoch unerlässlich, aus diesem genauso bewusst 241 Vor allem Mario Erdheim (1984; 1991) hat sich – im Anschluss an Goldy und Paul Parin sowie Georges Devereux – intensiv mit der Verbindung von Psychoanalyse und Ethnologie befasst. Beide Wissenschaften besäßen eine ereignisreiche gemeinsame Geschichte, die mit Freunds Totem und Tabu von 1913 begonnen habe. Sein Interesse gilt besonders der Ethnopsychoanalyse, deren Gegenstand das Unbewusste in der Kultur ist. (vgl. Erdheim 1984, 9) Bereits Devereux (1987, 16) betont: »Zwischen der psychologischen, einen inneren Beobachter implizierenden Erklärung und der soziologischen, einen äußeren Beobachter implizierenden Erklärung besteht ein Komplementaritätsverhältnis.«

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Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

wieder auszusteigen und aus der Erfahrungsferne Begriffe, Bilder, Metaphern, Farben o. ä. zu finden, welche das Erlebte zu fassen vermögen. Ähnlich schreibt zur Lippe, Begriffe seien selbstverständlich notwendig, »um dem beschreibenden Umgang mit den Erscheinungen Halt zu geben«. Sie dürfen aber nicht aufgestellt werden, »wie die Fallen der Wilderer und der Expeditionen«. Deshalb müsse der Halt immer »wieder verwandelt und verschoben werden können, sobald weitere Beobachtungen weitere Ansichten zugänglich gemacht haben. […] Hier sind die Zeugnisse des Mitlebens in die Untersuchungen hineinzuziehen und in ihnen mit einer je bestimmten Bedeutung zu verankern«. (zur Lippe 2014, 11) Diese wechselseitige Bewegung von Identifikation und Disidentifikation ist für die Kultivierungspraxis des Selbst von vielfachem Wert. Denn sie vermittelt einerseits den Eindruck, dass ehemals fremde, diffuse Selbstanteile einen Namen bekommen und auch in ihren positiven Qualitäten wahrgenommen und geachtet werden (»Das ist ein Teil von mir.«). Andererseits wird deutlich, wie wichtig der Abstand einer inneren »Weltläufigkeit« ist, denn aus dieser distanzierten Perspektive ist man nicht festgelegt, nicht in einem Erlebnishorizont gefangen, das Selbst kann sich dynamisch bewegen und sich zu sich selbst verhalten (»Das ist auch ein Teil von mir.«). Der multiperspektivische Blick eines neugierig-offenen »Oberflächenselbst« hilft aus der vertikalen Enge, ohne dabei die menschliche Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Fundierung zu negieren. Menschen merken, dass ihre »›Untiefen‹ ebenso menschlich sind, wie ihre ›Tiefen‹, in bestimmter Hinsicht vielleicht sogar menschlicher, weil sie nicht nur die Seite seiner Ernsthaftigkeit und Sorge verkörpern, sondern auch sein Vertrauen und seine Lebenslust« (Reichenbach 1998, 219). Problematisch wird es, wenn sich jemand vornehmlich mit nur einem Teil seines Selbst identifiziert und dabei außer Acht lässt, auch noch ganz anders sein oder handeln zu können, d. h. die innere Pluralität und damit vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten ausblendet (»Das/so bin ich, ich kann nicht anders.«). Das Selbst wird gleichsam gekapert von einer besonders starken Emotion, von einem dominanten Selbstanteil, der jegliche Alternativen verstummen lässt. Aus der Bodenständigkeit wird ein Tunnelblick, weil kein Weitblick mehr möglich ist. Auch das andere Extrem, die totale Entfremdung oder Abgrenzung von inneren Anteilen, trägt nicht zu einer gelingenden Kultivierungspraxis bei, weil so Gefühle und Bedürfnisse nicht mehr 276 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Selbst(e) & Kultur(en) – Möglichkeiten der Selbstkultivierung

in ihrer Fülle antizipiert werden können, sondern abgeschoben und verdrängt werden und beginnen, ein Eigenleben zu führen. Gerade solche Selbstanteile stehen dann in der Gefahr, die Kontrolle zu übernehmen, so dass keine distanzierte Reflexion mehr möglich ist. Die Eigenschaft, die eine Person besonders weit von sich weist (»Das/so bin ich nicht!«), manifestiert sich teils maskiert, teils offen in selbstentfremdeten Lebensvollzügen. Das innere Bedeutungsgewebe wird löchrig und die damit einhergehende Unsicherheit und Angst durch rationale Überhöhung und abstrakte Erklärungen erfahrungsferner Begriffe kompensiert. 242 Selbstkultivierung vollzieht sich also in einem heilsamen Wechselspiel von Dissoziation und Assoziation, ohne im Moment des einen das andere völlig auszublenden. Denn beide Bewegungen sind nur gemeinsam in der Lage, ihre für die Kultivierungspraxis zuträgliche Wirkung zu entfalten. Anders gesagt: Um etwas, das uns fremdartig erscheint, uns emotional berührt oder uns auf eine Weise verhalten lässt, die uns verstört, besser verstehen zu können, hilft es, sich in diesen »fremden Akteur« unseres Selbst hineinzuversetzen, ihn von innen heraus zu erleben. Selbstkultivierung heißt Einübung in Fremdes. Anschließend gilt es aber auch, wieder auszusteigen und das Erfahrene zu reflektieren, dafür Begriffe zu finden, dem ursprünglich Befremdlichen einen Namen zu geben. Nur dann können die verschiedenen Erlebnisstränge in einer Geschichte verflochten werden. Michail Bachtin zeigt, wie dies dem Schriftsteller Dostojewski in seinen polyphonen Romanen gelingt. Hier haben die einzelnen Darsteller ihren eigenen Stand, ihre eigene Stimme und sind doch in eine gemeinsame Erzählung verstrickt. Es entsteht eine »Welt einander beleuchtender Bewußtseine, miteinander verknüpfter menschlicher Einstellungen« (Bachtin 1985, 109). Die individuelle Geschichte geht in die gemeinsame ein und umgekehrt – ohne dass sie ineinander aufgehen würden. So verflicht sich Fremdes mit Eigenem. »Dieses Ineinander schließt eine völlige Deckung oder Verschmelzung von Eigenem und Fremdem ebenso aus wie eine vollständige Disparatheit.« (Waldenfels 2016, 118) Den Extremen auf beiden

242 Auch Geertz ist sich der Problematik bewusst, wenn einem der Begriffe der Vorzug vor dem anderen gegeben wird: »Wenn sich der Ethnograph auf erfahrungsnahe Begriffe beschränkt, verliert er sich in einer Flut von Unmittelbarkeiten und bleibt in dem örtlichen Dialekt verhaftet. Wenn er sich auf erfahrungsferne Begriffe beschränkt, scheitert er an Abstraktionen und verfällt in Jargon.« (Geertz 1983, 291)

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Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

Seiten, so betont Wilhelm Schmid (1996, 371), »gilt es in einer Lebenskunst gegenzusteuern: sowohl der ängstlichen Einheit als auch der völligen Auflösung jedes Zusammenhangs« 243. Hier zeigt sich die große Herausforderung des Menschen als »Baugenie«, der auf Fundamenten Halt finden muss, die so zart wie Spinnenfäden sind. So unerfüllbar diese Aufgabe zu sein scheint, so wichtig ist die Erkenntnis, dass sich Vielfalt und Einheit, Fremdes und Eigenes dabei nicht unvereinbar gegenüberstehen, sondern diesen Bau gerade erst ermöglichen. Sie eröffnen Zwischenräume, in welchen sowohl Weite als auch Tiefe erfahrbar wird und gelebt werden kann: Durch die Weite der Pluralität brechen die extremen Spitzen des Vertikalen nach oben und nach unten – dabei ist nicht die menschliche Empfindsamkeit für eine Sinn- oder Tiefendimension gemeint, sondern die vermeintliche Unhintergehbarkeit extremistischer Überzeugungen. (vgl. Reichenbach 1998, 218) Durch die Tiefe verlieren sich kulturelle Eigensinnigkeiten nicht in gleichgültige Beliebigkeit. Beides steckt in der Bedeutung von »interkulturell« als Aufgabe und Zielperspektive: Inter- als die Weite und Kultur als die Tiefe, beides trifft sich im Zwischen, das immer voller Spannungen bleiben wird und muss, damit menschliche Entwicklung überhaupt möglich ist.

4.4 Leiblichkeit (er)leben – Körpererfahrung und Körperbegegnung Selbst- und Welterfahrung ist nur möglich, weil wir körperliche Wesen sind. »Der Leib ist das Vehikel des Zur-Welt-Seins«, schreibt Merleau-Ponty (1966, 106), »er [ist] das Werkzeug all meines ›Verstehens‹ überhaupt« (ebd., 275). Durch unseren Leib erfahren wir 243 Wie sehr diese Lebenskunst gerade angesichts aktueller Krisen gefragt ist, zeigt sich deutlich an gesellschaftspolitischen Reaktionen auf die Flüchtlingskrise. Da gibt es einerseits die »Bewahrer« der eigenen Tradition, die sorgenvoll klare Grenzen errichten wollen, und andererseits solche, die sich ohne weiteres zutrauen, Grenzen zu öffnen und in der Vielfalt grenzenlose Chancen sehen. Beide Positionen sind Ausdruck spannungsreicher Gegensätze, die im Leben eines jeden Menschen zu innerlich und äußerlich ausgetragenen Konflikten führen und immer dazu neigen, in ihre Extreme (»ängstliche Einheit« und »Auflösung jedes Zusammenhangs«) zu kippen. Anstatt sich von den Symbolen der anderen Seite reizen zu lassen und diese entsprechend scharf zu bekämpfen, hülfe es, sich ehrlich über deren Bedeutung auszutauschen und sich dem Erleben der Gegenseite zu öffnen.

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Leiblichkeit (er)leben – Körpererfahrung und Körperbegegnung

Welt und wir lassen die Welt an uns selbst teilhaben. Beides geschieht wechselwirkend und in der Regel so natürlich und selbstverständlich, dass wir dies kaum wahrnehmen; »so müßte ich sagen, daß man in mir wahrnimmt, nicht, daß ich wahrnehme« [H. i. O.] (ebd., 253). Meistens merken wir unser leibhaftiges In-der-Welt-Sein erst, wenn wir damit anecken oder es uns in Form von Störungen, Defekten und Ausfällen behindert. In der Fallstudie wurde deutlich, wie sehr der eigene Leib zum eigenwilligen Fremdkörper werden kann. Das Einüben in Fremdes beginnt mit der Erkenntnis – oder vielleicht besser dem Eingeständnis –, dass wir uns, um in etwas abgewandelter Form mit Wittgenstein zu sprechen, Beulen holen beim Anrennen gegen die Grenzen unseres rationalen Vermögens, weil wir an unserer leiblichen Existenz nicht vorbeikommen. Es beginnt mit dem Einüben in die eigene Leiblichkeit, mit einer Praxis der »Einleibung« (Hermann Schmitz). Fakt ist: Wir können nicht aus unserer Haut, obwohl wir denkende Wesen sind. Das Projekt einer rein transzendentalen Selbstkultivierung ist zum Scheitern verurteilt, denn in weiten Teilen macht unser Leib, was er will. Wir können ihm unseren Willen nur bedingt aufzwingen. Doch das ist keinesfalls nur schlecht oder bedauernswert, sondern für das Projekt der Selbstsorge von großem Wert. Oben zeigte sich bereits, wie wichtig es ist, auf die Zeichen des Körpers zu achten, dessen »Sprache« zu lernen, um in Regionen vorzudringen, die der Vernunft verschlossen sind. Und dennoch sind Menschen bestrebt, dem Leib seine »Naturwüchsigkeit« und Fremdartigkeit auszutreiben, ihn zu domestizieren und so gut wie möglich gefügig, d. h. »vernünftig« zu machen. Wir stellen uns taub, wollen die irrationalen Botschaften unseres Körpers nicht hören, weil nicht sein darf, was nicht sein soll. Dies resultiert nicht selten darin, dass wir gegen unseren Körper arbeiten. Er soll funktionieren, Leistung erbringen und so beschaffen sein, dass er Anerkennung für sein Aussehen und seine Funktionsweise erhält. Die Anforderungen, die wir an ihn stellen, die Wertschätzung, die wir ihm zuteilwerden lassen, unterscheiden sich je nach Kultur und Zeitgeist, denen sie entspringen. Die westliche Philosophie ist durchdrungen und geprägt von der asymmetrisch-dualistischen Vorstellung, dass der Körper bestenfalls ein Instrument des Geistes sei, das Denken aber vor allem trüben und täuschen kann. Die Spuren dieses Denkens reichen zurück bis zu den bekannten Aussagen Platons im Gorgias (493a), der Körper sei das Grab der Seele oder im Phaidon (82e), die Seele sei an den Körper gefesselt und gezwungen, durch ihn wie 279 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

durch Gitterstäbe die Wirklichkeit zu sehen. Dazu kommt, dass die Leiblichkeit des Menschen mit zahlreichen moralisch begründeten Stigmata aus der christlichen Tradition (viel wird hier der Leibfeindlichkeit des Apostels Paulus angelastet) bis heute diskreditiert wird, was zu Unfreiheit, Ängsten und Schamgefühlen führt. Es war vor allem Nietzsche, der den Menschen in der vielzitierten Rede Zarathustras Von den Verächtern des Leibes, ausdrücklich nicht als animal rationale bestimmt, sondern von der »großen Vernunft« des Leibes spricht – angesichts der »Geistes-Geschichte« der Vernunft ein Affront, der die Kränkung des Menschen durch Freud vorwegnimmt und in seiner positiven Konnotation sogar noch zuspitzt. Wie sehr Nietzsche Recht behält, belegen u. a. neurowissenschaftliche Befunde (vgl. bspw. die Arbeiten von Gerhard Roth, Antonio Damasio oder Wolf Singer), die zeigen, dass hinter unseren Gedanken und Gefühlen »ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser« (Nietzsche, KSA, 4, 40) steht: unser Leib bzw. unser Gehirn im Sinne eines Leibgedächtnisses. 244 Unser Leib »weiß« implizit, in ihm sitzen unsere Geschichte und unsere Lebensweisheit. Er speichert schöne und schlimme Erfahrungen gleichermaßen und motiviert uns, mehr des Lustvollen und weniger des Schmerzhaften zu tun. Der Leib »sagt nicht Ich, aber tut Ich« wenn er bemerkt: »hier fühle ich Schmerz!«, denn dann leidet er »und denkt nach, wie [er] nicht mehr leide« oder wenn er spürt: »hier fühle ich Lust!«, denn

244 An dieser Stelle muss jedoch unbedingt vor einem neurowissenschaftlichen Reduktionismus gewarnt werden. Man darf das, was die Gehirnforschung herausfindet, nicht mit dem Leibempfinden gleichsetzen, nicht einem Kurzschluss von Gehirn und Geist anheimfallen. Dies geschieht jedoch leicht v. a. im Bereich der Neurophilosophie oder in bestimmten Strömungen der Philosophy of Mind, die nicht als Leibphilosophie im hier gemeinten Sinne verstanden werden können, da sie in der Regel nicht lebensphilosophisch, phänomenologisch, sondern physikalistisch, empiristisch oder behavioristisch vorgehen. Nicht der Leib steht hier im Vordergrund, sondern der Körper bzw. das Gehirn, mit dessen Funktionen alles »leibliche« Erleben erklärt wird. (vgl. exemplarisch für dementsprechende Kritik das Buch von Alva Noë (2009): Out of our head. Why you are not your brain oder das Buch von Markus Gabriel (2015) Ich ist nicht Gehirn – die Kritik an seinen Ausführungen macht jedoch deutlich, dass man die Erkenntnisse der Neurowissenschaften nicht einfach pauschal ablehnen, sondern sich ernsthaft mit ihnen auseinandersetzen sollte) »Schade, dass die Hirnforschung nicht den Bauch untersucht«, schreibt Yoko Tawada (2016, 384) treffend, »denn ein wichtiges Hirn von mir sitzt dort.« Vielleicht müssten sich noch mehr Philosophen mit dem Begriff des Bauchgefühls beschäftigen, meint sie, damit es neben der Vernunft stehen könne. (vgl. ebd., 385)

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dann freut er sich »und denkt nach, wie [er] noch oft sich freue« (ebd.). Ein unbekannter Weiser namens Selbst ist unser Leib, schreibt Nietzsche (vgl. ebd.). Unser Leib ist uns unheimlich – nicht nur, weil wir vieles, was in ihm vorgeht, nicht verstehen, sondern auch, weil wir ohne ihn anderen Menschen nicht begegnen, nicht mit ihnen sein können und uns hier seine Unberechenbarkeit zuweilen Schwierigkeiten bereitet. Wir leben mit unserem Leib, wir sind unser Leib und dennoch bleibt er geheimnisvoll eigensinnig und unerschlossen. »Leiblichkeit und Fremdheit sind aufs engste miteinander verflochten«, schreibt Waldenfels (2016, 68). Fremdheitsfähigkeit erfordert es, dass wir sensibel werden für unser Leibsein, dass wir »sinnlich« werden, dass wir unserem Leib »leibhaftig« antworten und ihn nicht nur unter das Diktat unserer Vernunft stellen. Aus der »Selbstbespiegelung« des Geistes sei noch nichts Gutes gewachsen, warnt Nietzsche (KSA, 11, 349), erst wenn »man auch über alle geistigen Vorgänge sich am Leitfaden des Leibes zu unterrichten sucht«, komme man weiter. Eine Selbstsorge am »Leitfaden des Leibes« fordert uns auf, »das Labyrinth des Leibes zu betreten und herauszufinden, auf welche Weise die Macht dieses Gebieters sich auf die verschiedenen Glieder des Leibes überträgt und auf welche Weise die unbekannte Weisheit des Leibes ihre Wirkung ausübt« (Waldenfels 2016, 70). Diesem »Leitfaden des Leibes« nachzugehen, sich in das Labyrinth des Leibes zu begeben und sich dessen Weisheit anzunähern, um herauszufinden, wie die Sorge um die eigene leibhaftige Existenz zu gelingenden Fremdheitsbegegnungen beitragen kann, ist Inhalt des ersten Abschnitts in diesem Kapitel. Neben leibhaftigen Spuren von Fremdem im Selbst zeigte sich in der Fallstudie auch, wie sehr es gerade unsere körperliche Verfasstheit ist, die, alles rationale Verstehen unterlaufend, Kontakt aufnimmt zu anderen Menschen. »Die Fremdheit inmitten meiner selbst öffnet Wege zur Fremdheit des Anderen«, bemerkt Waldenfels (2016, 84). Unser Körper steht nicht nur in Wechselwirkung mit anderen und unserer Umwelt, er ist Interaktion. Alles in ihm selbst ist dynamisch-zirkuläres Wirken. Menschen erleben andere Menschen mit ihrem Körper und sie verhalten sich körperlich. Der Körper lebt in der Situation und die Situation lebt im Körper. Es gibt Situationen, in welchen man ein körperliches Empfinden von Worten haben kann, man kann sie spüren, bevor man sie sprechen kann. Weil das so ist, eröffnet die eigene Körperlichkeit Wege zum anderen – auch, oder 281 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

gerade dann, wenn ich dessen Sprache nicht spreche oder keine gesprochenen Worte habe, die ausreichen würden, um die Distanz zu ihm zu überbrücken. Das Erlebnis, dass etwas in mir zum Schwingen kommt, weil der andere es in mir auslöst, kann furchteinflößend und berauschend sein – manchmal ist es sogar beides gleichzeitig. In diesen Momenten spürt man, wie sehr der andere Anteil am Selbst hat, wie wenig man sich fremdem Einfluss – auch in einem selbst – entziehen kann. Es lässt einen erfahren, wie sehr Fremdes Teil von einem selbst ist, das, wenn man es wagt, sich ihm auszusetzen, seine Eigentlichkeit entfaltet. Die Achtsamkeit dem eigenen körperlichen Empfinden gegenüber, ein Gewahrwerden dessen, was in einem selbst passiert, wenn man von Fremdem angesprochen und berührt wird, steht im Mittelpunkt des zweiten Teils. Hier geht es nicht mehr nur um die Begegnung mit der eigenen Leiblichkeit, sondern um die Selbstwahrnehmung in einem leibhaftig spürbaren Zwischenraum, in dem mein Berührtwerden durch den anderen Fremdes im Eigenen erschließt. Die eigene Verletzlichkeit durch Fremdheitsmomente in einem selbst kann, wenn man den Mut hat, sich diesen auszusetzen, leibhaftige Brücken zu einem fremden Geist schlagen. In der Fallstudie kristallisierten sich dabei insbesondere die Phänomene der Zwischenleiblichkeit und der Interaffektivität heraus. In beiden ist man nicht mehr Herr über sich selbst – zumindest nicht im idealistischen Sinne, wohl aber im dialogischen. Denn erst wenn der Mensch auch Körper und Geist sein kann – und nicht nur monologisch vernünftig Körper und Geist kontrolliert, ist er Mensch. Auch hier zeichnet sich neben der vertikalen Dimension des Leibes, die sich zwischen Rationalität und Naturursprünglichkeit bzw. Ex-zentrismus und Zentrismus aufspannt, auch eine horizontale Dimension ab, die für das Leibsein des Menschen ebenso konstitutiv ist: die Bedeutung der mitmenschlichen Verwobenheit in ein geschichtlich-kulturelles System. Thomas Fuchs spricht hier von der »horizontalen Dimension des gelebten Leibes und der Zwischenleiblichkeit« (Fuchs 2008b, 37). Joachim Küchenhoff (2008, 130) beschreibt die beiden Dimensionen leiblicher Existenz als Polarität von Zwischenleiblichkeit und Identität: Durch den Körper seien wir mit anderen verbunden, zugleich habe unser Identitätsgefühl seine Wurzeln in der körperlichen Individualität und Unverwechselbarkeit.

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Leiblichkeit (er)leben – Körpererfahrung und Körperbegegnung

4.4.1 Leiberfahrung und Körperbewusstsein Allem voran soll hier zunächst größere Klarheit in die bislang ungenau gebliebene Unterscheidung von Körper und Leib gebracht werden. Ein Blick auf die Etymologie der Begriffe Leib und Körper zeige, so Klaus Wiegerling (2008, 9), »dass philosophische Themen bereits in sprachlichen Voraussetzungen vorgezeichnet sind«. Das Wort »Leib« leite sich vom althochdeutschen »lip« ab, mit dem die beiden Verben »leben« und »bleiben« verbunden seien. Wiegerling führt aus, dass »Leib« für diejenigen stünde, die nach kriegerischen Auseinandersetzungen noch auf dem Schlachtfeld stünden. Insofern sei er wertbesetzt und eng mit dem Begriff des Lebens und dem lebendigen Körper verbunden. 245 Zudem stehe er für etwas zur Person Gehöriges, was durch die Wortverbindungen Leibarzt, Leibeigener oder Leibgericht ausgedrückt werde. »Der Begriff ›Körper‹ drang als vom Lateinischen ›corpus‹ abgeleitetes Fremdwort über das Latein der Ärzteschaft und der Geistlichkeit ins Deutsche und stand zunächst für Leichnam oder Gebeine.« (ebd., 10) Alltagssprachlich habe sich das Wort erst im späten 18. Jahrhundert durchgesetzt und »stand für etwas, das auch im medizinischen Sinne objektivierbar ist« (ebd.). Der Körper könne ohne weiteres zum Gegenstand einer äußeren Betrachtung gemacht werden wie jedes andere Naturstück auch. Als solcher wandelte sich der Körper immer mehr zu einer physikalischen Kategorie, die zunehmend im Gegensatz zur Seele gebraucht wurde. Der Anwendungsbereich des Begriffs überstieg bald die körperlich getragene Personalität des Menschen, denn er wurde zudem für Sozialphänomene verwendet (z. B. Körperschaft, Lehrkörper). Bekannt ist vor allem die Unterscheidung Helmuth Plessners (1970, 43): »Ein Mensch ist immer zugleich Leib […] und hat diesen Leib als diesen Körper« [H. B. S.]. Demnach steht die menschliche Existenz im Licht eines »Doppelsinns«: Wir sind »leibhafte Wesen« und »Wesen im Körper« (ebd., 40). Ähnliches findet sich bei Gabriel Marcel (1985, 16–17): Ich bin mir selber […] ein undurchdringliches, aller Anzweiflung in seine Wirklichkeit entrücktes Geheimnis. Als solches bin ich mein Leib. Das heißt, daß dieser Leib nicht wie ein Werkzeug betrachtet und gehandhabt 245 Matthias Flatscher (2010, 90, Fußnote 9) erwähnt, dass wir aber auch nicht allem Lebendigen so ohne weiteres einen Leib zubilligen würden: »es ist widersinnig, vom Leib eines Baumes oder einer Blume zu sprechen.«

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Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

werden kann; mein Leib ist nie Objekt unter anderen, sondern die Voraussetzung aller denkbaren und möglichen objektiven Verhaltensweisen und aller Wahrnehmungen im Objektiven. […] Insofern ist Inkarnation [als Leibsein in der Welt], wiewohl sie in der Geschichte der abendländischen Philosophie kaum bedacht wurde, Grund und Stütze aller denkbaren Metaphysik: die Entscheidung der Erkenntnis zur konkreten Philosophie. […] Wird dieser Leib, als der ich inkarniert lebe, objektiviert, so erscheint mein Körper, das Mißverständnis des Leibes. […] Diesen Körper habe ich; ich bin aber mein Leib.

Interessanterweise dreht Merleau-Ponty (1966, 207, Fußnote 1) die von Plessner und Marcel getroffene Unterscheidung um, wenn er von Körpersein und Leibhaben spricht. Er begründet dies mit der Aussage, dass er es vorzöge, sich auf den Sprachgebrauch zu stützen, »dem gemäß ›Sein‹ den schwächeren Sinn der Vorhandenheit von Dingen oder der Prädikation hat […], ›Haben‹ aber den Bezug des Subjekts zu dem bezeichnet, worauf es sich entwirft«. Merleau-Ponty meint selbst, er stelle die übliche Verwendungsweise der Begriffe damit auf den Kopf: »Unser Begriff des ›Habens‹ entspricht so in etwa Marcels Seinsbegriff, unser Seinsbegriff seinem Begriff des ›Habens‹.« (ebd.) 246 Im Begriffspaar Körper und Leib seien, so stellt Wiegerling (2008, 10) heraus, grundlegende philosophische Probleme schon vorgezeichnet (was auch im Zitat von Gabriel Marcel bereits deutlich wurde): Während der Körper eine in der Dritten-Person-Perspektive fassbare Entität fixiert, ist der Leib durch diese Perspektive nicht vollständig zu erfassen. Insofern der Leib von seinen Anfängen an wertbesetzt ist, verweist er auf seine kulturelle Disposition. Der Begriff des Körpers ist bereits eine Abstraktion eines ursprünglich als Ganzheit erfahrenden Ausdrucks.

Heute wird in der Regel dem Wort »Körper« alltagssprachlich der Vorzug gegeben, dem Wort »Leib« haftete eine eher angestaubtsakrale Konnotation an, wenn man beispielsweise an den »Leib Christi« denkt. »Dass wir immerhin noch vom Unterleib, aber vom Oberkörper sprechen, ist ein interessanter Hinweis darauf, dass der

246 Dazu erläutert Merleau-Ponty: »Marcel versteht das ›Haben‹ in der schwächeren Bedeutung des Wortes, die ein Eigentumsverhältnis anzeigt (ich habe ein Haus, ich habe einen Hut), und nimmt das Wort ›Sein‹ unmittelbar im existenziellen Sinne des Seins-zu … und der ursprünglichen Zueignung (ich bin mein Leib, in bin mein Leben).« (ebd.)

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Leiblichkeit (er)leben – Körpererfahrung und Körperbegegnung

Leib eher einer tieferen, vor- oder unbewussten Sphäre des Lebens angehört, während der Körper dem bewussten Ich näher liegt.« [H. i. O.] (Fuchs 2015, 147) Es steht zu vermuten, dass die undurchdringlich-diffuse Fremdheit des Leibes auch den wachsenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über den Körper weichen musste. Es sei der instrumentalisierte und technisierte, der reparierbare und verwertbare Körper mit dem wir heute leben, schreibt Thomas Fuchs (ebd., 148) und Gernot Böhme (1994, 171) bemerkt, eine entfremdete Beziehung zum eigenen Leib sei ein genereller Zug modernen Lebens. Das denkende Subjekt erforscht das Körperding, der cartesianische Dualismus »ist in der Postmoderne längst nicht mehr nur eine philosophische Theorie, sondern eine Lebensform – Ergebnis einer Kulturentwicklung, die sich die Emanzipation vom Leib und seine Umwandlung in den verfügbaren Körper zum Ziel gesetzt hat.« (Fuchs 2015, 152) 247 Diese Lebensform schließt sich nahtlos an das »Geschick der Moderne« an, das, so Waldenfels (2016, 68), tief geprägt sei von der Tatsache, dass Mathematisierung der Natur und Inthronisierung des Ich zusammengehen und einander verstärken. Dabei ist heute zunehmend auch eine Gegenbewegung zu bemerken, die sich jenseits der Wissenschaften und häufig bewusst in Opposition von diesen abgrenzend entwickelt. Vertreter dieser Bewegung machen auf die Unbeherrschbarkeit der Natur aufmerksam und auf die Gefahren, denen wir ausgesetzt sind, wenn wir uns anmaßen, uns über unsere natürliche Existenz hinwegzusetzen. Sie machen auf die Bedeutung von Natur- und Körpererfahrung aufmerksam und befassen sich mit Themen, die Mainstream-Wissenschaftlern eher suspekt erscheinen und dem Bereich der Spiritualität oder Esoterik zugeordnet werden. Auch die Antipsychiatriebewegung um David Cooper, Ronald Laing und Gilles Deleuze sieht in der instrumentell-institutionellen Behandlung von »psychisch Kranken« einen Irrweg, der nicht heilt, sondern krank macht, weil er einen Zustand der Entfremdung fördert, der mittlerweile »Normalität« genannt wird. (vgl. Laing 1977a, 152) Die Tatsache, dass viele Phänomenologen das Doppelwort Leibkörper verwenden (vgl. Waldenfels 2000, 252), weist darauf hin, dass

247 Genauso stellt Gernot Böhme (2003, 53) heraus: »Der Cartesianismus ist nicht bloß eine Theorie, sondern wir leben den Cartesianismus, und zwar nicht bloß in einer Betrachtungsweise, sondern im instrumentellen Umgang mit uns selbst.«

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Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

beide Begriffe zwar zu unterscheiden, aber nicht zu trennen sind. 248 Leib-Sein und Körper-Haben sind keine Gegensätze, sondern treten in unserem alltäglichen Erleben immer gepaart und gleichzeitig auf. »Die äußere Wahrnehmung und die Wahrnehmung des eigenen Leibes variieren miteinander«, erklärt Merleau-Ponty (1966, 241), »weil sie nur zwei Seiten ein und desselben Aktes sind«. Dabei kann einmal das eine, dann wieder das andere vordergründig sein. Insofern sollte man sich ein Leib-Körper-Kontinuum vorstellen, in dem wir das eigene Körperhaben bzw. Leibsein »in Form einer abnehmenden Nähe und einer anwachsenden Ferne« (Waldenfels 2016, 82) erfahren. Mit Plessner könnte man sagen, dass wir uns mehr oder weniger »zentrisch« erfahren: Wir erleben uns selbst als Leib unmittelbar zentrisch, dann wieder als Person, die exzentrisch ihren eigenen Körper betrachtet, ihn bewusst wahrnehmen kann. Im Sinne Husserls könnte man auch von einer »Umschlagstelle« oder »Mitte« (vgl. Böhme 2003, 83) zwischen Natur und Kultur sprechen, denn der Leibkörper lebt und bewegt sich immer zwischen beiden, ohne dass er völlig vom einen ins andere übergehen könnte. (vgl. Waldenfels 2000, 253; Fuchs 2008a, 100) Insofern stellt der Leibkörper auch eine Vermittlerrolle dar, als »Nullpunkt« ist er nicht nur ein naturhaftes, der Natur zugehöriges Körperding, das ich sehe, anfassen kann und bewege – er ist zugleich das grundlegende Vermögen zu sehen, zu spüren und sich zu bewegen. Von ihm aus, als »absolutes Hier, das nie zum Dort werden kann« (Fuchs 2008a, 102), sortiert sich für uns die Welt. Der Leib tritt auf als Orientierungszentrum, ist Dreh- und Angelpunkt alles Wahrnehmens, Fühlens und Denkens. »[D]ie Situation eines Wesens, das sich leibhaftig erscheint, […] stellt eine Ursituation dar, die, streng genommen, überhaupt nicht beherrscht, gemeistert, nicht einmal analysiert werden kann«, schreibt Marcel (1985, 17). Denn ich kann immer nur zur oder in der Welt sein, niemals aber aus ihr heraus oder 248 Eine dezidierte Philosophie des Leibes hat sich vor allem im Bereich Phänomenologie entwickelt. Zu nennen wären hier Merleau-Ponty, Hermann Schmitz, Gernot Böhme, Bernhard Waldenfels. Wichtig sind aber auch Helmuth Plessner, Max Scheler, Michel Foucault und Judith Butler. Letztgenannte handeln jedoch »nicht eigentlich vom Leib, sondern davon, wie man über ihn redet bzw. versuchen diese Rede zu kritisieren und zu verändern« (Böhme 2003, 40). In den USA ist im Bereich der psychotherapeutischen Praxis das »körperbezogene Philosophieren« oder »Focusing« von Eugene Gendlin bekannt geworden (mehr dazu unten). Außerdem zu nennen wäre hier die »Integrative Therapie«, die sich ausdrücklich auf Merleau-Ponty, Marcel, Ricœur, Foucault und Schmitz stützt.

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Leiblichkeit (er)leben – Körpererfahrung und Körperbegegnung

ihr gegenüber treten. Merleau-Ponty (1966, 176) bringt diese vorgängige Weise des Leibhabens auf den Punkt, wenn er schreibt: »Der Leib ist unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben.« Nah an der Vorstellung eines Leib-Körper-Kontinuums ist der Versuch von Thomas Fuchs (2000, 122 ff.), das Verhältnis von Leib und Körper zu beschreiben. Er geht von einer Polarität aus, »in der wir uns ständig zwischen dem Leib-Sein und Körper-Haben hin- und herbewegen« 249: An einem Pol dieser Bewegung finden wir den gelebten Leib als Träger unseres Lebensvollzugs, als Medium, das alle unsere Wahrnehmungen und Bewegungen vermittelt, dabei aber selbst im Hintergrund bleibt. […] Der gelebte Leib ist nur implizit, gleichsam stillschweigend in all diesen Lebensäußerungen wirksam. Tritt nun der Leib aus dieser Latenz hervor, so wird er zum erlebten und gespürten Leib. […] Je mehr ich nun aus der Unmittelbarkeit des Leibes heraustrete und ihn als »Werkszeug« […] benutze, desto mehr verliert er seinen spontanen Charakter. Er wird zu einem Instrument, das ich beherrsche und gezielt einsetze, das sich aber auch meiner Verfügung entziehen kann und mir dann gewissermaßen im Weg steht. Zum Körper wird der Leib daher vor allem in den Störungen des gewohnten Lebensvollzugs. [H. i. O.] (Fuchs 2015, 148)

Selbst am äußersten Ende des »Körperhabens« sind wir immer noch Leib. Niemand kann völlig aus sich aussteigen und beispielsweise die eigene Stimme so hören, wie dies andere tun. Unsere leibliche Existenz kann nie direkter Gegenstand der Erfahrung sein, sie geht ihr aber immer als grundlegendes Prinzip voraus. D. h. ich bin mir selbst nur in diesem nie einzuholenden Selbstentzug gegeben. »Was immer wir auch explizit planen oder bewusst tun«, so Fuchs (2008a, 97), »wir leben aus einem unbewussten, leiblichen Grund heraus, den wir nie ganz vor uns selbst zu bringen vermögen.« Selbst das vermeintlich »reine« Denken sei nicht in der Lage, sich von seinem leiblichen Bewusstsein abzulösen, »denn wenn mein Denken sich auch hinsichtlich seiner intentionalen Gehalte in allen Räumen und Zeiten frei bewegen kann, so stellt es als Vollzug doch eine Lebenstätigkeit dar, die an mein Selbstempfinden und ›Hiersein‹ gebunden bleibt« (ebd., 97–98). Thomas Fuchs nimmt hier explizit Anleihe an Maurice Merleau-Ponty, der schreibt: 249 Ganz ähnlich schreibt Joachim Küchenhoff (2008, 130) von einer Polarität »zwischen Leib und Körper, zwischen dem Leib-Sein und dem Körper-Haben, dem selbstverständlichen ›Bewohnen‹ des Leibes und der Vergegenständlichung (und damit Verfremdung) des Leibes zum Körper(-teil)«.

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Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

Der Leib ist also kein Gegenstand. Aus demselben Grunde aber ist auch mein Bewußtsein des Leibes kein Denken, ich kann den Leib nicht auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, um eine klare Vorstellung von ihm zu gewinnen. Seine Einheit ist eine beständig nur implizite und konfuse. […] er bleibt verwurzelt in der Natur, wie immer er sich durch Kultur verwandelt, nie verschließt er sich in sich selbst, aber niemals ist er auch überstiegen. (Merleau-Ponty 1966, 234)

Mit dieser immerwährenden, nie gänzlich aufzulösenden Fremdheit meiner selbst muss eine Praxis der Selbstkultivierung leben – mehr noch, sie muss diese Tatsache aufnehmen und schöpferisch mit ihr arbeiten. Dass dies nicht nur ein Mangel, sondern eine große Chance für die Fremdheitsfähigkeit einer Person darstellt, zeigt sich darin, dass sich ein leibhaftiges »Außersichsein« und der Verlust von Selbstkoinzidenz als Offenheit Anderem gegenüber vollziehen. (vgl. Flatscher 2010, 94) »Die Frage nach dem Anderen beginnt nie erst bei einem konkreten Einbruch des Anderen, sondern durchzieht in einer konstitutiven Weise das Subjekt selbst.« (ebd.) Im Grunde zieht sich dieser Gedanke in unterschiedlichen »Abschattungen« durch alles, was bisher zur Selbstsorge gesagt wurde, was wiederum darauf verweist, dass diese nur gelingen kann, wenn man den eigenen Leib in seiner Gewordenheit bzw. dessen »Weisheit« ernstnimmt. Dementsprechend resümiert Matthias Flatscher, dass phänomenologisch erst »unter Berücksichtigung der intrasubjektiven ›Veranderung‹ eine intersubjektive Alterität‹ thematisiert werden [kann]« [H. i. O.] (ebd.). Die Rede von einer Auseinandersetzung mit der eigenen leibhaftigen Fremdheit verführt jedoch immer wieder leicht zu der Annahme, man könne sich selbst, seinem eigenem Erleben, gegenüberstehen. »Das Problem der Welt, und zu allem Anfang das des eigenen Leibes, ist eben dies«, so Merleau-Ponty (ebd., 233), »daß alles darin bleibt« [H. i. O.]. Ich bin mein eigener Leib und kann ihm nicht äußerlich sein, um mit ihm, mit mir selbst, einen Dialog zu führen. Waldenfels nennt dies Selbstverdoppelungs- bzw. Selbstdifferenzierungsprozesse, die »keine bloßen Außenbeschreibungen [sein können], wie wir sie an einem beliebigen Gegenstand vornehmen können.« (Waldenfels 2000, 254) Zugleich ist die Erfahrung meines Selbst immer durchsetzt von Erfahrungen mit anderen – und zwar schon lange bevor ich tatsächlich selbst Erfahrungen mit anderen machen kann. Diese Erfahrungen – auch transgenerativer Art – sind in unserem »Leibgedächtnis« gespeichert. »[Sie] legen sich über die Umgebung wie ein unsichtbares Netz, das uns zu den Dingen und Menschen in Bezie288 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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hung bringt. In den leiblichen Erfahrungsstrukturen ist der Andere immer schon enthalten.« (Fuchs 2008b, 38) Ich kann »also nie ganz mit mir selbst eins sein« (Merleau-Ponty 1966, 398). Das bedeutet, dass es bei der Kultivierungspraxis des Leibes immer nur um ein Erleben, Erfahren und nachträgliches Reflektieren gehen kann, das sich nie gänzlich von diesem multidimensionalen »Erlebnisgrund« (Straub 2014a, 76) bzw. »Ermöglichungs(ab)grund« (Flatscher 2010, 90) lösen kann: »Die Funktion des lebendigen Leibes kann ich nur verstehen, indem ich sie selbst vollziehe, und in dem Maße, in dem ich selbst dieser einer Welt sich zuwendende Leib bin.« [H. B. S.] (Merleau-Ponty 1966, 99) Dabei können wir, das hat sich im Zusammenhang des Kontinuums von Leibsein und Körperhaben erwiesen, eine größere Erfahrungsnähe bzw. -ferne zu unserer leiblichen Existenz einnehmen. 250 Die Sorge um sich selbst muss sich auch hier in wechselhaften Pendelbewegungen zwischen beidem vollziehen. Denn sowohl das »zentrische« Wahrnehmen eines Zustands, einer leibhaftig spürbaren Bewegung, als auch die Erklärung dessen, was mit dem »von außen« betrachteten »Gegenstand« Körper passiert, hilft, um Klarheit sich selbst gegenüber zu gewinnen und daraufhin handelnd Einfluss zu nehmen. Die Extreme an beiden Enden sind dagegen wenig förderlich, denn weder das völlige Aufgehen in körperlichem Empfinden noch die instrumentelle Verdinglichung des Körpers tragen dazu bei, sich selbst und anderen offen zu begegnen. Das Gegenteil ist der Fall: beide Extreme machen Menschen unfähig, auf die »doppelte Fremdheitserfahrung«, d. h. der Fremdheit in mir und dem fremden Anderen, zu antworten. Gernot Böhme (2003, 81) schreibt ähnlich, man dürfe die Fähigkeit, aus einer distanzierten Haltung heraus zu handeln, nicht desavouieren, sie sei das entscheidende Moment für Freiheit und Autonomie. Andererseits würde einem, wenn man in moralischen Fragen den eigenen Leib betreffend nur in dieser Distanz verharre, verborgen bleiben, worum es in diesen Fragen eigentlich gehe. Die Selbstsorge vollzieht sich in einem Spannungsfeld zwischen dem, was uns leib-körperlich vor- bzw. mitgegeben ist und der Fähigkeit, selbst etwas daraus zu machen. Mit Schmitz 250 Ähnlich betont Böhme, entscheidend scheine ihm die Differenz von Selbsterfahrung und Fremderfahrung zu sein. Erstere bezieht er auf den Leib, letztere auf den Körper. »Dabei ist das Hauptmoment, das die Selbsterfahrung von der Fremderfahrung unterscheidet, die Betroffenheit, das heißt die Tatsache, dass der Leib mein Leib ist und ich deshalb unausweichlich mit dem, was mir von ihm widerfährt […] fertig werden muss.« [H. i. O.] (Böhme 2003, 12)

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(2015, 156 ff.) gesprochen könnte man auch sagen, dass wir permanent zwischen Engung und Weitung, zwischen personaler Regression und personaler Emanzipation schweben; wir müssen uns sowohl in Formen der »Einleibung« als auch der »Ausleibung« üben. (vgl. Eberlein 2016, 222–223) »In der menschlichen Existenz gibt es so wenig unbedingt gewährleisteten Besitz«, schreibt Merleau-Ponty (1966, 203), »wie rein zufällige Attribute«. Und er fährt fort: »Alles, was wir sind, sind wir auf Grund einer faktischen Situation, die wir uns zu eigen machen und unabläßlich verwandeln durch eine Art von Entzug, der gleichwohl nie zur unbedingten Freiheit wird.« [H. i. O.] (ebd., 204) Die Rede vom Grund einer faktischen Situation, die wir zu gestalten haben, erinnert unmittelbar an Martin Heidegger (1986, 284), der betont, Sein als Sorge des Daseins »befaßt in sich Faktizität (Geworfenheit), Existenz (Entwurf) und Verfallen«. Seiend sei es als Seinkönnen bestimmt, das sich selbst gehöre und doch nicht als es selbst sich zu eigen gegeben habe. Die Gegebenheit unseres Leibes ist eine Vorgabe, es ist der Grund unseres Seinkönnens. In unserer leibhaftigen Existenz versammeln sich die Ablagerungen »kultureller Erinnerungen«, unseres »narrativen Unbewussten« (vgl. Freeman 2002). Wir ruhen in der Schwere des Grundes, den wir selbst nicht gelegt haben, schreibt Heidegger (1986, 284). Die Aufgabe der Sorge besteht darin, dass wir uns auf die Möglichkeiten hin entwerfen, in die wir geworfen sind. Nirgends wird dies so deutlich wie in der Gebundenheit an die Vorgaben unseres Leibes: Das Selbst, das als solches den Grund seiner selbst zu legen hat, kann dessen nie mächtig werden und hat doch existierend das Grundsein zu übernehmen. Der eigene geworfene Grund zu sein, ist das Seinkönnen, darum es der Sorge geht. [H. i. O.] (ebd.) 251

Rolf Elberfeld stellt heraus, dass die bewusst praktizierte Selbstwahrnehmung des Leibes je nach Kulturtradition mehr oder weniger erschlossen werde und sehr unterschiedliche Formen annehmen könne:

Ähnlich macht zur Lippe mit Graf Dürckheim die Bewegung des Loslassens gegen die Leib- und Geistesgeschichte Europas und damit den »Pol des Unten« stark: »Von der militärischen Haltung über die gebürstete des hochwohlgeborenen Ganges bis zum Sprung der Balletttänzer ist seit Beginn der Neuzeit alles Leibbewusstsein auf die Verselbständigung des Körpers gegen das Plumpe der Erdenschwere gerichtet gewesen. Sie als das Tragende wieder anzunehmen, ist gewiss die Grundübung, die uns not tut, um ins Lot zu finden und aus dem Lot heraus der Welt ins Auge zu blicken.« (zur Lippe 1997, 80) 251

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»Der Leib kann äußerlich diszipliniert werden (Militär) oder innerlich als Energiesystem erfahren werden (chinesische Medizin).« (Elberfeld 2013, 57) Man könnte auch sagen, dass sich verschiedene kulturelle Selbstwahrnehmungspraktiken auf erwähntem Kontinuum an unterschiedlicher Stelle verorten lassen: In manchen Kulturen steht das Leibsein im Vordergrund, in anderen das Körperhaben. Elberfeld erwähnt beispielsweise, dass in Ostasien die leibliche Dimension seit alters eine besondere Pflege und Ausbildung erfahren habe (ebd., 58). In der Arktis dagegen und in anderen Traditionen, in welchen die körperliche Disziplinierung vielleicht sogar eine überlebensnotwendige Tugend ist, tritt sie eher in den Hintergrund. 252 Hier wird deutlich, so Böhme, dass beim Thema Leib die Theorie der Praxis nachgeordnet sei: »als was sich der Leib zeigt, ist abhängig von der jeweiligen Weise Leib zu sein« (Böhme 2003, 9). Erst wenn Leib und Körper zum Thema einer kulturoffenen Kultivierungspraxis gemacht würden, so Elberfeld (ebd., 57), könne sich ein eigenes Leibund Sinnenbewusstsein entfalten. Hier erweist sich der inter- bzw. transkulturelle Austausch als besonders wertvoll, was Elberfeld bei seinem Vorhaben, die Kant’sche Tugendethik mit buddhistischen Meditations- und Denkpraktiken zu verbinden, zeigt. Damit belegt er zugleich, dass »Denkerisches« und »Leibliches« sich nicht ausschließen und nicht in ihrer philosophischen Bedeutung unterschiedlich gewichtet unvermittelt nebeneinander stehen bleiben dürfen, weil sie erst in ihrem Zusammenwirken ihre ethische Wirkung entfalten. (ebd., 29–30) Ähnlich sieht Böhme (2003) »Leibsein als Aufgabe«. In seinem gleichnamigen Buch geht er der Frage nach, wie sich das Verhältnis zu unserem Leib in unseren Lebensvollzügen konkret auswirkt und meint, der »Verlust« des Leibes durch Descartes’ Abspaltung des Körpers vom Denken führt zu verschiedenerlei Kontaktstörungen mit der Welt. »Zum Einklang mit uns selbst können wir nur gelangen«, so schreibt Wiegerling (2008, 24) bezugnehmend auf Böhme, »wenn wir bereit sind, uns dem hinzugeben, was uns vorgegeben ist und was 252 Klaus Wiegerling (2008, 47 ff.) erwähnt in diesem Zusammenhang, dass sich bis in das Schmerzempfinden hinein im Leib kulturelle Normierungen artikulieren. Unterschiede im Schmerzempfinden seien auch Ausdruck einer individualgeschichtlichen und kulturellen Disposition. Dies bringt ihn zu der Erkenntnis: »Alles, was wir leiblich sind, ist ein kultiviertes Stück Natur.« Durch seine kulturelle Disposition verschaffe uns der Leib von Anfang an eine Orientierung – vor allem auch im ideellen Sinne.

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sich unserer Gestaltung entzieht.« Denn: »Der Leib ist die Natur, die wir selbst sind.« (Böhme 2003, 63) Dabei sei nie zu leugnen, dass der Leib befremdlich fremd sein könne, dabei aber immer »mein« Fremdes bleibe. (vgl. ebd., 66) »Das Spüren des Leibes bleibt ein Sich-Spüren.« [H. i. O.] (ebd., 67) Daher verwundert es nicht, dass Böhme sein Buch mit dem Kapitel »Die Sorge um sich« schließt. Denn er zielt auf Existenzweisen ab, die es praktisch einzuüben gilt, »in denen der Leib als die Natur, die wir sind, gelebt wird« [H. B. S.] (ebd., 14). Eine Selbstsorge, die das Selbst in der eigenen Leiblichkeit fundiere, nehme ihren Anfang in der Anerkennung des Pathischen, »dessen, was einem gegeben ist, und was einem widerfährt« (ebd., 369). Was wir leibhaftig sind, hängt von unserem Verhalten zu uns selbst, von unserer Lebenspraxis, ab. Diese würde uns heutzutage »einsozialisieren bzw. -kulturieren« in eine Weise Leib zu sein, die ihn instrumentalisiert und funktionalisiert – und so gut wie möglich, alles Fremdartige ausmerzt. (vgl. ebd., 75) Dagegen gelte es, das, was wir an Natur sind, anzuerkennen, zu lernen, Leib zu sein und uns in ihm zu finden. [D]er Cartesianismus mit seiner Spaltung des Menschen in res cogitans und res extensa, in Körperding und denkendes Subjekt, ist nicht einfach eine falsche Theorie, sondern bezeichnet eine Lebensform. Er kann deshalb auch nicht durch Argumente widerlegt, sondern er muss durch eine Form des Lebens überwunden werden. [H. B. S.] (ebd., 367)

Im Anschluss an diese leibphilosophischen Überlegungen lässt sich festhalten, dass vieles in unserer Leibgebundenheit vorgegeben ist, uns diese Vorgaben jedoch nicht völlig deterministisch bzw. »zentrisch« festlegen. Das beginnt schon damit, dass man sich bewusst dazu entscheiden kann, sich mit dem eigenen Körper- und Sinnenbewusstsein zu befassen. Wir können zwar immer nur »leiblich« denken, aber dieses Denken hat auch Einfluss auf unseren Leib – wäre dies nicht der Fall, hätte jegliche ethische Theorie, aber auch jede Bildungsanstrengung ihre Basis verloren. Die Entthronung der Vernunft hilft wenig, wenn daraufhin allein dem Leib gehuldigt wird. Als exzentrische, vernunftbegabte Wesen sind wir unserem Leib nicht nur ausgeliefert, sondern können dem begegnen, was wir in uns erleben, dessen Bedeutung erkunden und uns dementsprechend entwickeln. Das geht aber nicht abstrakt allein durch Denken, sondern in Praktiken des leiblichen Spürens, denn »zur Kenntnis des menschlichen Leibes führt kein anderer Weg als der, ihn zu er-leben, d. h. das Drama, das durch ihn hindurch sich abspielt, auf sich zu 292 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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nehmen und in ihm selbst aufzugehen« (Merleau-Ponty 1966, 234). Das Drama, das Merleau-Ponty hier meint, könnte damit zusammenhängen, dass unser Leibbezug nur zu fassen ist in seiner der menschlichen Rationalität unzugänglichen Entzogenheit. (vgl. Waldenfels 2000, 266) Denn er betont, dass sich die Erfahrung des eigenen Leibes der Bewegung der Reflexion widersetzt. (vgl. Merleau-Ponty 1966, 234) Selbstbildung vollzieht sich also zwischen Leibsein und Denken, im Erleben und Reflektieren. Auch wenn alles Wissen und Wollen an den eigenen Leib, die eigene sozio-kulturelle Verwobenheit, gebunden bleibt, gibt es so etwas wie eine praktische Klugheit, die zwischen den rationalen und irrationalen Vermögen des Menschen vermittelt und dazu beiträgt, dass wir über unsere eigene Situiertheit nachdenken und dazu begründet Stellung beziehen können. Das beinhaltet auch, Einfluss nehmen zu können auf unsere Gefühle, denn, so betont Gerard Hughes (2001, 37) bezugnehmend auf Aristoteles, »emotions can be reasonable or unreasonable«. Nah dran an dem, was bereits Aristoteles postulierte, unterscheiden heute Neurowissenschaftler in teilweise unterschiedlicher Darstellungsform das implizite »Leibgedächtnis« vom expliziten (deklarativen) Gedächtnis. 253 Ersteres »lernt« durch Übung, Wiederholung und Gewöhnung im praktischen Lebensvollzug. Das in der Regel unbewusst Gelernte geht uns in Fleisch und Blut über, es wird zu einem leiblichen Vermögen, das wir ohne darüber nachzudenken tagtäglich anwenden, das uns letztlich ohne unser bewusstes Zutun trägt. Das explizite Gedächtnis kann sich neues, theoretisches Wissen aktiv und bewusst aneignen und das Gelernte ebenso bewusst wieder abrufen. Beide Gedächtnissysteme sind nicht strikt getrennt. Menschen können, jeweils gebunden an ihre leiblich-kulturelle Existenz, über ihr Erleben nachdenken und gewissermaßen rational Pflöcke der Veränderung einschlagen. Allein das Denken über die Veränderung verändert.

253 Auch bezüglich der Transformation emotionalen Erlebens lässt sich neurowissenschaftlich feststellen, dass Emotionen auf die Welt gerichtet sind, d. h. Situationen, aber auch Erfahrungen, die wir mit uns selbst machen, bewerten. »Kraft unserer Fähigkeit der reflexiven Selbstkontrolle können wir diese Bewertungen kontinuierlich verfeinern und ausdifferenzieren, wozu uns über Schlüsselszenarien objektivierbare Kriterien zur Verfügung stehen. Dabei streiten wir über die durch Emotionen zugeschriebenen Werteigenschaften mit Gründen, um sie im Licht dieser Gründe zu kultivieren. Hierdurch zeichnet sich der Mensch als ›animal rationale‹ gegenüber den Tieren (mindestens graduell) aus.« (Döring 2013, 160)

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Eine Möglichkeit, entlang des »Leitfadens des Leibes« die eigene Fremdheitsfähigkeit – auch sich selbst gegenüber – zu entwickeln, ist die Praxis des körperbezogenen Philosophierens nach Eugene Gendlin (2015). Der Dreh, der sich in Gendlins Praktiken und auch in seiner Philosophie vollzieht, demonstriert, wie erlebte Zusammenhänge nicht nur »Gegenstand« von Kategorien, Theorien oder Meinungen sind, wie man nicht nur darüber, sondern jeweils auch mit bzw. darin reflektiert und formuliert. Die von ihm entwickelten Praktiken machen erlebbar, wie von diesem Prozess aus relevante Wendungen und präzise Unterscheidungen entstehen, die wirksam auf das Erleben (Denken und Fühlen) zurückwirken. [H. i. O.] (Schoeller, in: Gendlin 2015, 11)

Dreh- und Angelpunkt der Überlegungen Gendlins ist der Felt Sense als Wegweiser zur »unbekannten Weisheit des Leibes«, die zu einer impliziten, nie endenden Transformation des Selbst führt. Er nennt dies auch »Thinking at the Edge« als den Versuch, das auszudrücken, was (noch) nicht in Sprache verbalisierbar, aber dennoch deutlich existent ist. 254 Dazu spielt insbesondere das Focusing eine wichtige Rolle. Focusing bedeutet, dass »man bei etwas, das man unmittelbar erlebt, aber nicht versteht, dabeibleibt« (Wiltschko 2008, 27). Dieses unmittelbare Erleben geht über Gefühle, die man bereits kennt und über die man sprechen könnte, wie z. B. Ärger, Traurigkeit oder Angst, hinaus. Es geht auch über theoretische oder logisch durchdachte Erklärungen hinaus. Es ist ein körperliches Empfinden, das Gendlin mit dem Felt Sense beschreibt. In ihm steckt ein »Implizieren« der Veränderung, es weist den Weg zu einer körperbezogenen Entwicklung des Selbst – die aber wiederum Einfluss auf das Implizieren nimmt. In der etwas schwer zugänglichen Sprache des Hauptwerks Gendlins Ein Prozess-Modell hört sich das wie folgt an: »Da Implizieren ein weiteres Geschehen impliziert und da Geschehen das Implizieren ändert, impliziert Implizieren eine Veränderung im Implizieren. Es impliziert seine eigene Veränderung.« (Gendlin 2015, 64) Hier wird deutlich, dass Gendlin u. a. stark von Whiteheads Prozessphilosophie beeinflusst ist: Sein ist ereignishaftes Werden. Um verständlich zu machen, was Thinking at the Edge bedeutet, verweist Johannes Wiltschko auf eine Aussage von William James: »Wir müssen prinzipiell hinter die begriffliche Tätigkeit überhaupt zurücktreten und den ursprünglichen Fluß des Empfindungslebens für die wahre Gestalt der Wirklichkeit ansehen.« (James, in: Wiltschko 2008, 26)

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In Bezug auf die Beobachter in der Fallstudie hieße das, dem Gefühl der Erschütterung, der Verunsicherung oder der Wut nicht auszuweichen, d. h. nicht nach Verantwortlichen zu suchen, rational zu theoretisieren oder von seinem Inneren und von dem, was sich da vor den eigenen Augen abspielt, wegzusehen. Es reicht auch nicht, kognitiv festzustellen, dass man erschüttert, verunsichert oder wütend ist und dies für sich und vor anderen so festzuhalten, vielleicht sogar abzuhaken. Dies würde nur dazu führen, in einer ähnlichen Situation ähnlich hilflos zu reagieren. Es geht vielmehr darum, bewusst bei seinem inneren Erleben zu bleiben ohne es in Gefühlsworte verpackt auf die Seite zu stellen und sich in immer neuer Hinwendung der eigenen Körperempfindung auszusetzen. Durch dieses Dranbleiben im Sinne des Focusing stellt sich der Felt Sense ein. Dieses Einstellen ist ein interaktiver Prozess mit etwas, das man (noch) nicht klar fassen kann: Eine Person »interagiert mit einer Art ›Fühlen‹ (feel), noch bevor es richtig da ist. Sie sucht es, richtet ihre Aufmerksamkeit darauf, spürt, ob es stimmig oder unstimmig ist – und das alles, bevor etwas klar als ein ›es‹ bezeichnet werden kann.« [H. i. O.] (Gendlin 2015, 403) Man muss dabei noch nichts »gefunden« haben, um eine Veränderung zu erfahren, denn: Wenn ich in irgendeiner Situation nach etwas suche, dann wird die Szene (und wie ich sie erfahre) durch mein Suchen verändert, und was ich dann sehe, beeinflusst wiederum, wie ich weiter suchen werde – das heißt also, dass die nächste in gerichteter Weise implizite Bewegung meines Körpers verändert wird, je nachdem, wie sich die Umgebung zu meiner letzten Bewegung verhält. (ebd., 403–404)

Hier zeigt sich, dass Gendlin auch ein mehrdimensionales, dialogisches und prozessuales Leibverständnis vertritt, das nicht dualistisch in Körper und Geist bzw. in innen und außen getrennt werden kann – diese Struktur treibe Unfug, erwähnt Gendlin (in: Wiltschko 2008, 31). In uns »innen« sei, so schreibt er, wie wir mit anderen Menschen im so genannten Äußeren leben. »Wir leben mit anderen in einer Situation, in einer Beziehung, in etwas, das wir zusammen tun. […] Der Körper ist die Situation.« [H. i. O.] (ebd.) Vielleicht könnte man auch sagen, dass wir uns in die (Fremd-)sprache unseres Leibes hineinleben, so wie wir durch das (Zusammen-)Leben in einem fremdkulturellen Kontext mit unbekannten Ritualen, Symbolen und Praktiken, ohne dass wir alles verstehen müssten, etwas verstehen – und so nach und nach die fremde Sprache und die durch sie vermittelten 295 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Bedeutungen lernen. Je mehr wir von uns verstehen, desto besser können wir auch zum Ausdruck bringen, was uns bewegt, ohne allein die Fremdartigkeit des anderen für unser Unbehagen verantwortlich zu machen. Die Weisheit des Leibes bedarf einer vorsprachlichen Interpretation von innen, d. h. erfahrungsnaher Begriffe – die dann aber in »erfahrungsferne« übersetzt werden, damit aus dem diffusen Gewahrnis ein sprachlicher Ausdruck wird, der in den sozio-kulturellen Raum des Zwischenmenschlichen eingebracht werden kann. Hier kommt es dann zu entsprechenden verbalen und nonverbalen Rückkoppelungen, die zu neuen Eindrücken werden, die wiederum »erfahrungsnah« im Sinne des felt sense aufgenommen werden, usw. Kurz mit den Worten Gendlins zusammengefasst: »Die Weisheit liegt im Körper nicht einfach da, nur den Ausdruck erwartend. Denn das Körpererleben setzt sich im Sprechen und Verhalten fort.« (in: Wiltschko 2008, 166) 255 Besonders erwähnenswert ist auch die phänomenologische Körperarbeit (embodiment work) von Elizabeth Behnke, die herausstellt, dass Opfer von Gewaltverbrechen nicht mehr ohne Weiteres Zugang haben zu ihrem »felt sense«, weil deren natürliche Verbindung zur eigenen Leiblichkeit durch die traumatische Erfahrung gebrochen ist. (vgl. Behnke 2002, 3 ff.) In ihrem körperbezogenen Ansatz schlägt sie u. a. vor, Opfer dabei zu unterstützen, den eigenen Leib durch bewusst selbstbestimmte Bewegungen zurückzugewinnen oder neue Wege zu entdecken, Körperbezüge zur Mitwelt erfahren und heilen zu können – z. B. »by working with the lived experience of ground and gravity, actively partnering the abiding fields of balance and support« (ebd., 12). Die phänomenologische Leibesübung, so stellt Behnke heraus, hat transformatorische Kraft: »we can actively participate in shaping not only the style of our own embodied life, but our way of experiencing this experience« (ebd., 13). Noch eine Möglichkeit, sich leibbezogen um sich selbst zu sorgen, soll hier angeführt werden – dies erfolgt nicht beliebig, sondern hat triftige Gründe. Der wichtigste davon ist, dass sich das Verständnis, die Bedeutung und das Erleben der eigenen leibhaftigen Existenz sowohl individuell als auch kulturell unterscheiden. So mag für eine Person das Focusing als sinnenbewusst einfühlsame Leibesübung 255 Es ist auffällig, dass die deutsche Übersetzung von Gendlins Werken nur das Wort »Körper« verwendet, was offensichtlich »leibphilosophisch« nicht das wiedergibt, was der Darlegung eher entsprechen würde.

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stimmig sein, für eine andere jedoch nicht. Eine Methode, die neben der inneren Einkehr den Weg nach draußen sucht, könnten Übungen sein, die im Bereich der Naturerfahrung oder in der Erlebnispädagogik eine Rolle spielen. Wie oben bereits erwähnt (vgl. 3.1.4), berichten Ureinwohner in Kanada, dass ein Leben »on the land« für sie heilende Wirkung hat. Es geht ihnen dabei um das Einssein mit der Natur, um das Gefühl der Abhängigkeit und um Ursprünglichkeit. Die Leibesübung wird hier zum Lebensvollzug; das Einüben in die Natur geht Hand in Hand mit dem Einüben in die Natur, die man selbst ist. Die Natur gibt den Rhythmus an, sie ernährt die Menschen; sie fordert aber auch, denn man muss sich gegen Kälte, Nässe und Wind schützen. Heilung auf dem Land verbindet ein körperlich gesundes Leben mit praktizierter Spiritualität, was z. B. in der Vision Quest Zeremonie deutlich wird, bei der eine Person allein einige Tage ohne Essen und Trinken in der Wildnis verbringt. In der Natur wird gerade durch unsere körperliche Existenz spürbar, wie verletzlich Menschen sind. Die Veränderungen, die sie induzieren, haben Auswirkungen auf die Selbstverständlichkeit des Lebens – dies wird besonders deutlich an den Konsequenzen des Klimawandels für die Menschen in der Arktis. Auch in der Arbeit mit Jugendlichen – und vor allem mit solchen, die Schwierigkeiten haben, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und sich diesen auf eher schädliche Weise versuchen zu erkämpfen – zeigt sich, wie wertvoll das gemeinsame Naturerleben, das körperliche An-die-Grenzen-Gehen, ist. Diesen Jugendlichen fällt es häufig schwer, sich auf stille Besinnungsübungen einzulassen. Oft ist ihnen der Zugang zu ihren Gefühlen nicht so ohne weiteres möglich, denn in dysfunktionalen Familien kann es eine »Überlebensstrategie« sein, sich den eigenen Gefühlen zu versperren und Schmerzen so gut wie möglich auszublenden. Das Resultat ist Härte und Unempfindlichkeit sich selbst, aber auch anderen gegenüber. Gerade wenn es um das Spüren von sich selbst geht – auch darum, zuzulassen, dass man schwach und verletzlich ist, eröffnet sich in der körperbezogenen Bildungsarbeit ein neuer Horizont der Natürlichkeit menschlicher Empfindungen. Erst wenn Menschen herausgerissen werden aus ihren alltäglichen Bezügen und eingeschliffenen sozialen Systemen, erfahren sie Möglichkeiten, sich neu zu entdecken. Im Beziehungsgeschehen mit der natürlichen Mit-Welt durch »Körperkontakt« wird deutlich, dass Menschen keinen »aggressiven Instinkt enthalten« (vgl. zur Lippe 2000a, 125), weil sie sich jenseits ihres gewohnten 297 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Kontextes anders verhalten (müssen). Der Berg ist bedrohlich, aber man braucht vor ihm nicht stark sein, denn es nützt nichts: Er wird immer der Stärkere bleiben. Beim Bergsteigen ist man ihm und sich selbst ausgesetzt. Man spürt die Grenzen der eigenen Kraft. Man spürt aber auch diese eigene Kraft und kann sich damit auch selbst überraschen, man kann über die eigenen Kräfte hinauswachsen. Viktor Frankl war leidenschaftlicher Bergsteiger und Kletterer – es liegt nahe, dass die Erfahrungen, die er hier sammelte, in seiner »Höhenpsychologie« mitschwingen. Er schreibt: Was mag mich zum Klettern bewogen haben? Offen gesagt die Angst davor, aber wie oft frage ich meine Patienten wenn sie sich mit ihren Angstneurosen an mich wenden: Muss man sich denn auch alles von sich gefallen lassen? Kann man nicht stärker sein als die Angst? Hat nicht schon Nestroy […] die Frage gestellt: Jetzt bin ich neugierig, wer stärker ist, ich oder ich? Und so habe ich denn auch mich, als ich mich vor dem Klettern fürchtete, gefragt: Wer ist stärker ich oder der Schweinehund in mir? Ich kann ihm ja auch trotzen. Gibt es doch etwas, was ich einmal bezeichnet habe als die »Trotzmacht des Geistes« gegenüber Ängsten und Schwächen der Seele. (Frankl 2008, 5)

Vor allem Menschen, die gezeichnet sind von Verletzungserfahrungen und daraus resultierenden Unsicherheiten, stehen in der Gefahr, ihre Ängste aggressiv nach außen, manchmal auch autoaggressiv nach innen, abzureagieren. Denn sie haben als Kinder wiederholt die Erfahrung machen müssen, selbst nicht die Kontrolle über sich, d. h. über ihren Leib, zu haben. Sie haben nie erlebt, dass sie aus sich heraus wirksam – auch stärker als der »innere Schweinehund« – sein können. Wenn sie beim Klettern erleben, dass sie Kontrolle haben, dass sie den eigenen Empfindungen nicht hilflos ausgesetzt sind, sondern so etwas wie die »Trotzmacht des Geistes« dagegensetzen können, nehmen sie wahr und lernen, dass sie einen eigenen Stand haben und sich nicht in einer Hyperintention gefangen, an eine »sinn- und bodenlose« Macht klammern müssen, die wieder Menschen zu Opfern macht. Die »Trotzmacht des Geistes« tritt auf die Bühne, wenn Menschen körperlich an ihre Grenzen gehen. Es ist ein existenzielles, leib-seelisches Empfinden, dem man, wenn man es einmal erlebt hat, nicht mehr ausweichen kann. 256 Derartige Grenzerfahrungen be256 Auch hier ist davor zu warnen, den Kampf gegen den »inneren Schweinehund« auf die Spitze zu treiben und entweder sich selbst oder den Berg »bezwingen« zu wollen. Das, worauf es ankommt, liegt zwischen dem Gefühl des Ausgesetztseins und der

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freien aus der Versklavung der Abhängigkeit, denn man braucht keine anderen mehr – auch keine Opfer, durch die man sich selbst der eigenen Stärke vergewissern kann. Angst ist wie Fremdes: Man muss ihr begegnen, damit sie ihren Schrecken verliert. Dabei wäre es eine Illusion zu meinen, man könne sie je überwinden. »Wir werden niemals völlig in unserem Leib zur Ruhe kommen, als wären wir Eigentümer unserer selbst«, schreibt Waldenfels (2016, 91), doch es kann sehr wohl sein, daß es gerade diese Unruhe ist, die uns lebendig hält.« Damit die »Erfahrungsnähe« in erlebnisgesättigten Momenten am Berg, auf dem Fluss, oder nachts im Zelt auch im Alltag noch seine Wirkung entfalten kann, bedarf es auch hier der »Übersetzung« in »erfahrungsferne« Begriffe. Dies könnte beispielsweise in einem Gespräch geschehen, das der Frage nachgeht, welche Bedeutung die Erfahrung (als das in Worte gefasste oder symbolisch reflektierte Erlebte) für das eigene Leben hat oder haben könnte: Inwiefern macht es einen Unterschied? Denn jede Erfahrung führt »zu einem neuen Zusammenhang, der die bis dahin gelebte Geschichte – oder Lebensgeschichte – und das entwickelte Wissen und Können übergreift, indem sie ein neues Moment aufnimmt« (zur Lippe 2000b, 339). Auch hier können Symbole wie beispielsweise ein Stein, ein Karabiner, ein Stück Seil oder ein Bild zur Verankerung eine wichtige Rolle spielen – vor allem dann, wenn Worte nicht reichen, um die Erfahrung zu fassen. Menschen der First Nations tragen oft ein »Medicine Bag« bei sich, ein Ledersäckchen, in dem sie kleine Gegenstände von persönlichem Wert aufbewahren – dabei geht es nicht um die Artefakte an sich, sondern um die spirituelle, heilende Wirkung, für die sie stehen. Sie bilden wichtige Knotenpunkte eines zarten Netzes, das Grund und Boden sein kann für den Prozess einer Transformation des Selbst, der in leibhaftigen Erfahrungen, in dem Vertrauen auf die Weisheit des Leibes, seinen Anfang nahm. Gerade im Kontext fremdkultureller Begegnungen bietet die körperbezogene Arbeit in der Natur einen Reichtum an Erfahrungsmöglichkeiten, die jegliches Lernen über den anderen übersteigt und Selbstwirksamkeit. Bezogen auf die sportliche Tätigkeit in der Schule, die »Leibesübungen als Praxis der Menschenbildung«, beschreibt dies Böhme (2003, 313) wie folgt: »Aus dem leiblichen Spüren heraus sich kompetent als Körper bewegen zu können, oder aber sich bewegend im leiblichen Spüren den Körper als den eigenen erfahren.« Die so verstandenen Leibesübungen dienen der Einübung in den eigenen Leib, einer offenen Erfahrung mit sich selbst. Als lebendiger Vollzug sind sie Zweck an sich, nicht nur Mittel, um sportlicher, leistungsstärker, gesünder oder attraktiver zu werden.

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Unterschiede spielerisch in den Hintergrund oder im Sinne sich ergänzender Fähigkeiten und Fertigkeiten in den Vordergrund treten lässt. Zum einen können hier Menschen ohne eine Sprache teilen zu müssen, an gemeinsamen »Problemen«, wie beispielsweise einer Flussüberquerung oder dem Bau eines schützenden Biwaks, arbeiten. Es geht dabei weder direkt um die Eigentümlichkeit des einen oder des anderen, sondern vielmehr um die geteilten Grenzen körperlicher Existenz. Denn es ist unangenehm, nass zu werden, von den Fluten mitgerissen zu werden oder nachts zu frieren. Dennoch mögen die Vorschläge zur Problemlösung sehr unterschiedlich aussehen. In Formen anschließender Reflexion kann die Körpererfahrung in einen Austausch über leibliches Empfinden überführt werden. Dabei zeigt sich, dass Themen wie Nähe und Distanz oder das Einfühlen in den anderen, das Mitleiden und Mitfreuen eine wichtige Rolle spielen. Denn es macht etwas mit Menschen, einen anderen frieren, lachen oder weinen zu sehen. Damit ist bereits angedeutet, was im nächsten Abschnitt im Mittelpunkt steht: Implikationen leibhaftiger Begegnungen, insbesondere die Bedeutung der Zwischenleiblichkeit und der Interaffektivität für die Selbstsorge.

4.4.2 Zwischenleiblichkeit und Interaffektivität Im zwischenleiblichen Erleben drückt sich die Bedeutung der Selbstsorge für die Entwicklung der Fremdheitsfähigkeit besonders deutlich aus. In der dichten Beschreibung des Falls zeigte sich, wie die Wahrnehmung der Gefühlsregung eines Anderen dazu führen kann, dass Menschen sich selbst fremd werden, weil ihre Körper wie fremdgesteuert auf das reagieren, was sie am Anderen erleben. Diese leibkörperliche Reaktion affiziert wiederum die Menschen, die ihrer gewahr werden. Aus dieser komplexen Dynamik eines Hin und Her, die eo ipso einen atmosphärischen Gefühlsraum aufspannt, der es vermag, alle Beteiligten in seinen Bann zu ziehen, ergeben sich bezüglich der Selbstsorge einige wichtige Überlegungen. Zunächst geht es dabei noch einmal um die Frage, welche Rolle die vertikale Dimension unserer leibgeistigen Existenz, d. h. das Verhältnis von Leibempfinden und den Möglichkeiten des Denkens, darauf Einfluss zu nehmen, für das horizontale Mitsein spielt. Dies wurde zum Teil bereits thematisiert (vgl. 4.4.1). Vordergründig denkt man hier an die Kultivierung emotionaler Widerfahrnisse durch un300 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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ser reflexiv-rationales Vermögen. Wenn man jedoch auch die »Weisheit des Leibes« ernst nehmen und sich am »Leitfaden des Leibes« orientieren möchte, scheint es ebenso klug zu sein, »leibhaftig« dem Anderen zu antworten, ohne sich sofort die Knebel der Vernunft anzulegen, indem man das beunruhigende Erleben dessen, was man am Anderen wahrnimmt, ruhigstellt. Hier eröffnet sich wieder der schwierige Balanceakt zwischen dem Mitgehen, wohin der Leibkörper einen bringt, und dem Einwirken der Vernunft, um nicht bloß »getrieben« zu reagieren. Dabei ist von Bedeutung, wie offen Menschen für das eigene Erleben sind, wie bewusst sie sich darin üben, sich selbst wahrzunehmen – und sich dabei auch trauen, das Denken zu suspendieren und sich auf leibliche Regungen einzulassen. Es soll hier jedoch gerade nicht einer Vorstellung das Wort geredet werden, bei der die menschliche Rationalität einer leiblich-instinkthaften Entität gegenübersteht – ganz im Gegenteil. Wie sehr der Mensch leibgeistige Einheit ist, zeigt die Rede von einem »Leibgedächtnis« (vgl. Fuchs 2008b, 37; 3.1.4), das nicht nur »in« einem Menschen seinen Raum hat, sondern zutiefst verwoben und verwurzelt ist in der geschichtlich-sozialen Existenz einer Person. Weder die LeibGeist-, bzw. Körper-Seele- noch die Innen-Außen-Dichotomie sind hilfreich. Um Fremdes im Selbst zu verstehen, reicht es nicht, in die dunkle Höhle einer vermeintlich abgeschlossenen, psychischen Innenwelt des individuellen Unbewussten einzudringen, um dort nach vergangenen Traumata und verschütteten Erinnerungen zu suchen. Unbewusste Inhalte zeigen sich vielmehr leibhaftig im Raum zwischenmenschlicher Begegnungen: in öffentlichen Inszenierungen, im Tonfall, in Gesten und Gebärden. 257 Vor allem mit Merleau-Ponty ist die vertikale Dimension der leiblichen Existenz des Menschen durch die Zwischenleiblichkeit in der Horizontalen zu erweitern. Man mag zwar meinen, dass es etwas Vgl. hier die Arbeiten von Shaun Gallagher (2008), der in seiner Interaction Theory darlegt, dass geistige Zustände über den Körperausdruck unmittelbar erfahrbar sind – eine Tatsache, die er »embodied social cognition« bzw. »embodied interaction« nennt. D. h., dass sowohl Fremdes im Selbst als auch das Erleben eines anderen durch ein vor-reflexives Erfassen von Bewegungen, Haltung, Gestik, Mimik usw. möglich sind. Er bezieht sich dabei u. a. auf Wittgenstein (1984, 320), der schreibt: »Schau ins Gesicht des Andern und sieh das Bewußtsein in ihm.« Oder: »Man sieht Gemütsbewegung. […] Man sieht nicht die Gesichtsverziehungen und schließt nun (wie der Arzt, der eine Diagnose stellt) auf Freude, Trauer, Langeweile. Man beschreibt sein Gesicht unmittelbar als traurig, glückstrahlend, gelangweilt […] Die Trauer ist im Gesicht personifiziert, möchte man sagen.« [H. i. O.] (ebd., 321)

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gänzlich Verschiedenes sei, ob ich Achtsamkeit in meditativen Praktiken zurückgezogen von der Welt übe (mich ganz meinem vertikalen Leibbewusstsein widme), oder ob ich sie einbinde in das alltägliche Zusammenleiben mit anderen; aber auch eine Besinnungsübung, die ich für mich allein praktiziere, ist nie losgelöst von zwischenmenschlichen Erfahrungen. Die Erfahrung der Zwischenleiblichkeit als ein gemeinsames, vorreflexives Zur-Welt-Sein, wie sie Merleau-Ponty beschreibt, spiegelt sich in der bereits erwähnten »Intererfahrung« (vgl. 4.2.1) von Ronald Laing wider. Aufgabe der Sozialphänomenologie sei es, so erklärt er, »meine Erfahrung vom Verhalten des anderen in Beziehung zu setzen zur Erfahrung des anderen von meinem Verhalten« (Laing 1977a, 11). Er führt aus: Ich sehe dich, und du siehst mich. Ich erfahre dich, und du erfährst mich. Ich sehe dein Verhalten. Du siehst mein Verhalten. Aber ich sehe nicht deine Erfahrung von mir, habe sie nie gesehen und werde sie nie sehen. Ebenso kannst du nicht meine Erfahrung von dir »sehen«. […] Erfahrung als Unsichtbarkeit des Menschen für den Menschen ist gleichzeitig evidenter als irgend etwas sonst. Einzig Erfahrung ist evident. Erfahrung ist die einzige Evidenz. [H. i. O.] (ebd., 11–12)

Hier zeigt sich noch einmal deutlich das paradoxe Phänomen der Erfahrungsnähe bzw. Erfahrungsferne: Auch wenn die tatsächliche Erfahrung des anderen für mich in unerreichbarer Ferne ist, 258 findet sie doch einen Niederschlag in meiner Erfahrung dessen, was ich am anderen von seiner Erfahrung wahrnehme. Diese Erfahrung des Ausdrucks der Erfahrung des anderen kann mir so nah kommen, dass mir die Distanz zu mir selbst schwer fällt – in diesem Moment, so kann man beinahe sagen, bin ich meine Erfahrung (vom anderen), denn sie nimmt mich voll in Beschlag. Dies scheint umso mehr der Fall zu sein, je fremder mir das Verhalten des anderen ist. Bemerkenswert ist die nachdrückliche Betonung Laings, Erfahrung sei die einzige Evidenz, die einige Fragen aufwirft bzw. der Klärung bedarf. Alles rationale Wissen über den anderen reicht also nicht aus, um etwas von seiner Erfahrung zu verstehen und alles empathi258 Hier sei noch einmal auf die Erkenntnisse Antonio Damasios (2013, 365 ff.) verwiesen, der die Unerreichbarkeit der Erfahrungen eines anderen Menschen neurowissenschaftlich unterstreicht: Selbst wenn man das Gehirn eines Menschen völlig ausleuchten könnte und alles sehen würde, was sich dort vollzieht, hätte man doch nie Zugang zur Erfahrungswelt des anderen. Man hätte lediglich eine Erfahrung dessen, was sich in einem anderen Gehirn abspielt, nie aber erführe man wirklich, was der andere erfährt.

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sche Einfühlen kommt an seine Grenzen. Denn alles, was ich wirklich habe, ist meine Erfahrung – und zwar nicht als meine Erfahrung vom anderen, sondern von mir in der Begegnung mit dem anderen. Dabei ist diese Erfahrung von mir, wie oben bereits mehrfach erwähnt, durchsetzt mit zahlreichen zwischenleiblich erworbenen, »eingefleischten« Sedimenten meiner Geschichte, die meine Erfahrungen immer in einem bestimmten Licht erscheinen lassen. »Das sogenannte Selbstgespräch«, so betont Waldenfels (2000, 285) in diesem Zusammenhang, »bedeutet nicht, daß die Fremdheit des Anderen wegfällt, sondern im Selbstgespräch sprechen die Anderen in mir selber mit.« Der vor allem in abendländischer Tradition eigentlich völlig kontraintuitive Evidenzbegriff Laings könnte seinen Ursprung bei Merleau-Ponty haben. Denn dieser führt aus, dass die Evidenz des anderen nur dadurch möglich sei, »daß ich mir selbst nicht transparent bin und auch meine Subjektivität stets ihren Leib nach sich zieht« (Merleau-Ponty 1966, 404). An anderer Stelle hebt MerleauPonty (ebd., 219) die Bedeutung einer echten, vorreflexiven Erfahrung für die gelungene Kommunikation hervor, in der »in eins ich den Anderen bestätige und der Andere mich«. Er schreibt, es gelte, »die Weise unserer Erfahrung Anderer freizuhalten von allen sie verzerrenden intellektualistischen Analysen, wie ebenso auch die Erfahrung der Dingwahrnehmung«. In gewisser Weise könnte man im Anschluss an Merleau-Ponty sagen, dass es hilfreich sein kann, bewusst (der Evidenz) seiner eigenen Leiblichkeit zu begegnen und beispielsweise der Beziehung des eigenen Körperausdrucks mit den sie auslösenden »psychischen Tatsachen« nachzugehen, um den Erfahrungen eines anderen näherzukommen. Denn »[z]wischen meinem Bewußtsein und meinem Leib, so wie ich ihn erlebe, zwischen diesem meinem phänomenalen Leib und dem des Anderen, so wie ich ihn von außen sehe, herrscht ein inneres Verhältnis« (ebd., 403–404). 259 Zugleich warnt er aber auch davor, einem verkürzten Analogieschluss anheimzufallen, der bereits voraussetzt, was er erklären soll. (vgl. ebd., 403; 218 ff.) Schon der Volksmund mahnt, nicht vorschnell von sich auf andere zu schließen. Denn die »Evidenz« des Anderen 259 Ähnlich schreibt Gallagher (2008, 449): »When I see the other’s action or gesture, I see (I immediately perceive) the meaning in the action or gesture; and when I am in a process of interacting with the other, my own actions and reactions help to constitute that meaning. I not only see, but I resonate with (or against), and react to the joy or the anger, or the intention that is in the face or in the posture or in the gesture or action of the other.« [H. i. O.]

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besteht eben gerade in seiner Verborgenheit, die bereits ihren Anfang in der Verborgenheit meiner selbst nimmt. In diesem Sinne schreibt Laing (1977b, 20): »Wer die Erfahrung eines anderen erforscht, kann direkt nur seine eigene Erfahrung vom Anderen erkennen, nicht direkt erkennen kann er des Anderen Erfahrung der ›gleichen‹ Welt.« Dies bedeute aber nicht, dass mir der Andere völlig verschlossen, ein Buch mit sieben Siegeln, bleibt, denn: Was jemand vom anderen »fühlt«, »empfindet«, »spürt« etc., das enthält Schlußfolgerungen aus der eigenen Erfahrung vom Anderen auf des Anderen Erfahrung von uns. Das setzt voraus, daß die Aktionen des Anderen irgendwie eine Funktion der Erfahrung des Anderen sind – wie ich das von mir kenne. Nur auf der Basis dieser Voraussetzung, mag sie auch noch so untauglich sein, kann man über die Erfahrungen des Anderen aus der Perspektive der Aktionen des Anderen Schlußfolgerungen wagen. [H. B. S.] (ebd.)

Dies erinnert sehr an die bereits erwähnten Überlegungen von Clifford Geertz zu den Voraussetzungen der Möglichkeit einer »dichten Beschreibung« über Fremdes, wenn er mit Wittgenstein und Husserl meint, dass Kultur kein mentalistisches bzw. »psychologisches Phänomen« sei oder ein eingekapseltes »Merkmal einer individuellen geistigen Verfassung« (Geertz 1983, 19). Denn menschliches Verhalten sei symbolisches Handeln – und damit »ausdrücklich« dinghaft, d. h. körperlich, in dieser Welt, zwischenmenschlich und öffentlich beobachtbar. Merleau-Ponty (1966, 219) schreibt, man fasse den Zorn »nicht als hinter den Gesten verborgene psychische Fakten, [man] sehe vielmehr den Zorn der Gebärde an: sie läßt nicht lediglich denken an Zorn, sie ist der Zorn« [H. i. O.]. Im Ausdruck des Zorns realisiert sich dessen Sinn (oder Funktion), so wie sich die Bedeutung eines Wortes in dessen Gebrauch zeigt, sich dabei aber nie endgültig festschreiben lässt. Ganz ähnlich formuliert bereits Max Scheler, dass das »Aufnehmen und Verstehen« eines »fremden Ich« unmittelbar durch dessen »Leib als Ausdrucksfeld für [seine] Erlebnisse« (Scheler 1913, 6) möglich sei. Dazu braucht es kein quasi-telepathisches Einfühlen oder abstrakte Schlüsse von mir auf den anderen. Denn der Ausdruck eines fremden Ich lässt »Wesenszusammenhänge eigener Art« (ebd., 6) durchscheinen: Daß ein Ich überhaupt gegeben ist, wenn uns ein Erlebnis gegeben ist, das ist unmittelbar in dem anschaulichen Wesenszusammenhang von Ich und Erlebnis gegründet; es bedarf dazu keiner Einfühlung des eigenen Ich; da-

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rum kann uns auch noch gegeben sein, daß der Andere ein individuelles Ich hat, das von unserem verschieden ist, und daß wir dieses individuelle Ich, wie es in jedem seelischen Erleben steckt, nie adäquat erfassen können. Daß aber »Erlebnisse« da sind, das ist uns in den Ausdrucksphänomenen […] »unmittelbar« gegeben im Sinne des »Wahrnehmens«. Wir nehmen die Scham im Erröten wahr, im Lachen die Freude. [H. i. O.] (ebd., 5–6)

Alles käme darauf an, so erklärt Merleau-Ponty (1966, 219), diesen Akt des Wahrnehmens »nicht zu verwechseln mit einer Erkenntnisleistung«, sondern den Sinn des Körperausdrucks aktiv in »seinem Eigenen« zu begreifen. Denn »[d]er Sinn der Gebärden ist nicht einfach gegeben, er will verstanden, aktiv erfaßt werden.« (ebd.) Dazu brauche ich meinen Leib, denn »die Welt, die ich habe, ist ein unvollendetes Individuum, und ich habe sie durch meinen Leib hindurch« [H. i. O.] (ebd., 401). Er ist mein »Erkenntniswerkzeug« (ebd., 403). Um etwas vom Zorn, von Angst, von Trauer zu wissen, muss ich sie leibhaftig erfahren, ich muss mich diesen Regungen aussetzen – und zwar wenn ich sie unmittelbar in mir spüre und auch in dem, was ich erlebe, wenn ich sie bei einem anderen Menschen wahrnehme. Dazu bedarf es […] keiner Theory of Mind, keines Mind-Reading, keiner Mentalisierung oder wie die gängigen Begriffe für soziales Verstehen heute lauten. Die primäre soziale Wahrnehmung beruht nicht auf einer internen Modellierung der Zustände anderer in einem abgekoppelten Beobachter, sondern auf einer Verknüpfung zweier verkörperter Subjekte zu einer Zwischenleiblichkeit, und damit auch zu einer gemeinsamen Interaffektivität. Die leibliche Resonanz vermittelt die emotionale Wahrnehmung des Anderen. Andere emotional zu verstehen heißt primär mit ihnen in non-verbaler, zwischenleiblicher Kommunikation zu stehen. [H. i. O.] (Fuchs 2014, 17)

Man kann nicht verhindern, von starken emotionalen Regungen eines anderen unangenehm, schockiert, belustigt, beängstigt oder sonstwie berührt zu werden. Diese Berührung kommt nicht von einem »Etwas«, das mir »von außen« zustößt und das ich einfach so abschütteln und zur Seite stellen könnte, sondern sie entfaltet sich als eine Erfahrung zwischen mir und dem anderen. Matthias Flatscher (2010, 96) führt dazu aus: Ich bin in den Gesten und Gebärden eines Anderen bei ihm und muss nicht mühsam von seinem Äußeren auf ein vermeintlich rein privates Inneres schließen. Eine strikte Dichotomie zwischen psychischem Innenleben und körperlichem Verhalten lässt sich nicht aufrechterhalten, da sich das, was man gemeinhin als Gefühle oder Erlebnisse bezeichnet, immer schon in leiblichen Gesten und Handlungen ausdrückt.

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Eine Innen-Außen-Dichotomie ist schon deshalb nicht haltbar, weil sich Eigen- und Fremdwahrnehmung von Anfang an ineinanderschieben. Die Säuglingsforschung hat gezeigt, dass die »Fähigkeit des menschlichen Säuglings zur spontanen und genauen Imitation seiner Bezugsperson essenziell für das Verstehen Anderer ebenso wie für die Entwicklung eines kohärenten Selbsterlebens ist« (Fuchs 2008a, 185). Viele meiner eigenen Gesten kann ich selbst nicht sehen – ich kann nur sehen, was Zorn ist, wenn andere zornig sind oder ich kann wahrnehmen, wie mein Umfeld reagiert, wenn ich zornig bin. In diesem Sinne stellt Waldenfels (2000, 221) fest, die »Bewegung des ausdrücklichen Verstehens geht nicht von innen nach außen, sondern umgekehrt, vom Anderen zu mir und erst dann von mir selber zum Anderen«. Der Ausbruch der Frau »gehörte« nicht ihr allein, er betraf alle, die an ihm teilhatten; unversehens eröffnete er einen interaffektiven Resonanzraum. Er betraf aber nicht alle gleich, was sich an dem unterschiedlichen Verhalten der Anwesenden zeigte, jeder »verstand« oder empfand auch das je Eigene dabei. Die eigene Geschichte, die eigene Empfindung von Verzweiflung, mischte sich mit der Verzweiflung einer fremden Person. Menschen fühlen immer zugleich »etwas« und »sich selbst«. Merleau-Ponty (1966, 220) erklärt: »Der Sinn der also ›verstandenen‹ Geste eines Anderen ist nicht hinter ihr gelegen, sondern fällt zusammen mit der Struktur der von der Gebärde entworfenen Welt, die ich verstehend mir zu eigen mache.« Die leibhaftige Existenz eines Menschen entwirft eine Welt, um sie »bildet sich ein Wirbel, von dem meine Welt angezogen und gleichsam angesaugt wird« (ebd., 405). Es ist nicht leicht, diesen Zustand auszuhalten, sich dabei nicht selbst zu verlieren, seinen eigenen Stand zu wahren. Deshalb wohl wehrten sich die Personen in Inuvik gegen diesen »Saugeffekt« des Zwischenleiblichen und entfremdeten sich dennoch von sich selbst in ihrer möglichst distanzierten, »dinghaften« Erstarrung. Wieder einmal erweist sich die Sorge um sich selbst als eine Art »Spannungsübung«. Denn es gilt, bei dem eigenen leiblichen Erleben zu sein, während man sich zum anderen »aufspannt«, um dessen Regungen zugleich mitschwingen zu lassen. Das bedeutet, sich von der Welt des Anderen nicht »einsaugen«, aber dennoch bewegen zu lassen. Dies ist, wenn es gelingt, ein seltsam paradoxer Zustand einer »leeren« Präsenz in »voller« Achtsamkeit. Dabei geht es nicht darum, eine andere Person empathisch zu verstehen, d. h. ihre Gefühlsregung in den Rahmen meines eigenen Gefühlshorizontes einzugliedern, 306 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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sondern ihr ihren Schmerz zu lassen – und mich damit diesem auszusetzen. 260 Marcel (1985, 44) spricht von einer »Form des Sich-aufden-anderen-Einlassens – so daß ich sein Leben und damit auch seinen Leib als Zeitgestalt seines Lebens mir in einem rätselhaften Sinn aneigne; so daß ich bereit bin, sie auf mich zu nehmen, in sie einzugehen, sie mitzuerleiden und auf diese Weise zu erkennen«. Es wäre verkürzt und für die Fremdheitsfähigkeit fatal, das, was ich vom anderen erlebe, nur auf mein eigenes Erleben zu reduzieren. »Die Trauer des Anderen oder sein Zorn haben niemals für ihn und für mich genau denselben Sinn«, schreibt Merleau-Ponty (1966, 408) und erklärt: »Für ihn sind sie erlebte Situationen, für mich appräsentierte.« Diese wären, so auch Scheler (1913, 10), »phänomenologisch zwei verschiedene Tatsachen«. Auf der anderen Seite kann es aber auch nicht darum gehen, sich selbst zu verleugnen und abzuwürgen, um so vermeintlich besser und »selbstloser« bei der anderen Person sein zu können, sondern auch dem zu begegnen und das auszuhalten, was man in sich erlebt, wenn man am Zorn oder Leid eines anderen teilhat. Lisbeth Lipari beschreibt diese leibliche Erfahrung eines »Zu-, oder besser, Zwischen- und Beistands« wie folgt: I don’t have to translate your words into familiar categories or ideas. I don’t have to »feel« what you feel, or »know« what it feels like to be you. What I need to do is stand in proximity to your pain. To stand with you, right next to you, and to belong to you, fully present to the ongoing expression of you. Letting go of my ideas about who you are, who I am, what »should« be. I let all that go, and stay present, attending, aware. (Lipari 201, 350–351)

Martin Buber nennt dieses gleichzeitige »Beisichbleiben« und »Ausfahren« eines »bipolaren« Erlebens »Umfassung«: »Ein Wesen steht seinem Gegenwesen gegenüber; es äußert, den Anprall des Schicksals begleitend, seine Polarität; zugleich aber wirft es sich in seinen GeMatthias Schloßberger zeigt in Die Erfahrung des Anderen, dass weder die Analogieschluss- noch die Einfühlungstheorie wirkliche »Fremdheitsfähigkeit« mit sich bringen. (vgl. auch Scheler 1913, 5) Denn »beiden ist die Annahme wesentlich, daß nur die eigenen psychischen Erlebnisse direkt erfahrbar sind […]. In beiden Theorien wird angenommen, daß ausgehend vom eigenen ich die Analogie des anderen ich entwickelt wird.« (Schloßberger 2005, 54) Schloßberger möchte brechen mit dem Postulat der »vermittelten Erfahrung« und meint, dies ginge nur, »wenn auch mit der traditionellen Unterscheidung von Physischem und Psychischem gebrochen wird« (ebd., 55). Er bezieht sich dabei wie bereits Merleau-Ponty (vgl. z. B. 1966, 493) vor allem auf Max Scheler, erwähnt Merleau-Ponty dabei aber erstaunlicherweise so gut wie nicht. 260

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genpol hinüber und leidet dessen Leben mit ihm.« (Buber 1922, 97) Allein an der Sprache Bubers merkt man, wie sehr hier die aktive, nach außen tretende Leiblichkeit des Menschen wirkt. Die Bedeutung des Wortes »Emotion« (lat. emovere) als ein aktives Herausbewegen wird unmittelbar deutlich; »mein Leib [ist] Bewegung auf die Welt zu«, schreibt Merleau-Ponty (1966, 401). In der Umfassung behalte ich meinen »Stand«, ich lasse mich nicht einsaugen, sondern bin bei mir und dennoch »werfe« ich mich hinein in meine Erfahrung des Schmerzes vom Anderen, bin präsent bei ihm. Elisabeth Meilhammer (2005, 177) erläutert, in der Umfassung berge sich die »Spannung zwischen ›Beisichbleiben‹ und Hinwendung zum Anderen, zwischen dem Sich-nicht-Entziehen und dem Sich-nicht-Auferlegen«. Dieses Vermögen der Umfassung ist nicht einfach so gegeben, sondern muss geübt werden. Dabei sollte man wohl weniger allgemein einfach nur von »Spannungsübung«, sondern vielmehr von »Ent-Spannungsübung« sprechen, die gerade nicht in Gleichgültigkeit mündet, sondern in leibhaftiger Präsenz, also auch in Formen wachsamer »Anspannung«. Anspannung und Entspannung bilden zwei entgegengesetzte, aber zusammengehörige Pole unseres Innenlebens und damit der Selbstsorge. Dies betont auch Pierre Hadot (1991, 46) zurückgreifend auf den Stoizismus und den Epikureismus – Ursprüngen der Selbstsorge in Form geistiger Übungen in der Antike (mehr dazu in 4.5.2.). Nun stellt sich natürlich die Frage, wie diese Übungen vollzogen werden können. Thomas Fuchs zeigt in seinem »verkörperten und ökologischen Konzept der Emotion«, »dass Emotionen keineswegs nur durch kognitive Mittel beeinflussbar sind […], sondern auch durch Modifizierung der leiblichen Resonanz. Sie kann sowohl verringert als auch erhöht werden« (Fuchs 2014, 16). 261 Mit »leiblicher Resonanz« meint er die »Wahrnehmung stimmungsräumlicher Phä261 Fuchs (2014, 16–17) erklärt, dass depressive Menschen unter emotionaler Taubheit und Gefühllosigkeit leiden. Ihnen scheine das Leben gleichgültig. Im Fall der Inuk war das sicher lange Zeit der Fall – plötzlich, während sie andere an ihrem Innenleben teilhaben ließ, reagierte ihr Körper über, er stürzte von einem Extrem ins andere: von der Erstarrung ihres Leibes in die nicht zu kontrollierende Aktivität, in ein emotional aufgeladenes »Ausrasten«. Ähnliches erlebten die Polizisten: von einem anfänglichen »Entspannungszustand«, verbunden mit der Fähigkeit zuzuhören, gerieten sie in einen Zustand der Erregung und überkompensierten dann durch ihr aktives Einschreiten. Hier wird deutlich, was Fuchs mit seiner Aussage meint, Emotionen schlössen »verkörperte Handlungsbereitschaften« ein. (vgl. ebd.)

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nomene« (Fuchs 2000, 197). Dabei kann der »Stimmungsraum« sowohl eine zwischenmenschliche als auch eine intrapersonale Sphäre sein, d. h. wir können einen Raum betreten und die atmosphärischen Stimmungen darin wahr- bzw. aufnehmen, wir können aber auch von Stimmungen und Gefühlen durch die Veränderung unseres leiblichen Befindens ergriffen werden. Ganz zentral bei beidem ist dabei das Ausdrucksverhalten. Stimmungen beginnen in uns zu schwingen, wenn wir den Ausdruck anderer wahrnehmen oder wenn unser Körper selbst einen bestimmten Ausdruck zeigt. »Der Leib ist gewissermaßen der ›Resonanzkörper‹ des Stimmungsraums; er übersetzt den Ausdruck in Eindruck.« (ebd.) Dieser leiblich-emotionale Eindruck wird wiederum zum körperlichen Ausdruck und wirkt als solcher sowohl auf das eigene Gefühl (eigenleibliche Resonanz) als auch »interaffektiv« (zwischenleibliche Resonanz) zurück. (vgl. Fuchs 2014, 17) Hier sei nochmals auf die bekannte These William James’ (1983, 1065) verwiesen (vgl. 3.3.2), der feststellte, dass leibliche Empfindungen direkte Auswirkungen haben auf unsere Emotionen: Ein gebückter Körper, herunterhängende Schultern und ein gesenkter Blick, der starr auf den Boden gerichtet ist, führen zu Niedergeschlagenheit und dem Gefühl von »Aussichtslosigkeit«. Natürlich hat niemand das Ausdrucksverhalten eines anderen Menschen im Griff, man kann aber beeinflussen, wie man diesem »antwortet«. Das vollzieht sich beispielsweise dadurch, dass man in einer konfliktträchtigen oder verunsichernden Situation tief durchatmet, bewusst den eigenen Körperregungen begegnet und dadurch »wesentliche Ausdrucksträger (Muskulatur, Herz, Atmung) in eine entspannte Lage bzw. gleichförmig-niederfrequente Schwingung versetzt.« (Fuchs 2000, 198) Durch eine Änderung der Körperhaltung werden intrapersonale sowie zwischenmenschliche Stimmungen beeinflusst. Es macht einen Unterschied – und zwar für alle Beteiligten – ob jemand auf ein zorniges Gesicht zornig reagiert oder vorsichtig fragend, was der Grund für die emotionale Erregung sein könnte. Diese Form »interessierter Gelassenheit« kann geübt werden und nimmt so Einfluss auf die persönliche Disposition affektiver Betroffenheit. Sie führt zu einer habituellen Resonanzbereitschaft und zu einer erhöhten Sensibilität für stimmungsräumliche Phänomene. Thomas Fuchs spricht hier von einer »Erziehung des Gefühls«: »Der Mensch bildet nicht nur ein sensorisches Wahrnehmungsvermögen aus, sondern auch Organe wie ›Gespür‹, ›Geschmack‹, ›Feingefühl‹ oder ›siebten Sinn‹ zur Erfassung von Physiognomien, Stilen und Ausstrahlungen.« (ebd.) 309 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Elizabeth Behnke (2007, 84) stellt heraus, dass allein die bewusste Wahrnehmung der, wie sie es nennt, »bodily relationality«, diese ändert: »changes at the individual level can also reverberate across the intercorporeal web, and both phenomenological practice and transformative somatic practice can serve as resources for healthy changes in the texture of our communal corporeal/intercorporeal life«. Körperwahrnehmung bedeutet für sie »to search out emerging liquidities, staying with them as they unfold – not by taking these feelings as ›objects‹ over-against me, but by appreciating the ongoing kinaesthetics of undergoing them, lucidly living them from within as participant rather than contemplating them like a spectator«. [H. i. O.] (Behnke 2008, 149) Fremdheitsfähigkeit würde für sie wohl bedeuten zu lernen, wachsam zu sein für das, was uns bewegt, »cultivating an attitude of ›not-knowing‹ what is about to emerge« (ebd.), denn nur dann können wir eine erhöhte kinästhetische Verantwortung für uns selbst und für das, was zwischen und unter uns geschieht, übernehmen: »restoring and reweaving the frayed fabric of an authentically intercorporal life«. (ebd., 159) In allen Sozialberufen wird auf die Bedeutung nonverbaler Kommunikation hingewiesen. Sie ist wichtig für die Diagnose und Therapie und bildet darüber hinaus die Grundlage für eine professionelle Beziehung – gerade wenn es um das Verstehen befremdlicher Auffälligkeiten und um einen guten Umgang damit geht. Es ist altbekannt, dass der Ton die Musik macht und sich Menschen nur dann öffnen, wenn sie sich getragen und sicher fühlen, wenn sie vertrauen können. 262 Körperhaltung, Mimik, Gestik und Tonlage sagen sowohl etwas über das, was Personen gerade erleben mögen, als auch über die Beziehung, die wir mit ihnen haben, aus. Menschen erinnern sich oft nicht primär daran, was inhaltlich in einer schwierigen Gesprächssituation gesagt wurde, sondern vielmehr an die zwischenmenschliche Stimmung, an gemeinsames Lachen oder Weinen, an Gesten der Versöhnung und an das, was Menschen leibhaftig aneinander und miteinander erlebten. Gerade für die Herstellung von Rapport 262 Marilyn Atkinson unterstreicht die Bedeutung unterschiedlicher Tonlagen für die Beeinflussung von Stimmungen. Sie behauptet, dass die Motivation zur Veränderung in einem Coaching-Gespräch implizit dadurch erhöht wird, dass man durch die Art und Weise, wie man spricht, Neugierde weckt, ermutigt oder Sicherheit vermittelt. Bewusst eingesetzte unterschiedliche Tonlagen »move people beyond cynical, judgmental internal dialogue that assertively pigeonholes, labels and creates bad feelings« (Atkinson 2007, 81).

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Leiblichkeit (er)leben – Körpererfahrung und Körperbegegnung

ist das »aktive Zuhören« entscheidend. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, rational zu verstehen, sondern emotional zu erfassen, was eben »aktiv« durch körperliche Signale zum Ausdruck gebracht wird. Die Ratsuchende soll sich verstanden fühlen. Auch das sogenannte »Pacing und Leading« hat hier seinen Ursprung. Pacing bedeutet so viel wie »Schritthalten«: die Therapeutin bzw. der Therapeut spiegelt die Körperhaltung, die Stimmlage, die Lautstärke, die Bewegungen des Klienten, sie fügt sich ein in dessen »Symbolwelt«, spricht seine (Körper-)Sprache. Nach einiger Zeit versucht sie, durch eine Veränderung der eigenen Körperhaltung, Atmung, Blickrichtung und Stimmlage ihr Gegenüber leiblich zu animieren, sich ebenfalls zu verändern (Leading). Gerade ein nicht gleichsinniges, vielleicht sogar ungewöhnliches Verhalten kann dem Klienten helfen, festgefahrene (Beziehungs- und Gefühls-)Muster zu durchbrechen. Ein aufgerichteter Körper, ein Blick, der nach vorn in die Weite imaginärer Möglichkeiten schweift, vermag auszubrechen aus emotionaler Enge und niederdrückender Herzensschwere eines festgefahrenen Problembewusstseins. Die Körperhaltung ist imstande, behutsam die Geisteshaltung zu ändern – ohne dass dies verbal thematisiert werden müsste. Dabei ist es unabdingbar, zugleich auf sich selbst zu achten und auf den anderen, also Formen der »Umfassung« zu praktizieren. Denn sonst kann es leicht passieren, dass man sich entweder in der Gefühlswelt des anderen verliert, von ihr vereinnahmt wird, oder zu wenig auf dessen Gefühlsregung eingeht, sodass er sich vorschnell »überfahren« und unverstanden fühlt. Als eine konkrete Anwendung der Umfassung kann die von Marshall Rosenberg (2005) entwickelte »Gewaltfreie Kommunikation« interpretiert werden, die Kontexten verhärteter ethnischer Konflikte, insbesondere Zeiten der Rassentrennung in den USA, entsprang. Rosenberg spricht von »zwei Wegen und vier Schritten«. Die zwei Wege beschreiben einerseits den Weg von mir zu dir, d. h. das ehrliche Ausdrücken dessen, was mich betrifft und andererseits den Weg von dir zu mir, d. h. den Versuch, zu verstehen, was dich bewegt. Auf beiden Wegen gibt es jeweils vier Schritte, die Einfluss nehmen sollen auf die impliziten Prozesse leiblicher Resonanz. Denn hier geht es erstens darum, ein Verhalten so wahrzunehmen, wie es sich tatsächlich zeigt, zweitens nach dem emotionalen Erleben zu fragen, das darin seinen Ausdruck findet und drittens zu erkunden, welches Bedürfnis dieses Gefühl evoziert. Anstatt also auf den Ausdruck des anderen emotional zu reagieren, frage ich mich sowohl, was der 311 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

Grund für meine eigene Erregung ist, wenn ich diese Geste wahrnehme als auch, was der Grund für das Verhalten des anderen sein könnte. Ausgehend von der humanistischen Psychologie Carl Rogers und Abraham Maslows argumentiert Rosenberg, dass ein bedürfnisorientiertes Gespräch hilft, in einem vierten Schritt gemeinsam den Konflikt zu lösen (»Wir gegen unser Problem«), anstatt sich emotional angeheizt in positional festgefahrene Grabenkämpfe zu verstricken (»Ich gegen dich«). Der leibliche Ausdruck ist hier ganz entscheidend, weil er den Weg über die Emotionen zu Bedürfnissen weist. Dieser Weg wird jedoch häufig in der emotionalen Aufladung gegenseitiger Anschuldigungen und hitziger Verteidigungsreden nicht mehr gesehen. Die Fähigkeit, durch wüste Beschimpfungen oder zornverzerrte Gesichter hindurch die dahinterstehenden Bedürfnisse wahrzunehmen, ist nicht leicht zu kultivieren, sie dient aber nicht nur der Sorge um ein gelingendes Miteinander, sondern auch der Sorge um sich selbst. Die »gewaltfreie Kommunikation« will keine Methode sein, sondern eine »Sprache des Lebens«. Denn es geht ihr nicht um die äußerliche Anwendung eines schrittweisen Verfahrens, sondern um eine leibgeistige Transformation, die im Raum zwischenleiblicher Resonanz ihren Ort hat und hier immer wieder geübt werden muss. Eine »Sprache des Lebens« ist jedoch wenig operationalisierbar oder messbar, sie kann nicht instrumentell oder methodisch angewandt werden. Die starke Betonung und (Über-)Bewertung des rationalen Verstehens vor allem in der westlich-aufgeklärten Welt hat die Empfindsamkeit für den lebendig-leiblichen Dialog zurückgedrängt. An dem, was der Inuk leibhaftig widerfahren ist, prallen jedoch, um mit Waldenfels zu sprechen, alle rationalen »Sinngebungsversuche« ab. »Nicht als ob da nichts zu verstehen, zu erklären und zu vergleichen wäre, es fragt sich nur, ob das Unheilsgeschehen in diesen Bewältigungsversuchen seine adäquate Antwort findet, ob es überhaupt eine adäquate Antwort gibt.« (Waldenfels 1997, 52) Vielleicht wäre es »weise« gewesen, einfach nur mit der Frau und zugleich für sich selbst zu weinen, den eigenen Leib »sprechen« zu lassen, wenn alles rationale Verstehen keine adäquaten Antworten mehr findet. Fremdheitsfähigkeit erfordert Intuition und Gespür, ein gesteigertes Wahrnehmungsvermögen für zwischenleibliche Phänomene, die uns ermutigen, das Paradox einer kreativen Antwort zu leben, »in der wir geben, was wir nicht haben« (ebd., 53). Gernot Böhme (1994, 177) spricht von »leiblicher Anwesenheit«, die für eine philosophische Existenz heute von großer Bedeutung sei. Dabei geht es darum, mit 312 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Leiblichkeit (er)leben – Körpererfahrung und Körperbegegnung

dem eigenen Leib eins zu sein, sich in der »Kunst des Sichlassens« (ebd., 176) zu üben und darin den Anderen zu spüren. Er meint, die Anwesenheit eines anderen Menschen sei atmosphärisch spürbar. »Das Spüren solcher Atmosphären zu erlernen gehört zur Wiedergewinnung des Leibes.« Nur so könne man den Anderen überhaupt erst »in seiner Konkretheit, Lebendigkeit und auch Hinfälligkeit [würdigen]« (ebd., 177). Im Leibbewusstsein liege die Quelle des Glücks, schreibt Böhme. Hier »erfährt der Philosoph seine Erleuchtung […], nämlich im Innewerden seiner radikalen Zeitlichkeit, im bewußten Aufgehen in der Präsenz« (ebd., 178). Joachim Küchenhoff (2008, 102) erwähnt drei Herausforderungen zwischenleiblicher Erfahrungen, vor die wir immer wieder gestellt sind: Erstens die unausweichliche Bezogenheit zur Welt durch unsere leibliche Existenz; zweitens die gleichzeitige Entzogenheit, die sich darin zeigt, dass ich mir nie gewiss sein kann, was der Ausdruck des Anderen meint und was mein zuweilen nicht kontrollierbarer Ausdruck mit dem anderen macht; drittens die körperliche Exponiertheit, die in der schmerzlichen Erkenntnis der Schutzlosigkeit oder Nacktheit liegt, denn wir können uns nicht unsichtbar machen oder »in den Boden versinken«, wir können nie sein, ohne auf eine bestimmte Art und Weise zu sein, unser Leib verrät uns. Es wäre falsch, all diese Herausforderungen »bewältigen« zu wollen. Selbstsorge heißt vielmehr, uns in all diese Herausforderungen hineinzuleben – und zwar im Staunen darüber, dass unser Körper dem eigenen Erleben so nah und zugleich so fern ist und in der Tatsache, dass das, was scheinbar unser Eigenstes ist, untrennbar zwischenleiblich festhängt, damit immer auch anderen »gehört«. Im Hiatus unserer eigenen Leiblichkeit steckt die Quelle der Kreativität eines Antwortens, das sich selbst nicht hat, weil es offen ist für einen zwischenleiblichen Klangraum, der Töne anschlägt, die wir nie einseitig methodisch oder technisch zu vollbringen in der Lage wären. »Wir werden im Tiefsten offen gehalten werden«, so zur Lippe (2014, 138), »dadurch dass wir uns selber unendlich fremd sind, dass wir uns in Wesentlichem nicht verstehen.« Momente großer Fremdheit mit einem selbst bergen das Potential der unerwarteten Nähe zu einem fremden Anderen. Dazu braucht es den Mut, der Weisheit des Leibes zu vertrauen und seine Bewegung auf den Anderen mitzugehen. Etwas pathetisch schreibt Merleau-Ponty (1966, 405), was man hier zusammenfassend festhalten könnte:

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Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

Meinen Leib erfahre ich als Vermögen gewisser Verhaltensweisen und einer gewissen Welt, ich bin mir selbst nicht anders gegeben denn als ein gewisser Anhalt an der Welt; und eben mein Leib ist es, der den Leib des Anderen wahrnimmt, und er findet in ihm so etwas wie eine wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen, eine vertraute Weise des Umgangs mit der Welt; und wie die Teile des Leibes ein zusammenhängendes System bilden, bilden somit auch der fremde Leib und der meinige ein einziges Ganzes, zwei Seiten eines einzigen Phänomens, und die anonyme Existenz, deren Spur mein Leib in jedem Augenblicke ist, bewohnt nunmehr die beiden Leiber in eins.

4.5 Epimeleia Heautou: Philosophie als Selbstsorge Der Weg, Motive der Selbstsorge in verstörenden Fremdheitserfahrungen zu entdecken, führte von den dunkelsten Winkeln des Selbst über Räume des Dialogisch-Zwischenmenschlichen bis hin zu unserem Leib, mit dem wir der Welt begegnen und Welt erfahren. Selbst wenn es um intimste und privateste Geheimnisse des Selbst geht, wurde deutlich, dass sie ihren Ursprung in Begegnungen mit anderen Menschen hatten – auch wenn diese vor langer Zeit in unserer eigenen Geschichte oder bereits in der Geschichte unserer Ahnen stattfanden. Das Problem der Beziehung zu anderen sei während der gesamten Entwicklung der Sorge um sich gegenwärtig, schreibt Foucault (2007, 261). Die Tatsache, dass Menschen unweigerlich Spuren im Leben anderer Menschen und im Geflecht des sozialen Miteinanders hinterlassen, verpflichtet uns auch ethisch und philosophisch dazu, darüber nachzudenken, wie wir uns selbst und damit auch anderen begegnen wollen. Der letzte Abschnitt thematisiert das philosophische Nachdenken über die Selbstsorge – dies soll aber nicht vorschreibend theoretisch geschehen, sondern existenziell erfahrbar. Es geht um eine Selbstsorge für den gelingenden Umgang mit Fremdem, die nicht durch ein Set von Kompetenzen, Lernzielen oder ethischen Vorgaben vorab definiert wäre. Sie erwächst vielmehr epigenetisch aus der jeweils gegenwärtigen Erfahrung. Ein solches Vorgehen ist vor allem angesichts einer Wirklichkeit, deren Komplexität nicht durch das Postulat einer »Leitkultur« oder sonst eines Strebens nach absoluter Zielsetzung gebannt werden könnte, geboten. Hier bündeln sich verschiedenste Themen, die in den bisherigen Ausführungen bereits zur Sprache kamen. Zugleich wird die Bedeutung eines bestimmten Ver314 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Epimeleia Heautou: Philosophie als Selbstsorge

ständnisses vom Wesen der Philosophie deutlich, nämlich von der Philosophie als Praxis und Lebensform, wie sie in der Antike vorherrschend war (vgl. Hadot 1991; Böhme 1994; Nussbaum 1994; Shusterman 2001). Die Idee einer lebenspraktischen Bedeutung der Philosophie sei in der Neuzeit stark zurückgetreten, betont Christoph Horn (1998, 12), wie Pierre Hadot oder Michel Foucault bereits vor ihm. Sie sei auch nicht zu vergleichen mit dem, was wir heute »praktische Philosophie« nennen, denn sie wolle Handlungsnormen nicht bloß analysieren, sondern selbst handlungsleitend wirksam sein. 263 Er bezieht sich bei seinen Ausführungen auf Hadot, der betont, das eigentliche Ansinnen antiker Philosophen sei nicht, »Informationen über abstrakte Theorien zu vermitteln« (deshalb geriete man in große Schwierigkeiten, wenn man auf systematische Kohärenz antiker Texte abführe), es ginge vielmehr darum, »die Seelen der Schüler zu formen« (Hadot 1991, 9). Gerade im Bereich institutioneller Bildung zeigt sich deutlich, wie sehr sich der Primat der Wiedergabe von Wissen, messbarer Kompetenzen – neudeutsch »Output« – in zahlreichen Bildungsreformen der letzten Jahre durchsetzte. Dabei hatte Alfred North Whitehead (2015, 39) bereits 1916 bei seiner Rede vor der Mathematical Association of England vor einer »Bildung mit passiven Ideen« gewarnt, die nicht nur nutzlos, sondern vor allem schädlich sei. Mit »passiven Ideen« meint er »Ideen, die bloß geistig aufgenommen werden, ohne nutzbar gemacht, geprüft oder in immer neuen Kombinationen zusammengewürfelt zu werden«. Die Nutzbarmachung, die Whitehead hier im Sinn hat, hat wenig mit einem utilitaristischen Kalkül gemein, ihm geht es vielmehr darum, einen Gedanken, einen Lerninhalt, eine Idee, Fremdes, tatsächlich zu erfahren und »in Beziehung zu setzen zu dem Strom aus Sinneswahrnehmungen, Gefühlen, Hoffnungen, Wünschen und geistigen, die Gedanken einander anpassenden Aktivitäten, der unser Leben bildet« (ebd., 41). Dies ist allerdings der schwierigere Weg, leichter ist es, sich passiver Ideen zu bedienen, um selbst außen vor zu bleiben, nicht hineingezogen zu

263 Vgl. hier die Ausführungen von Gernot Böhme (1997), der mit seiner »vierfachen Kritik« an der praktischen Philosophie Ethik im Kontext (der Titel des entsprechenden Buchs) betrachten will, weil sie »radikal konkret« (ebd., 236) sei. Die Grundbestimmung einer moralischen Lebensführung bestünde darin, seine Existenz ernstzunehmen, es ginge darum, »gut Mensch zu sein« – die Nähe zu sokratischem Denken ist offensichtlich.

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werden, oder sich schmerzhaften Prozessen der Veränderung auszusetzen. Genau darauf zielt aber die Philosophie als Selbstsorge 264, die vor allem in Sokrates ihre Personifizierung findet. Als Sonderling und Störenfried befremdete er und forderte die Menschen auf, sich um sich selbst zu kümmern. Es kommt nicht von ungefähr, dass die sokratische Methode der Mäeutik als didaktisches Prinzip in der Philosophie aber auch darüber hinaus immer wieder Anwendung findet. Sokrates konfrontierte die Menschen mit seiner »ortlosen« Fremdheit – aber auch mit einer Fremdheit, die seine Gesprächspartner in sich selbst erschüttert wahrnehmen mussten, wenn sich scheinbar eindeutige Argumente als widersprüchlich erwiesen und das eigene Nichtwissen unverkennbar zutage trat. Vor diesem Hintergrund steht die »Sache Sokrates« im ersten Teil dieses Abschnitts im Mittelpunkt. Um die sokratische Aufforderung zur Selbstsorge hinsichtlich ihrer Umsetzung zu konkretisieren, geht es im zweiten Teil um mögliche Übungsformen, die ebenfalls zurückgehen auf ein Verständnis von Philosophie als Lebensform. Selbstsorge vollzieht sich in einem Spannungsfeld zwischen Freiheit und Disziplin. Sie fordert uns auf, nicht blind vor uns hinzuleben, nicht getrieben zu sein und so zum Sklaven der eigenen Begierden (vgl. Foucault 2007, 262) zu werden, sondern sich in geistigen, körperlichen und therapeutischen Übungen (askesis, melete) mit uns selbst zu befassen. Bei Immanuel Kant gipfelt diese Aufforderung zur Selbstdisziplinierung besonders deutlich in der paradoxen Aussage, Freiheit zeige sich in der Fähigkeit des Menschen, sich selbstgesetzgebend Grenzen zu setzen. 265 Die Kant’sche Freiheit gründet im Vermögen unseres Verstandes, a priori Prinzipien zu erkennen, die handlungsleitend auch gegen unsere Neigungen wirksam werden. Insofern besteht für Kant die Würde des 264 Mit einem Textauszug aus Epikurs Brief an Menoikeus stellt Foucault »die Gleichstellung von ›philosophieren‹ und ›für seine Seele sorgen‹« heraus: »der Zweck des Philosophierens, der Sorge um die eigene Seele, ist das Erreichen der Glückseligkeit« (Foucault 2004, 119). Diese »Tätigkeit der Seele« sei ein ganzes Leben lang notwendig – nicht nur als pädagogische Maßnahme im Kindes- und Jugendalter. »Die Beschäftigung mit einem selber ist an kein Alter gebunden.« (Foucault 2015, 67) 265 Oben wurde bereits bezugnehmend auf Gernot Böhme (2005) erwähnt, dass sich bei Kant (v. a. in Über Pädagogik und Anthropologie in pragmatischer Hinsicht) die Kultivierung des Menschen aufgliedert in Disziplinierung, Zivilisierung und Moralisierung. Böhme zeigt in seinem Aufsatz, dass sich alle drei Aspekte der Selbstkultivierung in den drei Kritiken Kants widerspiegeln.

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Menschen nicht in erster Linie darin, das Recht zu haben, als Selbstzweck behandelt zu werden, sondern in der Pflicht, aus Achtung vor dem Gesetz zu handeln. (vgl. Sensen 2009) Anders formuliert könnte man sagen, dass es nicht vornehmlich die Würde des anderen ist, die eine unbedingte Forderung an mich stellt, sondern meine Würde findet darin ihren Ausdruck, dass ich meine Freiheit »selbstsorgend« richtig gebrauche, d. h. dem kategorischen Imperativ aus Pflicht Folge leistend. Der hier bewusst gewählte Rückgriff auf das Verständnis der Selbstsorge als Praxis der Freiheit findet seine Begründung im Eingeständnis der Begrenzung unserer Vernunft durch die Erfahrung eines niemals restlos durch unser rationales Vermögen zu bezwingendes »Fremdes im Selbst«. Der mühsame Prozess der Selbstfindung sei eine Art Selbsttherapie durch Selbsterkenntnis, schreibt Godehard Brüntrup (2012, 180). Der Mensch könne sich die Frage stellen »Was ist meine eigene Stimme?« oder »Wie will ich leben?« und sich darauf Antworten erarbeiten. »Dieses Erarbeiten ist aber keine kantische Erfassung von Verhaltensmaximen, die dann meinen Willen bestimmen. Es ist ein existenzielles Handwerk der Selbsterhellung, eine Orientierung im unübersichtlichen Land der Seele.« 266 Das Verständnis von Philosophie als Lebenspraxis möchte eindringen in das Dickicht menschlicher Existenz, die sich nie völlig über sich selbst erheben kann. Philosophie meint ein unablässig kritisches Befragen des eigenen Lebens, denn, so die bekannte Aussage von Sokrates, ein Leben ohne Selbsterforschung verdiene es nicht, gelebt zu werden (Apologie 38a). Sie zielt ab auf ein Staunen angesichts dessen, was man mit sich selbst und mit anderen erlebt und auf eine reflektierte oder antwortende Haltung, die den fremden Anspruch ernstnimmt. Deshalb, so das Argument, befähigt ein praktisch-philosophisches Üben Menschen für den Umgang mit Fremdheit. Eine selbstbestimmte Auseinandersetzung mit dem fremden Blick könne nur darin bestehen, so Peter Bieri (2011, 31), dass man sich stets von Neuem vergewissert, wer man ist. Allerdings, so ist hier erweiternd zur Formulierung Bieris hinzuzufügen, geht es nicht nur um Selbsterkenntnis oder die kontinuierliche Vergewisserung, wer man selbst ist, sondern vor allem um das permanente Ringen mit der Erfahrung der eigenen Unerreichbarkeit. 266 Den Ausdruck »Handwerk« gebraucht Brüntrup bezugnehmend auf Peter Bieris Das Handwerk der Freiheit.

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Diese Erfahrung verweist unwillkürlich auf etwas, das größer ist als man selbst. Der paradoxe Gedanke einer Selbstsorge, die sich der »Priorität des Anderen«, wie dies Mark Freeman in seinem gleichnamigen Buch beschreibt, bewusst wird, und sich dieser aussetzt, soll hier am Ende stehen. Dies entwickelte sich aus dem Gang der Untersuchung, in der sich zeigte, dass sich Fremdheitsfähigkeit vor allem darin ausdrückt, der Fremdheit ihre »Priorität« zu lassen. Hadot (1999, 235) spricht hier von einer Ausdehnung oder »Erweiterung des Ich auf die Totalität des Wirklichen hin«, und Böhme (1994, 211) beschreibt dies mit der Erfahrung des Daseins, die »vom Ich-Bewußtsein her allerdings gerade die Erfahrung des Verschwindens ist, zugleich aber die der Zugehörigkeit zu und des Aufgehobenseins im ganzen«. Philosophie will gelebt werden und sie sucht Grenzerfahrungen – mit Nietzsche (KSA, 6, 258) könnte man sagen, sie »ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein«. Philosophie in diesem Sinne beinhaltet eine »Entsicherung« – auch aller moralischer Setzungen. Als eine »Wanderung im Verbotenen« [H. i. O.] (ebd.) setzt sie sich ungeschützt der Wahrheit aus. Nietzsche (ebd.) meint, man könne seine Schriften »athmen« – und sich sogar an ihnen erkälten, denn sie seien eine »Luft der Höhe«. Gelebte Philosophie bedeutet, dass man sich ganz hineingibt in etwas, das man selbst nicht fassen kann, weil es einen übersteigt, beispielsweise in einen Moment spiritueller Wachsamkeit, in die Erfahrung von Selbstauflösung in der Begegnung mit einem Anderen, in die Betrachtung eines Kunstwerks oder in die freie Bewegung zur Musik. Darin geht man auf, man nimmt (An-)Teil an dem, was einem widerfährt. »[N]ur in den Tropfen der Augenblicke ihrer Erneuerung« erhielten wir eine Ahnung von Ewigkeit, schreibt zur Lippe (2014, 13). »Dasein heißt, an der Präsenz anderer zu partizipieren«, schreibt Böhme (1994, 212) und fährt fort: »Umgekehrt spürt man sich dann nicht mehr als ein Ich, das sich gegen anderes absetzt und sich als selbständiges Zentrum geriert, sondern man spürt sich als Teil eines größeren Ganzen.«

4.5.1 Sokrates und die unerhörte Aufforderung zur Selbstsorge Es ist bezeichnend für ein Verständnis von Philosophie als Lebensform, dass sie sich, zumindest in ihren westlichen Ursprüngen, nicht auf eine maßgebliche Schrift oder ein philosophisches Lehrgebäude, 318 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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sondern mit Sokrates auf ein beispielhaftes Leben – und auf ein dramatisches Sterben beruft. (vgl. Shusterman 2001, 21; Böhme 2002, 29) 267 Die schillernde Figur des Sokrates 268 ist aus vielen Gründen wichtig für die Entwicklung der Fremdheitsfähigkeit. Zunächst ist festzuhalten, dass es ihm nicht vornehmlich um ein Wissen über die Menschen und um deren Belehrung über das gute Leben ging, sondern um das tatsächliche Leben mit ihnen und den Erkenntnissen, die sich aus der dialogischen Reflexion über dieses einstellten. Bei Sokrates steht nicht nur das Fragewort »Was« im Zentrum des Denkens, ihm geht es immer auch um das »Wer«. Hsueh-I Chen führt aus, dass die Frage »Was«, auf die vor allem die abendländische Philosophietradition besonderen Wert lege, durch seine wertfrei anmutende Schlichtheit kulturelle Unabhängigkeit vortäusche. Dagegen sei es wichtig, »den Blick auf sich selbst zurückzuwerfen, um zu wissen, wo man selbst steht« (Chen 2012, 73). Wenn der »Fachphilosoph« eine Frage stellt, so Hannah Arendt (1989, 166), entspringe sie nicht seiner Erfahrung und die Antworten, die hier herauskämen, seien »stets zu allgemein und unbestimmt, um für das tägliche Leben viel Bedeutung zu haben«. 269 Ein rein denkendes Ich sei unfähig, sich selbst Rechenschaft abzulegen: »Es ist ein aalglatter Gesell, nicht nur für andere unsichtbar, sondern auch für das Selbst ungreifbar.« (ebd., 167) Es reicht nicht, über Fremdes nachzudenken,

267 Das griechische Wort sophia ist in seiner frühen Bedeutung auf ein handwerkliches Können zurückzuführen, das ein hohes Maß an Übung und Wissen verlangte. Es hing zudem nicht allein von der Kraft oder dem Geschick eines Menschen ab, sondern bedurfte auch des göttlichen Zuspruchs. Wichtig für die Bedeutung von Philosophie als Lebenspraxis ist, dass sophia – so weit weg das heute für einige »Berufsphilosophen« scheinen mag – theoretisches Wissen und praktisches Können umfasste und erst später die Theorie Vorrang vor der Praxis erhielt. (vgl. Elberfeld 2006, 19 ff.) 268 Die Rede von der »Sokratesgestalt« (Foucault 2004, 23), vom »Modellfall« (Arendt 1989, 169), der »Figur« (Hadot 1999, 39) oder vom »Typ« Sokrates (Böhme 2002) verweist auf die Tatsache, dass der historische Sokrates stark umstritten ist (vgl. Arendt 1989, 168). Auf diesen Streit, dessen Gründe und Hauptstreitpunkte, soll hier, dem Vorbild Gernot Böhmes (vgl. auch Hadot 1991, 136) folgend, nicht weiter eingegangen werden. Es gilt vielmehr, aus der »anthropologischen Innovation« (Böhme 2002, 29) Sokrates’ etwas für die Entwicklung der Fremdheitsfähigkeit einer Person zu lernen – dabei steht natürlich das sokratische Lebensprojekt, die Selbstsorge, im Vordergrund. 269 Passend dazu zitiert Shusterman (2001, 1) Henry Thoreau: »Heutzutage gibt es Professoren der Philosophie, aber keine Philosophen. Es läßt sich trefflich darüber dozieren, wie trefflich man einst sein Leben verbrachte.«

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es sprachgewandt in möglichst logische Systeme zu packen, es abzugrenzen, einzugrenzen und komplexe Theorien zu entwickeln, ohne dabei selbst »nass« zu werden. Der »erste Philosoph« Sokrates stellt den »Modellfall eines nichtprofessionellen Denkers« (ebd.) dar: er ist »Stechfliege, Hebamme und Zitterrochen« (ebd., 173). Gerade deshalb scheint er für Arendt prädestiniert zu sein, ihre Frage, was Menschen zum Denken bringe, zu beantworten oder – im Falle Sokrates’ eher angebracht – eine Vielzahl von Antwort-Variationen zutage zu fördern. Er verbindet Erfahrungsnähe und Erfahrungsferne, indem er »in seiner Person zwei scheinbar widersprüchliche Leidenschaften vereinigt, die zum Denken und die zum Handeln – nicht in dem Sinne, daß er seine Gedanken fleißig anwendete oder theoretische Maßstäbe für das Handeln aufstellte, sondern in dem viel bedeutungsvolleren Sinne, daß er in beiden Sphären gleichermaßen zu Hause ist und mit scheinbar größter Leichtigkeit von der einen zur anderen übergehen kann, ganz wie wir selbst ständig zwischen Erfahrungen in der Erscheinungswelt und dem Bedürfnis des Nachdenkens über sie hin und her wechseln« (ebd., 167). Es ist dieses Hin und Her zwischen Philosophie als Theorie und Philosophie als Praxis, welches die Selbstsorge auszeichnet. Hier dreht sich die Kultivierung des Selbst nicht nur um einen möglichst »reinen« Gedanken, der alle Erfahrung oder »Anwendungsorientierung« bloß skeptisch beäugt. Bei Sokrates findet Philosophie mitten im Trubel auf den Märkten und Plätzen und nicht abgeschottet in der Akademie statt. Sie muss nicht frei sein von Gefühlen, Bedürfnissen und Sinnlichkeit, von der »Kontamination des Alltags«. Gerade hier, im bunten Leben der Polis, regt er die Menschen zum Denken und zum Argumentieren an. Dabei will er kein Wissen übertragen, er gibt seinen Gesprächspartnern keine »passiven« Theorien vor, sie müssen sich diese vielmehr selbst erarbeiten. Der Trick, den Sokrates dabei anwendet, ist die gelebte Erkenntnis der eigenen Unwissenheit: »Die sokratische Ironie besteht darin, vorzutäuschen, von seinem Gesprächspartner etwas lernen zu wollen, um diesen entdecken zu lassen, daß er nichts weiß, wo er vorgibt, wissend zu sein.« (Hadot 1999, 44) Sokrates kommt dabei aber nicht von der Haltung des Wissenden her, vielmehr meint er andere mit der Ratlosigkeit anzustecken, die er in sich selbst empfindet: »Denn keinesweges bin ich etwa selbst in Ordnung, wenn ich die anderen in Verwirrung bringe; sondern auf alle Weise bin ich selbst auch in Verwirrung und ziehe nur so die andern mit hinein.« (Menon 80c) 320 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Im Kontext interkultureller Bildung wird immer wieder deutlich, dass sich Menschen rezeptartige Deutungen über Menschen einer fremdartigen Kultur wünschen, z. B. wie »ticken« Muslime, wie denken Chinesen oder was muss man beachten, wenn man mit Japanern verhandelt? Ebenso sind sie schnell bei der Hand, Fremdartiges in fixe Erklärungen zu bannen, sie klammern sich an Typologien und abgeschlossene Erklärungsmuster. Nachdem der erste Schreck überwunden war, schienen die Beobachter in der Fallstudie schnell zu »wissen«, was richtig und was falsch gelaufen war und wer was hätte tun sollen – sie beriefen sich auf die Missachtung der Fürsorgepflicht seitens der Organisatoren, traten auf mit psychologischer Fachkenntnis und bewerteten die Situation vor dem Hintergrund scheinbar allgemeingültiger Moralvorstellungen. Sie befreiten sich dadurch von der Last ihrer eigenen Erfahrung, von der Bestürzung und Fassungslosigkeit eines Erlebnisses, das sie zutiefst befremdete. Arendt (2016, 80) sieht in derartigen Szenen einen »Konflikt, der das Leben des Philosophen bedroht«. Denn das pathos des Staunens ist den Menschen nicht fremd, es ist ein Leiden, das von ihrem Dasein nicht wegzudenken ist. Für die große Menge von Menschen bestünde jedoch der Ausweg aus diesem Leidenszustand darin, dass man sich Meinungen bildet, wo diese gar nicht angemessen seien. Mit der Art und Weise, wie Sokrates Menschen zur Selbstbildung herausfordert, distanziert er sich von einer pädagogischen Praxis, die man heute »fremdgesteuertes Lernen« nennt, also ein Lernen, das feste Inhalte als Lernziele von vorneherein festlegt. Foucault (2004, 69) meint, hier klaffe ein Spalt »zwischen der als Lernen verstandenen Pädagogik und dieser anderen Form der Bildung (culture), der paideia […], die sich um das dreht, was man die culture de soi nennen könnte, die formation de soi, was die Deutschen Selbstbildung nennen würden«. Vor allem im Kontext des »selbstgesteuerten Lernens« haben sich Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen immer wieder der sokratischen Methode bedient, diese explizit als Begründung für ihr eigenes didaktisches Handeln herangezogen. 270 270 Bereits Kant hebt in seiner »ethischen Methodenlehre« in der Metaphysik der Sitten die Erotematik (»Fragekunst«) als eine didaktische Methode hervor, »wo der Lehrer das, was er seine Jünger lehren will, ihnen abfragt«. Diese »sokratisch-dialogische Lehrart« sei wichtig: »Denn wenn jemand der Vernunft des Anderen etwas abfragen will, so kann es nicht anders als dialogisch, d. i. dadurch geschehen: daß Lehrer und Schüler einander wechselseitig fragen und antworten. Der Lehrer leitet durch Fragen den Gedankengang seines Lehrjüngers dadurch, daß er die Anlage zu gewissen

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Bekannt wurden hier vor allem die Arbeiten von Leonard Nelson (1882–1927) 271 und seinem Schüler Gustav Heckmann (1898–1996). In Nicht für Profit hebt Martha Nussbaum (2012) die Bedeutung der sokratischen Pädagogik für die Bildung zur Demokratiefähigkeit hervor. Man müsste »Studenten dazu bringen, mit ihrem eigenen Kopf zu denken und zu argumentieren, anstatt sich nach Traditionen und Autoritäten zu richten.« (ebd., 65–66) Der Tenor ihres Buches ist jedoch, dass dieses sokratische Ideal in einer Welt, in der vor allem die Maximierung des Wirtschaftswachstums zähle, kaum eine Chance habe. Wie damals schon zu Sokrates’ Zeiten würden vielmehr geschickte Rhetorik, Finanzkraft, quantifizierbare Leistungen und Einflussmöglichkeiten zählen. Damals wie heute sei aber die Fähigkeit, »gehaltvoll« zu argumentieren und dabei das eigene Denken und Handeln kritisch zu hinterfragen – vor allem auch durch die Einsichten und Vorstellungen anderer – von unschätzbarem Wert. Hier ginge es nicht nur darum, sorgfältig abgewogene Ziele für das eigene Leben und den eigenen Verantwortungsbereich zu formulieren. Zudem seien vor allem Menschen, die wenig selbstkritisch sind, leicht beeinflussbar: Wenn sich ein begabter Demagoge mit aufrüttelnder Rhetorik, aber schlechten Argumenten an die Athener wandte, waren sie nur allzu bereit, auf seine Linie einzuschwenken, ohne seine Argumente gründlich zu prüfen. Genauso leicht konnten sie auch umgestimmt werden und die entgegengesetzte Position einnehmen, ohne jemals zu klären, wofür sie denn wirklich einstehen wollten. (ebd., 68)

Sokrates gelingt es, die Menschen in ihrer stolzen und bestimmenden Rede einzufangen und sie umzuwenden zu sich selbst. Die im sokratischen Dialog zur Diskussion stehende eigentliche Frage habe nicht Begriffen in demselben durch vorgelegte Fälle blos entwickelt (er ist die Hebamme seiner Gedanken); der Lehrling, welcher hiebei inne wird, daß er selbst zu denken vermöge, veranlaßt durch seine Gegenfragen (über Dunkelheit, oder den eingeräumten Sätzen entgegenstehende Zweifel), daß der Lehrer nach dem docendo discimus [»durch Lehren lernen wir«] selbst lernt, wie er gut fragen müsse.« [H. i. O.] (Kant, MS, AA 6, 478) 271 Leonard Nelson war Philosophieprofessor in Göttingen und wollte das sokratische Gespräch zunächst als eine Methode etablieren, die Studierenden helfen würde, zu eigenen Erkenntnissen zu gelangen – er wollte damit nicht nur philosophisches Wissen vermitteln, sondern seine Studierenden zu Philosophen machen: »Die sokratische Methode ist nämlich nicht die Kunst, Philosophie, sondern Philosophieren zu lehren, nicht die Kunst, über Philosophen zu unterrichten, sondern Schüler zu Philosophen zu machen.« (Nelson 1996, 6)

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Epimeleia Heautou: Philosophie als Selbstsorge

das, worüber man spricht, zum Gegenstand, erklärt Hadot (ebd., 44), sondern denjenigen, der spricht. Ähnliches findet sich bei Bachtin: »Die dialogische Prüfung der Idee ist gleichzeitig auch eine Prüfung des Menschen, der sie vertritt.« (Bachtin 1985, 125) Diese »Prüfung« gilt für Sokrates und die Menschen, die er in Gespräche verwickelt, gleichermaßen. Im Protagoras (333c) lässt ihn Platon sagen: »Denn ich will eigentlich nur den Satz prüfen, aber es ereignet sich dann wohl, dass dabei auch ich, der Fragende und der Antwortende geprüft werden.« In der dialogischen Auseinandersetzung mit den Menschen zwang er sie, »ihre dunklen aber hartnäckigen Vorurteile in Worte zu kleiden, sie durch Worte zu erhellen und dadurch ihre Falschheit oder Unvollständigkeit aufzudecken; er konnte Binsenweisheiten ans Tageslicht zerren« (Bachtin 1985, 123). Damit will er seine Mitbürger aufwecken 272, er will sie herauslocken aus der Scheinwelt ungeprüfter Meinungen über sich und die Welt, in die sie sich einlullen, die sie aber letztlich am Denken hindern, weil sie den Kenntnissen der Seele im Wege stehen (vgl. Sophistes 264a-b). Beim Kümmern um sich werden Menschen wachsam für sich selbst und für ihre Umwelt. Sie erwachen, weil sie auf unangenehme Weise spüren, wie sicher geglaubte Wissensfundamente zu bröckeln beginnen. Sie fangen an zu schwimmen und erhalten von Sokrates nicht einfach die rettende Antwort – ganz im Gegenteil: Seine Fragen führen den Gesprächspartner nicht dahin, etwas zu wissen, und münden nicht in Schlußfolgerungen, die man in Form von Sätzen über diesen oder jenen Gegenstand formulieren könnte. Der sokratische Dialog mündet im Gegenteil in eine Aporie, in die Unmöglichkeit, Schlüsse zu ziehen und ein Wissen zu formulieren. Oder vielmehr wird der Gesprächspartner, weil er die Nichtigkeit seines Wissens entdeckt, im gleichen Moment seine Wahrheit entdecken, d. h. er beginnt, indem er vom Wissen auf sich selbst übergeht, sich selber in Frage zu stellen. [H. i. O.] (ebd.)

Die Wahrheit zeigt sich im Nichtwissen – kaum eine Aussage könnte treffender sein für das Ziel der Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit. Denn ihr geht es nicht in erster Linie um ein Wissen, sondern um das Eingeständnis und den rechten Umgang mit den eigenen Grenzen des

272 In der Apologie (31a) warnt Sokrates seine Ankläger davor, ihn leichtsinnig hinzurichten, denn so schnell wird kein anderer kommen, der als Stachel einer aufdringlichen Stechfliege die Menschen zur Selbstsorge anreizt, dann werden sie »das übrige Leben weiter fort schlafen«.

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Verstehens. Man könnte sogar noch weiter gehen: »Es handelt sich […] weniger um eine Infragestellung des scheinbaren Wissens, das man zu besitzen glaubt, als um eine Infragestellung seiner selbst und der Werte, die das eigene Leben leiten.« (ebd., 45) Insofern stellt Fremdheitsfähigkeit die praktisch gewordene Einsicht von Nichtwissen dar. Sokrates zeigt uns, wie man fremdheitsfähig wird: Er stellt Fragen und sucht darin die Beziehung zu den Menschen, möchte mit ihnen gemeinsam um Antworten ringen. Er tut dies allerdings mit großem Selbstbewusstsein, sieht sich sogar als Gottes Gabe (vgl. Apologie 30e) und meint, sich nicht um seinetwillen verteidigen zu müssen, sondern um der Athener willen, die ohne ihn schlecht dastünden. Der Umgang mit den eigenen Grenzen ist schwieriger, wenn Menschen weniger selbstsicher sind. Denn im Fragenstellen oder sogar im Sich-in-Frage-stellen-Lassen liefert man sich Fremdem aus. Zum einen zeigt man, dass man etwas nicht weiß, gibt sich die Blöße, und zum anderen hat man keinen Einfluss auf die Antwort, muss dann aber mit dieser umgehen. Fremdheitsfähigkeit bedeutet, den Mut zu haben und zu lernen, Fragen zu stellen 273 und dabei sich selbst immer wieder aufs Spiel zu setzen. Die sokratische Didaktik bildet Fremdheitsfähigkeit im Fluss, denn das Postulat des Nichtwissens hält in Bewegung, nie kommt man an ein Ende. Hier zeigt sich die Priorität der Selbstsorge vor der Selbsterkenntnis. Das Orakel von Delphi, dessen maßgebliches Motto eigentlich »Erkenne dich selbst« ist, bezeichnet Sokrates gerade aufgrund seines »Ich weiß, dass ich nichts weiß«, als den weisesten aller Menschen. Von den logoi, den Argumenten, bleibt nie eines stehen; sie befinden sich in Bewegung. Und weil Sokrates, der Fragen stellt, auf die er keine Antwort weiß, sie in Bewegung setzt, ist es gewöhnlich auch er, der, wenn der Zirkel sich geschlossen hat, fröhlich vorschlägt, wieder von vorne anzufangen und zu fragen, was Gerechtigkeit oder Frömmigkeit oder Erkenntnis oder Glück sei. [H. i. O.] (Arendt 1989, 170)

273 Hier ist jedoch einschränkend gerade im Hinblick auf Kultursensibilität eine kritische Anmerkung wichtig: Nicht alle Kulturen lernen durch Fragenstellen oder erachten dies als »Tugend«. In der Tradition der Inuit ist es sogar so, dass Fragenstellen unhöflich und despektierlich ist. Kinder lernen nicht dadurch, dass sie Dinge erfragen, sondern gemeinsam mit Erwachsenen tun. Denn Fragen und lange Erklärungen würden viel zu lange dauern – in einem Leben in Eis und Schnee ist möglichst reibungsloses gemeinsames Handeln überlebenswichtig.

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Sokrates fordert die Menschen auf Schritt und Tritt zur Fremdheitsfähigkeit heraus, denn er selbst tritt als eine Art wandelnde Fremdheit auf. Nirgendwo lässt er sich einordnen, vielmehr sprengt er alle Ordnungen und widersetzt sich der Norm. (vgl. Hadot 1999, 47) Der Sporn Sokrates geht unter die Haut, er ist unangenehm, tut weh und hinterlässt deutliche Spuren. Zugleich fasziniert und reizt er aber auch; vor allem die Athener Jugend folgt ihm nach und lässt sich von ihm – auch als »Erotiker« (vgl. Böhme 2002 58 ff.) – verführen. Gernot Böhme beschreibt den »Ortlosen« wie folgt: Atopia (ἀτοπία), das ist das Anstößige, Absurde, das nicht Hergehörige. Das, was im durchschnittlichen Leben nicht zu erwarten ist, sondern jeder Erwartung geradezu ins Gesicht schlägt. Sokrates’ Sonderlichkeit war aufreizend und verletzend. Wer sich mit ihm einließ, war fasziniert und zugleich abgestoßen, verunsichert, manchmal gar wie vom Schlag getroffen. (ebd., 17)

Mit Sokrates nimmt die Philosophie als Erschütterung ihren Anfang. (vgl. ebd.) Die Menschen damals konnten nicht gut mit dem provokativ Fremdartigen des Sokrates umgehen, der sie zutiefst beunruhigte und in Frage stellte, sie mussten ihn loswerden. Der Sophist Sokrates war doppelt ungehörig: Er weigerte sich nicht nur, fertiges Wissen weiterzugeben, er selbst stellte eine einzige große Frage dar. Auch heute noch werden Menschen unwillig, wenn sie für (Fort-)Bildung bezahlen und dann alles »aus sich selbst heraus« entwickeln sollen. Sie wollen Lösungen, keine Fragen. Michail Bachtin beschreibt treffend, wie gerade die groteske, karnevalistische Gestalt des Sokrates in ihrer ambivalenten Verbindung von Schönheit und Hässlichkeit jede fraglose Abgeschlossenheit zunichtemache. In ihm, so meint er, begründe sich, was er »karnevalistisches Weltempfinden« nennt. Seinem komisch-ernsthaften Auftreten gelänge es, wechselseitige Nichtachtung zu unterlaufen, Fremdes einander anzunähern und Getrenntes zu vereinen (vgl. Bachtin 1985, 151). Doch wie, so muss man sich fragen, schaffte es der ironische Sokrates Heterogenes zu verbinden? Eine erste Antwort könnte lauten, dass er die Menschen mit ihrer Ratlosigkeit nicht allein ließ, sondern sich gerade in dieser Erfahrung zu ihnen stellte. Hannah Arendt meint, Sokrates zerstöre alle verfestigten Kriterien, Werte, Maßstäbe für Gut und Böse, so dass seine Gesprächspartner nichts mehr in der Hand haben als Ratlosigkeit – in dieser Erschütterung scheine Sokrates jedoch zu sagen: 325 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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»das beste ist immer noch, sie zu unserer gemeinsamen Sache zu machen« [H. B. S.] (Arendt 1989, 175). Ähnlich erklärt Leonard Nelsen (1996, 24), in der sokratischen Didaktik (auch mäeutische Pädagogik genannt) hinge alles von der Kunst ab, »die Schüler von Anfang an auf sich zu stellen, sie das Selbstgehen zu lehren, ohne daß sie darum allein gehen«. Die Erschütterung wird – so paradox das klingt – zum Ausgangspunkt eines gemeinsamen Wegs, zu einer gemeinsamen Basis. Hinsichtlich einer zweiten Antwort ist es von Bedeutung, dass die Gespräche »von ganz einfachen, alltäglichen Begriffen [handeln], wie sie ständig auftreten, wenn Menschen ihren Mund aufmachen und reden« (Arendt 1989, 170). Die Natur des menschlichen Denkens und die der Wahrheit sei nach sokratischem Verständnis dialogisch, schreibt Bachtin: »Nicht im Kopf eines einzelnen Menschen entsteht und lebt die Wahrheit, sondern sie entsteht zwischen Menschen, die gemeinsam, in dialogischer Kommunikation nach ihr suchen.« [H. i. O.] (Bachtin 1985, 122) Der »Kuppler« Sokrates habe es vermocht, die Menschen zusammenzuführen, er habe sie über Dinge, die sie alle angehen, die sie teilen, mit denen alle Menschen zu tun haben, miteinander streiten lassen, »damit aus diesem Streit die Wahrheit hervorgehe« (ebd.). Ähnlich stellt Arendt (2016, 55) heraus, dass Sokrates geglaubt habe, es gäbe so viele logoi wie es Menschen gibt. Nur alle zusammen bildeten die Welt, »insoweit die Menschen als Redende zusammenleben«. Hier bedeute das sokratische »Ich weiß, dass ich nichts weiß« nichts anderes als: »Ich weiß, dass ich nicht für jedermann die Wahrheit habe; ich kann die Wahrheit des anderen nur erfahren, indem ich ihn ausfrage und so seine doxa kennenlerne, die sich in ihm und in keinem anderen offenbart.« (ebd.) Alles Handeln im interkulturellen Kontext steht hier vor der Herausforderung, sich wechselseitig über scheinbar längst Gewusstes und unhinterfragt Alltägliches auszutauschen. Nimmt man Sokrates ernst, kann dies nicht bedeuten, eigene Ansichten möglichst gut darzustellen oder den anderen geschickt und rhetorisch trickreich von der eigenen Weltsicht zu überzeugen. Es geht vielmehr darum, ein ernsthaftes Interesse an der Bedeutung eines Begriffs, der mir völlig klar zu sein scheint, aus der Perspektive eines anderen zu kultivieren – und diesen diesbezüglich neugierig-offen zu befragen. So müssen sich alle Teilnehmer des Gesprächs ihres Verständnisses unreflektiert gebrauchter Begriffe vergewissern und merken dabei, wie sie ins Schleudern geraten. »Beschäftigt mit einer wirklichen Differenz«, so 326 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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zur Lippe (2014, 134), »also einem uns bis dahin Fremden, werden wir immer in uns selber neue Differenzierungen entdecken oder ausbilden.« Dies sei unbequem, aber sobald wir uns für den Anlass für diese Unbequemlichkeit interessieren, würde sich unsere Mitwelt erweitern. »Das sagt das Wort Interesse: dazwischen sein. Interessant ist mir, was mich in ein neues Zwischen hineinzieht.« (ebd.) Der Pädagoge Helmut Danner (2014) zeigt in seinem Artikel Von westlicher Arroganz zu interkultureller Bildung wie wenig der humanistische Bildungsbegriff Humboldts Allgemeingültigkeit beanspruchen kann – eine Erkenntnis, die ihm zunächst auch sehr unbequem zu sein scheint. Methodisch vollzieht er einen Perspektivwechsel und fragt sich, was es heißen würde, interkulturelle Bildung mit »afrikanischen Augen« zu sehen. (vgl. ebd., 368) Er kommt dabei zu dem ernüchternden Ergebnis, »›Bildung‹ als Konzept in Frage stellen zu müssen« [H. B. S.]. (ebd., 370) Das heißt, ein Bildungsprojekt mit interkulturellem Anspruch muss seine grundlegendsten Fundamente in einem tatsächlich gelebten interkulturellen Dialog immer wieder hinterfragen lassen. Für Bachtin spielt in einem solch existenziellen Unterfangen vor allem die Spannung des paradoxen Widersprüchlichen, das Sokrates ausstrahlte, eine zentrale Rolle. Dies könnte ebenfalls Teil der Antwort auf die Frage sein, wie es ihm gelang, Fremdes im Dialog einander anzunähern. Denn die Erschütterung, der Witz und die implizite Herausforderung, »quer« zu denken, befreit die Menschen aus der Enge und der Ernsthaftigkeit des Alltäglichen, sie können lauthals lachen, miteinander spielen, nachdenklich innehalten oder fremde Seiten von sich zeigen, die sonst nicht in Erscheinung treten. Bachtin nennt dies »karnevalistische Familiarisierung der Beziehungen zwischen den in den Dialog eintretenden Menschen« (Bachtin 1985, 148) – hier, so meint er, werde jegliche Distanz aufgehoben. Denn der Typ Sokrates steckt durch seine skurrile Originalität und leibhaftige Authentizität an, Grenzen auszuloten und zu überschreiten. Er regt an zur Kreativität jenseits binärer Mein-Dein-Schemata, weil er in seiner Person und in seinem Tun Fremdes zulässt, das Abseitige normalisiert und das Normale abseitig erscheinen lässt. Es gelingt ihm, Unterschiede zu verwischen – paradoxerweise gerade deshalb, weil individuelle Eigenheiten leben dürfen, ja sogar leben sollen. Von zentralem Wert für die Auseinandersetzung, um die es hier geht, ist der Ausgangspunkt des Gesprächs von Sokrates mit Alkibiades. Der junge Mann möchte mehr Macht in Athen erlangen – also 327 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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für und über andere entscheiden, andere regieren. Daraufhin lässt ihn Sokrates seine diesbezügliche Unzulänglichkeit und sein Nichtwissen spüren. Er macht ihn darauf aufmerksam, dass eine gelingende Fremdsorge ohne Selbstsorge nicht zu haben ist. Wenn Sokrates es als seine gottgegebene Aufgabe sieht, Alkibiades und mit ihm alle Bürger Athens aufzufordern, sich um sich selbst zu sorgen, stellt sich die Frage, was er darunter versteht und wie die Sorge um sich selbst vonstattengehen soll, damit sie gelingt. Kurz: Zu was genau fordert er Alkibiades auf? Foucault hat völlig Recht, wenn er meint, die Frage nach der Selbstsorge beinhalte unweigerlich die Frage nach dem Selbst: »Welcher Art ist dieses Selbst, um das man sich zu sorgen hat, wenn es heißt, man müsse sich um sich selbst sorgen? […] was ist dieses Sich-selbst?« (Foucault 2004, 62) Die Frage nach der Selbstsorge beinhaltet also eigentlich zwei Fragen, die Foucault durch seine Analyse des Alkibiades-Dialogs zu beantworten versucht. In ihnen spiegeln sich zentrale Anliegen der vorliegenden Untersuchung wider – auch wenn es dabei weniger um das Regieren Anderer geht, als vielmehr um einen gelingenden Umgang mit Fremdem: Ich soll mich um mich sorgen, damit ich fähig werde, die anderen zu führen und die Stadt zu lenken. Die Sorge um mich muß also von solcher Art sein, daß sie zugleich die Kunst (die techne, die Kunstfertigkeit) freisetzt, die erlaubt, die anderen gut zu regieren. Die Aufeinanderfolge beider Fragen [im Alkibiades] (was ist das Selbst, was ist die Sorge?) hat den Sinn, daß eine Antwort auf ein und dieselbe Fragestellung gesucht wird: Das Selbst und die Sorge um sich erfordert eine Definition, aus der sich das für die Regierung der anderen notwendige Wissen ableiten lässt. (ebd., 77)

Im Gespräch von Sokrates und Alkibiades wird deutlich, dass nichts wesentlicher an uns selbst sei, als die Seele (vgl. Alkibiades I 130c), deshalb gelte es in der Selbstsorge, sich um seine Seele zu kümmern. Der Argumentationsgang zu dieser Erkenntnis – die natürlich mit Blick auf diverse platonische Dialoge alles andere als überraschend ist – ist von großer Bedeutung für das sokratische Verständnis der epimeleia heatou. Zentral dabei ist die Reflexivität des »sich selbst«. Sokrates erarbeitet in einem regen Frage- und Antwort-Spiel mit Alkibiades, dass die Seele sich des Körpers, Werkzeuge und der Sprache bedient, dass sie das auslösende Moment, das Zugrundeliegende, alles Handelns ist. Er differenziert zwischen dem Gebrauchenden und dem Gebrauchten, zwischen dem, »was einem nur angehört [das Seinige], und dem, was man selbst ist« (Böhme 2002, 50). Er unterschei-

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det außerdem zwischen dem eher funktional gedachten »Erkenne dich selbst«, also all dem, was mit erkennbaren Stärken und Schwächen, mit Kenntnissen und Fähigkeiten zu tun hat, von dem, was noch darunter liegt (denn auch Fähigkeiten kann man gebrauchen). 274 Die Seele erweist sich als das einzige Sich-selbst-Gebrauchende (vgl. Alkibiades I 130a). Foucault stellt heraus, dass »diese Beweisführung um das ›Sich-(einer Sache)-bedienen‹ […] nichts mit der aus der Gefangenschaft des Leibes zu befreienden Seele zu tun hat […]; sie hat auch nichts zu tun mit der Seele als gefiedertem Gespann, das in die richtige Richtung geführt werden muss […]; noch ist es […] die nach einem bestimmten Plan aufgebaute Seele mit hierarchischen Instanzen, die es zu harmonisieren gilt. Es ist allein die Seele als Subjekt der Handlung«. [H. B. S.] (Foucault 2004, 82) 275 In diesem Verständnis setzt sie sich ab von der Substanz-Seele als abgeschlossene Entität, die der Welt und dem eigenen Körper gegenübertritt. Im Vergleich zur Substanz impliziert das Subjekt Beziehung. Wie das nun konkret zu denken ist, ist nicht ganz leicht. Klar ist, »daß Selbstsorge qua Sorge für die Seele nicht heißen kann, für etwas, das man in irgendeiner Weise hat, zu sorgen, da ja dann dieses Etwas ›Seele‹ von einem selbst wieder zu unterscheiden wäre« [H. i. O.] (Böhme 2002, 52). Eher denkbar ist das, was oben im Verständnis des Selbst als Dialog (4.2.3) bereits deutlich wurde. Mit Hannah Arendt (2016, 58) gesprochen: »Worauf Sokrates hinauswollte, ist der Umstand, dass das Zusammenleben mit anderen damit beginnt, dass man mit sich selber zusammenlebt.« Ich bin also nicht nur für andere, sondern auch für mich – und in dieser Beziehung »für mich«, so führt Arendt (1989, 274 Böhme findet diese von Sokrates aufgerissene Differenz im Selbstverständnis des europäischen Menschen, insbesondere bei Martin Heidegger, wieder: »Er bestimmt die Grundstruktur des Daseins als Sorge. Diese wird gelebt in der fundamentalen Differenz zwischen der Verfallenheit an … (die Welt, das Man, das Gerede) und der Eigentlichkeit. Der Verfallenheit entspricht bei Sokrates die Sorge um das Seinige, der Eigentlichkeit die Sorge um sich.« (Böhme 2002, 57) Bezogen auf die Fremdheitsfähigkeit lässt sich dies ebenfalls deutlich zeigen: Der Mensch kann sich um Fremdes sorgen, sich einfangen lassen von der Omnipräsenz des Fremden in den Medien, im Hype um interkulturelle Kompetenz oder in Parolen rechtsgerichteter Parteien, damit das Seinige geschützt und beibehalten wird. In der Sorge um sich besinnen sich Menschen auf eigene Wurzeln, sie reflektieren über ihre Gefühle und Bedürfnisse und üben sich darin, Eigentlichkeit zu leben. 275 An anderer Stelle fasst Foucault denselben Sachverhalt wie folgt zusammen: »Die Sorge um das Selbst ist die Sorge um die Aktivität, nicht die Sorge um die Seele als Substanz.« (Foucault 1993, 35)

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182) aus, bin ich nicht bloß Einer: »In mein Einssein hat sich ein Unterschied eingeschlichen.« (ebd.) Hier konkretisiert sich schließlich die Selbstsorge als die »implizit geforderte Errichtung einer inneren herrschenden Instanz durch Reflexion« (Böhme 2002, 53; 115). Sich um sich selbst sorgen heißt, dass man sich mit sich selbst ins Benehmen setzt – und zwar um sich selbst besser kennenzulernen. Im Alkibiades wird deutlich, wie eng die Selbstsorge mit der Selbsterkenntnis zusammenhängt: »Gnothi seauton und epimeleia heatou […] rufen sich gegenseitig auf den Plan« (Foucault 2004, 97). Ob allerdings das Zusammenleben mit anderen tatsächlich dadurch beginnt, dass man mit sich selbst zusammenlebt, wie von Arendt postuliert, oder ob es nicht vielleicht auch umgekehrt sein könnte, dass man sich selbst nur im Sein mit anderen erkennt, sei angesichts der sokratischen Interpretation des gnothi seauton zumindest zur Disposition gestellt. Denn hier wird deutlich: »Die Seele vermag sich selbst nur dann zu erkennen, wenn sie sich in einem ähnlichen Element […] betrachtet« (Foucault 1993, 35). Als Beispiel zieht Sokrates die Spiegelung des eigenen Auges in einem anderen Auge heran. Noch spezifischer meint er, dass man sein eigenes Sehen im Sehakt des anderen sehen könne, denn darin liege die »Tüchtigkeit des Auges«, das, was das Auge als Auge auszeichnet: SOKRATES: Denn du hast doch bemerkt, daß wenn jemand in ein Auge hineinsieht, sein Gesicht im gegenüberstehenden Auge sich spiegelt, was wir deshalb auch die Pupille, das Püppchen, nennen, da es ein Abbild ist des Hineinschauenden. ALKIBIADES: Ganz richtig. […] SOKRATES: Wenn also ein Auge sich selbst schauen will, muß es in ein Auge schauen, und zwar in den Teil desselben, welchem die Tugend des Auges eigentlich innewohnt. Und dies ist doch die Sehe [Pupille]? ALKIBIADES: So ist es. (Alkibiades I 133a–b)

In diesem Abschnitt wird klar, dass Selbsterkenntnis nur dialogisch, nur in der Auseinandersetzung mit etwas, das einem ähnlich ist, also einem anderen Menschen gelingen kann. Dazu muss ich mich aber auch in anderen spiegeln wollen, ich muss den Blick des anderen suchen und mich diesem und dem, was ich darin über mich selbst erkenne, aussetzen. Das Auge steht jedoch nur metaphorisch für das, auf was Sokrates eigentlich hinaus will:

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SOKRATES: Muß nun etwa ebenso, lieber Alkibiades, auch die Seele, wenn sie sich selbst erkennen will, in eine Seele sehen? Und am meisten in den Teil derselben, welchem die Tugend der Seele innewohnt, die Weisheit, und in irgend etwas anderes, dem dieses ähnlich ist? ALKIBIADES: So dünkt es mich wenigstens, o Sokrates. SOKRATES: Haben wir nun wohl etwas anzuführen, was göttlicher wäre in der Seele als das, worin das Wissen und die Einsicht sich findet? ALKIBIADES: Das haben wir nicht. SOKRATES: Dem Göttlichen also gleicht dieses in ihr, und wer auf dieses schaute und alles Göttliche, der erkennte Gott und die Vernunft, der würde so auch sich selbst am besten erkennen. (Alkibiades I 133 b-c)

Der Mensch erkennt sich selbst als Mensch durch die Beschäftigung mit dem, was ihn wesentlich zum Menschen macht: der Teil der Seele, dem das Prinzip innewohnt, das die Natur der Seele ausmacht. Um die eigene Seele zu erkennen, muss man »in eine Seele sehen« – und zwar in das, was eine Seele als Seele »gut« macht, was ihre besondere »Tugend« ist: ihr rationales Vermögen, das Denken und Wissen gewährleistet. In ihm, so Sokrates spiegelt sich Göttliches und die spezifisch menschliche Fähigkeit, vernünftig zu handeln. Das heißt, es geht in der von Sokrates vermittelten Selbstsorge nicht nur um eine abgeschlossene, individuelle Seele, sondern um etwas, das diese übersteigt, weil sie Anteil an einem »größeren Ganzen« 276 hat. Foucault (2004, 100) schreibt diesbezüglich: »[D]ie Erkenntnis des Göttlichen [wird] zur Bedingung der Selbsterkenntnis.« In dieser Selbsterkenntnis wird klar, dass wir vieles nicht wissen und uns selbst nie restlos verstehen können – weil wir Menschen und nicht Gott sind. Selbstsorge beginnt bei dieser begrenzten (Selbst-)Erkenntnis und bei der Aufforderung, das »göttliche« Vermögen unserer Seele immer mehr zu gebrauchen, so dass wir mit der Erfahrung unerreichbarer Fremdheit immer »besonnener« umzugehen lernen. 277 276 Böhme (2002, 56) meint etwas nüchterner, Wissen, Weisheit und Vernunft deuteten hier von vorneherein auf etwas »Allgemeines«. Zu dieser transzendenten »Priorität des Anderen« für die Selbstsorge vgl. 4.5.3. 277 Interessant ist hier der Begriff der Seelsorge, der vor allem in der christlichen Tradition bis heute eine wichtige Rolle spielt. In der Seelsorge geht es nicht nur um das körperliche Wohl des Menschen oder um die psychische Verfasstheit, sondern vor allem um die spirituelle Begleitung, in der Regel durch einen Geistlichen (man spricht auch von »geistlicher Begleitung«). Hier sieht man den direkten Bezug zum »göttlichen« Element im Menschen, zum Streben des Menschen nach etwas, das ihn übersteigt. Bezeichnend ist dabei jedoch, dass sich die Seelsorge immer an den anderen richtet, weniger auf sich selbst. Offenbar brauchen Menschen einen Seelsorger, um

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Besonnenheit, so meint Sokrates, bestünde darin, »daß man sich selbst kennt« (Alkibiades I 131b), dass man die eigene Seele betrachtet. Im Charmides (164e) setzt er gar das delphische »Kenne dich selbst« mit »Sei besonnen« gleich – diese Selbstkenntnis beinhaltet bei Sokrates vor allem das Wissen um das eigene Nichtwissen. Dies wird beispielsweise in seiner Aussage deutlich: »Der Besonnene also allein wird sich selbst erkennen und auch imstande sein zu ergründen, was er wirklich weiß und was nicht.« (Charmides 167a) Böhme (2002, 114) bemerkt, dass dieses Wissen des Wissens und des Nichtwissens keinen Inhalt hat und deshalb auch keine spezifische Kompetenz mit sich bringe. Eine Erkenntnis der Erkenntnis erkennt laut Sokrates »nur«, dass jemand etwas weiß bzw. nicht weiß, sie erkennt aber nicht was sie weiß. (Charmides 170d) Genau diese »inhaltslose« Besonnenheit, die Wachsamkeit und die Bewusstheit 278 hinsichtlich des eigenen Wissens, die Sokrates fordert, ist es, die eine fremdheitsfähige Person auszeichnet. Denn ihr geht es nicht um faktische Erkenntnis (um Wissen über Fremdes und ein Set an Kompetenzen), sondern darum, zu lernen, mit anderen gemeinsam »besonnener« zu werden, d. h. das eigene Wissen bzw. Nichtwissen selbstreflektiert zu leben. Interessant ist hier die Analyse Foucaults (2004, 168), der betont, Sokrates zeige, »daß die Unwissenheit nicht weiß, daß sie weiß, daß also bis zu einem gewissen Grad das Wissen aus dem Unwissen hervorgeht«. Folglich wäre es falsch, vermitteltes Wissen an die Stelle der Unwissenheit zu setzen (vgl. ebd., 175) – genauso wie Fremdes nicht durch Wissen ersetzt werden kann, dieses vielmehr aus der Auseinandersetzung mit Fremdem erwachsen muss. Deshalb endet der Dialog nicht mit dem Entschluss des Alkibiades, sich um sich selbst zu sorgen, sondern sich der Gerechtigkeit zu befleißigen (vgl. Alkibiades I, 135e), also um den besonnenen Umgang mit Anderen. Denn: »Sich um sich selbst zu sorgen und sich um die Gerechtigkeit zu sorgen ist dasselbe.« (Foucault 2004, 101)

selbst größere Klarheit zu erlangen, oder aus Lebenskrisen wieder herauszukommen. Böhme (2002, 56) erwähnt in diesem Zusammenhang, dass Sokrates vor allem mit der Spiegelmetapher die Institution des »Seelenführers« geschaffen habe. 278 Böhme (2002, 124) versteht diese Bewusstheit als »eine Organisationsform des ganzen Menschen, die primär sein Verhältnis zu seinen eigenen Wissensbeständen, aber weiter dann zu seinen Emotionen und schließlich zu seinem Leib bestimmt.« Es sei ein »Tugendwissen« in Form eines »Mitwissens«, ein Gewahrwerden der eigenen Grenzen.

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Vor allem angesichts der Rede von einem göttlichen Prinzip in der Seele aller Menschen findet sich eine große Chance für den interreligiösen Dialog. Denn anstatt sich wechselseitig von der eigenen Wahrheit überzeugen zu wollen oder nach Gemeinsamkeiten zu suchen (wie beispielsweise in G. E. Lessings Ringparabel oder Hans Küngs Projekt Weltethos), zeigen sich im Nichtwissen, im Wahrnehmen und Eingestehen eigener Erkenntnisgrenzen, Möglichkeiten, Brücken zu schlagen. Dadurch, dass niemand zur vollen Erkenntnis des Göttlichen gelangen kann, kann auch niemand zu reiner Selbsterkenntnis kommen. Insofern macht die gelebte sokratische Besonnenheit bescheiden und hörfähig. Hierin liegt die Achtung vor dem, was unser Wissen übersteigt, die Achtung vor Fremdem – auch vor dem Herzstück spirituellen Lebens und damit verbundenen Praktiken und Traditionen (mehr dazu in 4.5.3).

4.5.2 Selbstsorge als Übungspraxis zwischen Freiheit und Disziplin Mit Sokrates deutet sich bereits an, dass die Selbstsorge ein spannungsreiches Unterfangen ist: Es gilt, die innere Herrschaft der Seele zu errichten, denn sie ist jene Instanz, die zu größerer Unabhängigkeit und der Fähigkeit freien Handelns führt. (vgl. Böhme 2002, 115) Sie ist es, die das Menschsein im Menschen zu verwirklichen vermag. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie es Menschen konkret gelingt, zunehmend (selbst-)bewusster im Sinne der sokratischen »Mitwisserschaft«, d. h. sich selbst reflektierend und begleitend, zu handeln. Anders formuliert: Wie kann es gelingen, eine »innere Herrschaft der Seele« zu etablieren, um damit frei-willig zu handeln? In der Auseinandersetzung mit Sokrates hat sich zwar gezeigt, dass es vor allem darum geht, kritisch über sich selbst nachzudenken – wie das in der Praxis aussieht, bleibt bis auf die Anleitung durch das sokratische Gespräch bzw. die Hinweise, die wir diesem entnehmen können, offen. 279 Zudem kam es vor allem in der westlichen Philosophie – auch ausgehend von Sokrates’ Aussage, niemand würde frei-

279 Dies mag vor allem daran liegen, dass für Sokrates und die Menschen seiner Zeit klar war, worin mögliche Selbstsorge-Praktiken bestehen könnten. Denn, so erwähnt Foucault (2004, 70), es habe lange vor Sokrates und Platon »eine regelrechte Technologie des Selbst« gegeben, welche sich in einer ganzen Reihe unterschiedlicher Übungen ausdrückte.

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willig wider besseres Wissen Unrecht tun (vgl. Protagoras 258a-e) – zu einer rationalistischen Engführung der Selbstsorge. Ähnliches stellt Rolf Elberfeld (2013, 29) mit Blick auf die formal und theoretisch bleibende Forderung Kants, es gelte, die eigenen »Gemütskräfte« zu kultivieren, fest: Kant gebe so gut wie keine Anweisung, wie dies gelingen könne. Dies liege nicht zuletzt daran, dass eine solche Anweisung für Kant in den Bereich des »Pragmatischen« gehöre und daher theoretisch-philosophisch weniger Gewicht habe. In der griechisch-römischen Antike lassen sich jedoch zahlreiche Anregungen finden, wie der Mensch sich auf allen Ebenen seiner Existenz entwickeln kann – aber natürlich nicht nur hier: Vor allem in den philosophischen Traditionen Indiens, Japans und Chinas sind seit jeher verschiedene Formen der Selbstkultivierung entwickelt und tradiert worden. (vgl. Schmücker/Heubel u. a. 2013) Elberfeld erläutert diesbezüglich: Auch wenn Hadot in seinen Büchern immer wieder darauf hinweist, dass die antike Philosophie ein »Weg« oder besser ein »Übungs«- bzw. »Lebensweg« war und dieses in weiten Teilen der Philosophie des 20. Jahrhunderts fast ganz in Vergessenheit geraten ist, so ist diese Komponente doch in der europäischen Tradition im Vergleich zu asiatischen Wegen des Denkens und Übens eher wenig ausgebildet worden. […] Erst heute beginnt man in Europa und Nordamerika langsam zu ahnen, dass eine »meditative« oder »kontemplative Wissenschaft des Geistes« auch für die philosophische Praxis eine erhebliche Bedeutung haben kann. (Elberfeld 2013, 28–29)

Anstatt nun zahlreiche Beispiele antiker Übungen der Meditation oder Kontemplation aneinanderzureihen, die der philosophischen Praxis der Selbstsorge dienen können, werden einige »Familienähnlichkeiten« – Hadot (1999, 220) spricht von einer »tiefen Verwandtschaft zwischen diesen Übungen« – herausgearbeitet. Diese eröffnen eine Art Spielfeld für unterschiedliche Möglichkeiten philosophischpraktischer Selbsttransformation. Denn ganz sicher gibt es nicht die beste oder sinnvollste Übung, vielmehr ist hier jede und jeder auf sich gestellt, Übungswege zu entdecken, die der eigenen Person und Lebenswirklichkeit entsprechen. Zunächst ist festzustellen: Wir üben, um mehr Freiheit zu erhalten. Erst wenn ein Musiker sein Instrument kennt und wirklich gut beherrscht, kann er frei spielen; erst wenn eine Tänzerin ihre Tanzschritte gelernt hat, kann sie sich mit ihnen frei zur Musik bewegen; erst wenn das Autofahren, ohne über Kupplung, Gänge oder Gas nachzudenken, gelingt, kann man sich nebenbei mit dem Bei334 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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fahrer unterhalten, Radio hören oder einen Apfel essen. 280 Zugleich brauchen wir die innere und äußere Freiheit, uns der Disziplin des kontinuierlichen Übens zu stellen. Dazu gehören u. a. ein freier, fester Wille, der Mut, sich auf den Übungsweg einzulassen, eine ernsthafte Motivation und Leidenschaft, aber auch soziale und materielle Ressourcen, die nötige Zeit und die Aussicht auf Erfolg. »Optimal motivierte Menschen sind solche Menschen, die über ein hohes Maß an Selbstkontrolle verfügen«, schreibt Godehard Brüntrup (2012, 187), unterscheidet diese aber von der »rein willentlichen Kontrolle« eines »Eisenfressers«. Nur die Selbstkontrolle entspringt der Freiheit des Selbst, einer Motivation, die gemeinhin »intrinsisch« genannt wird – es heißt ja auch, etwas gelingt uns »wie von selbst«. Dieser Gedanke sei, so führt Brüntrup aus, anschlussfähig an Ergebnisse psychologischer Forschung: Es ist vor allem Edward Deci und Richard Ryan zu verdanken, ein Konzept der Motivation als Selbstbestimmung entwickelt zu haben. Ihre sehr einflussreiche »Self Determination Theory of Motivation« will zeigen, dass selbstbestimmte Menschen eine Erfahrung von Freiheit erleben, die sie befähigt, das zu tun, was für sie persönlich wichtig und vitalisierend ist. (vgl. Deci/Ryan 1985). Zuwachs an Selbstbestimmung bedeutet nach Deci und Ryan aber nicht nur eine Abnahme an äußerer Kontrolle. Selbstbestimmung erreicht man auch durch innere Weiterentwicklung (mehr Kompetenz) und durch Zuwachs an Einbettung in sinnstiftende Beziehungen (mehr Bezogenheit). [H. i. O.] (ebd.)

Brüntrup spricht von einem Zugmodell und einem Schubmodell der Motivation als zwei Seiten einer Medaille. Ersteres sieht er vor allem in der Tradition westlicher Philosophie verankert: »Zug deshalb, weil wir durch die Einsicht in das, was gut ist und getan werden soll, bereits zur Handlung hingezogen werden.« (Brüntrup 2015, 7) Das Schubmodell entstammt klassischen psychologischen Theorien, die davon ausgehen, dass Menschen dann eine hohe Bereitschaft haben 280 In einem anschaulichen und praxisorientierten Modell, das vor allem im Bereich des Coachings Anwendung findet, den sog. Four Stages of Learning von Noel Burch zeigt sich diese Entwicklung hin zu mehr Freiheit sehr deutlich: die erste Stufe des Lernens lautet unconsciously unskilled: ich weiß nicht, was ich nicht weiß/nicht kann, die zweite Stufe lautet: consciously unskilled: ich weiß, dass ich etwas nicht weiß/ nicht kann, die dritte Stufe lautet: consciously skilled: ich weiß, wie etwas geht, aber ich muss noch viel üben, dass es mir gelingt und die vierte Stufe lautet: unconsciously skilled: das Geübte geht beinahe automatisch, ich muss nicht mehr viel darüber nachdenken. (vgl. Adams 2016)

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zu handeln oder sich zu verändern, wenn sie einen inneren »Drive« verspüren, von ihren Trieben dazu »angeschoben« werden. Man könnte vielleicht auch sagen, der Schub verwirklicht sich dann, wenn wir die Freiheit haben, das auszuleben, was sich in uns regt und der Zug gibt die Richtung vor. Dabei fordert er zur Disziplin auf, damit Ziele tatsächlich erreicht werden. Auch hier zeigt sich, dass beides von Nöten ist, damit die Praxis der Selbstsorge gelingt. Denn, so führt Brüntrup (vgl. ebd., 9) bezugnehmend auf den berühmten Ausspruch Kants aus, die Schubkraft bliebe blind, wenn die praktische Vernunft ihr keine Ziele anböte. »Umgekehrt bleiben die Ziele kraftlos und leer, wenn sie nicht verwurzelt sind in den Grundmotiven, die mich antreiben« (ebd.). Er unterstreicht dies mit der Aussage Senecas: »Für ein Schiff, das seinen Zielhafen nicht kennt, ist kein Wind ein günstiger.« (ebd.) Die Kunst des Übens vollzieht sich demnach in einem Spannungsfeld zwischen Zielfixiertheit und Beliebigkeit. »Nur in solchen Spannungsfeldern können Reize als Anregungen, Anregungen als Ansteckung 281 wahrgenommen und aufgegriffen werden.« (zur Lippe 2014, 181) Im Vollzug der Bewegung, im Mitgehen und Sich-Einlassen kristallisieren sich »vor-läufige« Ziele heraus, die aber offen und wandelbar bleiben. Ähnliche Überlegungen finden sich in Alfred North Whiteheads Ausführungen zur Bildung, insbesondere in seinem Aufsatz Die rhythmischen Ansprüche von Freiheit und Disziplin. Die Gegensätze von Freiheit und Disziplin seien nicht so scharf, wie eine logische Analyse der Begriffsbedeutungen dies vermuten ließe, schreibt er und plädiert für eine rhythmische Pendelbewegung zwischen beiden. Denn beide seien zwei Wesensmerkmale der Selbstentwicklung. Er sei davon überzeugt, dass Bildung dann scheitere, wenn man der Bedeutung dieses natürlichen Rhythmus’ nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken würde. (vgl. Whitehead 2015, 74–75) »Entsprechend sollte es das Ziel ideal gestalteter Erziehung und Bildung sein, dass die Disziplin das gewollte Ergebnis freier Wahl ist und dass die Freiheit zu einer Bereicherung an Möglichkeiten als Ergebnis von Disziplin gelangt.« (ebd., 74) Vor dem Hintergrund dieser Über281 Zum Begriff der Ansteckung führt zur Lippe (2014, 167–168) aus, dass er damit versucht habe, anzudeuten, »wie entscheidend wir da eben auch etwas ganz Anderem begegnen – Energien, die uns einfach zuteil werden, soweit wir das zuzulassen vermögen. Zu üben ist gerade an der Durchlässigkeit für dieses Andere, das wir nicht zu machen brauchen und nicht machen, sondern nur fließen lassen oder blockieren können«. [H. B. S.]

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legungen meint Whitehead, am Anfang und am Ende von Bildung müsse Freiheit stehen – mit einem Zwischenstadium der Disziplin. Hieraus würden sich drei Stadien ergeben, die er als Schwärmerei (romance), Präzision (precision) und Verallgemeinerung (generalization) bezeichnet. Die Motivation zur Veränderung entwickelt sich nur dann, wenn ein genuines Interesse geweckt wird, wenn ein Staunen innere Unruhe hervorruft, die aber nicht beängstigen und lähmen darf, sondern lustvoll Neugierde weckt, d. h. in einem positiven Sinne herausfordernd ist – dies passiert im Stadium der Schwärmerei. Im anschließenden Stadium der Präzision »wird die Weite eines Beziehungsverhältnisses der Genauigkeit der Formulierung untergeordnet«. Es ist bemerkenswert, dass Whitehead von einem »Beziehungsverhältnis« spricht, wenn er das Stadium Schwärmerei beschreibt. Er meint die Erfahrung des Zwischen, die es zu begreifen gilt, damit die Erkenntnisse daraus vor allem sprachlich präzise gefasst werden können und so als Wissensbausteine zur Verfügung stehen und weiterentwickelt werden können. Das »Abenteuer der Schwärmerei« (ebd., 78) im Beziehungsgeschehen bildet den Hintergrund für die Präzision, es kann und darf nie völlig darin aufgehoben werden, denn das wäre das Ende jeder Entwicklung und führte zu »toten« Erkenntnissen, die vom unmittelbaren Lebensvollzug abgeschnitten wären. Man könnte auch sagen, die Freiheit der Auseinandersetzung mit Fremdem in sich selbst oder in der Begegnung mit anderen braucht einen Rahmen, in dem sie Form gewinnt. Deshalb entwickeln Menschen seit jeher überall auf der Welt unterschiedliche Übungsformen. Dieser Rahmen ergibt sich aus der Art und Weise des Beziehungsgeschehens, aus der Schwärmerei, und nicht aus einem von diesem völlig losgelösten Raum abstrakter Überlegungen oder engführenden Kontrollinstanzen – zumindest sollte er das nicht. 282 Übungswege als »anderes Mo282 Wichtig ist Whiteheads Hinweis (ebd., 80), »dass die einzige Disziplin, die um ihrer selbst willen wichtig ist, die Selbstdisziplin ist, und dass diese nur durch umfassenden Gebrauch von Freiheit anzueignen ist.« D. h. alle Versuche gerade im interkulturellen Kontext, Menschen eine bestimmte Form von Disziplin aufzuzwingen, müssen bedenklich stimmen. Im Bereich bildungspolitischer Überlegungen muss hier natürlich zwischen Kindern und Erwachsenen unterschieden werden, aber auch Kinder lernen dann am besten, wenn sie eine Form finden, die für sie passt, die aus ihrer eigenen Freiheit »spielerisch« erwächst. Das Prinzip des Fortschritts müsse von innen (von selbst) kommen, so Whitehead an anderer Stelle: »Die Entdeckung machen wir selbst, die Disziplin ist Selbstdisziplin und die Entfaltung ist das Ergebnis unserer

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dell von Ordnungen« seien wesentlich von Beziehungsfragen geprägt, nicht von Strukturen, meint auch zur Lippe (2014, 174), diese gelte es vielmehr immer neu einzuschmelzen. Hier deutet sich an, was Whitehead (2015, 75) damit meint, dass in den einzelnen Stadien noch einmal alle Stadien enthalten sind, bzw. dass sich die Zyklen miteinander verflechten und nicht klar trennen lassen (ebd., 71). Das bedeutet, dass wie bei der russischen Matrjoschka in der Phase der Präzision auch die Schwärmerei mitschwingt – und umgekehrt. Dies erinnert an die Ausführungen von Friedrich Schiller zum homo ludens: der Stofftrieb (die Sinnlichkeit) und der Formtrieb (die Vernunft) verbinden sich im Spieltrieb, nur hier wird der Mensch zum Menschen, hier vollzieht sich der Prozess der Selbstbildung. Aus dieser Verbindung erwächst, was Whitehead das Stadium der Verallgemeinerung nennt, »in der Details zugunsten der aktiven Anwendung von Prinzipien abgeschüttelt werden, wobei die Details sich in unterbewusste Gewohnheiten zurückziehen« (ebd., 83). Das, was wir mühsam präzisierten, gereicht uns nun zur aktiven Freiheit der Anwendung. Unser Denken wird beweglich, es eröffnet Spielräume neuer Möglichkeiten, denn es geht ihm nicht mehr in erster Linie um die Aneignung von Wissen, sondern um die Fähigkeit, dieses zu gebrauchen. Dass hier jedoch auch immer die Gefahr besteht, in enge Gelehrsamkeit, begrenzende Regeln und pedantische Weltsichten zu fallen, macht Whitehead an vielen Stellen unmissverständlich klar. 283 So sagt er beispielsweise, die eigentliche Funktion einer Universität – in welcher der »Geist der Verallgemeinerung« dominieren sollte (vgl. ebd., 69) – sei die phantasievolle Aneignung von Wissen: »Eine Universität ist phantasievoll oder sie ist nichts – zumindest nichts Nützliches.« (ebd., 148) 284 Ein Universitätsprofessor solle sich in seinem »wahren Charakter« darstellen – und das hieße »als einen unwissenden Mann, der denkt, der seinen kleinen Anteil am Wissen aktiv nutzbar macht« (ebd., 83). Aktivität bedeutet auch, wieder neu und verändert in die Schwärmerei einzutauchen, sich zu erlauben, »diskursive Abenteuer« zu erleben – jetzt aber, so Whiteeigenen Initiative.« (ebd., 86) Vgl. auch die Ausführungen von Brüntrup oben zur Selbstkontrolle. 283 Dass Spiel bitterer Ernst werden kann – vor allem, wenn sich Regeln als kulturelle Muster verstetigen, zeigt Johan Huizinga in seinem Buch Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 284 Zur Bedeutung der Whitehead’schen Bildungsphilosophie für die interkulturelle Transformation der akademischen Ausbildung vgl. Schellhammer 2015b.

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head, mit dem Vorteil, dass der Geist ein »diszipliniertes Regiment« sei, anstatt eine »Horde« (ebd., 82). Hier zeigt sich Whiteheads Nähe zu sokratischem Denken: Die innere Herrschaft der Seele führt zu größerer Freiheit, deren Ausdruck auch das gelebte Abenteuer der eigenen Unwissenheit ist. 285 Michel Foucault hat sich vor allem in seinen letzten Lebensjahren intensiv mit der ursprünglichen griechisch-römischen Bedeutung der Selbstsorge als die Art und Weise befasst, »in der die individuelle Freiheit – oder bis zu einem gewissen Punkt die bürgerliche Freiheit – sich als Ethik reflektiert hat« [H. B. S.] (Foucault 2007, 257). Dabei geht es also nicht vornehmlich darum, eine Fähigkeit zu erlernen, um diese in großer Freiheit anwenden zu können oder sich Wissen anzueignen, um Aussagen über die Welt treffen zu können. Es geht vielmehr darum, ein besserer Mensch zu werden, d. h. diszipliniert auf sich selbst zu achten, um anderen möglichst frei von negativen Gefühlen und inneren Zwängen begegnen zu können. Für die Griechen habe Freiheit bedeutet, weder Sklave von einem anderen noch von den eigenen Begierden zu sein, »was impliziert, dass man zu sich selbst eine bestimmte Beziehung der Beherrschung, der Bemeisterung herstellt, die man als archê, als Macht oder Führung bezeichnete« (ebd., 260). Ohne diese Selbstführung und -beherrschung kann es leicht passieren, dass man anderen seine Launen und Gelüste aufzwingt, d. h., dass die Zügellosigkeit sich selbst gegenüber in den Machtmissbrauch anderen gegenüber umschlägt. Bezugnehmend auf Seneca (De tranquillitate) nennt Foucault (2004, 171) einen Menschen, der noch nicht »auf dem Weg der Philosophie« und unachtsam sich selbst gegenüber ist, einen stultus, der sich im Zustand der stultitia (lat. Albernheit, Torheit, Einfalt) befindet. Die stultitia sei der Gegenpol zur Selbstpraxis, diese habe es mit der stultitia als ihrem Rohmaterial zu tun, aus der es herauszukommen gelte: 285 Whitehead bezieht sich in einer Randbemerkung direkt auf Sokrates. Er meint: »In jeder Fakultät wird man feststellen, dass einige der brillanteren Lehrer nicht zu denen gehören, die publizieren.« Solche Personen übten oft enormen Einfluss auf ihre Studierenden aus, sie trügen Wissen nicht durch Bücher und Artikel weiter, sondern im direkten Austausch in Vorlesungen und Seminaren. In der Regel ist diese Art, sein Professoren-Dasein zu leben, weniger dankbar, denn man messe heutzutage »den Wert jedes Mitglieds der Fakultät anhand der gedruckten und mit seinem Namen signierten Arbeiten« (ebd., 151). Einer von diesen »unzähligen ohne Dank bleibenden Wohltäter der Menschheit« sei, so Whitehead, glücklicherweise unsterblich: Sokrates.

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Stultus ist derjenige, der sich allen äußeren Anreizen aussetzt, für die äußere Welt offen ist, d. h. derjenige, der alle Vorstellungen, die ihm die äußere Welt zu bieten hat, in seinen Geist einläßt. Er nimmt diese Vorstellungen an, ohne zu prüfen, was sie vorstellen. Der stultus ist der äußeren Welt gegenüber offen, sofern er den von außen kommenden Vorstellungen erlaubt, in sein Gemüt einzudringen und sich mit diesen – mit seinen Leidenschaften, seinen Denkgewohnheiten, seinen Illusionen usw. – zu vermischen. Somit ist der stultus jeder Bewegung von außen kommender Vorstellungen ausgesetzt, ohne, sobald diese in seinen Geist eingetreten sind, fähig zu sein, die Grenze zu ziehen, die discriminatio vorzunehmen zwischen den Inhalten dieser Vorstellungen und den – wie wir sagen würden – subjektiven Elementen, die sich daruntermischen. (ebd., 171–172)

Der stultus, so könnte man sagen, löst sich in der Freiheit auf, er gestaltet sein Leben nicht auf ein Ziel hin, er hat keine zeitliche Planung und ist zudem nicht fähig, »angemessen zu wollen« (ebd., 172). Die scheinbare Freiheit schlägt um in totale Bedingtheit und Abhängigkeit, in Willenlosigkeit bzw. Beherrschtheit durch andere und anderes. Letztlich, so analysiert Foucault (ebd., 174), ist die stultitia durch die Beziehungslosigkeit zum Selbst definiert. Aus dieser komme man nicht so ohne weiteres aus eigenen Kräften heraus, es bedürfe eines anderen. Dieser sei jedoch »nicht der klassische Erzieher […], der Wahrheiten, Gegebenheiten und Grundsätze lehrt« (ebd., 175). Es ginge vielmehr um ein Einwirken auf das Individuum, dem die Hand gereicht wird, um es aus dem Sumpf der stultitia herauszuziehen (Foucault bezieht sich hier auf das Wort eductio als »Herausführen« im Gegensatz zu educatio als »Erziehung«). Dies, so meint Foucault, sei in allen philosophischen Strömungen nur möglich durch das Eingreifen des Philosophen, der Unwissenheit nicht durch die Vermittlung von Wissen bekämpfen wolle, sondern Menschen befähige, im Umgang mit dieser Unwissenheit die Beziehung zu sich selbst einzuüben. Ähnlich bemängelt Whitehead gleichsam als das gegenüberliegende Extrem des stultus, dass die Reduktion von Bildung auf ein bloßes Funktionieren, auf ein diszipliniertes Abarbeiten und Aufarbeiten von Fakten, Menschen begrenze und verdumme: »Die Schüler müssen dazu gebracht werden, zu fühlen, dass sie etwas studieren und nicht lediglich intellektuelle Menuette aufführen.« [H. B. S.] (Whitehead 2015, 49) Auch er bezieht sich auf die »Schulen der Antike«, in welchen Philosophen bemüht gewesen seien, Weisheit zu vermitteln – in modernen Colleges dagegen bestünde unser bescheidenes Ziel darin, Fächer zu unterrichten. (vgl. ebd., 73) 340 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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In der Selbstsorge findet die Freiheit Ausdruck und Begrenzung. Foucault beschreibt dies als Praxis der Freiheit, die konkret Auswirkungen hat auf das Ethos einer Person: »Damit jedoch diese Praxis der Freiheit in einem êthos Gestalt annehmen kann, die als gut, schön, ehrenhaft, achtbar und erinnerungswürdig erscheint, bedarf es eingehender Arbeit des Selbst an sich selbst.« (Foucault 2007, 260) Dabei zeigt sich auch für ihn, dass Disziplin und Freiheit keine Widersprüche sind, sondern einander bedingen, denn nur in der disziplinierten Beschäftigung mit sich selbst erlangen wir die Freiheit, Fremdem so selbstbestimmt wie möglich zu begegnen. Dies ist sowohl theoretisch als auch praktisch leichter gesagt als gedacht bzw. vollzogen. Martha Nussbaum (1994, 9) macht auf eine Schwierigkeit aufmerksam, die eng mit diesem Spannungsfeld von Freiheit und Disziplin, mit den »gelassen-gespannten Wegen der Aiskesis« (zur Lippe 2014, 177), zusammenhängt. Was sie an der griechisch-römischen Philosophie begeistere, so schreibt sie, sei »its practical commitment, its combination of logic with compassion«. Schwer damit zu vereinen sei eine weitere Maßgabe hellenistischen Denkens, die beinahe das Gegenteil fordere: »its advocacy of various types of detachment and freedom from disturbance«. Hier begegnet uns noch einmal die Spannung von Erfahrungsnähe und Erfahrungsferne: Zum einen gilt es, authentisch nah an den eigenen Gefühlen zu sein und mit einem anderen fühlen zu können. Zum anderen darf man nicht eingenommen werden von den eigenen Emotionen oder dem Schmerz des Anderen, um einen »kühlen Kopf« und sichere Distanz bewahren zu können. In diversen geistigen Übungen der Antike zeigt sich jedoch, dass auch dies keine Widersprüche sein müssen. Denn sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen, bewusst mitfühlend (compassionate) sich selbst gegenüber zu sein, hilft, Abstand von ihnen zu gewinnen: »Wer auf seine Gefühle reflektiert, verobjektiviert sie, er trennt sich dadurch in gewisser Weise von ihnen, neutralisiert sie.« (Böhme 2002, 81) Ob dies jedoch wirklich so einfach ist, wie es sich anhört, und ob die Traurigkeit verfliegt, wenn man sich ihrer bewusst wird oder der Zorn ins Stocken gerät, wenn man merkt, dass man wütend ist, wie dies Böhme beschreibt, ist fraglich. Sicher ist jedoch, dass das Nachdenken und wie auch immer geartete Festhalten des eigenen Erlebens etwas konkretisiert, das man bearbeiten kann. Dies belegen beispielsweise Studien zur Mentalisierung (die Fähigkeit, sich mentale Zustände in sich und in anderen vorzustellen, auch Reflexionsfunktion genannt) und deren Bedeutung für die Affektregulierung 341 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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(vgl. Fonagy u. a. 2011). Der Psychologe Julius Kuhl hat sich intensiv mit den Möglichkeiten und Grenzen der willentlichen Handlungssteuerung und der Emotionsregulation auseinandergesetzt. (vgl. Kuhl 2001) Durch die Arbeit an sich selbst erhalten Menschen die Fähigkeit, Selbstkontrolle auszuüben, indem sie Gefühle nicht unterdrücken oder verdrängen, sondern modulieren und integrieren. Brüntrup (2012, 190) schreibt, es sei diese Fähigkeit, die affektive Erstreaktion zu modulieren, die eine autonome Selbstentwicklung ermögliche – und er meint, dieser Gedanke sei alles andere als neu, denn er habe mit dem Begriff der oikeiosis im Zentrum der stoischen Philosophie gestanden. »Die Stoiker beschrieben mit ›Oikeiosis‹ den Prozess des sich Aneignens seiner eignen Natur.« (ebd.) Brüntrup erläutert: Es ist oft diese Fähigkeit, die affektive Erstreaktion zu modulieren, die Selbstbestimmung ermöglicht. Ein jähzorniger Mensch gewinnt an Autonomie, wenn er den Impuls zum Zorn heruntermodulieren kann, ein versonnen grüblerischer Mensch gewinnt an Autonomie, wenn er diese Handlungshemmung abschwächen kann. Das wahre Selbst findet sich also auf einer zweiten Ebene, einer Zweitreaktion, welche die Erstreaktion in einen größeren Zusammenhang des Lebensentwurfs stellt. Der jähzornige Mensch will zwar auf der ersten Ebene sofort losbrüllen, auf der zweiten Ebene will er das aber nicht, weil er ein gerechter Mensch sein will. (ebd.)

Menschen handeln dann frei, wenn sie sich disziplinieren, nicht den ersten Reaktionen folgen, sondern diese vor dem Hintergrund eines »höheren« Wunsches, z. B. besonnen zu antworten, kritisch überprüfen. 286 Dies ist zumindest im ersten Moment oft nicht leicht, weil Emotionen stark sind und es zu inneren Konflikten zwischen »höheren« und »niedrigeren« Wünschen kommt. Auf lange Sicht, d. h. in der ehrlichen inneren Auseinandersetzung und viel Übung und Gewöhnung, lassen sie sich aber so modulieren, dass es zu Verhaltens286 Diesen Gedanken hat vor allem Harry Frankfurt in einigen seiner Veröffentlichungen ausgeführt, vgl. dazu Freedom of the Will and the Concept of a Person (1971), Necessity, Volition, and Love (1999), Taking ourselves seriously & Getting it right (2006). Die Rede von »höheren« und »niedrigeren« Wünschen, bzw. von Willensakten erster und zweiter Ordnung (vgl. Frankfurt 1971, 6 ff.), ist jedoch auch kritisch zu betrachten, denn hinter den als vermeintlich »niedrig« eingestuften Wünschen können wichtige Botschaften im Sinne »höherer« Wünsche stehen und man muss sehr aufpassen, diese nicht vorschnell ins Abseits zu drängen. Außerdem drängt sich hier schnell der Verdacht auf, dass Frankfurt der Kant’schen Unterscheidung von den Sinnen als niedrigen Vermögen im Gegensatz zum höheren Verstand anhängt.

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dispositionen kommt, die zu größerer innerer Freiheit führen, weil man den eigenen Vorstellungen eines sinnvollen Lebens und damit sich selbst näher kommt. Zu üben hieße, uns der vollen Bedeutung von Blockaden bewusst zu werden – »und zwar nicht zu dem funktionalen Zweck, die Behinderung loszuwerden, sondern in dem Bewusstsein, sie anzunehmen als unsere Lebensgeschichte und mit dieser zu verändern« (zur Lippe 2014, 167). Nur durch einen solchen »inneren Mediationsprozess« können Menschen auch stimmig mit äußeren Konflikten umgehen. Besonders deutlich drückt dies Sokrates aus, wenn er von sich sagt, »daß besser meine Lyra verstimmt sein und mißtönen möge oder ein Chor, den ich anzuführen hätte, und daß eher die meisten Menschen nicht mit mir übereinstimmen, sondern mir widersprechen mögen, als daß ich allein mit mir selbst nicht zusammenstimmen, sondern mir widersprechen müßte« (Gorgias 482b-c). Sokrates geht es hier vor allem um das philosophische Nachdenken, um denkend mit sich selbst sein, als Ausdruck der Liebe zur Weisheit. Sie kann dazu beitragen, trotz oder gerade in einer inneren Vielfalt mit sich selbst zusammenzustimmen – und so Freiheit zu (er) leben. Pierre Hadot resümiert nach seiner Untersuchung zahlreicher Praktiken geistiger Übungen in verschiedenen Strömungen der Antike, dass diese sich auf zwei entgegengesetzte, jedoch zugleich ergänzende Bewegungen der Selbstbewusstwerdung reduzieren ließen: »einerseits eine Bewegung der Konzentration, andererseits eine der Erweiterung des Ich« [H. B. S.] (Hadot 1999, 220). Was die vielen Praktiken trotz ihrer Unterschiede eine, sei ihr gemeinsames Ziel: ein Streben nach dem Ideal der Weisheit. Foucault dagegen meint, das gemeinsame Ziel der Selbstpraktiken ließe sich beschreiben als das »allgemeine Prinzip der Umkehr zu einem selber – der epistrophè eis heautón« (Foucault 2015, 89). Diese beiden Aussagen müssen gar nicht so weit auseinanderliegen, wie es zunächst scheinen mag. Denn Weisheit ist ein Wissen, das seine Begründung im praktischen Lebensvollzug erfährt. Sie ist eine habituelle Fähigkeit, die nur als theoretisches Wissen ausbuchstabiert werden kann, wenn sie denkerisch reflektiert wird und im Sinne des logon didonai Rede und Antwort steht. Wahres Wissen sei letztlich ein Können, schreibt Hadot (1999, 34), und wahres Können ein »das Gute Hervorbringen-Können«. Anders gesagt: Weisheit ist gelebtes, erprobtes, aktives Wissen – und dazu ist es unabdingbar, sich selbst als die Voraussetzung der Möglichkeit zu prüfen, etwas zu wissen oder zu erfahren. Dabei kann es 343 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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durchaus weise sein, zu erkennen, dass man nichts oder nur bruchstückhaft weiß (nicht umsonst behauptete das Orakel von Delphi, dass niemand weiser sei als der nichtwissende Sokrates) – und dass man sich gerade aus diesem Grund um sich selbst kümmern, die Beziehung mit sich selbst kultivieren muss. Philosophie sei ein Weg zur Weisheit, schreibt Böhme (1994, 24), »auf dem Wissen eine persönlichkeitsverändernde Wirkung zukommt und auf dem ein psychischer Zustand erreicht wird, in dem man aus dem Wissen heraus handeln kann«. Sich selbst bildend, werden so Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit erreicht, die das Philosophenleben auszeichnen. Kurz: Nur durch die Beschäftigung mit sich selbst begibt man sich auf den Weg zur Weisheit. Allerdings meint Hadot – und hier scheint doch ein wichtiger Unterschied zwischen ihm und Foucault auf – man solle dabei nicht von der culture de soi oder einer »Ästhetik der Existenz« sprechen, sondern von einer »Transformation des Ichs, von einem ›Über-seine-eigenen-Grenzen-Hinausgehen‹« (Hadot 1991, 179). Um diesen Zustand zu beschreiben, komme man um den Begriff der Weisheit als Einsicht in etwas größeres Ganzes, die menschliche Erkenntnisfähigkeit Übersteigendes, nicht herum. Der Philosoph wird sie wie alle anderen Menschen vermutlich nie erreichen können, er strebt sie aber an, »indem er sich bemüht, sich umzuformen, um über sich selbst hinauszukommen« (ebd.). In der Beschäftigung mit etwas, das man selbst nicht ist, das über einen selbst hinausgeht, liegt die Kraft der Veränderung des Selbst. Doch nun wieder zurück zu den beiden Bewegungsformen der Selbstsorge: Bezüglich der Konzentration auf sich selbst erwähnt Hadot zunächst die Askese als Übung eines Lebens im Geist, als Übung seiner selbst durch sich selbst. Diese setze eine Art Verdoppelung voraus, mittels derer das Ich sich weigere, mit seinen Begierden und Verlangen gleichgesetzt zu werden und sich dabei seiner Macht bewusst werde, diese zu kontrollieren. 287 Des Weiteren nennt er die Konzentration auf die Gegenwart. Bei dieser Übung sei das Ich völlig Harry Frankfurt (2007, 18) nennt dies »unser besonderes Talent, uns von dem unmittelbaren Inhalt und Fluß unseres eigenen Bewußtseins abzusetzen und eine Art Spaltung innerhalb unseres Denkens einführen zu können«. Dies etabliere eine nach innen gerichtete kontrollierende Überwachung, die es ermögliche, unsere Aufmerksamkeit direkt auf uns selbst zu richten. Sich selbst ernstzunehmen bedeute, »sich nicht einfach so hinzunehmen, wie man eben ist« (ebd., 16). Auch hier ist davor zu warnen, die ungestüme Sinnlichkeit einer strikten Kommandogewalt des Verstandes unterzuordnen. Denn ich bin auch Leib. 287

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in die Gegenwart »eingegrenzt«, schreibt Hadot (1999, 223). Ein intensiv gelebter Moment sprengt die Ketten ursächlicher Zusammenhänge: »[Das Ich] ›trennt‹ sich von dem, was es in der Vergangenheit gemacht und gesagt hat, und von dem, was es in der Zukunft leben wird.« Hier zeigt sich ein besonderer Wissensmodus, den man mit Foucault (2004, 294) »relational« nennen könnte. Es geht nicht darum, die Welt bzw. die eigene Erfahrung von ihr ursächlich zu verstehen oder zu erklären, sondern sie in konzentrierten Übungen der Wachsamkeit und der Aufmerksamkeit auf sich selbst (prosche) zu reflektieren. Bezugnehmend auf den Kyniker und engen Vertrauten Senecas, Demetrius, schreibt Foucault (ebd.), die Dinge, die uns unmittelbar in unserem Dasein berühren, sollen »nicht erforscht, nicht hinsichtlich ihrer Ursache untersucht werden.« Der Blick auf die Welt bündelt sich in uns selbst »als der stets wiederkehrende und gleichbleibende Bezugspunkt all dieser Beziehungen«. (ebd., 295) Selbstsorge zeichnet sich gerade durch diesen relationalen Wissensmodus aus, der sich in bewusst gelebten Gegenwartsmomenten realisiert. Ähnlich wie oben Whitehead unterscheidet Demetrius zwischen »schmückender Bildung«, die zwar angehäuft und mit der geprahlt werden kann, sich aber in keiner Weise auf die Person auswirken muss, und Erkenntnismodi, die darin bestehen, »daß alle Dinge der Welt […] in bezug auf uns betrachtet werden und insofern in Vorschriften umformuliert werden können, die das, was wir sind, verändern« (ebd., 297). Als eine weitere Möglichkeit der Selbstbegrenzung führt Hadot die Gewissensprüfung an. Ihr ginge es darum, sich des eigenen moralischen Zustands bewusst zu werden. (vgl. Hadot 1999, 230) Das antike Verständnis von Selbstsorge als »gelebte Philosophie« sei im Wesentlichen ein ethischer Akt, »durch den sich die Art zu sein, zu leben und die Dinge zu sehen, transformiert« (ebd.). Es sei sowohl ein epikureisches als auch ein stoisches Prinzip, sich seiner eigenen Schwächen, Verfehlungen, der eigenen Ohnmacht und der Selbstentfremdung bewusst zu werden. Aber – und dies ist wichtig – nicht um sich selbst zu verachten und all die unschönen Teile des Selbst zu verbannen, sondern um darin Wachstumsmöglichkeiten zu entdecken. Es ginge nicht allein darum, Ankläger und Richter seiner selbst zu sein, sondern auch Fürsprecher 288. (vgl. ebd., 233) In den 288 Foucault (2015, 85–86) benutzt den Ausdruck des Inspektors oder Kontrolleurs, der nicht richtet, sondern an wichtige Prinzipien erinnert, damit man aus Fehlern lernen kann, um sich zukünftig besonnener zu verhalten.

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Ausführungen Hadots zeigt sich, dass es bei der Gewissensprüfung aber vor allem um eine bestimmte Form des Ratschlusses geht: Durch die Aufmerksamkeit auf sich soll die Fähigkeit, vernünftig zu handeln, gestärkt werden. Die Vernunft wird zum Ratgeber der Seele. Dies gelingt beispielsweise durch die wiederholte Ermahnung, wichtige Grundregeln des guten Zusammenlebens zu achten, »sich immer wieder aufs neue in die Grundhaltung des Philosophen zu versetzen, die […] darin besteht, die eigene innere Rede zu kontrollieren« (Hadot 1997, 57) – exemplarisch dafür können Marc Aurels Ermahnungen an sich selbst stehen. 289 Nicht selten fand die Gewissensprüfung in schriftlicher Form statt, um das, was man an sich beobachtet und wohin man sich entwickeln möchte, festhalten zu können. Es zeigt sich, dass es dabei nicht bloß um ein »Festschreiben« geht, sondern dass der Vollzug des Schreibens an sich transformative Wirkung entfaltet. 290 Treffend beschreibt der Philosoph und Romancier Peter Bieri die kreativen Kräfte dessen, was Menschen in Momenten stiller Selbstbesinnung schreibend zu Tage zu fördern vermögen: Mehr noch als das Lesen trägt das Schreiben einer Geschichte dazu bei, über das eigene Leben zu bestimmen und es im Sinne einer klareren Identität zu verändern. Eine Geschichte ist nur dann fesselnd und unwiderstehlich,

289 Vgl. hierzu Hadots (1997) Die innere Burg, eine »Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels«. 290 In Über sich selbst schreiben führt Foucault (2007, 137 ff.) aus, dass das Schreiben als das an sich selbst gerichtete Denken sich selbst bildend »Wahrheit in Ethos umwandelt« (ebd., 140). Das Geschriebene wird zu einem korrigierenden Gegenüber, es ordnet (wappnet gegen das Laster der stultitia) und bringt Licht in undurchsichtiges Dunkel der eigenen Gedanken. Durch die Sammlung von zahlreichen Gedanken bildet der Schreibende seine eigene Identität – diese ist aber nicht einstimmig; die eigene spirituelle Genealogie, die geschrieben ihren Ausdruck findet, gleicht vielmehr einem vielstimmigen Chor. (vgl. ebd., 145) In Technologien des Selbst spricht Foucault (1993, 38) auch von einer »Allianz zwischen Schreiben und Wachsamkeit«: durch das Schreiben habe die Selbsterfahrung an Intensivierung gewonnen. Dies sei jedoch keine neue Entdeckung, sondern bereits in den Bekenntnissen des Augustinus deutlich geworden. Als aktuelles Beispiel für das Schreiben als Selbstsorge sei auf die Arbeiten von Reinekke Lengelle und Frans Meijers (vgl. z. B. 2009, 2014) verwiesen. Lengelle/Jardine/Bonnar (2018) schildern passend zur Fallstudie, wie »writing the self« dazu beitragen kann, den Prozess von »truth and reconciliation« vor allem intrapersonal zu unterstützen. Bezugnehmend auf die Anhörungen in Kanada ginge es dabei um »identity transformation« durch die Entwicklung von neuen Geschichten der eigenen Identität und Sinnhaftigkeit. Ganz ähnlich untersucht Mark Freeman (1993) in Rewriting the Self Möglichkeiten der Selbstentwicklung und Identitätsbildung durch das Schreiben.

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wenn sie aus den Tiefen der unbewußten Phantasie kommt. Wer sie schreibt, muß dazu die innere Zensur lockern und zur Sprache bringen, was das Erleben sonst nur aus dem wortlosen Dunkel heraus einfärbt. Man ist nach einem Roman nicht mehr ganz derselbe wie vorher. (Bieri 2011, 25)

Nun zu einigen Formen der Selbstbewusstwerdung als Erweiterung des Ich: Als erstes nennt Hadot hier die Ausdehnung des Ich im Kosmos, d. h. auf die »Totalität des Wirklichen« hin (vgl. Hadot 1999, 235). Dabei handelt es sich um Übungen der Loslösung und Distanzierung, in welchen man sich »seines Seins im Ganzen« bewusst werden soll: »als winziger Punkt mit kurzer Dauer, fähig jedoch, sich auf das riesige Feld des unendlichen Raumes hin zu erweitern und in einer einzigen Intuition die Totalität der Wirklichkeit zu begreifen« (ebd., 239). Gelingt die Ausdehnung oder Dezentrierung des Selbst, eröffnen sich neue Perspektiven, die helfen können, Fremdes weniger selbstbezogen und neugierig offen zu sehen. Hier deutet sich bereits der Blick von oben an, den Hadot als weitere Form der Ausdehnung des Ich anführt. Von oben betrachtet scheinen die Dinge klein, man ahnt die eigene Nichtigkeit im großen Lauf der Welt: Wie Ameisen, die sich auf engstem Raum abmühen, jagen wir Reichtum hinterher, erobern Territorien und verteidigen unsere Grenzen. Hadot (ebd., 241) erwähnt in diesem Zusammenhang den Kyniker Menippus von Gadara, den Namensgeber der »menippeischen Satire«, deren Eigenheiten Michail Bachtin ausführlich analysiert. Dabei wird deutlich, dass der andere Blick nicht nur »von oben« kommen muss, sondern aus den unterschiedlichsten Winkeln (sogar aus Elendsvierteln, Bordellen, Diebesnestern und Tavernen), von welchen aus eine bestimmte Weltsicht bzw. Wahrheit geprüft werden soll. (vgl. Bachtin 1985, 128) 291 Die Menippe sei eine Gattung der »letzten Fragen« (ebd., 129), so erstaunt es nicht, dass die Dinge sogar aus der Perspektive des Todes betrachtet werden – dies verändere unsere Werturteile über sie: »Luxus, Macht, Krieg, Staatsgrenzen und die Sorgen des täglichen Lebens werden lächerlich.« (Hadot 1999, 241) Auch die Beschäftigung mit der Natur, mit Physik, kann als geistige Übung dienen, auch sie impliziert ein neues Verständnis von sich und der Welt. Die 291 Foucault erwähnt, dass Seneca vorschlägt, tatsächlich »allmonatlich kleine Probezeiten ›fiktiver Armut‹ ein[zu]legen, während deren man, indem man sich freiwillig drei oder vier Tage lang ›an den Rändern des Elends‹ aufhält, die Erfahrung des Armenlagers […] macht« (Foucault 2015, 82–83). Dank dieser Übungen könne man im Überfluss Gleichmut bewahren.

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Übung bestünde darin, so Hadot (ebd., 246), »die individuelle Vernunft in Übereinstimmung mit der Natur als der Allvernunft zu bringen […], nicht mehr ›Mensch‹, sondern ›Natur‹ zu sein«. Als letzte Übungspraxis zur Erweiterung des Ich nennt er die Beziehung zum anderen. Oben wurde deutlich, dass wir andere Menschen brauchen, die als »Seelenleiter« fungieren. In der Antike waren dafür hauptsächlich Philosophen verantwortlich. Sie sahen vor allem die moralische Erziehung als ihre Aufgabe. (vgl. ebd., 247 ff.) Als den Prototyp des Seelenleiters könnte man Sokrates bezeichnen, denn er ermutigte, schmeichelte und lobte, er nahm aber auch kein Blatt vor den Mund und traf die Menschen inmitten ihrer schlichten Meinungen und ungehörigen Lebensweise. Neudeutsch könnte man sagen, der Seelenführer oder Psychagoge fungiert als Persönlichkeitsentwickler oder Coach der Menschen, die sich dafür öffnen. Er fordert sie heraus, hinterfragt sie und lässt sie aus sich heraus neue Wege entdecken, um die Einstellungen zu sich und der Welt sowie eingeschliffene Verhaltensweisen zu ändern. Es sind Personen, die es vermögen, vorsichtig Menschen einen Spiegel vorzuhalten, »Feedback« zu geben – aber nicht aus einer überheblichen Haltung heraus, die den anderen klein macht und demütigt, sondern aus der Position des Fürsprechers, dem es um den anderen geht. Hadot (ebd., 254–255) beschreibt diese Haltung mit Marc Aurel als »sanftmütig«. Diese Personen sind sanft und sensibel einfühlsam, zugleich aber auch mutig, entschlossen und ehrlich. Dabei sind sowohl die freimütige Rede als auch das Hören und Annehmen dessen, was man auch an unangenehmen Dingen über sich hört, eine Kunst, die geübt werden will. Es kann keine Methode oder »Kommunikationstechnik« sein, denn jegliche Künstelei und Verstellung würden die Sanftmut zerstören (vgl. ebd., 255). Die Person, die dem Ich zu einer Erweiterung verhilft, kann unterschiedliche Funktionen annehmen, verschiedensten Beziehungsformen entspringen. Foucault (2010, 18–19) spricht von »Status und Gegenwart« dieser anderen Person, die »unverzichtbar dafür ist, daß ich die Wahrheit über mich selbst zu sagen [oder zu hören] vermag«. Sie kann beispielsweise die institutionelle Form des Beichtvaters, des Arztes, des Psychologen oder des Lehrers annehmen, sie kann aber auch ein Freund, ein Liebhaber, ein Philosoph, ein Berater für spezielle Fragen oder ein Mentor, der einen ein Leben lang begleitet, sein – oder sogar ein »irgendwer« (quidam). Die Erweiterung des Ich durch die Fremdbegegnung geschieht auch im Briefwechsel, in dem man »einerseits einen Blick auf den anderen wirft (durch das 348 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Schreiben, das er erhält, fühlt er sich angesehen), und sich andererseits durch das, was man darin über sich sagt, dem Blick des Empfängers aussetzt« (Foucault 2007, 148). An den anderen schreibend ist man ganz bei sich – man ist weder hier noch dort und an beiden Orten gleichzeitig. Der Brief »arbeitet« zugleich an Verfasser und Empfänger, weil das darin Gesagte eine eigene Dynamik entfaltet. Als »Austausch von Seelendiensten« (ebd., 149) sprengt er die Grenzen des Eigenen und schafft ein »Verhältnis von Angesicht zu Angesicht« (ebd., 148). Bei Seneca, Marc Aurel und auch bei Plinius sei die Selbstdarstellung im Brief vor allem eine »Darstellung des Verhältnisses zu sich selbst« (ebd., 149). Wenn es um die Entwicklung der Fremdheitsfähigkeit einer Person geht, liegt es auf der Hand, dass vor allem die Erweiterung des Ich, das Über-seine-eigenen-Grenzen-Hinausgehen, einen zentralen Stellenwert erhält. Damit Menschen dazu in der Lage sind, müssen sie sich auf sich selbst besinnen, sich ihrer Grenzen bewusst werden und diese bewusst setzen, sich selbst disziplinieren. Foucault legt bei seinen Ausführungen vor allem darauf das Schwergewicht, meint er doch, die Konversion, also die Umkehr, die Hinwendung zu sich selbst, sei eine der wichtigsten Technologien des Selbst (vgl. Foucault 2004, 262). Ohne allerdings auch die unerreichbare Fremdheit dessen, was mein eigenes Sein gedanklich, emotional, leiblich und spirituell überschreitet, ernsthaft in Betracht zu ziehen, passiert leicht, was Foucault selbst Zeit seines Lebens kritisch unter die Lupe nahm: Es schleicht sich ein mehr oder weniger unbemerkter Zustand individueller Beherrschung ein, um Fremdartiges in Form und Norm zu bringen, es zu zähmen, zu bändigen oder ruhigzustellen. Dieses Fremdartige findet Foucault im »Wahnsinn« der Irrenhäuser, im »Asozialen« der Gefängnisse, in allem gesellschaftlich »Abnormalen«, aber auch in dem, was man in sich selbst an verborgenen Empfindungen, Begierden oder Regungen der Seele erlebt, die es aufzudecken, zu überwachen und zu beherrschen gilt. Seit jeher gibt es Selbsttechniken, die das Leben abwürgen, die alles Leidenschaftliche und Irrationale nicht erlauben, die das Abartige in den Schatten und in die gesellschaftlichen Randbezirke der Nicht-Orte drängen. Es gibt aber auch Selbsttechniken, die befreien – und zwar nicht, weil sie Fremdes bezwingen, behandeln oder integrieren, sondern ihm begegnen, sich ihm aussetzen und sich darin selbst transformieren. Hier zeigt sich die Paradoxie der Selbstsorge besonders deutlich: den Vorrang erhält nicht das Selbst, sondern der Andere. Eine so verstandene 349 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Selbstsorge beginnt nicht bei mir selbst. Sie zielt auch nicht auf Deckungsgleichheit und Einklang, die Fremdes übertönen, es eingemeinden. Sie sieht vielmehr die unausweichliche Erfahrung der Selbstfremdheit als Motor, der nie gemacht werden kann, sondern geschieht – vielleicht aus Gnade (vgl. Buber 1995, 11). Selbstsorge vollzieht sich als ein Schwingen zwischen Disziplin und Freiheit, zwischen Schub und Zug, zwischen Konzentration auf sich selbst und Erweiterung des Ich. Dabei kommt sie nie ohne Momente der Selbstentzogenheit aus, gerade darin liegt ihr Potential. Hier wäre der Kritik Hadots an Foucaults Vorstellung einer culture de soi zuzustimmen, wenn er schreibt: Es handelt sich nicht um eine Konstruktion des Ichs im Sinne eines Kunstwerks, sondern im Gegenteil um ein über sich selbst Hinauswachsen, oder zumindest doch um eine Übung, mit Hilfe derer sich das Ich in der Totalität ansiedelt und als ein Teil derselben fühlt. (Hadot 1991, 180)

Selbstsorge heißt dabei natürlich immer noch, sich selbst zuzuwenden – es geht aber gerade um die Zuwendung zu etwas, das sich mir entzieht. Selbstsorge beginnt gewissermaßen immer schon beim Anderen, denn Anderes macht sie überhaupt erst erforderlich. Es geht um eine Selbstbegegnung im Selbstverlust, im Nichtwissen, in der Begrenzung und Undurchsichtigkeit meiner selbst, weil es ein »Anderes« gibt, das mein Sein übersteigt. Philosophie als Lebensform und Selbstpraxis zielt ab auf ein Verständnis von Weisheit als Einüben in Fremdes. Sie hat etwas mit Ehrfurcht und Demut zu tun – vor all dem, was wir nicht verstehen können. Die Selbstbegegnung wird zur Fremdbegegnung und die Fremdbegegnung zur Selbstbegegnung. Die Erfahrung, dass wir uns selbst fremd sind und bleiben – trotz aller Disziplinierung und Begrenzung, trotz aller Arbeit und Mühen an uns selbst, ist kein Unglück, sondern großes Glück, denn nur so kommen wir über uns selbst hinaus, nur so werden wir weise.

4.5.3 Selbstsorge und die Priorität des Anderen Es ist auffällig, dass die Schilderung der Geschehnisse in Inuvik (vgl. 1.2.2) unvermittelt an einer Stelle von der dritten zur ersten Person wechselt. Interessant ist, an welcher Stelle sich dieser Wechsel vollzieht – nämlich gerade in dem Moment, als das distanzierte, beschreibende Ich in den Hintergrund rückt und einer übermächtigen Priori350 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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tät des Anderen, in diesem Fall der Inuk, Raum gibt bzw. besser, geben muss. Die Fremdheitserfahrung führt in ein Paradox: Sie zieht dem Selbst den Boden unter den Füßen weg, erschüttert es, bringt es weg von sich selbst, saugt es ein, füllt es aus, bestimmt es. Zugleich wird es sich selbst so präsent und gegenwärtig, es ist sich unausweichlich, leibhaftig selbst aufgegeben. Die Tragik der Szene zieht alle Beteiligten in die Präsenz, sie erleben sich selbst als unmittelbar gegenwärtig. Das Leid der Frau ruft die Anwesenden aus sich heraus. Es trifft und macht betroffen, es meint nicht mehr nur sie selbst, sondern wirkt umfassend auf alle, die sich seinem Zugriff nicht entziehen können. Waldenfels (2002, 54 ff.) spitzt diese Betroffenheit noch zu, wenn er von einem »Getroffensein« spricht, als eine schmerzhafte Erfahrung, »jene Wirkungen […], die sich uns eindrücken; als Ichfremdes hinterläßt die Impression Spuren des Fremden in uns, bevor wir das Geschehene vor-stellen und notfalls Vorkehrungen treffen« [H. i. O.] (ebd., 62). Solche Momente sind Schwellenerfahrungen, Umbrüche zwischen mir und einem oder etwas anderem. Dabei stellt sich die Frage, ob ich zugleich hier und dort bin oder weder hier noch dort. Sicher ist, dass ich mich im Moment der Betroffenheit nicht ohne weiteres entscheiden kann, mich in diese oder jene Richtung zu wenden, es ist vielmehr ein Gefühl, wie auf Treibsand zu laufen, keinen Fuß mehr auf festen Boden zu bekommen. Nichtsahnend und arglos stolpern wir über Fremdes und landen bei uns selbst. Zum »Stein des Anstoßes« wird Fremdes jedoch erst dann, »wenn Pathos, Brüche und Einbrüche einem Selbst zu sich selbst, aber nie völlig zu sich selbst verhelfen« (ebd., 188). Bei der Erfahrung des Getroffenseins handelt es sich nicht nur um eine Grenzerfahrung, sondern um die Erfahrung der Brüchigkeit von Grenzen, der Grenzauflösung oder -überschreitung. »Wer die Schwelle überschreitet, unterzieht sich einer Verwandlung. Die Schwelle als Ort der Verwandlung schmerzt.« (Han 2016, 47) Dies erinnert noch einmal an die Ausführungen Helmuth Plessners, insbesondere an seine Bestimmung des Menschen als utopisches »Grenzwesen«: »Der Mensch, in seine Grenze gesetzt«, so führt er aus, »lebt über sie hinaus […]. Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.« (Plessner 1982, 10) Neben der bewussten Umwendung zum Selbst, vollzieht sich zugleich immer auch ein Umschlag zur Welt, der das Selbst erschüttert, weil seine Grenzen aufbrechen. Gerade durch den Einbruch der Welt spüren wir unsere 351 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Begrenzung. Der Mensch, so führt Plessner aus, lebe auf beiden Seiten dieses Bruchs »als Körper und Seele und als die psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphären« [H. i. O.] (ebd., 11). Diese Einheit, so stellt er klar, überdecke jedoch nicht den Doppelaspekt menschlicher Existenz, »sie ist nicht das den Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären überleitet. Sie ist der Bruch, der Hiatus, das leere Hindurch der Vermittlung, die für den Lebendigen selber dem absoluten Doppelcharakter und Doppelaspekt von Körperleib und Seele gleichkommt, in der er ihn/sich erlebt« [H. i. O.] (ebd.). Das identifizierende Denken sei versucht, das Zwischen als Etwas oder als Jemand, als ein »Mittelglied«, zu denken, meint auch Waldenfels (2015, 219). »Doch damit wäre der Übergang stillgelegt. Im Gegensatz dazu ist das fungierende Zwischen selbst der Übergang.« (ebd.) Anders gesagt: Der Mensch lebt in seiner Grenzöffnung und Aufgebrochenheit zur Welt hin. Seine psychophysische Existenz stellt einen nie endenden Vollzug dar, in den er selbst eingeht. Das »leere Hindurch der Vermittlung« beschreibt die Erfahrung des Ineinanderfließens in der Betroffenheit ganz bei sich und doch außer sich – bei einem oder etwas anderem – zu sein. Das Zwischenereignis, die Passage, entzieht sich dabei selbst, sie bleibt unergründlich, unausdeutbar, leer. Diese utopische Position stellt eine Zumutung dar: »Die Exzentrizität bedeutet für den so Gestellten einen in sich unlösbaren Widerspruch. […] Exzentrisch gestellt steht er da, wo er steht, und zugleich nicht da, wo er steht.« (Plessner 1982, 56) An diesem ortlosen Ort werde ich mir fremd und bin doch ganz bei mir. An ihm offenbart sich eine Wahrheit, die sich mir zugleich entzieht; sie hat, so zitiert zur Lippe (2014, 275) aus der Theologischen Realenzyklopädie, »mit Irrationalität nichts zu tun, wohl aber mit dem Problem der Offenbarung als Geheimnis, der Verborgenheit in der Erscheinung«. Heike Kämpf macht sich Plessners Einsichten zu Nutze und entwirft einen hermeneutischen Verstehensbegriff (des Fremden), »der seine reflexive Struktur in den Horizont eines utopischen Standortes stellt« [H. i. O.] (Kämpf 2003, 21). Nur ein exzentrisches Verstehen, so argumentiert sie, wird sich der Fremdheitserfahrung als strukturelles Moment des Verstehens selbst bewusst. Dieses hält die Möglichkeit des Scheiterns der Verstehensbemühungen stets offen. Der Prozess des Verstehens beschreitet einen Weg der »rückhaltlosen Skepsis« (ebd., 20), die der Heimatlosigkeit eines exzentrisch positionierten Wesens, einer Fremde, aus der es keine Rückkehr gibt, entspringt (vgl. ebd., 23). Fremdheitsfähigkeit zeigt sich hier in der 352 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Fähigkeit, das »chronische Außersichsein« (ebd., 305) nicht nur auszuhalten, sondern als Chance einer »entgrenzten« Öffnung für Fremdes zu begreifen. 292 In der Reflexivität des Verstehens, in der Reflexion auf den Standort des Verstehens, die diesen nicht nur relativiert, sondern destruiert, eröffnet sich eine Erfahrung von Fremdheit, die von der Einsicht in die eigene Ortlosigkeit getragen ist: In dieser Einsicht erfährt der Verstehende das notwendige Scheitern seiner Verstehensbemühungen, insofern sie auf einen endgültigen oder nur vorläufigen Abschluß gerichtet sind. [H. i. O.] (ebd., 21)

Waldenfels greift das Motiv eines Bruches der eigenen Setzungen explizit in Bruchlinien der Erfahrung auf, um seine Phänomenologie des Fremden stärker in diesem Zwischencharakter der Erfahrung zu gründen. (vgl. Waldenfels 2002, 186) Dabei stellt er sich die Frage, »wie das Selbst, das in dem, was an Wirkungen ihm widerfährt, außerhalb seiner selbst ist, sich als Selbst vom Anderen absetzt, so daß ihm Fremdes nicht nur an sich selbst, sondern auch von anderswoher begegnet« (ebd., 207). Hier findet, so meint Waldenfels, eine Art Verdoppelung des Selbst statt (ähnlich wie auch Plessner (1982, 11), der von einem »unaufhebbaren Doppelaspekt« menschlicher Existenz spricht). Vielleicht könnte man dies aber noch treffender beschreiben als ein Auseinandertreten der Erfahrung im Moment des Getroffenseins. Denn ich bin, wie gerade beschrieben, ganz bei mir und zugleich außer mir – aber jeweils anders und nicht einfach nur doppelt. Ähnliches geschieht auf der Seite des Mitseins: Die Inuk zieht mich in ihre Schmerzerfahrung, unsere Gefühle verstricken sich und zugleich bin ich doch außen vor und vermag es, durch Konzentration und Willenskraft, vielleicht auch nur als Schutzfunktion, mich auf meine eigene Position bzw. Grenzen zu besinnen – auch wenn ich die Erfahrung des Mitseins bzw. meines eigenen Fremdwerdens darin nie völlig abschütteln kann. Aus ähnlichen Erwägungen heraus spezifiziert Waldenfels seine These der Verdoppelung und spricht von einer »Selbstverdoppelung im Anderen« [H. B. S.] (ebd., 211), die transitiver Art sei. Denn in der Fremderfahrung laufen Fremd- und Selbst292 Ähnlich schreibt Undine Eberlein (2016, 246): »Sich an das eigene Fremde in der Begegnung mit dem anderen Fremden zu überlassen, kann zu einem Prozess der Transformation führen und eine neue Qualität von ›Verstehen‹ eröffnen: Es wäre die Qualität, im eigenen wie anderen Fremden nicht nur das Bedrohliche zu sehen […], sondern sich in der Begegnung mit ihm zu einem ›Wohin‹ tragen zu lassen, dessen Möglichkeiten noch nicht gekannt werden können.«

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entzug sowie Fremd- und Selbstaffektion dynamisch-wechselwirkend ineinander. Der Ausgangspunkt ist dabei jedoch Anderes, etwas, das mir widerfährt, das sich mir in den Weg stellt, das mich anfragt, berührt, bewegt. »Die Frage, wie ich selbst zum Anderen komme«, sei, so Waldenfels (ebd., 212), von Anfang an falsch gestellt. Denn Widerfahrnisse seien erlittene Wirkungen, »die nicht von mir selbst ausgehen«. Dies bringt uns zu den Überlegungen einer Priorität des Anderen, die in enger Verbindung zu dem steht, was in 4.2. zur Dialogizität des Menschen ausgeführt wurde. Hier gilt es jedoch, sich speziell der Bedeutung des Anderen zuzuwenden, denn oben ging es einerseits um die Erfahrung und transformative Wirkung des Zwischen und um das Selbst, das in sich dialogisch verfasst ist. Deshalb ist es an dieser Stelle dringend geboten, sich insbesondere dem zu widmen, was in gewissem Sinne Ausgangspunkt der gesamten Untersuchung ist: Anderes, bzw. Fremdes, das immer schon das Leben jedes Menschen (mit)bestimmt. Hier soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Fremdes seinen eigenen Stand hat. Bei all der Rede von Selbstsorge und der Erfahrung von Selbstfremdheit darf Fremdes nämlich nicht bloß auf die eigene Biografie bzw. sozio-kulturelle Topografie reduziert werden. Denn es gibt einen eklatanten Unterschied zwischen Fremdheit, die gewissermaßen »aus mir« kommt, mit mir zu tun hat, und der, die mir »von außen« begegnet – auch wenn beide natürlich zutiefst miteinander zu tun haben und sich wechselseitig bedingen. Die Rede von der »Priorität des Anderen« entspringt den Ausführungen Mark Freemans in The Priority of the Other 293. Darin macht er anhand kleiner phänomenologischer Vignetten deutlich, dass wir gut daran täten, »to shift [our] long-standing emphasis on the priority of self – however relationally or dialogically conceived – to the priority of the Other«. (Freeman 2014, 1) Über viele Jahrhunderte europäischer Geschichte hat das Ich gelernt, sich anzueignen, was anderswo seinen Ursprung hat und lebt damit in einer narzisstischen Illusion, die selbstverloren und betäubt Anderes ausgrenzt und missachtet. Wären wir in der Lage, dieses originäre »Anderswo«

293 Freeman selbst bezieht sich hinsichtlich des Titels seines Buches auf Emmanuel Lévinas, spezifiziert dabei aber: »my own use of the phrase refers to both the human and the non-human. Moreover, I attempt to speak about ›priority‹ in a somewhat different way than Levinas, focusing more on issues of concern to psychology. (Freeman 2014, 1 Fußnote 2)

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in uns zu entdecken, erschlössen sich Wege zu Fremdem, denn wir würden nicht länger in uns selbst ertrinken. Ähnlich bemerken Laing, Phillipson und Lee bereits 1966, dass es merkwürdig sei, »wie wir immer noch von einem ich-bezogenen Standpunkt her unsere Theorien entwickeln« (Laing u. a. 1971, 13). In der Philosophie habe man lange nicht erkannt, »daß die Erfahrung des Du oder Er oder Ihnen oder Uns genauso elementar und zwingend (oder mehr noch als das) sein kann wie die Erfahrung des Ich, Mich, Mir« (ebd.). Deshalb wohl plädiert auch Gernot Böhme (2012, 16) für eine »Philosophie des Mir«, denn: »Im Mir erfahren wir uns im Ursprung schon im Zusammenhang mit Anderen.« Das Mir sei im Unterschied zum Ich (denke) relational, schreibt Böhme (2012, 16): »mir fällt etwas ein, mir ist kalt.« Dieser Zusammenhang sei der einer Betroffenheit. Die Anwesenheit des Anderen in mir ist ursprünglicher als das distanzierte Ich, das sich denkerisch vortäuscht, völlig »selbig« zu sein. Das ist es aber nicht, denn die Vernunft, »von ihrem Anderen wegblickend […] erweist sich in ihrem Wesen selbst durch dieses Andere gezeichnet« (ebd., 12). Eine »Philosophie des Mir« hält dem Verstand den Spiegel vor, sie führt der Vernunft ihre Abhängigkeit und Beschränktheit vor Augen. Dadurch wird die Begrenztheit des Ich weich und durchlässig. Dem Mir eingedenk »akzeptiere ich, dass ich nicht Grund meiner selbst bin« (ebd., 17). Hier zeige sich eine neue ethische Kategorie, so Böhme an anderer Stelle (1985, 14), die des »Sich lassens«. Die Selbstsorge im Sinne eines »obliquen Denkens« (im Schrägblick, vom Fremden in sich, auf sich selbst) schwingt zwischen Aktiv und Passiv, zwischen Tun und Erleiden, zwischen Gestaltung und Seinbzw. Sich-lassen. Sie übt sich in einer »medialen Seinsweise« 294 (Böhme 1985, 14), die sich der Priorität des Anderen bewusst ist. Vor dem Hintergrund des Befunds einer »Priorität des Anderen«, die Freeman im Untertitel noch mit Thinking and Living beyond the Self unterstreicht, muss man sich fragen, ob dies dem Postulat der Selbstsorge nicht diametral entgegensteht (und was diese Priorisierung für die Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit bedeutet). In der Folge zeigt sich, dass dies nicht der Fall ist, sondern die Wahrnehmung einer Priorität des Anderen vielmehr wichtige Hinweise für die Selbstsorge liefert, diese sogar noch stützt, gewissermaßen Vgl. hier auch die Ausführungen von Rolf Elberfeld (2011b) in Wie von Selbst. Handlungsformen jenseits von Aktiv und Passiv oder im Abschnitt »Mediale« Handlungsformen in Elberfeld (2017, 328 ff.).

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sogar begründet, und um wichtige Facetten bereichert. Umgekehrt lässt sich allerdings feststellen, dass ohne eine ernsthafte Sorge um sich selbst die Einsichten Freemans in der Gefahr stehen, die von ihm geforderte Priorität des Anderen nicht mehr leben zu können. Mit den einführenden Gedanken in dieses Kapitel wurde bereits deutlich, dass Menschen gerade dann, wenn sie durch die Erfahrung mit Anderem unvermittelt berührt und fortgetragen werden, auf eine besonders intensive Weise zugleich bei sich selbst sind. Freeman würde dem wohl zustimmen, denn er betont »that there is a remarkable, and remarkably fortunate, coincidence between being oriented to the Other […] and living a life characterized by fulfillment and self-realization. Indeed, it may very well be that living the priority of the Other is the surest path both to Self-realization and to the good life we seek, for others and for ourselves.« (Freeman 2014, 50–51) 295 Umgekehrt, so bemerkt der Psychologe, helfe es weder der therapeutischen Arbeit noch dem Heilungsprozess von Menschen, sich allein auf das Selbst zu konzentrieren, es gehe vielmehr darum, der Welt wieder Zugang zu verschaffen, wenn Menschen sich in sich selbst eingeschlossen hätten. Denn, so macht er deutlich, »self is secondary; the Other comes first and is thus the primary source of meaning, value, and existential nourishment« (ebd., 5). Dennoch, so könnte man hier erwidern, muss das Selbst in der Lage sein, sich der Welt (wieder) zu stellen, denn ohne eine vorsichtige Annäherung kann genau das passieren, was sich während der Truth and Reconciliation Hearings ereignete. So gilt es beispielsweise als ein Grundprinzip der Restorative Justice, dass sowohl Täter als auch Opfer sich lange und intensiv mit sich selbst befassen, sich so innerlich auf die Begegnung vorbereiten, damit diese gelingt, d. h. tatsächlich heilende Wirkung hat. Dass gerade »[d]er Andere als Geheimnis, der Andere als Ver295 An anderer Stelle schreibt er: »›[W]ithin‹ and ›without‹ are not as far apart as we might imagine. […] The priority of the Other does not negate the project of authenticity. Nor does it remove us from the ›deepest places‹ in ourselves. On the contrary: our encounter with the Other […] frequently brings us to dimensions of our own inner life that we may never have known before. For, insofar as we can open ourselves to the Other and draw meaning, value, and nourishment from the encounter, we become enlarged.« (Freeman 2014, 35) Besonders intensiv wird das, was Freeman hier beschreibt, wohl in der Liebe. Menschen vermögen es, Ungeahntes aus einander »herauszulieben«, zugleich können sie in unbezähmbare Gefühle des Hasses stürzen, wenn sie verlassen oder betrogen werden. Liebe sei keine Willensentscheidung, schreibt Frankfurt (2007, 58 ff.), sie bedürfe keinerlei Gründe. Liebe sei ein Modus der Sorge, bei dem wir uns mit dem identifizieren, was wir lieben.

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führung, der Andere als Eros, der Andere als Begehren, der Andere als Hölle, der Andere als Schmerz« (Han 2016, 7) notwendig ist für die Selbstsorge, zeigt Han eindrücklich in seinem Buch Die Austreibung des Anderen. Die Ablehnung und Beseitigung der Negativität des Anderen führe zu einem »Terror des Gleichen« (ebd.) und schließlich zur Selbstzerstörung. Denn: Die Negativität des Anderen gibt dem Selben Gestalt und Maß. Ohne sie kommt es zur Wucherung des Gleichen. Das Selbe ist nicht identisch mit dem Gleichen. Es tritt immer gepaart mit dem Anderen auf. Dem Gleichen fehlt dagegen der dialektische Gegenpart, der es begrenzen und formen würde. So wuchert es zur formlosen Masse. Das Selbe hat eine Form, eine innere Sammlung, eine Innerlichkeit, die es dem Unterschied zum Anderen verdankt. Das Gleiche ist dagegen formlos. Da ihm die dialektische Spannung fehlt, entsteht ein gleichgültiges Nebeneinander, eine wuchernde Masse des Ununterscheidbaren. [H. i. O.] (ebd., 9)

Freeman differenziert zwischen zwei Weisen, in welchen der Vorrang des Anderen für das Selbst besonders deutlich wird: »first, as a source of meaning, value, and existential nourishment, and second, as a source of ethical energy and commitment – for simplicity’s sake, aesthetics and ethics. [H. i. O.] (vgl. ebd., 9) Beides sind ganz offensichtlich auch zentrale Momente der Selbstsorge. Nicht umsonst geht es Foucault um die Ästhetik der Existenz, die als Praxis der Freiheit ethisch wird. Der Unterschied zwischen dem, was Freeman im Sinn hat, und der hier bislang hauptsächlich thematisierten Selbstsorge besteht in der Gewichtung der Quelle dieser Sorge und ob sie vornehmlich aktiv vollzogen oder passiv angeregt wird – dass »medial« immer beides zugleich passiert, wurde oben bereits erwähnt. Bei Freeman geht es um »[me] being moved by the other or my responsibility for the Other« (ebd., 10) – Ursprung und Ziel der Sorge ist der Andere. Selbstsorge im antiken Verständnis zielt dagegen vornehmlich auf die Selbsterkenntnis und die Arbeit an sich selbst ab – natürlich mit dem Ziel des ethisch wertvollen Umgangs mit anderen, aber der Bezugspunkt liegt näher am Selbst, das aktiv an sich arbeiten soll. 296 In der Kontroverse zwischen Hadot und Foucault, das wurde 296 Freeman unterscheidet hier auch zwischen zwei Kräften, die, wie er meint, im Menschen am Werk seien: die zentripetale, die Menschen in ihrem inneren Erleben gefangen hält, die das eigene Ego als den Mittelpunkt der Welt versteht und selbstbezogen (er benutzt das Wort oblivion, was man eher mit Selbstvergessenheit übersetzen müsste) lebt, und die zentrifugale, die dann ihre Wirkkraft entfaltet, wenn Anderes einbricht und das Selbst für die Welt öffnet. Er zitiert Iris Murdoch (vgl.

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bereits am Ende des letzten Kapitels deutlich, zeigt sich, dass es diesbezüglich jedoch auch eine Bandbreite des Verständnisses der Selbstsorge gibt. Denn Hadot meint im Gegensatz zu Foucault, die Arbeit an sich selbst habe weniger damit zu tun, eine »Kultur des eigenen Selbst« zu pflegen, als vielmehr damit, über die eigenen Grenzen hinauszugehen, sich auszusetzen und verwandeln zu lassen. (vgl. Hadot 1991, 179) Im phänomenologischen Bemühen, dichter in die verschiedenen Erlebnisfacetten der Fallstudie einzudringen, merkt man, dass beide Enden, Self und Other, in der wechselseitigen Bewegung ihres Getroffen- und Gebrochenseins im »leeren Hindurch der Vermittlung« (s. Plessner oben) sowohl aktiv als auch passiv, bewusst und unbewusst, an sich selbst und aneinander arbeiten. Dabei tritt einmal die Erfahrung des anderen stärker in den Vordergrund (erlangt Priorität), dann wieder das eigene Erleben – eins lässt sich jedoch nie vom anderen trennen. Freeman beschreibt dies mit zwei unterschiedlichen Bewegungen, die er (v. a. im Rückgriff auf Iris Murdoch) attention (Offenheit für Anderes) und unselfing (Arbeit an sich selbst) nennt: [T]here are two fundamental fronts from which to live the priority of the Other, one through attention and the other through intentional unselfing, through purposefully divesting ourselves of self-interest; and although these surely overlap – attention to the Other can lead to unselfing, and vice versa – they remain distinctive inroads into the project of living the priority of the Other, the former being more oriented toward objects outside the self and the latter toward one’s own internal processes. [H. B. S.] (Freeman 2014, 74)

Durch das, was die Inuk in und »zwischen« den Anwesenden auslöste, lässt sich zeigen, wie Ästhetik und Ethik zusammenwirken. Beides drückt sich im Kontext der Fallstudie treffend mit dem Begriff der »Heraus-Forderung« aus. »Heraus« beschreibt die Bewegung, in welche die verzweifelte Frau durch das Fremde, das sie aus sich selbst 1985, 84), die diesen Einbruch und dessen transformative Kraft anhand eines Beispiels deutlich zu machen vermag: »I am looking out of my window in an anxious and resentful state of mind, oblivious of my surroundings, brooding perhaps on some damage done to my prestige. Then suddenly I observe a hovering kestrel. In a moment everything is altered. The brooding self with its hurt vanity has disappeared. There is nothing now but kestrel. And when I return to thinking of that other matter it seems less important. And of course this is something which we may also do deliberately: give attention to nature in order to clear our minds of selfish care.« (Murdoch in: Freeman 2014, 63)

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herauslebte, immer tiefer hineingezogen wurde, je mehr sie außer sich geriet. Zugleich rief sie diese Bewegung in allen, die sie erlebten, hervor: Sie zog die Menschen aus deren gefasster Selbstbezogenheit zu sich heraus. Dabei rührte sie an existenziell menschliche Sinnfundamente, Bedürfnisse und Werte, die den Betroffenen nun stärker bewusst wurden. Sie bewirkte beispielsweise den Wunsch nach Selbstschutz und Selbstkontrolle, nach körperlich-geistig-seelischer Unversehrtheit, Heilung, Grenzen und personaler Souveränität. Gleichzeitig richtete sie durch das, was ihr widerfuhr, die »Forderung« an alle, das Schreckliche, was sie erleben musste, nicht noch einmal zuzulassen und alles zu tun, um ähnliche Verletzungen zu vermeiden. Sie forderte die Menschen auf, an sich selbst zu arbeiten, um nicht so zu reagieren, wie es die Polizisten taten, und ihr auf eine Weise begegnen zu können, die »gut« ist. Die kanadische Geschichte der Assimilation hatte auf einmal ein Gesicht bekommen, aus dem es kein Entkommen mehr gab, das alle in die Pflicht nahm. Freeman (2014, 93) beschreibt dies wie folgt: I am called out of myself, toward that other person, suffering, in need. I know her misery by the directness and immediacy with which I am disrupted and displaced, ejected from »my« world into hers. I also know that, in a profound and abiding way, I am responsible to her and for her.

Die Verbindung von Ästhetik und Ethik, von Beauty und Good bzw. Kunst und Lebenskunst, zeigt sich eindrücklich auch dann, wenn wir durch ein Kunstwerk oder von Musik berührt, angeregt und bewegt werden. Diese sinnlichen Momente der Zuwendung und Achtsamkeit für Anderes (attention) führten, so schreibt Freeman, sich ausdrücklich auf Iris Murdoch stützend, zu bereits erwähntem Prozess des »unselfing«. Damit beschreibt er das Phänomen, dass wir von uns selbst weg in jenes Andere hinein bewegt werden. Im Bereich der Kunst und in der Religion, aber auch in Liebesbeziehungen und Naturerfahrungen scheint es »erlaubt«, erwünscht und gewissermaßen sogar notwendig zu sein, sich gehen zu lassen, hinüberzutreten in eine andere, fremde Welt. In dem, was Freeman bzw. Murdoch hier mit »unselfing« meinen, steckt ein wichtiger Hinweis für die Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit: »Encountering the otherness of art, insofar as it involves unselfing […] attunes us to the separateness and differentness of other people.« (ebd., 63) Murdoch sähe, so meint Freeman, Kunst als eine Art »Übungsplatz« für die Begegnung mit Fremdem: »great art teaches us how real things can be looked at and 359 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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loved without being seized and used, without being appropriated into the greedy organism of the self«. (Murdoch in: Freeman 2016, 12) Eine solche, vielleicht sogar spirituelle Erfahrung macht uns bescheiden und demütig. 297 Sie fordert uns zur Wachsamkeit auf und mahnt uns, nicht zu vorschnellen Schlüssen über den Anderen und über die Welt zu gelangen. 298 Bei Murdoch wird deutlich dass sie, ähnlich wie Laing (1977a), die Erfahrung gegenüber der Vernunft bzw. der Willenskraft rehabilitieren möchte. Dabei spielt bei ihrer platonischen Konzeption der Moral die Erfahrung des Anderen bzw. dessen, was darin an »Schönem« und »ethisch Gutem und Gesolltem« durchscheint, eine besondere Rolle. Bei ihr wird deutlich, dass auch Erfahrung (und die damit verbundene momentane Intuition) »transzendiert« wird, d. h. sie bringt uns über unsere eigenen egozentrischen Grenzen hinaus und vermittelt uns eine Idee des Guten. Dies sei in der Ethikkonzeption Kants – und, so könnte man hier ergänzen, in einigen Ansätzen der Selbstsorge – nicht der Fall: When Kant wanted to find something clean and pure outside the mess of the selfish empirical psyche he followed a sound instinct but, in my view, looked in the wrong place. His inquiry led him back again into the self, now pictured as angelic, and inside this angle-self his followers have tended to remain. (Murdoch 1985, 83)

Der ethische Imperativ des »unselfing« ist vor allem deshalb wichtig, weil er »realistisch« davon ausgeht, dass Menschen nicht »engelsgleich« kühl und rational Entscheidungen treffen, sondern ihre Entscheidungen zumindest in großen Teilen von dem geprägt werden, was eine Person im Innersten ausmacht. 299 Freeman benutzt in diesem Zusammenhang auch immer wieder das Wort devotion und erläutert angesichts der »Hingabe« an ein Kunstwerk: »Even if I am not devoted to this person or to that poem or song or painting, I am indeed devoted to the spirit ›behind‹ it, the spirit that allows it to become an instantiation, an embodiment, of something beyond itself.« [H. i. O.] (ebd., 37) 298 Dies erinnert an die Ausführungen von Lisbeth Lipari in Listening Otherwise. The Voice of Ethics (2009) oder in Listening, Thinking Being. Toward an Ethics of Attunement (2014) und natürlich an Emmanuel Lévinas, auf den sich sowohl Freeman als auch Lipari beziehen. Mit oben (vgl. 4.2.1) bereits erwähntem Listening Otherwise meint Lipari genau das, was Freeman hier im Sinn hat: »[Listening Otherwise] suspends the willfulness of self and fore-knowledge in order to receive the singularities of the alterity of the other.« (Lipari 2009, 44) Daraus erwächst eine Ethik des Zuhörens, »that is awakened and attuned to the sounds of difference« (ebd.). 299 Dazu führt sie aus: »By opening our eyes we do not necessary see what confronts us. We are anxiety-ridden animals. Our minds are continually active, fabricating an 297

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Die Erfahrungen des »attending« und »unselfing« in der Begegnung mit Anderem bereichern (aesthetics) und fordern (ethics) uns sicher immer wieder heraus. Es ist jedoch weder gesagt, dass sie gleichsam automatisch im Sinne der Fremdheitsfähigkeit habituell ihren Niederschlag finden, noch könnte man annehmen, dass diese Erfahrung grundsätzlich zu positiven Konsequenzen führt – allzu oft ist das Gegenteil der Fall. An einer Stelle schreibt Freeman, wir müssten »somehow deepen our attention to and regard for the other in his or her otherness, his or her differentness – not […] as the Alien, the feared and dreaded Other, but as the unique being he or she is« [H. B. S.] (ebd., 88). Natürlich hat er damit Recht, führt aber zunächst nicht weiter aus, was genau er mit »somehow« meint. Es ist schwer, vielleicht sogar unmöglich, die Priorität des Anderen zu leben (oder auch manchmal einfach nur auszuhalten), wenn man sich nicht auch um sich selbst sorgt. Dies scheint Freeman wohl zu ahnen, wenn er fragt: »But how does one arrive at this sort of attentive, comparatively self-less place?« (ebd., 73) Er verweist auf einige Selbsttechniken wie Meditation und Kontemplation und auf Achtsamkeitsübungen der buddhistischen Tradition (vgl. ebd., 12, 3 Fußnote 5), die ihn letztlich aber nicht befriedigen. Denn auch wenn diese Praktiken sicher wichtig seien, um sich selbst für die Erfahrung des anderen zu öffnen, seien sie doch vornehmlich »solitary in nature, the ›object‹ at hand mainly being one’s own inner processes […] and are thus in something of a tension with the kind of Other-directed focus« (ebd., 205). Bezugnehmend auf Simone Weil erwähnt er zudem eher zögerlich, dass wir vielleicht sogar so weit gehen müssten, von Selbstauflösung oder sogar von Selbstzerstörung zu sprechen (Weil benutzt ursprünglich den Begriff décréation, der darauf hinweist, dass es ihr nicht nur um Zerstörung, sondern um eine Entwicklung hinein in etwas Neues, Umfassenderes geht). Nur so könne der unersättliche Appetit unseres Egos eingedämmt werden, sodass Raum entstehe für die Begegnung mit Anderem. (vgl. ebd., 75) Weils Überzeugungen spiegeln sich in Byung-Chul Hans Ausführungen zur Philosophie des Zen-Buddhismus (was nicht weiter verwundert, denn sie hat sich u. a. intensiv mit buddhistischen Texten befasst). Ohne darauf intensiver eingehen zu können, sei dies kurz erwähnt, denn hier finden anxious, usually self-preoccupied, often falsifying veil which partially conceals the world.« [H. i. O.] (Murdoch 1985, 84) Vgl. dazu ausführlich David Gordons (1995) Iris Murdoch’s Fables of Unselfing.

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sich, noch einmal etwas anders gewendet, hilfreiche Hinweise für das, um was es hier hinsichtlich einer Priorität des Anderen geht. Analog zum Konzept des »unselfing« thematisiert Han (2002a, 64) die buddhistische Vorstellung der »Niemandigkeit« 300, die er u. a. abgrenzt von der Leibniz’schen Monade, welche gleichnishaft für einen westlich-egozentrischen Weltbezug stehen kann: Die Seele ist für Leibnitz eine »Monade«, die wie ein Spiegel das Universum in sich spiegelt. Ihr ist jedoch nicht jene Stille und Selbstlosigkeit eigen, die sie zu einem freundlichen Widerhall der Welt werden ließe. Ihre Widerspiegelung vollzieht sich vielmehr als eine aktive Vorstellung (perception). Ihr wohnt ein »Streben« (appetition, appetit, appetitus) inne. Das lateinische Verb appetere bedeutet »nach etwas greifen, auf etwas losgehen« oder »etwas angreifen«. So ergreift die Monade vorstellend die Welt. […] Der Appetit erhält die Monade am Leben bzw. am Sein. Die Abwesenheit des Appetits käme dem Tod gleich. (ebd., 62)

Durch das aktive Begehren und Einverleiben der Welt ist der Mensch ein »Jemand«, denn er »erwirkt« sich selbst. Ihm wohnt »die Selbstbezüglichkeit des Sich-Wollens« inne. Die zen-buddhistische Übung dagegen lasse das Herz fasten, »bis ihm ein ganz anderes Sein, ein Sein, das ist ohne appetitus, zugänglich wird« [H. i. O.] (ebd., 63). Der Monade fehle die Offenheit zur Welt. Fensterlos blicke sie in sich selbst eingeschlossen »autistisch vor sich hin« (ebd.). 301 Dem Seienden im Zen-Buddhismus dagegen wohne eine schrankenlose Offenheit inne, als bestünde es nur aus Fenstern. »Jedes Seiende«, so Han, »spiegelt sich in allen anderen Seienden, die ihrerseits es widerspie300 Ähnlich erläutert Elberfeld (2011a, 32–33), zentrales Merkmal des Menschen nach buddhistischer Analyse sei, »dass er keinen Wesenskern besitzt und von keiner beständigen personalen Substanz getragen wird. Es gilt vielmehr, immer wieder Einsicht zu gewinnen in die eigene Existenz als ›Nicht-Ich‹«. Auch der Jesuit und Zen-Lehrer Stefan Bauberger (2010, 48) betont, die buddhistische »Anatta-Lehre« von einem »Nicht-Selbst« sei vor dem Hintergrund und als Entgegensetzung zu einem religiösen Einheitsverständnis formuliert. Eine Entsprechung dazu finde er bei Ignatius von Loyola: »Das soll ein jeder bedenken, dass er in allen geistlichen Dingen nur insoweit Fortschritte machen wird, als er herausspringt aus seiner Eigenliebe, seinem Eigenwillen und seinem Eigennutz.« (ebd., 49) In diesem Zusammenhang stehe auch die Rede von der »Abtötung« als »Kern des ignatianischen Wegs zu Christus und zu Gott« (ebd.). 301 Auch Freeman (2014, 203) bedient sich des Bildes der Monade, wenn er schreibt: »Ordinarily, we exist in state not only of ordinary oblivion but of what might be called a kind of monadic dispersion. We go about our own business, intersecting with others […] but basically doing our own thing.« [H. i. O.]

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geln«. (ebd., 64) Dieses Hin-und Her-Spiegeln sei die Wirklichkeit der Welt, denn sie finde ohne ein einseitiges Begehren, ohne den Wunsch, Anderes einzuverleiben, statt. Nur der reine Spiegel, der sich fastend in die eigene Nichtigkeit einübt, und so in sich leer ist, vermag es, alles zu beherbergen. Seine »Niemandigkeit macht ihn […] gastfreundlich gegenüber jedem Seienden, das ihn aufsucht« (ebd., 64). Dem eigenen, umgrenzten Ich anzuhängen, allein nach dem zu streben, was für einen selbst gut ist, sei aus Sicht des Buddhismus, so Elberfeld (vgl. 2011, 33), eine der zentralen Ursachen des Leidens, welches es aufzulösen gelte. Stefan Bauberger (2010, 50) differenziert dies noch etwas, wenn er meint, das Nicht-Selbst habe eine grundlegendere Bedeutung als das Nicht-Ich, als den Versuch, das Ego zu überwinden. Denn der asketische Kampf gegen das Ego führe »meist nur zur Verdrängung unerwünschter Anteile der eigenen Persönlichkeit, die in der Verdrängung indirekt umso zerstörerischer wirken.« Die Verwirklichung von Anatta (bei Elberfeld 2004, 72: anātman), von Nicht-Selbst, so fährt er fort, habe zwei Seiten: »Einerseits wird das Selbst verneint, andererseits wird das Selbst entgrenzt.« (ebd.) Hier wird deutlich: Es geht nicht um einen Kampf gegen sich selbst, sondern um die Übung des Sich-Selbst-Aussetzens und Entgrenzens, vielleicht sogar der Hingabe an Anderes, Fremdes. Man muss allerdings nicht, um mit Böhme (2012, 14) zu sprechen, allein Anleihen bei östlichen Weisheitslehren nehmen, denn auch in der westlichen Tradition lassen sich ähnliche Gedanken finden. Deutlich wird dies beispielsweise in dem, was Hadot (1991, 29 ff.) unter der Überschrift »Sterben lernen« als geistige Übung der Antike darstellt. 302 (vgl. auch Hadot 1999, 222 ff.) Sokrates habe das Gute dem Sein vorgezogen, deshalb habe er sterben müssen. Eine Philosophie, die es ernst meint mit dem Leben, riskiert den Tod. Der Grund hierfür sei, so meint Hadot (1991, 29), »daß der Logos eine Forderung nach universaler Rationalität darstellt, […] die sich dem ewigen Werden und den wechselnden Begierden des individuellen körperlichen Lebens entgegenstellt.« Für Platon bestehe die Übung im Sterben vor allem in einem Perspektivwechsel: von der Individualität hin zur Universalität. (vgl. ebd., 32–33)

302 Vgl. hier z. B. den Versuch Karl-Heinz Pohls (2010), die Ausführungen Montaignes in Philosophieren heißt sterben lernen zu vergleichen mit der chinesischen Tradition.

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Das Denken an den eigenen Tod als die Auslieferung an ein »radikal Fremdes« (Waldenfels 1997, 36–37) bereichert das Leben, es relativiert und führt uns, wenn wir es wagen, uns der Angst vor dem Tod zu stellen, zu »eigentlicher Existenz« (vgl. Heideggers »Sein zum Tode«, das Hadot (1991, 31) an dieser Stelle erwähnt und damit die, wie er meint, »außerordentliche Bedeutung« der Übung im Sterben für die abendländische Tradition unterstreicht). Diese Praxis, durch die Vorstellung der eigenen Endlichkeit bewusst im Hier und Jetzt zu leben, findet sich vielerorts in der hellenistischen Tradition. Sie tritt beispielsweise deutlich in Senecas De brevitate vitae zutage. In einer häufig zitierten Stelle (vgl. auch Freeman 2014, 69–70) heißt es: Ihr lebt, als würdet ihr immer leben; niemals werdet ihr eurer Gebrechlichkeit bewußt; ihr habt nicht acht darauf, wieviel Zeit bereits vorüber ist; ihr verschwendet sie, als wäre sie unerschöpflich, während inzwischen gerade der Tag, der irgend einem Menschen oder einer Sache zuliebe hingegeben wird, vielleicht der letzte ist. (Seneca 2000, 77) 303

Auf was Freeman hinaus möchte, zielt jedoch über das, was Seneca, Aurel oder Epiktet als »geistige Übungen« vorsehen, hinaus. Denn es geht ihm nicht nur um ein Denken an die eigene Sterblichkeit, welches dazu beitragen soll, sinn- und tugendhaft im Heute zu leben. Es geht vielmehr darum, tatsächlich zu sterben und zwar angesichts der Erfahrung des Anderen, der meinen Egozentrismus radikal in Frage stellt. Der Anspruch der Fremdheitsfähigkeit besteht darin, so könnte man vielleicht sagen, sich der Priorität des Anderen auszusetzen, sich in sie hineinzuleben und dadurch selbst »niemandig« zu werden. Demgegenüber führt der Kampf gegen das Sterben in einen unsäglichen Identitätszwang. (vgl. Han 2002b, 15) »Verhindert werden soll jeder Ansatz zur Verwandlung. […] Man verbietet nicht nur sich selbst, sondern auch dem Anderen jede Verwandlung, denn diese erschwert den aneignenden Zugriff.« (ebd.) Hier scheint ein deutlicher, qualitativer Unterschied auf zwischen einer theoretischen Besinnung über das Sterben, die ich für mich allein praktiziere und vermöge Vgl. auch Epiktet (2012, 29, § 21): »Tod, Verbannung und alles andere, was furchtbar erscheint, halte dir täglich vor Augen, vor allem aber der Tod, und du wirst niemals schäbige Gedanken haben oder etwas maßlos begehren.« Oder Marc Aurel (2015, 26): »All dein Tun und Denken sei so beschaffen, als solltest du möglicherweise im Augenblick aus diesem Leben scheiden.« Dieser Gedanke, vom Tod aus auf das Leben zu blicken, wird auch von aktuellen AutorInnen aufgegriffen, vgl. z. B. Practicing Mortality. Art, Philosophy, and Contemplative Seeing von Christopher Dustin und Joanna Ziegler (2005). 303

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derer ich mir den Schrecken des Todes sogar noch rational überhöht vom Hals halten kann, und der Öffnung für die Erfahrung des Sterbens, die sich aller Verzweiflung, Entgrenzung, Erschütterung, Trauer und Angst aussetzt. Heidegger (1986, 258) beschreibt treffend die existenzielle Gefühllosigkeit des »Man«-haften, die bei aller Rede über das Sterben doch ein »tatenloses Denken an den Tod« bleibt. Denn der Gedanke daran, dass »man« einmal sterben müsse, führt dazu, dass man sich des eigenen Todes nicht »eigentlich« gewiss sei – und zugleich sei man es doch, aber nur »uneigentlich« in einem alltäglichen Sinne. (vgl. ebd., 256) Das »Man« entlastet und schützt vor echter Betroffenheit, es schützt vor der überbordenden Fremdheit des Todes. Der Tod soll »als Mögliches möglichst wenig von seiner Möglichkeit zeigen« (ebd., 261). Das rationalistische Grübeln über den Tod bricht seine schmerzhafte Spitze, die es auf mich abgesehen hat, es schwächt ihn »durch ein berechnendes Verfügenwollen« (ebd.). Fremdheitsfähigkeit dagegen, so könnte man mit Heidegger sagen, konstituiert sich durch ein »befindliches Verstehen« (ebd., 260). Eigentliches Sein auf die Fremdartigkeit des Todes hin »kann vor der eigensten, unbezüglichen Möglichkeit nicht ausweichen und in dieser Flucht sie verdecken und für die Verständigkeit des Man umdeuten« [H. i. O.] (ebd.). Das »Vorlaufen« zu einem »unbestimmt gewissen Tode« (ebd., 265) führt in die Angst und befreit aus der Verlorenheit des »Man-Seins«. Aber auch bei Heidegger bleibt das Sein zum Tode vornehmlich das Sein zum eigenen d. h. jemeinigen Tode. Denn eigentliches Sein zeichnet sich für ihn dadurch aus, dass es sich von sich selbst her ermöglicht. (vgl. ebd., 263) D. h., es geht vornehmlich um mein Sein, für das ich Sorge tragen muss. Dieser »Primat des Selben« ist es, den Lévinas (vgl. 1993, 55) am »egologischen« Denken Heideggers und an der gesamten abendländischen Philosophie bemängelt. (vgl. ebd., 53) In kritischer Abgrenzung zu Heideggers Terminologie der Seinsvergessenheit beklagt er die Vergessenheit der Andersheit, die zwar in der Geschichte des Denkens vorkommt, aber auf je unterschiedliche Weise nur im Rahmen eines »Selben«. Dadurch ist es nicht mehr möglich, Anderes als es selbst, als Anderheit zu denken. Es wird neutralisiert und eingenommen. (vgl. ebd., 51) Was nun, so muss man sich hier vorläufig abschließend fragen, bleibt festzuhalten für die Selbstsorge angesichts der Priorität des Anderen? Was ist gewonnen für die Suche nach Wegen zur Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit? 365 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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Die Priorität des Anderen ernstzunehmen, heißt sterben lernen. Das kann aber nie ohne mich, d. h. ohne eine bestimmte Form der Selbstsorge, gelingen. Dieses Kapitel hat gezeigt, dass die Sorge als Sterben des eigenen Egos auf Fremdes hin geschieht, sie vollzieht sich als Hingabe. Iris Murdoch (1985, 103) bringt diesen Gedanken treffend zum Ausdruck, wenn sie schreibt: Goodness is connected with the acceptance of real death and real chance and real transience and only against the background of this acceptance, which is psychologically so difficult, can we understand the full extent of what virtue is like. The acceptance of death is an acceptance of our own nothingness which is an automatic spur to our concern with what is not ourselves.

Die Priorität des Anderen meint hier jedoch nicht, wie dies bei der z. T. mystisch-verklärten platonischen Konzeption Murdochs der Fall ist, eine für alle potenziell zugängliche, absolute Idee des Guten, »die allen Wahrnehmungen ihre eigenen Beziehungen auf ein Wahres nimmt« (zur Lippe 2014, 250), sondern eher im Sinne von Lévinas das konkrete Ereignis der Andersheit, das meine Freiheit und damit mich selbst, anficht. 304 Fremdheitsfähig ist – und hier kann man Murdoch und auch Freeman wieder folgen – eine Person, die demütig ist. Nur selten treffe man einen Menschen, so schreibt Murdoch, »in whom [humility] positively shines, in whom one apprehends with amazement the absence of the anxious avaricious tentacles of the self« (ebd.). Ein solcher Mensch vermöge es, Anderes so zu sehen, wie es ist, »because he sees himself as nothing« (ebd., 103–104). Hier zeigt sich Freiheit in der disziplinierten Überwindung des Selbst, sie drückt sich in selbstlosem Respekt für meinen Gegenüber aus. Dieser Prozess des »unselfing« meint jedoch nicht, sich selbst in einem negativen Sinne völlig aufzugeben, sondern vielmehr in einem positi304 Iris Murdoch (in: Trampota 2003, 158) versucht allerdings in gewissem Sinne auch, die Priorität allgemeiner Ideen auf den Boden konkreter Lebensvollzüge zu holen wenn sie schreibt, »moral terms must be treated as concrete universals«. [H. B. S.] Damit richtet sie sich auch wieder gegen Kants Postulat, der Mensch sei ein abstraktes Vernunftwesen, das einem allgemeinen Moralgesetz unterworfen sei und plädiert dafür, den Menschen mit all seinen Facetten zur respektieren. Dazu gehört auch ihre Kritik am »fehlenden Sinn für das Geheimnisvolle im menschlichen Leben« (Trampota 2003, 144). Denn ganz entscheidende Prozesse im Menschen würden sich jenseits dessen ereignen, was wir klar und deutlich verstehen können. Deshalb sei »das ›Schauen‹ – als das der geheimnisvollen Rätselhaftigkeit menschlichen Lebens angemessene Verhalten – im guten Leben […] wichtiger […] als transparente Denkprozesse« (ebd., 145).

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ven, doppelten Sinne sich selbst zur »Aufgabe« zu werden, sich in die Aufgabe des Selbst einzuüben. 305 Schon längst zeichnet sich ab, dass die Philosophie als Selbstsorge hier zu einem äußerst paradoxen Unterfangen wird. Denn als eine Praxis des Hineinlebens in Anderes hebt sie sich gewissermaßen selbst auf und entfaltet gerade darin ihre Wirksamkeit. Der japanische Philosoph Ryōsuke Ōhashi meint, um sich selbst und seine eigene Abgründigkeit sehen zu können, müsse man sich lassen und verlassen. (vgl. Ōhashi 1999, 163) Das vorstellende Ich müsse zunichte gemacht und »ichlos« werden. (ebd., 175) Dies widerspreche allerdings einem zentralen Selbstverständnis der Philosophie und deren Hauptaufgabe des gnothi seauton. Denn: »Wo solches Lassen möglich wird, geschieht eine radikale Vorwegnahme der Auflösung der Philosophie.« (ebd., 163) Fremdheitsfähigkeit als »Lassen und Verlassen seiner selbst« heißt, in der Lage zu sein, sich von Anderem verwandeln zu lassen. Sie bedeutet, über sich selbst hinauszudenken und von dort aus leben zu lernen. 306 Iris Murdoch warnt davor, auf diesem Vgl. hier auch Kant (MS, AA 6, 435), der Demut als das »Bewußtsein und Gefühl der Geringfähigkeit seines moralischen Werts in Vergleichung mit dem Gesetz« [H. i. O.] versteht. Das eigene Vermögen, sich »dienstwillig« unter das moralische Gesetz zu stellen, durch die freiheitliche Tat die eigene Freiheit zu begrenzen, ist Ausdruck von Demut und Würde. Dies dürfe aber nicht zu falscher Demut, d. h. Geringschätzung der eigenen Person, Kriecherei oder Selbstverleugnung, führen. Denn dies liefe der Achtung gegen uns selbst zuwider. Hier sei jedoch noch einmal erwähnt, dass Kant dem Primat des Selbst treu bleibt. Bei Lévinas und Murdoch besteht die Freiheit nicht darin, autonom bei sich selbst zu beginnen, sondern beim Anderen bzw. bei etwas, das außerhalb des Selbst liegt. Ethik wird heteronom, d. h. fremdbestimmt. Die Entmachtung des autonomen Selbst läuft auf einen Entzug hinaus, den es auszuhalten gilt. 306 Bezogen auf die Betrachtung eines Kunstwerks beschreibt Han (2002a, 74) dies wie folgt: »Die Landschaft erschöpfend betrachten heißt nicht, sie vollständig erfassen. Einen Gegenstand vollständig erfassen würde bedeuten, sich seiner ganz bemächtigen. Die Landschaft erschöpfend betrachten heißt dagegen, von sich wegsehend sich in die Landschaft versenken.« [H. i. O.] So kann es auch sein, dass der Künstler nicht nur seine Kunst erschafft, sondern umgekehrt die Kunst seinen Künstler. Vgl. Heidegger (2015, 7): »Der Künstler ist der Ursprung des Werkes. Das Werk ist der Ursprung des Künstlers. Keines ist ohne das andere.« »Die Verwandlung ist der Traum vieler Künstler«, schreibt Yoko Tawada (2001, 57) und erzählt die japanische Geschichte eines Mönchs, der Künstler war, und immer Fische malte, bis er selbst zu einem Karpfen wurde. Über einige Umwege verwandelte er sich später wieder zurück, nahm dann jedoch mehrere seiner Karpfenbilder und versenkte sie im See. »Dort lösten sich die gemalten Karpfen von Papier und Seide und tummelten sich munter im Wasser.« (ebd., 58) 305

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Motive der Selbstsorge in der Begegnung mit Fremdem

Weg über sich selbst hinaus das flackernde Feuer in Platons Höhle vorschnell mit der Sonne zu verwechseln und dort stehenzubleiben. Das Feuer, so meint sie, repräsentiere das Selbst, »the old unregenerate psyche, that great source of energy and warmth« (Murdoch 1985, 100). Die Gefangenen stünden in der Gefahr, sich an diesem Punkt auf ihrem Weg aus der eigenen Verblendung mit einem bestimmten Level an Selbsterkenntnis zufriedenzugeben: »They can see in themselves the sources of what was formerly blind selfish instinct. […] The fire may be mistaken for the sun, and self-scrutiny taken for goodness.« (ebd., 101) Anstatt in der Sorge um sich selbst zu kreisen, sich am wärmenden Feuer einzurichten, gilt es, um noch einmal einen Gedanken der buddhistischen Tradition aufzugreifen, »ohne Sorge zu sein, die Welt ohne Sorge um sich in ihrem So-sein wahrzunehmen.« [H. i. O.] (Han 2002a, 73) Denn, so führt Han aus, der Mensch ohne Sorge hüte kein »Ich-bin«. Er verwandle sich dem Lauf der Dinge entsprechend, anstatt bei sich und gleich bleiben zu wollen. »Sein niemandiges, selbstloses Selbst besteht aus Spiegelungen der Dinge. Er leuchtet im Licht der Dinge.« (ebd.) Wie bereits erwähnt, soll hier nicht einer universalen Idee des Guten gehuldigt werden, es geht vielmehr um etwas, das sich in der wechselseitigen Spiegelung, d. h. im Vollzug des Mitseins ereignet, das alle Versuche, mich selbst oder Anderes zu erschließen, sprengt. Gewiss erschlösse die Philosophie die Bedeutung dieser Ereignisse, schreibt Lévinas (1993, 30), aber sie »ereignen sich, ohne in der Erschlossenheit (oder der Wahrheit) ihr Ziel zu haben«. »Das, worauf wir antworten«, so könnte man auch mit Waldenfels (1997, 52) sagen, »übersteigt stets das, was wir zur Antwort geben.« Im Ereignis der Berührung mit Fremdheit vermögen Menschen etwas zu erleben, das man als spirituell-transzendente Erfahrung bezeichnen kann. In der konkreten Begegnung, die immer eingebettet ist in bestimmte soziokulturelle und zeitgeschichtliche Bezüge, scheint der Anspruch eines »Guten« auf, der die Kontextualität der Situation übersteigt, ohne sie aufzuheben. Bei Lévinas ist dies verkörpert im menschlichen Antlitz als die Epiphanie der Unendlichkeit des Anderen; bei Buber (1995, 71) sind es die »verlängerten Linien der Beziehung«, die sich im »ewigen Du« schneiden. »Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm«, schreibt er. Die Priorität bzw. Autorität dieses ganz Anderen fordert eine Selbstsorge der Hingabe, sie erfordert einen Denkraum, der sich ganz der Alterität aussetzt und dabei sich selbst gegenüber wachsam

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Epimeleia Heautou: Philosophie als Selbstsorge

bleibt. Das ist es wohl auch, was Freeman (2014, 180 ff.) mit »living ex-centrically« meint. Eine Warnung sei am Ende dieses Kapitels noch ausgesprochen: Es ist gefährlich, die Priorität des Anderen als goldenes Kalb zu vergötzen, nachdem der Narziss des Vernunftmenschen von seinem Sockel gestoßen wurde. Anderes ist nämlich nicht nur gut, sondern bedarf der kritischen Reflexion – gerade das ist die Aufgabe der Philosophie als Selbstsorge. Self ist nicht nur »secondary« – und zwar weder ontologisch (natürlich durchzieht mich in Teilen sogar bereits vorgeburtlich Anderes und ich kann all das nie gänzlich einholen, aber ich kann vielem davon nachspüren, es bearbeiten und zu meinem machen oder auch nicht) noch ethisch (denn wenn ich dem Anspruch meiner eigenen »Unendlichkeit« ausweiche, kann ich Anderem nur totalitär vereinnahmend begegnen).

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5. Versuch eines Resümees

Die Untersuchung hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Wege der Selbstzuwendung zu erkunden und Möglichkeiten zu entdecken, diese in unterschiedlichen Übungswegen zu beschreiten, um die Fremdheitsfähigkeit einer Person zu kultivieren. Sie ließ sich – ausgehend von einer konkreten Erfahrung – auf eine phänomenologische Bewegung ein, die unterschiedliche Facetten des Selbst in verstörenden Fremdheitserfahrungen erkundete, welche zu Wegweisern für die Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit wurden. Dabei war der Weg selbst das Ziel. Die Einsichten daraus jetzt auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, würde zu einer gewaltvollen Reduktion und Verflachung dessen führen, was sich im Gang der Untersuchung zeigte und diese selbst ad absurdum führen. Dies liegt auch in der Natur der Sache, die sich nicht in einem zusammenfassenden Fazit greifen lässt und an der Methode, die der Sachfrage – ihr gemäß – Raum geben und sie eben gerade nicht fassen wollte. Nachfolgendes Resümee stellt deshalb nicht etwas »Übergeordnetes« fest, es steht nicht »über« den Dingen, um sie auf den Begriff und in eine Ordnung zu bringen. Es versucht vielmehr vorläufig und provisorisch, wiederkehrende Motive zu beschreiben und deren Bedeutung für die Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit im Sinne einer vorsichtigen Typisierung zu interpretieren. Anstatt also ein (über-) geordnetes Ergebnis, eine bündige Antwort auf die Frage, wie sich die Fremdheitsfähigkeit einer Person entwickeln lässt, zu unterbreiten, werden Erfahrungen, die sich immer wieder in unterschiedlicher Gestalt durch die Untersuchung zogen, noch einmal herausgestellt. Dabei bleibt ein Rest offener »Unordnung« – und das ist gut so, denn nur in ihr lernen wir, fremdheitsfähig zu werden. Zunächst geht es um das Phänomen, dass (mit-)menschliches Sein nie eindeutig ist, sondern immer spannungsreich mehrdeutig zwischen paradoxen Gegensätzen schwingt. Fremdheitsfähigkeit bedeutet, diese Spannungsverhältnisse auf allen Ebenen menschlicher 370 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Zur Notwendigkeit spannungsreicher Zwischenräume

Existenz zu kultivieren. Zweitens ist es genau dieser Prozess der Selbstkultivierung zwischen Eigenem und Fremdem, der das Bildungsgeschehen ausmacht. Drittens hat sich durch die Arbeit an einer Sachfrage gezeigt, dass diese unerlässliche Implikationen für die Methode hervorbringt: Das phänomenologische Eintauchen in den Wahrnehmungsvollzug einer Sache gelingt nur durch die kontinuierliche Praxis der Selbstsorge.

5.1. Zur Notwendigkeit spannungsreicher Zwischenräume Im Gang der Untersuchung war immer wieder die Rede von Spannungsverhältnissen zwischen Gegensätzen, die sich in Dynamiken der Anziehung oder Abstoßung, in einem herausfordernden Balanceakt des Spiels der Waage, in Macht und Ohnmacht, in Furcht und Faszination ausdrückten. Gegensätze können völlig in Widerspruch zueinander stehen, sich sogar wechselseitig ausschließen und dennoch zugleich ergänzen und unbedingt nötig haben. Das Eine ist wesenhaft nicht das Andere, es ist aber nur durch das Andere, durch die Differenz. Beide haben miteinander zu schaffen, sie prägen und formen sich dadurch, dass sie sich aneinander reiben. Öfter war auch die Rede von Dualität, von zwei Polen, Extremen, Enden oder Grenzmarken eines Kontinuums. Beide Seiten laufen ineinander über und sind daher in unterschiedlichen Graden durchsetzt vom jeweils anderen, nie völlig rein sie selbst. Die Gegenseite ist als Potential im Eigenen immer enthalten. Der Raum, der sich zwischen ihnen aufspannt, ist leer und dennoch voller Leben; er wird zum Lebensraum für beide Seiten. Würden sich die Gegensätze aufheben und die Spannung zwischen ihnen reißen oder wären sie sich gleichgültig, bedeutete das Stagnation, Absturz und Tod. Schwingungslos verstummte das Leben, klanglos wäre es seiner Seele beraubt. »Es ist erstaunlich«, bemerkt Ute Guzzoni (2014, 13), »wie vielfältig unsere Welt und Wirklichkeit durch Gegensätzliches bestimmt ist, – erstaunlich, weil wir gewöhnlich gar nicht so sehr darauf achten«. Zudem – und das scheint angesichts der Frage nach der Fremdheitsfähigkeit, von viel größerem Belang – streben Menschen danach, dem schmerzlichen »Skandal der Ambivalenz« (vgl. Bauman 2012, 38 ff.) zu entkommen, alles Gegensätzliche zu bekämpfen und damit der Leblosigkeit des Gleichförmigen erliegen. Die Erfahrung der Menschen wie die der Kulturen sei immer davon bedroht, so zur Lippe (2000a, 331), »einem 371 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Versuch eines Resümees

der Momente, der Pole zu verfallen, die Spannungen nicht halten, nicht aushalten, nicht durchführen und in ihrer höheren Ordnung einer klaren Bewegung zum Stillstand zu bringen«. Im Sinne eines Rückblicks, der nicht abschließen, sondern aufschließen, sich also bewusst diesen spannungsreichen Dynamiken aussetzen möchte, werden einige Erscheinungsweisen paradoxer Gegensätze aus der Untersuchung noch einmal benannt: Wie zeigten sie sich und was bedeutet dieses Zeigen für die Entwicklung der Fremdheitsfähigkeit einer Person? Sigmund Freud bezeichnete das Unbewusste als inneres Ausland und beschrieb es mit der Spannung des »heim«-lichen Unheimlichen. Wir erleben uns in uns selbst wie an einem fremden Ort, dort begegnen wir Unbekanntem, das uns zugleich seltsam bekannt vorkommt. Das Unheimliche reizt gerade, weil es etwas Heimisches ist. Fremdes in uns polarisiert: Es wirkt anziehend und abstoßend zugleich, wir wollen es wissen und doch nicht wissen. So wird es zu etwas, das wir sehr gut kennen, ohne dass wir es wirklich kennen. Der Rückzug in Bekanntes führt zu immer größerer Selbstentfremdung. Je mehr das Gleichgewicht kippt, wir Fremdem in uns aus dem Weg gehen und im kleinen Lichtkegel unserer hart umkämpften Selbstlüge leben, desto schwieriger wird der Umgang mit Fremdem. Denn in ihm ist »unheimlich« viel Eigenes enthalten. Der Zwang des Gleichen (bei Freud der Wiederholungszwang) wehrt sich gegen seine Gegenspielerin, die Lust, die nach der Faszination des Neuen strebt. Bei C. G. Jung entwickelte sich die Idee der positiven Gegensätze (z. B. Anima-Animus, Schatten und Persona) zur Hauptintention seiner paradoxen Psychologie: Die Einheit des Selbst ist nur in Widersprüchen zu haben. Wenn bewusste Persönlichkeitsanteile aufgrund ihrer »Übergewichtigkeit« Probleme bereiten, gilt es, im Schatten, in unserer »anderen Seite«, nach verdrängten »Gegengewichten« zu suchen. 307 Fremdheitsfähigkeit ist untrennbar mit der mutigen Entdeckungssuche in den dunklen Ecken unseres Selbst verbunden.

307 Bereits Epiktet (2012, 17, § 10) fordert dazu auf, die »Gegenkräfte« in sich zu finden: »Bei allem, was dir widerfährt, denke daran, dich dir selbst zuzuwenden und zu untersuchen, welche Kraft du hast, dich mit ihm auseinanderzusetzen. Wenn du einen schönen Knaben oder ein schönes Mädchen erblickst, so wirst du als Gegenkraft Selbstbeherrschung in dir finden; mutet man dir eine schwere Strapaze zu, so wirst du Ausdauer, beleidigt man dich, Gleichmut finden. Wenn du dich daran gewöhnt hast, werden dich die Eindrücke und (falschen) Vorstellungen nicht mehr hinreißen.«

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Dass Gegensatzpaare immer eingebettet sind in größere, ordnende Sinnhorizonte, d. h. in eine raum-zeitliche Verortung und in situative Kontexte, die gewisse Rahmen vorgeben, zeigt sich besonders deutlich beim Wortpaar normal-anormal. Vielleicht war das Verhalten der Inuk ja »normaler« als das der Polizisten oder der schockierten Beobachter? Die Vorstellung von gelungener Identität als angepasst und gesellschaftskonform war zu Meads und Eriksons Zeiten sicher noch ausgeprägter als heute. Hier ist im Laufe der Zeit eine Verschiebung der balancierenden Mitte zwischen Selbstsein und Mitsein, zwischen Authentizität und Angepasstheit, festzustellen. Es gilt jedoch einst wie jetzt: Menschen beginnen sich selbst zu verlieren, wenn sie alles vermeintlich »Unnormale« in sich bekämpfen und sich völlig dem Mainstream angleichen. Normalisierungstendenzen rühren empfindlich an den Lebensnerv. Mit dem Austreiben des AußerOrdentlichen würde das Leben selbst ausgetrieben, schreibt Waldenfels (2008, 144), »und durch Techniken des Überlebens ersetzt«. Ganz ohne Form und Rahmen lässt es sich aber auch nicht leben. Damit hängt die Erfahrung von Kontrolle und Kontrollverlust oder von Macht und Ohnmacht zusammen. Im wahrsten Sinne des Wortes »spannend« ist hier, wann das Zünglein an der Waage kippt: Wieviel unkontrollierbare Fremdheit kann man aushalten, ohne die Kontrolle zu verlieren und wann beginnen Menschen vor lauter Machtstreben ohnmächtig zu werden? Ähnlich verhält es sich mit dem Gegensatzpaar Autonomie und Heteronomie, das eng verbunden ist mit dem Postulat der Mündigkeit und dem vorsichtigen Plädoyer für dessen Counterpart, der »Hörigkeit«. Wie eng beides miteinander verflochten ist, zeigt sich bereits daran, dass das Wort Vernunft von Vernehmen kommt. (vgl. zur Lippe 2014, 224) Zwei wesentliche »Grundworte« menschlichen Seins, die jeweils schon in sich eine Zweiheit bilden und wechselseitig aufeinander bezogen sind, fasst Buber in Ich-Du und Ich-Es. Die offene Begegnung mit Anderem braucht das »Koordinatensystem« der Reflexion, d. h. die »geordnete Welt« des Ich-Es. Diese muss aber immer wieder überführt werden in Beziehungsereignisse von Ich-Du, wo einem bewusst wird, dass sich die »Weltordnung« niemals fassen und koordinieren lässt. 308 Ohne Es könne der Mensch nicht leben, meint Buber, aber 308 Schön beschreibt dies auch zur Lippe (2014, 130) wenn er meint, mit klaren Gesten und Ritualen entließen wir »den inneren Souverän unseres kontrollierenden Bewusstseins, das Ego, aus seiner unverhältnismäßigen Pflicht, und unser tiefes Selbst

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wer mit ihm allein lebe, sei nicht Mensch. Aus diesen zwei Weisen menschlicher Weltbezogenheit ergibt sich auch die epistemologische Bedeutung der Verbindung von erfahrungsnahen und erfahrungsfernen Betrachtungsweisen bzw. der Möglichkeit einer Verschränkung von Erlebnissen in einer Situation und der Reflexion darüber. Beide Erkenntnisweisen brauchen sich wechselseitig, zwischen ihnen entsteht ein hermeneutischer Zirkel, der vorläufig Erkanntes vor dem Hintergrund neuer Erfahrungen prüft, revidiert und dadurch verdichtet. Hier zeichnen sich fruchtbare Verbindungslinien zwischen Praxis und Theorie, zwischen konkreter Erfahrung und möglichst präziser Begriffe, ab. Dabei zeigt sich, dass eine klare Trennung zwischen beiden nicht möglich ist, weil sie zutiefst ineinandergreifen und nur in ihrer wechselseitigen Bezogenheit in der Lage sind, Erkenntniswege zu beschreiten, die lebensdienlich sind. Im Streit zwischen essentialistischen und pluralistischen Identitätskonzepten erwies sich eine Konzeption personaler Identität am überzeugendsten, die sich gerade in dem spannungsreichen Zwischen dieser Kontroverse positioniert: zwischen Einheit und Vielheit, zwischen Totalität und Fragmentierung. Denn das postmoderne SelbstVerständnis steht in der Gefahr, die Grenze zu leidvollen Persönlichkeitsstörungen zu verwischen, das Substanzmodell dagegen tut sich notorisch schwer mit Vielfalt – beides lässt sich sowohl an geschichtlichen als auch an aktuellen gesellschaftspolitischen Phänomenen zeigen. Deshalb muss sich Letzteres in offener »Weltläufigkeit« üben und Ersteres in bewusster »Bodenständigkeit« – ohne dabei den spannungsreichen Bezug zum jeweils anderen zu verlieren. Denn Menschen brauchen sowohl Halt und Nähe als auch Veränderung und Ferne. 309 Dies genau ist das Thema der Selbstkultivierung, die eine vertikale Verwurzelung des »Tiefenselbst« ebenso im Blick behält, wie die flächig-horizontale Aufgeschlossenheit für Pluralität des »Oberflächenselbst«. Beides drückt sich in dem dynamisch-offenen kann sich der Bewegung einer Ordnung anvertrauen, die es ebenso erfährt, wie es sie mit zum Ausdruck bringt«. Wir können Fremdes im Selbst nur zulassen, wenn wir Übungswege beschreiten, die uns Sicherheit geben, uns dabei aber nicht einsperren, sondern freisetzen. 309 Bezugnehmend auf Gadamer führt zur Lippe (2000a, 56) aus: »›Das Vernehmen dessen, was uns gesagt wird‹, setzt bei uns einen selbstkritischen Abstand in unserem Verstehen voraus, ›die Entfremdungserfahrung‹«. Andererseits »›ermöglicht erst das Getragensein durch das Vertraute und das Einverständnis das Hinausgehen in das Fremde‹.« (ebd., 57)

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Bild von Kultur als Bedeutungsgewebe aus, das, so Nietzsche, wie ein Spinnennetz zart und fest zugleich sein muss. Wie wichtig beides für die Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit ist, zeigt sich auch in Ram Adhar Malls (1996) Charakterisierung der interkulturellen Philosophie als orthaft-ortlos. Dass der Mensch immer schon mit der Schwierigkeit seiner utopisch-topischen Existenz umgehen muss, belegt Plessners Bestimmung des Menschen als exzentrisch positioniert. Damit verbindet er den Umschlag vom »Inneren« des Leibes zum Sein außerhalb des Leibes, den er als einen unaufhebbaren Doppelaspekt menschlicher Existenz von Körperleib und Seele beschreibt: Der Mensch, in seine Grenzen gesetzt, lebe zugleich über sie hinaus. Er erlebt sich verbunden mit sich selbst, in seiner leiblichen Existenz und zugleich abgeschnitten von sich selbst, wie in einem Fremdkörper. Er ist »weder eins noch zwei, sondern zwei in eins und eins in zwei« (Waldenfels 2016, 82). Diese Polarität, so Waldenfels (ebd.), lasse Raum für extreme Formen sowohl der Verschmelzung wie der Zerstückelung. Mit dem Leibsein des Menschen zeichnet sich sowohl ein spannungsreicher vertikaler Bogen ab zwischen Denken und Empfinden, zwischen Körperhaben und Leibsein, als auch ein horizontaler, der sich im bipolaren Phänomen der Zwischenleiblichkeit als gleichzeitiges »Beisichbleiben« und »Ausfahren zum anderen« aufspannt. Aus diesem mehrpoligen anthropologischen Faktum und dem daraus entstehenden Zwischenreich menschlicher Existenz entspringen motivationale Energien, die man einerseits als Schubkraft (Triebe, Instinkte, Leidenschaften) und andererseits als Zugkraft (Einsicht, Ziele, Gründe) beschreiben kann. Menschen erleben immer wieder Zerreißproben zwischen beiden, dabei zeigt sich, dass sowohl die »Weisheit des Leibes« als auch das denkerische Durchdringen der Sachverhalte wesentlich sind, um zu nachhaltig stimmigen Antworten Fremdem gegenüber zu gelangen. So ist auch das Philosophieren nur als ein Akt zu verstehen, der alle diese Seinsweisen des Denkens und Empfindens, der Reflexion und der Wahrnehmung, des Sich-Einlassens und der Sprache, des Begreifens und der Sinnlichkeit ernstnimmt und miteinbezieht. Das Selbstverständnis des »souveränen Menschen« spiele sich in der Polarität von Ich-Selbst ab, meint Böhme (2012, 9). Zwischen ihnen gelte es im Lebensvollzug die Balance zu halten »und sich als Mensch in ihrem Zusammenspiel zu verstehen« (ebd.). Dieses Spiel ist eines der bewussten Leibwerdung – auch im Denken. Hieraus resultiert schließlich eine zentrale Grundintention geis375 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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tiger Übungen, die sich ebenfalls als spannungsreiche Gegensätze darstellen und gewissermaßen die Spannung selbst zum Thema haben. Exemplarisch dafür stehen die stoische Spannung auf der einen und die epikureische Entspannung auf der anderen Seite. Disziplin und Freiheit stellen nach Whitehead die rhythmischen Ansprüche von Erziehung und Bildung dar. Sie seien keine isolierten Antagonismen, zwischen ihnen entstehe vielmehr eine natürliche Pendelbewegung, in der die Schwärmerei genauso einen Raum bekommt, wie die Präzision und die Verallgemeinerung. 310 Ähnliches lässt sich bei Foucault finden, der meint, ohne die Disziplin der Selbstpraxis verfiele ein Mensch in den Zustand der stultitia (Einfältigkeit). Menschen erlangen dann innere Freiheit, wenn sie sich begrenzen. Auch Hadot führt die Praxis geistiger Übungen auf zwei entgegengesetzte, sich aber ergänzende Bewegungen zurück: auf die Konzentration und die Erweiterung des Ich. Dabei zeigte sich gegen Ende der Untersuchung die paradoxe Einsicht, dass auch Selbstsorge und Selbstverlust keine unvereinbaren Gegensätze sind. Denn Philosophie als Selbstsorge bedeutet auch Sterben zu lernen. Das Einüben in die eigene Vergänglichkeit führt zu innerer Sammlung, einer besonderen Form wacher Aufmerksamkeit, die Abstand nimmt vom ichbezogenen Selbst. Sie besteht in der Zuwendung zu etwas, das sich mir entzieht, das nie gehabt, aber »sinnenbewusst« erfahren werden kann. »Die Bejahung der Existenz, der Gegensätze, der Unterscheidungen und der Vielfalt der Schöpfung auf der einen Seite«, so Bauberger (2010, 53), »und das Eintreten in Leerheit auf der anderen Seite bleiben aufeinander angewiesen und sind ineinander verschränkt«. Welche Einsichten lassen sich aus diesen Phänomenen für den Umgang mit Fremdem gewinnen? Die Erfahrung eines Lebens in der Spannung paradoxer Ambivalenz, so zeigt sich mehrfach auf ganz unterschiedliche Weise, ist ein Grundfaktum menschlicher Existenz. 310 Dass eins ohne das andere in entartende Extreme abgleitet, weiß auch zur Lippe. Er schreibt: »Der Schwärmer wie der Sezierer versäumen den Vorgang. […] Beide versäumen das Wissen, der eine über der Liste der Fakten, der andere über der Einbildung von einer Begegnung, die soweit hat gar nicht reifen können. Beide versperren sich dem Wesentlichen der Erfahrung: Sie erlauben dem Erleben nicht, im Erlebenden eine Vorstellung vom Begegnenden bis zu ihrer Übertragbarkeit [bei Whitehead: Verallgemeinerung] auf Neues ausreifen und ein neues Unterscheidungsvermögen […] wachsen zu lassen. Gefühlsduselei und Datenhuberei stehen einander als traurige Alternativen gegenüber und sind sich gleich im Entscheidenden: Die Anstrengung des Gemüts wird verweigert.« (zur Lippe 2000b, 340)

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Sie erweist sich als transformatorischer Kernakt und unerlässlicher Modus kreativer Lebensbewältigung. Zugleich ist sie ausschlaggebend für die Fremdheitsfähigkeit einer Person. Denn gerade wenn Menschen aus dem Gleichgewicht geraten und in Extreme stürzen, im Entweder-oder ihre Balance oder »spannungsreiche Mitte« verlieren, misslingt die Begegnung mit Fremdem. Umgekehrt zeichnet sich eine fremdheitsfähige Person gerade dadurch aus, dass sie die unlösbare Spannung der Gegensätze in ihrem Leben nicht nur aushält, sondern sogar sucht und kultiviert. »Mittler werden wir darin«, schreibt zur Lippe (1997, 72), »wie wir Gegensätze durch uns hindurch auf ein sie Übergreifendes hin leben«. Dies erweist sich jedoch als große Schwierigkeit, denn ein Leben in Spannung ist unbequem, nie kommt man irgendwo sicher an. Das, was Stabilität und Sicherheit gibt, ist gerade die Fähigkeit, sich in die schmerzhafte Entsicherung der eigenen Existenz einzuüben. Selbstsorge bedeutet, sich dem auszusetzen, was man nicht kennt, sich mutig dem »Default« des immer Gleichen, des abschließenden Eigenen, zu widersetzen. Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Rede von den Gegensätzen keinesfalls suggerieren soll, dass es sich dabei um zwei abgeschlossene Entitäten handelt, die sich voneinander abgrenzend und wechselseitig identifizierend, sonst aber weitgehend unverbunden, gegenüberstehen. Ein solches Bild beförderte ein reduktionistisch-dualistisches Denken und liefe der Grundintention eines dynamischen Spannungsverhältnisses zuwider. Genau dieses Verständnis zieht sich jedoch wirkungsvoll durch die Tradition des Westens, »die eher auf Entscheidungen für eine Seite als zur Ergänzung beider in einem Dritten drängt« (ebd.). Fremdheitsfähigkeit gedeiht im offenen Bewegungsraum des Zwischen – darauf kommt es an. Wie in einem Kippbild geht es bei der wechselseitigen Aus-einander-setzung zwischen Eigenem und Fremdem, nicht nur um die »Setzung« von Entgegengesetztem, sondern vor allem um das »Einander«. So denken und handeln wir jedoch selten, meist versteifen wir uns auf das »Aus« von Auseinander und auf die »Setzung«. Weder das einseitige Postulat einer Priorität des Anderen noch der des Selbst eröffnen den lebendigen Zwischenraum echter Begegnung. »Brennen mag nie ein Scheit allein. Zwei Scheite brennen, aber nicht indem sie zwei sind. Das Feuer schlägt auf zwischen den Scheiten, weil im Spalt die Luft aufsteigen kann.« [H. B. S.] (ebd., 74) Bildung gelingt nur in der lebendigen Verknüpfung von Ich und Welt. Denn die Veränderung, die sich im Bildungsprozess vollzieht, ist gerade keine Setzung, sondern ein anstrengender Übungs377 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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weg auf ein Ziel hin, das selbst offen und wandelbar bleibt, weil es immer wieder neu aus der Bewegung zwischen Ich und Welt erwächst. 311 Insofern könnte man auch von einem »Ent-setzen« im wörtlichen Sinne sprechen, weil Bildung die Erschütterung durch Fremdes braucht. Immer wohnt ihr, wenn man sich ernsthaft auf sie einlässt, ein Moment des Chaotischen inne (mehr dazu in 5.2). Wie irreführend und bei näherer Betrachtung beschämend ein einseitig subjektorientiertes Denken ist, zeigt sich an der Aussage des übermütigen Bergsteigers, »einen Berg bezwingen zu wollen«. Ähnlich verhält es sich mit Fremdem: Man kann ihm nur begegnen, sich ihm öffnen, das »Einander« erfahren, welches uns dann auch auf die eigene Setzung und Begrenzung aufmerksam macht. Nicht umsonst beschreibt Waldenfels (1990, 64) die Erfahrung des Fremden als Auseinandersetzung »im Rahmen einer Zwischensphäre«, die sich darin selbst fremd wird. Sie sei eine Alternative zur Aneignung als Bändigung der Fremdheit einerseits und der Enteignung als Auslieferung an Fremdes andererseits. Hinsichtlich der Gefahr des Letzteren wird deutlich, dass sich der lebendige Raum des Miteinanders nur öffnen kann, wenn es auch Begrenzungen und Unterschiede gibt. Denn ohne diese gäbe es keine Beziehung, es gäbe nichts, was sich aufeinander beziehen könnte. Ununterschiedenheit verunmöglicht jegliche Bezugnahme und damit auch jegliche Entwicklung: Eigenartiges und Fremdartiges entstehen durch Differenzierung (vgl. ebd., 65). Es hilft also nicht, sich auf der Flucht vor Widersprüchen in ein vermeintliches »Wir sind doch alle gleich« zu retten. 312 Zur Auseinandersetzung 311 Deshalb plädiert zur Lippe (2014, 233 ff.) dafür, den »Nürnberger Trichter« umzudrehen. Denn Kinder sind offen für die Welt, sie erfahren ihre Welt in lebendiger Wechselwirkung und müssen sie nicht »eingetrichtert« bekommen. Was sich durch dieses Umdrehen bewegen würde, »kann eine Geschichte der Erstarrung [Setzung] wieder in Bewegung bringen und die verdrängten Dimensionen von Intelligenz ins Leben zurückholen, das ihrer so drängend bedarf« (ebd., 237). 312 Han (2016, 13) drückt dies wie folgt aus: »Der Nähe ist als ihr dialektischer Gegenpart die Ferne eingeschrieben. Die Abschaffung der Ferne erzeugt nicht mehr an Nähe, sondern zerstört sie. Statt Nähe entsteht totale Abstandslosigkeit. Nähe und Ferne sind ineinandergewoben. Eine dialektische Spannung hält sie zusammen. Sie besteht darin, dass die Dinge gerade von ihrem Gegenteil, vom Anderen ihrer selbst belebt werden. Einer bloßen Positivität wie Abstandslosigkeit fehlt diese belebende Kraft. Die Nähe und die Ferne vermitteln sich dialektisch wie das Selbe und das Andere.« Mit zur Lippe (2014, 122) könnte man auch sagen, wir müssen das Einssein von Einheit und Getrenntheit, die Gleichzeitigkeit von getrennt Seiendem und Einssein, annehmen, uns in dieses Spannungsfeld einüben.

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gehört, den eigenen Bewegungen nachzuspüren, sie zuzulassen und mitzuvollziehen. Dabei sollten wir auch an das »Einhalten« denken, rät zur Lippe (2014, 129). Denn sonst würde das Zwischen, dessen Beginn und Ende nicht spürbar gesetzt sind, »Gefahr laufen, zu verfließen, sich spurlos zu verlieren ins Leere«. Die Co-Evolution darf nicht in Co-Abhängigkeiten und zerstörerische Formen der Selbstaufgabe führen. Das, was sich zwischen den Gegensätzen auftut, ist keine »goldene Mitte«. Es ist nicht der lauwarme Ort eines einfachen Kompromisses oder einer umfassenden Universallösung, an dem es sich ausruhen ließe. Denn die Gegensätze bleiben bestehen: Sie arbeiten miteinander und aneinander gegeneinander. Wie unser Arm sich nur bewegen kann, weil Beugermuskel und Streckermuskel einander entgegengestellt sind, so hat auch unser Seelenleben dadurch seine innere Freiheit und Beweglichkeit, dass die Gegensätze einander dienen. Es ist wie beim Arm: Nur wenn der eine Muskel freigibt, kann der andere wirken. Anders würden wir uns verkrampfen, aber nicht bewegen. Die Muskeln arbeiten in einem harmonischen Zusammenspiel gegeneinander – und doch nur dadurch miteinander. [H. i. O.] (Schleske 2014, 70–71)

Deshalb nennt Ute Guzzoni (2014, 21 ff.) diesen Ort, der sich zwischen Gegensätzen aufspannt, einen »Raum der Gelassenheit« als ein »Einander-gelassen-sein«. Menschen verlieren die Faszination füreinander und die Freude aneinander, wenn sie beginnen, den Anderen verändern zu wollen, anstatt sich selbst vom anderen verändern zu lassen. »Was ist denn Liebe anders als verstehen und sich darüber freuen, dass ein andrer in andrer und entgegengesetzter Weise als wir lebt, wirkt, empfindet?«, fragt Nietzsche (KSA, 2, 408) und fährt fort: »Damit die Liebe die Gegensätze durch Freude überbrücke, darf sie dieselben nicht aufheben, nicht leugnen.« (ebd.) Dies gilt auch für Gegensätze, die man in sich selbst wahrnimmt, denn auch die Selbstliebe »enthält die unvermischbare Zweiheit (oder Vielheit) in Einer Person als Voraussetzung« (ebd.). Beides, innere und äußere Gegensatzspannungen, bedingen sich wechselseitig: Ein Mensch, der sich sein lassen kann, kann Sein lassen. Das Sein-lassen-Können erweist sich so als ein anderer Ausdruck für Fremdheitsfähigkeit. Als solche ist sie sowohl ein aktives Zulassen als auch ein passiv-offenes Sich-Einlassen. »[Sie] ist ein Lassen, das ein Machen, ein Machen, das ein Lassen ist, ein Machen-Lassen.« (Guzzoni 2014, 25) Die so verstandene Fremdheitsfähigkeit ist »weder ein bestimmendes Veranlas379 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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sen noch ein uninteressiertes Geschehenlassen« (ebd.). Sie ist »vielmehr ein aufmerkendes und mitgehendes, gleichwohl selbsthaftes Sich-Überlassen, – an sich selbst, an das Andere und die Anderen, an die Welt« (ebd.). Wir seien damit aufgefordert, meint zur Lippe (2014, 132), »die unterschiedlichen, immer auch widersprüchlichen Seiten unserer selbst nicht zwanghaft an ein einziges Zentrum zu binden, sondern das Wechselspiel zwischen ihnen freizugeben«. Genau in diesem inneren Prozess erwachse die Fähigkeit, ein Gegenüber »als einen Gegenpol zu uns wahrzunehmen und damit selber Pol eines Spannungsfeldes mit dem Gegenüber zu werden. Vielfältig eben auch in uns selbst.« [H. i. O.] Hier zeigt sich, dass der Zwischenraum beide Seiten in transformative Prozesse einbindet: Beide sind nicht entweder aktiv oder passiv, sondern sowohl das eine als auch das andere, gerade darin besteht der Vollzug. In diesem ereignishaften Vollzug entsteht Wirklichkeit. Sie ist keine »einfache« Wirklichkeit, sondern eine »zwei- oder mehrfache« bzw. »relationale« – und damit immer auch konflikthaft. In diesem Vollzug zwischen vita activa und vita contemplativa treten wir selbst erst hervor. 313 Deshalb ist das Wahrsprechen risikoreich und erfordert Mut. Denn als Parrhesiast versucht man nicht einseitig monologisch geschützt die eigene Meinung technisch manipulativ »rüberzubringen«, sondern man setzt sich selbst dieser spannungsreichen Wirklichkeit aus, die man dann nicht mehr allein im Griff hat. Wahrsprechen bedeutet, sich im Vollzug über etwas klar zu werden, das man selbst vielleicht vorher noch gar nicht wusste – auch über sich selbst. Auch hier wird erkennbar: Es geht nicht darum, das Leben in einer schwingungslosen Mitte zur Ruhe oder »in Ordnung« zu bringen. Es geht nicht um die Balance als solche, sondern um ein Ringen um sie, das nie zur Ruhe kommt. »Was den Menschen auszeichnet«, so bringt dies Waldenfels (2008, 136) auf den Punkt, »ist ein gewisses Maß an Ungleichgewicht, ein Zögern angesichts eines Abgrunds an Möglichkeiten […], ein stolpernder Gang, der seinen Weg sucht und nicht schon hat, eine tastende Logik, die sich in der Erfindung von Antworten dokumentiert.« [H. i. O.]

313 Vgl. hier die Ausführungen von Andreas Hetzel (2001) zur Kultur Zwischen Poiesis und Praxis. Er vergleicht Kultur mit einem Gespräch, das wir führen bzw. in das wir verwickelt werden: Beides stehe zwischen vita activa und vita contemplativa. »Wohin sie uns führen, kann nie vorausberechnet werden. Die Kultur und das Gespräch sind offen, fragil und ständig vom Scheitern bedroht.« (ebd., 19)

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Auch wenn sicher alle Menschen all die Facetten der Fremdheitserfahrungen, die sich in der Studie zeigten, auf die eine oder andere Weise kennen, steht doch jeder Mensch an anderer Stelle in der Gefahr, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Es lässt sich keine allgemeingültige Struktur oder ein universales Prinzip »richtiger« Gegensätzlichkeit oder ein »bestmögliches Zwischen« ausmachen. Das Phänomen spannungsreicher Gegensätze ist verworren, es zeigt sich immer anders und jeder Mensch erlebt es unterschiedlich. Seine »Ordnung« zeigt sich als Angemessenheit (vgl. zur Lippe 2000a, 24), also in der Stimmigkeit einer Antwort auf Fremdes, die aus der Unordnung des Zwischen erwächst. In gewissem Sinne ist jeder Mensch das einzigartige Resultat einer Geschichte voller Spannungen, die weit über die eigene Lebensgeschichte hinausreicht. Deshalb lässt sich auch keine Schrittfolge oder gar eine Art Einheitsrezept ableiten, welches man befolgen könnte, um interkulturell kompetent zu werden. Selbstsorge bedeutet vielmehr, auf sich selbst in den diversen Spannungsräumen, die wir in befremdlichen Situationen unweigerlich betreten, zu achten. Dabei gilt es, wachsam zu sein für Momente, wo wir aus der Balance geraten, aufzumerken, wie sich Fremdes zeigt und was dabei zum Ausdruck kommt. Der Moment des Kontrollverlusts wird erst dann zum Problem, wenn wir ihn nicht als Chance begreifen, sondern verfluchen und verdrängen. Seelische Abstürze, emotionale Entgleisungen oder reaktionäre Ausrutscher weisen darauf hin, dass wir die Spannung verloren haben oder einem oberflächlichen Gleichgewicht entkommen wollen. Es ist Fremdes, das unser Leben in Spannung hält. Es hält uns in Spannung, weil es durch und durch selbst Spannung ist, denn es widersetzt sich eindeutigen Antagonismen, in die es sich behaglich einrichten ließe. Fremdes gehöre zur Familie der »Unentscheidbaren« 314, schreibt Zygmunt Bauman (2012, 95) bezugnehmend auf Derrida. Es ist das nicht assimilierbare »Andere der Ordnung«, der Ursprung und Archetyp aller Furcht. (vgl. ebd., 20) Damit untergrabe es das gesell»Unentscheidbare sind alle weder/noch; was soviel sagt wie, daß sie gegen das entweder/oder kämpfen. Ihre Unterbestimmtheit ist ihre Macht: Weil sie nichts sind, können sie alles sein. Sie machen Schluß mit der ordnenden Macht der Opposition […]. Oppositionen ermöglichen Wissen und Handeln; Unentscheidbare lähmen sie. Unentscheidbare exponieren brutal das Künstliche, die Fragilität, das Heuchlerische der lebenswichtigsten unter den Trennungen. Sie bringen das Außen nach innen und vergiften das Tröstende der Ordnung durch den Argwohn gegen das Chaos. Dies ist genau das, was die Fremden tun.« (Bauman 2012, 96–97)

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schaftliche Leben, denn es sei weder Freund noch Feind. »Und weil wir nicht wissen, und über keine Methode verfügen, zu erfahren, was von beiden der Fall ist.« (ebd.) Angesichts von Fremdem sind wir auf uns selbst gestellt, wir müssen uns hineinwagen in das Feld des Unbestimmbaren. Dabei zeichnet sich eine zirkuläre Dynamik ab, die für die Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit sowohl hinderlich als auch förderlich sein kann: Die Fähigkeit, einen anderen und die Unberechenbarkeit seiner Andersartigkeit zu ertragen, setzt die Fähigkeit voraus, sich selbst »in Unordnung« zu ertragen. Die Fähigkeit, sich selbst zu ertragen, lernen wir nur in der Begegnung mit Anderem und seiner Andersartigkeit. Je mehr eine Person sich weigert, den Ort ihres Absturzes zu verlassen und lieber sicher umgrenzt im Eigenen bleibt, desto weniger fremdheitsfähig kann sie werden. Eine Person dagegen, die es wagt, sich selbst immer wieder neu aufs Spiel zu setzen, gewinnt in diesem Spiel an innerer Balance und Stabilität. In Anlehnung an Aristoteles könnte man sagen, den Umgang mit Fremdem lernt man durch den Umgang mit Fremdem. 315 Diese Übung ist ein Übungsweg der Spannung, denn er verläuft durch ungewohntes Gelände, das nie völlig zu überblicken ist. Derjenige, der es wagt, es zu betreten, ohne das Spiel zu stören, erhält eine tiefere, sinnlich wissende Ahnung von jener »anderen Ordnung«, die immer wieder neu entsteht. (vgl. zur Lippe 2000a, 32) Ambivalenz sei nicht zu beklagen, schreibt Bauman (2012, 284), sie müsse gefeiert werden. »Ambivalenz [man könnte auch sagen: Fremdes] stellt die Grenze der Macht der Mächtigen dar. Aus demselben Grunde ist sie die Freiheit der Machtlosen.« (ebd.) Ganz ähnlich betont Zima, der nach Autonomie strebenden Person bleibe nichts anderes übrig, als sowohl dem Extrem der vereinnahmenden Ideologie als auch dem der zersetzenden Indifferenz abzusagen, um die Position der Ambivalenz einzunehmen: »der Einheit der Gegensätze ohne Aufhebung, die den offenen Dialog ermöglicht und zugleich Gesellschaftskritik fördert« (Zima 2010, XIV). Dabei besteht die große Herausforderung darin, die Eigenschaften »lassen« zu können, die uns verstören, erschrecken, befremden. Genau diese Eigenschaften sind es nämlich, die uns in Spannung halten. Fremdheitsfähigkeit entwickelt sich dann, »wenn es gelingt, das 315 Ganz ähnlich schreibt zur Lippe (2000a, 31): »Das Undeutliche erfordert Umgang mit ihm, immer neue Annäherung – fast schon eine Verbindung des ›Übens‹ mit der ›Wahrheit‹.« Und dennoch würden die meisten Menschen nicht eher schwimmen wollen, bis sie es können. (vgl. ebd.)

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Unbehagen am Fremden und die Angst davor gegen alle Verleugnungstendenzen ins Gespräch zu bringen« (Färber 2015, 288). Mit »Eigenschaften« sind Momente menschlicher Existenz gemeint, die das Fühlen, Wollen, Denken, Leibempfinden genauso betreffen, wie Modi zwischenmenschlicher Interaktion (Sprache, nonverbale Kommunikation, Beziehungs- und Umgangsformen). Mit zur Lippe (2000b, 10) gesprochen geht es darum, ein Sinnenbewusstsein zu kultivieren, »das Pole in sich vereint und […] damit zum Leben in Spannungsfeldern auffordert«. Menschen kommen schwerlich aus dem Kraterloch ihrer Absturzstelle, wenn sie sich dort einnisten und beispielsweise in Selbstmitleid oder Hass versinken. Sie müssen sich vielmehr auf die Suche nach Auswegen machen, die keine Flucht darstellen, sondern das Absturzereignis als Übungsmöglichkeit versteht, die neues Lebensgleichgewicht verspricht. Dabei kann die Ermittlung von Gründen des Absturzes hilfreich sein, weil darin Hinweise auf mögliche Entwicklungsrichtungen stecken. Diese »Ermittlung« heißt nicht, sich noch tiefer in alte Verletzungen einzugraben, es bedeutet vielmehr, das, was passiert ist, in einem positiven Sinn als Sprungbrett zu nutzen. Dazu ist sowohl Hörfähigkeit als auch Antwortfähigkeit vonnöten. Das Hören nimmt den Absturz ernst, nur so muss er sich nicht ständig neu bemerkbar machen und nur so versteht man etwas von seiner Genese und von seinen Motiven. Nur im Hören, so könnte man mit Husserl sagen, kann die Erfahrung zur Aussprache ihres eigenen Sinns gebracht werden. (vgl. Husserl 2012, 39; Merleau-Ponty 1966, 257) Dabei meint »Verstehen« nicht notwendigerweise ein rationales Verstehen. Es kann auch bedeuteten, Gefühle mit Gefühlen zu verstehen oder leibliche Regungen mit leiblichen Regungen. Kommunikation erfolge nicht nur im »Modus des Gründegebens«, schreibt Hetzel (2011, 437), »sondern auch im geteilten Affekt, der eine Art intersubjektiven Leibraum eröffnet«. Denn, so fährt er fort, den Schmerz und die Freude des Anderen könne man in vergleichbarer Weise verstehen wie seine Überzeugungen. Das Antworten antwortet auf das Verstandene mit der Achtung dessen, worauf es antwortet. Es antwortet nicht einfach irgendwie (z. B. mit einem vorgegebenen Maßnahmenkatalog oder mit einer klaren Ansage, wie man sich verhalten sollte), sondern knüpft an die Botschaft des Wahrgenommenen an. Nur so können positive Spannungsfelder entdeckt und wiederbelebt werden. 316 316

An dieser Stelle sei auf die philosophische Analyse der Moderne von Gerhard

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Im Anschluss an die Fallstudie lässt sich das noch einmal exemplarisch anhand der beteiligten Personen zeigen, die repräsentativ für viele Menschen stehen können. Menschen, die wie die Inuk tief schwer verletzt wurden, stehen vor der schweren Aufgabe zu lernen, wieder verletzlich zu sein – nur so kann die Verletzung heilen, weil das Trauma sich nicht länger in seiner Einkapselung halten kann. Rudolf Bernet (2001, 252) trifft dies genau, wenn er schreibt: »Letzten Endes widersteht nichts der Allmacht des Traumas als das Empfinden des traumatisierten Subjekts. Das traumatisierte Subjekt über-lebt, indem es sich ›wider Willen‹ verwundbar fühlt.« Nur so erwacht ein Mensch aus der »gefühlskalten Totenstarre« des eigenen Lebens und kann beginnen, auf das Trauma zu antworten, anstatt alle Energie darauf zu verwenden, es weiterhin wegzusperren. Wir können die Tyrannei von Erinnerungen, die unser Erleben und Handeln aus tückischem Dunkel heraus einschnüren, nur brechen, so Bieri (2011, 22), »wenn wir sie zu Wort kommen lassen«. Insofern hat sich die Inuk bei aller Dramatik, die ihrem Wahrsprechen folgte, einen großen Dienst erwiesen. Umso schlimmer ist es, dass ihr Umfeld das Fremde, das sie aus sich herauslebte, nicht aushalten konnte. Man kann nur hoffen, dass die wiedererlangte Verwundbarkeit ihr den Weg zu neuer Stärke weist und dass sie Menschen findet, die ihr dabei helfen. In der Verwundbarkeit steckt paradoxerweise das PotenGamm (1994) hingewiesen, der von einer »Positivierung des Unbestimmten« spricht. Ähnlich wie Waldenfels es bezüglich des Fremden tut, spricht er vom »Stachel der Negativität«, der tief im Fleisch der Moderne sitze. (vgl. Gamm 2001, 24) Gerade in ihm stecke die Möglichkeit der Überschreitung alles Bestehenden, die schöpferische Produktivität und die Entfaltung von etwas Neuem. (vgl. ebd., 25) Deshalb sei die Sozialphilosophie vor die Aufgabe gestellt, die Spuren des Negativen »im Spannungsfeld von Unabdingbarkeit und Überschreitung, Freiheit und Kritik lesen zu lernen« (ebd., 26). Einen methodischen Leitfaden sieht Gamm in der Dialektik, die »mit der Arbeit des Negativen oder der Grammatik der Entzweiung« dadurch Synthesen stiftet, »daß der Widerstreit der gesellschaftlichen Sphären bzw. ›Logiken‹ gegeneinander lebendig bleibt; bei denen sich eine Balance nur deshalb einstellt, weil sie in der Entzweiung von Freiheit und Ordnung, Konkurrenz und Solidarität, Funktionalität und Authentizität, Globalisierung und Regionalisierung […] usf. Stabilität gewinnen oder in einer an die Extreme zerfallenen Zerrissenheit (Negativität) aufeinander bezogen sind«. (ebd., 25–26) Fremdes muss ebenso wie Vertrautes durch die Optik einer irreduziblen Ambivalenz, durch die Unbestimmtheit des Nichtwissens betrachtet werden, die nie aufgelöst werden kann, sondern in der Schwebe gehalten werden muss. Denn jede einseitige, der Negativität des Lebens enthobene Lösung führt zu fatalen Konsequenzen, von denen das »Zeitalter der Extreme« (Gamm 2009) an vielen Stellen untrüglich zeugt. Vgl. hier auch Hetzel 2009.

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tial der Selbstbehauptung. Denn in ihr entkommt man dem Zwang, permanent die böse Fratze der Verletzung zu bekämpfen und erlangt die Freiheit, selbstbestimmt neue Ziele zu setzen. Die Blickrichtung ändert sich: Anstatt sich negativ zurückgewandt in der Vergangenheit zu verbeißen, erlaubt man sich positiv auf etwas Neues hin auszurichten – dies ist ganz körperlich zu verstehen. Denn das Antworten auf Fremdes ist eine Übung, eine »Antwortarbeit« (Waldenfels 2015c, 6), die alle Ebenen menschlicher Existenz in Anspruch nimmt. Es kann die Form des aufrechten Gangs, der festen Stimme, der Gefühlsbotschaften oder auch des Schweigens beinhalten. Im Antwortgeschehen wird man sich seiner selbst vertraut, seiner Gedanken und Gefühle, seines Wollens und leibhaftigen Empfindens. Ein Spannungsfeld, das es für die Polizisten zu kultivieren gälte, ist das zwischen dem Ordentlichen und dem Außerordentlichen. Ihr massives Eintreten im Namen der Ordnung führte dazu, dass sie auf Außerordentliches selbst »außerordentlich« reagierten. Eine »ausgeglichene« oder angemessene Antwort war ihnen nicht mehr möglich, alles was blieb, war die extreme Reaktion. Das, was die Polizisten erlebten, kann als eine Art Klassiker für die Erprobung von Fremdheitsfähigkeit gelten, die sich derzeit auch auf zahlreichen politischen Bühnen beobachten lässt: Diejenigen, die für Ordnungen und klare Grenzen eintreten, stellen sich gegen jene, die sich öffnen für Außerordentliches – und umgekehrt. Ein ehrlicher Dialog im Sinne des Wahrsprechens und »Wahrhörens« findet selten statt. So schaukelt sich die labile Balance paradoxer Gegensätze hoch in ihre Extreme. Dadurch kann die aufreibende Unruhe des Hin- und Herschwankens einer komplizierten Wirklichkeit gebremst werden. Sie wird gebremst an den Frontlinien vermeintlich eindeutiger, unnachgiebiger Positionen, die dann gern auch Fakten zu ihren Gunsten verdrehen oder mit erstaunlicher Überzeugungskraft schlichtweg lügen. Ähnlich sieht Waldenfels (2015c, 17) die Responsivität, die man wohl auch mit »Fremdheitsfähigkeit« übersetzen könnte, von zwei Extremen bedroht: Es gibt die Tendenz zum Außerordentlichen ohne das Ordentliche, das in seinem Überschwang den Boden des Normalen überspringt, sich am Außerordentlichen, auch am Gewaltsamen erhitzt und berauscht und den Ausnahmezustand zum Normalzustand erklärt. Es gibt andererseits die Tendenz zu einem Ordentlichen ohne das Außerordentliche, das sich mit dem normalen Funktionieren einer Ordnung begnügt, bekannte Homunculi wie den Homo oeconomicus, den Homo legalis oder den Homo medicalis er-

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zeugt und bei dem von Nietzsche beschworenen »Normalmenschen« zu enden droht. [H. i. O.] (ebd.)

Fremdheitsfähigkeit beginnt mit einer Selbstsorge, die sich darin übt, auf die Gegenseite zu hören, ohne dabei die eigene Tendenz oder Neigung zu überhören. Sie entwickelt sich im »Zwischenhören«. Nur dieses aufmerksame Hören, das es wagt, die Anker zu lichten, um zu einem Ort zwischen den Positionen abzudriften, befähigt zu einem ausgewogenen Antworten. Das ist alles andere als einfach, denn allzu leicht sehnt man sich zurück in bekannte Gewässer oder lässt sich fortreißen von den Strömungen, die neue Ufer versprechen. Die größte Hürde ist dabei, sich überhaupt auf den Weg zu machen, um das zu erkunden, was man in sich selbst als unliebsame Eigenschaft längst entsorgt hatte. So ist es, um beim Beispiel zu bleiben, eine große Herausforderung für Ordnungsliebende, sich mit der eigenen Unordnung zu befassen und für diejenigen, die es ins Außerordentliche zieht, sich den eigenen Grenzen zu stellen. Alles, was man lange vermieden hat, wird fremd und unheimlich – man vermutet innere Konflikte und Aufruhr, würde man sich mit diesen Schattenseiten des Selbst befassen. Es ist paradox, dass gerade diese Konfrontation für Stabilität und innere Freiheit sorgt, weil man dann keine andere Person oder sonstige »äußere Umstände« braucht, bei denen man sich die eigene Ausgeglichenheit »holt«. Ein Feld spannungsreicher Gegensätze, dem sich die Zeugen des unkontrollierbaren Ausbruchs der Frau ausgesetzt sahen und das zugleich als große Klammer über der gesamten Untersuchung steht, ist das von Selbstsorge und Fremdsorge. Die Anwesenden fanden sich unversehens hineingezogen in einen Konflikt zwischen Selbstschutz und dem Drang, der Frau irgendwie helfen zu wollen. Beides, so zeigte sich schnell, war nicht möglich. Fremdheitsfähigkeit ist ein ambivalenter Zustand zwischen dem bewussten Setzen eigener Grenzen bei gleichzeitiger »Grenzöffnung«. In ihm werden Grenzen deutlicher, gerade weil sie »ausgesetzt« werden. Die Selbstsorge schwingt zwischen Freiheit und Disziplin, sie erlangt dadurch Freiheit, dass sie sich diszipliniert. Dies ist die Voraussetzung der Fremdsorge. Die Fremdsorge wiederum ist unabdingbar für die Selbstsorge, denn ohne die Auseinandersetzung mit Fremdem ertrinkt man im Selbst. Menschen werden dann fremdheitsfähig, wenn sie sich in diesen Raum zwischen Selbstsorge und Fremdsorge einüben und in all die Widersprüche, die damit einhergehen. Dieses unendliche Einüben umfasst 386 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

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unsere leiblichen Erfahrungen, unser Wahrnehmen, Begehren, Handeln, Denken und Reden. Weder Selbstsorge noch Fremdsorge ist allein möglich, immer haben beide miteinander zu schaffen, so sehr man das vielleicht auch nicht wahrhaben möchte. Weil das so ist, kann es zu fatalen Konsequenzen führen, wenn man sich auf das eine oder andere versteift. Es gibt keinen selbstlosen Altruismus und keine Person kann je Fremdes völlig abschütteln und rein auf sich selbst achten. Menschen sind gerade dann in der Lage, auf Befremdliches einzugehen, wenn sie sich selbst in all ihrer eigenen Fremdheit Fremdem öffnen. Ein aktuelles Beispiel aus deutschem Kontext: Zunehmend beunruhigt durch das Erstarken des Rechtspopulismus beschloss Lara Fritzsche sich den diskursiven Zwischenräumen konfliktträchtiger Gesprächssituationen zu stellen. Sie hatte beschlossen, »wieder ernsthaft zu diskutieren, zu streiten, aneinandergeraten, mit allem und jedem, wenn es sein muss, und zur Not auch mal den Dissens stehen zu lassen« (Fritzsche 2017, 9). Dass »offen und authentisch« zu sein, Gefahren birgt, bemerkte sie schnell: »Erstens: Womöglich sage ich selbst etwas Rassistisches oder Sexistisches. […] Zweitens: Womöglich muss ich auch mal bei unbequemen Wahrheiten zustimmen.« (ebd., 11) So »bewaffnete« sie sich mit Daten und Fakten und verschanzte sich hinter die Fassade abgeklärter Reden, spürte dabei jedoch, dass sie über eine »Meta-Unterhaltung« nie hinauskam, weil alle Gefühle von Angst und Sorge darunter eingesperrt blieben. Nach vielen dieser »Nicht-Diskussionen« kam es endlich zu einem echten Gespräch. Als Erklärung dafür gibt sie an: »Nur weil wir beide unsere Ambivalenz offenlegten, unsere Ratlosigkeit, die Zerrissenheit und eine diffuse Sorge. Und den Mut das einfach so stehen zu lassen. Erst mal.« (ebd., 12) Der Mut, sich selbst in aller Widersprüchlichkeit zu öffnen, baut Wege zum anderen. Das zeigt auch, dass Menschen wie die Inuk mit ihren Verletzungen, Ängsten und Zweifeln nicht allein sind, denn nicht nur sie hat es nötig, sich zu »outen«. 317 Offenheit geht in beide Richtungen, sie ist das »Machen-Lassen« einer 317 Han bemerkt dazu passend, der islamische Terrorist und der völkische Nationalist seien in Wirklichkeit keine Feinde, sondern verschwistert, denn sie teilten die gleiche Genealogie. Ihr Hass auf Fremde und Andersdenkende erwachse einem Nährboden aus sozialer Unsicherheit gepaart mit Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit. (vgl. Han 2016, 22) Die Angst des einen liegt ganz nah bei der Angst des anderen, doch anstatt sie sich vor sich selbst einzugestehen, wird sie als Hass umgewandelt, auf den anderen projiziert und bekämpft. In der wechselseitigen Feindschaft entwickelt sich ein töd-

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Versuch eines Resümees

»Wesenstat«, die sich dem anderen aussetzt: »Das Du begegnet mir. Aber ich trete in die unmittelbare Beziehung zu ihm.« (Buber 1995, 11). So wird Selbstsorge zur Fremdsorge und Fremdsorge zur Selbstsorge, denn das Mitleid ist auch mein Leid und deine Sorge auch meine – auch wenn sie sich in völlig anderer Gestalt zeigt.

5.2 Bildung zwischen Eigenem und Fremdem Eine »Sorge«, die alle Menschen teilen, ist die, dass sie sich niemals entspannt an einem Ort zwischen Fremdem und Eigenen einrichten können und immer wieder schmerzhaft abstürzen, wenn sie spannungsreichen Auseinandersetzungen in der einen oder anderen Richtung entfliehen möchten. Dieser Ort zwischen Eigenem und Fremdem ist der anthropologische Ausgangs- und Zielpunkt eines Bildungsbegriffs, der sich immer schon als »interkulturell« versteht, d. h. die irreduzible Alterität des Nicht-Ich als Grundvoraussetzung für Bildungsprozesse annimmt. Für Wilhelm von Humboldt (2010a, 235) vollzieht sich Bildung zwischen einer Person und der »Welt ausser sich«. Was der Mensch notwendig brauche, so meint er, »ist bloss ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache« [H. B. S.] (ebd., 237). Darin kommt zum Vorschein, was Menschsein als solches auszeichnet: In der Konfrontation mit Unterschieden und Fremdem kommen wir »dem Begriff der Menschheit in unsrer Person« (ebd., 235) näher. Auch hier eröffnet sich ein paradoxer Spannungsraum, der immer wieder zu heftigen Kontroversen führt: Das Universale des Menschen zeigt sich in seiner individuellen Entfaltung. 318 Diese Entfaltung sei, so Humboldt, die »letzte Aufgabe unsres Daseyns«, die »sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung« erfüllen ließe: liches Gleichgewicht, aus dem der einzige Ausweg darin besteht, sich um sich selbst zu sorgen. 318 Vgl. hier den Disput zwischen Relativisten und Universalisten in der interkulturellen Pädagogik, der ebenfalls ein spannungsreiches Verhältnis begründet, auf dem beide Seiten in der Gefahr stehen, in ihre entwertenden Extreme zu fallen, wenn sie nicht auch Argumente der Gegenseite ernstnehmen: »Der Universalismus sucht nach Gemeinsamkeiten auf Kosten der Unterschiede und der Relativismus bleibt hängen in Vereinzelung, die auch menschenrechtlich bedenkliche Differenzen toleriert. (vgl. Herzog/Makarova 2007, 268 ff.)

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Bildung zwischen Eigenem und Fremdem

Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will. Da jedoch die blosse Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die blosse Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt ausser sich. (ebd.) 319

Bei Humboldt wird deutlich, wie sehr die Offenheit für Fremdes und die Selbstbildung aufeinander verwiesen sind. Denn es geht ihm gerade nicht darum, Fremdes »von allen Seiten kennen zu lernen«, sondern »vielmehr [darum,] durch diese Mannigfaltigkeit der Ansichten die eigene innewohnende Kraft zu stärken« (ebd., 237) 320. Er zielt ab auf einen Bildungsvollzug, der nur durch die Erfahrung des Sichfremdwerdens möglich wird. »Die Bedingung der Möglichkeit von Bildung ist die Abwesenheit des mit sich identischen Subjekts«, schreibt Reichenbach (2000, 8) treffend. 321 Damit ist klar: Fremdheitsfähigkeit lässt sich nicht in einer theoretischen Auseinandersetzung oder Schulung erlernen, sondern nur in der konkreten Begegnung mit Fremdem, die in ihrer Unverdaulichkeit und Unabgeschlossenheit das Selbst bildet. Anleiter kann nur die fragliche Sache selbst sein, nie didaktische Kniffe und methodische Finessen. »Philosophie heißt in Wahrheit von neuem lernen, die Welt zu sehen«, schreibt Merleau-Ponty (1966, 18). Lernen, so wird hier deutlich, ist nicht etwa ein Produkt der Erfahrung, Lernen vollzieht sich als eine Erfahrung, in der einem eine Welt aufgeht, während man zugleich in

319 In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Humboldt mit der »Welt ausser sich« zumindest an zitierter Stelle die natürliche, nicht-menschliche Umwelt meint. In seiner Sprachphilosophie wird jedoch deutlich, dass sich durch Sprache Weltsichten erschließen, sich also durch wechselseitige Polyloge fremdartige Welten als Gegenüber mit mir verknüpfen lassen – und so neue Einsichten aufscheinen und Bildung geschieht. 320 Diese Einsicht hat sich offenbar auch die UNESCO (2001) in ihrer Erklärung zur Kulturvielfalt zu Eigen gemacht, wenn sie in Artikel 1 herausstellt: »Als Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität ist kulturelle Vielfalt für die Menschheit ebenso wichtig wie die biologische Vielfalt für die Natur.« 321 Gmainer-Pranzl (2011, 40) sieht gerade im Anspruch des Fremden »als Herausforderung des Außerordentlichen« jene Ressourcen, aus denen Universitäten leben könnten. Die Universität sei demnach ein Atopos, an der gewohnte Abläufe oder selbstverständliche Zusammenhänge in Frage gestellt würden. Die Universität »muss Anwältin des Fremden bleiben«, wenn sie ihr humanisierendes und inspirierendes Potential nutzen wolle.

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sie eingeht. Im Lernen steckt die Aufgabe, immer wieder neu anzufangen, ohne je vollendet zu sein. Insofern bedeutet Bildung auch »Wartenkönnen«, denn Fremdes entzieht sich unserem Zugriff und unserer Machbarkeit. Bildung ist Wachstum – wie die Saat, die langsam aufgeht, müssen wir geduldig sein. Warten impliziere, so Dörpinghaus (2013, 94), ein Schauen, »die Aufmerksamkeit auf etwas zu richten und ein Für-etwas-Sorgen«. Diese Verzögerung verlange uns einiges ab, denn sie sei widerständig und negativ: »Während der Begriff der Kompetenz dem Gedanken Vorschub leistet, dass es nur noch Gelingendes gibt, gleichsam nur noch ein ›Yes we can‹ […], hält Bildung als Verzögerung das Scheitern, den Irrtum und das Widerständige im Denken, Handeln und Urteilen in Erinnerung.« (ebd., 95) Die Tatsache, dass für Humboldt die Mannigfaltigkeit der Welt den Gegenstand der Bildung darstellt, mag dazu führen, dass diese unübersichtliche Vielheit Menschen auch überfordern kann. Er schreibt, »um der zerstreuenden und verwirrenden Vielheit zu entfliehen, sucht man Allheit; um sich nicht auf eine leere und unfruchtbare Weise ins Unendliche hin zu verlieren, bildet man einen, in jedem Punkt leicht übersehbaren Kreis« (Humboldt 2010a, 238). In vielen Fortbildungsangeboten zur Entwicklung von interkultureller Kompetenz zeigt sich, wie schnell sich tatsächlich »die Betrachtung aus der Unendlichkeit der Gegenstände in den engeren Kreis unsrer Fähigkeiten [flüchtet]« (ebd.) – verharrt sie dort, ohne sich neu befremden zu lassen, stirbt der Bildungsprozess. In Anbetracht der globalen Herausforderungen, die es zwar immer schon gab, die sich aktuell aber mit besonderer Brisanz stellen, wird es für Bildungskonzepte auf allen Ebenen, vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung, unabdingbar sein, die Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit explizit im Sinne dieses Bildungsbegriffs aufzunehmen. Denn nur so kommt der »Ripple-Effekt« (vgl. Grafik in 1.1) von der Selbstsorge zur Fremdsorge zum Zug, durch welchen wir Andere nicht mehr bewältigen müssen, um Eigenes zu retten, sondern Fremdem den Raum geben können, den wir für unsere eigene Entwicklung brauchen. Zahlreiche konkrete Möglichkeiten und Ansatzpunkte, wie dies gelingen könnte, will die vorliegende Untersuchung liefern. Dabei wird jedoch wichtig sein, diese Gedanken unaufhörlich zurückzuspielen ins Feld interkultureller Begegnungen. Denn die Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit braucht die beständige Entgrenzung durch Fremdes, um sich im Sinne der Fremdheitsfähigkeit entwickeln zu können. »Begegnungen sind keine Sache 390 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Phänomenologie als Praxis der Selbstsorge

eines Augenblicks«, schreibt zur Lippe (2000b, 340), weil wir in ihnen die Ahnung einer möglichen Beziehung erhielten, der wir aber schrittweise nachgehen müssten, um sie zu vollziehen. Das genau ist Bildung: »den voreiligen Ausdruck für einen beginnenden Eindruck zu vermeiden und statt dessen der Begegnung sich weiter auszusetzen« (ebd.); deshalb sei hier noch einmal auf Humboldt verwiesen, der schreibt: Das Verfahren unseres Geistes, besonders in seinen geheimnisvolleren Wirkungen, kann nur durch tiefes Nachdenken und anhaltende Beobachtung seiner selbst ergründet werden. Aber es ist selbst damit noch wenig geschehen, wenn man nicht zugleich auf die Verschiedenheit der Köpfe, auf die Mannigfaltigkeit der Weise Rücksicht nimmt, wie sich die Welt in verschiedenen Individuen spiegelt. (Humbolt 2010a, 239)

5.3 Phänomenologie als Praxis der Selbstsorge Die Arbeit an einer Sachfrage hat gezeigt, dass diese wichtige Implikationen für die Methode hervorbringt. Grundlegende Einsichten dazu seien hier noch einmal pointiert dargestellt: Die Begegnung mit Fremdheit ist wirklich und alltäglich. Sie ist erfahrbar – und zwar meistens intensiv, unausweichlich, leibhaftig und subjektiv. Wir sind benommen von der Welt (vgl. Merleau-Ponty 1966, 12). Es ist daher vergeblich, ihr distanziert mit fixen Theorien und Methoden begegnen zu wollen. Man muss sie auf dem Boden tatsächlicher Erfahrungen »begreifen«, sich in sie hineinwerfen, ihr direkt begegnen. Die »Wiedergewinnung des Konkreten« sei kritisch notwendig für heutiges Philosophieren, meint auch Gabriel Marcel (1985, 29). Die Philosophie gewinne in der besonderen Aufmerksamkeit dem Konkreten zuliebe ihre eigenen methodischen Kriterien. (vgl. ebd., 27) Denn die konkreten Erfahrungen sind es ja, die uns veranlassen, nachzufragen, genauer hinzusehen, einer Sache auf den Grund zu gehen. Deshalb bietet sich die Phänomenologie als Weg der Erkenntnisgewinnung an. Denn zum einen geht es ihr um den unverstellten – in gewisser Weise unmethodischen – Blick auf die Sache, zum anderen vor allem darum, zu bedenken, wie sich eine Sache zeigt, d. h. wie eine Person Fremdes erfährt. Beides hängt zusammen, denn nur wenn man um die Dinge weiß, die den eigenen Blick trüben, lassen sie sich aus dem Weg räumen. Dabei kommen wir nicht nur der Sache näher, sondern auch uns selbst. 391 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Versuch eines Resümees

Die wichtigste Lehre der eidetischen Reduktion sei die der »Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion« [H. i. O.], schreibt Merleau-Ponty (ebd., 11). Dabei müsste sich unmittelbar die Frage anschließen, wie sie dennoch – wenigstens so gut wie möglich – gelingen kann. Die Antwort, die sich im Vollzug vorliegender Untersuchung herauskristallisierte, lautet: Nur durch eine Selbstsorge, die sich jedoch nicht transzendental-idealistisch versteigt, sondern realistisch am undurchsichtigen Boden aller menschlichen Selbsterfahrungsmöglichkeiten bleibt. »Denn die Welt ist nicht, was ich denke, sondern das, was ich lebe.« (ebd., 14) 322 Die Reflexion kann sich nicht erfüllen und ihren Gegenstand gänzlich aufhellen, wenn sie sich nicht ebensowohl ihrer selbst wie ihrer Resultate bewußt ist. Es genügt nicht, in die reflexive Einstellung überzugehen und sich in einem unangreifbaren cogito zu verschanzen, es bedarf der Reflexion auf diese Reflexion selbst […]; es genügt nicht, Philosophie zu treiben, es bedarf des Bewußtseins der Verwandlung, die die Philosophie selbst im Anblick der Welt und in unserer Existenz vollbringt. (ebd., 86)

Deshalb sei hier noch einmal die Phänopraxie bzw. eine Phänomenologie der Praxis stark gemacht, denn ihr geht es nicht nur um den logos der bloßen Gedankenarbeit, um Spezialistentum und möglichst erfahrungsfreie Techniken, sondern um alle Spielarten menschlichen Seins. In allen von ihnen erfahren und »wissen« wir etwas von der Welt. Damit wir dieses Wissen kreativ in Erscheinung bringen können, müssen wir uns in diese unterschiedlichen Seinsweisen einüben, sie sein und leben lassen – auch die bedrohlichen, düsteren, chaotischen oder geringgeschätzten. Es geht nicht nur um ein Bewusstsein von etwas, sondern um ein ganzheitliches Einleben in das, was immer schon unbewusst abläuft und all unser Erleben und Wissen bedingt. »Reflexion ist nur wahrhaft Reflexion«, schreibt Merleau-Ponty (ebd., 87), »wenn sie sich nicht über sich selbst erhebt, vielmehr sich selbst als Reflexion-auf-Unreflektiertes erkennt.« Durch die selbstbewusste Auseinandersetzung mit einer Sache begegnen wir auch uns selbst, wir ent-entfremden uns und werden dadurch fremdheits322 Insofern könne es nicht darum gehen, sich bloß im Rahmen theoretischer Denkmodelle zu bewegen, meint Foucault (in: Rabinow 1984, 374), »but, on the contrary, that a demanding, prudent, ›experimental‹ attitude is necesary (sic!); at every moment, step by step, one must confront what one is thinking and saying with what one is doing, with what one is. […] The key to the personal poetic attitude of a philosopher is not to be sought in his ideas […], but rather in his philosophy-as-life, in his philosophical life, his ethos.«

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Phänomenologie als Praxis der Selbstsorge

fähiger. Die Phänomenologie stellt also auch eine wichtige »Methode« für die Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit dar 323 und umgekehrt gilt für das Projekt der Phänomenologie: Je fremdheitsfähiger wir werden, desto näher kommen wir der Welt, desto besser sind wir in der Lage, ihren Sinn zu erfassen. Anders gesagt: Epoché üben ist Selbstsorge und Selbstsorge ist Epoché üben – die »Methode« der Phänomenologie braucht die Selbstsorge, damit die Epoché gelingt 324 und die »Sache« der Fremdheitsfähigkeit entwickelt sich dann, wenn wir uns in Selbstzurücknahme üben. Im Wissen um die unterschiedlichen Zugangsweisen des Menschen zur Welt steckt nicht nur die Begründung, sondern auch die unausweichliche Aufforderung, transdisziplinär sowie interkulturell vorzugehen. Denn Menschen erleben Fremdheit emotional, psychisch, spirituell, leibhaftig und rational – und dies jeweils in Abhängigkeit von ihrer spezifischen sozio-kulturellen sowie historischen Verwobenheit. Mit Merleau-Ponty (ebd., 17) gesprochen: Sinn scheint durch »im Schnittpunkt meiner Erfahrung wie in dem der meinigen und der Erfahrungen Anderer durch dieser aller Zusammenspiel, untrennbar also von Subjektivität und Intersubjektivität«. Auch um sich auf andere, ungewohnte, vorurteilsbehaftete und befremdliche Perspektiven einlassen zu können, ist eine Arbeit an sich selbst, die Entwicklung eines praktischen Selbstverhältnisses, nötig. Nur dann wird man in der Lage sein, sich von anderen Sichtweisen in Frage stellen zu lassen. Die Auseinandersetzung mit einer Sache verändert – und damit ändert sich auch der Blickwinkel auf die Sache. »The thinker shapes himself as he thinks«, bemerkt Roger Poole (1972, 145). Ein permanentes Wechselspiel nimmt seinen Lauf, indem man sich zugleich aktiv und passiv selbst verändert. »Phenomenology formatively informs, reforms, transforms, performs and performs the relation bet323 Die Bedeutung der Phänomenologie als Methode für die interkulturelle Verständigung im Kontext der interkulturellen Philosophie hat insbesondere Franz GmainerPranzl (2007a) in seinem Buch Heterotopie der Vernunft überzeugend herausgearbeitet. 324 Angesichts der Begegnung mit Fremdem kann das Postulat der Selbstzurücknahme doppelt bedrohlich wirken. Denn sich in diesem Moment selbst zurücknehmen und der eigenen Weltsicht gegenüber skeptisch zu sein, bedeutet aufzugeben, was man der Erschütterung den eigenen Vorstellungen entsprechend ordnend entgegensetzen könnte. Deshalb, so könnte man sagen, ist auch eine Praxis der Selbstsorge »doppelt« dringend geboten, weil man es angesichts des Fremden wagt, sich selbst fremd zu werden.

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ween being and practice.« (van Manen 2007, 26) Am Ende kommt man nur im Zwischen an: Das Ergebnis bleibt eine offene Ordnung zwischen Sache und Methode. Dabei stellt man mit Erstaunen fest: Das Schreiben über die Sache ist zugleich ein Schreiben über die Methode und ein Einüben in sie. Waldenfels (2015, 263) spricht von der Erfahrung als »eine Arbeitsstätte und eine Art Laboratorium, worin neue Erfahrungen gemacht und erprobt werden«. Erfahrungen können jedoch genauso wenig künstlich erzeugt oder hergestellt werden wie Erkenntnisse; wir müssen uns für sie öffnen, dabei eigene Grenzen überschreiten und uns ihnen überantworten. Treffend beschreibt dies auch zur Lippe (2000b, 343), wenn er herausstellt, dass im Erfahren eine Arbeit geleistet werde, »die eben nicht einen Gegenstand, ein Erlebnis von seiner Umgebung isoliert, stillstellt im Schraubstock der Drehbank und nun verschiedene Analysen und Manipulationen aussetzt, um schließlich ein zuvor geplantes Resultat zu erzielen«. Vielmehr müssten aufnehmende und einwirkende Beschäftigungen so miteinander wechseln, dass Bearbeitung und endliche Form beiden angemessen sei. (vgl. ebd.) So wird das »Einleben« in eine Erfahrung zu einer »›Einformung‹, durch die etwas in Form gebracht wird.« (Waldenfels 2015a, 267) 325 Das Wort »Einformung« meint jedoch gerade nicht, dass etwas »endlich« seine ureigene Form erhält, »formschön« wird und dann in Form bleibt. Es handelt sich vielmehr um eine »Formung im Übergang« (ebd., 263), um ständige Transformation. 326 In diesem »durchgängigen« 327 Prozess entgleitet man sich per325 Dass Antworten auf philosophische Fragen durch eine Praxis der Umformung des Selbst tatsächlich gelebt werden müssen und nicht rein durch propositionales Wissen beantwortet werden können, meint auch Wittgenstein (1984, 487), wenn er schreibt: »Die Lösung des Problems, das Du im Leben siehst, ist eine Art zu leben […]. Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann Dein Leben verändern.« 326 Vgl. hier Renn/Straub (2002): Transitorische Identität oder das Projekt der transformativen Phänomenologie von Rolf Elberfeld (2017). Für das Projekt der interkulturellen Philosophie betont Hseuh-I Chen, dass aus ihm sowohl die Bildung einer bestimmten Art und Weise des Philosophierens hervorgehe als auch die Bildung eines interkulturell fähigen Menschen. Die Voraussetzung dafür sei, »dass man ein Herz […] innehat, in dem unterschiedliche Ausformungen der Wahrheiten trotz anscheinend unaufhebbarer Differenzen beherbergt werden können« (Chen 2012, 75). Auch Raúl Fornet-Betancourt hebt die Bedeutung der interkulturellen Philosophie als eine Philosophie der Transfiguration hervor, die sich im Vollzug des Durch- oder Übergangs selbst bildet. (vgl. Gmainer-Pranzl 2007b, 36) 327 Elizabeth Behnke (2010, 13) spricht von »›Durchgang‹-moments as mere phases to be transcended«, welche dem Husserlschen Projekt, eine (end-)gültige Grundlage für

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manent selbst. Gerade darin ist man, darin erkennt man. Nur so kann sich auch Neues entwickeln, denn es ist nicht nur so, dass ich mich in diesem Prozess verändere, gleichzeitig ermöglicht meine Veränderung neues Denken. Am Ende habe ich nichts, aber ich werde. Das ist jedoch schwer, denn man muss sich darin üben, es auszuhalten, immer unterwegs zu sein, nie wirklich an ein Ziel zu kommen und nie ein endgültiges Ergebnis in den Händen zu halten. Außerdem müssen wir uns eingestehen, abhängig zu sein und nicht so autonom, wie wir das gern hätten. Zumindest dann nicht, wenn wir wirklich etwas erfahren wollen, das uns herausholt aus unseren egozentrischen Weltbezügen, denn dann sind wir angewiesen auf Fremdes. Die Anerkennung einer Genese, die anderswo beginnt, die wir nicht völlig selbst im Griff haben, bietet nicht nur Raum für Fremdes, sondern heißt es freundlich willkommen. »Das Wandern als Nirgends-Wohnen verabschiedet jede Form des Festhaltens«, schreibt Han (2002a, 86) bezugnehmend auf die Philosophie des ZenBuddhismus und fährt fort, dies betreffe nicht nur das Verhältnis zur Welt, sondern auch das zu sich selbst. Es bedeutet, »nicht an sich festhalten, nicht in sich verharren, also sich lassen, von sich ablassen, mitten im Vergänglichen auch sich gehen lassen.« [H. i. O.] (ebd.) Im phänomenologischen Schreiben auf der Suche nach dichtem Verstehen werden einem Dinge klarer, Bedeutung und Sinn wird spürbar, es macht sensibel für den Moment. Wenn es uns gelingt, entgrenzt und offen der Welt zu begegnen, wird es weniger wichtig, am Ende eine Erkenntnis vorweisen zu können, die unser Tun und unsere Existenz rechtfertigt, weil die Begegnung selbst zählt. Im Wandern bei sich selbst anzukommen, verneine nicht einfach das Haus und das Wohdie Wissenschaft zu liefern, keinesfalls entgegenstünden. Auch sie hebt jedoch auf die Unmöglichkeit einer vollständigen Reduktion ab, wenn sie schreibt: »It therefore makes perfect methodological sense to renew the reduction to the primal living present and to let the affective saliences come and go as they will without marshaling these moments in service of the constituion of an object-like entity. […] what I am thematizing in lucid awareness is how I am living-through what I am experiencing […]: the research topic itself requires the researcher to set aside the presuppositions pertaining to the phenomenological analysis of an objective world of ›things‹, and to adopt instead a qualitatively different style of experiencing that retrieves a deep dimension from its anonymity, allowing its silent voice to be heard. [H. i. O.] In einer Fußnote meint sie, es sei angebracht zu erwähnen, dass im Gang der Untersuchung die Auseinandersetzung mit einer Sache nicht nur die Methode beeinflusse, »but also to acknowledge that carrying out such an investigation can change the researcher as well« (ebd., 14, Fußnote 38).

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nen, meint Han (ebd., 95). »Es öffnet das Haus, stimmt es freundlich. […] Es ent-innerlicht sich zu einem Gasthaus.« [H. i. O.] (ebd.). Das, was mir am Ende klarer wird, stellt mich selbst auf die Probe: Wie würde ich jetzt wohl, nach all dem Denken und Schreiben auf die Inuk reagieren? Inwiefern macht es einen Unterschied? Wäre ich in der Lage, ihr und mir zu antworten? Ich hoffe, ich könnte einfach dem folgen, was ich in mir erlebe und mit ihr weinen oder ihren Schmerz in mir mit ihr herausschreien. Damit wäre ich ganz bei mir und zugleich auch bei ihr – wenn sie mich ließe.

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Persönliches Nachwort

Seit ich denken kann, hat es mich in meinem Leben an Grenzen gedrängt – und manchmal auch darüber hinaus: Bei meinem Leben unter Inuit, während Forschungsaufenthalten in Togo und Kenia sowie in der Arbeit mit Menschen, die Schlimmes erleben mussten und deshalb immer wieder straucheln. Wie bei zahlreichen Berg- und Klettertouren im Hochgebirge sind diese Erfahrungen immer auch körperlich, emotional, psychisch und spirituell. Sie betreffen und verändern mich in meinem ganzen Sein. Ich bin glücklich und dankbar, dass ich im Rahmen meiner Habilitationsschrift die Möglichkeit erhielt – mit Husserl gesprochen –, die reine und noch stumme Erfahrung, die am Anfang meiner philosophischen Auseinandersetzung stand, zur Aussprache zu bringen und dem nachzuspüren, was sich darin zeigt. Wenn ich dem, was mich bewegt, eine Überschrift geben oder es irgendwie einklammern sollte, hätte es etwas mit »Grenzbegegnungen« zu tun. Mich interessieren die philosophischen Randgebiete – aber nicht bloß als gedankliches Glasperlenspiel, sondern als Suchbewegungen nah an den Menschen und ihren (Grenz-)Erfahrungen, z. B. mit den Schattenregionen des Selbst, mit Gefühlen von Angst und Scham in verschwiegenen Tabubereichen, mit hartnäckigen Konflikten und Gewalt, mit tiefsitzenden Verletzungsverhältnissen, an den Nicht-Orten menschlicher Existenz oder bei der gesellschaftlichen Produktion von Unbewusstheit. Dabei beschäftigt mich auch das Verständnis von Philosophie selbst, und was es bedeutet, Philosophie zu betreiben. Bei alldem habe ich lernen dürfen, dass es gut und sinnvoll ist, methodisch offen vorzugehen. Die freie Auseinandersetzung mit einer Sache ist paradoxerweise auch eine Form der Grenzerfahrung – weil man sowohl methodische Grenzen als auch sich selbst diesem Prozess aussetzt. Die Sache soll atmen dürfen und es gilt, auf dem Weg der Auseinandersetzung mit ihr das eigene Tun zu begleiten 397 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Persönliches Nachwort

und zu reflektieren. Vielleicht könnte man auch sagen, dass ich Lust daran bekommen habe, Methoden »von den Grenzen her« zu entwickeln. Ich merke das gerade sehr deutlich bei Projekten zur Friedensbildung im Nordirak und in Afghanistan: Man kann und sollte dafür selbstverständlich etwas vorbereiten, muss aber zugleich immer alles zur Disposition stellen. Diese Vorgehensweise ist nicht einfach nur eine »Anwendung« von Methoden oder bestimmten philosophischen Schulen, sondern löst einen Veränderungsprozess aus, weil man in ein Zwischen eintritt. Diese Spannung eines methodisch-unmethodischen Vorgehens möchte ich weiter ausloten, denn ich glaube, dass sie gerade für die interkulturelle Philosophie von großer Bedeutung sein kann. Ich habe in den letzten Jahren immer mehr den Mut gefunden, aus einer gewissen Not meiner Biografie voller Umwege, eine Tugend zu machen. Immer wieder erlebe ich mich zwischen den Stühlen: von Theorie und Praxis, von distanzierter Analyse und intensivem Mit-Sein und in den Gräben zwischen unterschiedlichen Disziplinen. Auch das sind Grenzerfahrungen, weil man nie irgendwo wirklich Expertin ist oder fachlich voll dazugehört, sondern häufig allein in mehreren Steinbrüchen nach Bausteinen sucht. Ich fühle mich in einer Philosophie zuhause, die im Leben wurzelt, die auch vor sinnlichen Erfahrungen nicht zurückschreckt, sondern sich auf sie einlässt und es dabei wagt, sich Unbekanntem und Ungesichertem auszusetzen. Es ist nicht selbstverständlich, mit diesem Verständnis von Philosophie in der akademisch-wissenschaftlichen Arena philosophischen Denkens mitspielen zu dürfen. Umso mehr danke ich Rolf Elberfeld, dass er mich von Anfang an ernstgenommen hat und mir durch sein wertschätzendes Interesse an meinen Fragen den Mut gab, meiner Intuition zu trauen und mich auf sie einzulassen. Durch ihn habe ich Rückenwind bekommen und Lust und Freude darauf, nun gestärkt mit einem Rucksack voller Fragen und Ideen aufzubrechen – ohne immer schon zu wissen, wohin der Weg mich führt. Danken möchte ich auch Franz Gmainer-Pranzl, mit dem ich das Interesse an interkulturellen Fragen und insbesondere an der Phänomenologie des Fremden teile. Er unterstützt mich seit Jahren nach Kräften, ist mir wertvoller Gesprächspartner und Fürsprecher. Sein Engagement für mich und für mein wissenschaftliches Weiterkommen ist von unschätzbarem Wert. Ein weiterer wichtiger Gesprächspartner war und ist Helmut Danner, der mich seit den ersten Schrit398 https://doi.org/10.5771/9783495820681 .

Persönliches Nachwort

ten in das Habilitationsprojekt begleitete. Ihm war es möglich, meine ungeordneten Gedanken zu systematisieren, sodass ich sie selbst besser verstand. Unerwähnt bleiben darf auch nicht, dass mir die Hochschule für Philosophie in München, allen voran Johannes Wallacher, eine Basis geschaffen hat, diese Arbeit zu schreiben. Auch wenn meinen Eltern vieles in meinem Leben vermutlich etwas fremd wurde, waren sie immer meine letzte »Fall-back-Strategie«. So habe ich es auch meinem Vater zu verdanken, dass ich so manchen Rechtschreibfehler noch ausmerzen konnte. Mein Cousin Peter Hoffmann-Schoenborn hat das Cover dieses Buchs gestaltet. Er hat dafür Portraitfotos, die er im Rahmen des Projekts der »Spurensuche. 70 Jahre Zuwanderung in Hannover-Linden« von Menschen mit Migrationshintergrund aufgenommen hatte, zusammengestellt. Damit vermochte er es, direkt an die Thematik des Buchs anzuknüpfen. Mein letzter Dank gilt Wolfgang. Er hat mir in turbulenten Zeiten den Rücken frei gehalten, Seite für Seite gelesen, mich auf Ungereimtheiten hingewiesen und zugleich immer wieder bestärkt, wenn ich mich in dunklen Tälern gefangen sah. Er hat mir ein Haus in den Bergen gebaut und lässt sich auf meine Abenteuer ein – die gedanklichen ebenso wie die ganz realen alltäglichen. Vielleicht bewegt mich die Frage nach einem lebensdienlichen Umgang mit menschlichen Grenzerfahrungen gerade deshalb so stark, weil ich so viel Sinn und Bedeutung in zwischenmenschlichen Begegnungen für mich entdecke – auch oder gerade weil sie voller Spannungen und Widersprüche sind.

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