Fremdes schreiben – fremdes Schreiben: Konzeptionen von Alienität (in) der Prosa Aleksandr Grins [1 ed.] 9783666367625, 9783525367629


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German Pages [678] Year 2022

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Fremdes schreiben – fremdes Schreiben: Konzeptionen von Alienität (in) der Prosa Aleksandr Grins [1 ed.]
 9783666367625, 9783525367629

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Annelie Bachmaier

Fremdes schreiben – fremdes Schreiben Konzeptionen von Alienität (in) der Prosa Aleksandr Grins

Schnittstellen Studien zum östlichen und südöstlichen Europa Herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Ulf Brunnbauer Band 21

Annelie Bachmaier

Fremdes schreiben – fremdes Schreiben Konzeptionen von Alienität (in) der Prosa Aleksandr Grins

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der Universität Regensburg und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Die Arbeit wurde im Jahr 2019 von der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften der Universität Regensburg als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike, V&R unipress. Umschlagabbildung: Aleksandr Grin. Zeichnung von Bianca Rockel 2021 Umschlaggetaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-6614 ISBN 978-3-666-36762-5

Meinem Vater gewidmet

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Anmerkungen zur Zitier- und Bibliographierweise, Transliteration und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1 Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2 Theoretisch-methodischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.3 Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur . . . . . . 23 2.1 Vorstellung des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1.1 Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1.2 Das Leben und Schaffen Grins . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.1.2.1 Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.1.2.2 Militärdienst und Zeit als Sozialrevolutionär . . . . . 49 2.1.2.3 Petersburger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.1.2.4 Feodosija und Staryj Krym . . . . . . . . . . . . . . . 80 2.2 Die Rezeption Aleksandr Grins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.2.1 Erste Phase (1910 – Mitte der 1920er Jahre): Ambivalente Bewertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2.2.2 Zweite Phase (Mitte der 1920er Jahre – 1932): Ablehnung wegen Nichterfüllung des ›sozialen Auftrags‹ der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.2.3 Dritte Phase (1932–1940): Wertschätzung und Ursprünge des heutigen Grin-Bilds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2.2.4 Vierte Phase (1940–1956): Beschuldigungen des Kosmopolitismus, Formalismus und Reaktionismus . . . 128 2.2.5 Fünfte Phase (ab 1956): Die ideologische (Um-)Deutung Grins nach dem Ende des Stalinismus . . . . . . . . . . . . . 136 2.2.5.1 Die Merkmale der Rezeption ab 1956 . . . . . . . . . 139 2.2.5.1.1 Die Strategie der ›Sowjetisierung‹ Grins: Unterstützung der Revolution und Übereinstimmung mit der Ideologie des Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

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Inhalt

2.2.5.1.2 Die Strategie der ›politischen Depotenzierung‹ Grins: Grin als Romantiker und Kinder- und Jugendbuchautor . . . . . 155 2.2.5.2 Die Folge der Rezeption ab 1956: Einschluss in die offizielle sowjetische und die russische Kultur durch partiellen Ausschluss . . . . . . . . . . . . . . . 179 3. Das Fremde: theoretisch-methodische Grundlagen . . . . . . . . . . 191 3.1 Das Fremde – Annäherung an einen ›unzugänglichen‹ Begriff . . 192 3.1.1 Vorüberlegung: Identität und Alienität . . . . . . . . . . . . 195 3.1.2 Entwurf einer Semiotik des Fremden . . . . . . . . . . . . . . 202 3.1.2.1 Die Eigenschaften des Fremden . . . . . . . . . . . . . 202 3.1.2.2 Die Dimensionen des Fremden . . . . . . . . . . . . . 205 3.1.2.2.1 Die semantischen Dimensionen des Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 3.1.2.2.1.1 Bedeutungen . . . . . . . . . . . . 207 3.1.2.2.1.2 Referenten . . . . . . . . . . . . . 212 3.1.2.2.2 Die syntaktischen Dimensionen des Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3.1.2.2.2.1 Grade . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3.1.2.2.2.2 Dynamiken . . . . . . . . . . . . 222 3.1.2.2.3 Die pragmatischen Dimensionen des Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3.1.2.2.3.1 Interpreten . . . . . . . . . . . . . 225 3.1.2.2.3.2 Vektoren . . . . . . . . . . . . . . 226 3.1.2.2.3.3 Ausdrucksmodi . . . . . . . . . . 227 3.1.2.2.3.4 Wirkungen und Bewältigungs­ strategien . . . . . . . . . . . . . . 228 3.1.2.2.3.5 Axiologie . . . . . . . . . . . . . . 232 3.2 Fremdheit und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 3.2.1 Die räumliche Verankerung von Eigenem und Fremdem: J. Lotmans Modell der Semiosphäre . . . . . . . . . . . . . . 244 3.2.2 Die Chronotopographie des Fremden . . . . . . . . . . . . . . 250 3.2.2.1 Im semiotischen Außenraum: das radikal Fremde und das strukturell Fremde . . . . . . . . . . . . . . . 251 3.2.2.2 Im semiotischen Innenraum: das alltägliche Fremde und das intrasubjektive Fremde . . . . . . . . . . . . . 253 3.2.2.3 Dazwischen und (n)irgendwo . . . . . . . . . . . . . . 259 3.2.2.3.1 Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 3.2.2.3.2 Schwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 3.2.2.3.3 Atopien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Inhalt

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4. Konzeptionen des Fremden in der Prosa Aleksandr Grins: Textanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 4.1 Das alltägliche Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 4.1.1 Erscheinungsformen des alltäglichen Fremden bei Grin – Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 4.1.2 Ennui als Fremdheit (in) der Welt . . . . . . . . . . . . . . . 279 4.1.2.1 Ennui ohne Ende: »Propavšee solnce« . . . . . . . . . 283 4.1.2.2 Ennui mit unverhofftem Ende: »Zelënaja lampa« . . . 294 4.1.2.3 Variationen: »Serdce pustyni«, »Vokrug sveta«, »Gladiatory« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 4.2 Das strukturell Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 4.2.1 Erscheinungsformen des strukturell Fremden bei Grin – Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 4.2.2 Das Konzept Grinlandija . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 4.2.2.1 Die Problematik des Konzepts Grinlandija . . . . . . 325 4.2.2.2 Grinlandija als doppelt hybrider Raum: eigen-fremd und real-imaginär . . . . . . . . . . . . . 331 4.2.3 Begegnungen mit kulturell und geographisch Fremdem . . . 345 4.2.3.1 Der Weg in die Fremde als Verheißung: »Put’« . . . . 345 4.2.3.2 Der Weg in die Fremde als Befreiung: »Dalëkij put’« . 358 4.2.3.3 Kein Ausweg aus dem Fremden: »Noč’ju i dnëm« . . . 382 4.2.3.4 Variationen: »Vozdušnyj korabl’«, »Zoloto i šachtëry«, »D’javol Oranževych Vod« . . . . . . . . . . . . . . . 416 4.3 Das radikal Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 4.3.1 Erscheinungsformen des radikal Fremden bei Grin – Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 4.3.2 Das Fremde und das Phantastische . . . . . . . . . . . . . . . 438 4.3.2.1 Das Phantastische mit Tendenz zum Wunderbaren: »Proisšestvie v ulice Psa« . . . . . 445 4.3.2.2 Das Phantastische mit Tendenz zum Unheimlichen: »Ubijstvo v rybnoj lavke« . . . . 467 4.3.2.3 Variationen: »Iva« und »Fandango« . . . . . . . . . . 483 4.4 Das intrasubjektive radikal Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 4.4.1 Erscheinungsformen des intrasubjektiven radikal Fremden bei Grin – Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 4.4.2 Der Doppelgänger als Ausdruck intrasubjektiver radikaler Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 4.4.2.1 Das Ich als Balanceakt: »Kanat« . . . . . . . . . . . . 509 4.4.2.2 Nicht Herr in seinem eigenen Haus: »Rasskaz Birka« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 4.4.2.3 Variationen: »Beguščaja po volnam«, »Ėlda i Angotėja«, »Ėrna«, »Beznogij« . . . . . . . . . 588

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Inhalt

5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 1. Werke Aleksandr Grins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 2.1 Publizierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 2.2 Archivquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 3. Bildquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669

Vorwort

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift. Während meiner Promotionszeit habe ich Unterstützung von verschiedensten Seiten erfahren. Besonderer Dank gebührt meinen »Doktoreltern«, Professor em. Dr. Walter Koschmal und Professor Dr. Sabine Koller vom Institut für Slavistik der Universität Regensburg, die mich mit der richtigen Mischung aus Ratschlägen und Freiräumen begleitet haben und die mir Vorbilder in fachlicher wie auch menschlicher Hinsicht sind. Der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien an der LMU München und der Universität Regensburg (finanziert durch die DFG im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder) danke ich für die Aufnahme in ihr Programm, die Finanzierung eines Großteils meiner Promotion sowie die Ermöglichung von Archivaufenthalten, Konferenzteilnahmen und Fortbildungen. Meinen Mit-Doktorand:innen, den Post-Docs und beteiligten Professor:innen der Graduiertenschule danke ich für den intensiven wissenschaftlichen wie auch nicht-wissenschaftlichen Austausch. Dank geht ebenso an BAYHOST (Bayerisches Hochschulzentrum für Mittel-, Ost- und Südosteuropa) für die Bereitstellung einer Mobilitätsbeihilfe zur Finanzierung eines Archivaufenthalts in Moskau und an die Universität Regensburg für die Vergabe eines Promotions-Abschlussstipendiums des Bayerischen Programms zur Realisierung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre, bereitgestellt durch das Bayerische Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst. Für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen danke ich der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Schließlich möchte ich an dieser Stelle meiner Familie und meinen Freunden danken, die ein wichtiger Teil meines Lebens sind. Stellvertretend für alle, die mich während der Promotionsphase auf unterschiedlichste Art und Weise unterstützt haben, seien hier drei Menschen genannt, die diese Zeit besonders intensiv begleitet haben: Ich danke Anika für ihr Verstehen, für das Bereitstellen eines Orts zum Schreiben und Nicht-Schreiben und für unsere lange Freundschaft, Sophia für wichtige und wohldosierte Interventionen während der Schreibphase und Julia für unzählige gemeinsame Arbeitsstunden, ein stets offenes Ohr und natürlich für Walter Benjamin.

Anmerkungen zur Zitier- und Bibliographierweise, Transliteration und Übersetzung

Zitier- und Bibliographierweise von literarischen Werken Grins: Aufgrund der großen Zahl der in dieser Studie zitierten literarischen Werke Aleksandr Grins wird jedem von ihnen bei der jeweils ersten Nennung eine Abkürzung (Sigle) zugeordnet. In der Folge wird die Quelle nach dem Muster: Sigle, Seitenzahl(en) angegeben, zum Beispiel: KA, 5. Dies gilt nur für publizierte Werke. Nichtpublizierte Manuskripte aus Archiven werden wie andere Archivquellen behandelt (siehe unten). In deutscher Übersetzung vorliegende Werke werden mit derselben Sigle wie das Original und dem Zusatz ›d‹ bezeichnet, z. B.: KAd. Eine alphabetische Auflistung der Siglen befindet sich im Abkürzungsverzeichnis. Zitier- und Bibliographierweise von Sekundärliteratur: Bei der Erstnennung werden die vollständigen bibliographischen Angaben angeführt, ab der zweiten Nennung erfolgt eine verkürzte Angabe. In der Kurznotation wird lediglich der Nachname des Autors genannt; eine Ausnahme hiervon wird aufgrund der großen Quellenzahl im Falle der zweiten Ehefrau Aleksandr Grins, Nina Nikolaevna Grin, gemacht: Diese wird als ›Grin, N.‹ zitiert, um eine Unterscheidung von Aleksandr Grin (zitiert als ›Grin‹) zu ermöglichen. In Fällen, in denen lediglich die Initialen des Verfassers bekannt sind (z. B. bei Rezensionen), werden diese anstelle des Nachnamens angegeben. Bezieht sich die Nummerierung auf Spalten statt Seiten, wird dies durch den Zusatz ›Sp.‹ vor der Zahl kenntlich gemacht; keine Angabe erfolgt bei nicht vorhandenen oder  – in Ausnahmefällen wie Rezensionen vom Beginn des 20. Jahrhunderts – unbekannten Seitenzahlen. Bei wörtlichen Zitaten sowohl aus der Primär- als auch der Sekundärliteratur werden Anführungszeichen im Zitat, egal welcher Art, durch einfache Anführungszeichen ersetzt. Direkte Rede in wörtlichen Zitaten in russischer Sprache wird ebenfalls mit einfachen Anführungszeichen markiert (statt mit ›–‹ und neuer Zeile). Zitier- und Bibliographierweise von Archivmaterialien: Alle verwendeten Archivquellen werden im Literaturverzeichnis in einem gesonderten Abschnitt aufgeführt. Als Titel werden die durch das Archiv ver-

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Zitier- und Bibliographierweise, Transliteration und Übersetzung

gebenen Bezeichnungen der Archivalien übernommen, inklusive Interpunktionszeichen. Falls das Dokument im Original einen hiervon abweichenden eigenen Titel besitzt (z. B. bei Zeitungsartikeln), wird dieser, ebenso wie weitere Angaben (z. B. der Name der Zeitung), vor dem durch das Archiv vergebenen Titel genannt. Bei Archivquellen entspricht die Angabe der Blätter (russ.: listy, Abk.: l.) der Nummerierung durch das Archiv. Nachträglich eingefügte Seiten wurden durch die Archive durch Kleinbuchstaben markiert, die Zählung lautet also beispielsweise: l. 10, 10a, 11. Ist die Rückseite eines Blattes gemeint, wird dies durch den Zusatz ›ob.‹ (russ.: oborotnaja storona; dt.: Rückseite)  nach der Seitenzahl markiert, z. B. l. 5ob. In Sonderfällen, in denen innerhalb eines Archivdokuments die Nummerierung der Blätter wieder von vorne beginnt und somit Seitenzahlen mehrfach vorhanden sind, beispielsweise bei mehreren Heften oder Mikrofilmrollen, wird diese Information zur Gewährleistung einer eindeutigen Zuordnung zusätzlich angegeben. Die Kürzel der Archive sind dem Abkürzungsverzeichnis zu entnehmen. Transliteration: Die Transliteration aus dem kyrillischen ins lateinische Alphabet folgt der DIN-Norm 1460 (1982). Transliteriert werden Orts- und Personennamen sowie bibliographische Angaben. Ausnahmen sind im Deutschen geläufige Toponyme, die in der deutschen Schreibweise wiedergegeben werden, z. B. ›Krim‹ (aber z. B., da nicht geläufig: ›Staryj Krym‹). In russischsprachigen Quellen aus der Zeit vor der Rechtschreibreform von 1918 (bzw. z. T. auch danach – Grin etwa behält auch nach 1918 in vielen Texten die alte Rechtschreibung bei) wird die alte Orthographie der Einfachheit halber nur bei wörtlichen (und somit nicht transliterierten) Zitaten verwendet. Transliterierte Werktitel, Autorennamen und Ähnliches werden dagegen nach den Regeln der neuen Rechtschreibung wiedergegeben. Übersetzungen: Übersetzungen werden für alle Fremdsprachen mit Ausnahme des Englischen und Französischen angegeben. Sofern deutsche Übersetzungen fremdsprachiger wörtlicher Zitate und Werktitel existieren, werden diese in der Regel verwendet. Nur in Fällen, in denen eine wörtliche(re) Übersetzung erforderlich ist, wird eine eigene Übersetzung bevorzugt oder ergänzend angeführt. Wird bei Zitatübersetzungen keine Quelle genannt, handelt es sich um eigene Übertragungen. Übersetzungen von fremdsprachigen Buch- oder Aufsatztiteln, Namen von Periodika, Verlagen, Organisationen, Institutionen etc. sowie von Schlagwörtern erfolgen in der Regel nur bei der jeweils ersten Erwähnung. Bibliographische Angaben werden nicht übersetzt.

1. Einleitung

1.1 Zielsetzung »Гринъ – незаурядная фигура въ нашей беллетристикѣ […].« Arkadij Gornfel’d, 19171 »Грин – писатель чуждый нам по своим настроениям […].« V. Ščepotev, 19292 »[…] творчество Грина само по себе представляет незаурядное литературное явление […].« Vadim Kovskij, 19663 »An utter exotic not only in Soviet literature, but in Russian literature as a whole […].« Bernard G. Guerney, 19604 »[…] чужд я им, странен и непривычен […].« Aleksandr Grin, 19145

Der Schriftsteller Aleksandr Grin (1880–1932; eigentlich: Aleksandr Stepa­ novič Grinevskij) ist im russischsprachigen Raum weithin als Autor roman1 Gornfel’d, A. G.: Aleksandr Grin. Iskatel’ priključenij. In: Russkoe bogatstvo 6/7 (1917), 279–282, hier 280. Recenzija na knigu A. Grina »Iskatel’ priključenij«, M. 1916. Fondovyj otdel Feodosijskogo literaturno-memorial’nogo muzeja A. S. Grina (weiter FLMMG), n / v 4711, l. 2. Dt.: »Grin ist eine außergewöhnliche Figur in unserer Belletristik […].«. 2 Ščepotev, V.: Smotr nizovoj kritiki. In: Na literaturnom postu 8 (aprel’ 1929), 45–51, hier 47. In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, maši­ nopis’. Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva (weiter RGALI), f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 1–6, hier 3. Dt.: »Grin ist ein Schriftsteller, der uns seinen Stimmungen nach fremd ist […].«. 3 Kovskij, Vadim E.: Aleksandr Grin. Preobraženie dejstvitel’nosti. Frunze 1966, 4. Dt.: »[…] Grins Werk stellt an und für sich eine außergewöhnliche literarische Erscheinung dar […].«. 4 Guerney, Bernard Guilbert: Alexander Stepanovich Greenevsky (›A.  Green‹). In: Ders. (Hg.): An Anthology of Russian Literature in the Soviet Period from Gorki to Pasternak. Edited and translated by Bernard Guilbert Guerney. New York 1960, 387–388, hier 387. 5 Grin, Aleksandr S.: V. S. Miroljubovu. [Pis’mo, Peterburg, janvar’ 1914]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva / Feodosija 2012, 22. Dt.: »[…] ich bin für sie fremd, seltsam und ungewohnt […].«.

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Einleitung

tischer Erzählungen und Romane insbesondere für Kinder und Jugendliche bekannt, die von Seefahrern und Abenteurern, von Freundschaft, Mut und dem Kampf für das Schöne und Gute erzählen.6 Vor allem aber gilt Grin als Fremder der russischen bzw. sowjetischen Literatur, als höchst ungewöhnliche Erscheinung, Sonderfall oder gar Kuriosität. Der Hauptgrund dafür liegt in einer Besonderheit seines Schaffens: Die Handlung einer großen Zahl der Prosawerke Grins spielt an fiktiven Orten mit nichtrussischen, oft sogar exotischen Zügen und fremdklingenden Namen, die posthum unter der Bezeichnung Grinlandija7 (dt.: Grinland) zusammengefasst werden. Grins Entscheidung, in seiner Prosa Fremdes zu schreiben (zu beschreiben, zu umschreiben, umzuschreiben), führt also zur Wahrnehmung seiner Prosa als fremdes Schreiben. Der Titel der vorliegenden Studie – »Fremdes schreiben – fremdes Schreiben« drückt diese enge Verknüpfung auch durch ein graphisches Spiegelverhältnis aus.8 Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass der Begriff des Fremden in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird – die Schauplätze der Werke wirken fremd im Sinne von fremdländisch; der Autor wird dagegen als fremd im Sinne von fremdartig eingeordnet. Beide Aspekte wären für sich genommen bereits einer eingehenden Untersuchung würdig, für die ausreichend Material zur Verfügung stünde. Dennoch soll das Thema des Fremden bei Grin, das im Zentrum der vorliegenden Studie steht, ganz bewusst ausgehend von einem weiteren Begriffsverständnis behandelt werden, welches im Theorieteil vorgestellt wird. Die Wahl dieses Ansatzes ist zweierlei Umständen geschuldet. Zum einen trägt sie der Tatsache Rechnung, dass das Fremde in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen eine dominierende Rolle im Schaffen des Schriftstellers einnimmt und sich keineswegs auf exotische Schauplätze und ungewöhnliche Namen beschränkt, sondern ebenso Phänomene wie Ich-Fremdheit, soziale Entfremdung oder übernatürliche Erscheinungen mit einschließt und seine Prosa auch auf den Ebenen der Sprache und der Narration durchdringt. Die Untersuchung dieser Aspekte von Grins Werk stellt bislang ein fast vollstän6 Im Westen hingegen stellt Grin selbst innerhalb der slavistischen Literatur- und Kulturwissenschaft nicht mehr als eine Randerscheinung dar und ist außerhalb des Fachs so gut wie unbekannt. 7 Vgl. Zelinskij, Kornelij: Grin. In: Grin, A.: Fantastičeskie novelly. Pod redakciej i so vstupitel’noj stat’ej Kornelija Zelinskogo. Moskva 1934, 5–36, hier 9; und Zelinskij, Kornelij L.: Grin. In: Krasnaja nov’ 4 (1934), 199–206, hier 200. 8 Darüber hinaus wird das Moment der Fremdheit gleichsam auch auf der performativen Ebene umgesetzt: Die Formulierung des Titels provoziert ein ›Stolpern‹ im Lesefluss und bedient sich damit in gewisser Weise des von den russischen Formalisten in den Blick genommenen Mittels der Verfremdung (ostranenie), das eine Ent-Automatisierung der Wahrnehmung bewirkt (vgl. Šklovskij, Viktor B.: Iskusstvo kak priëm. In: Ders.: O teorii prozy. Moskva 1929, 7–23, hier 13).

Zielsetzung 

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diges Forschungsdesiderat dar, da sich die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller in weiten Teilen auf Grinlandija und damit verbundene Themen konzentriert. Zum anderen steht eben diese starke Fokussierung der Forschungsliteratur auf das geographisch-kulturell Fremde bei Grin in engem Zusammenhang mit der oben angesprochenen, stark verklärenden Konzeptualisierung Grins als Autor romantischer Werke mit positiven Helden. Durch die in dieser Studie vorgenommenen Analysen von Erscheinungsformen des Fremden bei Grin in einem weiteren Verständnis verschiebt sich bei der Auswahl des zu betrachtenden Textkorpus der Fokus – fast schon zwangsläufig – auf Werke, die diesem romantisierenden Bild widersprechen und daher aus dem ›Kanon‹ der typischen Grin-Texte ausgeschlossen wurden. Die Analyse des Fremden bei Grin ermöglicht damit auch im weiteren Sinne eine neue Perspektive auf den Schriftsteller. Die Zielsetzung der vorliegenden Studie lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Erstens soll die soeben angesprochene doppelte (Neu-)Erschließung des Autors und seines Werks geleistet werden. In deren Zentrum steht die Analyse von Grins Schreiben des Fremden. Zum einen wird damit erstmals ein Thema in seiner Gesamtheit in den Blick genommen, welches das ganze Schaffen des Schriftstellers durchzieht und prägt, bislang in der Forschung aber fast vollständig auf den Aspekt des geographisch-kulturell Fremden reduziert wurde. Neben den Konzeptualisierungen von Alienität in ihren vielfältigen Ausprägungen werden insbesondere auch narrative Strategien und deren Verknüpfung mit der Inhaltsebene des Werks in den Blick genommen. Dabei soll die spezifische Poetik des Fremden bei Grin herausgearbeitet und gezeigt werden, dass Grins Erzählungen oftmals einen hochkomplexen Aufbau besitzen, bei dem strukturelle, inhaltliche, sprachliche und narrative Elemente dicht miteinander verwoben sind und so das Sujet stützen. Zum anderen besteht die Neuerschließung in der Herausarbeitung und anschließenden Herausforderung des weitverbreiteten selektiven und romantisch-verklärenden Grin-Bilds. Durch die tiefgehende Analyse des nicht auf Grinlandija reduzierten Fremden in seiner Prosa, die Einbeziehung bislang weitestgehend ignorierter Werke sowie durch die Identifikation dieses Bildes als Produkt ideologisch vereinnahmender sowjetischer Grin-Lektüren, welche bis heute größtenteils unreflektiert fortbestehen, soll gezeigt werden, dass die bislang vorherrschende Sichtweise auf Grin in weiten Teilen zu revidieren ist. Zweitens soll die vorliegende Studie eine umfassende Darstellung des Autors und seines Schaffens bieten. Dies erscheint angesichts der sehr begrenzten Anzahl literaturwissenschaftlicher Studien zu Grin außerhalb des (post-)sowjetischen Raums und des sogar vollständigen Fehlens einer Monographie zu ihm in deutscher Sprache bei gleichzeitigem Vorliegen einer umfangreichen – und dabei in ihrer Sichtweise auf Grin sehr homogenen – russischsprachigen

Einleitung

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Forschungsliteratur als ein geradezu überfälliges Unternehmen. Zudem betrifft die verbreitete romantische Verklärung nicht nur die Interpretation von Grins Werk, sondern zum Teil auch die Darstellung seiner Biographie, weshalb hier ebenfalls, unter Einbeziehung oftmals kaum berücksichtigter Archivmaterialien, eine Relativierung oder Widerlegung entsprechender Aussagen erfolgen soll. Wie aus der Beschreibung der ersten beiden Ziele der Arbeit hervorgeht, ist die Sekundärliteratur zu Grin in der vorliegenden Studie also in weiten Teilen weniger Hilfsmittel zur Erschließung von Autor und Werk als vielmehr selbst Gegenstand einer kritischen Analyse. Das dritte Ziel der Studie besteht in einem Beitrag zur Theorie des Fremden. Aufgrund der Breite und Komplexität der Thematik existieren dazu unzählige Theorien und Ansätze aus zahlreichen unterschiedlichen Disziplinen. Daraus resultiert eine schwer überschaubare Menge an Begrifflichkeiten, deren Gebrauch zudem nicht einheitlich ist: Zum Teil werden unterschiedliche Termini zur Beschreibung ähnlicher oder sogar identischer Sachverhalte verwendet, zum Teil dieselben Begriffe mit unterschiedlichen Bedeutungen benutzt. Die Studie präsentiert daher einen Entwurf einer umfassenden – auf der Systematisierung bestehender Ansätze basierenden und diese weiterdenkenden – Theorie des Fremden mit einheitlicher Terminologie und praktischer Anwendbarkeit auf die Textanalysen. Diese Theorie erlaubt nicht nur eine adäquate Beschreibung der komplexen und oftmals ineinander verschränkten Erscheinungsformen des Fremden in Grins Werken, sondern ist darüber hinaus auch auf andere (nicht nur literarische) Kontexte anwendbar. Nicht Ziel der vorliegenden Studie ist hingegen ein Vergleich mit anderen Texten der russischen Literatur, die ebenfalls das Thema des Fremden be- und verhandeln, da dies – bei aller Attraktivität – den Rahmen dieser Monographie überschreiten würde. Es werden daher lediglich besonders wichtige Bezüge, Parallelen oder Gegensätze aufgezeigt. Auch auf Zusammenhänge mit kulturellen Diskursen und Ähnlichem kann aus demselben Grund nur am Rande hingewiesen werden.

1.2

Theoretisch-methodischer Ansatz

Die Grundlage des in dieser Studie entwickelten Entwurfs einer Theorie des Fremden bildet eine Verknüpfung von Ansätzen aus der Phänomenologie und dem Strukturalismus. Die Wahl einer phänomenologischen Perspektive auf das Fremde erklärt sich in zweifacher Weise aus dem Wesen des Themas selbst. Erstens: Da das Fremde in der vorliegenden Studie nicht als per se gegeben, sondern als etwas durch einen Akt der Wahrnehmung und damit einhergehenden Fremdsetzung Erzeugtes verstanden wird (s. Kap. 3.1), manifestiert es

Theoretisch-methodischer Ansatz 

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sich – sogar unabhängig von einer phänomenologischen Perspektive – stets als Erscheinung. Die Phänomenologie als ›Lehre von den Erscheinungen‹ geht von eben diesem subjektiven Erleben des Menschen, den »unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins«9 aus, wobei als Grundannahme gilt: »L’apparence ne cache pas l’essence, elle la révèle: elle est l’essence.«10 Durch dieses Prinzip erweist sich die Phänomenologie – zweitens – als besonders geeignet für eine Annäherung an das Phänomen des Fremden, das sich per definitionem einer vollständigen Erschließung entzieht, sich aber einem phänomenologischen Verständnis nach in seiner Erscheinung zeigt und damit in seiner Unzugänglichkeit zugänglich wird (s. dazu ebenfalls Kap. 3.1). Den für die theoretischmethodischen Überlegungen dieser Studie wichtigsten Ansatz stellt daher die im Rahmen mehrerer Monographien entworfene ›Phänomenologie des Fremden‹ des deutschen Philosophen Bernhard Waldenfels dar. Waldenfels seinerseits bezieht sich vor allem auf den Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl (u. a. auf sein Konzept der ›Lebenswelt‹), aber z. B. auch auf Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty. Die im Rahmen der Textanalysen einbezogenen Theorien Michail Bachtins sind ebenfalls stark von Husserls Phänomenologie beeinflusst. Die phänomenologische Perspektive wird mit mehreren strukturalistischen Ansätzen aus verschiedenen Disziplinen kombiniert. Die Wahl des Strukturalismus als Betrachtungsmethode liegt ebenfalls im Thema des Fremden selbst begründet. Zum einen eignet sich der Strukturalismus durch eben diese Ausprägungen in verschiedenen Fächern ideal für das komplexe und, wie oben erwähnt, auch traditionell von verschiedenen Disziplinen als Untersuchungsgegenstand betrachtete Phänomen des Fremden. Zum anderen beschreibt eine der Grundannahmen des Strukturalismus, die strukturelle Differenz, welche davon ausgeht, dass Zeichen ihre Bedeutung nur durch ihre Differenz zu anderen Zeichen erhalten, die Seinsbedingung des Fremden selbst, das nur im Verhältnis zu und in Abgrenzung von einem Eigenen existiert. Die strukturalistischen Ansätze basieren einerseits auf der Phänomenologie – in besonderem Maße bei den Strukturalisten der Prager Schule um Roman Jakobson, welcher die Phänomenologie Husserls zu einer Art »Fundamentalbetrachtung des Strukturalismus«11 erklärt –,12 verhalten sich an9 Fellmann, Ferdinand: Phänomenologie zur Einführung. Hamburg 2006, 26. 10 Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. Paris 1980, 12; Hervorhebung im Original. 11 Holenstein, Elmar: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus. Frankfurt a. M. 1975, 12. 12 Bei Husserl fungiert Struktur bereits »methodisch als logische Form der Beschreibung« (Fellmann: Phänomenologie zur Einführung, 37). Auch das Bewusstsein selbst betrachtet er als »Feld von Beziehungen und Verweiszusammenhängen« (ebd., 38). Vor allem Husserls »Lehre von den Ganzen und Teilen« (vgl. Husserl, Edmund: Lehre von den Ganzen

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dererseits in der praktischen Anwendung aber auch komplementär zu ihr: Während die Phänomenologie die Erscheinung an sich betrachtet, untersucht der Strukturalismus nicht die Dinge selbst, sondern die Beziehungen zwischen den Dingen. Letzteres kommt in der ersten in dieser Studie vorgenommenen Kombination von Phänomenologie und Strukturalismus zum Tragen. Als Vorlage für die Gliederung der im Theoriekapitel herausgearbeiteten Dimensionen des Fremden dienen die Kategorien der Semiotik nach Charles W. Morris – Se­ mantik, Syntaktik und Pragmatik – in Verbindung mit dem strukturalistischen Zeichenbegriff nach de Saussure. Hierbei werden die das Ganze konstituierenden Einzelaspekte des Fremden sowohl an sich in den Blick genommen als auch in ihrem Verhältnis zueinander betrachtet. Im Anschluss daran werden, in einer Kombination von Philosophie und Literaturtheorie, Begriffe aus der Phänomenologie des Fremden von Waldenfels mit einem ebenfalls strukturalistischen kultursemiotischen Ansatz Jurij Lotmans zusammengedacht. Berücksichtigt werden darüber hinaus Ansätze von Michel Foucault, Tzvetan Todorov, Julia Kristeva und Jacques Lacan, die die theoretische Fundierung für die Analyse einzelner Erscheinungsformen des Fremden in den hier ausgewählten Werken Grins liefern. Weitere, nicht-strukturalistische und nicht-phänomenologische Theorien, z. B. aus der Soziologie, Anthropologie, Kulturwissenschaft, Psychologie und Psychoanalyse, werden ergänzend in den phänomenologisch-strukturalistischen Ansatz einbezogen, wo dies im Interesse einer adäquaten theoretischen Fundierung der Analyse von Grins Werken geboten ist. In den Textanalysen werden die im Theorieteil herausgearbeiteten Begrifflichkeiten und Zusammenhänge angewendet und mit intensiver philologischer Textarbeit, v. a. werkimmanent, aber auch unter Einbeziehung von literarischen, kulturellen, politischen und anderen Kontexten, kombiniert. Für die Analyse narratologischer Aspekte wird auf die Terminologie nach Wolf Schmid (»Elemente der Narratologie«)13 zurückgegriffen. Dieser bezieht sich und Teilen. In: Ders.: Husserliana. Gesammelte Werke. Bd. XIX . Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Text der 1. und der 2. Auflage. Ergänzt durch Annotationen und Beiblätter aus dem Handexemplar. Herausgegeben von Ursula Panzer. Den Haag u. a. 1984, 227–300) beeinflusst Jakobson nachhaltig, sodass er seiner Studie »Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze« ein Zitat daraus voranstellt (vgl. Holenstein: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, 12): »Alles wahrhaft Einigende […] sind die Verhältnisse der Fundierung.« (Husserl: Lehre von den Ganzen und Teilen, 286; Hervorhebung im Original; bei Jakobson (Jakobson, Roman: Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze. Frankfurt a. M. 1969, 6) ohne Markierung der Auslassung und ohne Hervorhebung). 13 Vgl. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. 3., erweiterte und überarbeitete Auflage. Berlin, Boston 2014.

Aufbau 

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stellenweise ebenfalls auf strukturalistische Ansätze, etwa von Lotman, Jan Mukařovský, Roland Barthes oder Todorov.

1.3 Aufbau Aus den genannten Zielen und der theoretisch-methodischen Herangehensweise ergibt sich folgender Aufbau der Studie: Im Anschluss an dieses erste, einführende Kapitel wird in Kapitel 2 zunächst das Leben und Werk Grins vorgestellt (Kap. 2.1). Im Zuge dessen wird sowohl auf die Problematik der Quellensituation als auch auf Besonderheiten der (Re-)Konstruktion und Darstellung der Biographie des Schriftstellers eingegangen. In Teil zwei des Kapitels (Kap. 2.2) werden anhand der Ergebnisse einer qualitativen Auswertung von zu Lebzeiten Grins wie auch posthum entstandenen Literaturkritiken und literaturwissenschaftlichen Arbeiten fünf Phasen der Rezeption Grins vor dem Hintergrund (literatur-)politischer Entwicklungen definiert und nachgezeichnet. Der Fokus liegt dabei auf der letzten Phase, in der das heute noch vorherrschende, romantisierende Bild Grins entsteht. Hierbei wird eine Reihe von Strategien der sowjetischen Grin-Forschung, die eine Eingliederung des ›fremden‹ Schriftstellers in den Kanon der sowjetischen Literatur ermöglichen, identifiziert und kritisch hinterfragt. Kapitel 3 stellt den Theorieteil der Studie dar. Hierbei werden mit Hilfe des oben beschriebenen Ansatzes unveränderliche Eigenschaften und wandelbare Dimensionen des Fremden herausgearbeitet, um so einen umfassenden theo­ retischen Zugang zum Thema des Fremden zu erhalten (Kap. 3.1). Diese dienen als Analysekategorien für die folgende Untersuchung von Werken Grins. Die im zweiten Teil des Kapitels (Kap. 3.2), der den Zusammenhang von Fremdem und Raum untersucht, definierten vier grundlegenden Arten des Fremden werden anschließend zur Gliederung des Analyseteils verwendet. Die Textanalysen ausgewählter Werke Grins in Kapitel 4 sind dementsprechend in vier große Unterkapitel aufgeteilt, die den vier grundlegenden Fremdheitsarten gewidmet sind: dem alltäglichen Fremden (Kap. 4.1), dem strukturell Fremden (Kap. 4.2), dem radikal Fremden (Kap. 4.3) sowie dem intrasubjektiven Fremden, das hier in seiner radikalen Ausprägungsform in den Blick genommen wird (Kap. 4.4). In jedem der Unterkapitel werden, nach einem Überblick über konkrete Erscheinungsformen der jeweiligen Fremdheitsart in Grins Gesamtwerk, zwei bis drei ausgewählte Erzählungen des Schriftstellers ausführlich analysiert, in deren Zentrum ein ausgewähltes Fremdheitsphänomen aus dieser Gruppe steht. Um eine Balance zwischen Tiefe der Analyse und Breite der Darstellung zu erreichen, werden ergänzend in allen Unterkapiteln noch einige weitere Prosatexte des Autors vorgestellt,

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die ähnliche Phänomene von Alienität thematisieren. Diese Vorgehensweise erlaubt es zudem, Parallelen zwischen Werken aus verschiedenen Jahrzehnten aufzuzeigen. Da zu den wenigsten der hier ausgewählten Erzählungen bereits Analysen existieren – und wenn, dann in der Regel nur sehr oberflächliche –, besteht der größte Teil dieses Kapitels aus absoluter Pionierarbeit. Die Analysen bieten einen differenzierten, dynamisierenden Blick auf das bislang fast schon schablonenhaft behandelte Thema des Fremden bei Grin wie auch auf sein Werk im Allgemeinen. Kapitel 5 schließlich enthält das Fazit der Studie. Dabei werden erstens die wichtigsten Merkmale der Poetik des Fremden Aleksandr Grins zusammengefasst. Zweitens erfolgt eine Bewertung von Grins Position als Fremder in der russischen Literatur und Kultur vor dem Hintergrund der untersuchten Texte. Drittens werden die Ergebnisse der Textanalysen auf das zuvor herausgearbeitete, bis heute verbreitete Grin-Bild bezogen, wodurch dieses in wesentlichen Aspekten widerlegt und Grins Werk als der russischen Kultur fremd  – im Sinne von: in weiten Teilen unbekannt – identifiziert wird. Die Studie behandelt das Thema des Fremden also auf drei aufeinander aufbauenden Ebenen: Die Systematisierung des Themas des Fremden aus theoretischer Sicht bildet die Grundlage für die Analyse des Fremden in der Prosa Grins durch vorwiegend textimmanente Interpretation, die wiederum Aussagen über das Fremde der Prosa Grins durch kritische Bewertung der zuvor analysierten Rezeption ermöglicht und die bislang vorherrschende Sicht auf diesen Schriftsteller nachdrücklich in Frage stellt.

2.

Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

2.1

Vorstellung des Autors

2.1.1 Quellenlage »Он сам – почти миф, и история его – легендарна«. O. Voronova1

Bevor im Folgenden das Leben und Werk Aleksandr Grins vorgestellt werden, sind zunächst einige Hinweise zur diesbezüglichen Quellensituation von Nöten. Wie Luker zu Beginn seiner Grin-Biographie anmerkt, gibt es nicht viele verlässliche, objektive Quellen zum Leben des Schriftstellers.2 Obwohl sich der Zugang zu den wenigen überhaupt existierenden Quellen in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert hat, da mittlerweile eine Reihe von Dokumenten, unter anderem Memoiren und Briefe, ediert oder zumindest aus privater Hand an Archive3 übergeben wurde, bleibt das grundsätzliche Problem einer dünnen Quellenbasis weiterhin bestehen. 1 Voronova, O.: Poėzija mečty i nravstvennych poiskov. In: Neva 8 (1960), 144–150, hier 144. Dt.: »Er selbst ist beinahe ein Mythos, und seine Geschichte ist legendär«. Voronova bedient sich hier eines Zitats von Nikolaj Leskov aus »Nesmertel’nyj Golovan« (dt.: »Der unsterbliche Golovan«), dessen erstes Kapitel mit den Worten beginnt: »Он сам почти миф, а история его – легенда.« (Leskov, Nikolaj S.: Nesmertel’nyj Golovan. Iz rasskazov o trëch pravednikach. In: Ders.: Sobranie sočinenij v odinnadcati tomach. Tom šestoj. Pod obščej redakciej: V. G.  Bazanova, B.  Ja. Buchštaba, L. N.  Gruzdeva, S. A.  Rejsera, B. M. Ėjchenbauma. Moskva 1957, 351–397, hier 351. Dt.: »Er selbst ist beinahe ein Mythos, und seine Geschichte ist eine Legende.« (Leskow, Nikolai: Der unsterbliche Golowan. Aus den Erzählungen von den drei Gerechten. Aus dem Russischen übertragen von Ruth FritzeHanschmann und Günther Dalitz. In: Ders.: Das Schreckgespenst. Erzählungen. Leipzig, Weimar 1982, 5–59, hier 7)). 2 Vgl. Luker, Nicholas J. L.: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary. Newtonville / Massachusetts 1980, 1. 3 Für die vorliegende Studie wurden Archivmaterialien aus dem Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva (RGALI, dt.: Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst) und dem Archiv des Feodosijskij literaturno-memorial’nyj muzej A. S. Grina (FLMMG ; dt.: Literatur- und Gedenkmuseum A. S. Grin Feodosija) ausgewertet. Diese enthalten sowohl qualitativ als auch quantitativ die wichtigsten Sammlungen von Materialien zu Aleksandr Grin. Eine weitere wichtige Sammlung von Dokumenten zu Grins Biographie befindet sich im Gosudarstvennyj archiv Kirovskoj oblasti (GAKO ; dt.: Staatliches Archiv der Oblast’ Kirov).

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Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

Hierfür gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die mit Grins Lebensstil, aber auch mit seinen charakterlichen Eigenheiten zusammenhängen. Erstens hat Grin nur wenige Vertraute, die Details seines Lebens kennen und für die Nachwelt festhalten können. Im Wesentlichen sind dies die beiden Ehefrauen des Schriftstellers, Vera Pavlovna Grinevskaja (geb. Abramova, Heirat mit Grin 1910, Trennung 1913, Scheidung 1920, in zweiter Ehe ab 1920 Kalickaja) und Nina Nikolaevna Grin4 (geb. Mironova, in erster Ehe Korotkova5, verwitwet 1916, Heirat mit Grin 1921), von denen jeweils längere Memoiren über Grin stammen. Beide erscheinen erst 1972 in dem von Vladimir Sandler zusammengestellten Sammelband »Vospominanija ob A. S. Grine« (dt.: »Erinnerungen an A. S. Grin«)6 unter den Titeln »Iz vospominanij« (dt.: »Aus den Erinnerungen«)7 bzw. »Iz zapisok ob A. S. Grine« (dt.: »Aus den Aufzeichnungen über A. S. Grin«)8. Die Erinnerungen beider Frauen9 stellen wertvolle Quellen zu 4 Eigentlich Grinevskaja, sie übernimmt aber den Künstlernamen ihres Ehemannes. 5 Der Name der zweiten Ehefrau wird von Luker fälschlicherweise als »Koroshkova« [Koroškova] angegeben (vgl. u. a. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 35; Luker, Nicholas: Introduction. In: Grin, Alexander: Selected Short Stories. Translated by Nicholas Luker. Ann Arbor 1987, 11–27, hier 21; sogar noch im Standardwerk »Reference Guide to Russian Literature« von Routledge, vgl. Luker, Nicholas: Aleksandr Stepanovich Grin. In: Cornwell, Neil (Hg.): Reference Guide to Russian Literature. London 2013, 366–368, hier 366); vermutlich aufgrund der Ähnlichkeit der Buchstaben ш und т in kyrillischer Schreibschrift. 6 Vgl. Sandler, Vladimir (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972. 7 Kalickaja, Vera: Iz vospominanij. In: Sandler, Vladimir (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 153–203. 8 Grin, Nina N.: Iz zapisok ob A. S. Grine. In: Sandler, Vladimir (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 322–404. 9 Sowohl Vera Pavlovna als auch Nina Nikolaevna stützen sich beim Verfassen ihrer Memoiren auf ein Dokument mit dem Titel »Materialy dlja biografii A. S. Grina« (dt.: »Materialien für die Biographie A. S. Grins«; vgl. Kalickaja, Vera P.: Materialy dlja biografii A. S. Grina. [1927/1928]. FLMMG , KP 4631/D 1668), das beide Frauen in den Jahren 1927 und 1928 gemeinsam mit Aleksandr Grin zusammenstellen und das von Kalickaja niedergeschrieben wird (vgl. Jalovaja, Natal’ja: Ot sostavitelja. In: Losev, Dmitrij / Jalovaja, Natal’ja (Hg.): Aleksandr Grin: Chronika žizni i tvorčestva. S fragmentami avtobiografii, vospominanij, pisem, dnevnikovych zapisej. Feodosija, Moskva 2006, 3–4, hier 3). Der im Sammelband von Sandler publizierte Beitrag Kalickajas »Iz vospominanij« ist die gekürzte Fassung ihres Manuskripts »Vospominanija ob A. S. Grine« (dt.: »Erinnerungen an A. S. Grin«; vgl. Kalickaja, Vera P.: Vospominanija ob A. S. Grine. [o. J.]. FLMMG , KP 3551/D 1346). Auch der Beitrag Nina Grins basiert auf einem längeren, unpublizierten Manuskript, »Zapiski ob A. S. Grine« (dt.: »Aufzeichnungen über A. S. Grin«). Darüber hinaus existieren ein unveröffentlichter Aufsatz zur Biographie Grins unter dem Titel »Ob A. S. Grine« (dt.: »Über A. S. Grin«) von Vera Kalickaja (vgl. Abramova-Kalickaja, Vera: Ob A. S. Grine. [ok. 1937]. In: Pis’mo Ermilova Vladimira Vladimiroviča Paustovskomu Konstantinu Georgieviču s priloženiem vospominanij Kalickoj Very Pavlovny (pervoj ženy Grina A. S.) = »Ob A. S. Grine«, dlja vozmožnogo ispol’zovanija. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 16, l. 2–22), ein Manuskript von Nina Grin mit dem Titel »Vospominanija ob A. S. Grine« (dt.: »Erinnerungen an A. S. Grin«; vgl. Grin, Nina N.: Vospominanija

Vorstellung des Autors 

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Grins Biographie dar, sind allerdings, als persönliche Memoiren, naturgemäß stark subjektiv eingefärbt. Enge Freunde hat Grin nur wenige, was wohl seinem relativ schwierigen, einzelgängerischen Charakter geschuldet ist.10 Nichtsdestotrotz entwickeln sich Freundschaften mit einigen anderen Schriftstellern,



ob A. S. Grine. Mašinopis’. [o. J.]. FLMMG , KP 3551/D 1348), eine kurze Biographie Grins (vgl. Grin, Nina N.: Biografija A. S. Grina. [ne ranee 1921]. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 167) sowie einige weitere Erinnerungen von Nina Grin (vgl. Grin, Nina N.: Vospominanija ob A. S. Grine. Avtograf. Tetradi. [1930-e gody]. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 18; Grin, Nina N.: Vospominanija, zametki i nabroski Grin Niny Nikolaevny o žizni i tvorčestve Grina Aleksandra Stepanoviča, o svoëm detstve i dr. [1934 i dr.]. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 28.; Grin, Nina N.: Vospominanija ob A. S. Grine i izdanija ego proizvedenij, o vstrečach s M. S. Šaginjan, A. G. Malyškinym i dr. pisateljami. 1954. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 17). Zudem wurden in den letzten Jahren zwei Bände mit ausführlicheren Erinnerungen beider Ehefrauen von Mitarbeitern des Feodosijskij literaturno-memorial’nyj muzej A. S. Grina zusammengestellt und ediert (vgl. Grin, Nina N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki. Dnevnikovye zapisi. Pis’ma. Sostavlenie, podgotovka teksta, kommentarii Natal’i Jalovoj, Ljudmily Varlamovoj, Svetlany Kolotupovoj. Feodosija, Moskva 2005; Kalickaja, Vera P./Varlamova, Ljudmila M. (Hg.): Moja žizn’ s Aleksandrom Grinom. Vospominanija, pis’ma. Feodosija u. a. 2010). 10 Grin wird in zahlreichen Berichten übereinstimmend als  – zumindest auf den ersten Blick – schweigsam und unzugänglich beschrieben. Vsevolod Roždestvenskij etwa charakterisiert ihn als »мрачный и молчаливый« (Roždestvenskij, Vsevolod: Dom iskusstv. In: Ders.: Stranicy žizni. Iz literaturnych vospominanij. Moskva, Leningrad 1962, 190–217, hier 194. Dt.: »missmutig und schweigsam«), was ihm unter seinen Bekannten den Ruf als »загадочн[ая] личность[…]« (ebd., 202. Dt.: »rätselhafte Persönlichkeit«) einbringt. Selbst im Dom iskusstv (dt.: Haus der Künste), in dem er von 1920 bis 1921 mit zahlreichen Schriftstellerkollegen Tür an Tür zusammenwohnt, öffnet Grin sich kaum: »Ему нужно было, чтобы его оставили в покое и не мешали думать о своем.« (ebd. Dt.: »Er brauchte es, dass man ihn in Ruhe ließ und ihn nicht dabei störte, über seine eigenen Angelegenheiten nachzudenken.«). In ähnlicher Weise erinnert sich Vladislav Chodasevič in seiner Skizze »›Disk‹« (kurz für Dom iskusstv): »Грин, автор авантюрных повестей, мрачный туберкулезный человек, ведший бесконечную и безнадежную тяжбу с заправилами ›Диска‹, не водивший знакомства почти ни с кем и, говорят, занимавшийся дрессировкою тараканов.« (Chodasevič, Vladislav: ›Disk‹. In: Ders.: Veter vremeni. Moskva 2015, 400–409, hier 405. Dt.: »Grin, ein Autor von Abenteuernovellen, ein missmutiger schwindsüchtiger Mensch, der einen endlosen und hoffnungslosen Rechtsstreit mit der Leitung des ›Disk‹ führte, mit beinahe niemandem Bekanntschaften pflegte und, wie die Leute sagen, sich mit der Dressur von Schaben beschäftigte.«) Auch Ivan Sokolov-Mikitov empfindet Grins Wesen bei der ersten Begegnung als wenig einnehmend und äußert in einem Gespräch über Grin mit Vladimir Sandler im Jahr 1964: »Помню, одной из первых была мысль, что человек этот не умеет улыбаться.« (Sandler, Vladimir: Sležka za A. Grinom. In: Molodaja gvardija 10 (oktjabr’ 1965), 166–167, hier 167. Dt.: »Ich erinnere mich, einer meiner ersten Gedanken war, dass dieser Mensch nicht lächeln kann.«) Vgl. zu ähnlichen Charakterbeschreibungen auch Kasper, Karlheinz: Nachwort. In: Grin, Alexander: Der Fandango. Erzählungen. Leipzig, Weimar 1984, 284–303, hier 292; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 3; und Voronova: Poėzija mečty, 144.

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Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

Kritikern und Journalisten, darunter Aleksandr Kuprin,11 Vladimir Pjast,12 Nikolaj Veržbickij13 sowie Michail Slonimskij und Viktor Šklovskij.14 Von den drei Letztgenannten, aber auch von einigen eher flüchtigen Bekannten Grins existieren schriftliche Erinnerungen, die die Darstellungen V. Kalickajas und N.  Grins ergänzen.15 Mit Ausnahme der längeren Darstellung Konstantin 11 Vgl. u. a. Varlamova, Ljudmila / Panaioti, Irina / Jalovaja, Natal’ja: Primečanija. In: Grin, Aleksandr S.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 136–199, hier 140 f. Grin widmet Kuprin sein langes Poem »Li« (1917; vgl. Grin, Aleksandr S.: Li. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 685–696, hier 685. Kürzel: LI). Seine von ihm gerne erinnerten Jahre in der Petersburger Bohème bezeichnet Grin auch als »›Купринское‹ время« (Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 380. Dt.: »›Kuprinsche‹ Zeit«; zu Grin und Kuprin vgl. auch ebd., 396 f.). 12 Vgl. u. a. Pervova, Ju.: ›Dver’ zakryta, lampa zažžena‹. In: Černomorskaja zdravnica 156 (23 avgusta 1990), 3. In: Bystrov V. A. i Pervova Ju. A., »Žil na svete bednyj… rycar’«. »Dver’ zakryta, lampa zažžena«. Stat’i. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 4, l. 1; Man’kovskij, B. A.: Dvadcat’ let iz žizni Aleksandra Grina. Biografičeskaja chronika. Načalo. Maši­ nopis’ s pravkoj i pometkami Pervovoj Ju. A. i dr. 1978. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 39. 13 Vgl. u. a. Veržbickij, Nikolaj: Svetlaja duša. In: Naš sovremennik 8 (1964), 103–106, hier 104; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 16. 14 Vgl. u. a. Pervova, Ju. A.: Letopis’ žizni i tvorčestva Aleksandra Stepanoviča Grina. Masinopis’ s podpis’ju avtora. 1979. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 11; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 42. 15 Zu den wichtigsten Aufsätzen von Grins Freunden und Bekannten zählen unter anderem folgende, von denen ein Teil in den Sammelbänden von Sandler (vgl. Sandler: Vospominanija ob Aleksandre Grine) und / oder Kovskij (vgl. Kovskij, Vadim (Hg.): Žizn’ Aleksandra Grina, rasskazannaja im samim i ego sovremennikami. Feodosija, Moskva 2012) enthalten ist: von Šklovskij: »Ledochod« (dt.: »Eisgang«; vgl. Šklovskij, Viktor: Ledochod. In: Sandler, Vladimir (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 204–207) und »Tri vstreči s Grinom« (dt.: »Drei Begegnungen mit Grin«; vgl. Šklovskij, Viktor: Tri vstreči s Grinom. K 100-letiju so dnja roždenija Aleksandra Grina. In: Oktjabr’ 8 (1980), 215–216); von Slonimskij: »Ob avtore ›Alych parusov‹« (dt.: »Über den Autor von ›Die purpurroten Segel‹«; vgl. Slonimskij, Michail: Ob avtore ›Alych parusov‹. In: Zvezda 9 (sentjabr’ 1960), 215) und »Aleksandr Grin real’nyj i fantastičeskij« (dt.: »Aleksandr Grin der reale und fantastische«; vgl. Slonimskij, Michail: Aleksandr Grin real’nyj i fantastičeskij. In: Sandler, Vladimir (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 256–270); von Veržbickij: »Svetlaja duša« (dt.: »Helle Seele«; vgl. Veržbickij: Svetlaja duša. Naš sovremennik; eine stark erweiterte Fassung des Textes erscheint unter demselben Titel in dem von Sandler herausgegebenen Sammelband mit Materialien zu Grin, vgl. Veržbickij, Nikolaj: Svetlaja duša. In: Sandler, Vladimir (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 208–233); von Arnol’di: »Belletrist Grin. Vstreči s pisatelem« (dt.: »Der Belletrist Grin. Begegnungen mit einem Schriftsteller«; vgl. Arnol’di, Ė.: Belletrist Grin. Vstreči s pisatelem. In: Zvezda 12 (dekabr’ 1963), 176–182); von Borisov: »Aleksandr Grin« (vgl. Borisov, Leonid: Aleksandr Grin. In: Sandler, Vladimir (Hg.): Vos­ pominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 271–277); von Gumilevskij: »Dalëkoe i blizkoe« (dt.: »Fernes und Nahes«; vgl. Gumilevskij, Lev: Dalëkoe i blizkoe. In: Sandler, Vladimir (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 310–313); von

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Paustovskijs »Žizn’ Aleksandra Grina« sind diese aber meist kurz und beleuchten Grins Leben nur schlaglichtartig.16 Als weiteres Material umso wichtiger ist daher die Korrespondenz Grins, v. a. mit Freunden, Bekannten und Verlagen.17 Trotz der genannten Quellen ist über mehrere Abschnitte von Grins Biographie wenig Gesichertes bekannt. Dies betrifft vor allem die äußerst unstete erste Hälfte seines Lebens, von der – neben einigen offiziellen Dokumenten z. B. aus Schule, Militär und Justiz18 – fast ausschließlich Grins autobiographische Aufzeichnungen (v. a. seine »Avtobiografičeskaja povest’«, 1932; dt.: Roždestvenskij: »V Dome iskusstv« (dt.: »Im Haus der Künste«; vgl. Roždestvenskij, Vsevolod: V Dome iskusstv. In: Sandler, Vladimir (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 240–255; nicht identisch mit seinem o. g. Artikel »Dom iskusstv«); von Paustovskij: »Žizn’ Aleksandra Grina« (dt.: »Das Leben Aleksandr Grins«; vgl. Paustovskij, Konstantin: Žizn’ Aleksandra Grina. In: Ders.: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach. Tom vos’moj. Literaturnye portrety. Očerki. Zametki. Moskva 1970, 67–83), »Odna vstreča« (dt.: »Eine Begegnung«; vgl. Paustovskij, Konstantin: Odna vstreča. In: Sandler, Vladimir (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 307–309) und »On ukrasil moju junost’« (dt.: »Er verschönerte meine Jugend«; vgl. Paustovskij, Konstantin: On ukrasil moju junost’. In: Kovskij, Vadim (Hg.): Žizn’ Aleksandra Grina, rasskazannaja im samim i ego sovremennikami. Feodosija, Moskva 2012, 348–349) sowie von Oleša: »Pisatel’-unik« (dt.: »Schriftsteller-Unikum«; vgl. Oleša, Jurij: Pisatel’-unik. In: Sandler, Vladimir (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 314–318) und »Čelovek, pridumivajuščij skazki« (dt.: »Der Mann, der Märchen erfindet«; vgl. Oleša, Jurij: Čelovek, pridumivajuščij skazki. In: Kovskij, Vadim (Hg.): Žizn’ Aleksandra Grina, rasskazannaja im samim i ego sovremennikami. Feodosija, Moskva 2012, 371–374). 16 Das oft nur Episodenhafte dieser Erinnerungen zeigt sich beispielsweise bereits in den – in der Zusammenschau beinahe kurios wirkenden – Titeln »Odna vstreča« (Paustovskij), »Dve vstreči s pisatelem Grinom« (dt.: »Zwei Begegnungen mit dem Schriftsteller Grin«; vgl. Akvilev, Aleksej: Dve vstreči s pisatelem Grinom. Mašinopis’. 1970. In: Akvilev, A. A. »Dve vstreči s pisatelem Grinom« = »Dve vstreči s volšebnikom«, »Podruga volšebnika« i dr. vospominanija. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 1, l. 1–4), »Tri vstreči s Grinom« (Šklovskij) sowie »Aleksandr Grin. Vstreči« (dt.: »Aleksandr Grin. Begegnungen«; vgl. Smirenskij, Vladimir V.: Aleksandr Grin. Vstreči. [Vospominanija Smirenskogo Vladimira Viktoroviča o Grine A. S.]. 1939. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 18). Diese und andere Artikel beinhalten zwar durchaus interessante Momentaufnahmen, sind aber eher für die Charakterisierung Grins als für die Rekonstruktion seiner Biographie relevant. 17 Eine kommentierte Sammlung eines Großteils der noch erhaltenen Briefe A. S. Grins (vgl. Varlamova / Panaioti / Jalovaja: Primečanija, 136) wurde 2012 unter dem Titel »Ja pišu vam vsju pravdu« (Dt.: »Ich schreibe euch die ganze Wahrheit«) herausgegeben (vgl. Grin, Aleksandr S.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012). Briefe von und an Grin werden zudem im RGALI und FLMMG aufbewahrt. Zum archivarischen Bestand der Korrespondenz Grins vgl. auch Varlamova, Ljudmila: Ja pišu Vam vsju pravdu (Ėpistoljarnoe nasledie A. S. Grina). In: Nenada, Alla (Hg.): Aleksandr Grin: žizn’, ličnost’, tvorčestvo. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2010, 3–10. 18 Dokumente dieser Art aus Grins Kindheit finden sich v. a. im GAKO in Kirov und wurden von Losev / Jalovaja zusammengetragen (vgl. Losev, Dmitrij / Jalovaja, Natal’ja (Hg.): Aleksandr Grin: Chronika žizni i tvorčestva. S fragmentami avtobiografii, vospominanij, pisem, dnevnikovych zapisej. Feodosija, Moskva 2006).

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»Autobiographischer Kurzroman«)19 zeugen. Erst die Zeit ab 1906, als Grin allmählich Teil der Petersburger Literatenszene wird, wird von den oben genannten aufgezeichneten Erinnerungen behandelt. Doch auch in dieser Lebensphase gibt es eine größere Lücke zwischen der Trennung von Grins erster Frau Vera Pavlovna 1913 und der Heirat mit seiner zweiten Frau Nina Niko­ laevna 1921,20 die folglich von seinen beiden wichtigsten ›Chronistinnen‹ nicht abgedeckt wird und eher bruchstückhaft belegt ist. Auch »Avtobiografičeskaja povest’« bietet keine Informationen darüber, weil sie mit dem Jahr 1905 abbricht.21 Schließlich fehlt auch für das letzte Lebensjahrzehnt Grins seit seinem Umzug auf die Krim 1924 eine breitere Quellenbasis, da der Autor von da an weitestgehend von der Literaturszene in Petersburg und Moskau isoliert lebt, sodass für diese Zeit fast ausschließlich Nina Grins Erinnerungen heran­ gezogen werden müssen. Ein letzter, aber nicht weniger wichtiger Grund für die schwierige Quellen­ situation in Bezug auf Aleksandr Grins Leben betrifft diesen selbst. Den Schriftsteller zeichnet eine ausgeprägte Abneigung dagegen aus, außerhalb seines literarischen Schaffens – in das viele autobiographische Erfahrungen mehr oder weniger verschlüsselt einfließen  – Informationen jedweder Art über sich selbst preiszugeben. Dies äußert sich zum Ersten darin, dass Grin nur selten über sich und seine Vergangenheit spricht: »[…] всегда оставался сдержанным и замкнутым.«22 Selbst auf die direkte Aufforderung, von sich zu erzählen, antwortet er ausweichend: »Вся моя жизнь в моих книгах, пусть там потомки и ищут ответа.«23 und betont auch gegenüber Nina Grin: »Я – это мои книги.«24 19 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Avtobiografičeskaja povest’. Leningrad 1932. Kürzel: AP. 20 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 1. 21 Grin kann »Avtobiografičeskaja povest’« aus gesundheitlichen Gründen nicht beenden (vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 117). 22 Arnol’di: Belletrist Grin, 177. Dt.: »[…] er blieb immer reserviert und verschlossen.« Vgl. auch Varlamova, Ljudmila: Žizn’ – v stročkach pisem. In: Grin, Aleksandr S.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 5–7, hier 5; Voronova: Poėzija mečty, 144; Arnol’di: Belletrist Grin, 178. 23 Sandler, Vladimir: O čeloveke i pisatele. In: Ders. (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 5–10, hier 6. Dt.: »Mein ganzes Leben ist in meinen Büchern, sollen die Nachfahren doch dort die Antwort suchen.«. 24 Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine. Mašinopis’. FLMMG , KP 3551/D 1348, l. 118. Dt.: »Ich – das sind meine Bücher.« Grins erste Ehefrau schreibt allerdings: »Грин-писатель и Грин-человек совершенно разные личности.« (Abramova-Kalickaja: Ob A. S. Grine. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 16, l. 10. Dt.: »Der Schriftsteller Grin und der Mensch Grin sind vollkommen verschiedene Persönlichkeiten.«) Diese Aussage ist aber wohl wenig als Widerspruch zu Grins Behauptung autobiographischer Inhalte in seinen Werken zu lesen, denn als Versuch der Abgrenzung des realen Menschen Grin von dem romantisierten Bild, das durch die Rezipienten mit der Zeit etabliert und weithin akzeptiert wird

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Grins Abneigung, sich über sich selbst zu äußern, betrifft auch Aussagen über sein literarisches Schaffen. Anders als zahlreiche andere Schriftsteller seiner Generation verfasst Grin keine literatur- oder kulturtheoretischen Aufsätze, in denen er seine Schaffensprinzipien darlegt und die heute zur Interpretation seines Gesamtwerks herangezogen werden könnten. Lediglich vereinzelte, oft mündliche Aussagen dazu sind von Freunden oder den beiden Ehefrauen überliefert. Dieser Umstand kommt der sowjetischen (Um-)Deutung von Grins Werk, die in Kapitel 2.2.5 in den Blick genommen wird, enorm entgegen. Zum Zweiten vernichtet Grin in der Regel Dokumente, die er nicht länger zu benötigen glaubt – darunter Notizen, Manuskripte25 und Korrespondenz26. Vera Kalickaja führt als Erklärung für diese Gewohnheit an: »Делал он это, подчеркивая свое пренебрежительное отношение к архивам и к работе над авторами.«27 Erst Nina Grin beginnt, diese systematisch zu sammeln und für die Nachwelt zu bewahren.28 Darüber hinaus verstärken sich die Unsicherheiten bezüglich Grins Biographie auch noch dadurch, dass aufgrund des Mangels an verlässlichen Informationen und Grins einzelgängerischem, oft rätselhaftem Wesen bereits zu Lebzeiten zahlreiche Legenden und Gerüchte über den Schriftsteller entstehen – und sich bis weit über seinen Tod hinaus hartnäckig halten. Diese verschleiern Grins tatsächliche Biographie sowohl für seine Zeitgenossen als auch für die Nachwelt zusätzlich.

(s. Kap. 2.2.5) – in diametralem Gegensatz zu Nina Grin, die eben diese Gleichsetzung unter anderem in ihren Memoiren aktiv fördert. Vera Pavlovnas Haltung ist vermutlich dadurch zu erklären, dass sie Grins schriftstellerische Entwicklung ab ca. 1908 – d. h. eben jenen ›romantischen‹ Stil, für den Grin bekannt wird – nicht gutheißt und lediglich seine frühen realistischen, aber oftmals vergessenen Texte positiv bewertet (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 2). 25 Vgl. Varlamova, L. M.: Dom-muzej A. S. Grina. Putevoditel’ po muzeju A. S. Grina v Feodosii i filialu muzeja v Starom Krymu. Simferopol’ 1986, 55. 26 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 29. 27 Abramova-Kalickaja: Ob A. S. Grine. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 16, l. 9. Dt.: »Er tat das und unterstrich dabei seine verächtliche Einstellung gegenüber Archiven und der Arbeit über Autoren.«. 28 Vgl. Sukiasova, Irina M.: A. S. Grin: pis’ma i stichi. In: Večernij Tbilisi (7 dekabrja 1967). In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. 1967. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 46. Nina Grins Sammeltätigkeit und ihrem unermüdlichen Einsatz für die Gründung eines Grin-Museums (vgl. u. a. Sukiasova, Irina M.: Geroine Aleksandra Grina. In: Večernij Tbilisi (12 dekabrja 1970). In: Zametka. Vyrezka iz gazety. 1970. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 11, l. 1) ist es wesentlich zu verdanken, dass Grin nach seinem Tod nicht in Vergessenheit gerät und ab Mitte der 1950er Jahre von Lesern und Literaturwissenschaftlern wiederentdeckt werden kann.

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Besonders phantasievoll muten die Legenden über Grins Jugend an, die sogar unter seinen guten Bekannten kursieren.29 So berichtet Nina Grin, nach ihrem ersten Kennenlernen mit dem Schriftsteller von einer Bekannten vor ihm gewarnt worden zu sein: Берегитесь его, он опасный человек: был на каторге за убийство своей жены. И вообще прошлое его очень темное: говорят, что, будучи матросом, он где-то в Африке убил английского капитана и украл у него чемодан с рукописями. Знает английский язык, но тщательно скрывает это, а рукописи постепенно печатает как свои.30

Letztere Behauptung findet sich in abgewandelter Form in dem Gerücht wieder, Grin sei ein britischer Agent.31 Aber auch über Grins zweite Lebenshälfte, als er bereits ein bekannter Autor ist, existieren zahlreiche Gerüchte. So soll er zum Beispiel – je nach Variante – eine Unterstützungskasse angezündet haben, um die geliehene Summe nicht zurückzahlen zu müssen,32 oder einen Verlag, der ihm seit Langem Geld schuldete; tatsächlich war ihm dort wohl lediglich aus Versehen ein Streichholz heruntergefallen.33 Ebenfalls als Legende muss das bis heute weitverbreitete Bild von Grin als passioniertem Seefahrer bezeichnet werden (»легенды о Грине, капитане и мореплавателе«).34 Dieses ist vor allem auf die Häufigkeit maritimer Schauplätze in seinem Werk zurückzuführen, denn Grins tatsächliche Erfahrungen auf See beschränken sich auf fünf kurze Reisen – keine einzige davon auf einem Ozean –, für die er zudem nur als ungelernter Hilfsarbeiter angeheuert wird.35 29 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 11. 30 Ebd., 11 f. Dt.: »Hüten Sie sich vor ihm, er ist ein gefährlicher Mensch: er war im Zuchthaus für den Mord an seiner Ehefrau. Und überhaupt ist seine Vergangenheit sehr dunkel: man sagt, dass er, als er Matrose war, irgendwo in Afrika einen englischen Kapitän ermordet und ihm einen Koffer mit Manuskripten gestohlen hat. Er spricht Englisch, aber verbirgt das sorgfältig, und publiziert die Manuskripte Stück für Stück als seine eigenen.« Von denselben offenbar weitverbreiteten Legenden berichtet auch Vera Kalickaja in ihren Erinnerungen (vgl. Kalickaja: Iz vospominanij, 179). Das Gerücht über die Veröffentlichung gestohlener Manuskripte als eigene begründet möglicherweise Aleksej Tolstojs abschätzige Bewertung Grins als »жулик[…] и проходим[ец]« (zit. nach Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 12. Dt.: »Gauner und Hochstapler«). 31 Zavalishin, Vjacheslav: Early Soviet Writers. New York, Freeport 1970, 312. 32 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 12. 33 Vgl. Šklovskij: Tri vstreči s Grinom, 215. 34 Tarasenko, N. F.: Dom Grina. Očerk-putevoditel’ po muzeju A. S. Grina v Feodosii i filialu v Starom Krymu. Simferopol’ 1976, 8. Dt.: »Legenden über Grin, den Kapitän und Seefahrer«. 35 Grin bekennt in seiner Autobiographie: »Теперь я вижу, как я мало интересовался техникой матросской службы. Интерес был внешний, от возбуждающего и неясного удовольствия стать моряком. Но я не был очень внимателен к науке вязанья узлов, не познакомился с сигнализацией флагами, ни разу не спустился в машинное отделение, не освоился с компасом.« (AP, 54. Dt.: »Jetzt sehe ich, wie wenig ich mich

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Arnol’di aber behauptet beispielsweise: »[…] Грин прекрасно знал оснастку корабля и черновую работу моряка. Его высказывания оставляли впечатление практически приобретенных знаний, а не вычитанных из романов […].«36 Selbst Grins Freund Jurij Oleša berichtet, wohlgemerkt aus zweiter Hand, aber ohne jede Spur von Zweifel, von einer Galionsfigur in Grins Zimmer in Staryj Krym: »На стене комнаты – на той стене, которую, лежа в кровати, видел перед собой хозяин,  – был укреплен кусок корабля. Слушайте, он украсил свою комнату той деревянной статуей, которая иногда подпирает бушприт!«37 Die Gestaltung des Grin-Museums in Feodosija (s. Kap. 2.2.5.2), die sich gänzlich am Thema Seefahrt orientiert, sowie die häufige Reproduktion eines Fotos von Grin von 1923 aus Sevastopol’ mit einer Kapitänsmütze tun ihr Übriges, um dieses Bild bis heute aufrechtzuerhalten.38 für die Technik der Matrosenarbeit interessierte. Das Interesse war äußerlich, von der anregenden und unklaren Freude Seemann zu werden herrührend. Aber ich war nicht sehr aufmerksam bei der Wissenschaft des Knotenknüpfens, lernte die Signalgebung durch Flaggen nicht kennen, ging nicht ein einziges Mal in den Maschinenraum hinunter, machte mich nicht mit dem Kompass vertraut.«). 36 Arnol’di: Belletrist Grin, 178. Dt.: »[…] Grin kannte die Takelage des Schiffs und die Hilfsarbeiten eines Seemanns sehr gut. Seine Aussagen hinterließen den Eindruck praktisch erworbener Kenntnisse, und nicht aus Romanen angelesener […].«. 37 Oleša: Pisatel’-unik, 318. Dt.: »An der Wand des Zimmers – an jener Wand, die der Hausherr, im Bett liegend, vor sich sah, – war ein Stück eines Schiffs befestigt. Hören Sie, er schmückte sein Zimmer mit jener hölzernen Statue, die manchmal das Bugspriet stützt!« Nina Grin stellt klar, dass eine solche Galionsfigur niemals existiert hat (vgl. Sandler, Vladimir: Primečanija. In: Ders. (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 576–588, hier 585). 38 Laut Tarasenko kauft Grin diese Mütze nur zum Spaß, dа »[ж]елание выглядеть моряком осталось в далекой юности« (Tarasenko: Dom Grina, 8. Dt.: »der Wunsch wie ein Seemann auszusehen in der fernen Jugend zurückgeblieben war«). Trotzdem wird die Fotografie mit der Kapitänsmütze sogar für Grins Todesanzeige in der »Literaturnaja gazeta« (dt.: »Literaturzeitung«) ausgewählt (vgl. [o. V.]: [Izveščenie o smerti A. S. Grina]. In: Literaturnaja gazeta 33 (23 ijulja 1932), 4. In: Vyrezki iz gazet i žurnalov. A. S. Grin. »Brak Avgusta Ėsborna«, »Zmeja«, [»Kvity«], »Krasnye bryzgi«, »Majatnik vesny«, [»Obez’jana«], »Pobeditel’«, »Proisšestvie v kvartire g-ži Seriz«, »Sostjazanie v Lisse«, [»Tri čeloveka«], »Trupy«, »Ubijstvo v rybnoj lavke«. Rasskazy. Na russkom i nemeckom jazykach. Saks, Gans. »Vstreči avtora so svoim geroem«. Zametka. Izveščenija o smerti A. S. Grina. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 215, l. 5–6, hier 6). Zu diesem Image trägt sicherlich auch bei, dass Grin selbst sich auch außerhalb seiner literarischen Texte maritimer Sprache und Metaphorik bedient. So schreibt er z. B. in einem Brief vom 8. Oktober 1926 an Slonimskij: »Став капитаном, не сбивайтесь с пути и не слушайте никого, кроме себя.« (Grin, Aleksandr S.: M. L. Slonimskomu [Pis’mo, Moskva, 8 oktjabrja 1926]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 48. Dt.: »Wenn Sie Kapitän geworden sind, kommen Sie nicht vom Weg ab und hören Sie auf niemanden außer sich selbst.«).

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Grin selbst ist sich der Legenden, die sich bereits zu Lebzeiten um seine Person ranken, durchaus bewusst und verarbeitet diese auch literarisch. Meist geschieht dies in ironisch-ablehnender Form. So lässt Grin seinen diegetischen Erzähler in »Priključenija Ginča« (1912; dt.: »Die Abenteuer Ginčs«)39 einleitend über einen Bekannten klagen: »[Он] сообщил по секрету некоторым нашим общим знакомым, что я убил английского капитана (не помню, с какого корабля) и украл у него чемодан с рукописями. Никто не мог бы поверить этому. Он сам не верил себе […]«.40 Fast zwanzig Jahre später scheint Grin diese Legende noch immer zu beschäftigen, denn in einem der Entwürfe des Anfangs seines Romans »Doroga nikuda« (1930; dt.: »Der Weg nach Nirgendwo«)41 liest der Schriftsteller Fletčer in der Zeitung ein Gerücht über sich selbst, das den Plagiatsvorwurf gegen Grin erneut aufgreift: »Был также Ф., о котором ходит забавный слух, что печатает, под видом своих, рассказы и повести, выкраденные из старых европейских журналов, причем поступает с ними, как перелицовщик ношеного платья.«42 Sein Ruf als Seefahrer dagegen scheint dem Autor zu gefallen, da er ihn in »Avtobiografičeskaja povest’« (1932), aktiv, z. B. durch Anekdoten wie die folgende, verstärkt. So berichtet er über das erste von ihm als Kind gelesene Wort: »В моем уме вдруг слились звуки этих букв и следующих и, сам не понимая, как это вышло, я сказал: ›море‹.«43 Auf diese Weise konstruiert Grin eine gleichsam von Beginn an natürlich bestehende Verbindung zwischen sich selbst, dem Meer und der Literatur.44 Da diese Geschichte hervorragend zu 39 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Priključenija Ginča. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 504–566. Kürzel: PG . 40 PG , 504. Dt.: »[Er] teilte im Vertrauen einigen unserer gemeinsamen Bekannten mit, dass ich einen englischen Kapitän (ich erinnere mich nicht, von welchem Schiff) ermordet und von ihm einen Koffer mit Manuskripten gestohlen habe. Niemand könnte das glauben. Er glaubte sich selbst nicht […].« Vgl. dazu auch Kalickaja: Iz vospominanij, 179 f. 41 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Doroga nikuda. Moskva 1935. Kürzel: DN. Die deutsche Übersetzung trägt den vom Original abweichenden Titel »Der silberne Talisman« (vgl. Grin, Alexander: Der silberne Talisman. Aus dem Russischen übersetzt von Hermann Asemissen. Weimar 1962; Kürzel: DNd). 42 Zit. nach Man’kovskij, B. A.: Dvadcat’ let iz žizni Aleksandra Grina. Biografičeskaja chronika. Okončanie. Mašinopis’ s pravkoj i pometkami Pervovoj Ju. A. i dr. 1978. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 6, l. 14. Dt.: »Es gab auch F., über den das amüsante Gerücht umgeht, dass er, unter seinem eigenen Namen, Erzählungen und Kurzromane publiziert, die er aus alten europäischen Zeitschriften gestohlen hat, wobei er mit ihnen verfährt wie jemand, der ein getragenes Kleid wendet.«. 43 AP, 14. Dt.: »In meinem Geist flossen plötzlich die Laute dieser und der folgenden Buchstaben zusammen und, ohne selbst zu verstehen, wie das gelang, sagte ich: ›Meer‹.«. 44 Auch in »Avtobiografičeskaja povest’« findet sich eine Aussage über Grins Jugend, die ebenso gleichsam prophetisch auf eine spätere Verbindung von Grins literarischem Schaffen mit dem Meer vorauszuweisen scheint – hier auf sein bei Weitem bekanntestes Werk »Alye parusa« (dt.: »Die purpurroten Segel«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Alye parusa. Feerija. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom četvërtyj. Alye parusa. Blistajuščij mir.

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dem weitverbreiteten, romantisierten Bild des Autors (s. Kap. 2.2.5) passt, ist es nicht verwunderlich, dass sie in der Literatur über Grin häufig zitiert wird.45 Selbiges gilt generell für die Selbstdarstellung Grins als verträumter Heranwachsender auf der Suche nach Abenteuern in »Avtobiografičeskaja povest’«. Die genannte Anekdote ist in gewisser Weise repräsentativ für den Charakter der gesamten Autobiographie. Grin spielt in ihr mit den – gerade wegen des Fehlens gesicherter biographischer Informationen entstandenen – Legenden über seine Person und schreibt diese fort, wodurch der genannte Mangel an verlässlichen Quellen nicht nur weiterhin bestehen bleibt, sondern sogar noch verstärkt wird.46 Dass »Avtobiografičeskaja povest’« nicht den Anspruch erhebt, eine den autobiographischen Pakt (Lejeune)  erfüllende Darstellung Zolotaja cep’. Sokrovišče afrikanskich gor. Moskva 1994, 5–72. Kürzel: AL): »Грезилось мне море, покрытое парусами…« (AP, 29. Dt.: »Ich träumte vom Meer, bedeckt mit Segeln…«). 45 Vgl. u. a. Charčev, Vjačeslav V.: Poėzija i proza Aleksandra Grina. Gor’kij 1975, 5; Rossel’s, Vladimir M.: A. Grin. Iz neizdannogo i zabytogo. In: Borščukov, V. I./Timofeev, L. I./Trifonov, N. A. (Hg.): Literaturnoe nasledstvo. Iz tvorčeskogo nasledija sovetskich pisatelej. Tom 74. Moskva 1965, 629–649, hier 630; Vichrov, V.: Rycar’ mečty. In: Ders.: V poiskach geroja. Na temy literaturnye i teatral’nye. Simferopol’ 1972, 70–148, hier 114; Tarasenko: Dom Grina, 18. 46 »Avtobiografičeskaja povest’« enthält sowohl einige faktische als auch chronologische Ungenauigkeiten (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 1). Beispielsweise behauptet Grin: »Моя мать скончалась от чахотки в 37 лет; мне было тогда 13 лет« (AP, 16. Dt.: »Meine Mutter starb an der Schwindsucht mit 37 Jahren; ich war damals 13 Jahre alt.«), obwohl diese 1895 verstirbt (vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 9), er also bereits fast 15 Jahre alt ist (für weitere Beispiele vgl. u. a. ebd., 13; Sandler: Primečanija, 579). Nur bedingt zur Behebung des Informationsdefizits geeignet sind auch die anderen autobiographischen Texte Grins. Im Wesentlichen sind dies eine sehr kurze, zweiseitige Autobiographie, die Grin S. A.  Vengerov, offenbar auf dessen Bitte hin, 1913 zusendet (vgl. Grin, Aleksandr: A. S. Grin – S. A. Vengerovu [Pis’mo, 15 marta 1913]. In: Sandler, Vladimir (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 148–150, hier 149 f.), die unvollendete autobiographische Skizze »Tjuremnaja starina« (dt.: »Die alten Gefängniszeiten«) über die Wanderjahre seiner Jugend (vgl. Grin, Aleksandr: »Tjurem­ naja starina«. Avtobiografičeskij očerk. Bez konca. »Barchatnaja port’era«, »Vetka omely«, »Zmeja«, »Izmena« = »Tak li ėto?«, »Korol’ much«, »Njan’ka Glenau«, »Otkryvatel’ zamkov«, »Pari«, »Četyre ginei«, »Šest’ spiček«, »Ėlda i Angotėja«. Rasskazy. Nabroski. »Krysolov«. Scenarij. Nabrosok. [ok. 1925–1930]. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 41), die sich auf wenige Sätze beschränkende Antwort Grins auf den Fragebogen »Odin den’« (dt.: »Ein Tag«) der Zeitschrift »30 dnej« (dt.: »30 Tage«) unter dem Titel »Kak ja živu i rabotaju« (dt.: »Wie ich lebe und arbeite«; vgl. Grin, Aleksandr: Kak ja živu i rabotaju. Avtobiografičeskie svidenija. [Otvet na anketu ›Odin den’‹ žurnala ›30 dnej‹] [1927]. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 55) sowie die äußerst fragmentarischen autobiographischen Notizen in »Kniga vospominanij« (dt.: »Buch der Erinnerungen«), die in weiten Teilen aus aneinandergereihten, oft wenig aufschlussreichen Stichpunkten bestehen (vgl. Grin, Aleksandr S.: »Kniga vospominanij« (1880e–1900e). Avtobiografičeskie zapisi. Nabroski. [ok. 1930–1932]. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 166).

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zu sein, deutet schon die im Titel verwendete Genrebezeichnung Povest’ (dt.: Kurzroman, Prosaerzählung) an. Auch im Text selbst bekennt Grin, gelegentlich von der Realität abzuweichen: »[…] я пишу не популярное исследование, а лишь вспоминаю, причем пишу так, как вижу запомненное теперь«.47 Der ursprüngliche, von der Redaktion des Leningrader »Izdatel’stvo Pisatelej« (dt.: »Verlag der Schriftsteller«) jedoch abgelehnte Titel,48 »Legenda o sebe« (dt.: »Legende über mich selbst«), ist sogar noch wesentlich expliziter.49 In einem an den Kritiker Cezar’ Vol’pe gesendeten und von Grin als Vorwort für seine Autobiographie vorgesehenen Text mit demselben Titel begründet Grin dessen Wahl: С 1906 по 1930 год […] я услышал от собратьев по перу столько удивительных сообщений обо мне самом, что начал сомневаться – действительно ли я жил так, как у меня здесь написано. Судите сами, есть ли основания назвать этот рассказ ›Легендой о Грине‹.50

Gegenüber Nina Grin erklärt er beinahe resigniert: »Обо мне […] всю жизнь так много рассказывали небылиц, что не поверят написанной истине, так пусть же это будут ›Легенды‹.«51 Ironie und partielle Fiktionalisierung der Autobiographie helfen Grin möglicherweise auch bei der Überwindung seiner oben erwähnten Aversion gegen die Herausgabe persönlicher Informationen. Denn der Autor verfasst »Avtobiografičeskaja povest’« ab 1930 nur aufgrund materieller Not – mit Nina

47 AP, 91. Dt.: »[…] ich schreibe keine gemeinverständliche Abhandlung, sondern erinnere mich nur, wobei ich so schreibe, wie ich das Erinnerte heute sehe.«. 48 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 45. 49 Weitere Arbeitstitel lauten: »Na suše i more. Avtobiografičeskie očerki A. S. Grina« (dt.: »Zu Lande und zu Wasser. Autobiographische Skizzen A. S. Grins«; vgl. Grin, Aleksandr: »Na suše i na more«. Avtobiografičeskie očerki A. S. Grina = »Avtobiografičeskaja p ­ ovest’«. Očerki: »Begstvo v Ameriku«, »Ochotnik i matros«. [ok. 1930]. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 57), »Povest’ o sebe« (dt.: »Kurzroman über mich selbst«; vgl. Grin, Aleksandr: »Komendant porta«, »Noč’ju i dnëm«, »Povest’ o sebe« = »Avtobiografičeskaja povest’«. Rasskazy, glavy povesti. [ok. 1930]. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 4) sowie »Kniga o sebe« (dt.: »Buch über mich selbst«) (vgl. Sandler: Primečanija, 577). 50 Vol’pe, Cezar’: Ob avantjurno-psichologičeskich novellach A. Grina. In: Ders.: Iskusstvo nepochožesti. Benedikt Livšic. Aleksandr Grin. Andrej Belyj. Boris Žitkov. Michail Zoščenko. Moskva 1991, 22–43, hier 24. Dt.: »Von 1906 bis 1930 habe ich von meinen Schriftstellerkollegen so viele erstaunliche Mitteilungen über mich selbst gehört, dass ich begonnen habe zu zweifeln – ob ich wirklich so gelebt habe, wie es hier bei mir geschrieben steht. Urteilen Sie selbst, ob es Gründe gibt, diese Erzählung ›Legende über Grin‹ zu nennen.«. 51 Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 380. Dt.: »Über mich […] wurden das ganze Leben lang so viele Lügengeschichten erzählt, dass sie der geschriebenen Wahrheit nicht glauben werden, also sollen das eben ›Legenden‹ sein.« Vgl. dazu auch Sandler: Primečanija, 577.

Vorstellung des Autors 

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Grins Worten: »ради куска хлеба«52 – und mit dem Gefühl, »[что] [с]дираю с себя последнюю рубаху«53. »Avtobiografičeskaja povest’« ist jedoch keineswegs das einzige Werk Grins, bei dem eine Wechselwirkung mit der biographischen Legendenbildung vorliegt. Gerade die Legenden über das abenteuerliche Leben Grins als Seefahrer werden durch seine zahlreichen Werke, deren Handlung auf dem Meer oder in Häfen spielt und deren Protagonisten Kapitäne oder Matrosen sind, vermeintlich indirekt bestätigt, was möglicherweise sogar der Intention des Autors entspricht. Diese Romane und Erzählungen, auf die sich die Rezeption überwiegend konzentriert, führen daher nicht nur zu einer Einordnung Grins als romantischem Autor (s. dazu ausführlicher Kap. 2.2.5), sondern wirken – im Sinne einer romantischen Ganzheit von Leben und Werk – außerdem zurück auf die (Re-)Konstruktion seiner Biographie. Das daraus entstehende romantische Bild von Grins Leben ist so weit verbreitet und zugleich oftmals so weit entfernt von den – nicht selten keineswegs romantischen – realen Fakten, dass von einer Mythisierung der Biographie Grins gesprochen werden kann. Angesichts der nicht unproblematischen Quellenlage zu Aleksandr Grins Leben wurde in den letzten sechs Jahrzehnten viel Mühe darauf verwendet, die Biographie (und Bibliographie) des Schriftstellers detailliert zu rekonstruieren. Tatsächlich weist sogar ein großer Teil gerade der frühen Grin-Forschung eine stark faktographische Ausrichtung auf, während philologische Werkanalysen eine geringere Rolle spielen. Inzwischen existiert eine ganze Reihe längerer Darstellungen zum Leben und Werk Grins.54 Allerdings zeichnen diese sich 52 Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 380. Dt.: »für ein Stück Brot«. Die aufgrund von Publi­ kationsproblemen seit dem Erstarken der RAPP (»Rossijskaja associacija proletarskich pisatelej«; dt.: »Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller«) Ende der 1920er Jahre ohnehin schwierige finanzielle Situation Grins wird Anfang der 1930er Jahre zusätzlich durch die Lebensmittelknappheit und die dadurch steigenden Lebensmittelpreise auf der Krim verschärft (vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 125). 53 Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 380. Dt.: »[dass] ich mir das letzte Hemd vom Leibe reiße«. Vgl. hierzu auch Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 44. 54 Ausführliche Darstellungen der Biographie Grins bieten: Prochorov (vgl. Prochorov, E. I.: Aleksandr Grin. Moskva 1970), Michajlova (vgl. Michajlova, L. [= Brojt, Cecilija Michajlovna]: Aleksandr Grin. Žizn’, ličnost’, tvorčestvo. Moskva 1972); Sandler (vgl. Sandler, Vladimir: Vokrug Aleksandra Grina: Žizn’ Grina v pis’mach i dokumentach. In: Ders. (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 405–566); Varlamov (vgl. Varlamov, Aleksej N.: Aleksandr Grin. Moskva 2005), Losev / Jalovaja (vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin), Nenada (vgl. Nenada, A. A. (Hg.): Aleksandr Grin: žizn’, ličnost’, tvorčestvo: Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2010) sowie die einzige westliche Grin-Biographie von Luker (vgl. Luker, Nicholas L.: Alexander Grin. Letchworth 1973; 1980 erweitert und umgearbeitet erschienen als Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary). Eine stilistisch etwas freier gestaltete Biographie Grins, die die Genrebezeichnung aus Grins »Avtobiografičeskaja povest’« aufgreift, ist Vasjučenkos »Odinokij igrok. Povest’ ob Aleksandre Grine« (dt.: »Der einsame Spieler. Kurzroman über Aleksandr

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Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

oftmals durch eine unkritische Präsentation des romantisierten Grin-Bilds aus oder tragen sogar aktiv zur Mythenbildung bzw. -fortschreibung bei, indem Legenden als Tatsachen dargestellt werden und ›passenden‹ Fakten über­ mäßige Bedeutung zugemessen wird, während ›unpassende‹ Fakten schlichtweg ignoriert werden. Zudem liegt bislang nicht nur keine Biographie – und generell keine Monographie  – zu Grin in deutscher Sprache vor, sondern die Grin-Forschung außerhalb des (post-)sowjetischen Raums ist generell äußerst überschaubar.55 Grin«; vgl. Vasjučenko, Irina: Odinokij igrok. Povest’ ob Aleksandre Grine. In: Kovčeg XIII /2 (2007), 148–209; ursprünglicher Titel des Manuskripts: »Žizn’ i tvorčestvo Aleksandra Grina«; dt.: »Das Leben und Werk Aleksandr Grins«). Eine ausführliche, wenn auch mittlerweile etwas veraltete Bibliographie bietet Machnëva (vgl. Machnëva, M. A.: Chronika žizni A. S. Grina i sem’i Grinevskich (1843–1917). Biobibliografičeskij ukazatel’. Kirov 1995). 55 Der wichtigste westliche Grin-Forscher ist zweifellos Nicholas Luker, von dem die erste Grin-Monographie außerhalb der Sowjetunion stammt (vgl. Luker: Alexander Grin). Auf ihr baut Lukers zweite Monographie zu Grin auf (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary), die deutliche inhaltliche Überschneidungen mit dem Vorgängerwerk aufweist. Darüber hinaus verfasst Luker eine Reihe von Aufsätzen, unter anderem zu dem von Grin geschaffenen fiktiven Land Grinlandija (vgl. Luker, Nicholas J. L.: Alexander Grin. A Survey. In: Russian Literature Triquarterly 8 (1974), 341–361; Luker, Nicholas J. L.: Alexander Grin’s ›Grinlandia‹. In: Freeborn, Richard / Milner-Gulland, R. R./Ward, Charles A. (Hg.): Russian and Slavic Literature. Columbus 1976, 190–212; Luker, Nicholas: Flight of Fancy: Aleksandr Grin’s Novel The Shining World (Blistaiushchii mir, 1923). In: Bristol, Evelyn: Russian Literature and Criticism. Selected Papers from the Second World Congress for Soviet and East European Studies. Garmisch-Partenkirchen, September 30 – October 4, 1980. Berkeley 1982, 111–129; Luker, Nicholas: ›Gold? A Transient, Shining Trouble‹: Aleksandr Grin’s Novel The Golden Chain (1925). In: Ders. (Hg.): Out of the Shadows. Neglected Works in Soviet Prose: Selected Essays. Nottingham 2003, 61–77; Luker, Nicholas: Grinlandia in Embryo: Aleksandr Grin’s tale Ostrov Reno (Reno Island, 1909). In: The New Zealand Slavonic Journal 37 (2003), 195–208). Er publiziert zusammen mit Barry Scherr eine Aufsatzsammlung zu Grinlandija (vgl. Scherr, Barry P./Luker, Nicholas: The Shining World. Exploring Aleksandr Grin’s Grinlandia. Nottingham 2007), und schreibt Vor- bzw. Nachworte zu von ihm selbst übersetzten Erzählungen Grins (vgl. Luker, Nicholas J. L.: Afterword. In: Russian Literature Triquartely 11 (1975), 94; Luker: Introduction. Selected Short Stories) sowie Lexikoneinträge zu Grin für das »Dictionary of Literary Biography« (vgl. Luker, Nicholas: Aleksandr Stepanovich Grin. In: Rydel, Christine (Hg.): Dictionary of Literary Biography. Vol. 272. Russian Prose Writers Between the World Wars. Detroit u. a. 2003, 129–136) und den »Reference Guide to Russian Literature« (vgl. Luker: Aleksandr Stepanovich Grin. Reference Guide). Von Scherr sind neben der genannten Aufsatzsammlung zu Grinlandija gemeinsam mit Luker seine Dissertationsschrift zur literarischen Entwicklung Grins (vgl. Scherr, Barry: The Literary Development of Aleksandr Grin. [Unpublished doctoral thesis]. Chicago 1973) sowie ein Aufsatz zu Grins bekanntestem Werk »Alye parusa« zu nennen (vgl. Scherr, Barry: Aleksandr Grin’s ›Scarlet Sails‹ and the Fairy Tale. In: Slavic and East European Journal 20 (1976), 387–399). Ebenfalls mit Grinlandija befasst sich ein Aufsatz von Naumann (vgl. Naumann, Marina T.: Grin’s Grinlandia and Nabokov’s Zoorlandia:

Vorstellung des Autors 

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Insgesamt existiert gerade einmal ein gutes halbes Dutzend westlicher Monographien zu Grin, von denen lediglich die beiden (inhaltlich in weiten Teilen

Fantastic Literary Affinities. In: Germano-Slavica II /4 (1977), 237–252). Zwei weitere Dissertationen zu Grin aus dem angloamerikanischen Raum stammen von Capodilupo (vgl. Capodilupo, Lucia L.: Plot Architectonics in the Novels of Aleksandr Grin. Ann Arbor / Michigan 1984) und von Rotsel (vgl. Rotsel, Ralph William: A. S. Grin: Thematic development in his short stories and tales. Ann Arbor / Michigan 1981). Unter den neueren westlichen Publikationen sind die Dissertationsschrift von Oryshchuk zur offiziellen Darstellung Grins in der Sowjetunion (vgl. Oryshchuk, Nataliya [Oryščuk, Natal’ja]: Oficial’naja reprezentacija tvorčestva Aleksandra Grina v SSSR : Ideologičeskie mify, ich tvorcy i potrebiteli. Canterbury 2006), ein Aufsatz von ihr zur literarischen Verarbeitung des Motivs Grinlandija bei anderen Autoren (vgl. Oryshchuk, Nataliya: Holidays in Zurbagan: Grinlandia in post-Soviet fiction. In: Australian Slavonic and East European Studies 24/1–2 (2010), 73–82) sowie die Dissertation von Martowicz zur philosophischen Sichtweise in Grins Werken (vgl. Martowicz, Krzysztof: The Work of Aleksandr Grin (1880–1932): A Study of Grin’s Philosophical Outlook. St Andrews 2011, URL : https://research-repository.st-andrews.ac.uk/handle/10023/2467) zu nennen. In Frankreich erscheinen unter anderem zwei Aufsätze von Claude Frioux zu Grin (vgl. Frioux, Claude: Alexandre Grin. In: Revue des Études Slaves 38 (1961), 81–87; Frioux, Claude: Sur deux romans d’Aleksandr Grin. In: Cahiers du monde russe et soviétique 3/4 (1962), 546–563); von Castaing stammen eine Monographie über die literarische Entwicklung Grins (vgl. Castaing, Paul: L’évolution littéraire d’Aleksandr Grin. De la décadence à l’idéalisme. Aix-en-Provence 1997) sowie zwei Aufsätze (vgl. Castaing, Paul: Le thème du conflit chez Aleksandr Grin. In: Cahiers du monde russe et soviétique 12/3 (juillet – septembre 1971), 217–246; Castaing, Paul: Grin et la révolution. In: Revue des Études Slaves LIII /2 (1981), 193–205), Villeneuve verfasst zu Grins Werk »Krysolov« (dt.: »Der Ratten­ fänger«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Krysolov. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 321–355. Kürzel: KR) eine detaillierte Textanalyse (vgl. Villeneuve, Johanne: Le téléphone d’Alexandre Grine: fuite et rumeurs dans la Russie révolutionnaire des années vingt. In: Tangence 55 (1997), 40–63). Der wohl wichtigste Grin-Forscher in Polen ist Jerzy Litwinow, von dem unter anderem die Monographie »Proza Aleksandra Grina« stammt (vgl. Litwinow, Jerzy: Proza Aleksandra Grina. Poznań 1986). Unter den auf Deutsch erschienen Aufsätzen zu Grin sind die beiden aufschlussreichen Nachworte von Debüser zu Sammlungen mit Erzählungen Grins besonders hervorzuheben (vgl. Debüser, Lola: Alexander Grin und die Phantastik der menschlichen Psyche. In: Grin, Alexander: Der Rattenfänger. Phantastische Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Lola Debüser. Frankfurt am Main 1986, 215–227; Debüser, Lola: Grins rätselhafte Geschichten. In: Grin, Alexander: Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1989, 197–206) – erstere ist in der BRD, letztere in der DDR erschienen. Zwei weitere Nachworte stammen von Grossmann (vgl. Grossmann, Alexander: Nachwort. In: Grin, Alexander: Die goldene Kette. Weimar 1964, 180–186) sowie von Kasper (vgl. Kasper: Nachwort), der unter anderem auch den Eintrag zu Grin in dem Überblickswerk »Geschichte der russischen sowjetischen Literatur« verfasst (vgl. Kasper, Karlheinz: Alexander Grins phantastische Projektion. In: Beitz, Willi / Hiller, Barbara / Jünger, Harri / Schaumann, Gerhard (Hg.): Geschichte der russischen sowjetischen Literatur. Bd. I. 1917–1941. Berlin 1973, 136–139); bei allen drei Texten handelt es sich um DDR-Publikationen mit entsprechender ideologischer Färbung.

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Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

übereinstimmenden) von Luker eine breitere Rezeption erfahren haben; hinzu kommen etwa zwei Dutzend Aufsätze – und dies im Verlauf von gut 60 Jahren seit der Wiederentdeckung Grins nach dem Ende des Stalinismus. Aus diesen beiden Gründen soll im Folgenden ein nicht umfassender, aber doch relativ ausführlicher Überblick über die wichtigsten biographischen Informationen gegeben werden. Hierbei werden diejenigen Fakten hervorgehoben, die für Grins Schaffen oder die Rezeption des Autors und seines Werks von besonderer Bedeutung sind. Wo es aufgrund enger Bezüge zur Biographie sinnvoll ist, wird auch an dieser Stelle schon auf die spezifische Grin-Rezeption eingegangen, die in Kapitel 2.2 genauer beleuchtet wird. Aufgrund der beschriebenen Mythisierung Grins war es dabei wichtig, Aussagen über Grins Leben  – aber auch, wie in Kapitel 2.2.5 gezeigt wird, über sein Werk – unter anderem mit Hilfe von oftmals kaum beachteten Archivmaterialien zu verifizieren bzw. falsifizieren. Im Falle widersprüchlicher Aussagen in verschiedenen Quellen wird dies entsprechend angemerkt. 2.1.2

Das Leben und Schaffen Grins

2.1.2.1

Kindheit und Jugend

Aleksandr Stepanovič Grinevskij56 wird am 11. (23). August 1880 in Slobod­ skoj im Gouvernement Vjatka (heute: Kirovskaja oblast’) geboren und wächst in der Kleinstadt Vjatka (Kirov) auf.57 Seine Eltern sind der wegen aufrühre­ rischer Aktivitäten58 1862 verhaftete und 1864 verbannte Pole Stepan Evseevič Grinevskij (Stefan Hryniewski) und Anna Stepanovna Grinevskaja, geborene Lepkova, Tochter eines nach Russland emigrierten Schweden.59 Die Kindheit 56 In der folgenden Darstellung der Biographie wird, mit Ausnahme von Fällen, in denen es um den späteren Schriftsteller ›Grin‹ und seine Werke geht, zunächst der Name ›Grinevskij‹ verwendet. Ab dem Jahr 1907, in dem das Pseudonym ›Grin‹ erstmals auftaucht, wird nur noch der Name ›Grin‹ gebraucht. 57 Vgl. Pervova: Letopis’ žizni i tvorčestva. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 1. 58 Als Verbannungsgrund wird häufig die Teilnahme am polnischen Aufstand (Januaraufstand, Powstanie styczniowe)  von 1863 genannt (vgl. u. a. Kozlova, L. P.: Aleksandr Stepanovič Grin (1880–1932). In: Moračevskij, N. Ja. (Hg.): Russkie sovetskie pisateli. Prozaiki. Biobibliografičeskij ukazatel’. Tom 1. Avdeenko – Žestev. Leningrad 1959, 580–600, hier 580; Rossel’s, Vladimir M.: Grin. In: Nikolaev, P. A. (Hg.): Russkie pisateli 1800–1917. Biografičeskij slovar’. Tom 2. G – K. Moskva 1992, 41–43, hier 41; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 7). Dies war aber wohl lediglich eine romantische Wunschvorstellung seines Sohns Aleksandr Grinevskij (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 2), der diese Information selbst verbreitet (vgl. Lidin, Vladimir G.: Ljudi i vstreči. In: Moskva 10 (1963), 157–171, hier 165), und wird durch den Zeitpunkt der Verhaftung widerlegt. 59 Vgl. Machnëva: Chronika žizni A. S. Grina, 3 f.; Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine i izdanija. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 17, tetrad’ V, l. 6.

Vorstellung des Autors 

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verläuft Grins Darstellung nach zunächst glücklich – er erinnert sich daran, »[к]ак меня баловали«60 –, doch die Situation verschlechtert sich zunehmend: […] мать болела, отец сильно и часто пил;61 долги росли, все вместе взятое создавало тяжелую и безобразную жизнь. Среди убогой обстановки, без сколько­нибудь правильного руководства, я рос при жизни матери; с ее смертью пошло еще хуже…62

Die Mutter stirbt 1895,63 zur Stiefmutter des ›Saša‹ gerufenen Jungen wird noch im selben Jahr Lidija Avenirovna Boreckaja,64 zu der laut eigenen Angaben des Schriftstellers ein angespanntes Verhältnis besteht.65 Aufgrund

60 Grin: Kniga vospominanij. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 166, l. 1. Dt.: »wie ich verhätschelt wurde«. 61 Vgl. auch die Aussage in »Avtobiografičeskaja povest’«: »[…] каждый день пьяный отец (он сильно пил)« (AP, 13. Dt.: »[…] jeden Tag der betrunkene Vater (er trank stark)«). Grins Schwestern Ekaterina und Angelina widersprechen der Behauptung, ihr Vater sei ein Trinker gewesen (vgl. Izergina, N. P.: A. S. Grin i A. M. Gor’kij. In: Učënye zapiski. Kafedra literatury. Vypusk 20. Kirov 1965, 78–108, hier 80). Nach Dmitrevskij (vgl. Dmitrevskij, Vladimir: V cëm volšebstvo Aleksandra Grina?. In: Grin, Aleksandr: Zolotaja cep’. Doroga nikuda. Leningrad 1960, 385–397, hier 389) porträtiert Grin seinen Vater im Roman »Doroga nikuda« als »горький пьяница и несчастливый игрок« (DN, 40. Dt.: »notorischer Trinker und vom Unglück verfolgter Spieler« (DNd, 30 f.)) Frank Davenant, der seinen Sohn, den Helden Tirrej Davenant, aufdringlich um Geld anbettelt: »›[…] Так ты богат, плут? А, знаешь, ведь ты красивый мальчик, Тири! Покажи, сколько у тебя денег?!‹ ›Вам надо денег?‹ ›Дай, дай мне денег! Я хочу денег!‹« (DN, 131. Dt.: »›[…] Du hast also Geld, du Schlingel? Und ein hübscher Junge bist du obendrein, Tiri! Zeig mal, wieviel Geld du hast!‹ ›Brauchen Sie Geld?‹ ›Gib her, gib her! Ich will Geld haben!‹« (DNd, 91)) Tatsächlich findet sich in »Avtobiografičeskaja povest’« eine Begebenheit, die dieser sehr ähnelt. Nachdem Grinevskij zu Hause fälschlicherweise behauptet hat, während seiner Reise nach Baku an Geld gekommen zu sein, kommt es zu folgender Szene: »[…] вечером, сильно нетрезвый и, повидимому, наученный мачехой, [отец] подошел ко мне, сел и, не то стесняясь, не то приказывая, сказал: ›А ну, Александр, давай­ка деньги! давай, давай! Ты все зря истратишь… то – вот… Так давай!… то – вот.‹« (AP, 105. Dt.: »[…] abends, stark alkoholisiert und, allem Anschein nach, durch die Stiefmutter instruiert, kam [der Vater] zu mir, setzte sich und sagte, halb verlegen, halb befehlend: ›Na, Aleksandr, gib schon Geld! Gib, gib! Du wirst alles unnötig verprassen… so – da…Also gib!.. so – da.‹«). 62 AP, 17. Dt.: »[…] die Mutter war krank, der Vater trank stark und häufig; die Schulden wuchsen, alles zusammengenommen begründete ein schwieriges und abscheuliches Leben. In ärmlichen Verhältnissen, ohne ein wenig richtige Führung, wuchs ich zu Lebzeiten der Mutter auf; mit ihrem Tod wurde es noch schlimmer…«. 63 Vgl. Pervova: Letopis’ žizni i tvorčestva. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 1. 64 Vgl. Luker, Nicholas: Introduction. ›An Adventure of his Soul‹: The Life of a Visionary. In: Scherr, Barry P./Luker, Nicholas: The Shining World. Exploring Aleksandr Grin’s Grinlandia. Nottingham 2007, xi–xviii, hier xii; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 9. 65 Vgl. AP, 27.

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Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

dieser Aus­sagen wird Aleksandrs Kindheit in der Sekundärliteratur (meist ausschließlich) als unglücklich und oft sogar elend beschrieben.66 Zur Armut und familiären Instabilität kommen Probleme in der Schule. Bereits ein Jahr nach Eintritt in das Aleksandrovskoe Vjatskoe real’noe učilišče (dt.: Alexander-Realschule Vjatka) 188967 wird Saša Grinevskij 1890 für 10 Monate wegen schlechten Benehmens vom Unterricht ausgeschlossen.68 1892 folgt wegen satirischer Gedichte über seine Lehrer – eines davon in Anlehnung an Aleksandr Puškins Gedicht »Sobranie nasekomych« (1829; dt.: »Insektensammlung«) –69 schließlich ein endgültiger Schulverweis und der Wechsel in das Vjatskoe gorodskoe 4-ch klassnoe učilišče (dt.: Städtische vierklassige Schule Vjatka), wo er ebenfalls häufig Abmahnungen erhält.70 Aleksandr ist trotz seiner schulischen Aufsässigkeit ein eher zurückgezogener Junge, »[у которого] почти не было приятелей«,71 der am liebsten alleine spielt und schon als Zehnjähriger stundenlang ohne Begleitung auf der Jagd durch den Wald streift.72 Vor allem aber liest der junge Grinevskij – »бессистемно, безудержно, запоем«.73 Im Zusammenhang mit dieser Tatsache sind in der Sekundärliteratur zu Grin zwei Besonderheiten festzustellen. Zum einen betrifft dies die Nennung der von Saša gelesenen Bücher. Auch wenn Grin als Lieblingsautoren seiner Kinderjahre »Майн­Рид, Густав Эмар, Жюль Верн, Луи Жакольо«74 aufzählt, so betont er doch auch die große Bandbreite seiner Lektüren: »[…] я читал все, что под рукой было […]. Тысячи книг сказочного, научного, философского, геологического, бульварного и иного содержания сидели в моей голове плохо переваренной пищей.«75 Ein großer Teil der Sekundärliteratur zu Grin beschränkt oder konzentriert

66 Vgl. u. a. Dmitrevskij: V cëm volšebstvo, 389; Luker: Introduction. Selected Short Stories, 13; Grin, Aleksandr Stepanovich. In: Goetz, Philip W. (Hg.): The New Encyclopædia Britannica. 15th edition. Volume 5. Micropædia. Chicago u. a. 1991, 503–504, hier 503. 67 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 8. 68 Von Pervova wird fälschlicherweise 1889 als Jahr des Unterrichtsausschlusses angegeben (vgl. Pervova: Letopis’ žizni i tvorčestva. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 1). Im GAKO finden sich zahlreiche Einträge über Aleksandr Grinevskijs Fehlverhalten im Aleksan­ drovskoe Vjatskoe real’noe učilišče (zu den Signaturen vgl. Izergina: A. S. Grin, 80). Grin zählt in seiner Autobiographie lakonisch eine Reihe solcher Vermerke auf (vgl. AP, 6 f.). 69 Das Gedicht ist in Ausschnitten erhalten; vgl. AP, 10. 70 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 8 f. 71 AP, 17. Dt.: »[der] fast keine Freunde hatte«. 72 Vgl. AP, 7 f. Vgl. hierzu auch Charčev: Poėzija i proza Aleksandra Grina, 4; Luker: Ale­ xander Grin, 11. 73 AP, 5. Dt.: »unsystematisch, zügellos, in rauen Mengen«. 74 AP, 5. Dt.: »Mayne Reid, Gustave Aimard, Jules Verne, Louis Jacolliot«. 75 Grin: A. S. Grin – S. A. Vengerovu, 149. Dt.: »[…] ich las alles, was griffbereit war […]. Tausende Bücher mit märchenhaftem, wissenschaftlichem, philosophischem, geologischem, trivialem und anderem Inhalt saßen in meinem Kopf als schlecht verdaute Kost.«.

Vorstellung des Autors 

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sich aber auf die Erwähnung von Edgar Allan Poe, Robert Louis Stevenson, James Fenimore Cooper, H. Rider Haggard, Joseph Conrad, Rudyard Kipling und Jules Verne.76 Genannt werden damit gerade diejenigen Autoren, meist westliche Verfasser von Abenteuerliteratur, als deren Epigone im negativen oder Nachfolger im positiven Sinne Grin oftmals bezeichnet wird (s. Kap. 2.2.1), wobei die Vielfalt der von Grins Gesamtwerk abgedeckten Genres außer Acht gelassen wird. Die zweite Besonderheit bezieht sich auf die in der Sekundärliteratur oft angeführte Begründung für Aleksandrs ausgeprägte Leselust, die als Möglichkeit zur Flucht aus einer widrigen Realität interpretiert wird.77 Anlass hierfür geben Aussagen wie die folgenden aus »Avtobiografičeskaja povest’«: »[…] я начал мечтать о жизни приключений«,78 oder: Перед моими глазами, в воображении, вечно были – американский лес, дебри Африки, сибирская тайга. Слова ›Ориноко‹, ›Миссисипи‹, ›Суматра‹ звучали для меня как музыка. Прочитанное в книгах, будь то самый дешевый вымысел, всегда было для меня томительно желанной действительностью.79

Einer in der Autobiographie enthaltenen Anekdote nach schmiedet der Junge nach seinem Schulverweis aus Angst vor elterlicher Bestrafung sogar einen Nachmittag lang Pläne, nicht nur in seiner Phantasie, sondern tatsächlich nach Amerika zu gehen.80 Interessant ist dabei weniger, ob diese Darstellung in »Avtobiografičeskaja povest’« den Tatsachen entspricht oder ob Grin auf diese Weise seine eigene Legende als Abenteurer zu untermauern versucht, sondern vielmehr, dass die kindliche Flucht in die fremden Welten der Abenteuerromane als Ursprung der exotischen Schauplätze Grins späterer eigener Werke gedeutet wird. Besonders deutlich kommt diese Interpretation bei Veržbickij zum Ausdruck:

76 Vgl. z. B. Vojtolovskij, L.: Letučie nabroski. In: Kievskaja mysl’ 120 (3 maja 1914). [Abschrift des Originals]. FLMMG , n / v 2916, l. 2 f.; Slonim, Marc: Soviet Russian Literature. Writers and Problems. 1917–1977. 2nd edition. New York 1977, 116; Struve, Gleb: Russian Literature under Lenin and Stalin. 1917–1953. Norman / Oklahoma 1971, 150; Rossel’s, Vladimir M.: A. S. Grin. In: Dement’ev, A. G./Poljak, L. M./Timofeev, L. I. (Hg.): Istorija russkoj sovet­ skoj literatury v četyrëch tomach. 1917–1965. Tom I, 1917–1929. Moskva 1967, 370–391, hier 384; Rossel’s: Grin. Russkie pisateli, 42; Dmitrevskij: V cëm volšebstvo, 389; Luker: Grinlandia in Embryo, 199. 77 Vgl. z. B. Luker: Introduction. Selected Short Stories, 14. 78 AP, 5. Dt.: »[…] ich begann von einem Leben der Abenteuer zu träumen«. 79 АP: 8. Dt.: »Vor meinen Augen, in der Fantasie, waren fortwährend – der amerikanische Wald, die Wildnis Afrikas, die sibirische Taiga. Die Wörter ›Orinoko‹, ›Mississippi‹, ›Sumatra‹ klangen für mich wie Musik. Das in Büchern Gelesene, und sei es auch die billigste Fiktion, war für mich immer qualvoll ersehnte Realität.«. 80 Vgl. AP, 13. 

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Всe прошлое Грина, полное тяжелых испытаний – моральных и физических, – даже у очень выносливого человека могло бы воспитать одно только отвращение к жизни. К счастью […], этого не случилось. Может быть, оттого, что он еще в детстве привык просто убегать от всех мерзостей, которые его окружали в семье, в школе, на улице. Он запоем читал и перечитывал книги, где правда переплеталась с причудливой, веселой и трогательной выдумкой. Став взрослым, Грин заслонялся от жуткой действительности царского режима светлыми видениями и мечтой о том времени, когда будут жить одни только честные, трудолюбивые, добрые и светлые духом люди.81

Wie bereits bei der Nennung der Lieblingsautoren des Jungen wird auch hier eine Kontinuität zwischen den Lektüren des jungen Saša Grinevskij und dem späteren Werk des Autors Aleksandr Grin konstruiert – genauer gesagt, dem vornehmlich rezipierten Teil seines Werks, d. h. seinen bekanntesten, ›romantischen‹ Romanen und Erzählungen mit exotischen Schauplätzen. Auf die hier bereits anklingende Einseitigkeit der Rezeption und die ideologische Komponente der Betonung von Grins schlechtem Leben unter der Zarenherrschaft wird in Kapitel 2.2.5 ausführlicher eingegangen. Obwohl Grins Aussagen über die Details seiner Kindheit nicht überprüfbar sind, ist an dieser Stelle festzuhalten, dass sich seine Ausgangsbedingungen nicht nur hinsichtlich seines sozialen Stands, sondern dadurch bedingt auch seiner Bildungschancen stark von denen vieler anderer Schriftsteller seiner Generation unterscheiden. Während beispielsweise die beiden im selben Jahr wie Grin geborenen Dichter Aleksandr Blok und Andrej Belyj in einem intellektuellen Umfeld aufwachsen, besucht Ersterer nie eine weiterführende Schule, geschweige denn eine Universität. Zwar eignet er sich mithilfe von Büchern autodidaktisch Wissen über verschiedenste Themen an,82 jedoch bleibt immer eine deutliche Kluft zwischen ihm und den intellektuellen Petersburger Krei81 Veržbickij: Svetlaja duša. Naš sovremennik, 104. Dt.: »Die ganze Vergangenheit Grins, voll von schweren Erfahrungen – moralischen und physischen –, hätte sogar bei einem sehr zähen Menschen nichts als Abneigung gegenüber dem Leben hervorrufen können. Zum Glück […] geschah dies nicht. Vielleicht deshalb, weil er sich schon in der Kindheit angewöhnte, einfach vor allen Abscheulichkeiten wegzulaufen, die ihn in der Familie, in der Schule, auf der Straße umgaben. Er las und las abermals Bücher in rauen Mengen, wo sich die Wahrheit mit wunderlicher, heiterer und rührender Fiktion verband. Nachdem er erwachsen geworden war, schützte Grin sich vor der schrecklichen Realität des zaristischen Regimes durch helle Visionen und den Traum von jener Zeit, in der allein ehrliche, fleißige, gute und seelisch helle Menschen leben werden.«. 82 Dieses selbstständig und unsystematisch erworbene Wissen lässt Grin oft in seine eigenen Texte einfließen. Paustovskij schreibt über die Zeit nach Grins Rückkehr aus der Verbannung 1912: »С ненасытной жаждой он перечитывал множество книг, хотел все узнать, испытать, перенести в свои рассказы.« (Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 78. Dt.: »Mit unstillbarem Durst las er eine Vielzahl Bücher, er wollte alles erfahren, erleben, in seine Erzählungen übertragen.«).

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sen, an deren Peripherie er sich fast 20 Jahre lang bewegt, bestehen.83 Einige wohlmeinende Bekannte, darunter Maksim Gor’kij und der Kritiker Arkadij Gornfel’d, raten daher »[…] А. С[тепанови]чу поучиться, повысить свой культурный уровень, но он упорно от этого отказался.«84 Immer wieder wird Grins niedriger Bildungsstand auch von der Literaturkritik direkt angemerkt,85 unter anderem von dem soeben erwähnten Gornfel’d, der 1917 in seiner Rezension zu Grins Sammelband »Iskatel’ priključenij« (dt.: »Der Abenteurer«) von 1916 bemängelt: »Недостатокъ культуры остро чувствуется у Грина […]«.86 Auch auf sprachliche Fehler und Ungewöhnlichkeiten in Grins Texten wird in diesem Zusammenhang immer wieder hingewiesen (s. dazu ausführlicher Kap. 2.2.1). Grins vergleichsweise geringe Bildung erklärt möglicherweise auch seine Abneigung, in intellektuellen Kreisen Gespräche über Literatur zu führen, obwohl dieser eigentlich seine ganze Leidenschaft gehört. So erinnert sich etwa Nadežda Pavlovič an Grin im Dom iskusstv: »Разговаривать о литературе он не любил.«87 und Smirenskij berichtet übereinstimmend: »О литературе, особенно русской, он говорил неохотно и мало.«88 Generell hält Grin meist Distanz zu seinen Schriftstellerkollegen und schließt sich wohl auch deshalb keinem der literarischen Zirkel oder den Strömungen des Symbolismus, Akmeismus oder Futurismus, die während seiner Jahre in Petersburg ihre jeweiligen Höhepunkte erreichen, an. Selbst während seiner Zeit im Petersburger Dom iskusstv (1920–1921), wo er mit zahlreichen Kulturschaffenden zusammenlebt, bleibt Grin meist für sich und beteiligt sich kaum an Gesprächen.89 83 Grins Mitbewohner im Petersburger Dom iskusstv Vsevolod Roždestvenskij etwa charakterisiert ihn als »прост и наивен, как ребенок« (Roždestvenskij: Dom iskusstv, 203. Dt.: »einfach und naiv, wie ein Kind«), berichtet in diesem Zusammenhang aber auch, dass Grin sich nicht für seinen niedrigen Bildungsstand geschämt habe (vgl. ebd.). 84 Abramova-Kalickaja: Ob A. S. Grine. RGALI , f. 127, op. 2, ed. chr. 16, l. 5. Dt.: »[…] A. S[tepanovi]č sich zu bilden, sein kulturelles Niveau zu heben, aber er lehnte das hartnäckig ab.«. 85 Kirkin, Ju. V.: A. S. Grin v pečati i literatura o nëm (1906–1970 gg.). (Avtoreferat dissertacii). Leningrad 1972, 9.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 9. 86 Gornfel’d: Iskatel’ priključenij, 280. FLMMG , n / v 4711, l. 2. Dt.: »Der Mangel an Kultur ist bei Grin akut zu spüren […]«. 87 Zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 38. Dt.: »Sich über Literatur zu unterhalten mochte er nicht.«. 88 Smirenskij: Aleksandr Grin. Vstreči. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 18, l. 4. Dt.: »Über Literatur, insbesondere russische, sprach er ungern und wenig.«. 89 Vgl. Roždestvenskij: Dom iskusstv, 202. Selbiges gilt auch für die Zusammenkünfte in Maksimilian Vološins Haus in Koktebel’ nahe Grins Wohnort Staryj Krym, das als Treffpunkt für Literaten, Künstler und Intellektuelle dient. Roždestvenskij erinnert sich, dass Grin sich in dieser Gesellschaft nicht wohlfühlt: »У Волошина всегда бывало много летних гостей  – писателей, художников, музыкантов. Александр Степанович не

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Bevor er jedoch überhaupt in die Lage kommt, sich in gebildeten Kreisen zu bewegen bzw. behaupten zu müssen, hat der junge Aleksandr Grinevskij ohnehin noch einen weiten Weg vor sich. Nach Abschluss der Schule 189690 verspürt er einen unbändigen Drang, aus der ungeliebten Provinzstadt Vjatka wegzugehen, über die er in »Avtobiografičeskaja povest’« schreibt: […] надо знать провинциальный быт того времени, быт глухого города. Лучше всего передает эту атмосферу напряженной мнительности, ложного самолюбия и стыда рассказ Чехова ›Моя жизнь‹. Когда я читал этот рассказ, я как бы полностью читал о Вятке.91

Es folgen sechs Jahre »в скитаниях«,92 in denen Grinevskij verschiedenste Gelegenheitsarbeiten annimmt und oftmals Hunger und Not leidet. Diese Zeit wird später von der sowjetischen Grin-Forschung im Rahmen der oben angesprochenen Mythisierung der Biographie als abenteuerliche, unstete Jugend, die die romantische Ausrichtung seines späteren Schaffens gleichsam bereits ankündigt, konzeptualisiert. Von Vjatka aus fährt Aleksandr im August 1896 zunächst nach Odessa, mit dem erklärten Ziel, Matrose zu werden. Dieser durch die Lektüre von Abenteuergeschichten inspirierte Wunsch93 wird Grins eigenen Schilderungen zufolge durch die Begegnung mit einem zur See fahrenden Verwandten mütterlicherseits verstärkt, da dieser ihm als lebendiger Beweis für die reale Umsetzbarkeit seines Traums dient.94 In Odessa jedoch folgt schnell die Ernüchterung für den schwächlichen Jungen: »[…] этот новый мир, видимо, не нуждался сейчас во мне […]«;95 er wird ausgelacht und mehrfach abgeприжился в их среде. И здесь он казался грубоватым, а порою и излишне резким.« (Roždestvenskij: V Dome iskusstv, 245 f. Dt.: »Bei Vološin waren immer viele Sommergäste – Schriftsteller, Künstler, Musiker. Aleksandr Stepanovič lebte sich in ihrer Mitte nicht ein. Auch hier erschien er etwas grob und zeitweise auch übermäßig schroff.«) Statt mit den anderen Erwachsenen befasst er sich dort am liebsten mit den Kindern, wie die Künstlerin N. T. Sorokina berichtet (vgl. Kupčenko, V.: A. S. Grin v Koktebele. Kimmerijskie ėtjudy. 1974. In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 65–65ob, hier 65). 90 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 10. 91 AP, 33. Dt.: »[…] man muss den provinziellen Alltag jener Zeit kennen, den Alltag der öden Stadt. Am besten vermittelt diese Atmosphäre des angespannten Argwohns, des falschen Ehrgefühls und der Scham die Erzählung Čechovs ›Mein Leben‹. Als ich diese Erzählung las, las ich gleichsam voll und ganz über Vjatka.« In seinen fragmentarischen autobiographischen Aufzeichnungen notiert Grin, er habe »сатирические рассказы о Вятке« (Grin: Kniga vospominanij. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 166, l. 8. Dt.: »satirische Erzählungen über Vjatka«) verfasst. Diese sind jedoch nicht erhalten geblieben. 92 Rossel’s: Grin. Russkie pisateli, 41. Dt.: »auf Wanderschaft«. 93 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 69. 94 Vgl. AP, 31 f. 95 AP, 40. Dt.: »[…] diese neue Welt brauchte mich, offensichtlich, jetzt nicht.«.

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wiesen, als er nach Arbeit auf einem Schiff fragt.96 Diese Erfahrungen gehen Jahrzehnte später in Grins teilweise autobiographische Erzählung »Po zakonu« (1924; dt.: »Nach dem Gesetz«)97 ein. Er verbringt die Tage hungrig im Hafen auf der Suche nach Arbeit und schläft in einem elenden Nachtquartier in einem Keller,98 bis er schließlich nach einigen Wochen, dank des Empfehlungsschreibens eines flüchtigen Bekannten an den Buchhalter Chochlov und dessen Vermittlung, zunächst eine bessere Unterkunft99 und schließlich einen Platz als Hilfsmatrose ohne Bezahlung auf dem Dampfer Platon erhält.100 Obwohl die Zeit in Odessa, vor und zwischen Grinevskijs Schiffsreisen, von materieller Not geprägt ist, hinterlässt der Hafen mit seinen Farben, Gerüchen und exotischen Waren101 einen so unvergesslichen Eindruck bei Grinevskij, dass er in seinen Jahrzehnte später entworfenen fiktiven Häfen noch wiederzuerkennen ist.102 Selbiges gilt auch für die fünf Schiffsreisen Aleksandrs von Odessa aus:103 die erste im August 1896 auf der Platon nach Sevastopol’, Jalta, Feodosija und Batumi,104 die zweite kurz darauf auf demselben Schiff nach Sevastopol’, Kerč, Batumi und Feodosija,105 die dritte im Dezember 1896 auf der Svjatoj Nikolaj (dt.: Heiliger Nikolaj) nach Cherson,106 die vierte im Frühjahr 1897 auf der Cesarevič (dt.: Thronfolger) nach Alexandria107 und die letzte 96 Vgl. AP, 41 f. Bereits vor der Abreise aus Odessa bekommt Aleksandrs durch die Lektüre von Abenteuerromanen erzeugtes, romantisiertes Idealbild erste Risse: Ein Gespräch mit einem Matrosen fasst er in »Avtobiografičeskaja povest’« enttäuscht zusammen: »Меня интересовали впечатления далеких стран, бурь, битв с пиратами, а он говорил о пайке, жалованье и дешевизне арбузов.« (AP, 32. Dt.: »Mich interessierten Eindrücke von fernen Ländern, Stürmen, Schlachten mit Piraten, und er sprach über die Verpflegung, den Lohn und die Billigkeit von Wassermelonen.«). Ähnlich ernüchternd verläuft die Unterhaltung mit einem weiteren Matrosen, den er in Vjatka trifft: »Я видел, что он смотрел на море как на работу, а не как на героическую поэзию […].« (AP, 33. Dt.: »Ich sah, dass er das Meer wie Arbeit betrachtete, und nicht wie eine Heldenpoesie […].«). 97 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Po zakonu. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 299–303. Kürzel: PZ . 98 Vgl. AP, 42–47. 99 Vgl. AP, 47 f. 100 Vgl. AP, 51. 101 Vgl. AP, 50 f. u. 73. 102 Vgl. Luker: Alexander Grin, 16. 103 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 19; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 10 f. 104 Vgl. AP, 51–58. 105 Vgl. AP, 59–62. 106 Vgl. AP, 67 f. Von Cherson zurück nach Odessa reist Grinevskij nicht auf der Svjatoj ­Nikolaj, da er dort wegen schlechter Behandlung den weiteren Dienst verweigert und ohne Lohn in Cherson von Bord geht, sondern als blinder Passagier auf dem Raddampfer Odessa (vgl. AP, 69). 107 Vgl. AP, 73. Auch in diesem Fall arbeitet Grinevskij nicht während der ganzen Reise als Matrose: Nach seiner Weigerung, an einer Übung teilzunehmen, entlässt ihn der Kapitän auf der Rückreise aus seinem Dienst, sodass er von Smyrna (Izmir) bis Odessa nur noch als Passagier mitfährt (vgl. AP, 73).

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ein weiteres Mal auf dem Schwarzen Meer auf der Atrek im Jahr 1899.108 Denn auch Grinevskijs Leben auf See erweist sich als hart und ganz anders als in den Romanen seiner Kindheit und Jugend dargestellt. Aleksandr wird von den anderen Matrosen nicht ernst genommen, wegen seiner allgemeinen Untauglichkeit – Seekrankheit, Ungeschicklichkeit, körperlicher Schwäche – verspottet, schikaniert und sogar physisch angegriffen.109 Nichtsdestotrotz gehen auch aus dieser Zeit zahlreiche, vor allem positive Erlebnisse dieser Reisen in Grins spätere Werke ein, beispielsweise die intensiven Eindrücke aus den Hafenstädten der Krim (s. dazu Kap. 4.2.2).110 Nach dem Ende der vierten Schiffsreise folgt eine kurze Phase als obdachloser Hafenarbeiter in Odessa,111 bevor Grinevskij im Juli 1897 völlig mittellos nach Vjatka zurückkehrt. Dort verbringt er ein Jahr unter anderem als Schreibkraft in der Stadtverwaltung und als Rollen-Kopist am städtischen Theater,112 flüchtet jedoch im Juli 1898 erneut »от унылой, чопорной Вятки, с ее догматом: ›быть как все‹.«113 Grinevskij fährt nach Baku, wo sich das Leben jedoch als noch schwieriger als in Odessa erweist.114 Statt wie erhofft wieder auf einem Schiff anzuheuern, ist er gezwungen, seinen Lebensunterhalt mit verschiedensten Gelegen­ heitsarbeiten zu verdienen – unter anderem verdingt er sich als Ladearbeiter im Hafen, bedient den Blasebalg in einer Schmiede und arbeitet in einer Fisch­ fabrik. Zwischen diesen Phasen aber ist Aleksandr nicht nur arbeits-, sondern oft auch obdachlos, hungrig, an Malaria erkrankt und abhängig von erbettelten Almosen.115 Er lebt am Rande der Gesellschaft in einem von Gewalt und Verbrechen geprägten Milieu unter Vagabunden (russ.: bosjaki), Kriminellen und Trinkern.116 Diese Lebensphase fasst Grin in seiner kurzen »Avtobiografija« (dt.: »Autobiographie«) von 1913 mit den Worten zusammen: »[…] больше всего был Максимом Горьким«.117 Als am schlimmsten schildert Grin in 108 Vgl. AP, 102 f. 109 Vgl. AP, 52 f. Vgl. hierzu auch Dmitrevskij: V cëm volšebstvo, 390; Tarasenko: Dom Grina, 19. 110 Auch die Hilfe Silant’evs (des Gehilfen von Grinevskijs früherem Wohltäter Chochlov), der Grinevskij nach seiner Rückkehr aus Cherson Geld für eine Unterkunft gibt und eine Arbeit im Hafen beschafft (vgl. AP, 72) verarbeitet Grin später literarisch: In »Doroga nikuda« erhält der Protagonist Davenant ähnliche Unterstützung von Futroz (DN, 37 u. 42; vgl. dazu auch Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 9). 111 Vgl. AP, 73. 112 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 11. 113 AP, 75. Dt.: »vor dem trostlosen, prüden Vjatka, mit seinem Dogma: ›zu sein wie alle‹.«. 114 Vgl. AP, 77–93. 115 Vgl. Pervova: Letopis’ žizni i tvorčestva. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 2. 116 Vgl. u. a. AP, 85 f. 117 Grin: A. S. Grin – S. A. Vengerovu, 150. Dt.: »[…] vor allem war ich Maksim Gor’kij«. Paustovskij bemerkt hierzu: »Жизнь Грина, особенно бакинская, многими своими чертами напоминает юность Максима Горького. И Горький и Грин прошли через

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»Avtobiografičeskaja povest’« seine Situation im Winter 1898–1899: »Зима тянулась бесконечно долго. Это был мрак и ужас, часто доводивший меня до слез.«118 Am Ende »этого отчаянно тяжелого года«119 an den ›Gor’kijschen Universitäten‹, nach einer kurzen Reise in den Nordkaukasus und einer Fahrt als Matrose auf dem Dampfer Atrek, die er aufgrund eines erneuten Malariaschubs120 abbrechen muss, kehrt Grinevskij Mitte des Jahres 1899 von Astrachan aus als blinder Passagier auf verschiedenen Flussdampfern nach Vjatka zurück.121 Auch dieses Mal ist der Aufenthalt dort nur von begrenzter Dauer. Nach etwa einem Dreivierteljahr, in dem er wie zuvor als Schreibkraft arbeitet,122 zieht es Grinevskij im April 1900 erneut fort aus Vjatka. Seine ursprüngliche Absicht, im Wald nahe Kotlas von der Jagd zu leben, gibt er allerdings bereits nach einer Woche auf. Es folgen kurze Anstellungen unter anderem in einer Badestube in Muraši, als Matrose auf einem Kahn des Kaufmanns Bulyčëv aus Vjatka123 und in einer Konditorei.124 Im Februar 1901125 geht Aleksandr zu Fuß in den Ural. Wie schon die Fahrt nach Odessa und der Rückzug in den Wald ist auch dieser Entschluss Grins босячество, но Горький вышел из него человеком высокого гражданского мужества и величайшим писателем-реалистом, Грин же  – фантастом.« (Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 75. Dt.: »Grins Leben, insbesondere das in Baku, erinnert in vielen seiner Merkmale an die Jugend Maksim Gor’kijs. Sowohl Gor’kij als auch Grin durchliefen das Vagabundentum, aber Gor’kij ging daraus als Mensch von hoher Zivilcourage und als größter Schriftsteller des Realismus hervor, Grin dagegen – als Fantast.«). 118 AP, 90. Dt.: »Der Winter zog sich unendlich lang hin. Das bedeutete Frost und Grauen, das mich oft zum Weinen brachte.«. 119 AP, 75. Dt.: »dieses verzweifelt schweren Jahres«. 120 Grin leidet sein Leben lang immer wieder an Malariaschüben (vgl. Man’kovskij: Dva­ dcat’ let. Okončanie. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 6, l. 68; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 53 u. 55). 121 Vgl. AP, 99–105. Losev / Jalovaja erwähnen zwei Reisen auf der Atrek mit einer Dauer von etwa eineinhalb Monaten (vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 12). Grin dagegen spricht explizit von »рейс на ›Атреке‹« (AP, 103. Dt.: »einer Reise auf der ›Atrek‹«) im Singular und einer Dauer von zwei Wochen. 122 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 13. 123 Es handelt sich dabei um denselben Tichon Bulyčëv, der Gor’kij als Vorbild für sein Drama »Egor Bulyčov i drugie« (1932) dient (vgl. Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 76). 124 Vgl. Izergina: A. S. Grin, 81; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 13. 125 Grin selbst datiert seine Abreise in den Ural sowohl in »Avtobiografičeskaja povest’« als auch in seiner Kurzbiographie auf das Jahr 1900 (vgl. AP, 105; Grin: A. S. Grin  – S. A. Vengerovu, 150). In Letzterer wird allerdings auch für den Eintritt in die Armee (nachweislich 1902) das Jahr 1901 angegeben (vgl. ebd.), sodass anzunehmen ist, dass sich in Grins Erinnerung fälschlicherweise alle Ereignisse dieser Lebensphase um ein Jahr nach vorne verschoben haben. Sowohl Luker als auch Paustovskij orientieren sich in ihren Grin-Biographien aufgrund des oben erwähnten Mangels an anderen (zugänglichen) Quellen weitestgehend an »Avtobiografičeskaja povest’«. Daher geben beide die Ereignisse der Jahre 1900 und 1901 in chronologisch abweichender Reihenfolge an, d. h.

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eigener Darstellung zufolge durch die Lektüre von Abenteuergeschichten inspiriert – und wieder werden seine romantischen Vorstellungen enttäuscht. Sein Ziel sind die dortigen Goldfelder, wo er Ende März nach mehreren Zwischenstationen ankommt: »Там я мечтал разыскать клад, найти самородок пуда в полтора, – одним словом, я все еще был под влиянием Райдера Хаггарда и Густава Эмара.«126 In seiner Vorstellung vermischt sich die heimische Landschaft mit der des Klondike: »Мне грезились костры в лесу, карабины, тайные притоны скупщиков, золото и пиры, медведи и индейцы.«127 Die in dieser Aussage erkennbare gleichsam beiläufige Verbindung von Eigenem und Fremdem, Realem und Imaginiertem findet sich in zahlreichen Werken Grins ab 1908 wieder (s. Kap. 4.2.2).128 Nachdem auch hier die Realität die Erwartungen naturgemäß nicht erfüllt, verlässt Grinevskij die Goldfelder bereits Anfang April wieder und beginnt als Holzfäller und Flößer in der Nähe von Perm zu arbeiten.129 Während dieser Zeit entwickelt sich seine Freude am Geschichtenerzählen, als er Nacht für Nacht, »по способу Шехеразады«,130 einem Gefährten Märchen von Hans Christian Andersen, Aleksandr Afanas’ev und den Gebrüdern Grimm erzählt und schließlich eigene Geschichten improvisiert.131 Auch die Arbeit im Wald erweist sich jedoch als zu hart, was in Grinevskij das Gefühl verstärkt, nirgends hinzugehören: »Мальчиком я стремился к дикой жизни в лесу, а теперь, zuerst die Reise in den Ural, danach die Aufenthalte bei Kotlas, in Muraši und auf dem Schiff von Bulyčëv (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 11–13; Luker: Introduction. Selected Short Stories, 15 f.) bzw. zuerst den Aufenthalt in Muraši, dann im Ural, dann bei Bulyčëv (Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 74–76). Dass die tatsächliche Chronologie der Ereignisse der in der vorliegenden Studie übernommenen Darstellung in Losev / Jalovaja entspricht (vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 13 f.), ist aufgrund der dort verwendeten deutlich breiteren Quellenbasis (darunter eine Reihe offizieller Dokumente aus verschiedenen Archiven) anzunehmen. 126 AP, 107. Dt.: »Dort träumte ich davon, einen Schatz zu finden, einen Klumpen von anderthalb Pud [ein Pud = 16,38 kg] zu finden, – kurz gesagt, ich befand mich noch immer unter dem Einfluss von Rider Haggard und Gustave Aimard.«. 127 AP, 114. Dt.: »Ich träumte von Lagerfeuern im Wald, Karabinern, geheimen Höhlen der Aufkäufer, Gold und Gelagen, Bären und Indianern.«. 128 Die in Kapitel 4.2.3.4 noch etwas genauer vorgestellte Erzählung »Zoloto i šachtëry« (1925; dt.: »Gold und Grubenarbeiter«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Zoloto i šachtëry (Iz ­vospominanij). In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy ­1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 403–409. Kürzel: ZS) ist teilweise autobiographisch. Sie weist zahlreiche mit »Avtobiografičeskaja povest’« übereinstimmende Details auf, z. B. die Reise des Protagonisten nach Alexandria (vgl. AP, 73 u. ZS , 403), der naive Glaube, im Ural überall Gold zu finden (vgl. AP, 107 u. ZS , 404), die Arbeit in den Goldminen des Grafen Šuvalov (vgl. AP, 113 f. u. ZS , 404) oder die Zugreise ohne Fahrkarte (»зайцем«, AP, 114 u. ZS , 404). 129 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 14. 130 AP, 128. Dt.: »in der Art der Scheherazade«. 131 Vgl. AP, 128.

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еще не понимая, чувствовал, как такая жизнь, в сущности, мне чужда. Кроме того у меня не было будущего. Босяк – лесной бродяга… чужой здесь и чужой там.«132 Im Sommer 1901 kehrt Grinevskij daher ein weiteres Mal nach Vjatka zurück.133 Die Erfahrungen seines Lebens im Wald gehen jedoch, ähnlich wie die der Schiffsreisen, Jahre später in verschiedene Erzählungen Grins ein, unter anderem in »Okno v lesu« (1909; dt.: »Das Fenster im Wald«), »Tajna lesa« (1910; dt.: »Das Geheimnis des Waldes«), »Lesnaja drama« (1911; dt.: »Walddrama«), »Tainstvennyj les« (1913; dt.: »Der geheimnisvolle Wald«) und »Vor v lesu« (1929; dt.: »Der Dieb im Wald«).134 2.1.2.2

Militärdienst und Zeit als Sozialrevolutionär

Grinevskijs Eintritt in die Armee wird in der Sekundärliteratur – und sogar von Grin selbst – meist entweder als gänzlich freiwilliger Entschluss oder als Wunsch des Vaters angesichts von Aleksandrs bisheriger außerordentlich unsteter und wenig aussichtsreicher beruflicher Laufbahn dargestellt.135 Tatsächlich jedoch wird er wohl schlichtweg zum Militärdienst eingezogen.136 Im März 1902 tritt Grinevskij seinen Dienst in einem Infanteriebataillon in Penza an,137 wo er jedoch große Schwierigkeiten hat, die strengen hierar­ 132 AP, 128. Dt.: »Als Junge strebte ich nach dem wilden Leben im Wald, aber jetzt, noch ohne es zu begreifen, fühlte ich, wie mir solch ein Leben im Grunde fremd ist. Außerdem hatte ich keine Zukunft. Ein Vagabund – ein Landstreicher im Wald… fremd hier und fremd dort.«. 133 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 14. 134 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Okno v lesu. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 234–239. Kürzel: OL ; Grin, Aleksandr S.: Tajna lesa. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 378–384. Kürzel: TL ; ursprünglicher Titel: »V lesu« (dt.: »Im Wald«); Grin, Aleksandr S.: Lesnaja drama. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 483–494. Kürzel: LD; Grin, Aleksandr S.: Tain­ stvennyj les. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 37–100. Kürzel: TA; alternativer Titel: »Ochotnik i petušok« (dt.: »Der Jäger und das Hähnchen«); Grin, Aleksandr S.: Vor v lesu. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 582–588. Kürzel: VL . 135 Vgl. u. a. Grin: A. S. Grin – S. A. Vengerovu, 150; Rossel’s: A. Grin. Iz neizdannogo i zabytogo, 631; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 13. 136 Vgl. Machnëva: Chronika žizni A. S. Grina, 10. 137 Die Zeit im Militär fehlt in »Avtobiografičeskaja povest’« vollständig, die Erzählung springt von Grinevskijs Rückkehr aus dem Ural (1901) direkt zu seinem Aufenthalt in Sevastopol’ als SR-Mitglied (1903) (vgl. AP, 130). Lediglich im Kontext von Grinev­ skijs SR-Tätigkeit werden der Militärdienst und die Desertation kurz beiläufig erwähnt (vgl. AP, 137). Die Auslassung wird von Grin im Text auch nicht kommentiert oder gar reflektiert, sodass sie, auch aufgrund der nur sporadischen Datierungen innerhalb der Erzählung, für Leser ohne Hintergrundwissen kaum erkennbar ist. Grins Gründe für die Aussparung seiner Zeit im Militär sind unbekannt.

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Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

chischen Strukturen und die militärische Disziplin  – die nicht selten mit roher Gewalt durchgesetzt wird – zu akzeptieren. Seine rebellische Haltung zieht ständige Bestrafungen nach sich, er verbringt nach eigenen Angaben etwa ein Drittel seiner abgeleisteten Dienstzeit im Gefängnis der Kaserne.138 Nach einem gescheiterten Desertationsversuch im Juli 1902 gelingt Grinevskij im November desselben Jahres schließlich die Flucht aus der Armee.139 Bei diesem zweiten Mal erhält er Unterstützung von Mitgliedern der »Partei der Sozialrevolutionäre« (»Partija socialistov-revoljucionerov«, weiter SR), die er in Penza kennengelernt und denen er sich angeschlossen hat.140 Damit beginnt eine neue Phase in Grinevskijs Leben, die bis 1906 andauert: die als aktiver Sozialrevolutionär. Die Anziehungskraft der SR-Bewegung auf Grinevskij ist dabei weniger durch seinen Glauben an deren politisches Programm zu erklären als vielmehr durch das mittlerweile bekannte Muster seiner (bisweilen naiven) Suche nach romantischen Abenteuern.141 Im Fall der SR lockt Grinevskij »жизнь ›нелегального‹, полная тайн и опасностей«142 – und anders als bisher werden seine Erwartungen dieses Mal erfüllt. Bereits vor seiner Desertation nimmt Grinevskij an geheimen Treffen der ėsery (dt.: SR-Mitglieder) teil, liest revolutionäre Literatur und verteilt Flugblätter in der Kaserne und vermutlich auch außerhalb.143 Nach seiner Flucht erhält er einen gefälschten Pass auf den Namen A. S. Grigor’ev144 und hält sich ab Anfang 1903 an wechselnden Orten – Simbirsk (Ul’janovsk), Nižnij Novgorod, Tver’, Saratov, Tambov, Ekaterinoslav (Dnipro), Kyiv und Odessa  – auf. In Tver’ verbringt Grinevskij zwei Wochen in Quarantäne, da er einen Terroranschlag durchführen soll und zuvor sichergestellt werden soll, dass er nicht von der Polizei überwacht wird; schließlich wird er jedoch für nicht geeignet befunden.145 Eine alternative Erklärung liefert Luker: Grinevskij habe sich geweigert, den Anschlag durchzuführen.146 Dabei beruft er sich auf Grins realistische und teilweise autobiographische Erzählung »Karantin« (1908;

138 Vgl. Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 427. 139 Vgl. ebd., 428. 140 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 14. 141 Vgl. Luker, Nicholas: Tales of an Invisible Man: Aleksandr Grin’s Shapka-nevidimka (1908). In: Scherr, Barry P./Luker, Nicholas: The Shining World. Exploring Aleksandr Grin’s Grinlandia. Nottingham 2007, 1–24, hier 3. 142 Vichrov: Rycar’ mečty, 83. Dt.: »das Leben eines ›Illegalen‹, voll von Geheimnissen und Gefahren«. 143 Vgl. Sandler, Vladimir: Grin, kotorogo vy ne znaete. In: Volga 8 (1967), 155–172, hier 157; Rossel’s: A. Grin. Iz neizdannogo i zabytogo, 631. 144 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 21. 145 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 15. 146 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 14.

Vorstellung des Autors 

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dt.: »Quarantäne«),147 in der der Protagonist kurz vor dem Attentat mit der Begründung: »›Я хочу не умирать, а жить; вот и все.‹«148 einen Rückzieher macht.149 Unabhängig davon, welche der beiden Varianten den Tatsachen entspricht, fügt sich letztere deutlich besser in das von der Literaturwissenschaft konstruierte, romantisierte Grin-Bild ein, zu dem die Bereitschaft zu einem Terroranschlag in krassem Widerspruch stehen würde. Die gängige Deutung von Grins Engagement in der SR kommt bei Rossel’s zum Ausdruck: »Для него [Грина] это было желанным способом слить мечту с действительностью, способом активной борьбы за прекрасный гармонический мир […]«.150 Diese Formulierung enthält gleich drei wichtige Elemente der Romantisierung Grins – einen Traum, aktives Handeln bzw. Kämpfen für diesen, sowie das Streben nach Schönheit und Harmonie –, die in der Sekundärliteratur zu Grin immer und immer wieder angeführt werden (s. dazu ausführlicher Kap. 2.2.5). In den anderen genannten Städten ist Grinevskij, der nun aufgrund seiner Statur den Spitznamen ›Aleksej Dlinnovjazyj‹ (dt.: ›der Lange‹) trägt,151 meist als Propagandist und Agitator tätig; so auch in Sevastopol’, wo er im September 1903 ankommt und im November desselben Jahres wegen revolutionärer Propaganda unter Matrosen und Soldaten verhaftet wird. Er verbringt zwei Jahre im Gefängnis in Sevastopol’ und Feodosija und unternimmt während dieser 147 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Karantin. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 1. Moskva 1980, 115–147. Kürzel: KN. 148 KN, 135. Dt.: »Ich will nicht sterben, sondern leben; das ist alles.«. 149 Im weiteren Verlauf der Erzählung ergeben sich interessante Parallelen zu Belyjs Roman »Peterburg« (1913/1922; dt.: »Petersburg«): Der Protagonist Sergej aus »Karantin« gerät, wie Nikolaj Apollonovič, unfreiwillig in den Besitz einer Bombe, die er nicht werfen möchte. Auch die beiden Bomben weisen Ähnlichkeiten auf: In »Peterburg« handelt es sich um eine groteske »сардиниц[а] ужасного содержания« (Belyj, Andrej: Sobranie sočinenij. T. 2. Peterburg. Roman v vos’mi glavach s prologom i ėpilogom. Moskva 1994, 205. Dt.: »Sardinenbüchse entsetzlichsten Inhalts« (Belyj, Andrej: Petersburg. Roman in acht Kapiteln mit Prolog und Epilog. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Frankfurt a. M., Leipzig 2001, 301)), in »Karantin« um eine »небольшая, металлическая коробка, формой и тускло-серым цветом скорее напоминавшая мыльницу, чем снаряд. Было что-то смешное и вместе с тем трагическое в ее отвергнутой, ненужной опасности, и казалось, что она может отомстить за себя, отомстить вдруг, неожиданно и ужасно.« (KN, 137; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »kleine, metallische Dose, die durch ihre Form und ihre mattgraue Farbe eher an eine Seifendose als an eine Granate erinnerte. Es war etwas Komisches und zugleich Tragisches in ihrer abgelehnten, unnötigen Gefahr, und es schien, dass sie sich für sich selbst rächen könnte, sich plötzlich, unerwartet und fürchterlich rächen.«). 150 Rossel’s: A. Grin. Iz neizdannogo i zabytogo, 631; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Für ihn [Grin] war das die ersehnte Art und Weise, den Traum mit der Wirklichkeit zu vereinigen, die Art und Weise des aktiven Kampfs für eine wunderschöne harmonische Welt […]«. 151 Vgl. AP, 133. Bei Sandler findet sich der Name ›Dolgovjazyj‹ (dt.: ›der Baumlange‹); vgl. Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 432 u. 434.

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Zeit mehrere gescheiterte Ausbruchsversuche. Schließlich kommt er, noch bevor sein Urteil einer zehnjährigen Verbannung nach Sibirien umgesetzt wird, im Zuge der Amnestie vom 17. Oktober 1905 frei.152 Die prägende Erfahrung der langen Inhaftierung, die Grin in »Avtobiografičeskaja povest’« explizit formuliert,153 spiegelt sich auch in der Häufigkeit wider, mit der das Motiv des Gefängnisses in seinen Werken vorkommt (s. dazu Kap. 4.1.1). Zurück in Freiheit wird er im Dezember 1905 auf eigenen Wunsch von der SR nach Sankt Petersburg geschickt, vermutlich aufgrund einer romantischen Beziehung zu einer Sozialrevolutionärin namens Ekaterina Bibergal’, genannt ›Kiska‹. Als diese Grinevskijs Heiratsantrag ablehnt, schießt er auf sie, verletzt sie jedoch nur leicht.154 Vermutlich liegt in dieser Begebenheit der Ursprung der oben genannten Legende, Grin habe seine erste Ehefrau ermordet und sei dafür in die sibirische Verbannung geschickt worden. Interessanterweise wird dieser wahre Kern in der Forschungsliteratur zu Grin meist nicht erwähnt – vermutlich, weil auch der Gewaltausbruch nicht in das gängige Bild des über das Gute im Menschen schreibenden Romantikers passt. Verhaftet wird Grinevskij zwar tatsächlich kurz darauf wieder, im Januar 1906, allerdings nicht wegen eines vermeintlichen Mords, sondern weil die Ochrana (zaristische Geheimpolizei) im Zuge der nahenden Stolypinschen Reaktion damit beginnt, die amnestierten politischen Häftlinge ohne Gerichtsprozess in die Verbannung zu schicken.155 Auch sein neuer falscher Pass auf den Namen Nikolaj Mal’cev bewahrt Grinevskij nicht davor, sondern ist möglicherweise sogar ein weiterer Grund für die Verhaftung.156 Im Gefängnis lernt er seine zukünftige erste Ehefrau, Vera Abramova, kennen, die als angebliche nevesta (dt.: Verlobte) zusammen mit anderen für das Rote Kreuz tätigen Frauen unverheirateten politischen Gefangenen hilft.157 Im Mai wird Grinevskij für eine vierjährige Verbannung ins Gouvernement Tobol’sk geschickt, allerdings gelingt ihm mit Unterstützung der SR noch während des Transfers die Flucht nach Petersburg,158 wo er sich ein weiteres Mal in einer 152 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 16–18; Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 448–451; Tarasenko: Dom Grina, 21. Für Auszüge aus den zwei Bänden der Verfahrensakte gegen Grinevskij vgl. Izergina: A. S. Grin, 84 f. 153 Vgl. AP, 148. 154 Vgl. Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 452. 155 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 21 f. 156 Vgl. Pervova: Letopis’ žizni i tvorčestva. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 5. 157 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 22. 158 Einige Erlebnisse dieser Flucht gehen in das letzte Kapitel der Erzählung »Sto vërst po reke« (1916; dt.: »Hundert Werst auf dem Fluss«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Sto vërst po reke. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 521–558. Kürzel: SV) ein. Wie Grinevskij zu Vera Pavlovna, so flieht auch der Protagonist Nok zu seiner Geliebten Gelli. An die Stelle von Petersburg tritt hier allerdings die fiktive Stadt Zurbagan, und auch das märchenhafte Ende der Erzählung – »Они жили

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schwierigen materiellen Lage wiederfindet.159 Dort lebt er bis 1910 mit dem Pass eines Verstorbenen, den ihm sein Vater besorgt hat, illegal unter dem Namen Aleksej Mal’ginov.160 Obwohl sein Wunsch nach einem ›geheimnisvollen und gefährlichen Leben in der Illegalität‹ also gänzlich erfüllt wird, distanziert sich Grinevskij ab 1906 zunehmend von der Partei der Sozialrevolutionäre, was wohl vor allem auf seine Ablehnung der extremen Gewalt und Destruktivität der terroristischen Aktivitäten der Sozialrevolutionären Kampforganisation (Boevaja organizacija partii socialistov-revoljucionerov) zurückzuführen ist.161 Dies jedenfalls долго и умерли в один день.« (SV, 558. Dt.: »Sie lebten lange und starben am selben Tag.«) – unterscheidet sich von der realen Beziehung zwischen Grin und Vera Pavlovna, die bereits 1913 endet. 159 So schreibt Grinevskij etwa nach seiner Rückkehr nach Petersburg im Herbst 1906 einen Brief an Zarudnyj, seinen Verteidiger aus dem Prozess in Sevastopol’ (vgl. Varlamova / Panaioti / Jalovaja: Primečanija, 137), in dem er ihn mit der Begründung, »у меня в Питере сейчас совсем нет знакомых и постоянного заработка« (Grin, Aleksandr S.: A. S. Zarudnomu [Pis’mo, Peterburg, 6 sentjabrja 1906]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 8. Dt.: »ich habe jetzt in Piter überhaupt keine Bekannten und keinen festen Lohn«) um Geld bittet. 160 Vgl. Pervova: Letopis’ žizni i tvorčestva. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 5. Vgl. hierzu auch die auf den Namen Mal’ginov lautenden Adressangaben in der Korrespondenz Grinevskijs zwischen 1906 und 1910 (vgl. Grin: A. S. Zarudnomu, 8; Grin, Aleksandr S.: V. V. Mujželju [Pis’mo, Peterburg, osen’ 1907]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 8; Grin, Aleksandr S.: A. M. Gor’komu [Pis’mo, Peterburg, vesna 1909]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 9; Grin, Aleksandr S.: A. I. Kuprinu [Pis’mo, Simbirsk, 14 avgusta 1909]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 10–11, hier 11; Grin, Aleksandr S.: A. G. Gornfel’du [Pis’mo, st. Vejmarn, Baltijskoj ž. d., leto 1910]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 11–12, hier 12). 161 Auch das Verhalten und die Charakterzüge mancher seiner Mitstreiter tragen dazu bei, dass bei Grinevskij Zweifel an der Bewegung entstehen. Ein komisch-absurdes Beispiel findet sich in seiner Autobiographie: »Учитель был краснобай, ничего революционного не делал, а только пугал остальных членов организации тем, что при встречах на улице громко возглашал: ›Надо бросить бомбу!‹, или: ›Когда же мы перевешаем всех этих мерзавцев!‹« (AP, 131. Dt.: »Der Lehrer war ein Schönredner, er tat nichts Revolutionäres, sondern erschreckte nur die übrigen Mitglieder der Organisation dadurch, dass er bei Begegnungen auf der Straße laut verkündete: ›Man muss eine Bombe werfen!‹ oder: ›Wann hängen wir denn all diese Schurken auf!‹«) Auch in einigen seiner Erzählungen verarbeitet Grin die mangelnde Integrität einiger Revolutionäre in humoristischer Form. In »Istorija Taurena« (1913; dt.: »Taurens Geschichte«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Istorija Taurena. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 25–31. Kürzel: IS) erzählt der Protagonist Pik-Mik vom Verrat des Anarchisten Tauren an seinen Mitstreitern. Dieser definiert seine politi-

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legen die Themen des ersten Sammelbands Aleksandr Grins nahe, der 1908 unter dem auf Grinevskijs Jahre in der Illegalität anspielenden Titel »Šapka nevidimka« (dt.: »Tarnkappe«)162 erscheint. Einige der in ihm enthaltenen sche Haltung und Klassenzugehörigkeit über seine einfache Ernährung in Abgrenzung von der verhassten Bourgeoisie  – »›Смерть буржую!‹« (IS , 30. Dt.: »›Tod dem Bourgeois!‹«), »›Проклятые буржуа!‹« (IS , 29. Dt.: »›Verfluchte Bourgeois!‹«)  – und weist daher die ihm angebotene Speise, einen Kalbskopf, zurück: »›[…] Класс населения, к которому принадлежу я, питается хлебом, сыром и вареным картофелем. Я был бы изменником.‹« (IS , 29. Dt.: »›[…] Die Klasse der Bevölkerung, zu der ich gehöre, ernährt sich von Brot, Käse und gekochten Kartoffeln. Ich wäre ein Verräter.‹«). Als er schließlich doch davon isst, sind die Folgen fatal: Tauren wird selbst zum (kulinarischen) Bourgeois, Pik-Mik trifft ihn danach mehrmals in Restaurants bei Champagner und Kalbskopf (auf den bereits sein Name durch seinen lateinischen Ursprung – taurus, dt.: Stier – vorausweist) an. Aus der von Tauren selbst hergestellten Verknüpfung von Klassenzugehörigkeit und Ernährung folgt dann gleichsam zwingend Taurens realer Verrat der anderen Anarchisten an die Polizei. Die Erzählung schließt mit dem lakonischen Satz: »От телятины погибла идея.« (IS , 31. Dt.: »Am Kalbfleisch ging die Idee zugrunde.«). Ebenfalls in »Istorija Taurena« findet sich eine Parodie auf politische Extremismen, die auf den ersten Blick überzeugend wirken, eigentlich aber nur auf willkürlichen Grundlagen und obskuren Prinzipien basieren. Als der Protagonist Pik-Mik den Anarchisten Tauren kennenlernt, kommt es zu folgender Unterhaltung: »›Я анархист‹, сказал он […]››а вы?‹ ›Пикмист.‹ ›Крайний?‹ ›Немного.‹ Тут он потребовал объяснений. Я сказал ему несколько темных фраз, пересыпав их цитатами из Анакреона и Джона Стюарта Милля. Сделав вид, что понял, он посмотрел в пустой стакан и вздохнул.« (IS , 29. Dt.: »›Ich bin Anarchist‹, sagte er […], ›und Sie?‹ ›Pikmist.‹ ›Ein extremer?‹ ›Ein wenig.‹. Hier forderte er Erklärungen. Ich sagte ihm einige dunkle Phrasen und streute darin reichlich Zitate von Anakreon und John Stuart Mill ein. Den Anschein erweckend, dass er verstand, blickte er in sein leeres Glas und seufzte.«). 162 Die hier verwendete Schreibweise entspricht dem Originaltitel, unter dem der Sammelband 1908 im Verlag »Naša žizn’« (dt.: »Unser Leben«) erscheint. In der Sekundärliteratur zu Grin findet sich allerdings fast immer die Schreibweise mit Bindestrich, d. h. »Šapkanevidimka«. Den Memoiren von Vera Pavlovna zufolge ist sie es, die Grin den Titel »Šapka nevidimka« vorschlägt (vgl. Kalickaja: Iz vospominanij, 167 f.). Anders als der Untertitel des Manuskripts (die Druckfassung von 1908 enthält keinen Untertitel), »Rasskazy o revo­ ljucionerach« (dt.: »Erzählungen über Revolutionäre«), glauben lässt, thematisiert nur ein Teil der Texte des Sammelbands die sozialrevolutionäre Bewegung. Andere darin enthaltene Erzählungen reflektieren unter anderem Grins Erfahrungen im Gefängnis, wie z. B. »Apel’siny« (1907; dt.: »Apfelsinen«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Apel’siny. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 96–103. Kürzel: AS) und »Na dosuge« (1907; dt.: »In der Freizeit«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Na dosuge. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 104–108. Kürzel: NE), oder im Ural, wie »Kirpič i muzyka« (1907; dt.: »Ziegelstein und Musik«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Kirpič i muzyka. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 1. Moskva 1980, 48–60. Kürzel: KM; ursprünglicher Titel: »Nautu« (vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 22); alternativer Titel: »Stolknovenie«; dt.: »Der Konflikt«); oder sie weisen keinen erkennbaren autobiographischen Bezug auf, wie »Slučaj« (1907; dt.: »Der Vorfall«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Slučaj. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 76–83. Kürzel: SČ).

Vorstellung des Autors 

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realistischen und teilweise autobiographischen Erzählungen spielen im Milieu der SR und verhandeln unter anderem die Frage nach der moralischen Vertretbarkeit von Terroranschlägen und die daraus erwachsenden Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Bewegung. Von sowjetischen Kritikern und Literaturwissenschaftlern wird »Šapka nevidimka« oft als Grins Abrechnung mit und endgültige Abwendung von der SR-Bewegung interpretiert.163 Varlamov konstatiert sogar: […] во всей нашей литературе начала века ни у кого, кроме Грина, не было такого скрупулезного, критического отношения к революции и революционерам в сочетании с личным революционным опытом и взглядом изнутри, а не извне, как, например, у Бунина или Андрея Белого.164

Tatsächlich übt Grin in diesen Erzählungen deutliche Kritik an der SR ,165 jedoch gestaltet sich die Darstellung deutlich ambivalenter als oft behaup-

163 Vgl. z. B. Kobzev, Nikolaj Alekseevič: Roman Aleksandra Grina. Problematika, geroj, stil’. Kišinëv 1983, 7; Rossel’s: A. Grin. Iz neizdannogo i zabytogo, 636 f. 164 Varlamov: Aleksandr Grin, 72 f. Dt.: »[…] in unserer ganzen Literatur des Jahrhundertbeginns gab es bei niemandem, außer Grin, eine solch gewissenhafte, kritische Haltung gegenüber der Revolution und den Revolutionären in Kombination mit persönlicher revolutionärer Erfahrung und einem Blick von innen, und nicht von außen, wie, zum Beispiel, bei Bunin oder Andrej Belyj.«. 165 Eine kritische Auseinandersetzung mit den politischen Zielen der SR und den von ihr gewählten Mitteln findet sich in diesem Sammelband v. a. in »Podzemnoe« (1907; dt.: »Unterirdisches«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Podzemnoe. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 1. Moskva 1980, 60–78. Kürzel: PM; ursprünglicher Titel: »Noč’« (dt.: »Nacht«)), »Marat« (1907; vgl. Grin, Aleksandr S.: Marat. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 84–96. Kürzel: MT) sowie in der bereits erwähnten Erzählung »Karantin«. Während in letzterem Text der Lebenswille des Attentäters (und keineswegs moralische Skrupel) die Durchführung des geplanten Anschlags verhindert, wird das Attentat in »Marat« lediglich auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, um den Tod von Unbeteiligten durch die Bombe zu vermeiden – die Ermordung der Zielperson wird also trotzdem durchgeführt (vgl. MT, 96). In der unter den Eindrücken des Ersten Weltkriegs verfassten »Povest’, okončennaja blagodarja pule« (1914; dt.: »Der Kurzroman, der dank einer Kugel beendet wurde«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Povest’, okončennaja blagodarja pule. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 257–269. Kürzel: PP) reflektiert der Autor die Frage nach der Rechtfertigung von Gewalt gegen sich und andere noch expliziter. Die Erzählung handelt von dem Schriftsteller Kolomb, der daran scheitert, eine Geschichte über ein Anarchistenpaar zu Ende zu schreiben. Sein Problem liegt darin, dass er sich nicht über die Gründe seiner Protagonistin, ein geplantes Selbstmordattentat kurzfristig doch nicht durchzuführen, klarwerden kann. Nach langem Nachdenken über ihre mögliche Motivation – Verlockungen der Jugend und der Liebe, moralische Bedenken, Angst vor dem eigenen Tod (vgl. PP, 258 f.) – geht er als Kriegsberichterstatter an die Front, um in diesem Umfeld von Gewalt und Tod die Motive seiner Heldin nachvollziehen zu können.

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tet.166 Vielmehr ist diese Einschätzung auf ideologische Gründe zurückzuführen: Erstens schwingt in ihr noch das Echo der Feindseligkeit der Bol’ševiki gegenüber der SR mit.167 Zweitens dient diesen Autoren Grinevskijs Desillusionierung in Bezug auf die Partei der Sozialrevolutionäre als willkommene Begründung für seine fehlende Begeisterung für die Oktoberrevolution 1917 – die ›Schuld‹ dafür wird also mehr als zehn Jahre früher und bei einer

166 Vgl. Kovskij, Vadim E.: Romantičeskij mir Aleksandra Grina. Moskva 1969, 25. Einen klaren Beweis für diese oft unerwähnte Ambivalenz stellt die Tatsache dar, dass nicht nur eine vermeintlich eindeutig negative Darstellung der SR behauptet wird, sondern dass andererseits auch durch die zaristische Zensurbehörde der Vorwurf der eindeutig positiven Bewertung der SR erhoben wird. Diese diametral entgegengesetzten Einschätzungen werden besonders deutlich am Beispiel der Erzählung »Podzemnoe«, die im Sammelband »Šapka nevidimka« enthalten und damit Teil der von der sowjetischen Kritik postulierten Abrechnung Grins mit der SR ist. Über sie schreibt Lebedev, ein Mitglied des Petersburger »Komitet po delam pečati« (dt.: »Komitee für Presseangelegenheiten«): »Действующими лицами в нем являются члены одного из провинциальных комитетов партии социалистов-революционеров, а предметом  – совершаемые революционерами убийства политических агентов. При этом рассказ ведется в таком тоне, что не может быть никакого сомнения в намерении автора представить убийц-революционеров лицами безукоризненной честности и высокого героизма, а агентов полиции трусами и негодяями, вполне достойными постигшей их участи« (zit. nach Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 460 f. Dt.: »Die handelnden Personen darin sind Mitglieder eines der Provinzkomitees der Partei der Sozialrevolutionäre, und der Gegenstand – die von den Revolutionären begangenen Morde an politischen Vertretern. Dabei ist die Erzählung in einem solchen Ton gehalten, dass es keinerlei Zweifel an der Absicht des Autors geben kann, die mordenden Revolutionäre als Personen von tadelloser Ehrlichkeit und hohem Heldentum darzustellen, und die Vertreter der Polizei als Feiglinge und Schufte, die das sie ereilende Schicksal voll und ganz verdienen.«). Tatsächlich aber ist die Darstellung der ėsery (dt.: Sozialrevolutionäre) weder eindeutig positiv noch negativ. Einerseits wird die Handlung aus Sicht der Sozialrevolutionäre geschildert, sodass die Beweggründe für deren Agieren nachvollziehbar werden. Andererseits aber enthält die Erzählung einige Episoden, in denen sich die vermeintlichen Helden durch ihr grausames Verhalten als Sympathieträger disqualifizieren. Beispielsweise empfindet der Sozialrevolutionär Gans eine sadistische Freude, als er den Agenten Chvostov mit einem Revolver bedroht: »›А что бы вы сказали‹, грозно произнес он [Ганс], быстро вставая и приставляя браунинг к фетровой шляпе Хвостова, ›что бы вы сказали‹, повторил он, и его резкое лицо вспыхнуло, ›если бы я сообщил вам, что здесь восемь пуль и одной из них довольно, чтобы пробить ваш грязный мозжок? А?‹« (PM , 71. Dt.: »›Und was würden Sie sagen‹, sagte er [Gans] drohend, wobei er schnell aufstand und die Browning an Chvostovs Filzhut ansetzte, ›was würden Sie sagen‹, wiederholte er, und sein scharf geschnittenes Gesicht lief rot an, ›wenn ich Ihnen mitteilen würde, dass hier acht Kugeln sind und dass eine davon genug ist, um Ihr dreckiges kleines Gehirn zu durchschlagen? Na?‹«). Auch der Sozialrevolutionär Valer’jan – benannt nach Grinevskijs realem Mentor in der SR – trägt negative Züge, etwa wenn er den Spitzel Vysockij verhöhnt, bevor er ihn tötet, und nach dem Mord mit einem Lächeln auf den Lippen weggeht (vgl. PM , 76 u. 78). 167 Vgl. Luker: Tales of an Invisible Man, 3.

Vorstellung des Autors 

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Bewegung gesucht, die von den Bol’ševiki streng abgegrenzt und im Zuge dessen abqualifiziert wird, wodurch versucht wird, den immer wieder aufkommenden Vorwurf einer antirevolutionären und antisowjetischen Haltung Grins zu widerlegen (siehe dazu Kap. 2.2.2 und 2.2.4). Beides kommt z. B. bei Dmitrevskij deutlich zum Ausdruck, wenn dieser zunächst von der »мелкобуржуазн[ая] парти[я] эсеров, программа которой представляла лишь пародию на революционность«168 schreibt und anschließend bekräftigt, dass »ничтожество идеек эсеровщины подточил[о] веру Грина в революцию«.169 Eine neutralere und zutreffendere Einschätzung der Gründe für Grins Abwendung von der SR , neben den genannten inhaltlichen Differenzen, liefert Varlamov: »Грин отошел от революции, потому что нашел себе куда более интересное поприще«170 – nämlich die Schriftstellerei. Ironischerweise ist es gerade die ›Revolution‹, d. h. seine Aktivitäten bei den Sozialrevolutionären, die Grinevskij den Weg hin zum professionellen Schreiben und damit weg von der politischen Betätigung eröffnet. Sein Mentor in der Partei, Naum Bychov­skij (genannt ›Valer’jan‹)171, erkennt bereits 1903 Grinevskijs schriftstellerisches Talent, nachdem dieser eigenmächtig den Text einer Proklamation mit belletristischen Elementen ausgeschmückt hat, und beauftragt ihn wenig später, eine eigene Proklamation zu verfassen.172 Grins eigener Aussage zufolge kommentiert Bychovskij diese mit den Worten: »Гм… гм… А знаешь, Гриневский, мне кажется, из тебя мог бы выйти писатель«.173 Diese Worte haben einen enormen Effekt auf den bislang weitestgehend ziellos durchs Leben gehenden jungen Mann. Grin erinnert sich später: Это было […] как откровение, как первая, шквалом налетевшая любовь. Я затрепетал от этих слов, поняв, что это то единственное, что сделало бы меня счастливым, то единственное, к чему, не зная, должно быть, с детства стремилось мое существо. И сразу же испугался: что я представляю, чтобы сметь думать о 168 Dmitrevskij: V cëm volšebstvo, 392. Dt.: »kleinbürgerlichen Partei der SR , deren Programm lediglich eine Parodie auf die Revolutionarität darstellte«. 169 Ebd. Dt.: »die Nichtigkeit der kleinen Ideen des SR-ismus Grins Glauben an die Revolution untergrub«. 170 Varlamov: Aleksandr Grin, 72. Dt.: »Grin zog sich von der Revolution zurück, weil er für sich einen interessanteren Wirkungsbereich gefunden hatte«. 171 Grin nennt Bychovskij »мой крестный отец в литературе« (zit. nach Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 53. Dt.: »meinen Paten in der Literatur«) und widmet ihm seine Erzählung »Tretij ėtaž« (1908; dt.: »Der dritte Stock«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Tretij ėtaž. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 1. Moskva 1980, 272–280, hier 272. Kürzel: TĖ). 172 Vgl. Pervova: Letopis’ žizni i tvorčestva. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 4; Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 434. 173 Zit. nach Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 434. Dt.: »Hm… hm… Weißt du, Grinev­ skij, mir scheint, aus dir könnte ein Schriftsteller werden«.

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писательстве? Что я знаю? Недоучка! Босяк! Но… зерно пало в душу и стало расти. Я нашел свое место в жизни.174

Diesen seit vielen Jahren von Grinevskij an den verschiedensten Orten und in den verschiedensten Tätigkeiten gesuchten ›Platz im Leben‹, den ihm auch die SR nicht bieten kann, zeigt sie ihm letztlich somit doch auf, wenn auch anders als erwartet. Seine ersten zur Veröffentlichung bestimmten Erzählungen verfasst Grinev­ skij noch für die Sozialrevolutionäre. Nach seiner Flucht aus Tobol’sk schreibt er die zweifellos durch seine eigenen Erfahrungen im Militär in Penza be­ anteleeva« einflussten »беллетризованные агитки«175 »Zasluga rjadovogo P (1906; dt.: »Das Verdienst des Soldaten Panteleev«)176 und »Slon i mos’ka« (1906; dt.: »Der Elefant und der Mops«),177 die die Zustände in der zaristischen Armee anprangern und zur Verteilung unter Soldaten vorgesehen sind.178 Beide werden jedoch konfisziert und mit Ausnahme weniger Exemplare vernichtet.179 Mit »V Italiju« (dt.: »Nach Italien«)180 folgt Ende 1906 in der Zeitung »Birževye vedomosti« (dt.: »Börsennachrichten«) seine erste legal publizierte Erzählung181 ohne expliziten thematischen Bezug zur sozialrevolutionären 174 Zit. nach ebd., 435. Dt.: »Das war […] wie eine Offenbarung, wie die erste, durch einen Windstoß herbeifliegende Liebe. Ich bebte von diesen Worten, weil ich verstand, dass dies das Einzige ist, was mich glücklich machen würde, das Einzige, wonach, wohl ohne es zu wissen, mein Wesen von Kindheit an strebte. Und sofort erschrak ich: was stelle ich dar, um es zu wagen, an die Schriftstellerei zu denken? Was weiß ich? Halbgebildeter! Vagabund! Aber… das Samenkorn war in die Seele gefallen und begann zu wachsen. Ich hatte meinen Platz im Leben gefunden.«. 175 Tarasenko: Dom Grina, 23. 176 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Zasluga rjadovogo Panteleeva. In: Literaturnaja Rossija (28 avgusta 1964), 9–11. Kürzel: ZR . 177 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Slon i mos’ka. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 39–67. Kürzel: SL . Der Titel referiert auf Krylovs gleichnamige Fabel (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 70). 178 Vgl. hierzu Luker: Alexander Grin, 29–32. 179 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 22 f. Laut der Zensurbehörde hat »Zasluga rjadovogo Panteleeva« das Ziel, »возбудить в читателях враждебное отношение к войску, побудить войска к неповиновению« (zit. nach Rossel’s: Grin. Russkie pisateli, 42. Dt.: »in den Lesern eine feindliche Einstellung gegenüber der Armee zu wecken, die Truppen zum Ungehorsam zu animieren«). Mehrere Mitarbeiter des verantwortlichen Verlags von Mjagkov, »Narodnaja mysl’« (dt.: »Volksgedanke«), werden verhaftet, Grinevskij aber bleibt unbehelligt, weil niemand seine Autorschaft verrät (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 17). 180 Vgl. Grin, Aleksandr S.: V Italiju. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 68–75. Kürzel: IT. 181 Grins Freude über diese Veröffentlichung beschreibt Konstantin Paustovskij lebhaft in seinen Erinnerungen (vgl. Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 78). Deutlich übertrieben erscheint allerdings seine Behauptung, die Publikation der ersten Erzählung »была

Vorstellung des Autors 

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Bewegung, die, entsprechend dem von Grinevskij damals benutzten Pass auf den Namen Aleksej Alekseevic Mal’ginov, mit »A. A. М-въ«182 unterschrieben ist.183 Das Pseudonym »А. С. Гринъ«184 findet sich erstmals unter der Erzählung »Slučaj«, erschienen am 25. März 1907 in »Tovarišč« (dt.: »Kamerad«).185 первая настоящая радость в жизни Грина.« (ebd. Dt.: »war die erste wahre Freude im Leben Grins.«). Im Oktober 1906 hatte Grinevskij bereits versucht, die bis heute verschollene Erzählung »Oktjabr’skoj noč’ju (iz zapisok amnistirovannogo)« (dt.: »In einer Oktobernacht (aus den Aufzeichnungen eines Amnestierten)«) über die Erschießung von Demonstranten vor dem Gefängnis von Sevastopol’, die in der Nacht vom 18. auf den 19. Oktober 1905 versuchen, Gefangene zu befreien, in der Zeitschrift »Russkoe bogatstvo« (dt.: »Russischer Reichtum«) zu publizieren. Die Erzählung wird von der Redaktion der Zeitschrift mit der Begründung, sie sei schlecht erzählt und stellenweise naiv, abgelehnt (vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 18 u. 21). 182 Dt.: »A. A. M-v’’«. 183 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 22. 184 Dt.: »A. S. Grin’’«. Diese Schreibweise entspricht, wie auch im Fall von »A. A. М-въ«, der alten Rechtschreibung, die bis zur Reform vom 10. Oktober 1918 gültig ist. Grin behält die alte Orthographie allerdings bis an sein Lebensende in den meisten seiner Manuskripte und Briefe bei. 185 Vgl. Pervova: Letopis’ žizni i tvorčestva. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 5. Darüber hinaus verwendet der Autor auch die Pseudonyme A. S. G. (für die agitki (dt.: Agitationsschriften) »Zasluga rjadovogo Panteleeva« und »Slon i mos’ka«), A. G., A.  Gr., Aleksandrov, A. Stepanov, Grinevič, Aleksandr G., Viktorija Klemm, Ėl’za Moravskaja, sowie schließlich A. Grin, A. S. Grin und Aleksandr Grin (vgl. Masanov, I. F.: Slovar’ psevdonimov russkich pisatelej, učënych i obščestvennych dejatelej v četyrëch tomach. T. 1: Alfavitnyj ukazatel’ psevdonimov. Psevdonimy russkogo alfavita A – I. Moskva 1956, 305; Masanov, I. F.: Slovar’ psevdonimov russkich pisatelej, učënych i obščestvennych deja­ telej v četyrëch tomach. T. 4: Novye dopolnenija k alfavitnomu ukazatelju psevdonimov. Alfavitnyj ukazatel’ avtorov. Moskva 1960, 147; Titova, Svetlana Ju.: Materialy archiva Sergeja Tolkačeva. In: Kazarin, V. P.: Aleksandr Grin: Sovremennyj naučnyj kontekst. Materialy XVI, XVII i XVIII Meždunarodnych naučnych konferencij 2000–2005 gg., Krym, Feodosija. Simferopol’ 2006, 115–118, hier 118; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 6). Die Benutzung der weiblichen Pseudonyme erklärt Grin gegenüber Nina Nikolaevna wie folgt: »Мы ведь, народ пишущий, все немного мистификаторы […]. Однажды я был Эльзой Моравской. Ну, а Виктория Клемм – мать жены писателя, любимого мной особенно – Эдгара По. Вот и пришло мне в голову подписать ее именем на счастье – ибо публикуюсь у вас впервые.« (zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 12 f. Dt.: »Wir nämlich, das schreibende Volk, sind alle ein wenig Mystifikatoren […]. Einmal war ich Ėl’za Moravskaja. Ja, und Viktorija Klemm ist die Mutter der Ehefrau des Schriftstellers, den ich besonders liebe – Edgar [Allan] Poe. Da kam mir nun der Gedanke, als Glücksbringer mit ihrem Namen zu unterschreiben – weil ich bei euch zum ersten Mal publiziere.«) Sein erster, spontaner Vorschlag für ein Pseudonym, »Лиловый дракон« (dt.: »Violetter Drache«), wird 1906 von Izmajlov, der für die erste legale Publikation Grins (»V Italiju«) in »Birževye vedomosti« verantwortlich ist (vgl. Grin: A. S. Grin – S. A. Vengerovu, 150), abgelehnt (vgl. Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 396). Erst ab 1919 unterschreibt der Autor seine Werke ausschließlich mit ›Aleksandr Grin‹ oder ›A. S. Grin‹.

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Damit wird aus dem bosjak (dt.: Vagabund) und ėser (dt.: Sozialrevolutionär) Aleksandr Grinevskij der Schriftsteller Aleksandr Grin.186 2.1.2.3

Petersburger Jahre

In Sankt Petersburg findet Grin ein großes Lesepublikum, das seine Texte mit Wertschätzung aufnimmt; zu ihm gehören auch andere Schriftsteller.187 Mit seinen ersten bescheidenen Erfolgen als Autor, vor allem durch die Publikation des Sammelbands »Šapka nevidimka«188 1908, aber auch durch über zwei Dutzend weitere im selben Jahr meist in Moskauer und Petersburger ZeitZelinskij äußert die Vermutung, dass Grinevskij seinen Namen zu ›Grin‹ abgekürzt habe, damit er besser zu seinem fiktiven Land passe (vgl. Zelinskij: Grin. Fantastičeskie novelly, 9); diese Argumentation ist aber allein schon aus Gründen der Chronologie abzulehnen, da das Pseudonym erstmals 1907 Verwendung findet, die ersten fiktiven Schauplätze mit fremdklingenden Namen aber erst ein Jahr später in Grins Werk auftauchen. Grin selbst erklärt den Ursprung seines Pseudonyms schlicht damit, dass er in der Schule »Грин« (dt.: »Grin«) oder »Грин-блин« (dt.: »Grin-blin«/»Grin-Fladen«) gerufen wird (vgl. Vichrov: Rycar’ mečty, 72). Das Pseudonym A.  Grin sorgt bisweilen für Verwechslungen mit der amerika­ nischen Schriftstellerin Anna Katharine Green (1846–1935) – d. h. ebenfalls ›А. Грин‹ (dt.: ›A. Grin‹) –, deren Kriminalromane und Erzählungen Anfang des 20. Jahrhunderts ins Russische übersetzt werden. Unter dem Namen A. Grin publiziert zudem ein Arzt aus Odessa (vgl. Tarasenko: Dom Grina, 23; Kalickaja: Iz vospominanij, 167; Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 42). 186 Nina Grin berichtet, dass ihr Mann sich stärker mit seinem Pseudonym als mit seinem eigentlichen Namen identifiziert habe. Sie zitiert ihn: »›Знаешь, я чувствую себя только Грином и мне странным кажется, когда кто либо [sic!] говорит ›Гриневский[‹]. Этот кто-то чужой мне.‹« (Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine i izdanija. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 17, tetrad’ IV, l. 33. Dt.: »Weißt du, ich fühle mich nur als Grin und es erscheint mir seltsam, wenn jemand ›Grinevskij[‹] sagt. Das ist jemand, der mir fremd ist.«). Diese Aussage wird dadurch bestätigt, dass der Autor sich im privaten Kontext, z. B. in Briefen, »Саша Грин« (dt.: »Saša Grin«) nennt (vgl. ebd., tetrad’ V, l. 29). 187 Vgl. Slonim: Soviet Russian Literature, 117. 188 Obwohl es als großer Erfolg für den jungen Autor zu werten ist, bereits zwei Jahre nach seinem literarischen Debüt einen Sammelband publizieren zu können, und dieser von der Kritik durchaus wohlwollend aufgenommen wird (vgl. Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 461 f.), ist Grin nicht zufrieden mit seiner Leistung. Zelinskij berichtet: »Рассказывают, что, прочитав свою книгу ›Шапка-невидимка‹, Грин отложил ее с чувством полного разочарования, с тем ощущением непоправимой неловкости, какое настигает человека, когда он делает не свое дело.« (Zelinskij: Grin. Krasnaja nov’, 199. Dt.: »Es wird erzählt, dass Grin, nachdem er sein Buch ›Šapka-nevidimka‹ durchgelesen hatte, es mit dem Gefühl völliger Enttäuschung beiseitelegte, mit der Empfindung auswegloser Verlegenheit, die einen Menschen überkommt, wenn er etwas tut, was ihm nicht liegt.«) Möglicherweise steckt hinter dieser Aussage Zelinskijs der Wunsch, die frühen realistischen Erzählungen Grins als untypisch für den Schriftsteller einzuordnen, um so sein – zu dieser Zeit gerade erst im Entstehen begriffenes – ›romantisches‹ Profil zu schärfen.

Vorstellung des Autors 

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schriften veröffentlichte Erzählungen und Gedichte,189 erhält Grin allmählich Zugang zur Petersburger Bohème. Dort lernt er unter anderem die Schriftsteller Aleksandr Kuprin, Leonid Andreev,190 Michail Arcybašev, Aleksej Čapygin, Ivan Sokolov-Mikitov,191 Michail Kuzmin, Viktor Šklovskij, Nikolaj Veržbickij,192 Evgenij Venskij, Jakov Godin, Aleksej Svirskij und Leonid Andruson, den Verleger Viktor Miroljubov und den Kritiker Arkadij Gornfel’d kennen.193 Einigen von ihnen kommt eine wichtige Rolle in Grins Leben zu: Mit Kuprin entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, Gornfel’d ist einer der ersten Kritiker, die Grins Werken Beachtung schenken  – und vor allem einer der wenigen Kritiker der 1910er Jahre, die sich positiv über sie äußern.194 Miroljubov veröffentlicht in seiner Funktion als Herausgeber der Petersburger Monats­zeitschrift »Novyj žurnal dlja vsech« (dt.: »Neue Zeitschrift für alle«) mit »Ostrov Reno« (1909; dt.: »Die Insel Reno«)195 Grins erste Erzählung, deren Handlung in einem fiktiven exotischen Land angesiedelt ist, welches später unter der Bezeichnung Grinlandija zum Inbegriff von Grins literarischem Werk wird. Grin selbst nennt »Ostrov Reno« sein »первый настоящий рассказ«196 und seine erste Erzählung mit künstlerischem Wert,197 und bezeichnet Miroljubov aus diesem Grund als seinen literarischen Paten.198 Mit »Ostrov Reno« beginnt Grins Schreiben »в том самостоятельном стиле,

189 Vgl. Luker: Introduction. An Adventure of his Soul, xiv. 190 Vera Kalickaja erinnert sich an Grins begeisterte Reaktion auf Andreev: »›Замечательный человек Леонид Андреев! […] Поразительный человек…‹« (Kalickaja, Vera P.: Znakomye. [o. J.]. FLMMG , KP 4628/D 1665. l. 70. Dt.: »›Ein hervorragender Mensch, dieser Leonid Andreev! […] Ein erstaunlicher Mensch…‹«). 191 Zusammen mit Sokolov-Mikitov lebt Grin nach der Trennung von Vera Pavlovna eine Weile bei Pimenov (vgl. Sandler: Sležka za A. Grinom, 167). 192 Veržbickij berichtet von seinem Zusammenleben mit Grin in einem Zimmer auf der Peters­burger Seite im Frühjahr 1914 (vgl. Veržbickij: Svetlaja duša. Naš sovremennik, 104). 193 Vgl. Luker: Introduction. Selected Short Stories, 18; Luker: Introduction. An Adventure of his Soul, xiv; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 23; Rossel’s: Grin. Russkie pisateli, 42. 194 Vgl. Gornfel’d, A. G.: A. S. Grin. Rasskazy. In: Russkoe bogatstvo 3 (1910), 145–147. Recenzija Gornfel’da na knigu A. Grina »Rasskazy«, t. 1, Izdatel’stvo »Zemlja«, Spb. 1910 [Kopie des Originals]. FLMMG , n / v 4710; Gornfel’d: Iskatel’ priključenij. FLMMG , n / v 4711; Gornfel’d, A. G.: A. S. Grin. [1923]. [Abschrift des Originals im RGALI, f. 155, op. 2, ed. chr. 5]. FLMMG , n / v 7444. 195 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Ostrov Reno. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 213–234. Kürzel: OR . 196 Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine. Avtograf. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 18, tetrad’ 2, l. 7ob. Dt.: »erste richtige Erzählung«. 197 Vgl. Luker: Introduction. Selected Short Stories, 18; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 19.  198 Vgl. Luker: Introduction. Selected Short Stories, 18.

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который делал его иностранным русским среди русской литературы«.199 Von der Mehrheit der sowjetischen Grin-Forscher wird dieser literarische uchod (dt.: Weggang) Grins in fremde, fiktive Länder als Abwendung vom Realismus der (vergleichsweise wenigen) frühen Texte und Zuwendung zur Romantik, der sein Gesamtwerk von da an zugerechnet wird, verstanden.200 Eine kritische Diskussion der Einordnung Grins als romantischer Schriftsteller erfolgt in Kapitel 2.2.5. Auch in privater Hinsicht scheint Grin seinen Platz gefunden zu haben. Obwohl Vera Pavlovnas Vater anfangs entschieden gegen die Verbindung mit dem ungebildeten und mittellosen Grin opponiert, leben Vera und Aleksandr ab Herbst 1907 zusammen.201 Doch schon bald kommt es zu wachsenden Unstimmigkeiten zwischen ihnen.202 Neben charakterlichen Unterschieden zwischen den Eheleuten belasten die oftmals schwierige finanzielle Lage203 und vor allem Grins Alkoholismus die Beziehung. Letzteres Problem verstärkt sich im Umfeld der Petersburger Bohème, wo Grin oft nächtelang trinkt und spielt.204 Während besonders schlimmer Phasen der Trunkenheit kommt er tagelang nicht nach Hause, wird sogar von Zeit zu Zeit schmutzbedeckt in der Gosse gefunden oder wirft während heftiger Wutanfälle mit Flaschen und 199 Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine. Avtograf. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 18, tetrad’ 2, l. 6. Dt.: »in jenem eigenständigen Stil, der ihn zu einem ausländischen Russen inmitten der russischen Literatur machte«. 200 Als einer von wenigen Grinforschern weist Tarasenko darauf hin, dass mit der Publikation von »Ostrov Reno« keine abrupte Verwandlung Grins vom Realisten zum Romantiker stattfindet, sondern dass Grin auch danach noch realistische und sogar bytovye (dt.: Alltags-) Erzählungen wie »Istorija odnogo ubijstva« (1910; dt.: »Die Geschichte eines Mordes«) publiziert (vgl. Tarasenko: Dom Grina, 23 f.). Ein Beleg dafür ist auch der 1910 unter dem Titel »Rasskazy« (dt.: »Erzählungen«) erschienene zweite Sammelband Grins, der mit »Ostrov Reno« und »Kolonija Lanfier« (1910; dt.: »Die Kolonie Lanfier«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Kolonija Lanfier. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 285–336. Kürzel: KO) zwei als ›typisch romantisch‹ geltende Werke, mit »Tretij ėtaž« und »Malen’kij komitet« (dt.: »Das kleine Komitee«) aber auch noch realistische Erzählungen aus dem SR-Zyklus enthält. Tatsächlich finden sich sogar in allen Schaffensperioden Grins realistische Erzählungen. 201 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 22. 202 Das schon bald sehr angespannte Verhältnis zu Vera Pavlovna reflektiert Grin in der autobiographischen Erzählung »Dača Bol’šogo ozera« (1909; dt.: »Die Datscha des Großen Sees«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Dača Bol’šogo ozera. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 249–264. Kürzel: DB). Der Titel referiert auf eine Datscha in Ozerki nahe Sankt Petersburg, in der das Paar im Sommer 1907 wohnt (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 18). 203 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 17 f. Grins Einkommen als Schriftsteller ist in diesen Jahren gering und unregelmäßig, Vera Pavlovnas Arbeit im Labor des Geologischen Instituts von Sankt Petersburg reicht für beide gemeinsam oft nicht aus (vgl. ebd., 18). 204 Vgl. Luker: Introduction. An Adventure of his Soul, xii; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 22.

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Geschirr.205 Diese Seite Grins wird von vielen seiner Zeitgenossen bestätigt,206 in der sowjetischen Grin-Literatur ab Mitte der 1950er Jahre jedoch selten thematisiert, da auch sie im Widerspruch zu dem konstruierten idealisierten Bild des Schriftstellers steht. Aufgrund der genannten Probleme zieht Vera im Frühjahr 1908 aus der gemeinsamen Wohnung aus,207 eine endgültige Trennung erfolgt allerdings zunächst nicht  – ganz im Gegenteil: Kurz nach Grins Rückkehr aus einer Leprakolonie in Jamburg (Kingisepp), in der er im Juni und Juli 1910 etwa einen Monat verbringt, um zu studieren, wie Menschen mit dem unaufhaltsamen Zerfall ihres Körpers und dem sichtbaren Herannahen ihres Todes umgehen,208 wird er erneut wegen Benutzung einer falschen Identität und der vorausgegangenen Flucht aus der Verbannung nach Tobol’sk verhaftet.209 Daraufhin heiratet Vera ihn am 24. Oktober 1910 in der Gefängniskirche, um ihn in die Verbannung begleiten zu können.210 Um die Strafe abzuwenden, verfasst Grin in Haft je eine Petition an den Zaren und den Innenminister mit der Bitte um Begnadigung. In der zweitgenannten Petition vom 1. August 1910211 stellt er sich als »беллетрист[…]«212 vor, führt seine bisherigen literarischen Erfolge an und beteuert dann, dass bereits im Herbst 1905 im Gefängnis von Sevastopol’ »в миросозерцании 205 Vgl. Zavalishin: Early Soviet Writers, 313; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Vision­ ary, 19. 206 Vera Abramova-Kalickaja berichtet unter anderem über heftiges Trinken Grins mit nur kurzen Phasen der Nüchternheit in den Jahren 1912–1915, d. h. in der Zeit unmittelbar vor und nach dem Ende seiner ersten Ehe, das sich auch negativ auf Grins literarische Produktivität auswirkt, und führt sogar Grins relativ frühen Tod wesentlich auf seinen schweren Alkoholmissbrauch zurück (vgl. Abramova-Kalickaja: Ob A. S. Grine. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 16, l. 9 u. 21). 207 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 23. 208 Vgl. Veržbickij: Svetlaja duša. Naš sovremennik, 103. Zugang zu der streng bewachten Kolonie erhält Grin über seinen Freund Leonid Andruson, dessen Bruder dort als Arzt tätig ist (vgl. ebd.). Die Erfahrungen an dem isolierten Ort gehen möglicherweise in die Erzählung »Sinij kaskad Telluri« (1912; dt.: »Die blaue Kaskade von Telluri«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Sinij kaskad Telluri. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 2. Moskva 1980, 34–68. Kürzel: SK) ein, in der der Protagonist Reg in eine abgeriegelte Stadt eindringt, in der die Pest ausgebrochen ist. 209 Vgl. Grin, Aleksandr S.: L. N. Andreevu [Pis’mo, Peterburg, 31 ijulja 1910]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 12. Wie sich später herausstellt, wird er von A. Kotylev, einem Bekannten aus der Petersburger Literaturszene, dem Grin betrunken seinen wahren Namen genannt hat, verraten (vgl. Tarasenko: Dom Grina, 24). 210 Vgl. Pervova: Letopis’ žizni i tvorčestva. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 6 f. 211 Sandler gibt Grins Brief vollständig wieder (vgl. Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 468–470); in der Briefsammlung »Ja pišu vam vsju pravdu« (vgl. Grin: Ja pišu vam vsju pravdu) ist das Schreiben aus der Verfasserin unbekannten Gründen nicht enthalten. 212 Zit. nach Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 468. Dt.: »Belletrist«.

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моем произошел полный переворот«,213 der zu einer vollständigen Abwendung von allen politischen Gruppierungen geführt habe. Er bekräftigt, sich der Literatur anstelle der Politik widmen zu wollen und dies auch bereits seit fünf Jahren zu tun. Als Beweis dient ihm, dass seine Werke »художественные по существу« und »лишены каких бы то ни было тенденций«214 seien.215 Die Petitionen bleiben jedoch wirkungslos, Grin wird zu einer zweijährigen Verbannungsstrafe verurteilt.216 Am 31. Oktober 1910 begleitet Vera ihren Mann in die Verbannung in die Kleinstadt Pinega, ca. 120 km östlich von Archangel’sk.217 Etwa ein Jahr später erfolgt die Verlegung nach Kegostrov, wenige Kilometer von Archangel’sk entfernt, die letzten zwei Monate der Strafe (März – Mai 1912) verbringt Grin direkt in Archangel’sk.218 Die Zeit der Verbannung erweist sich entgegen den 213 Zit. nach ebd., 469. Dt.: »in meiner Weltauffassung eine vollständige Umwälzung stattgefunden hat«. 214 Zit. nach ebd. Dt.: »ihrem Wesen nach künstlerisch«, »ohne Tendenzen jeglicher Art«. 215 Die Authentizität dieser Beteuerungen wird von einigen Grinforschern in Frage gestellt. Sandler vermutet Vera Pavlovna als treibende Kraft hinter den Petitionen (vgl. Sandler, Vladimir: Četyre goda sledom za Grinom. In: Bruchnov, M. (Hg.): Prometej. Istorikobiografičeskij al’manach serii ›Žizn’ zamečatel’nych ljudej‹. T. 5. Moskva 1968, 190–207, hier 206), alternativ führt er eine depressive Phase als möglichen Grund an (vgl. Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 470). Letztere Begründung findet sich auch bei Luker, der darüber hinaus als eine in Frage kommende Erklärung auch Heuchelei nennt (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 20). Grund für dieses Misstrauen ist vermutlich der starke Kontrast zu Grins Verhalten nach seiner Verhaftung in Sevastopol’, als er jegliche Zusammenarbeit mit offiziellen Stellen verweigert. In »Avtobiografičeskaja povest’« schreibt Grin dazu: »После моего ареста отец, которому я написал, что случилось, прислал телеграмму ›Подай прошение о помиловании‹. Но он не знал, что я готов был скорее умереть, чем поступить так.« (AP, 145. Dt.: »Nach meiner Verhaftung schickte mein Vater, dem ich geschrieben hatte, was passiert war, ein Telegramm: ›Reiche ein Gesuch um Begnadigung ein‹. Aber er wusste nicht, dass ich eher bereit war zu sterben, als so zu handeln.«). Nichtsdestotrotz sind Grins Beteuerungen von 1910 als wahrheitsgemäß einzuschätzen, da der behauptete Wandel in Grins Lebensführung (es gibt keine Beweise dafür, dass Grin nach 1906 in weitere revolutionäre Aktivitäten involviert ist, was Sandler (vgl. Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 470) und Luker (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 20) selbst anmerken) ebenso wie in seinen Texten tatsächlich deutlich zu erkennen ist. Den Behörden bleibt Grin aber selbst nach seiner Rückkehr aus Pinega suspekt. Noch 1914 und 1915 wird er immer wieder stunden-, manchmal sogar tagelang von der Polizei observiert (vgl. Sandler: Sležka za A. Grinom, 166 f.). Als »›дневник‹ слежки« (dt.: »›Tagebuch‹ der Beschattung«) sind die Aufzeichnungen der Observanten auch in Sandlers Zusammenstellung von Dokumenten (vgl. Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 491–497) enthalten. 216 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 20. 217 Eine detaillierte Beschreibung der Zeit in der Verbannung liefert Kalickaja (Kalickaja: Iz vospominanij, 180–194). 218 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 29. Die Verlegung nach Kegostrov erfolgt auf einen Antrag Grins hin, der dort angesichts gesundheitlicher Probleme auf bessere medizinische Versorgung hofft (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 23).

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Erwartungen in mehrerlei Hinsicht als positiv. Zum einen verbessert sich das Verhältnis zwischen den Eheleuten deutlich, wohl auch aufgrund der Ent­ fernung zu den Ausschweifungen der Hauptstadt.219 Zum anderen wirkt sich die Natur um Pinega mit ihren Wäldern und Seen, die die Möglichkeit zum Jagen und Fischen bieten, positiv auf Grins seelisches Gleichgewicht aus.220 Er liest und schreibt viel und trinkt wenig.221 Den einzigen großen Nachteil der Zeit in Pinega stellt die Trennung Grins von der Literaturszene in der Hauptstadt dar, in der er sich gerade erst als Schriftsteller etabliert.222 Durch schriftliche Korrespondenz unter anderem mit Valerij Brjusov 223 und Arkadij Gornfel’d224 gelingt es ihm allerdings, nicht nur Kontakt zu halten, sondern auch einige Texte wie »Pozornyj stolb« (1911; dt.: »Der Schandpfahl«)225 oder

219 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 21 u. 23. 220 Vgl. Luker: Introduction. Selected Short Stories, 19. Aus den Erfahrungen der Zeit in ­Pinega entstehen unter anderem die Erzählungen »Tainstvennyj les« (1913) und »Sto vërst po reke« (vgl. Kalickaja: Iz vospominanij, 191; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 22). Die Erzählungen »Sinij kaskad Telluri« und »Ksenija Turpanova« (1912; vgl. Grin, Aleksandr S.: Ksenija Turpanova. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 2. Rasskazy 1910–1914. Moskva 2008, 129–146. Kürzel: KS) sind durch die Erfahrungen in Kegostrov beeinflusst (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 23). 221 Vgl. Studencova, E. I.: Vospominanija ob A. S. Grine. [1963]. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 11, l. 5. 222 Grin vermisst, wie er in einem Brief an Koreckij bekennt, Petersburg mit dem Nevskij prospekt, den Restaurants, Zeitungen und den Vorschüssen der Verlage (avansy), und leidet zudem im Winter unter Temperaturen von minus 38 °C (vgl. Grin, Aleksandr: [Pis’mo Nikolaju V. Koreckomu, Pinega, 31 janvarja 1911]. In: Pis’ma Grina A. S. [Koreckomu] Nikolaju Vladimiroviču. RGALI, f. 272, op. 1, ed. chr. 18, l. 1–2ob., hier 1ob.–2). In einem anderen Brief an Koreckij schreibt er: »Да, далеко от меня Петербург. Грустно.« (Grin, Aleksandr: [Pis’mo Nikolaju V. Koreckomu, Pinega, ok. dekabrja 1910]. In: Pis’ma Grina A. S. [Koreckomu] Nikolaju Vladimiroviču. RGALI, f. 272, op. 1, ed. chr. 18, l. 3. Dt.: »Ja, Petersburg ist weit weg von mir. Traurig.«). 223 Vgl. Grin, Aleksandr S.: V. Ja. Brjusovu [Pis’mo, Pinega, 16 dekabrja 1910]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 13; Grin, Aleksandr S.: V. Ja. Brjusovu [Pis’mo, Pinega, 5 aprelja 1911]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 14–15; Grin, Aleksandr S.: V. Ja. Brjusovu [Pis’mo, Kegostrov, 14 fevralja 1912]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 16. 224 Vgl. Grin, Aleksandr S.: A. G. Gornfel’du [Pis’mo, Kegostrov, 4 janvarja 1912]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 15; Grin, Aleksandr S.: A. G. Gornfel’du. [Pis’mo, Kegostrov, posle 4 janvarja 1912]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 15–16. 225 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Pozornyj stolb. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 494–498. Kürzel: PO.

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»Lunnyj svet« (1911; dt.: »Mondlicht«)226 zu publizieren, sodass er in Abwesenheit sogar an Bekanntheit gewinnt.227 Nach der Rückkehr aus der Verbannung im Mai 1912 nehmen jedoch die Eheprobleme sofort wieder zu, da sie auch eine Rückkehr in das die Ehe belastende Umfeld der Petersburger Bohème  – und damit ein Wiedererstarken von Grins Alkoholismus – bedeutet. Hinzu kommt von Veras Seite »ее непонимание необычного, странного с ее точки зрения, пути Грина в литературе«228, d. h. seine (vermeintlich vollständige) Abwendung von realistischen Erzählungen mit offen soziopolitischen Inhalten, was die Ehe ebenfalls stark belastet.229 Dieses fehlende Verständnis für die literarische Entwicklung ihres Mannes wird Vera in der Grin-Literatur häufig negativ angerechnet,230 während Nina Grin im Gegensatz dazu als wichtige Unterstützerin für die Karriere ihres Mannes hervorgehoben wird.231 Nach einer schweren Krise im Frühsommer verlässt Vera ihren Mann im Herbst 1913 endgültig.232 Zwar bleiben Vera und Aleksandr einander auch nach der Trennung, sogar ihr Leben lang, freundschaftlich verbunden,233 doch Grin leidet nach dem Ende der Beziehung sehr.234 Seine Verzweiflung kommt in einem Brief an Leonid 226 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Lunnyj svet. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 467–478. Kürzel: LU. 227 Vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 5. 228 Ebd., l. 2. Dt.: »ihr Unverständnis für den ungewöhnlichen, aus ihrer Perspektive seltsamen, Weg Grins in der Literatur«. 229 Veras ablehnende Haltung gegenüber dem – von ihr so empfundenen – Weggang Grins aus dem Leben in eine Traumwelt kommt z. B. unterschwellig in ihrer biographischen Skizze »Ob A. S. Grine« zum Ausdruck (vgl. Abramova-Kalickaja: Ob A. S. Grine. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 16, l. 18). 230 Vgl. z. B. Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 485; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 25.  231 Vgl. z. B. Kasper: Nachwort, 292; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 35 f. u. 50. 232 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 30. Vera führt als weiteren Faktor für das Scheitern der Ehe Grins vollkommen veränderte Lebensumstände im Vergleich zur Anfangszeit der Beziehung an: Aus dem jungen Mann ohne Einkommen und mit illegalem Status ist ein etablierter Schriftsteller mit guten Beziehungen in Petersburger Intellektuellenkreisen geworden. Aus diesem Grund glaubt Vera, Grin nicht mehr genügt zu haben (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 24). Nina Grin widerspricht dieser Überzeugung: Nach Grins Darstellung sei das größte Problem die Diskrepanz zwischen Vera und ihm in Bezug auf ihre Lebensideale gewesen (vgl. ebd., 24 f.). In ihren Memoiren bezeichnet Nina Grin Vera als »типичн[ая] буржуазк[а]« (Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 486. Dt.: »typische Bürgerliche«) hinsichtlich ihrer Erziehung und Ausbildung, die das Leben nicht in derselben Weise verstehen konnte wie Grin, der durch die harte Schule des Lebens auf der Straße gegangen sei. 233 Vgl. Pervova: Letopis’ žizni i tvorčestva. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 7 f. Die offizielle Scheidung erfolgt erst 1920; Anlass dafür ist Veras in Anschluss daran geschlossene Ehe mit dem Geologen Kalickij (vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 38). 234 Vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 4.

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Andreev aus dieser Zeit zum Ausdruck: »Я давно, − почти неделю − не работаю. А вот почему: за мое поведение (алкоголизм) я оставлен женой (это правильно). То нервное потрясение, которое я переживаю, вовлекло меня и в долги, и, в материальном смысле, − в временную нищету.«235 Auch sein Alkoholismus verschlimmert sich durch die emotionale Belastung der Trennung noch zusätzlich. Zu Jahresbeginn 1914 lässt er sich daher freiwillig in eine Klinik einweisen, um seine Sucht behandeln zu lassen, allerdings bricht er die Therapie nach nur einem Monat ab.236 Von dort aus schreibt er in einem Brief an den Journalisten A. Roziner: »Я болен так, как Вам не желаю быть больным никогда.«237 Auch diese Information findet sich nur selten in Darstellungen von Grins Biographie. Trotz der nicht unerheblichen Probleme leidet Grins Schriftstellerkarriere nicht nachhaltig. Bereits unmittelbar nach seiner Ankunft in Petersburg etwa »[…] писал почти непрерывно«,238 außerdem publiziert er in den kommenden Jahren intensiv.239 Insgesamt sind die Jahre zwischen der Publikation von »Šapka nevidimka« 1908 und der Revolution höchst produktiv für Grin. Bis 1917 publiziert er über 350 Texte, v. a. Erzählungen, aber auch Gedichte und Povesti. Diese erscheinen in diversen Zeitungen sowie in über 60 verschiedenen Zeitschriftenverlagen; neben kleineren, teils auch qualitativ minderwertigen, Zeitschriften sind dies unter anderem »Russkaja mysl’« (dt.: »Russischer Gedanke«), »Novyj žurnal dlja vsech«, »Sovremennyj mir« (dt.: »Moderne Welt«), »Ogonëk« (dt.: »Das Feuerchen«), »Dvadcatyj vek« (dt.: »Das zwanzigste Jahrhundert«), »Novyj satirikon« (dt.: »Neuer Satirikon«), 235 Grin, Aleksandr S.: L. N. Andreevu [Pis’mo, Peterburg, osen’ 1913]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 21. Dt.: »Ich arbeite seit Langem – beinahe seit einer Woche – nicht. Und hier ist der Grund dafür: wegen meines Verhaltens (Alkoholismus) wurde ich von meiner Frau verlassen (das ist richtig). Jene nervliche Erschütterung, die ich durchlebe, zog mich in die Schulden hinein, und, im materiellen Sinne, – in vorübergehende Armut.«. 236 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 26. 237 Grin, Aleksandr S.: A. E. Rozineru [Pis’mo, Staraja Derevnja, do 7 fevralja 1914]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 22. Dt.: »Ich bin so krank, wie ich es Ihnen nicht wünsche jemals zu sein.«. 238 Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 78. Dt.: »[…] schrieb er fast pausenlos«. 239 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 24. Vera Kalickajas Behauptung, Grin sei unter anderem zwischen 1912 und 1915 durch seinen Alkoholismus kaum in der Lage gewesen zu schreiben (vgl. Abramova-Kalickaja: Ob A. S. Grine. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 16, l. 9), lässt sich durch einen Blick auf die Liste der Veröffentlichungen Grins dieser Jahre widerlegen. Hatte er in den Jahren vor seiner Verbannung nach Archangel’sk, 1908–1910, jährlich ca. 20 Texte veröffentlicht, sind es 1912 ein gutes Dutzend, 1913 etwa zwei Dutzend, 1914 etwa drei Dutzend und 1915, in Grins produktivstem Jahr überhaupt, sogar über 100 Erzählungen und Gedichte.

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»Sinij žurnal« (dt.: »Blaue Zeitschrift«), »Solnce Rossii« (dt.: »Die Sonne Russlands«), »Vsemirnaja panorama« (dt.: »Weltpanorama«) und »Birževye vedomosti«.240 Darüber hinaus erscheint eine Reihe von Sammelbänden mit Erzählungen Grins.241 Neben der erwähnten ersten Sammlung »Šapka nevidimka« sind dies: »Rasskazy« (1910; dt.: »Erzählungen«), »Zagadočnye istorii« (1915; dt.: »Rätselhafte Geschichten«), »Znamenitaja kniga« (1915; dt.: »Das berühmte Buch«), »Proisšestvie v ulice Psa« (1915; dt.: »Der Vorfall in der Köterstraße«), »Iskatel’ priključenij« (1916) und »Tragedija ploskogor’ja Suan. Na sklone cholmov« (1916; dt.: »Die Tragödie der Hochebene Suan. Am Hang der Hügel«).242 1913 erscheint zudem bei »Prometej« (dt.: »Prometheus«) eine dreibändige Ausgabe der Gesammelten Werke Grins (Bd. 1: »Šturman ›Četyrëch vetrov‹« (dt.: »Der Steuermann der ›Vier Winde‹«); Bd. 2: »Proliv bur’« (dt.: »Die Meerenge der Stürme«); Bd. 3: »Pozornyj stolb« (dt.: »Der Schandpfahl«)). Besonders viel schreibt und veröffentlicht Grin während der Jahre des Ersten Weltkriegs, während dem er aufgrund physischer Untauglichkeit nicht zum Militärdienst eingezogen wird.243 Viele seiner Werke dieser Zeit – neben Erzählungen auch Gedichte und Feuilletons – weisen einen direkten oder indirekten Bezug zum Kriegsgeschehen auf. Einige davon, z. B. die Erzählung 240 Vgl. Rossel’s: Grin. Russkie pisateli, 42. 241 Eine der wenigen Gemeinschaftspublikationen Grins mit anderen Autoren stellt die Sammlung von Erzählungen von Grin, Skitalets, Ignatij Potapenko, Kazimir Barancevič u. a. dar, die 1910 unter dem Titel »Kniga rasskazov« (dt.: »Buch der Erzählungen«) erscheint (vgl. Skitalec [Petrov, Stepan G.]/Potapenko, I. N./Barancevič, K. S./Dalmatov, V. P./  Gnedič, P. P./Remizov, Aleksej / Cenzor, Dmitrij / Lenskij, Vladimir / Roslavlev, A. S./ Grin, A. S./Gordin, Vl./Raevskij, V. I./Ossendovskij, A. M./Benedikt / Lur’e, Vl./Apraksin, A. D./Tolstoj, A. N./Beljaev, Ju. D./Glagol’/Vasilevskij, I. M.: Kniga rasskazov. Sankt-Peterburg 1910). Sie enthält Grins Erzählungen »Imenie Chonsa« (dt.: »Chons’ Landgut«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Imenie Chonsa. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 384–390. Kürzel: IC), »Reka« (dt.: »Der Fluss«), »Serebro juga« (dt.: »Das Silber des Südens«; späterer Titel: »Vozvraščenie ›Čajki‹«; dt.: »Die Rückkehr der ›Möwe‹«) sowie die beiden später in die Erzählung »Nasledstvo PikMika« (1915; dt.: »Pik-Miks Erbe«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Nasledstvo Pik-Mika. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 326–345. Kürzel: NP) integrierten Texte »Večer« (dt.: »Abend«) und »Arventur« (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 19). 242 Die Anzahl der in kurzer Folge herausgegebenen Sammelbände beweist Grins zunehmende Etablierung als Schriftsteller. Noch 1909 stellt sich die Situation für ihn gänzlich anders dar, wovon ein Brief Grins aus dem Frühjahr desselben Jahres an den zu dieser Zeit auf Capri lebenden Maksim Gor’kij zeugt (vgl. Grin: A. M. Gor’komu. Pis’mo 1909). Darin berichtet er im Zusammenhang mit seinen Versuchen, einen Sammelband zu publizieren, von Ablehnungen oder unannehmbar schlechten Konditionen aufgrund seines geringen Bekanntheitsgrads, und bittet Gor’kij zu prüfen, ob die Publikation eines solchen Sammelbands bei der Verlagsgesellschaft »Znanie« (dt.: »Wissen«) möglich wäre (vgl. ebd., 9). Eine Antwort von Gor’kijs Seite, sofern sie überhaupt verfasst wurde, ist nicht erhalten (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 19). 243 Vgl. Luker: Alexander Grin, 64.

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»Tajna lunnoj noči« (1915; dt.: »Das Geheimnis der Mondnacht«),244 in der ein Wachposten auf einem Karpatenpass erschossen wird und sich selbst dabei gleichsam aus der Distanz beobachtet, oder die Erzählung »Otravlennyj ostrov« (1916; dt.: »Die vergiftete Insel«),245 in der die Bewohner einer abgelegenen Insel aus Angst vor einem Übergreifen des Kriegs in Europa auf ihre Heimat kollektiven Selbstmord begehen, behandeln die Themen Krieg und Gewalt in ideologisch weitgehend neutraler und ästhetisch hochwertiger Weise. Andere Werke Grins aus dieser Zeit weisen dagegen einen patriotischen bis hochgradig chauvinistischen Tonfall auf. In der Regel steht dabei die Darstellung der Grausamkeit deutscher Soldaten im Mittelpunkt, z. B. in der Erzählung »Ruka ženščiny« (1915; dt.: »Die Hand einer Frau«),246 die eine moderne Variante der alttestamentarischen Geschichte von Judith und Holofernes darstellt.247 Vor dem Hintergrund eines Überfalls deutscher Soldaten auf ein russisches Dorf, die die Bevölkerung ausrauben, vergewaltigen und ermorden, gelangt darin ein junges, schönes Bauernmädchen unter einem Vorwand zum deutschen Kommandanten und ersticht ihn. »Žëltyj gorod« (1915; dt.: »Die gelbe Stadt«)248 spielt in einer fast vollständig von deutschen Soldaten zerstörten belgischen Stadt, in deren Straßen Leichen liegen und Menschen den Verstand verlieren; »Sinij volčok« (1915; dt.: »Der blaue Kreisel«)249 beschreibt das grausame Spiel deutscher Soldaten mit ihrem russischen Gefangenen, die ankündigen, ihn zu töten, sobald ein Kreisel aufhört sich zu drehen. Viele dieser Werke weisen notwendigerweise eine sehr schematische Darstellungsweise der Figuren und Sujets auf und sind daher von minderer literarischer Qualität.250 Anzunehmen ist, dass Grin diese Texte vor allem aus finanzieller Not verfasst, was der Schriftsteller auch selbst in seiner Antwort auf eine Umfrage des »Žurnal žurnalov« (dt.: »Zeitschrift der Zeitschriften«) zum Thema »Kak my rabotaem« (dt.: »Wie wir arbeiten«) aus dem Jahr 1915 bekräftigt: »Я желал бы писать только для искусства, но меня заставляют, меня насилуют … Мне хочется жрать.«251 Auch nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlicht der 244 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Tajna lunnoj noči. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 300–302. Kürzel: TN. 245 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Otravlennyj ostrov. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 569–584. Kürzel: OO. 246 Vgl. Grin, Aleksandr: Ruka ženščiny. In: Ders.: Sobranie sočinenij Aleksandra Grina v 3 tomach. Tom 2. Čërnyj avtomobil’. Rasskazy. Moskva 2018, 36–37. Kürzel: RŽ . 247 Vgl. Jdt 10,1–13,10; Das Alte Testament. 248 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Žëltyj gorod. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 302–303. Kürzel: ŽG . 249 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Sinij volčok. In: Dvadcatyj vek 2 (1915), 6. Kürzel: VO ; alternativer Titel: »Volčok« (dt.: »Der Kreisel«). 250 Vgl. Luker: Alexander Grin, 67. 251 Grin, Aleksandr: Otvet na anketu ›Kak my rabotaem‹. In: Žurnal žurnalov 5 (1915), 8. Dt.: »Ich würde mir wünschen, nur um der Kunst willen zu schreiben, aber man nötigt mich, man zwingt mich… Ich will fressen.«.

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Schriftsteller aus Geldnot immer wieder minderwertige Werke.252 Aus seiner finanziellen Situation erklärt sich auch, dass Grins Bekanntheitsgrad in den 1910er Jahren trotz seiner teils enormen literarischen Produktivität begrenzt bleibt, da er viele seiner Texte in Zeitschriften von geringerer Qualität publi­ ziert, in denen v. a. Übersetzungen ausländischer Literatur und russische Literatur auf niedrigem Niveau abgedruckt werden und deren Lesepublikum eher den unteren Gesellschaftsschichten angehört.253 Bereits Ende Oktober 1916 ist Grin erneut gezwungen, Petrograd zu verlassen, dieses Mal auf polizeiliche Anordnung wegen einer respektlosen Bemerkung über Zar Nikolaj  II. Er wählt als Wohnort das Dorf Lounatjoki (Zachodskoe) etwa 75 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, das ihm durch seine Lage an der Eisenbahnlinie zwischen Petrograd und Finnland erlaubt, von Zeit zu Zeit dorthin zu reisen.254 Als er am 22. Februar 1917 von den beginnenden Unruhen in Petrograd erfährt, macht er sich – so jedenfalls Grins Darstellung in seiner autobiographischen Erzählung »Peškom na revoljuciju« (1917; dt.: »Zu Fuß zur Revolution«)255 – zu Fuß auf den Weg, weil der Zugverkehr weitgehend unterbrochen ist, und erreicht die Hauptstadt einen Tag später. Grins Einstellung zur Februarrevolution wird von der sowjetischen GrinForschung unterschiedlich bewertet. Einerseits wird versucht, durch sie Grins generell positive Haltung gegenüber Revolutionen – und damit auch gegenüber der Oktoberrevolution – zu beweisen. Obwohl der Schriftsteller seiner eigenen Aussage in »Peškom na revoljuciju« zufolge nicht aus politischen Gründen, sondern von Neugier angesichts der vagen Gerüchte über die Ereignisse in der Hauptstadt und dem Wunsch, diese selbst zu erleben, nach Petrograd getrieben wird,256 deutet Man’kovskij die Erzählung als Ausdruck der von Grin in die Revolution gesetzten Hoffnungen.257 Auch Nina Grin erklärt in den 1930er Jahren, dass Grin erfreut über die Februarrevolution gewesen sei.258 Andererseits wird aber auch versucht, Grins behauptete Sympathie für die Oktoberrevolution durch die Feststellung seiner Ablehnung der als ›bourgeoise 252 Vgl. Voronova, O.: Rasskaz Georgija Šengeli. In: Sandler, Vladimir (Hg.): Vospominanija ob Aleksandre Grine. Leningrad 1972, 319–321, hier 320; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 27. 253 Vgl. Akvilev: Dve vstreči s pisatelem Grinom. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 1, l. 2. 254 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 34. 255 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Peškom na revoljuciju. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 94–100. Kürzel: PR . 256 Vgl. PR , 94. 257 Vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 2. 258 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine. Avtograf. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 18, tetrad’ 2, l. 12.

Vorstellung des Autors 

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Revolution‹ diskreditierten Februarrevolution zu belegen (vgl. dazu ausführlicher Kap. 2.2.5.1). Dieser Umstand, dass Grins (unterstellte)  Haltung zur Stützung zweier gegensätzlicher Argumentationen, wenn auch mit demselben Ergebnis, dienen kann, erklärt sich aus der Tatsache, dass die Einstellung des Schriftstellers, wie von Castaing anhand von Grins literarischer Produktion dieser Zeit überzeugend herausgearbeitet wurde, in der Realität beide Ausprägungen enthält: zunächst positiv, dann negativ. Es scheint, als sei Grin anfangs von der allgemeinen Begeisterung angesteckt gewesen, denn er verfasst mit »Kolokola« (1917; dt.: »Die Glocken«)259 ein Gedicht, in dem der Umsturz als Fest dargestellt wird, sowie eine Reihe von Texten, in denen er sich offen gegen die Polizei, die reiche Oberschicht, den Zaren und den Günstling der Zarin Aleksandra Fëdorovna, Rasputin, äußert.260 Doch bereits im Frühjahr 1917 zeigt sich sein Enthusiasmus deutlich gedämpft. Damit ergeht es Grin wie vielen eher moderat eingestellten Personen, darunter seinem alten Freund Kuprin, die zwar der Monarchie feindlich gegenüberstehen, durch die Erfolge der Bol’ševiki im April und das Erstarken extremer revolutionärer Kräfte jedoch er- oder abgeschreckt werden.261 Grins Texte dieser Zeit werden zunehmend satirisch und pessimistisch und drücken seine wachsende Desillusionierung in Bezug auf die Sinnhaftigkeit der Februarrevolution aus.262 Vermutlich aus dem Sommer oder Herbst 1917, aber noch aus der Zeit vor der Oktoberrevolution,263 stammen die Erzählungen »Trupy« (1917; dt.: »Leichen«) und »Krasnye bryzgi« (1917; dt.: »Rote Spritzer«),264 die die eskalierende Gewalt in den Monaten nach der Februarrevolution und die damit einhergehende Abstumpfung – »Мы привыкаемъ… привыкаемъ, – привыкли!«265 – ungeschönt darstellen. 259 Vgl. A. G. [= Grin, Aleksandr S.]: Kolokola. In: Dvadcatyj vek 13 (1917), 3. Kürzel: KK . 260 Vgl. Castaing: Grin et la révolution, 193 f. 261 Vgl. ebd., 194. 262 Vgl. ebd., 195–197. 263 Vgl. Luker: Afterword, 94. 264 Vgl. Grin, Aleksandr: Trupy. 1917. In: Vyrezki iz gazet i žurnalov. A. S. Grin. »Brak Avgusta Ėsborna«, »Zmeja«, [»Kvity«], »Krasnye bryzgi«, »Majatnik vesny«, [»Obez’jana«], »Pobeditel’«, »Proisšestvie v kvartire g-ži Seriz«, »Sostjazanie v Lisse«, [»Tri čeloveka«], »Trupy«, »Ubijstvo v rybnoj lavke«. Rasskazy. Na russkom i nemeckom jazykach. Saks, Gans. »Vstreči avtora so svoim geroem«. Zametka. Izveščenija o smerti A. S. Grina. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 215, l. 3; Grin, Aleksandr: Krasnye bryzgi. 1917. In: Vyrezki iz gazet i žurnalov. A. S. Grin. »Brak Avgusta Ėsborna«, »Zmeja«, [»Kvity«], »Krasnye bryzgi«, »Majatnik vesny«, [»Obez’jana«], »Pobeditel’«, »Proisšestvie v kvartire g-ži Seriz«, »Sostjazanie v Lisse«, [»Tri čeloveka«], »Trupy«, »Ubijstvo v rybnoj lavke«. Ras­ skazy. Na russkom i nemeckom jazykach. Saks, Gans. »Vstreči avtora so svoim geroem«. Zametka. Izveščenija o smerti A. S. Grina. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 215, l. 4. 265 Ebd. Dt.: »Wir gewöhnen uns daran… gewöhnen uns, – haben uns daran gewöhnt!«.

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Die Oktoberrevolution bringt keine Änderung in Grins Haltung. Auch wenn anzunehmen ist, dass er sich von dem Versprechen sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit angesprochen fühlt, wird er doch vor allem durch das Blutvergießen während der bolschewistischen Machtergreifung und den folgenden bolschewistischen Terror abgeschreckt.266 In seinem Gedicht »Petrograd osen’ju 1917 goda« (1917; dt.: »Petrograd im Herbst 1917«)267 setzt der Schriftsteller die schwierige Situation in der Stadt, geprägt von Lebensmittelknappheit und der starken Präsenz von Soldaten, in Szene und lässt eine Figur darin Worte aussprechen, von denen anzunehmen ist, dass sie seine eigene Haltung ausdrücken:268 »›[…] Царя я не хочу, но все ж / Несносен большевизма еж.‹«269 Seine ablehnende Haltung kommt auch in zahlreichen weiteren literarischen Erzeugnissen der Monate nach der Oktoberrevolution zum Ausdruck.270 In einer Reihe von satirischen Miniaturen nimmt der Schriftsteller unter anderem das utopische revolutionäre Ideal der ›perfekten Gleichheit‹, die Hürden des nachrevolutionären Alltagslebens und die Sprache der Bol’ševiki aufs Korn. Letzteres geschieht in der beißenden Satire »Vanja rasserdilsja na čelovečestvo« (1918; dt.: »Vanja wurde wütend auf die Menschheit«),271 in der der Arbeitersowjet, bestehend aus Bauern, ›Roten‹ Soldaten, Roten Garden, Schweizer Deputierten und ›Lunačarskisten‹ mit der monströsen ›Abkürzung‹ »Совракребаткракрашвейлуначдеп«272 benannt wird. In der sowjetischen Literaturwissenschaft ab 1956 werden diese Werke Grins aber fast vollständig aus der Betrachtung ausgeklammert (s. hierzu genauer Kap. 2.2.5.1). Stattdessen finden sich dort Hinweise auf die (wenigen) Texte, die sich als Ausdruck der Unterstützung Grins für die Oktoberrevolution deuten lassen. Besonders oft zitiert wird die dritte Strophe des Gedichts »Dviženie« (1919; dt.: »Bewegung«): »Мечта разыскивает путь,– / Закрыты все пути; Мечта разыскивает путь, – / Намечены пути; Мечта разыскивает путь, – / Открыты все пути.«273 266 Vgl. Villeneuve: Le téléphone d’Alexandre Grine, 40; Luker: Alexander Grin, 69. 267 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Petrograd osen’ju 1917 goda. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 671–672. Kürzel: PE . 268 Vgl. Castaing: Grin et la révolution, 198. 269 PE , 672. Dt.: »›Den Zaren will ich nicht, aber dennoch / ist der Igel des Bolschewismus unerträglich.‹«. 270 Vgl. Castaing: Grin et la révolution, 198–202. 271 Vgl. Grin, Aleksandr: Vanja rasserdilsja na čelovečestvo. In: Ders.: Sobranie sočinenij Aleksandra Grina v 3 tomach. Tom 2. Čërnyj avtomobil’. Rasskazy. Moskva 2018, ­407–408. Kürzel: VČ. 272 VČ , 407; dort jedoch fehlerhaft, daher zit. nach Castaing: Grin et la révolution, 202. Dt.: »Sovarbbaurotbatrotschweilunačdep«. 273 Grin, Aleksandr S.: Dviženie. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 683. Kürzel: DV. Dt.: »Der Traum sucht den Weg, – / Verschlossen sind alle Wege; Der Traum sucht den Weg, – / ​

Vorstellung des Autors 

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Über Grins Leben in den Monaten nach der Oktoberrevolution ist wenig bekannt. Nachdem die Zeitschriften, in denen er nach der Oktoberrevolution mehrheitlich publiziert, darunter »Čërtova perečnica« (dt.: »Die alte Hexe«), »Novyj satirikon« und »Svobodnaja Rossija« (dt.: »Freies Russland«; unter der Redaktion Kuprins) eine nach der anderen durch die Bol’ševiki verboten werden, ist Grin in Petrograd zunehmend ohne Veröffentlichungsmöglichkeiten und geht daher im Frühjahr 1918, auch um dem Hunger zu entfliehen, zu Veržbickij nach Moskau. Er kehrt aber, als sich die Publikationssituation dort auch nicht als besser erweist, bereits nach wenigen Wochen zurück nach Petrograd und pendelt in den nächsten Monaten mehrfach zwischen den beiden Städten hin und her.274 In Moskau schreibt Grin unter anderem für die Zeitschrift »Čestnoe slovo« (dt.: »Das ehrliche Wort«), in Petrograd arbeitet er an der neugegründeten Literatur- und Kunstzeitschrift »Plamja« (dt.: »Die Flamme«) unter dem Leiter des Narkompros (Narodnyj komissariat prosveščenija RSFSR; dt.: Volkskommissariat für Bildung der RSFSR) Anatolij Lunačarskij mit.275 Im Januar 1919 zieht Grin in das Haus des »Sojuz dejatelej chudožestvennoj literatury« (dt.: »Verband der Belletristik-Autoren«) auf der Vasil’evskij-Insel in Petrograd, das der Vereinigung angesichts der bevor­stehenden Enteignung von der Familie des Millionärs Ginzburg angeboten und dessen Betreibung durch Lunačarskij unterstützt wird. Grins Mit­bewohner sind Jurij Slëzkin, Dmitrij Cenzor, Vladimir Voinov und Viktor Mujžel’, der Redakteur des Kulturteils von »Plamja«; mit der Gruppe verbunden sind unter anderem Gor’kij, Fëdor Sologub, Blok, Kornej Čukovskij und Vjačeslav Šiškov.276 Im Sommer 1919 wird Grin, beinahe 40-jährig, zum Militär eingezogen und im September 1919 mit seiner Brigade nach Vitebsk und wenig später nach Ostrov bei Pskov, etwa 30 Kilometer von der Front entfernt, zur Verlegung von Telefonkabeln versetzt.277 Über die Tatsache, dass Grins Zustand sich durch die harte körperliche Arbeit verschlechtert, herrscht in der Forschungsliteratur Einigkeit; hinsichtlich der Art und Weise, in der sein Armeedienst endet, gibt Entworfen sind die Wege; Der Traum sucht den Weg, – / Offen sind alle Wege.« Das Zitat findet sich z. B. bei Vichrov: Rycar’ mečty, 70; Rossel’s: A. Grin. Iz neizdannogo i zabytogo, 629; Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 374; oder Tarasenko: Dom Grina, 26. Sogar ein Sammelband wird danach benannt, vgl. Sitnikova, O. I. (Hg.): ›Mečta razyskivaet put’‹: Materialy VI Grinovskich čtenij, posvjaščënnych 120-letiju A. S. Grina. Kirov 2001. 274 Vgl. Veržbickij: Svetlaja duša. Naš sovremennik, 106; Castaing: Grin et la révolution, 202 f.; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 35 f. 275 Vgl. Kirkin: A. S. Grin v pečati, 7.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 7; Tarasenko: Dom Grina, 26. 276 Vgl. Kalickaja: Iz vospominanij, 196; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 26; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 30 f. 277 Vgl. Kalickaja: Iz vospominanij, 196; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 29 f.; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 31.

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es jedoch einen kleinen, aber bedeutenden Unterschied in der Darstellung. In der ersten Variante heißt es, dass Grins gesundheitlich begründete Entlassungsgesuche abgelehnt worden seien und er sich daher, auch aufgrund einer Depression, im März 1920 entschieden habe, nach Petrograd zu desertieren278 oder, in abgemilderter Formulierung, den Eindruck einer Desertation (und deren Folgen) in Kauf zu nehmen und unerlaubt und heimlich zur Eisenbahnlinie nach Petrograd zu gehen.279 Dort wird er vom Roten Kreuz aufgegriffen und mit Verdacht auf Tuberkulose per Zug nach Petrograd gebracht;280 nur drei Tage später wird seine Telefonbrigade von ›Weißen Polen‹ ausgelöscht.281 Die zweite Darstellungsvariante vermeidet den Begriff der Desertation oder auch nur die Möglichkeit eines derartigen Verdachts, indem entweder ohne genaue Nennung der Umstände von einer Freistellung aus Gesundheitsgründen die Rede ist 282 oder zumindest die Tatsache eines unerlaubten Verlassens der Brigade unerwähnt bleibt – es entsteht der Eindruck, Grin habe sich offiziell an den Arzt des Ambulanz-Zuges gewandt – und zudem die Erteilung einer einmonatigen Beurlaubung durch die medizinische Kommission angeführt wird –283 allerdings kehrt Grin danach nie wieder in den Militärdienst zurück. Auch wird die erste Darstellungsweise der Ereignisse durch die in weiten Teilen autobiographische Erzählung »Tifoznyj punktir« (1922; dt.: »Punktierte Typhuslinie«)284 gestützt, in der der Protagonist bekennt: »[…] я хотел заболеть, и заболеть так серьезно, чтобы меня эвакуировали в Петербург […]«285 und wenig später unerlaubt zur Eisenbahnlinie geht, um per Ambulanz-Zug nach Petrograd zu gelangen.286 Da die Krankenhäuser überfüllt sind, ist Grin, zurück in Petrograd, mit hohem Fieber und ohne Geld und Essen, zunächst auf sich allein gestellt und übernachtet bei Bekannten und im Dom literatorov (dt.: Haus der Literaten). Schließlich wendet er sich in seiner Verzweiflung an Maksim Gor’kij, der ihm ein Bett im Lazarett im Smol’nyj-Institut verschafft. Nach der Diagnose Flecktyphus wird Grin in die Botkinskij-Baracken verlegt, wo er fast einen Monat 278 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 31; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 30. 279 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine. Avtograf. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 18, tetrad’ 2, l. 17–17ob.; Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 324. 280 Vgl. ebd. 281 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 31. 282 Vgl. Kozlova, Aleksandr Stepanovič Grin, 580. 283 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 37. 284 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Tifoznyj punktir. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 181–191. Kürzel: TI . 285 TI, 184. Dt.: »[…] ich wollte erkranken, und zwar so ernsthaft erkranken, dass ich nach Petersburg evakuiert werden würde […]«. 286 Vgl. TI, 184 f.

Vorstellung des Autors 

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verbringt. In dieser Zeit bittet er Gor’kij ein zweites Mal um Hilfe, diesmal um die Zusendung von Geld und Essen.287 Nach Grins Genesung ist es erneut Gor’kij, der ihm hilft, Ende Mai 1920 ein Zimmer im Dom iskusstv (dt.: Haus der Künste) an der Mojka und außerdem als einer von 74 Schriftstellern, Dichtern und Künstlern eine ›akademische‹ Versorgungsration (akademičeskij paëk) zu erhalten.288 Grin erinnert sich Gor’kijs Unterstützung in dieser schweren Zeit stets mit großer Dankbarkeit.289 Das Dom iskusstv befindet sich an der Ecke Nevskij prospekt / Mojka in den ehemaligen Wohnungen der Brüder Eliseev, der früheren Besitzer des größten Lebensmittelhandels in Russland, die nach der Revolution emigriert sind. Es stellt eine der ersten Institutionen der CKUBU (»Central’naja komissija po ulučšeniju byta učënych«; dt.: »Zentrale Kommission für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Wissenschaftlern«) dar und eröffnet auf Initiative Gor’kijs Ende des Jahres 1919 (im Januar 1920 folgt das Dom učënych; dt.: Haus der Wissenschaftler). Durch seinen Einfluss ist es Gor’kij möglich, Grin eines der begehrten möblierten Zimmer darin zu organisieren.290 Zu Grins Mitbewohnern im Dom iskusstv zählen unter anderem Kornej Čukovskij, Michail Slonimskij, Viktor Šklovskij, Konstantin Fedin, Lev Lunc, Nikolaj Tichonov, Michail Zoščenko, Veniamin Kaverin, Nikolaj Nikitin, Vladimir Pjast,291 Vsevolod Roždestvenskij, Osip Mandel’štam, Nikolaj Kljuev, Ol’ga Forš und Mariėtta Šaginjan.292 Das Haus stellt bis zu seiner Schließung 1923 eines der kulturellen Zentren Petrograds dar (neben dem Dom literatorov und dem Dom učënych), mit Vorträgen, Diskussionen, musikalischen Abenden und Ausstellungen z. B. von Aleksandr und Al’bert Benua (Benois), Mstislav Dobužinskij und Kuz’ma Petrov-Vodkin. Zudem finden zunächst literarische pjatnicy (dt.: Freitage) im intimen Kreis, später ponedel’niki (dt.: Montage) für ein breiteres Publikum mit Lesungen unter anderem von Blok, Belyj, Vladi287 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine. Avtograf. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 18, tetrad’ 2, l. 18ob.; Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 324; Kalickaja: Iz vospominanij, 196 f.; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 37 f. Zu Grin und Gor’kij vgl. auch Grin, N.: ­Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 13 f. 288 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 32; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 74. 289 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine. Avtograf. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 18, tetrad’ 3, l. 19ob.–20. 290 Vgl. Kalickaja: Iz vospominanij, 197; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 32. 291 Mit Pjast verbindet Grin eine Freundschaft und eine große gegenseitige Wertschätzung. Als Grin einmal eine Einladung zu einem literarischen Abend erhält, aber selbst nicht teilnehmen möchte, gibt sich Pjast als Grin aus und übernimmt seinen Auftritt (vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 17; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 39 f.). 292 Vgl. Luker: Alexander Grin, 71; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 33; Luker: Introduction. Selected Short Stories, 20.

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mir Majakovskij, Evgenij Zamjatin, Kuzmin, Roždestvenskij, Šaginjan und Pjast statt. Hier formiert sich 1921 auch die Gruppe der »Serapionovy brat’ja« (dt.: »Serapionsbrüder«) um Zoščenko, Lunc, Kaverin und Fedin offiziell.293 Grin allerdings bleibt, wie bereits im Zusammenhang mit seinen Charakterbeschreibungen angesprochen, weitgehend für sich und beteiligt sich kaum an den zahlreichen Aktivitäten der Institution. Eine Ausnahme davon stellt seine Lesung aus der zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertiggestellten Povest’ »Alye parusa« (1923) im Dezember 1920 dar, die eine sehr positive Resonanz seitens des Publikums hervorruft.294 Auch an dem anlässlich des Besuchs von H. G. Wells im Dom iskusstv ausgerichteten Bankett im Herbst 1920 nimmt er teil und hält sogar eine Rede zu Ehren des englischen Schriftstellers. Eindrücke aus dieser Veranstaltung gehen vermutlich in die Beschreibung des Empfangs einer ausländischen Delegation im Dom učënych der CKUBU in der Millionnaja-Straße in Grins Werk »Fandango« (1927)295 ein.296 Im Winter 1920/1921 leiden die Bewohner des Dom iskusstv, wie die anderen Einwohner Petrograds, unter den kalten Temperaturen und dem Mangel an Heizmaterial.297 Der Maler Vladimir Milaševskij298 erinnert sich, wie er gemeinsam mit Grin und Šklovskij, auf Initiative des Letztgenannten, in die verlassene Bank Lionskij kredit (dt.: Lyoner Kredit) in der unmittelbaren Nachbarschaft eindringt und säckeweise Papier und Bücher zum Befeuern der Öfen ins Dom iskusstv bringt.299 Offenbar werden diese ›Beutezüge‹ nicht nur für Grin, sondern auch für andere Bewohner des Hauses zur Gewohnheit.300 Die Räumlichkeiten der Bank mit ihren gewaltigen Ausmaßen  – sie nimmt die Fläche zwischen Nevskij prospekt, Mojka und ulica Gercena (dt.: Herzen-Straße) ein und erstreckt sich über mehrere Stockwerke –, die an ein Labyrinth erinnern, werden später, in phantasievoll verwandelter Form,301 293 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 27; Kalickaja: Iz vospominanij, 197 f.; Luker: Alexander Grin, 72; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 33. 294 Vgl. Kalickaja: Iz vospominanij, 198; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 50. 295 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Fandango. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 497–550, hier 510. Kürzel: FA; siehe dazu ausführlicher Kap. 4.3.2.3. 296 Vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 55–57; Pervova: Letopis’ žizni i tvorčestva. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 11.  297 Vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 57. 298 Milaševskij illustriert 1925 eine Reihe von Erzählungen Grins für die Zeitschrift »Krasnaja niva« (dt.: »Das rote Feld«) (vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 47). 299 Vgl. Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 518–520. 300 Vgl. Revjakina, A. A./Pervova, Ju. A.: Primečanija. In: Grin, Aleksandr S.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 697–730, hier 713. 301 Vgl. Kalickaja: Iz vospominanij, 199.

Vorstellung des Autors 

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zum Schauplatz phantastischer Ereignisse in Grins Erzählung »Krysolov« (1924). Darin heißt es: Едва покидал я одни двери, как видел уже впереди и по сторонам другие, ведущие в тусклый свет далей с еще более темными входами. На паркетах грязным снегом весенних дорог валялась бумага. Ее обилие напоминало картину расчистки сугробов.302

Während seines Aufenthalts im Dom iskusstv beginnt Grins Beziehung zu seiner späteren zweiten Frau, Nina Nikolaevna. Nach der Trennung von seiner ersten Ehefrau Vera Pavlovna hat Grin einige kürzere Beziehungen und Affären, aber keine davon verläuft glücklich.303 Im Herbst 1918 informiert Grin Vera Pavlovna darüber, dass er wieder verheiratet sei (die Beziehung zerbricht bereits zu Jahresende wieder), die genauen Umstände dieser Ehe bleiben aber ungeklärt. Vermutlich handelt es sich bei der Frau um Marija Dolidze, eine Bekannte von Grins altem Freund Kuprin, die Grin erst wenige Wochen zuvor getroffen hat.304 Auch die von Grin genannte Art der Verbindung wirft Fragen auf, denn höchstwahrscheinlich geht es nicht um eine offizielle Ehe; die Bezeichnung graždanskij brak 305 ist hier also nicht in der neueren Bedeutung als Zivilehe, sondern in der älteren als nichtregistrierte Partnerschaft zu verstehen. Dafür spricht erstens, dass die offizielle Scheidung von Vera Pavlovna erst 1920 stattfindet, zweitens, dass durch das Standesamt nur zwei Ehen, und zwar mit Vera und Nina, registriert sind.306

302 KR , 327. Dt.: »Kaum hatte ich eine Tür hinter mir gelassen, schon sah ich gegenüber und zu beiden Seiten andere Türen, die in eine trüb schimmernde Perspektive mit noch dunkleren Eingängen führten. Die Parkettböden waren mit Papier bedeckt wie eine Straße mit schmutzigem Schnee im Frühjahr. Die Menge des Papiers erinnerte an Schneewehen, die beim Straßenkehren umgewälzt werden.« (Grin, Alexander: Der Rattenfänger. Übersetzt von Wolfgang Bräuer und Edda Werfel. In: Ders.: Der Rattenfänger. Phantastische Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Lola Debüser. Frankfurt a. M. 1986, 71–111, hier 78. Kürzel: KRd). 303 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine. Avtograf. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 18, tetrad’ 2, l. 13. 304 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 36 f.; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Vision­ ary, 29; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 24. Sandler vermutet, dass die Frau Marija Alonkina ist; diese tritt aber erst später in Grins Leben (vgl. Sandler, Vladimir: Kak priplyli k nam ›Alye parusa‹. In: Krymskaja Pravda 7/I (1966), 4). 305 Z. B. bei Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 36. 306 Vgl. [o. V.]: Trudovaja knižka, zapis’ o brake s N. N. Korotkovoj (N. N. Grin), vydannaja otdelom ZAGS ispolkoma 2-go gorodskogo rajona Petrograda; svidetel’stvo o smerti (kopii) A. S. Grina 8 ijulja 1932 g., vydannoe otdelom ZAGS ispolkoma gorsoveta Starogo Kryma. [1921/1932]. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 164, l. 16; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 29.

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Nach seinem Einzug ins Dom iskusstv im Mai 1920 verliebt sich Grin in die siebzehnjährige Sekretärin der Institution, Marija Alonkina, doch der große Altersunterschied macht seine Hoffnungen von vornherein zunichte.307 Zu Inna Malkina, der Ehefrau seines Mitbewohners im Dom iskusstv, Vsevolod Roždestvenskij, hat Grin eine enge Beziehung, er liest ihr oft aus seinen Werken vor. Sie gesteht ihm ihre Liebe, doch zu einem richtigen Dreiecksverhältnis kommt es wohl nie, weil Grin ihre Gefühle nicht erwidert.308 Möglicherweise beeinflusst diese Konstellation trotzdem die oben erwähnten negativen Beschreibungen Grins durch Roždestvenskij.309 Nina Nikolaevna trifft Grin erstmals 1918 in der Redaktion der Zeitung »Petrogradskoe ėcho« (dt.: »Petrograder Echo«), wo er publiziert und sie arbeitet, und ein zweites Mal im Januar 1921 zufällig auf der Straße.310 Bereits Anfang März 1921 bei Ninas drittem Besuch in seinem Zimmer Dom iskusstv – wo noch ein Porträt Vera Pavlovnas hängt – bittet er sie, ihn zu heiraten. Sie stimmt zu, obwohl sie Grin nicht liebt und gerade die erste Zeit aufgrund der großen Unterschiede bezüglich Alter (Nina ist vierzehn Jahre jünger), Horizont und Angewohnheiten keineswegs konfliktfrei verläuft.311 Drei Tage nach dem Antrag zieht Nina zu ihm ins Dom iskusstv, im Mai wird die Ehe offiziell im ZAGS (dt.: Standesamt) registriert, wo Grin Nina ohne Vorankündigung hinführt.312 Einige Tage nach der Hochzeit mieten die beiden ein Zimmer auf

307 Vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 45; Luker: Introduction. An Adventure of his Soul, xvi. Vgl. hierzu auch Grins Briefe an Alonkina: Grin, Aleksandr S.: M. S. Alonkinoj [Pis’mo, Petrograd, leto 1920]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 29; Grin, Aleksandr S.: M. S. Alonkinoj [Pis’mo, Petrograd, ok. maja 1920 – maj 1921]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 30. 308 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 17 f.; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 46. 309 Die Abneigung scheint aber nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Als Roždestvenskij im März 1921 im Zusammenhang mit dem Aufstand in Kronstadt verhaftet wird, wendet sich Grin mit der Bitte, sich für diesen einzusetzen, an Gor’kij (vgl. Grin, Aleksandr S.: A. M. Gor’komu [Pis’mo, Petrograd, 9 marta 1921]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 30). Tatsächlich wird Roždestvenskij auf Gor’kijs Bemühungen hin freigelassen (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 70; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 39). 310 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 10; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 35. 311 Vgl. Pervova: Dver’ zakryta, lampa zažžena, 3. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 4, l. 1; Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 31. 312 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 20–22; Losev /  Jalovaja: Aleksandr Grin, 39 f.

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der Pantelejmonovskaja.313 Der Umzug ist notwendig, weil Grin bereits Anfang März 1921 einen Brief von Gor’kij in seiner Funktion als Vorsitzender des Komitees des Dom iskusstv, und von Zamjatin als dessen Sekretär, erhält, in dem er aufgefordert wird, innerhalb eines Monats eine neue Bleibe zu suchen, da sein wiederholt grobes Verhalten den Angestellten der Institution gegenüber nicht akzeptiert werden könne.314 Auch diese Information findet sich, wohl wegen des Widerspruchs zu dem verklärten Grin-Bild, nur selten in Darstellungen der Biographie des Schriftstellers. Den Sommer 1921 über halten sich Nina und Aleksandr weitgehend in Toksovo auf, einem etwa 40 Kilometer von Petrograd entfernt an der finnischen Grenze gelegenen Dorf, wo sie durch Jagen, Fischen und das Sammeln von Pilzen und Beeren dem Hunger in Petrograd entfliehen können.315 Nachdem Grin sich mit der Povest’ »Alye parusa«, die er kurz vor seinem Auszug aus dem Dom iskusstv im Frühjahr 1921 fertigstellt, bereits an einer längeren Prosaform versucht hat, beginnt er in Toksovo mit der Arbeit an seinem Roman über einen fliegenden Menschen, die sich aufgrund der Länge und Komplexität des Sujets als sehr schwierig gestaltet, sodass in diesem und dem nächsten Jahr wenig Zeit für andere Texte bleibt. Im Herbst, wieder zurück in Petrograd, erklärt er seinen ersten Versuch mit dem Titel »Dvojnaja zvezda« (dt.: »Doppelstern«) für gescheitert und beginnt mit dem Entwurf für den Roman »Blistajuščij mir« (1923; dt.: »Die funkelnde Welt«),316 in den Motive aus »Dvojnaja zvezda« eingehen.317 Im Sommer 1922 verbringt Grin etwa einen Monat zusammen mit Isaak Babel’ in Tbilisi, um Publikationsverträge mit der gerade erst gegründeten Zeitung »Zarja vostoka« (dt.: »Morgenrot des Ostens«) abzuschließen, die viele russische Schriftsteller zur Mitarbeit an ihrer alle zwei Wochen erscheinenden 313 Eine Begebenheit aus dieser Wohnung verarbeitet Grin in »Krysolov«: Eines Nachts stehen Čekisten vor der Türe und beschlagnahmen Gegenstände aus einem Schrank im Zimmer von Nina und Aleksandr, in dem die Vermieterin wertvolles Geschirr, Vasen und anderes aus der Sammlung der Fürstin Naryškina versteckt hat. Diese sind von der Regierung beschlagnahmt und in ein Museum gebracht – und dort von der Tochter der Vermieterin entwendet worden (vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 30 f.; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 92). In »Krysolov« lässt Grin seinen Protagonisten in der verlassenen Bank einen Schrank voller kulinarischer und anderer Schätze entdecken (vgl. KR , 332–334). 314 Vgl. Gor’kij, Maksim / Zamjatin, Evgenij: A. S. Grinu [Pis’mo, Petrograd, 8 marta 1921]. In: Luker, Nicholas J. L.: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary. Newtonville / Massachusetts 1980, 64. 315 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 23–30. 316 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Blistajuščij mir. Roman. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom četvërtyj. Alye parusa. Blistajuščij mir. Zolotaja cep’. Sokrovišče afrikanskich gor. Moskva 1994, 75–226. Kürzel: BM . 317 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 29; Luker: Introduction. Selected Short Stories, 21; Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 30.

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Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

Beilage für Kunst und Literatur einlädt – neben Babel’ und Grin z. B. auch Majakovskij und Sergej Esenin.318 1923 erscheinen die Povest’ »Alye parusa« und Grins erster Roman »Blistajuščij mir«. Von dem Honorar für den Roman unternehmen Grin und seine Frau im Frühjahr eine mehrwöchige Reise auf die Krim, unter anderem nach Sevastopol’, Balaklava, Jalta, Alupka und Gurzuf.319 Der Urlaub endet mit einer überstürzten Abreise über Moskau nach Petrograd in der allgemeinen Angst vor einem Kriegsausbruch infolge des Curzon-Memorandums.320 2.1.2.4

Feodosija und Staryj Krym

Aus dieser Reise erwächst der Wunsch nach einem dauerhaften Umzug aus dem von Kälte und Versorgungsnot geprägten Leben in Petrograd auf die Krim.321 Wie Nina Grin nach dem Tod ihres Mannes in einem wenig beachteten – und auch weder in ihre Memoiren322 noch in ihren Beitrag323 in dem von Sandler herausgegebenen Sammelband aufgenommenen  – Bericht mit dem Titel »Grin i vino« (dt.: »Grin und der Wein«) bekennt, liegt der eigentliche Grund für den geplanten Wohnortwechsel aber in Grins in diesem Jahr wieder einsetzendem starkem und unkontrolliertem Trinken – wofür er in seinem Bekanntenkreis bekannt und berüchtigt ist.324 Da das verbreitete Narrativ der Grin-Biographen – Nina Grin miteingeschlossen – jedoch die zweite Eheschließung des Schriftstellers als den Moment konstruiert, in dem 318 Vgl. Pervova: Letopis’ žizni i tvorčestva. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 10, l. 12; Sukiasova, Irina M.: Novoe ob Aleksandre Grine. In: Literaturnaja Gruzija 12 (dekabr’ 1968), 67–76, hier 67. In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 52–57ob., hier 53. 319 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 33; Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 45–49. 320 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 48. 321 Vgl. Luker: Alexander Grin, 94. 322 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki. 323 Vgl. Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine. 324 Vgl. Akvilev, Aleksej: Podruga volšebnika. 1983. In: Akvilev, A. A. »Dve vstreči s pisatelem Grinom« = »Dve vstreči s volšebnikom«, »Podruga volšebnika« i dr. vospominanija. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 1, l. 14–16, hier 15; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 38 f.; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 143. Auch auf der Krim trinkt Grin jedoch weiter, wenn auch nicht mehr ausschweifend in der Öffentlichkeit, sondern heimlich zu Hause, oft während seine Frau schläft (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 39; Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine. Avtograf. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 18, tetrad’ 3, l. 27ob.). Wie problematisch die Situation in Petrograd ist, zeigt ein Vorfall Anfang des Jahres 1924, bei dem Nina einen Herzanfall simuliert, um die ärztliche Empfehlung eines dringenden Ortswechsels zu erhalten und so ihren Mann aus dem Umfeld der Petrograder Bohème zu entfernen (vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 44). Im Oktober 1930 droht Nina wegen Grins Alkoholismus sogar ernsthaft mit der Scheidung (vgl. ebd., 71).

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der ruhelose Sonderling endlich seinen Platz im Leben gefunden hat, findet diese Information in der Regel keine Erwähnung. Bis zur Umsetzung der Umzugspläne vergeht allerdings noch ein weiteres Jahr, in dem Aleksandr und Nina zusammen mit Ninas verwitweter Mutter Ol’ga Mironova in einer Wohnung in Petrograd leben.325 In dieser Zeit fällt die Entscheidung für Feodosija als neuen Wohnort, da die Lebenshaltungskosten dort deutlich geringer sind als in den westlicheren Küstenstädten.326 Im Mai 1924 ziehen die drei schließlich nach Feodosija um – zunächst in ein Hotel, dann in ein Zimmer und im September schließlich in eine Wohnung in der ulica Galerejnaja (dt.: Galerejnaja-Straße),327 in der sich heute das Feodosijskij literaturno-memorial’nyj muzej A. S. Grina (dt.: Literatur- und Gedenkmuseum A. S. Grin Feodosija) befindet. Obwohl auch in diesen Jahren – wie fast immer in Grins gesamtem Leben – Geldsorgen ein ständiger Begleiter sind und die an die Geldleiher zu bezahlenden hohen Zinsen einen großen Teil der Honorare für verkaufte Werke sofort wieder ›auffressen‹, ermöglicht Grin die Aufnahme von Krediten dennoch eine relativ große finanzielle Flexibilität und damit, zusammen mit der Ruhe außerhalb der Großstadt, Raum für Kreativität und hohe literarische Produktivität.328 Während seiner Zeit in Feodosija publiziert Grin die Erzählbände »Serdce pustyni« (1924; dt.: »Das Herz der Wildnis«), »Na oblačnom beregu« (1925; dt.: »Am bewölkten Ufer«), »Gladiatory« (1925; dt.: »Gladiatoren«), »Istorija odnogo ubijstva« (1926; »Die Geschichte eines Mordes«) und »Šturman ›Četyrëch vetrov‹« (1926; dt.: »Der Steuermann der ›Vier Winde‹«). Er steht in Briefkontakt mit diversen Zeitungen und Zeitschriften in Moskau und Leningrad, in denen er zahlreiche Erzählungen veröffentlicht, und reist auch immer wieder dorthin, um Verträge abzuschließen und Honorare zu erhalten. 1928 gibt Grin in Moskau eine Lesung aus seinem Roman »Beguščaja po volnam« (1928; dt.: »Die über die Wellen läuft«)329 bei einem literarischen Abend des Literaturzirkels Nikitinskie subbotniki (dt.: Nikitin’sche Samstage).330

325 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 50–52. 326 Vgl. ebd., 55. 327 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 44–46. 328 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 39; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 47. 329 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Beguščaja po volnam. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pjatyj. Beguščaja po volnam. Džessi i Morgiana. Doroga nikuda. Romany. Moskva 1997, 5–186. Kürzel: BV. Der Titel der deutschen Übersetzung, »Wogengleiter« (vgl. Grin, Alexander: Wogengleiter. Phantastische Erzählung. Aus dem Russischen übersetzt von Hanns A. Windorf. Rudolstadt 1948. Kürzel: BVd), ist unglücklich gewählt, da sich der Name sowohl auf ein Schiff als auch auf eine geheimnisvolle Frauengestalt bezieht und daher, wie im Original, ein weibliches grammatikalisches Geschlecht haben sollte. 330 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 57.

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Dabei handelt es sich um einen der Romane, die Grin in Feodosija verfasst, nachdem er sich während der Arbeit an »Blistajuščij mir« unter großen Schwierigkeiten mit den Kompositionsprinzipien der Prosaform Roman vertraut gemacht hat. Innerhalb weniger Monate entstehen »Zolotaja cep’« (1925; dt.: »Die goldene Kette«)331 und im Anschluss, erneut mit einigen Problemen, der genannte Roman »Beguščaja po volnam« – allein für den Anfang dieses Werks schreibt Grin 40 verschiedene Entwürfe –, schließlich »Džessi i Morgiana« (1929; dt.: »Jessy und Morgiana«; zunächst entworfen unter dem Titel »Obvevaemyj cholm«; dt.: »Der umwehte Hügel«)332 und »Doroga nikuda« (zunächst entworfen unter dem Titel »Na tenevoj storone«; dt.: »Auf der Schattenseite«).333 Bereits Ende des Jahres 1924 wird Grin Mitglied im »Sojuz pisatelej« (dt.: »Schriftstellerverband«), 1926 dann in der regionalen »Sekcija naučnych rabotnikov Krymskogo otdela Sojuza rabotnikov prosveščenija SSSR« (dt.: »Sektion der Wissenschaftler der Krim-Abteilung des Verbands der Bildungsarbeiter der UdSSR«).334 Seit dem Umzug auf die Krim fahren Grin und seine Frau häufig nach Koktebel’, an die menschenleeren Orte Tichaja buchta (dt.: Stille Bucht) und Mërtvaja buchta (dt.: Tote Bucht),335 und sind dort auch mehrfach zu Gast bei Maksimilian Vološin,336 obwohl das Verhältnis zwischen ihm und Grin gerade anfangs schwierig ist.337 Aufgrund der großen Produktivität Grins ist es ihnen in diesen Jahren auch möglich, einige kleinere und größere Urlaube zu machen. Sie verbringen den Sommer 1925 in Otuzy (Ščebetovka) bei Koktebel’ – ihre Unterkunft auf einem Hügel bezeichnet Grin mit dem späteren Titel seines Romanentwurfs als »[н]аш обвеваемый холм«338 –, den Oktober 1926 in Staryj Krym, wohin sie einige Jahre später umziehen, ein paar Wochen im April 1927 in Jalta, den Frühsommer 1927, während des ersten starken Erdbebens dieses Jahres auf der Krim, im Kurort Kislovodsk im Kaukasus, sowie einige Wochen im Sommer 1928 in Toksovo und Otuzy.339 Diese erste Zeit auf 331 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Zolotaja cep’. Roman. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom četvërtyj. Alye parusa. Blistajuščij mir. Zolotaja cep’. Sokrovišče afrikanskich gor. Moskva 1994, 227–354. Kürzel: ZC . 332 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Džessi i Morgiana. Roman. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pjatyj. Beguščaja po volnam. Džessi i Morgiana. Doroga nikuda. Romany. Moskva 1997, 187–342. Kürzel: DM . 333 Vgl. Luker: Gold? A Transient, Shining Trouble, 62; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 40; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 45–49. 334 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 46 u. 51. 335 Vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 184. 336 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 48. 337 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 55 f. 338 Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 181. Dt.: »unser umwehter Hügel«. 339 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 47 f., 50, 53 f. u. 57 f.

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der Krim, die Grin als »очень тихая […] жизнь в Феодосии«340 beschreibt, bewerten sowohl der Autor als auch seine Frau als sehr glücklich.341 Es gibt sogar die Überlegung, einen Verwandten Ninas, Lev Mironov, zu adoptieren, weil sich seine Eltern kaum um ihn kümmern; der Vater des Jungen lehnt dies jedoch zu Grins großem Bedauern ab.342 Die verhältnismäßig unbeschwerte Zeit ist jedoch nicht von Dauer. Im Zuge des sich verändernden kulturpolitischen Klimas und des Erstarkens der »RAPP« (ab 1928 unter dem Dach der »VOAPP« (»Vsesojuznoe ob’’edinenie Associacij proletarskich pisatelej«; dt.: »Allunionsvereinigung der Assoziationen proletarischer Schriftsteller«) organisiert) ahnt Grin bereits 1926 die ihm bevorstehenden schweren Zeiten voraus, betont aber zugleich, seine Art zu schreiben nicht ändern zu wollen.343 Diese Haltung ist gleichbedeutend mit einer inneren Emigration.344 Ab Herbst 1927 machen sich die schwindenden Publikationsmöglichkeiten in Zeitungen und Zeitschriften für Grin deutlich bemerkbar.345 Denn die Verlage »требовали кохозно-фабричную [sic!] литературу, а А. С. не мог измениться«.346 Grins Werke entsprechen mehrheitlich nicht den Anforderungen der realistischen Darstellung zeitgenössischer, alltäglicher sozialistischer Themen, weshalb sie von den meisten Kritikern und vielen Verlagen abgelehnt werden (vgl. dazu ausführlicher Kap. 2.2.2). In einem Brief an Gor’kij vom 18. Oktober 1930 zitiert Grin voller Bitterkeit eine Mitteilung des »Torgovyj Sektor« (dt.: »Handelssektor«) an ihn: »Вы не хотите откликаться эпохе, и, в нашем лице, эпоха Вам мстит.«347 Ab 1929 – dem Jahr, in dem die RAPP ihre Dominanz vollständig etabliert, wenn auch nur für kurze Zeit – bedeutet diese Entwicklung für Grin und seine Frau zunehmende materielle Not.348 Grin fasst die Situation mit den Worten zusammen: »Мне во сто крат легче написать роман, чем протаскивать его через дантов ад издательств.«349 1930 werden weniger als zehn Texte Grins gedruckt, 1931 sogar nur noch fünf  – vier davon sind einzelne Kapitel aus 340 Grin: Kak ja živu i rabotaju. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 55, l. 1. Dt.: »das sehr stille […] Leben in Feodosija«. 341 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 6; Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 347. 342 Vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Okončanie. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 6, l. 59 f. 343 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 42 f.; vgl. dazu auch AbramovaKalickaja: Ob A. S. Grine. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 16, l. 10. 344 Vgl. Naumann: Grin’s Grinlandia, 239. 345 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 55. 346 Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine. Avtograf. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 18, tetrad’ 3, l. 25. Dt.: »forderten Kolchosen- und Fabrik-Literatur, aber A. S. konnte sich nicht ändern«. 347 Zit. nach Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 63. Dt.: »Sie wollen nicht auf den Ruf der Epoche antworten, und die Epoche, in Gestalt von uns, rächt sich an Ihnen.«. 348 Vgl. Luker: Alexander Grin, 114. 349 Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 374. Dt.: »Es ist für mich hundertmal leichter, einen Roman zu schreiben, als ihn durch die Dantesche Hölle der Verlage zu schleifen.«.

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Grins »Avtobiografičeskaja povest’«, die er lediglich aus der Not heraus verfasst.350 Zu dieser Zeit erfährt der Schriftsteller, dass seine Werke inoffiziell aus den Moskauer Bibliotheken entfernt werden.351 Ende des Jahres 1930 beginnt er mit der Arbeit an seinem letzten Roman, »Nedotroga« (dt.: ­»Mimose«), den er jedoch nie fertigstellt. Seine Schwierigkeiten beim Schreiben resultieren wohl auch aus dem Bewusstsein, dass das Werk ohnehin nicht gedruckt werden würde, da es den kulturpolitischen Forderungen der Zeit nicht entspricht.352 Hinzu kommt ein finanziell und emotional belastender Rechtsstreit. Im Februar 1927 schließt Grin mit dem Verleger Vol’fson des Leningrader Verlags Mysl’ einen Vertrag über die Publikation einer Gesamtausgabe seiner Werke in 15 Bänden ab, die innerhalb von drei Jahren erscheinen sollen. Es kommt jedoch zunächst zu einer Verzögerung aufgrund eines Verbots der Publikation durch den Glavlit (Glavnoe upravlenie po delam literatury i idzatel’stv; dt.: Hauptverwaltung für Literatur und Verlagswesen), dessen Aufhebung Grin im Oktober 1927 erreicht.353 Letztendlich werden dann nur acht der fünfzehn Bände veröffentlicht, wofür Grin lediglich einen Bruchteil der vereinbarten Summe von ca. 15 000 Rubel erhält. Grin entschließt sich daher, das Geld vor Gericht einzuklagen, was jedoch erst nach Ablauf der für die Publikation vereinbarten Dreijahresfrist möglich ist. Bis dahin wird die finanzielle Situation des Paars zunehmend verzweifelt. Erst im August 1930 wird der Fall vor Gericht verhandelt und Grin bekommt ein Drittel der ursprünglichen Summe zugesprochen, womit er zwar die in der Zwischenzeit angehäuften Schulden begleichen kann, doch danach bleibt nur noch wenig Geld übrig.354 Schon im April 1929 ziehen Aleksandr, Nina und Ninas Mutter Ol’ga aus finanziellen Gründen aus der Wohnung in der ulica Galerejnaja in eine kleinere Wohnung in Feodosija,355 im Februar 1930 schreibt Nina in einem Brief bereits von ständigem Hunger.356 Da auch nach dem Ende des Gerichtsverfahrens keine Aussicht auf Besserung der finanziellen Lage besteht, siedeln die drei im November 1930 nach Staryj Krym um, etwa 25 Kilometer im Landesinneren von Feodosija gelegen, da die Lebenshaltungskosten dort deutlich geringer sind.357 Die Idee dazu entsteht bereits im Sommer 1929, als Aleksandr und Nina einige Monate dort verbringen.358 Sie hoffen, mit der restlichen Summe 350 Vgl. ebd., 380; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 43 f. 351 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 74. 352 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 46. 353 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 54 f. 354 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 41 f. 355 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 61; Tarasenko: Dom Grina, 47. 356 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 65. 357 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 42. 358 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 47.

Vorstellung des Autors 

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des Verlags Mysl’ etwa ein Jahr lang die Kosten für Wohnung und Lebensmittel bestreiten zu können, doch die einsetzende Hungersnot auf der Krim führt zu stark steigenden Lebensmittelpreisen, sodass sie ab Sommer 1931 schweren Hunger leiden.359 Für Grin ist dies nur eine weitere Hungerperiode – »[м]ожно сказать, – под этим знаком прошла его жизнь«360 –, doch dieses Mal sind die Folgen fatal. Im August dieses Jahres beginnt Grins Krankheit, von der er sich nicht mehr erholt.361 Von einer durch den Hunger bereits in geschwächtem Zustand angetretenen Fahrt nach Moskau, um dort das Honorar für die Kapitel aus »Avtobiografičeskaja povest’« einzutreiben, kehrt er mit schwerer Tuberkulose zurück.362 Grin kommentiert diesen Umstand in einem Brief an Novikov selbstironisch mit den Worten, es handle sich dabei ja um die »традиционная болезнь ›русских писателей‹«,363 weshalb es sich für ihn als ›fremden Schriftsteller‹ eigentlich nicht schicke, daran zu erkranken. Grin bittet noch im selben Monat bei der Schriftstellerunion um eine Pension, da es ihm sein schlechter Gesundheitszustand kaum mehr erlaube zu arbeiten, erhält jedoch eine Absage.364 Ein daraufhin verfasster verzweifelter Brief an Gor’kij bleibt unbeantwortet.365 359 Vgl. Grin, Aleksandr S.: I. A. Novikovu [Pis’mo, Staryj Krym, 2 avgusta 1931]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 116–117, hier 117; Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 124 f.; Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 46. 360 Grin, N.: Vospominanija, zametki i nabroski. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 28, l. 41. Dt.: »man kann sagen, – unter diesem Zeichen verlief sein Leben«. 361 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 124. 362 Vgl. Kovskij, Vadim E.: ›Nastojaščaja, vnutrennjaja žizn’‹ (Psichologičeskij romantizm Aleksandra Grina). In: Ders.: Realisty i romantiki. Iz tvorčeskogo opyta russkoj sovetskoj klassiki. Valerij Brjusov, Vladimir Majakovskij, Aleksej Tolstoj, Aleksandr Grin, Kon­ stantin Paustovskij. Moskva 1990, 239–328, hier 242. 363 Grin, Aleksandr S.: I. A. Novikovu [Pis’mo, Staryj Krym, 27 avgusta 1931]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 121. Dt.: »traditionelle Krankheit der ›russischen Schriftsteller‹«. 364 Die Hungersnot auf der Krim ist in Moskau und Petersburg für manche nur ein unbestätigtes Gerücht, sodass ein Handeln nicht unmittelbar nötig erscheint. Zuev vom Verlag »Federacija« (dt.: »Föderation«) etwa erkundigt sich in einem Brief aus dem Juni 1931 bei Grin, ob dort tatsächlich Hunger herrsche (vgl. Zuev, A.: [Pis’mo Izdatel’stva »Federacija« A. S. Grinu, 8 ijunja 1931]. In: Pis’ma k A. Grinu. Izdatel’stvo »Federacija«. 1929–1931. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 155, l. 10–10ob., hier 10ob.). 365 Vgl. Grin, Aleksandr S.: A. M. Gor’komu [Pis’mo, Staryj Krym, 17 sentjabrja 1931]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 123. Am 1. Juli 1932 erhält Grin schließlich doch eine Pensionszusage der Schriftstellerunion – eine Woche vor seinem Tod (vgl. Luker: Introduction. An Adventure of his Soul, xviii; Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 79).

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Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

Im Oktober 1931 scheint der Schriftsteller sich noch einmal ein wenig zu erholen,366 doch der Schein trügt: Grin verbringt den ganzen Winter 1931/1932 fast vollständig im Bett, im März verschlechtert sich sein Zustand so stark, dass er nicht mehr aufstehen kann. Nina wendet sich mit der Bitte um Unterstützung erneut an die Schriftstellerunion und erhält die Antwort, dass ein Platz im Sanatorium in Jalta für Grin organisiert werden könne – doch nichts geschieht.367 Nachdem sie zur Beschaffung von Lebensmitteln und Medikamenten bereits die meisten Besitztümer verkauft hat,368 tauscht Nina im Juni 1932 den letzten wertvollen Besitz, eine Uhr, gegen ein Häuschen in Staryj Krym, um ihrem Mann den Wunsch nach einem Zimmer mit Fenster nach Süden zu erfüllen.369 In diesem Haus in der ulica Libknechta (dt.: LiebknechtStraße)  befindet sich heute das kleine Dom-muzej A. S. Grina (A. S. Grin-­ Museum) in Staryj Krym. Obwohl dieser letzte Umzug eine positive Wirkung auf Grins Stimmung hat, baut er körperlich immer weiter ab. Nach unterschiedlichen Diagnosen von verschiedenen Ärzten  – neben Tuberkulose auch Anämie, rheumatisches Fieber und nervliche Erschöpfung  – wird Ende Juni 1932 schließlich Magenkrebs festgestellt: weit fortgeschritten und inoperabel.370 Nur eine gute Woche später, am 8. Juli 1932, stirbt Aleksandr Grin in Staryj Krym.371 Zu seiner Beerdigung kommen etwa 200 Personen, darunter viele Leser – doch kein einziger seiner Schriftstellerkollegen,372 obwohl Nina Grin bereits im Juni Vološin bittet, Grins Freunde über seinen bevorstehenden Tod zu in­ formieren.373 Der Tod des Schriftstellers bleibt, trotz Grins wachsender Bekanntheit im letzten Jahrzehnt, von der Öffentlichkeit fast vollständig unbeachtet.374 Paustovskij schreibt wenige Jahre später über Grins einsamen Tod in »Čërnoe more« (dt.: »Das Schwarze Meer«): »Этот писатель – бесконечно одинокий и не услышанный в раскатах революционных лет  – сильно тосковал перед смертью о людях. […] Но было поздно. Никто не успел

366 Vgl. Grin, Aleksandr S.: I. A. Novikovu [Pis’mo, Staryj Krym, 12 oktjabrja 1931]. In: Ders.: Ja pišu vam vsju pravdu. Pis’ma 1906–1932 godov. Sostavlenie, podgotovka tekstov Ljudmily Varlamovoj i Natal’i Jalovoj. Moskva, Feodosija 2012, 124–125, hier 124. 367 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 48. 368 Vgl. ebd., 47. 369 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 54 f. Ninas Mutter Ol’ga Mironova zieht im Sommer 1931 in eine andere Wohnung in Staryj Krym (vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 74). 370 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 48 f. Andere Quellen nennen auch oder nur Lungenkrebs (vgl. z. B. Kozlova, Aleksandr Stepanovič Grin, 581; Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 80). 371 Vgl. Luker: Introduction. Selected Short Stories, 25. 372 Vgl. Kovskij: Nastojaščaja, vnutrennjaja žizn’, 243. 373 Vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 78. 374 Vgl. Dmitrevskij: V cëm volšebstvo, 387.

Die Rezeption Aleksandr Grins 

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приехать […].«375 Die Todesanzeigen in der »Literaturnaja gazeta« (dt.: »Lite­raturzeitung«), die von Nina Grin verfasste in der »Krasnaja gazeta« (dt.: »Rote Zeitung«) und die des »Vserossijskij sojuz Sovetskich pisatelej« (dt.: »Allrussischer Verband Sowjetischer Schriftsteller«) in der »Izvestija« (dt.: »Nachrichten«) sind allesamt sehr knapp und nüchtern gehalten.376 Die Geschichte Grins ist mit seinem Tod jedoch keineswegs zu Ende: Zwei Jahrzehnte nach dem Ende seines Lebens erreicht Grin in der Sowjetunion eine Popularität, wie er sie zu Lebzeiten nie kannte. Die Rezeption des Autors und seiner Werke ist Gegenstand des nächsten Kapitels.

2.2

Die Rezeption Aleksandr Grins »Sa carrière d’écrivain s’est déroulée presque toute entière dans un climat d’incompréhension […]«. Claude Frioux377

Die Rezeptionsgeschichte Aleksandr Grins ist äußerst wechselhaft. In einer Hinsicht jedoch scheint sich die Mehrzahl der Literaturkritiker und -wissenschaftler, unabhängig von politischen Ansichten und davon, ob zu Grins Lebzeiten oder danach schreibend, einig zu sein: Der Schriftsteller gilt, worauf bereits hingewiesen wurde, als Fremder in der russischen Literatur und Kultur,

375 Paustovskij, Konstantin: Čërnoe more. Povest’. In: Ders.: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach. Tom vtoroj. Romany i povesti. Moskva 1967, 7–191, hier 172. Dt.: »Dieser Schriftsteller – unendlich einsam und ungehört im Grollen der Revolutionsjahre – sehnte sich vor seinem Tod stark nach Menschen. […] Aber es war zu spät. Niemand schaffte es zu kommen […].«. 376 Vgl. [o. V.]: [Izveščenie o smerti A. S. Grina], 4. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 215, l. 6; [Grin, Nina N.]: [Izveščenie o smerti A. S. Grina]. In: Krasnaja gazeta 165/4327 (17 ijulja 1932), 4. In: Vyrezki iz gazet i žurnalov. A. S. Grin. »Brak Avgusta Ėsborna«, »Zmeja«, [»Kvity«], »Krasnye bryzgi«, »Majatnik vesny«, [»Obez’jana«], »Pobeditel’«, »Proisšestvie v kvartire g-ži Seriz«, »Sostjazanie v Lisse«, [»Tri čeloveka«], »Trupy«, »Ubijstvo v rybnoj lavke«. Rasskazy. Na russkom i nemeckom jazykach. Saks, Gans. »Vstreči avtora so svoim geroem«. Zametka. Izveščenija o smerti A. S. Grina. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 215, l. 9–10, hier 10; [Vserossijskij sojuz Sovetskich pisatelej]: [Izveščenie o smerti A. S. Grina]. In: Izvestija 200/4767 (21 ijulja 1932), 4. In: Vyrezki iz gazet i žurnalov. A. S. Grin. »Brak Avgusta Ėsborna«, »Zmeja«, [»Kvity«], »Krasnye bryzgi«, »Majatnik vesny«, [»Obez’jana«], »Pobeditel’«, »Proisšestvie v kvartire g-ži Seriz«, »Sostjazanie v Lisse«, [»Tri čeloveka«], »Trupy«, »Ubijstvo v rybnoj lavke«. Rasskazy. Na russkom i nemeckom jazykach. Saks, Gans. »Vstreči avtora so svoim geroem«. Zametka. Izveščenija o smerti A. S. Grina. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 215, l. 11–12, hier 12. 377 Frioux: Alexandre Grin, 81.

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Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

was vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, mit den ›unrussischen‹ Schauplätzen vieler seiner Werke begründet wird.378 Bereits 1910, in einer der allerersten Rezensionen zu Grin, weist Gornfel’d auf dessen ungewöhnliche Aneignung des Fremden hin: »Чужіе люди ему свои, далекія страны ему близки […]«379 und untersucht die Beziehung seiner Werke zu denen von Bret Harte, Kipling und Poe.380 Der Verfasser eines Artikels zu Grin von 1915 merkt, ebenfalls mit Blick auf westliche Vorbilder, an, dass »кто-то весьма зло назвал Ал[ександ]ра Грина ›Эдгаром По для бедных‹«,381 widerspricht dem aber mit der Einschätzung: »[У] Грина […] столько странной манеры, а истине странной […]«,382 dass selbst Poe ihn hätte beneiden können. In ähnlicher Weise wird in einer ein Jahr zuvor erschienenen Rezension auf die starke Ähnlichkeit zu einem anderen westlichen Schriftsteller hingewiesen – »думают многие […], что Грин – отраженный Джек Лондон«383 –, nur um diese Behauptung ebenfalls mit dem Hinweis auf eine bei Grin stärker bzw. früher ausgeprägte Fremdheit, hier hinsichtlich der Schauplätze, zu widerlegen: »Его […] фантазия гораздо раньше проложила путь в область экзотики, чем проза клондайского американца.«384 Zusätzlich zu diesen häufigen Referenzen auf westliche Schriftstellern kommt es, da Grins Bekanntheit bis zu seiner Wiederentdeckung zwei Jahrzehnte nach seinem Tod begrenzt bleibt, auch immer wieder vor, dass seine Werke von Kritikern für Übersetzungen aus dem Englischen gehalten werden, z. B. in einer Rezension zum Sammelband »Proliv bur’« von 1913, in Frids Besprechung von »Gladiatory« von 1926 oder von Levidov in seinem Artikel zu Grin aus dem Jahr 1935.385 378 Zum Zusammenhang zwischen der Darstellung des Fremden bei Grin und der Betonung seiner Fremdheit durch die Literaturkritik und -wissenschaft vgl. auch Bachmaier, Annelie: Das Fremde (in) der Prosa Aleksandr Grins und seine Bedeutung für Grins Rezeption. In: Weigl, Anna / Nübler, Norbert / Naumann, Kristina / Völkel-Bill, Miriam (Hg.): Junge Slavistik im Dialog V. Beiträge zur X. Slavistischen Studentenkonferenz. Hamburg 2016, 19–33. 379 Gornfel’d: A. S. Grin. Rasskazy, 145. FLMMG , n / v 4710, l. 1. Dt.: »Fremde Menschen sind ihm eigen, ferne Länder sind ihm nah […]«. 380 Vgl. ebd., 146, l. 2. 381 N. L.: O Grine. In: Stolica i usad’ba 47 (1915). [Abschrift des Originals]. FLMMG , n / v 2906, l. 1. Dt.: »jemand Al[eksand]r Grin überaus boshaft ›Edgar [Allan] Poe für Arme‹ nannte«. 382 Ebd. Dt.: »[Bei] Grin gibt es […] so viel seltsamen Stil, und zwar wahrhaftig seltsamen […]«. 383 M. K.: [Recenzija na knigu:] Aleksandr Grin. Pozornyj stolb. In: Utro Rossii 32 (8 fevralja 1914). [Abschrift des Originals]. FLMMG , n / v 2895, l. 1. Dt.: »viele denken […], dass Grin ein Abbild von Jack London ist«. 384 Ebd. Dt.: »Seine […] Fantasie bahnte sich viel früher einen Weg in die Sphäre der Exotik als die Prosa des Klondike-Amerikaners.«. 385 Vgl. N.: [Recenzija na knigu:] Grin A. Proliv bur’ (SPb., 1913). In: Sovremennyj mir 6 (1913), 273–274, hier 274; Frid, Ja. V.: [Recenzija na knigu:] Grin A. Gladiatory (M., 1925).

Die Rezeption Aleksandr Grins 

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Auch seit dem Beginn der intensiven Rezeption Grins ab 1956 wird in der Sekundärliteratur immer wieder auf seine Fremdheit, Ungewöhnlichkeit oder Eigentümlichkeit hingewiesen. Kovskij beispielsweise betont die »экзотичность[…] обстановки действия«,386 Tarasenko erwähnt »[п]о-гриновски необычны[е], ›иностранны[е]‹ имена героев«,387 ­Voronova zieht eine Parallele zwischen Grins Werken und seinem Charakter: »Необычны были для русской литературы герои Грина  – необычен был и он сам […]«,388 Novosëlova nennt seine Werke »странные и прекрасные книги«389 und Slonimskij bezeichnet ihn als »кажущийся нерусским писатель«390 – um nur ein paar von schier unzähligen Beispielen anzuführen. Aufgrund dieser im Verlauf der gesamten Rezeptionsgeschichte konstatierten Fremdheit Grins (mit verschiedenen Bedeutungsnuancen) wird ihm ein Sonderplatz in der russischen bzw. sowjetischen Literatur zugewiesen. Bereits zu Lebzeiten Grins drückt einer seiner Leser in einem Brief an den Autor dessen »совершенно особое место«391 metaphorisch aus: »Да, Вы стоите особняком.«392 Dieselbe Metapher findet sich bei Kovskij, der konstatiert: »В истории советской литературы Грин стоит особняком«.393 Ähnlich heißt es bei Polevoj: »Александр Грин – одно из самых своеобразных имен в советской литратуре.«394 Ebenso betonen Ščeglov, Kobzev und Man’kovskij die Einzigartigkeit Grins in der russischen Literatur.395 In: Novyj mir 1 (1926), 187–188, hier 187; Levidov, M. Ju.: Geroičeskoe…. In: Literatur­ naja gazeta 9 (15 fevralja 1935), 3. Vgl. dazu auch Luker: Alexander Grin. A Survey, 341. 386 Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 7. Dt.: »Exotik der Atmosphäre der Handlung«. 387 Tarasenko: Dom Grina, 38. Dt.: »in Grin’scher Art ungewöhnliche, ›ausländische‹ Namen der Helden«. 388 Voronova: Poėzija mečty, 144. Dt.: »Ungewöhnlich waren für die russische Literatur die Helden Grins – ungewöhnlich war auch er selbst.«. 389 Novosëlova, M. N. (Hg.): A. S. Grin. Pamjatka dlja čitatelej 6–8 klassov. Kirov 1970. In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 58–63ob., hier 61. Dt.: »merkwürdige und wunderschöne Bücher«. 390 Slonimskij: Aleksandr Grin real’nyj i fantastičeskij, 267. Dt.: »nicht-russisch scheinender Schriftsteller«. 391 Daševskij, M.: [Pis’mo k A. Grinu, 8 nojabrja 1928, Tomsk]. In: Pis’ma k A. S. Grinu. Pis’ma čitatelej k A. S. Grinu. M. Godaskina, M. Daševskogo, B. Koblova, S. Levina, V. Leont’eva i. dr. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 159, l. 2–2ob., hier 2. Dt.: »gänzlich speziellen Platz«. 392 Ebd. Dt.: »Ja, Sie stehen abseits [wörtl.: als alleinstehendes Haus]«. 393 Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 6. Dt.: »In der Geschichte der sowjetischen Literatur steht Grin abseits [wörtl.: als alleinstehendes Haus].«. 394 Polevoj, Boris: Korotkaja vstreča s Aleksandrom Grinom. In: Ogonëk 42 (oktjabr’ 1966). In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 11–13, hier 12. Dt.: »Aleksandr Grin – einer der eigentümlichsten Namen in der sowjetischen Literatur.«. 395 Vgl. Ščeglov, Mark: Korabli Aleksandra Grina. In: Novyj mir 10 (1956), 220–223, hier 221; Kobzev, M.: Evoljucija krytyčnoï dumky pro tvorčist’ Oleksandra Hrina. In: Zbitno-

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Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

Auch in westlichen Publikationen findet sich immer wieder der Hinweis auf die Fremdheit des Schriftstellers. Zavalishin etwa spricht in Bezug auf seine Werke von einer »anomaly in Soviet literature«396 und Struve bezeichnet den Autor als »›westerner‹ [who] […] seems to have had almost no ties with the Russian literary tradition«.397 Luker führt diese Alienität noch einmal explizit auf die fremden Schauplätze zurück, welche seiner Einschätzung nach mehr als alles andere dazu beigetragen haben, »to create the curiously attractive yet elusive aura of ›foreignness‹ around his name«.398 Auch an anderer Stelle betont er die »vividly ›foreign‹ […] quality of so much of Grin’s writing«399 und nennt ihn »one of Russian literature’s most fascinating oddities […] and an utter exotic in his time«.400 Wie unterschiedlich die Bewertung von Grins Schaffen trotz dieser übereinstimmenden Einschätzungen Grins und seines Werks als fremd ausfällt – und zwar oftmals gerade wegen dieser bzw. in Bezug auf diese Fremdheit –, wird im Folgenden herausgearbeitet. Die Rezeptionsgeschichte Aleksandr Grins in Russland bzw. der Sowjet­ union (und ihren Nachfolgestaaten) lässt sich in fünf Phasen einteilen, die naturgemäß nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind, aber dennoch grundsätzliche Tendenzen abbilden:401 Von Beginn seiner Schriftsteller­ naukova konferencija kafedr instytutu. Tezy dopovidi (15–17 ljutoho 1967). Humanitarni nauki. Kyïv 1967, 132–134, hier 133; Man’kovskij, B. A.: Dvadcat’ let iz žizni Aleksandra Grina. Biografičeskaja chronika. Ėpilog. Mašinopis’ s pravkoj i pometkami Pervovoj Ju. A. i dr. 1978. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 7, l. 32. 396 Zavalishin: Early Soviet Writers, 311. 397 Struve: Russian Literature under Lenin and Stalin, 150. 398 Luker: Alexander Grin’s Grinlandia, 191. 399 Luker: Introduction. An Adventure of his Soul, xi. 400 Ebd.; vgl. dazu auch Luker: Grinlandia in Embryo, 195 u. 204. 401 In einem Artikel, der speziell der Entwicklung der Haltung der Literaturkritik gegenüber Grin gewidmet ist, teilt Kobzev diese in vier Phasen ein: 1) vor der Revolution von 1917, 2) 1920er und 1930er Jahre, 3) 1950er Jahre, sowie 4) die Zeit danach (vgl. Kobzev: Evoljucija krytyčnoï dumky, 132). Diese Einteilung erscheint aus mehreren Gründen unzutreffend: Zum Ersten gibt es sowohl vor als auch nach der Revolution positive und negative Kritiken zu Grin, ein Einschnitt in Form einer merklichen Wandlung der Kritikermeinungen ab oder gar mit dem Jahr 1917 ist nicht festzustellen; erst ab Mitte der 1920er Jahre zeichnet sich in dieser Hinsicht eine Veränderung ab. Die Behauptung einer solchen Zäsur ist wohl vor allem auf ideologische Gründe zurückzuführen, die eine Unterscheidung in die vor- und nachrevolutionäre Zeit gleichsam unausweichlich machen. (Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht die Ausführungen Kovskijs, der im selben Zusammenhang ebenfalls eine Unterscheidung zwischen der Zeit vor und nach der Revolution trifft, nur um zugleich anzumerken, dass die oft geringschätzige Haltung der Kritiker vor 1917 auch danach bestehen bleibt, sich also im Grunde nichts ändert (vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 3).) Zum Zweiten wird der tatsächlich vorhandene Einschnitt, den die politisch motivierten Angriffe auf Grin und seine Werke ab Mitte der 1920er Jahre darstellen, durch die für die zweite Phase gewählte Zeitspanne gänzlich

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karriere bis etwa Mitte der 1920er Jahre erfreut sich Grin zwar zunehmender Beliebtheit bei den Lesern (und damit auch bei einigen Verlagen), die Literaturkritik bringt ihm jedoch relativ wenig Aufmerksamkeit entgegen und bewertet seine Werke zudem durchgängig sehr ambivalent. Die zweite Phase setzt mit dem Wandel des kulturpolitischen Klimas in der Sowjetunion in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ein, zeichnet sich durch ideologisch begründete negative Bewertungen aus und dauert bis zum Tod des Autors 1932, nach dem er für einige Jahre von der sowjetischen Literaturkritik weitgehend vergessen wird. Während dieser dritten Phase, in den 1930er Jahren bis etwa Mitte der 1940er Jahre, entdecken vor allem Schriftstellerkollegen und / oder Weggefährten die Qualität seiner Werke und veröffentlichen Erinnerungen und literaturkritische bzw. -wissenschaftliche Artikel zu Grin. Anfang der 1940er Jahre setzt jedoch bereits die vierte Phase ein, die von wenigen, aber umso heftigeren, ideologisch motivierten Angriffen durch stalinistische Kritiker geprägt ist und bis Anfang der 1950er Jahre dauert. Mit dem Ende des Stalinismus setzt in der Sowjetunion schließlich eine (Wieder-)Entdeckung des Autors und seiner Texte durch Leser und Literaturwissenschaft ein, die ab Mitte der 1960er bis in die 1980er Jahre hinein in eine wahrhaftige Grinomanija (dt.: GrinManie) mündet. Das in dieser Zeit geprägte und stark ideologisch beeinflusste Bild Grins und seines Gesamtwerks besteht weitgehend unverändert bis heute fort. Aus diesem Grund wird in der folgenden Darstellung der letzten Phase am meisten Raum gegeben. 2.2.1

Erste Phase (1910 – Mitte der 1920er Jahre): Ambivalente Bewertungen

In der Sekundärliteratur zu Grin findet sich häufig der Hinweis auf die geringe Aufmerksamkeit und Wertschätzung Grins durch die Literaturkritik zu Lebzeiten. Entscheidende Gründe für die Nichtbeachtung Grins liegen in der Ungewöhnlichkeit und Widersprüchlichkeit402 von Grins Werken403 sowie der Unmöglichkeit, ihn einer der in dieser Zeit in Russland vorherrschenden ignoriert. Die Einteilung der Phasen drei und vier schließlich widerlegt Kobzev in seinen Ausführungen selbst, indem er als Wendepunkt von einer negativen zu einer positiven Haltung gegenüber Grin – korrekterweise – das Jahr 1956 nennt (vgl. Kobzev: Evoljucija krytyčnoï dumky, 133). 402 Vgl. dazu etwa eine zirkulierende Notiz des Literaturbüros zu Grins Sammelband »Rasskazy«: »[…] это настоящий и весьма оригинальный художник, но полный самых глубоких противоречий.« (zit. nach Vojtolovskij, L.: Literaturnye siluėty. A. Grin. In: Kievskaja mysl’ 172 (24 ijunja 1910). [Abschrift des Originals]. FLMMG , n / v 2868, l. 1. Dt.: »[…] das ist ein wahrer und äußerst origineller Künstler, aber voller tiefster Widersprüche.«). 403 Vgl. Vojtolovskij: Literaturnye siluėty. FLMMG , n / v 2868, l. 1; Grin, Aleksandr Stepanovich. New Encyclopædia Britannica, 504.

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literarischen Strömung wie dem Symbolismus, Akmeismus oder Futurismus zuzuordnen.404 Angesichts dessen ziehen es viele Kritiker vor, sich gar nicht erst über ihn zu äußern; andere beschränken sich auf eine ablehnende 404 Dies bedeutet allerdings nicht, dass nicht immer wieder Gemeinsamkeiten von Grins Litera­tur mit dem Symbolismus, Akmeismus und sogar Futurismus betont werden, welche durchaus vorhanden sind. Für Frioux besteht die Gemeinsamkeit Grins mit dem Symbolismus in der Präsenz verschiedener Bedeutungsebenen in seinen Werken (vgl. F ­ rioux: Sur deux romans, 551). Zudem verweist er auf die herausragende Rolle des Symbols in Grins Schreiben (vgl. ebd., 558). Kovskij schließt sich dieser Sichtweise an, widerspricht Frioux aber hinsichtlich dessen faktischer Identifikation des Symbolismus mit Grins Methode, da bei diesem das Symbol nie selbstzielig und erst recht nicht mit mystischem Charakter auftrete. Dennoch betont er die Häufigkeit, mit der das Fantastische auf der Ebene des Symbols in Grins Werk präsent ist. In der scheinbar mühelosen Verbindung von Realem und Wunderbarem (Übernatürlichem) erkennt Kovskij außerdem eine Gemeinsamkeit mit Blok (vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 49–52). Saprygina sieht eine Parallele zwischen Grin und den Symbolisten in ihrer geistigen und ästhetischen Suche (vgl. Saprygina, Nina: Obraz poėta-sovremennika v rasskaze A. Grina ›Iskatel’ priključenij‹. In: Nenada, Alla (Hg.): Aleksandr Grin: žizn’, ličnost’, tvorčestvo. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2010, 26–30, hier 26). Martowicz nennt die bei Grin häufig anzutreffenden romantischen Elemente wie Einsamkeit oder Unheimlichkeit als Übereinstimmung mit den Symbolisten, weist aber wie Kovskij und in Anschluss an Litwinow auf Grins von ihnen abweichendes Verständnis der Bedeutung des Symbols sowie der Rolle des Dichters als theurgischer Schöpfer hin (vgl. Martowicz: The Work of Aleksandr Grin, 12). Litwinow konstatiert: »Różnica ­polega na tym, że symbolika Grina […] wynika jednoznacznie z całości konstrukcji świata przedstawionego. Jest na swój sposób aintelektualna […]« (Litwinow: Proza Aleksandra Grina, 69. Dt.: »Der Unterschied besteht darin, dass die Symbolik Grins […] eindeutig aus der Ganzheit der Konstruktion der dargestellten Welt entspringt. Sie ist in ihrer Art aintellektuell.«); dies sei darin begründet, dass bei Grin die Einbettung des Symbols in religiöse, philosophische oder kulturelle Bezüge wie bei den Symbolisten fehle (vgl. ebd., 70). In einem Grin zeitgenössischen Artikel weist Savinič auf einen weiteren großen Unterschied zwischen Grin und den Symbolisten hin: Bei Ersterem stehe der Wille des Menschen im Mittelpunkt, bei Letzteren dagegen die Willenlosigkeit (russ.: bezvolie) (vgl. Savinič, B.: Literaturnye tečenija. A. S. Grin. In: Utro Rossii 112 (1915). [Abschrift des Originals]. FLMMG , n / v 2910, l. 3). Kovskij sieht darüber hinaus Ähnlichkeiten von Grins Gestaltung seiner Romantik mit der akmeistischen Poesie (vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 19 f.). Beispielsweise erscheinen ihm zufolge Grins ausgefeilte Darstellungen seiner fiktiven Schauplätze zumindest auf den ersten Blick wie akmeistische Beschreibungen (vgl. ebd., 22). Diese Einschätzung wird von Zavalishin geteilt, der über Grin schreibt: »He is something of an Acmeist in prose.« (Zavalishin: Early Soviet Writers, 311). Frioux nennt Elemente des Prähistorischen und des ›Barbarischen‹ als Einflüsse aus dem Akmeismus, aber auch aus dem Futurismus, und bringt Grins Schaffung fremdklingender Phantasienamen mit den zaum’-Sprachexperimenten (dt.: transmentale Sprache) des Futurismus in Verbindung (vgl. Frioux: Sur deux romans, 551). Eine ausführliche Untersuchung der Beziehung Grins zu den drei großen Strömungen des Silbernen Zeitalters der russischen Literatur existiert bislang noch nicht, stellt aber zweifellos ein lohnenswertes Unternehmen dar, das im Rahmen dieser Studie jedoch nicht geleistet werden kann.

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Haltung und / oder schablonenhafte Betrachtung, auf die unten genauer eingegangen wird. Zwar ist das Echo von Seiten der Kritiker im Vergleich zu der Hochphase der Rezeption Grins in den 1960 bis 1980er Jahren tatsächlich fast schon verschwindend gering, von einem vollständigen Ignorieren des Autors kann aber trotzdem nicht die Rede sein. In den knapp 25 Jahren zwischen der Veröffentlichung des ersten Sammelbands Grins »Šapka nevidimka« 1908 und dem Tod des Autors 1932 erscheinen etwa 70 Rezensionen, Artikel und Kommentare zu Grin. Die geringe Anerkennung ist dagegen, trotz durchaus vorhandener positiver Stimmen, insgesamt zu bestätigen. Grin selbst merkt Mitte der 1920er Jahre gegenüber dem Prosaschriftsteller Vladimir Lidin an: »А знаете ли вы, что критика меня всегда просто не замечала… одни считали даже, что я иностранный писатель, а другие, что я передираю у иностранцев.«405 Dass es sich dabei nicht nur um eine subjektive Wahrnehmung handelt, zeigt eine Reihe übereinstimmender Aussagen von Zeitgenossen. Der Kritiker Gornfel’d stellt in einer Rezension von 1917 mit Bedauern fest: »[…] онъ мало оцѣненъ […]«406 und formuliert abschließend die Forderung, dass »[…] произведенія его должны найти цѣнителей въ литературѣ.«.407 Ähnlich äußern sich Grins Unterstützer Maksim Gor’kij, der in einem Brief an Nikolaj Aseev vom 5. März 1928 aus Sorrent schreibt: »Грин талантлив, очень интересен, жаль, что его так мало ценят«,408 und der Kritiker Loks kurz nach Grins Tod: »Критикой он не был оценен в достаточной степени […]«.409 Auch im Rückblick stimmen Grin-Forschung und Grin-Bewunderer in dieser Hinsicht mit zeitgenössischen Aussagen überein. Oleša etwa konstatiert: »Его недооценили.«410, der wichtigste westliche Grin-Forscher Luker schreibt, Grin sei »[u]nrecognised throughout his life by the majority of critics and most 405 Zit. nach Lidin: Ljudi i vstreči, 165. Dt.: »Und wissen Sie, dass die Kritik mich immer einfach nicht bemerkte… manche meinten sogar, dass ich ein ausländischer Schriftsteller sei, und andere, dass ich bei Ausländern kopiere.«. 406 Gornfel’d: Iskatel’ priključenij, 280. FLMMG , n / v 4711, l. 2. Dt.: »[…] er wird wenig geschätzt […]«. In seinem Aufsatz von 1923 wiederholt Gornfel’d diese Aussage: »Грина мало знают и мало ценят.« (Gornfel’d: A. S. Grin. FLMMG , n / v 7444, l. 11. Dt.: »Man kennt und schätzt Grin wenig.«). 407 Gornfel’d: Iskatel’ priključenij, 282. FLMMG , n / v 4711, l. 4. Dt.: »[…] seine Werke müssen Leute in der Literatur finden, die sie schätzen.«. 408 Zit. nach Michajlova: Aleksandr Grin, 16. Dt.: »Grin ist talentiert, sehr interessant, schade, dass man ihn so wenig schätzt.«. 409 Loks, Konstantin G.: A. S. Grin. [ok. 1932]. In: Stat’i o žizni, tvorčestve i smerti Grina Aleksandra Stepanoviča  – pisatelej Borisova Leonida Il’iča, Kulešova Aleksandra Aleksandroviča, Loksa Konstantina Grigor’eviča i Šepelenko D. Avtograf, mašinopis’ i pečati. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 14, l. 10–12ob., hier 10. Dt.: »Von der Kritik wurde er nicht genügend geschätzt.«. 410 Oleša: Pisatel’-unik, 315. Dt.: »Er wurde unterschätzt.«.

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contemporary writers«411 und Rossel’s resümiert: »[…] путь Грина отмечен в критике длительными полосами пренебрежения и непризнания«.412 Die oftmals ablehnenden Kritiken führt er ebenfalls auf die Ungewöhnlichkeit von Grins Werken zurück: »Его творчество будоражило, беспокоило, а иных критиков раздражало и злило.«413 Schon unter den frühesten Rezensionen finden sich sehr negative Bewertun­ gen. Koltonovskaja etwa beschreibt Grins Werke 1912 als Prosa »во вкусе примитивного, уже отжившего импрессионизма«.414 Ebenfalls sehr ablehnend fällt die Kritik von Kranichfel’d zu »Ostrov Reno«, »Okno v lesu« und »Šturman ›Četyrëch vetrov‹« (1909; dt.: »Der Steuermann der ›Vier Winde‹«)415 aus.416 Savinič nennt Grin in einer Rezension von 1915 einen zweitrangigen Schriftsteller, der zu Recht mehr Aufmerksamkeit von den Lesern als von den Kritikern erhalte.417 In dem Artikel genannte Kritikpunkte sind zahlreiche Übertreibungen, unwahrscheinliche Situationen und generell eine »[о]бстановка обрисована штрихами условными и схематическими.«418 Letzteres bekräftigt ein anonymer Rezensent, der die »невероятност[ь] обстановки и туманн[ую] обрисовк[у] действующих лиц«419 bemängelt. All diese ablehnenden Kommentare beziehen sich wesentlich auf die in vielen – aber bei Weitem nicht allen – Werken Grins vorliegende Kombination fiktiver Schauplätze mit fantastischen420 Elementen, die später als ›Romantik‹ 411 Luker: Gold? A Transient, Shining Trouble, 61. 412 Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 384. Dt.: »Grins Weg wurde in der Kritik durch lange Perioden der Geringschätzung und Nichtanerkennung markiert«. 413 Ebd., 371. Dt.: »Sein Schaffen regte auf, beunruhigte, und andere Kritiker reizte und erzürnte es.« Sehr ähnlich äußert sich Slonimskij: »Грин продолжал беспокоить воображение. Он не развлекал, а тревожил.« (Slonimskij: Aleksandr Grin real’nyj i fantastičeskij, 258. Dt.: »Grin hörte nicht auf, die Vorstellungskraft zu beunruhigen. Er unterhielt nicht, sondern versetzte in Unruhe.«) Zu einer übereinstimmenden Einschätzung kommt auch Luker (vgl. Luker: Alexander Grin, 121). 414 Koltonovskaja, E. A.: Rasskazy Grina. In: Dies.: Kritičeskie ėtjudy. Sankt-Peterburg 1912, 239–241; zit. nach Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 371. Dt.: »im Geschmack eines primitiven, bereits überholten Impressionismus«. 415 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Šturman ›Četyrëch vetrov‹. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 239–244. Kürzel: ŠT. 416 Vgl. Kranichfel’d, V.: Literaturnye otkliki: Literaturnaja ėkskursija. In: Sovremennyj mir 5 (1910), 76–94, hier 91–93. 417 Vgl. Savinič: Literaturnye tečenija. FLMMG , n / v 2910, l. 1. 418 Ebd., l. 2. Dt.: »Atmosphäre, die mit konventionellen und schematischen Strichen gezeichnet ist.«. 419 [o. V.]: [Recenzija na knigu:] Grin A. Zagadočnye istorii (Pg., 1915). In: Bjulleten’ literatury i žizni 21–22 (1916), 414–415, hier 414; zit. nach Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 8. Dt.: »Unwahrscheinlichkeit der Atmosphäre und die nebelhafte Beschreibung der handelnden Personen«. 420 In der vorliegenden Studie wird zwischen fantastisch im breiteren Sinne von ›über­ natürlich‹, aber auch ›imaginär‹, ›nicht real‹ oder ›nicht realistisch‹ und phantastisch im

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Grins zu seinem charakteristischen Stil erklärt und damit positiv umgewertet wird. Besonders bezeichnend ist ein Kommentar von L’vov-Rogačevskij über einen Sammelband mit zeitgenössischer russischer Literatur aus dem Jahr 1913, in dem Grins Erzählungen »Ostrov Reno« und »Proliv bur’« (1910; dt.: »Die Meerenge der Stürme«)421 etwa ein Viertel des Seitenumfangs ausmachen: »Не слишкомъ-ли много мѣста удѣлено этому русскому Майнъ-Риду?«422 Wie in diesem despektierlichen Kommentar bereits anklingt, liegt ein wesentlicher Grund für die fehlende Anerkennung in der auch von Grin angesprochenen Einordnung des Autors als Epigone westlicher Abenteuerschriftsteller,423 die weit verbreitet ist: Viele Kritiker »счита[ли] его не более чем подражателем западноевропейской развлекательной беллетристики.«424 Dies ist als weitere Umgangsstrategie der Kritiker mit der angesprochenen Ungewöhnlichkeit und Fremdheit Grins zu betrachten. Neben den fremden Schauplätzen und dem häufig verwendeten Abenteuersujet spielt auch Grins Stil eine Rolle, der laut Kobzev wie übersetzt klingt.425 Seine Werke werden aus diesem Grund teils nicht nur für Imitationen, sondern sogar für reine Übersetzungen aus dem Englischen gehalten.426 Diese Einordnung beeinflusst seine Rezeption durch die Kritiker (und damit auch die Leserschaft) stark, da sie nicht nur eine kreative Eigenleistung Grins in Frage stellt, sondern zudem auch eine Reduktion auf die Konventionen des Abenteuergenres bedeutet. Über sie hinausgehende Inhalte (z. B. engeren Sinne, nämlich im Verständnis Todorovs (s. Kap. 4.3.2) unterschieden; dies wird durch die unterschiedliche Schreibweise markiert. 421 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Proliv bur’. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 410–446. Kürzel: PL . 422 L’vov-Rogačevskij, V. L.: [Recenzija na knigu:] Prometej: Literaturno-chudožestvennye sborniki »Prometej«. Izbrannye proizvedenija sovremennoj russkoj literatury. Kniga I. Knigoizdatel’stvo Prometej, N. N. Michajlova. SPb. 1913 g. In: Sovremennik 5 (1913), 356–357, URL : http://az.lib.ru/l/lxwowrogachewskij_w_l/text_1913_promrtey_oldorfo. shtml. Dt.: »Wird diesem russischen Mayne Reid nicht etwas zu viel Raum zuteil?« Kirkin nennt diesen Text von L’vov-Rogačevskij als Beispiel für einige Artikel marxistischer Kritiker, die die Romantik und die humanistischen Inhalte von Grins Werken als erste hochschätzen (vgl. Kirkin: A. S. Grin v pečati, 9. FLMMG , KP 4625 K 748, l. 9). Allerdings beschränkt sich L’vov-Rogačevskijs Kommentar zu Grin auf die hier wiedergegebenen Inhalte; Kirkins offensichtlich ideologisch beeinflusste Einschätzung entbehrt daher einer objektiv nachvollziehbaren Grundlage. 423 Vgl. Struve: Russian Literature under Lenin and Stalin, 150; Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 384. 424 Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 3. Dt.: »hielten ihn für nicht mehr als einen Nachahmer westeuropäischer Unterhaltungsliteratur.« Vgl. auch Kovskij, V. E.: Tvorčestvo A. S. Grina. (Koncepcija čeloveka i dejstvitel’nosti). (Avtoreferat dissertacii). Moskva 1967, 3.  FLMMG , K 247, l. 3; Luker: Alexander Grin’s Grinlandia, 190. 425 Vgl. Kobzev: Evoljucija krytyčnoï dumky, 132. 426 Vgl. Vichrov: Rycar’ mečty, 110.

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philosophischer Natur)427 oder ästhetische Qualitäten finden kaum Aufmerk­ samkeit: »[…] было решено, что серьезных проблем этот писатель не ставит«.428 Westliche Abenteuerschriftsteller, als deren Nachahmer Grin bezeichnet wird, sind unter anderem Thomas Mayne Reid, Bret Harte, James Fenimore Cooper, Arthur Conan Doyle, Robert Louis Stevenson, Rudyard Kipling, Jack London, Gustave Aimard und Jules Verne.429 Die Beschränkung der Kritiker auf die – durchaus vorhandenen – Parallelen mit Autoren, die Grin in seiner Kindheit und Jugend selbst intensiv rezipiert hat, spiegelt sich in Beinamen wie »Русский Брет Гарт« oder »Русский Джек Лондон«430 wider. Neben klassischen westlichen Abenteuerschriftstellern wird Grin auch immer wieder mit E. T. A. Hoffmann, Guy de Maupassant, Prosper Mérimée, H. G. Wells, Ambrose Bierce und Edgar Allan Poe verglichen oder ebenfalls als ihr Imitator wahrgenommen.431 Vor allem der Einfluss Poes auf Grin findet häufig Erwähnung432 und führt zu einem weiteren Beinamen: »Русский Эдгар По«.433 427 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 51. 428 Slonimskij: Aleksandr Grin real’nyj i fantastičeskij, 258. Dt.: »[…] es wurde beschlossen, dass dieser Schriftsteller keine ernsthaften Probleme aufwirft.«. 429 Vgl. Kirkin: A. S. Grin v pečati, 9.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 9; Kovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 300; Tarasenko: Dom Grina, 36; Luker: Alexander Grin’s Grinlandia, 204. 430 Vichrov: Rycar’ mečty, 110. Dt.: »russischer Bret Harte«, »russischer Jack London«. Grin erhält letzteren Namen vermutlich von seinem Schriftstellerkollegen Leonid Andreev (vgl. Castaing: L’évolution littéraire, 29). 431 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 36; Luker: Alexander Grin’s Grinlandia, 204. Auch nach Grins Wiederentdeckung ab 1956 gehen einige Literaturwissenschaftler auf die – durchaus vorhandenen – Einflüsse westlicher Autoren ein, in der Regel aber differenzierter und begründeter. Kovskij beispielweise arbeitet einige Parallelen Grins mit Hoffmann und Poe heraus, betont aber auch Unterschiede (vgl. Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 16. FLMMG , K 247, l. 16). Rossel’s konstatiert ebenfalls Verbindungen und Unterschiede zu Poe (vgl. Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 382 u. 384 f.) und bezeichnet die Petersburg-Texte Grins, unter anderem »Krysolov« und »Fandango«, als »своеобразной ›гофманианой‹« (ebd., 381. Dt.: »eigentümliche ›Hoffmanniana‹); Tarasenko betont, dass »художник не вырастает из ничего« (Tarasenko: Dom Grina, 36. Dt.: »ein Künstler sich nicht aus dem Nichts entwickelt«) und somit notwendigerweise gewisse Einflüsse anderer Autoren bei Grin zu finden seien, er aber dennoch eigenständige Werke schreibe (vgl. ebd.). Vgl. auch Rossel’s (Rossel’s: Grin. Russkie pisateli, 42) zu Verbindungen mit Stevenson und Poe, Tarasenko (Tarasenko: Dom Grina, 36 f.) zu Bierce und Poe, Titova (Titova: Materialy archiva Sergeja Tolkačeva, 117 f.) zu Stevenson, sowie Luker (Luker: Grinlandia in Embryo, 199) zu den Einflüssen diverser westlicher Autoren. 432 Vgl. z. B. Sokolov-Mikitovs Aussage in Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 500; Vojtolov­ skij: Letučie nabroski. FLMMG , n / v 2916, l. 2; Šepelenko, D.: [Recenzija na knigu:] A. Grin. Blistajuščij mir. Roman v 3-ch častjach. ›Zemlja i fabrika‹. Moskva – 1924 – Leningrad. In: Proletarij svjazi 23–24 (1924), 1031–1032, hier 1032. In: Stat’i o žizni, tvorčestve i smerti Grina Aleksandra Stepanoviča – pisatelej Borisova Leonida Il’iča, Kulešova Aleksandra Aleksandroviča, Loksa Konstantina Grigor’eviča i Šepelenko D. Avtograf, mašinopis’ i pečati. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 14, l. 18–19, hier 19. 433 Tarasenko: Dom Grina, 36. Dt.: »Russischer Edgar [Allan] Poe«.

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Dieser Umstand zeigt deutlich, wie sehr Grin als Fremder in seiner eigenen Kultur und dennoch als Teil von dieser wahrgenommen wird. Jurij Lotman führt in seinen Überlegungen zur Semiosphäre einer Kultur ein frappierend ähnliches Beispiel aus: die Bezeichnung Michail Lermontovs als »русский Байрон«,434 die diesem eine Zwischenposition und Mittlerrolle zwischen Eigenem und Fremdem zuschreibt. Und ebenso, wie Lermontov angesichts dessen in einem eigens hierfür verfassten Gedicht auf seiner (literarischen) Eigenständigkeit besteht – »Нет, я не Байрон, я другой…«435 – verwehrt auch Grin sich, obwohl er Poe von allen Autoren am meisten schätzt,436 gegenüber seiner zweiten Ehefrau gegen die Behauptung einer solch engen Beziehung. Vor allem beklagt er sich über Kritiker, die ein einmal zugewiesenes Etikett unhinterfragt immer wieder reproduzieren: Говорят, что я под влиянием Эдгара По, подражаю ему. Неверно это, близоруко. Мы вытекаем из одного источника – великой любви к искусству, жизни, слову, но течем в разных направлениях. В наших интонациях иногда звучит общее, остальное все разное  – жизненные установки различны. Какой-то досужий критик когда-то, не умея меня, непривычного для нашей литературы, сравнить с кем-либо из русских писателей, сравнил с Эдгаром По, объявив меня учеником его и подражателем. И, по свойству ленивых умов других литературных критиков, имя Эдгара По было плотно ко мне приклеено. Я хотел бы иметь талант, равный его таланту, и силу его воображения, но я не Эдгар По. Я – Грин; у меня свое лицо.437 434 Lotman, Jurij M.: Vnutri mysljaščich mirov. In: Ders.: Semiosfera. Kul’tura i vzryv. Vnutri mysljaščich mirov. Stat’i. Issledovanija. Zametki (1968–1992). Red. N. G. Nikolajuk, T. A. Špak. Sankt-Peterburg 2010, 149–390, hier 262. Dt.: »russische[r] Byron« (Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold und Olga Radetzkaja. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Susi S. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz. Berlin 2010, 182; im Original kursiv). 435 Lermontov, M. Ju.: Net, ja ne Bajron, ja drugoj. In: Ders.: Izbrannye proizvedenija v dvuch tomach. Tom pervyj (1828–1834). Sostavlenie i podgotovka teksta B. M. Ėjchenbauma. Primečanija Ė. Ė. Najdiča. Moskva, Leningrad 1964, 248–249, hier 248; zit. nach Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 262. Dt.: »Ich bin nicht Byron, nein, ich bin ein andrer […]« (Lermontow, Michail: Ich bin nicht Byron, nein, ich bin ein andrer…. In: Ders.: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Bd. I. Gedichte und Poeme. Herausgegeben von Roland Opitz. Berlin 1987, 69). 436 Veržbickij: Svetlaja duša. Naš sovremennik, 104. 437 Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 398; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Sie sagen, dass ich unter dem Einfluss von Edgar [Allan] Poe stehe, dass ich ihn nachahme. Das ist unrichtig, kurzsichtig. Wir entspringen aus derselben Quelle – der großen Liebe zur Kunst, zum Leben, zum Wort, aber wir fließen in unterschiedliche Richtungen. In unseren Intonationen klingt manchmal etwas Gemeinsames, das Übrige ist alles verschieden – die Lebenseinstellungen sind unterschiedlich. Irgendein müßiger Kritiker, der mich, der ich ungewohnt für unsere Literatur bin, nicht mit irgendeinem der russischen Schriftsteller vergleichen konnte, verglich mich mit Edgar [Allan] Poe und erklärte mich zu seinem

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Trotz derartiger Proteste bleibt der »э-поизм«,438 ebenso wie die Vergleiche mit anderen westlichen Autoren auch, hartnäckig an Grin hängen.439 Wie früh in seiner Schriftstellerkarriere sie schon weit verbreitet sind,440 beweist die Tatsache, dass sich bereits Vojtolovskij in seiner Rezension von 1910 veranlasst sieht, ihnen nachdrücklich zu widersprechen;441 und dass sie noch über Grins Leben hinaus nachwirken, zeigt Jurij Olešas Reaktion auf den Vorwurf der Imitation gegen Grin: »Иногда говорят, что творчество Грина представляет собой подражание Эдгару По, Амброзу Бирсу. Как можно подражать выдумке? Ведь надо же выдумать! Он не подражает им, он им равен, он так же уникален, как они.«442 Unter diesen zahlreichen Stimmen, denen Grins Nähe zu westeuropäischen und amerikanischen Vorbildern als Beleg für die mindere Qualität seiner Werke gilt, geht ein Kritiker wie Gornfel’d443 beinahe unter, der in seinen Rezensionen von 1910, 1917 und seinem Aufsatz von 1923 selbst auf bestehende Ähnlichkeiten hinweist, aber Grins eigenständige Leistung nicht nur anerkennt, sondern sogar explizit betont. So schreibt er etwa 1910 über die Ähnlichkeiten mit ausländischen Autoren: »[…] у Грина это не поддѣлка и не внѣшняя стилизація: это свое.«,444 daher seien die Gemeinsamkeiten Schüler und Nachahmer. Und, aufgrund der faulen Gemüter der anderen Literaturkritiker, wurde der Name Edgar [Allan] Poe fest an mich geklebt. Ich hätte gerne ein Talent, das seinem Talent gleichwertig ist, und die Kraft seiner Phantasie, aber ich bin nicht Edgar [Allan] Poe. Ich bin Grin; ich habe mein eigenes Gesicht.«. 438 Varlamov: Aleksandr Grin, 135. Dt.: »E-Poeismus«. 439 Eine ausführliche Untersuchung der Einflüsse westlicher Autoren auf Grins Schreiben wurde bislang noch nicht realisiert, wäre aber sicherlich ein lohnenswertes Unternehmen. Im Rahmen dieser Studie kann dies jedoch nicht geleistet werden. 440 Z. B. bei Kranichfel’d: Literaturnye otkliki. 441 Vgl. Vojtolovskij: Literaturnye siluėty. FLMMG , n / v 2868, l. 8. 442 Oleša: Pisatel’-unik, 317. Dt.: »Manchmal wird gesagt, dass Grins Werk eine Nachahmung von Edgar [Allan] Poe, von Ambrose Bierce darstellt. Wie kann man Fantasie nachahmen? Man muss sie sich schließlich ausdenken! Er ahmt sie nicht nach, er ist ihnen gleichwertig, er ist ebenso einzigartig wie sie.«. 443 Grin schließt im Laufe der 1910er Jahre enge Freundschaft mit Gornfel’d und ist ihm vor allem für seinen Artikel aus dem Jahr 1910 äußerst dankbar, da er ihm Selbstvertrauen gegeben habe (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 30). Gornfel’d soll auch das Vorwort für einen Sammelband mit Erzählungen Grins verfassen, dessen Veröffentlichung 1919 durch den Sojuz dejatelej chudožestvennoj literatury beschlossen wird. Eine Publikation kommt jedoch nicht zustande (vgl. Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 515). Da er die Meinung des Kritikers sehr schätzt, liest Grin Gornfel’d den fertigen Entwurf zu »Alye parusa« vor, den dieser als bislang stärkstes Werk Grins bewertet (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 30) – eine Einschätzung, mit der er, zumindest gemessen am Bekanntheitsgrad und der Beliebtheit der Povest’, Recht behalten sollte. 444 Gornfel’d: A. S. Grin. Rasskazy, 145. FLMMG , n / v 4710, l. 1. Dt.: »[…] bei Grin ist das keine Imitation, keine äußerliche Stilisierung: das ist sein Eigenes.«.

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mit Bret Harte, Kipling oder Poe nur die äußerliche Hülle.445 In seiner zweiten Rezension geht Gornfel’d genauer auf die Beziehung Grins zu Poe ein. Zunächst hält er fest: »По первому впечатлѣнію разсказъ г. Александра Грина легко принять за разсказъ Эдгара По.«446 Als Begründung führt er Parallelen wie den nicht realen Schauplatz, die große Rolle des Unterbewussten und schicksalhafter Kräfte sowie die Häufigkeit von Mord, Gewalt und Grauen an.447 Dennoch hebt er, wie schon 1910, die Eigenständigkeit Grins hervor, die seiner Einschätzung nach durch die deutlich erkennbaren Einflüsse Poes nicht geschmälert wird: Гринъ все-таки не подражатель Эдгара По, не усвоитель трафарета, даже не стилизаторъ; онъ самостоятеленъ болѣе, чѣмъ многіе пишущіе заурядные реалистическіе разсказы, литературные источники которыхъ лишь болѣе расплыв­ чаты и потому менѣе очевидны.448

Daraus zieht Gornfel’d den Schluss: »[…] Гринъ былъ бы Грином, если бы ­ ornfel’d и не было Эдгара По.«449 In seinem Aufsatz von 1923 wiederholt G schließlich noch einmal seine Position aus den beiden vorangegangenen Kritiken, arbeitet noch einige weitere Parallelen zwischen Grin und Poe heraus450 und entkräftet die Behauptung, dass Grins Werke notwendigerweise Imitationen westlicher Autoren darstellen müssen, weil ihre Schauplätze und Protagonisten so ungewöhnlich sind: Это свое. Свое потому, что в этих необыкновенных похождениях непонятных людей в несуществующих странах, находит себя и свое, сам автор. Чужие люди ему свои, далекие страны ему близки, – потому что их нет, потому что он открыл их на дне своей […] души.451

445 Vgl. ebd., 146, l. 2. 446 Gornfel’d: Iskatel’ priključenij, 279. FLMMG , n / v 4711, l. 1. Dt.: »Dem ersten Eindruck nach kann man eine Erzählung von Hrn. Aleksandr Grin leicht für eine Erzählung Edgar [Allan] Poes halten.«. 447 Vgl. ebd. 448 Ebd., 280, l. 2. Dt.: »Grin ist dennoch kein Nachahmer Edgar [Allan] Poes, er ist kein Aneigner einer Schablone, nicht einmal ein Stilisierer; er ist eigenständiger, als viele, die gewöhnliche realistische Erzählungen schreiben, deren literarische Wurzeln nur stärker verschwommen und daher weniger offensichtlich sind.«. 449 Ebd. Dt.: »[…] Grin wäre Grin, auch wenn es keinen Edgar [Allan] Poe gäbe«. 450 Vgl. Gornfel’d: A. S. Grin. FLMMG , n / v 7444, l. 5 f. 451 Ebd., l. 5. Dt.: »Das ist sein Eigenes. Sein Eigenes deshalb, weil der Autor selbst in diesen ungewöhnlichen Abenteuern merkwürdiger Leute in nichtexistierenden Ländern sich selbst und sein Eigenes findet. Fremde Leute sind ihm eigen, ferne Länder sind ihm nah, – weil es sie nicht gibt, weil er sie auf dem Grund seiner […] Seele entdeckt hat.«.

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Darüber hinaus spricht für Gornfel’d die Qualität von Grins Werken gegen eine Imitation: »В рассказах Грина есть захват мысли, чувства и воли, какого никогда не дает подражание.«452 Gornfel’d äußert sich zwar stellenweise auch durchaus kritisch über Grins Schaffen, bringt ihm aber insgesamt, auch über die Frage der westlichen Einflüsse hinaus, große Wertschätzung entgegen. Er würdigt sowohl die den Leser fesselnde und überzeugende Gestaltung der Werke453 als auch Inhalte, die hinter dem Abenteuersujet  – für viele Kritiker offenbar zu gut verborgen – in ihnen enthalten sind: »Въ экзотикѣ необычайныхъ приключеній, небывалыхъ странъ и невѣроятныхъ героевъ […] онъ все-таки ищетъ простой житейской правды: правды человѣческихъ отношеній, правды элементарной морали.«454 Neben Gornfel’d gibt es noch einige weitere zeitgenössische Kritiker, die Grins Schaffen positiv bewerten.455 Zu ihnen zählt auch Brežko-Brežkovskij, der eine Rezension zu Band 2 von Grins dreibändigen »Gesammelten Werken« (russ.: »Sobranie sočinenij«) von 1913, »Proliv bur’«, verfasst. Auch er weist auf Gemeinsamkeiten mit Autoren wie Doyle, Harte, Kipling und Poe hin, betont aber ebenso, dass es sich bei Grin um einen »писатель крупнаго самобытнаго таланта […] со своей собственной, ярко-оригинальной физіономіей«456 handelt. Die Fremdartigkeit der Helden und der Umstände beeinflusse das Leseerlebnis keineswegs negativ: »Его герои – порою фантастичны, порою дѣйствуютъ въ необыкновенной экзотической обстановкѣ, но въ нихъ ›вѣришь‹ […]«.457 Die Bewertung des Sammelbands fällt daher äußerst positiv aus: »›Проливъ бурь‹ съ первой и до послѣдней строки – очаровательная художественная жемчужина. И если бъ Гринъ ничего не написалъ кромѣ этой повѣсти, она одна отвела бы ему видное

452 Ebd., l. 6. Dt.: »In den Erzählungen Grins gibt es eine Eroberung des Gedankens, des Gefühls und des Willens, welche eine Nachahmung niemals leistet.«. 453 Vgl. z. B. Gornfel’d: A. S. Grin. Rasskazy, 146. FLMMG , n / v 4710, l. 2. 454 Gornfel’d: Iskatel’ priključenij, 281. FLMMG , n / v 4711, l. 3. Dt.: »In der Exotik der ungewöhnlichen Abenteuer, unwirklichen Länder und unwahrscheinlichen Helden […] sucht er dennoch eine einfache Lebenswahrheit: die Wahrheit der menschlichen Beziehungen, die Wahrheit der elementaren Moral.«. 455 Vgl. z. B. Valentinov, N.: [Recenzija na knigu:] Grin A. S. Rasskazy. Tom 1 (SPb., 1910). In: Kievskaja mysl’ (16 marta 1910); Vojtolovskij: Literaturnye siluėty. FLMMG , n / v 2868, l. 1. 456 N. B.-B. [= Brežko-Brežkovskij, Nikolaj]: [Recenzija na knigu:] Aleksandr Grin. Sobranie  sočinenij. ›Proliv bur’‹. In: Ežemesjačnye literaturnye i populjarno-naučnye priloženija k žurnalu ›Niva‹, T. III (1913), Sp. 138–139, hier 138. Dt.: »Schriftsteller von bedeutendem eigenständigem Talent […] mit seiner eigenen, ausgeprägt originellen Physiognomie«. 457 Ebd. Dt.: »Seine Helden sind bisweilen fantastisch, bisweilen handeln sie in einer ungewöhnlichen exotischen Atmosphäre, aber an sie ›glaubst du‹ […]«.

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мѣсто въ нашей литературѣ.«458 Ein weiterer Rezensent lobt Grins Fähigkeit, »рассказывать о страшных и редких приключениях«.459 Der Kritiker Stepanovič identifiziert die oft bemängelte Fremdheit der Schauplätze und Sujets gar als entscheidendes Kriterium für Grins Erfolg: »[…] [если Грин] выходит за пределы облюбованного им круга тем и дает типичнорусские сюжеты [, то] перестает быть Грином и теряется в общей массе русских беллетристов«.460 Noch Mitte der 1920er Jahre, d. h. bereits unter verschärften kulturpolitischen Bedingungen, nimmt der bekannte Kritiker Frid die verbreitete Klassifizierung Grins als Autor von Abenteuerprosa auf und betont deren hohe Qualität und Vorreiterrolle: »Под пером Грина приключенческий роман и новелла входят в нашу ›большую‹, не бульварную литературу, где раньше места для них не было.«461 Von der anhaltenden Wertschätzung Grins durch einige Verlage, ebenso wie durch eine wachsende Leserschaft, zeugt eine Mitteilung anlässlich der Publikation von »Krysolov« im Jahr 1924: А. С. Грин – один из своеобразнейших и занимательнейших наших писателей. Богатая фабула, блестящий язык, яркая фантастика, а, главное, особое умение пользоваться ею  – все это делает рассказы Грина весьма читаемыми. И, действительно, у этого оригинального и даровитого писателя есть свой кадр многочисленных читателей.462

Angesichts solcher überaus positiver Kritiken treffen pauschale Aussagen wie von Kovskij – »[…] этот интереснейший художник слова никогда не 458 Ebd. Dt.: »›Proliv bur’‹ ist von der ersten bis zur letzten Zeile eine bezaubernde künstlerische Perle. Und wenn Grin nichts außer diesem Kurzroman schreiben würde, würde er allein ihm einen prominenten Platz in unserer Literatur zuweisen.«. 459 N.: [Recenzija na knigu:] Grin A. Proliv bur’, 274; zit. nach Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 8. Dt.: »von schrecklichen und seltenen Abenteuern zu erzählen«. 460 Stepanovič, S.: [Recenzija na knigu:] Aleksandr Grin. Pozornyj stolb. (Sobranie sočinenij v 3 tomach, SPb., 1913. T. 3). In: Novaja žizn’ 3 (1914), 152–153, hier 153; zit. nach Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 8. Dt.: »[…] [wenn Grin] über die Grenze des Themenkreises, den er sich ausgesucht hat, hinaustritt und typisch russische Sujets bringt [, dann] hört er auf Grin zu sein und verliert sich in der allgemeinen Masse der russischen Belletristen.«. 461 Frid: [Recenzija na knigu:] Grin A.  Gladiatory; zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Okončanie. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 6, l. 6. Dt.: »Unter Grins Feder gehen der Abenteuerroman und die Novelle in unsere ›große‹, nicht-triviale Literatur ein, wo früher kein Platz für sie war.«. 462 Ogonëk 33 (1924), Rubrik »Okno v mir« (dt.: »Fenster zur Welt«); zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Okončanie. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 6, l. 76; Hervorhebung im Original. Dt.: »A. S. Grin ist einer unserer eigentümlichsten und interessantesten Schriftsteller. Eine reiche Fabel, eine brillante Sprache, eine ausgeprägte Fantastik, und, das Wichtigste, die besondere Fähigkeit, sich ihrer zu bedienen – all das macht Grins Erzählungen äußerst beliebt. Und, wahrhaftig, dieser originelle und begabte Schriftsteller hat seinen Kader zahlreicher Leser.«.

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пользовался расположением критики.«463  – oder von Oulanoff  – »Grin was never well received by Russian critics.«464 – in dieser Absolutheit nicht zu. Dennoch ist festzuhalten, dass der Schriftsteller bis zur Mitte der 1920er Jahre höchst ambivalent rezipiert wird.465 Dies gilt nicht nur für sein Werk und die Literaturkritik im Allgemeinen, sondern sogar für einzelne Kritiker, einzelne Aspekte seines Gesamtwerks sowie einzelne Texte Grins, was hier jeweils exemplarisch gezeigt werden soll. Ein interessantes Beispiel für die Ambivalenz der Bewertung bei ein und demselben Kritiker stellen die beiden Rezensionen Vojtolovskijs aus den Jahren 1910 und 1914 dar, aus deren Vergleich sich eine deutliche Verschiebung der Bewertung hin zum Negativen erkennen lässt. Im ersten der beiden Artikel schreibt Vojtolovskij voller Wertschätzung: »Вот писатель, о котором много молчат, но о котором следует, по-моему, говорить с большой похвалой.«466 Zwar weist er, neben stilistischen Schwächen, auch auf gelegentliche weniger überzeugende Textpassagen hin, doch diese dauern Vojtolovskij zufolge nur kurz an – »И вы снова во власти замечательного художника, который мучительно рвется из тисков монотонной и вязкой жизни.«467 Nur vier Jahre später jedoch ist bei ihm die Rede von dem »небольшо[й], по размерам, талант[…] Грина«.468 Eine Begründung dafür liefert er ebenfalls: Die Entwicklung Grins in den letzten drei Jahren sei negativ zu bewerten, denn »[д]икая и величественная прелесть его первых героев утратила свою тоскующую загадочность.«469 Sein Urteil über Grins neuere Erzählungen, 463 Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 3. Dt.: »[…] dieser äußerst interessante Künstler des Wortes erfreute sich nie der Sympathie der Kritik.« Die Aussage findet sich fast identisch in Kovskij: Romantičeskij mir, 6. 464 Oulanoff, Hongor: Grin, Aleksandr Stepanovich. In: Terras, Victor (Hg.): Handbook of Russian Literature. New Haven 1985, 186–187, hier 187. 465 Grins Verhältnis zu seinen Kritikern ist ebenso ambivalent wie das der Kritiker zu ihm und seinem Werk. Einerseits drückt er immer wieder seine Frustration darüber, von vielen Kritikern nicht anerkannt zu werden, gegenüber seinen Freunden und seinen beiden Ehefrauen aus. Bei einigen Kritikern, die Grin generell wohlgesonnen sind und denen Grin seinerseits große Sympathie entgegenbringt, wie z. B. Gornfel’d und Gor’kij, ist der Schriftsteller aber andererseits auch in der Lage, negative oder kritische Kommentare mit Wertschätzung aufzunehmen (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 5). 466 Vojtolovskij: Literaturnye siluėty. FLMMG , n / v 2868, l. 1. Dt.: »Das ist ein Schriftsteller, über den viel geschwiegen wird, aber über den man, meiner Meinung nach, mit großem Lob sprechen sollte.«. 467 Ebd., l. 3. Dt.: »Und Sie sind erneut im Bann des hervorragenden Künstlers, der qualvoll aus der Umklammerung des monotonen und zähen Lebens drängt.«. 468 Vojtolovskij: Letučie nabroski. FLMMG , n / v 2916, l. 2. Dt.: »seinen Ausmaßen nach geringen Talent Grins«. 469 Ebd., l. 3. Dt.: »der wilde und erhabene Reiz seiner ersten Helden hat seine sehnsüchtige Rätselhaftigkeit verloren.«.

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z. B. »Priključenija Ginča«, fällt geradezu vernichtend aus; dabei bedient auch er sich des verbreiteten Vorwurfs des Epigonentums: Соедините вместе все приключения о Вольфе Ларсене, о кулачном бойце Джо Флейминге и укротителе морей Мартине Идене,470 прибавьте добрую половину Киплинга, похождения куперовских и эмаровских героев, заставьте все это пересказать своими словами семнадцатилетнего гимназиста, – и вы получите последные рассказы Грина.471

Seine folgende Beteuerung, er wolle damit nicht sagen, dass Grin alles literarische Talent verloren habe,472 klingt angesichts dieser starken Worte eher halbherzig. Ein Einzelaspekt von Grins Schaffen, der nicht nur in der ersten Phase seiner Rezeption höchst ambivalent bewertet wird, ist seine Sprache. Von den ersten Rezensionen an werden immer wieder sprachliche Fehler und nichtidiomatische oder schwerfällige Formulierungen hervorgehoben.473 Dabei handelt es sich vor allem um syntaktische, lexikalische und stilistische Fehler und Besonderheiten.474 Ein von Kovskij genanntes Beispiel für die syntaktische Kategorie ist etwa die zwar nicht falsche, aber wenig elegante, an ›Kanzlei­ sprache‹ (russ.: kanceljarskij stil’ ) erinnernde Formulierung »Комиссар перешел […] из состояния запутанности к состоянию иметь здесь, против себя, подлинного преступника […]«;475 inkorrekt ist hier lediglich der Ausdruck »против себя«476 statt ›напротив себя‹.477 Schlichtweg falsch

470 Bei den drei genannten Personen handelt es sich um Figuren aus Werken von Jack London: Wolf Larsen aus »The Sea-Wolf« (1904), Joe Fleming aus »The Game« (1905), sowie Martin Eden aus dem gleichnamigen Roman (1909). 471 Vojtolovskij: Letučie nabroski. FLMMG , n / v 2916, l. 3. Dt.: »Mischen Sie alle Abenteuer über Wolf Larsen, über den Faustkämpfer Joe Fleming und den Bezwinger der Meere Martin Eden zusammen, fügen Sie eine gute Hälfte Kipling und Abenteuer von ­Cooper’schen und Aimard’schen Helden hinzu, lassen Sie das alles einen siebzehnjährigen Gymnasiasten mit seinen eigenen Worten nacherzählen, – und Sie erhalten die letzten Erzählungen Grins.«. 472 Vgl. ebd., l. 5. 473 Vgl. u. a. Arskij, A. S.: Molodaja literatura. Recenzija na knigu rasskazov A. S. Grina (SPb., 1910). In: Naš žurnal 3 (1910), 14–16, hier 15; B. A. [= evtl. Arbatov, Boris]: [Recenzija na knigu:] Grin A. Gladiatory: Rasskazy (M., 1925). In: Izvestija (12 nojabrja 1925); zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 193. 474 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 99. 475 BV, 141. Dt.: »Der Kommissar war zunächst völlig verwirrt, daß er denjenigen […] plötzlich als den Verbrecher vor sich sah.« (BVd, 182); wörtl.: »Der Kommissar ging von der Lage der Verworrenheit in die Lage über, hier, gegen[über von] sich, einen echten Verbrecher zu haben.« Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 99. 476 BV, 141. Dt.: »gegen sich«. 477 Dt.: ›gegenüber von sich‹.

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ist dagegen der Halbsatz »Капитан остановился ходить […]«478 – anstelle von: ›Капитан перестал ходить‹479 oder ›Капитан остановился‹.480 Lexikalische Fehler – oder, je nach Bewertung, Innovationen – sind z. B.: »очевидство«481 statt ›очевидность‹,482 die Verbform »каменила«483 statt ›каменела‹484 oder der tatsächlich als Wortneuschöpfung zu bewertende Ausdruck »ревостишия«,485 zusammengesetzt aus ›рев‹486 und ›стих‹487, mit dem Grin den rauen Gesang der Seeleute beschreibt. Stilistische Auffälligkeiten finden sich Kovskij zufolge unter anderem in den Formulierungen: »С этого момента Тави можно было видеть в трех положениях: сидящей, ерзая на стуле, и помахивающей […] указательным пальцем, держа остальной кулачок сжатым […]«488 oder »Стомадор дельно догадывался об особой роли в жизни людей таких осиных гнезд всяческих положений и встреч, каковы гостиницы малолюдных мест […]«.489 Beide sind nicht im eigentlichen Sinne falsch, sondern erinnern durch den gehäuften Gebrauch von Partizipien und von Substantiven statt Verben ebenfalls lediglich an den ›ungelenken‹ Stil der russischen ›Kanzleisprache‹. Bereits 1910 kritisiert Vojtolovskij in seiner insgesamt sehr positiven Rezension von 1910 Grins Stil mit deutlichen Worten. Erstens bezeichnet er ihn aufgrund des häufigen Gebrauchs von Fachbegriffen, z. B. aus dem Bereich 478 ZC , 341. Dt. »Der Kapitän hatte […] innegehalten« (Grin, Alexander: Die goldene Kette. Aus dem Russischen übertragen von Eva und Alexander Grossmann. Weimar 1964, 161. Kürzel: ZCd); wörtl.: »Der Kapitän hielt an zu gehen.«. 479 Dt.: ›Der Kapitän hörte auf zu gehen.‹. 480 Dt.: ›Der Kapitän blieb stehen.‹. 481 BM , 141. Dt. »Augenschein« (Grin, Alexander: Die funkelnde Welt. Aus dem Russischen übersetzt von Heinz Kübart. Stuttgart 1988, 102. Kürzel: BMd); wörtl. in etwa: »Offensichtheit«. 482 Dt.: ›Offensichtlichkeit‹. 483 BM , 197. Dt.: wörtl. in etwa: »sie versteinte« [ohne Übersetzung in BMd]. 484 Dt.: ›sie versteinerte‹. 485 AL , 9. Dt.: »Matrosengesänge« (Grin, Alexander: Die purpurroten Segel (Phantastische Erzählung). Aus dem Russischen übertragen von Elena Guttenberger. In: Ders.: Die purpurroten Segel. Frankfurt a. M. 1967, 5–109, hier 10. Kürzel: ALd); wörtl. in etwa: »Brüllversereien«. 486 Dt.: ›Brüllen‹. 487 Dt.: ›Vers‹. 488 BM , 200. Dt.: »Tawi war abwechselnd in einer dieser drei Haltungen zu sehen: sitzend, wobei sie auf dem Stuhl hin und her rutschte und mit dem Zeigefinger fuchtelte, während sie die Hand geballt hatte […]« (BMd, 188); wörtl.: »Von diesem Moment an konnte man Tavi in drei Haltungen sehen: sitzend, auf dem Stuhl hin- und herrutschend und […] mit dem Zeigefinger fuchtelnd, das andere Fäustchen geballt haltend […]«. 489 DN, 351 f. Dt.: »Stomador hatte das richtige Empfinden, daß einsam liegende Gasthäuser mitunter der Schauplatz für alle möglichen Zwischenfälle und Begegnungen werden können […].« (DNd, 233); wörtl.: »Stomador erriet klug die besondere Rolle im Leben der Menschen von solchen Wespennestern jeglicher Situationen und Begegnungen, wie es Wirtshäuser wenig bevölkerter Orte sind.« Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 99.

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der Schifffahrt, als schwerfällig: »Он не умеет добиться соответствующей выразительности языка.«490 Vor allem aber hebt er die die Fremdartigkeit des Stils hervor, die er als »неряшливая вычурность, стилизованная восточная манерность«491 beschreibt, welche zu einer »мысль о плохом переводе с иностранного«492 führt. Als Belege für seine Kritik zitiert er einige Stellen aus »Kolonija Lanfier«, z. B.: Места, только что виденные, не удовлетворяли его. Здесь не было концентрации, необходимого и гармонического соединения пространства с лесом, гористостью и водой. Его тянуло к уютности, полноте, гостеприимству природы […],493

oder: »От всей этой фигуры веяло подозрительным прошлым, темными закоулками сердца, притонами, блеском ножей, хриплой злобой и чело­ веческой шерстью, иногда более жуткой, чем мех тигра.«494 Im ersten Beispiel bezieht sich Vojtolovskijs Kritik möglicherweise auf das Fremdwort ›концентрация‹,495 den eher ungewöhnlichen Ausdruck ›гористость‹496 oder die Aneinanderreihung von Substantiven im zweiten und dritten Satz des Zitats, im zweiten Beispiel eventuell ebenfalls auf die Aufzählung. Fehler im eigentlichen Sinne liegen in diesen Beispielen jedoch nicht vor. Dies erklärt auch, warum die ungewöhnliche Sprache in der Anfangszeit der Grin-Rezeption nicht durchgängig negativ bewertet wird: Bei Brežko-Brežkovskij ist beispielsweise die Rede von einer »филигранн[ая] чеканк[а] языка и стиля.«497 Stark divergierende Einschätzungen dieses Aspekts finden sich ebenso in der ersten Hälfte der 1920er Jahre. Zu dieser Zeit erscheint eine ganze Reihe von Rezensionen, in denen Grins, wenn auch ebenfalls zum Teil als fremdartig wahrgenommener, Stil lobende Erwähnung findet.498 Sogar die in früheren 490 Vojtolovskij: Literaturnye siluėty. FLMMG , n / v 2868, l. 5. Dt.: »Er ist nicht fähig eine entsprechende Ausdruckskraft der Sprache zu erreichen.«. 491 Ebd. Dt.: »schludrige Schwülstigkeit, stilisierte östliche Manieriertheit«. 492 Ebd. Dt.: »Gedanke an eine schlechte Übersetzung aus einer Fremdsprache«. 493 KO, 289. Dt.: »Die gerade erst gesehenen Orte stellten ihn nicht zufrieden. Hier gab es keine Konzentration, keine notwendige und harmonische Verbindung des Raums mit dem Wald, der Bergigkeit und dem Wasser. Es zog ihn zur Gemütlichkeit, Ganzheit, Gastfreundschaft der Natur hin […]«. 494 KO, 302. Dt.: »Diese ganze Figur strömte verdächtige Vergangenheit, dunkle Winkel des Herzens, Spelunken, Aufblitzen von Messern, heisere Wut und menschliches Haar aus, das manchmal schrecklicher ist als das Fell eines Tigers.«. 495 KO, 289. Dt.: Konzentration. 496 KO, 289. Dt.: Bergigkeit. 497 N. B.-B.: [Recenzija na knigu:] Aleksandr Grin. Sobranie sočinenij, Sp. 138 f. Dt.: »fili­ granen Prägung der Sprache und des Stils.«. 498 Z. B. bei Černovskij, A.: [Recenzija na knigu:] Grin A. S. Belyj ogon’: Rasskazy (M., 1922). In: Kniga i revoljucija 1 (1923), 53; Ašukin, N. S.: [Recenzija na knigu:] Grin A. S. Alye parusa: Povest’ (M., 1923). In: Rossija 5 (1923), 31; Gorodeckij, S. M.: [Recenzija na knigu:] Grin A. S. Rasskazy (M., 1923). In: Krasnaja niva 22 (1923), 26; Loks, K. G.: [Recenzija na

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Rezensionen explizit kritisierten nichtidiomatischen oder fremdklingenden Formulierungen finden positive Erwähnung, etwa bei dem Kritiker Bobrov: »Он [Грин] тогда удивлял еще  – необыкновенно красиво, грациозно развитым языком, простотой разговорного приема, чистотой типично чужой речи […]«.499 Andererseits bezeichnet selbst Gor’kij, der Grin schätzt und jahrelang unterstützt und sich daher auch bereit erklärt, den Entwurf seines unvollendeten Romans »Tainstvennyj krug« (dt.: »Der geheimnisvolle Kreis«)500 Korrektur zu lesen, auf selbigem Manuskript Grins einige seiner Formulierungen als »вычурные […] фразы едва ли понятные«.501 Der Aspekt der Sprache steht in gewisser Weise sogar repräsentativ für den Wandel in der Rezeption Grins, da er in Zeiten der wohlwollenden Bewertung des Schriftstellers als besonders positiv, in Zeiten der generellen Ablehnung dagegen als besonders negativ hervorgehoben wird. Ersteres gilt unter anderem für die Jahre nach Grins Tod. Beispielsweise betont Loks, nach seinem Artikel von 1923, Anfang der 1930er Jahre ein zweites Mal den souveränen Umgang des Autors mit der Sprache: »Он нашел свой язык, и этот язык оставался языком русским, несмотря на исключительное западно-европейское влияние. […] легко и свободно он владел словесной клавиатурой«.502 Auch einige Schriftstellerkollegen, darunter Vikentij Veresaev, Aleksandr Malyškin, Ėduard Bagrickij, Aleksandr Fadeev und Oleša, sind begeistert von »необыкновенно певучим и музыкальным [языком Грина], всегда исполненным лирической взволнованности«,503 Kuprin von »золотым и чудесным языком«504 Grins. Der oft wenig elaborierte Sprachduktus Grins knigu:] Grin A. Rasskazy (M., 1923). In: Pečat’ i revoljucija 5 (1923), 296. Vgl. dazu Kirkin: A. S. Grin v pečati, 9.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 9. 499 Bobrov, S. P.: [Recenzija na knigu:] Grin A. S. Alye parusa: Povest’ (M.; Pg., 1923). In: Pečat’ i revoljucija 3 (1923), 261–262; zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 122; Hervorhebung von A. B. Dt.: »Er [Grin] versetzte damals noch durch seine ungewöhnlich schön und anmutig entwickelte Sprache, durch die Einfachheit des Gesprächsverfahrens, die Reinheit der typisch fremden Sprache in Erstaunen […]«. 500 Vgl. Grin, Aleksandr: Tainstvennyj krug. Roman A. S. Grina. [ok. 1920]. In: »Tainstvennyj krug«. Roman. Glavy I–V. Bez konca. »Blistajuščij mir«. Roman. Glavy I–III . Variant. »Povest’ o dvuch igrušečnych lavočnikach, ich pokupateljach«, »Struitsja svetlyj, tëplyj den’…«, »Bol’noe nebo vspychivalo svetom…«, »My otpravljaemsja v more«. Stichotvo­ renija. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 26, l. 1–66. 501 Ebd., l. 8; zit. nach Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 100. Dt.: »schwülstige […], kaum verständliche Phrasen«. 502 Loks: A. S. Grin. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 14, l. 12. Dt.: »Er fand seine Sprache, und diese Sprache blieb die russische Sprache, ungeachtet des ausschließlich westeuropäischen Einflusses. […] leicht und frei beherrschte er die Klaviatur der Worte.«. 503 Voronova: Poėzija mečty, 145. Dt.: »der ungewöhnlich melodischen und musikalischen [Sprache Grins], die immer von lyrischer Ergriffenheit erfüllt ist.«. 504 Zit. nach ebd. Dt.: »der goldenen und wundervollen Sprache«.

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wird von Slonimskij gerade für seine Einfachheit gelobt und mit dem Stil von Volksmärchen verglichen, womit ihm eine Verwurzelung in der russischen Kultur attestiert und der von früheren Kritikern behaupteten Fremdheit implizit widersprochen wird: Нет ничего случайного и неряшливого в языке лучших произведений Грина. Стиль Грина […] остается всегда спокойным, ровным, лишенным претенциозного безвкусного вычура, выспренней риторики. […] [О]собенность его манеры […] роднит лучшие его произведения с народными сказками.505

Im Zuge der politisch motivierten Angriffe während des Stalinismus gerät auch Grins Sprache erneut, und heftiger als je zuvor, in die Kritik, wobei bereits in den 1910er Jahren formulierte Kritikpunkte wieder aufgenommen werden. Važdaev etwa bezeichnet sie als »выхолощенный, обескровленный язык плохого, а иной раз просто неграмотного перевода с иностранного.«506 Als Beispiel dafür führt er unter anderem ein Zitat aus »Beguščaja po volnam« an: »Эта собака сейчас лайнет. Она пустит лай.«507 Hierbei handelt es sich tatsächlich um eine falsche Formulierung, korrekt wäre: ›Эта собака сейчас залает. Она будет лаять.‹508 Nach Grins Wiederentdeckung nach dem Ende des Stalinismus reagiert einer der wichtigsten sowjetischen Grin-Forscher, Vadim Kovskij, auf die noch 1961 von Prochorov 509 vorgebrachte Beschuldigung der »малограмотности«510 gegen Grin, indem er die »искажени[я] языка«511 als ein vom Autor gezielt eingesetztes ästhetisches Mittel be- und aufwertet.512 Zudem vollzieht er im Zuge dessen durch den Hinweis auf eine ähnliche Verwendung nicht-

505 Slonimskij: Aleksandr Grin real’nyj i fantastičeskij, 266. Dt.: »Es gibt nichts Zufälliges und Nachlässiges in der Sprache der besten Werke Grins. Grins Stil […] bleibt immer ruhig, gelassen, frei von prätentiöser, geschmackloser Schwülstigkeit, hochtrabender Rhetorik. […] Die Besonderheit seines Stils […] verbindet die besten seiner Werke mit Volksmärchen.«. 506 Važdaev, Viktor: Propovednik kosmopolitizma. Nečistyj smysl ›čistogo iskusstva‹ Aleksandra Grina. In: Novyj mir 1 (janvar’ 1950), 257–272, hier 271. Dt.: »inhaltsleere, blutleere Sprache einer schlechten, und manchmal schlicht fehlerhaften Übersetzung aus einer Fremdsprache«. 507 BV, 179. Dt.: »Gleich wird der Hund anfangen zu bellen.« (BVd, 229); wörtl. in etwa: »Dieser Hund bellt jetzt. Er wird ein Bellen ausstoßen.«. 508 Dt.: ›Dieser Hund wird jetzt anschlagen. Er wird bellen.‹. 509 Vgl. Prochorov, E. I.: Nado li redaktirovat’ klassikov? Otvet V. E. Kovskomu. In: Voprosy literatury 8 (1961), 197–201. 510 Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 100. Dt.: »Halbanalphabetentums«. 511 Ebd. Dt.: »Entstellungen der Sprache«. 512 Vgl. Kovskij, Vadim E.: Kak nado redaktirovat’ klassikov?. In: Voprosy literatury 8 (1961), 196–197; Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 100.

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idiomatischer Sprache bei Nikolaj Gogol’, wie schon Slonimskij, gleichsam nebenbei eine Einordnung Grins in die Tradition der russischen Literatur.513 In Bezug auf die ambivalente Bewertung einzelner Texte Grins in der ersten Rezeptionsphase bietet sich als Beispiel sein erstes längeres Werk, »Alye parusa«, an; zum einen, weil zu Grins kürzeren Erzählungen in der Regel keine eigenen Rezensionen erscheinen – sie werden meist im Rahmen einer Sammelbandbesprechung behandelt; zum anderen, weil es sich dabei um Grins heute mit Abstand bekanntestes Werk handelt, das wie kein anderes für die Grin-Verehrung nach dem Ende des Stalinismus steht. 1923 findet sich in Krasnaja gazeta eine Beurteilung von »Alye parusa«, die der heutigen Rezeption der Povest’ entspricht: »Милая сказка, глубокая и лазурная, как море – специально для отдыха души.«514 In einer Rezension in »Literaturnyj eženedel’nik« (dt.: »Literarische Wochenschrift«) aus demselben Jahr heißt es dagegen: »Все меняается на свете – этого закона не желает признать А.  Грин и потому, оставаясь верным себе, пишет все те же паточные феерии […]. Такова гриновская ›совокупность‹ – его стиль, какая же это дешевая сахарная карамель!«515 Ähnlich zweischneidig fällt die Bewertung des heute ebenfalls als eines der besten Werke Grins geltenden Romans »Blistajuščij mir« aus, hier sogar innerhalb ein und derselben Rezension von 1924. Deren Verfasser Kremen’ zeigt sich einerseits irritiert vom Thema des fliegenden Menschen – »Человек летает просто так […]. И всего удивительнее то, что неизвестно, для чего он это делает.«516 – und kritisiert ebenfalls Grins Sprache, ist andererseits aber von der reichen Phantasie des Werks begeistert. Entsprechend fällt auch sein Resümee aus: »Мы приветствуем роман с таким возвышенным содержанием и с такой пылкой фантазией, но мы настаиваем лишь на принудительном обучении автора грамоте.«517 Der anonyme Verfasser einer anderen Rezen513 Vgl. ebd., 99. 514 [o. V.]: [Recenzija na knigu:] Grin, A. S. Alye parusa: Povest’ (M. 1923). In: Krasnaja gazeta (večernij vypusk) (29 marta 1923); zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 123. Dt.: »Ein liebes Märchen, tief und azurblau, wie das Meer – speziell für die Erholung der Seele.«. 515 A. S.: Ščuč’e velen’e. [Recenzija na knigu:] Grin A. Alye parusa (Pg., 1923). In: Literaturnyj eženedel’nik 4 (1923), 15. Dt.: »Alles verändert sich auf der Welt – dieses Gesetz möchte A. Grin nicht anerkennen und schreibt deshalb, sich selbst treu bleibend, all diese immergleichen sirupartigen Feerien […]. Solcher Art ist die Grin’sche ›Gesamtheit‹ – sein Stil, was ist das nur für ein billiges zuckriges Karamell!«. 516 Kremen’, A.: [Recenzija na knigu: A. S. Grin: Blistajuščij mir]. In: Krasnaja gazeta (15 nojabrja 1924); zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 171. Dt.: »Der Mensch fliegt einfach so […]. Und am erstaunlichsten ist, dass nicht bekannt ist, wozu er das tut.«. 517 Kremen’, A.: [Recenzija na knigu: A. S. Grin: Blistajuščij mir]; zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 171. Dt.: »Wir begrüßen den Ro-

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sion zu »Blistajuščij mir« aus demselben Jahr bezeichnet den Roman dagegen als hoffnungslos langweilig.518 In einer dritten Rezension zu »Blistajuščij mir« von Šepelenko ist wiederum zu lesen: »›Блистающий мир‹ − одна из наших блестящих неожиданностей –, камень из творческой пращи, прилетевший к нам издалека […]«.519 Im Anschluss stellt er die Frage, warum das Buch nicht abgelehnt wird, obwohl es aufgrund seines fantastischen Inhalts für den »здравого политического компаса«520 schädlich ist, und beantwortet sie damit, dass Grin im Grunde, trotz des ›luftigen‹ Sujets über einen fliegenden Menschen, Realist sei.521 Obwohl Šepelenkos Urteil zu Grins Gunsten ausfällt, klingt in dieser Frage bereits der sich allmählich vollziehende Wandel in der sowjetischen Kultur- und Literaturpolitik an, auf die im folgenden Kapitel eingegangen wird. Im Zuge dessen verstummen die positiven Stimmen in Bezug auf Grins Werk bis zu seinem Tod weitgehend, während die Haltung einer Reihe von Kritikern, vor allem Vertretern der Ideologie einer proletarischen Literatur, »стал прямо враждебным«.522 2.2.2

Zweite Phase (Mitte der 1920er Jahre – 1932): Ablehnung wegen Nichterfüllung des ›sozialen Auftrags‹ der Literatur

In den 1920er Jahren werden die Grundlagen für die Doktrin des Sozialisti­ schen Realismus gelegt, der auf dem Ersten Allunionskongress der sowje­ tischen Schriftsteller im August 1934 als verbindliche Schaffensmethode festgeschrieben wird.523 Zwar erlebt Grin diese literaturhistorische Zäsur nicht mehr, der ihr vorausgehende Prozess der zunehmend lauter werdenden Forderungen an die Literatur, sich in den Dienst der Politik zu stellen, betrifft ihn jedoch durchaus noch, und in nicht geringem Ausmaß. Der bereits nach der Februarrevolution 1917 gegründete »Proletkul’t« (»Proletarskie kul’turno-prosvetitel’nye organizacii«; dt.: »Proletarische Kultur- und man mit einem solch erhabenen Inhalt und mit solch feuriger Fantasie, aber wir bestehen lediglich auf einem Zwangsunterricht in korrektem Schreiben für den Autor.«. 518 Vgl. [o. V.]: [Recenzija na knigu]: Grin A. S. Blistajuščij mir: Roman. (M.; L.; 1924). In: Kniga o knigach 7–8 (1924), 64–65, hier 64; zit. nach Luker: Flight of Fancy, 111. 519 Šepelenko: [Recenzija na knigu:] A. Grin. Blistajuščij mir, 1031. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 14, l. 18. Dt.: »›Blistajuščij mir‹ – eine unserer glänzenden Überraschungen – ist ein Stein aus einer schöpferischen Schleuder, der aus der Ferne zu uns geflogen ist […].«. 520 Ebd., 1032, l. 19. Dt.: »gesunden politischen Kompass«. 521 Vgl. ebd. 522 Kovskij: Romantičeskij mir, 7. Dt.: »offen feindselig wurde«. 523 Vgl. Sojuz sovetskich pisatelej SSSR : Ustav Sojuza sovetskich pisatelej SSSR . In: Luppol, I. K./Rozental’, M. M./Tret’ jakov, S. M. (Hg.): Pervyj vsesojuznyj s’’ezd sovetskich pisatelej 1934. Stenografičeskij otčët. Moskva 1934, 716–718, hier 716.

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Aufklärungsorganisationen«) mit der (selbstgewählten) Aufgabe, kulturelle Bildung unter den Arbeitern zu verbreiten, erhebt schon bald die Forderung nach einer proletarischen Klassenkunst, die aus kollektivistischer Perspektive die soziale Erfahrung der Arbeiterklasse organisieren soll.524 Proletkul’t-Kritiker formulieren dementsprechend Angriffe gegen Schriftsteller ohne klare politische Bekenntnisse zur Revolution (z. B. die Serapionovy brat’ ja) bzw. fordern selbige ein.525 Zwar wirkt der Proletkul’t nach Konflikten mit der Parteiführung und der Streichung der Finanzierung durch das Politbüro ab 1922 nur noch sehr eingeschränkt,526 doch seine Position der vorrangig agitatorischen Funktion der Kunst wird von der Anfang der 1920er Jahre entstehenden ›proletarischen‹ Literaturbewegung übernommen, die den Anspruch erhebt, die Parteilinie in literaturpolitischen Fragen zu vertreten. Eine führende Rolle kommt darin der 1922 gegründeten Gruppe »Oktjabr’« (dt.: »Oktober«) mit ihren Zeitschriften »Na postu« (dt.: »Auf Posten«) und »Oktjabr’« zu, in denen, vor dem Hintergrund der ›bürgerlichen‹ Ideologie in der Periode der NĖP (Novaja ėkonomičeskaja politika; dt.: Neue ökonomische Politik), zur Beschleunigung des Aufbaus der ›proletarischen Klassenkultur‹ aufgerufen wird.527 Als (vorrangige oder sogar einzige) Funktion der Literatur wird im Zuge dessen die Propaganda im Sinne des verschärften Klassenkampfs festgelegt.528 Schriftsteller, die diese Forderung nicht erfüllen, werden scharf angegriffen und als vragi (dt.: Feinde), im günstigsten Fall als poputčiki (Trockij; dt.: Mitläufer) – mit klar pejorativer Konnotation – bezeichnet.529 1925 folgt in diesem Geiste die Gründung der RAPP, die bis zu ihrer Auflösung 1932 zunehmend an Einfluss gewinnt und ihre stark soziologisch ausgerichteten Positionen ab 1926 in der Zeitschrift »Na literaturnom postu« (dt.: »Auf literarischem Posten«) vertritt.530 Ihr Generalsekretär Leopol’d Averbach gibt als oberstes Ziel die Festigung der ›proletarischen‹ Literatur aus, verstanden als Literatur, die die Realität aus der Perspektive des Proletariats abbildet und »den Leser ›gemäß den Aufgaben der Arbeiterklasse‹ beeinflußt«.531 Aus diesem Anspruch leitet sich das Schlagwort des ›sozialen Auftrags‹ (social’nyj zakaz)532 als zentrale Forderung an die Literatur ab,533 524 Vgl. Kasper, Karlheinz (Hg.): Russische Prosa im 20. Jahrhundert. Eine Literatur­ geschichte in Einzelporträts. 1914–1934. München 1993, 305 f. 525 Vgl. ebd., 201. 526 Vgl. ebd., 307. 527 Vgl. ebd., 320. 528 Vgl. Kovskij: Romantičeskij mir, 7. 529 Vgl. Kasper: Russische Prosa, 321. 530 Vgl. ebd., 322. 531 Ebd., 323. 532 Auch: obščestvennyj zakaz; dt.: gesellschaftlicher Auftrag. 533 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 42.

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das faktuales Schreiben, etwa über Industriekomplexe oder landwirtschaftliche Kollektive, anstelle fiktionaler Inhalte propagiert.534 Generell wird von der RAPP unter dem von Lenin (aus seinem Aufsatz »Partijnaja organizacija i partijnaja literatura«; dt.: »Parteiorganisation und Parteiliteratur« von 1905)535 übernommenen und für eigene Interessen verwendeten Begriff der partijnost’ literatury (dt.: Parteilichkeit der Literatur) eine zur ideologischen Erziehung der Leser beitragende Literaturproduktion auf Parteilinie gefordert.536 Im Zuge dessen startet die RAPP unter der Losung »Долой Шиллера!«537 auch eine Offensive gegen die als für die gewünschte Entwicklung der Literatur schädlich eingestufte Romantik im Allgemeinen.538 Die scharfen Angriffe der RAPP, die bisweilen die Gestalt von »politischen Vernichtungsfeldzüge[n]«539 annehmen, richten sich, neben zahlreichen anderen Schriftstellern, gegen Vertreter des »Lef« (»Levyj front iskusstv«; dt.: »Linke Front der Künste«) und selbst gegen Gor’kij, Aleksej Tolstoj und Maja­kovskij.540 Dass auch Grin in diesem kulturpolitischen Klima nicht von heftiger Kritik verschont bleibt, ist wenig überraschend, sind seine Werke doch in vielerlei Hinsicht weit entfernt von einer Erfüllung der erhobenen Forderungen. Denn aus der Losung des social’nyj zakaz leitet sich unter anderem der Anspruch an die Schriftsteller ab, in ihren Werken aktuelle und alltägliche bzw. lebensnahe (im Idealfall der Lebenswelt des Proletariats entnommene)  Themen wirklichkeitsgetreu, also grundsätzlich im Stil des Realismus,541 darzustellen. Sowohl die Einflüsse aus der Abenteuerliteratur und die damit verbundenen fremden und / oder fiktiven Schauplätze als auch die häufigen phantastischen oder märchenhaften Elemente in Grins Werken stehen in diametralem Gegensatz dazu. Die Forderung nach Aktualität erfüllen viele Werke Grins aufgrund fehlender (oder nicht erkannter, da impliziter) Bezüge zum aktuellen Zeitgeschehen 534 Vgl. Luker: Introduction. Selected Short Stories, 24. 535 Vgl. Lenin, Vladimir I.: Partijnaja organizacija i partijnaja literatura. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Tom 12. Oktjabr’ 1905 – aprel’ 1906. Pjatoe izdanie. Moskva 1960, 99–105. 536 Vgl. Eimermacher, Karl: Die sowjetische Literaturpolitik 1917–1932. Von der Vielfalt zur Bolschewisierung der Literatur. Analyse und Dokumentation. Bochum 1994, 37. 537 Fadeev, A.: Doloj Šillera. Reč’ na II Pleniume RAPPa. In: Na literaturnom postu 21–22 (1929), 4–9. Dt.: »Nieder mit Schiller!«. 538 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 3; Tarasenko: Dom Grina, 39. 539 Kasper: Russische Prosa, 73. 540 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 39; Kasper: Russische Prosa, 323. 541 Die Idee des Sozialistischen Realismus, der zufolge die Wirklichkeit nicht mehr dargestellt werden soll, wie sie ist, sondern »в ее революционном развитии« (Sojuz sovetskich pisatelej SSSR : Ustav Sojuza sovetskich pisatelej SSSR , 716. Dt.: »in ihrer revolutionären Entwicklung«), also so, wie sie sein soll bzw. den ideologischen Vorstellungen zufolge sein wird, ist in den 1920er Jahren noch nicht relevant.

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nicht. Hinzu kommt eine in manchen seiner Texte bestehende grundsätzliche Unmöglichkeit der zeitlichen Einordnung aufgrund fehlender oder widersprüchlicher Hinweise, z. B. durch die anachronistische ›Koexistenz‹ von Artefakten aus alten Zeiten mit neuesten technischen Entwicklungen. Mit diesen Werkinhalten könnte Grin kaum weiter entfernt sein von den sowjetischen Projekten der Industrialisierung und Elektrifizierung, deren literarische Darstellung von den Schriftstellern erwartet wird. In einem bezeichnenderweise unter dem Titel »Avantjurnaja literatura« (dt.: »Abenteuerliteratur«) veröffentlichten Kommentar zu Grins Sammelband »Šturman ›Četyrëch vetrov‹« identifiziert Dinamov dementsprechend als typisches Muster von Grins Erzählungen deren Konstruktion »в отрыве от времени и, пожалуй, пространства«542 und konstatiert dann: »он безнадежно далек от нашей современности«.543 Auch das gegen Grin verwendete Klischee der »›rückwärtsgewandten‹ Romantik«544 lässt sich hier einordnen.545 542 Dinamov, S. S.: Avantjurnaja literatura. In: Knigonoša 26 (1926), 28–29, hier 29. Dt.: »losgelöst von Zeit und, möglicherweise, Raum«. 543 Ebd. »Dt.: »er ist hoffnungslos weit entfernt von unserer Gegenwart«. Gegen den Anspruch der thematischen Aktualität an Grins Werke argumentiert der Kritiker Frid, dass dieses Kriterium aufgrund der Besonderheiten seines Schreibens bei ihm schlichtweg nicht anwendbar sei: »[…] писательская индивидуальность Грина, все особенности его письма делают правильным отношение к нему, как к писателю старому, о котором сразу и не скажешь, в каком десятилетии (или столетии) и в какой стране он жил; от которого созвучности с эпохой и не потребуешь. И при таком подходе становятся виднее наиболее ценные черты его дарования.« (Frid: [Recenzija na knigu:] Grin A. Gladiatory; zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Okončanie. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 6, l. 5 f.; Hervorhebung von A. B. Dt.: »[…] die schriftstellerische Individualität Grins, sämtliche Besonderheiten seines Schreibens machen eine Haltung ihm gegenüber richtig, wie gegenüber einem alten Schriftsteller, über den man nicht sofort sagen kann, in welchem Jahrzehnt (oder Jahrhundert) und in welchem Land er lebte; von dem man einen Gleichklang mit der Epoche auch nicht verlangt. Und bei einer solchen Betrachtungsweise werden die wertvollsten Züge seines Talents sichtbarer.«). 544 Kasper: Nachwort, 284. 545 Das Kriterium der Aktualität von Texten wird von der zeitgenössischen marxistischen Literaturkritik der 1920er Jahre in der Regel an der Behandlung von Themen gemessen, die die politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Entwicklung seit der Revolution betreffen. Dass sich Grins Verständnis von ›Aktualität‹ davon stark unterscheidet, wird anhand seiner Antwort deutlich, die er 1924 anlässlich des 125-jährigen Jubiläums des Geburtstags Puškins auf die Frage »Coвременен ли А. С. Пушкин?« (dt.: »Ist A. S. Puškin aktuell?«) gibt: »То есть, современна ли природа? Страсть? Чувства? Любовь? Современны ли люди вообще?« (zit. nach Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 533. Dt.: »Das heißt, ist die Natur aktuell? Leidenschaft? Gefühle? Liebe? Sind Menschen im Allgemeinen aktuell?«). (Die Bemerkung entstammt dem Text »Vospominanija ob A. S. Puškine« (dt.: »Erinnerungen an Puškin«), den Grin für die Veröffentlichung in einer Sonderzeitung des Sojuz pisatelej (dt.: Schriftstellerverband) anlässlich des PuškinJubiläums verfasst. Grins Einsendung wird nicht in der Zeitung publiziert (vgl. Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 531 f.); der Text ist aber vollständig in Sandlers Zusammenstellung von Dokumenten zu Grin enthalten (vgl. ebd., 532 f.).

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Eng verbunden mit dem Vorwurf der fehlenden Aktualität ist der der Lebensferne, welcher in Rezensionen zu Grin aus diesen Jahren immer wieder anzutreffen ist und ebenfalls unterschwellig oder offen mit dem Absprechen jeglicher soziopolitischer Relevanz einhergeht. Grins Art zu schreiben wird also als eine Art uchod bewertet und verurteilt, d. h. als die in der russischen Kultur verwurzelte Strategie des (räumlichen) Weggehens und Ausweichens, beispielsweise nach Sibirien wie im Fall der Altgläubigen, oder eben, wie bei Grin, in seine fiktiven Welten. Tatsächlich ermöglicht Grin sein Schreiben des Fremden, gerade in Form der in vielen seiner Werke vorliegenden Abkehr von einer realistischen Darstellung der russischen Wirklichkeit, eine größere Gestaltungsfreiheit in Bezug auf die Handlung, die Figuren und die Schauplätze bzw. ein Vermeiden von Widersprüchen, die aus der Wahl eines realistischen, russischen Settings bei gleichzeitiger Nichtberücksichtigung der in ihm herrschenden Gesetzmäßigkeiten und Logiken – wie auch bestehender Konventionen der literarischen Darstellung russischer Räume  – resultieren würden. Dies trifft bereits auf viele von Grins vorrevolutionären Werken zu und verstärkt sich nach 1917 durch das erhöhte Konfliktpotential aufgrund der nun postulierten ideologischen Funktion der Literatur noch einmal deutlich. Ironischerweise ist trotz dieser Vermeidungsstrategie ein Konflikt unter den gegebenen kulturpolitischen Umständen unvermeidbar – und resultiert sogar gerade aus dem uchod: Obwohl es sich dabei zweifelsfrei nicht um eine Reaktion Grins auf die Revolution handelt – denn fiktive Schauplätze halten ja bereits ein Jahrzehnt zuvor Einzug in Grins Werk – ist ein solcher literarischer Weggang aus der sowjetischen Realität ideologisch höchst unerwünscht. So schreibt etwa der Kritiker Meč explizit von einer »отсталость от жизни«,546 ebenso diagnostizieren die Kritiker A. Sventickij und G. Lelevič eine Distanz von Grins Werken zum ›wahren‹ Leben;547 von allen wird dies als Merkmal für Dekadenz eingestuft und dementsprechend negativ bewertet.548 In einer Rezension zu Grins Sammelband »Gladiatory« identifiziert Zorič die Losgelöstheit vom Leben als entscheidenden Unterschied Grins zu Jack London, dem er aufgrund der Abenteuerthematik ansonsten nahestehe: »Лондон до краев насыщен жизнью. Грина же отделяет от жизни пропасть, которую он и не пытается, кажется, перейти.«549 Von dieser Beobachtung

546 Meč, A.: Skučno. [Recenzija na knigu:] Grin A. S. Rasskazy (M., 1923). In: Literaturnyj eženedel’nik 23 (1923), 16. 547 Vgl. Sventickij, A.: [Recenzija na knigu:] Grin A. S. Serdce pustyni: Rasskazy (M., 1924). In: Krasnyj žurnal dlja vsech 6 (1924), 481; Lelevič, G.: [Recenzija na knigu:] Grin A. Na oblačnom beregu (L., 1925). In: Pečat’ i revoljucija 7 (1925), 270–271. 548 Vgl. Kirkin: A. S. Grin v pečati, 9.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 9. 549 Zorič, A.: [Recenzija na knigu:] Grin A. Gladiatory: Rasskazy (M., 1925). In: Pravda 243 (23 oktjabrja 1925); zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed.

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ausgehend, zählt Zorič gleich eine ganze Reihe von in diesen Jahren bestehenden Anforderungen an die Literatur auf, die Grins Erzählungen nicht erfüllen: »Грин пишет вне жизни,  – вне времени и пространства, вне стран и классов и быта […]«.550 Eine übereinstimmende Einschätzung, sogar unter Verwendung derselben Phrase, findet sich in einer anderen Rezension zu demselben Sammelband: Grins Helden aus »Gladiatory« seien »даны вне времени и пространства«.551 Zorič nennt im Anschluss an seine Auflistung der ›Vergehen‹ Grins auch sogleich deren Grund: »[…] рассказы его фантастичны […]«.552 Die hier anklingende Einstufung von fantastischen (im Sinne von: nicht im Stil des Realismus verfassten) Texten als unverantwortlich angesichts der proklamierten soziopolitischen Funktion der Literatur formuliert der Kritiker A. Derman aus der Abteilung für marxistische Kritik und Bibliographie der Zeitschrift »Kniga i profsojuzy« (dt.: »Buch und Gewerkschaften«) aus, wenn er Grin vorwirft, er schreibe »по принципу халтурной безответственной фантастики«.553 Besonders deutlich prangert der einflussreiche Kritiker Lelevič Grins Verweigerung an, sein Schaffen in den Dienst der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft zu stellen. Zwar erkennt er grundsätzlich Grins Talent, wenn auch als Nachahmer Hoffmanns, Stevensons und Poes, an und bezeichnet seine Werke aus der Zeit vor der Revolution als »если не очень нужные, то по крайней мере оригинальные и интересные произведения.«554 Für Grins Texte nach 1917 jedoch erklärt er die Nichterfüllung des social’nyj zakaz für vollkommen inakzeptabel und dekadent: Но невозможно жить на проценты с гофманостивенсоновского капитала на восьмой год пролетарской революции. То, что было увлекательно до войны, chr. 5, l. 192; Hervorhebung im Original. Dt.: »London ist randvoll gesättigt mit Leben. Grin dagegen trennt vom Leben eine Kluft, die er, so scheint es, auch gar nicht versucht zu überschreiten.«. 550 Zorič: [Recenzija na knigu:] Grin A.  Gladiatory; zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 192; Hervorhebung im Original. Dt.: »Grin schreibt außerhalb des Lebens, – außerhalb von Zeit und Raum, außerhalb von Ländern und Klassen und dem Alltag […]«. 551 B. A.: [Recenzija na knigu:] Grin A.  Gladiatory; zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 192. Dt.: »außerhalb von Zeit und Raum entworfen«. 552 Zorič: [Recenzija na knigu:] Grin A.  Gladiatory; zit. nach Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 192. Dt.: »[…] seine Erzählungen sind fantastisch«. 553 Zit. nach Ščepotev: Smotr nizovoj kritiki, 47. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 3. Dt.: »nach dem Prinzip einer stümperhaften, verantwortungslosen Fantastik«. 554 Lelevič: [Recenzija na knigu:] Grin A. Na oblačnom beregu; zit. nach Man’kovskij: Dva­ dcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 191. Dt.: »wenn auch nicht sonderlich notwendige, so doch zumindest originelle und interessante Werke.«.

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стало нестерпимо и скучно сейчас. То, что было терпимо до Октября, стало совершенно несносно в наше время.555

Als Grund dafür ist eine Beurteilung von Abenteuer- und phantastischer Literatur als apolitisch556 oder gar eskapistisch anzunehmen. Auch wenn die Einordnung Grins als Abenteuerschriftsteller in der Nachfolge Stevensons und als Autor des Phantastischen in der Tradition Poes und Hoffmanns sowohl von Lelevič als auch von Zorič ›nur‹ als Grund für den Vorwurf einer inhaltlichthematisch bedingten »антисоциальност[ь]«557 angeführt wird,558 ist darüber hinaus die unterschwellige Aussage enthalten, dass bereits die Orientierung an westlichen Vorbildern per se ›unerträglich in unserer Zeit‹ ist – einer Zeit der Forderung nach einem klaren Bekenntnis zu Revolution und Klassenkampf und scharfer Abgrenzung vom Westen.559 Weitere Faktoren, die vermutlich ebenfalls zu Grins Ablehnung durch die ›proletarische‹ Literaturkritik beitragen, sind seine Bevorzugung individuell agierender Helden, die dem Ideal der literarischen Darstellung einer kollektiven Erfahrung und Anstrengung gegenüberstehen, die Behandlung allgemeinmenschlicher Fragen anstelle aktueller soziopolitischer Inhalte sowie die oftmals starke Ästhetisierung der Texte, die dem von der RAPP vertretenen

555 Lelevič: [Recenzija na knigu:] Grin A. Na oblačnom beregu; zit. nach Man’kovskij: Dva­ dcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 191. Dt.: »Aber es ist nicht möglich, im achten Jahr der proletarischen Revolution von den Prozenten des Hoffmann-Stevenson’schen Kapitals zu leben. Das, was vor dem Krieg faszinierend war, wurde jetzt unerträglich und langweilig. Das, was vor der Oktoberrevolution erträglich war, wurde in unserer Zeit vollkommen unerträglich.«. 556 Vgl. Kasper: Nachwort, 284. 557 Kovskij: Romantičeskij mir, 7. Dt.: »antisoziales Wesen«. Vgl. auch Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 3.  FLMMG , K 247, l. 3. 558 Zwar verhandeln Grins Werke durchaus immer wieder Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Standesunterschieden (s. dazu Kap. 4.1), Unterdrückung der unteren Schichten durch die oberen (vgl. z. B. die durch Bestechungen erwirkte Verhaftung des armen Protagonisten durch einen von ihm beleidigten Mann aus der Oberschicht in »Doroga nikuda«; vgl. DN, 227 f. u. 279–291) und ähnliche Themen, jedoch geschieht dies eben nicht aus einem spezifisch ›proletarischen‹ oder ›sozialistischen‹ Blickwinkel. Interessanterweise werden in diesem Zusammenhang Grins frühe Texte, die die sozialrevolutionäre Bewegung, ihre politischen Ziele und Mittel und die Notwendigkeit eines politischen und sozialen Wandels thematisieren, gänzlich ignoriert. 559 Die ideologische Aufladung der Orientierung an westlichen Autoren nach 1917 wird am Beispiel des Mitglieds der Serapionsbrüder Veniamin Kaverin deutlich, der auf die Kritiker des Proletkul’t und ihre Forderung nach klarer ideologischer Positionierung mit der provokanten Aussage reagiert, dass ihm von den ›russischen‹ Schriftstellern E. T. A. Hoffmann (nach dessen Sammlung »Die Serapionsbrüder« (1819–1821) sich die Schriftstellergruppe benennt) und Stevenson am nächsten stünden (vgl. Kasper: Russische Prosa, 201).

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Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

Primat des Inhalts gegenüber der Form560 widerspricht und zudem nicht zu der Forderung einer Literatur für die einfache Arbeiterschaft passt. Selbst Grins starke Tendenz zur ausführlichen Darstellung des Charakters und Erkundung der Psychologie seiner Helden, die dem von Libedinskij geprägten RAPP-Schlagwort des živoj čelovek (dt.: lebendigen Menschen)561 durchaus entsprechen könnte, wird von den Kritikern nicht gewürdigt – wohl, weil es sich bei Grins ›lebendigen Menschen‹ nicht um Vertreter des Proletariats handelt. Ein kurioses und eindrückliches Beispiel dafür, wie wenig Grins Art zu schreiben in die Zeit passt, stellt sein Beitrag zu dem kollektiven Roman »Bol’šie požary« (dt.: »Große Brände«)562 dar, an dem 24 weitere Autoren, darunter Zoščenko, Kaverin, Slonimskij, Fedin, Babel’, A. Tolstoj, Nikulin und Svirskij, mitarbeiten und der 1927 in Fortsetzung in Nr. 1–25 der Zeitschrift Ogonëk erscheint.563 Grin verfasst das erste Kapitel des Romans mit dem Titel »Strannyj večer« (dt.: »Ein seltsamer Abend«); es beginnt mit einem Satz, der so auch in jedem anderen Werk Grins zu finden sein könnte: »Архивариус военного суда в Лиссе, Варвий Гизель, возвратился со службы, прошел на кухню, чего никогда не делал, и остановился перед плиткой.«564 In der Korrektur, die Grin von Ogonëk zurückerhält, finden sich jedoch zahlreiche Änderungen: Die Handlung wird von Liss in die sowjetische Stadt Zlatogorsk zur Zeit der NĖP versetzt, aus dem Archivar Varvij Gizel’ wird der Schriftführer Migunov und der Chronist Veksel’berg wird in den Reporter der Zeitschrift »Krasnoe Zlatogor’e« (dt.: »Rotes Zlatogor’e«) namens Berloga verwandelt.565 Es sind also genau diejenigen Charakteristika, für die Grin bekannt ist  – die fiktive Stadt Liss, die auch in zahlreichen anderen seiner Texte vorkommt, die fremdklingenden Namen, die fehlenden Bezüge zur außerliterarischen Welt –, welche unerwünscht sind und entfernt respektive ergänzt werden. Über diesen Austausch von Orten, Namen und Berufen mit dem Ziel einer ›Sowjetisierung‹ des Textes hinausgehend, enthält die Korrektur jedoch auch noch weitere, geradezu grotesk anmutende Veränderungen, die offensichtlich darauf abzielen, das Kapitel um jeden Preis mit einem klaren Bekenntnis zur Oktoberrevolution zu versehen. So wird z. B. der Satz eingefügt: 560 Vgl. Kasper: Russische Prosa, 321. 561 Vgl. ebd., 324. 562 Grins Vorschlag für den Romantitel lautet »Motylëk mednoj igly« (dt.: »Der Falter der Kupfernadel«; vgl. sein Manuskript: Grin, Aleksandr: »Motylëk mednoj igly«. Kollektivnyj roman. Glava I. S kommentarijami N. N.  Grin. [1926]. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 25), der Titel »Bol’šie požary« wird von Ogonëk gewählt (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Okončanie. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 6, l. 34). 563 Vgl. ebd., l. 40. 564 Grin: Motylëk mednoj igly. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 25, l. 1ob. Dt.: »Der Archivar des Kriegsgerichts in Liss, Varvij Gizel’, kehrte vom Dienst zurück, ging in die Küche hinein, was er niemals tat, und blieb vor der Kochplatte stehen.«. 565 Vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Okončanie. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 6, l. 38.

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»Здесь незамужнее сердце Ефросинии перебило Мигунова со строгостью самого революционного закона, которому он служил.«566 Die Notwendigkeit eines ›sowjetischen‹ Charakters des Textes bestätigt der Redakteur von Ogonëk, Michail Kol’cov, in einem Brief vom 8. Januar 1927, wenn er angesichts der wütenden Reaktion Grins die, wie er sie nennt, »вынужденны[е] микроскопически[е] поправ[ки]«567 begründet: »Действие романа вне советской действительности, как это обнаружилось из обсуждения, затруднило бы выполнение вещи вплоть до полной неудачи.«568 Unter diesen (literatur-)politischen Bedingungen können Grins Werke, die schon zuvor außerhalb der großen literarischen Strömungen stehen, erst recht nur mehr an der Peripherie existieren.569 Auf die enormen Auswirkungen dieser Situation auf Grins Möglichkeiten zu publizieren  – und damit auch auf seine finanzielle Situation – wurde bereits in Kapitel 2.1.2 hingewiesen. Die letzten Jahre seines Lebens verbringt Grin daher in dem Gefühl, weithin unverstanden zu sein und nicht wertgeschätzt zu werden. Die Phase der Wertschätzung setzt, in einer tragisch-ironischen Wendung des Schicksals, beinahe unmittelbar nach Grins Tod ein. 2.2.3

Dritte Phase (1932–1940): Wertschätzung und Ursprünge des heutigen Grin-Bilds

Aller Wahrscheinlichkeit – angesichts der (kultur-)politischen Entwicklung – zum Trotz wendet sich in den Jahren nach Grins Tod 1932 das Blatt, denn der Autor gerät für einige Zeit weitestgehend aus dem Blickfeld der ideologietreuen Kritiker,570 während zugleich die Qualität seiner Werke, vor allem von Schriftstellerkollegen, unabhängig von politischen Kriterien (an-)erkannt wird. Im Zuge dessen erscheint in den Jahren nach Grins Tod 1932 eine Reihe von positiven Artikeln und Erinnerungen, in denen einige Prinzipien der 566 Zit. nach ebd. Dt.: »Hier unterbrach das unverheiratete Herz Efrosinijas Migunov mit der Strenge des revolutionären Gesetzes selbst, dem er diente.«. 567 Kol’cov, Michail: Pis’mo redakcii žurnala »Ogonëk« A. S. Grinu. 8 janvarja 1927. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 131, l. 5. Dt.: »notgedrungene mikroskopisch kleine Korrekturen«. 568 Ebd. Dt.: »Die Handlung des Romans außerhalb der sowjetischen Realität würde, wie sich in den Diskussionen herausgestellt hat, die Durchführung der Sache erschweren, bis hin zum völligen Misserfolg.«. 569 Vgl. Kovskij: Romantičeskij mir, 7. 570 Gelegentlich finden sich im Verlauf der 1930er Jahre noch Kommentare zu Grin, die in Inhalt und Stil die Kritiken ab Mitte der 1920er Jahre fortsetzen; z. B. bemängelt Roskin in einem Aufsatz, dass Grins Werk außerhalb sozialer Zusammenhänge stehe (vgl. Roskin, A. I.: Sud’ba pisatelja-fabulista. [Recenzija na knigu:] Grin A. Fantastičeskie novelly. In: Chudožestvennaja literatura 4 (1935), 4–8; zit. nach Kirkin: A. S. Grin v pečati, 10. FLMMG , KP 4625 K 748, l. 10).

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Bewertung Grins und seines Werks, die für das Forschungsfeld grinovedenie (dt.: Grin-Forschung) ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre grundlegend werden, ihre Anfänge haben. Zu den Schriftstellern, die Grin hochschätzen, zählen, neben den im Folgenden genannten, auch Jurij Libedinskij, Nikolaj Aseev, Aleksandr Fadeev, Leonid Leonov, Nikolaj Tichonov,571 Valentin Kataev, Lidija Sejfullina, Aleksandr Malyškin, Aleksej Novikov-Priboj,572 Jurij Oleša und Ėduard Bagrickij.573 Als Beginn der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Grin kann der Beitrag Kornelij Zelinskijs aus dem Jahr 1934 betrachtet werden, in dem er unter anderem Sprache und Stil seiner Werke untersucht und, wie schon Gornfel’d 1910 zu Beginn der Literaturkritik zu Grin, Parallelen zwischen diesem und Poe herausarbeitet.574 Es handelt sich dabei um das Vorwort mit dem Titel »Grin«575 zu dem auch von ihm herausgegebenen, mit ca. 600 Seiten umfangreichen Grin-Sammelband »Fantastičeskie novelly« (dt.: »Fantastische Novellen«; 1934 publiziert bei »Sovetskij pisatel’« (dt.: »Der sowjetische Schriftsteller«)), das im selben Jahr in bearbeiteter Fassung unter demselben Titel576 in »Krasnaja nov’« (dt.: »Rotes Neuland«) erscheint. Der Aufsatz erweist sich als enorm einflussreich für die Grin-Rezeption v. a. ab Mitte der 1950er Jahre, da Zelinskij in ihm den Begriff Grinlandija577 für die fiktiven Schauplätze vieler Werke des Autors prägt. Nicht nur erfindet der Kritiker damit eine eingängige Bezeichnung, die bis heute in der GrinForschung wie auch in der populären Rezeption weit verbreitet ist, sondern er erschafft mit dem Namen auch das Konstrukt eines fiktiven Landes, das sich aus den Orten und Landschaften einer Vielzahl von Werken Grins zusammensetzt: Grin »изымает все явления и имена из близких нам земных

571 Tichonov äußert gegenüber Michajlova über Grin: »Прекрасный талант… Жаль, что к концу своей жизни он был так одинок, заброшен…« (Michajlova: Aleksandr Grin, 188. Dt.: »Ein wunderbares Talent… Schade, dass er gegen Ende seines Lebens so einsam, verlassen war.«). 572 Paustovskij erinnert sich an einen Kommentar Novikov-Pribojs über Grin: »Большой человек! Заколдованный. […] Я-то пишу, честное слово, как полотер. А у него вдохнешь одну строчку и задохнешься. Так хорошо.« (Paustovskij: Odna vstreča, 309. Dt.: »Ein Großer! […] Ein Besessener! […] Ich schreibe wie mit der Bohnerbürste, Ehrenwort! Nimmt man aber bei ihm nur eine einzige Zeile in sich auf – dann ringt man schon nach Luft. So schön ist es.« (Paustowskij, Konstantin: Buch der Wanderungen. Erinnerungen. Sechstes Buch: Buch der Wanderungen. Berlin, Weimar 1966, 251–486, hier 313). 573 Vgl. Debüser: Alexander Grin und die Phantastik, 225; Kirkin: A. S. Grin v pečati, 10. FLMMG , KP 4625 K 748, l. 10. 574 Vgl. Kirkin: A. S. Grin v pečati, 10.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 10. 575 Vgl. Zelinskij: Grin. Fantastičeskie novelly. 576 Vgl. Zelinskij: Grin. Krasnaja nov’. 577 Vgl. Zelinskij: Grin. Fantastičeskie novelly, 9; und Zelinskij: Grin. Krasnaja nov’, 200.

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связей и включает в искусственную систему […]«.578 Dadurch werden jene Orte, die zuvor als separate Schauplätze separater Texte betrachtet wurden, von nun an als zusammengehörige Teile eines Ganzen wahrgenommen. Auch wenn das Konzept Grinlandija durchaus problematisch ist – hierauf wird noch genauer eingegangen (s. Kap. 4.2.2) –, kommt Zelinskij in jedem Fall das Verdienst zu, die fremden und / oder fiktiven Schauplätze nicht, wie zuvor in der Regel geschehen, nur als Belege für die Nachahmung westlicher Autoren zu betrachten und, damit einhergehend, meist auch abzuqualifizieren, sondern sie als Alleinstellungsmerkmal und Beweis für Grins schöpferische Fähigkeiten zu erkennen und auf diese Weise stark aufzuwerten. Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Anerkennung Grins als Autor, und sogar als sowjetischer Autor, leistet Konstantin Paustovskij, der zusammen mit Jurij Oleša wohl zu den größten Bewunderern Grins unter seinen Zeitgenossen zu zählen ist. Mit dem bereits erwähnten Aufsatz unter dem Titel »Žizn’ Aleksandra Grina«, der als Vorwort für eine Neuauflage von »Zolotaja cep’« und »Avtobiografičeskaja povest’« im selben Band (1939 bei Sovetskij pisatel’ verlegt) erscheint, verfasst Paustovskij einen der ersten längeren Texte über den Schriftsteller. Darin trägt er, wie der Titel bereits verrät, Daten und Fakten zur Biographie Grins zusammen, über die bis zu diesem Zeitpunkt nur wenig bekannt ist.579 Vor allem aber ist Paustovskijs »Žizn’ Aleksandra Grina« von Bedeutung, weil darin die Basis für zwei grundlegende Tendenzen in der Rezeption Grins gelegt wird, die ab Mitte der 1950er Jahre wieder aufgegriffen werden. Zum einen finden sich hier erste Versuche einer ›sowjetischen Rehabilitierung‹ Grins, die den in den Jahren zuvor geäußerten Vorwürfen gegen Grin, er unterstütze mit seiner nichtfaktualen, ›politisch unverantwortlichen‹ 578 Ebd., 199. Dt.: »nimmt alle Erscheinungen und Namen aus uns nahen irdischen Zusammenhängen heraus und schließt sie in ein künstliches System ein.«. 579 Nach Grins ›Wiederentdeckung‹ Mitte der 1950er Jahre erscheinen noch weitere Artikel von Paustovskij über Grin, darunter die Erinnerungen »On ukrasil moju junost’« und »Odna vstreča« (identisch mit dem ersten Teil des Kapitels »Provody učebnogo korablja« (dt.: »Verabschiedung eines Schulschiffs«) in »Kniga skitanij« (dt.: »Buch der Wanderungen«; Buch 6 der »Povest’ o žizni« (dt.: »Erzählungen vom Leben«; vgl. Paustovskij, Konstantin: Kniga skitanij. In: Ders.: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach. Tom pjatyj. Povest’ o žizni. Vremja bol’šich ožidanij. Brosok na jug. Kniga skitanij. Moskva 1968, 403–574, hier 449–454) sowie, ebenfalls mit Erwähnung Grins, »Vospominanie o Kryme« (dt.: »Erinnerung an die Krim«). Im letztgenannten Text stellt er Grin in eine Reihe mit Puškin, Čechov, Tolstoj und anderen, in deren Schaffen die Krim Spuren hinterlassen hat (vgl. Paustovskij, Konstantin: Vospominanie o Kryme. In: Ders.: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach. Tom vos’moj. Literaturnye portrety. Očerki. Zametki. Moskva 1970, 231–232, hier 232). Außerdem verfasst Paustovskij einen kurzen Aufsatz unter dem Titel »Iz raznych let« (dt.: »Aus verschiedenen Jahren«) über die Manuskripte von Grins unvollendetem Roman »Nedotroga« (vgl. Paustovskij, Konstantin: Iz raznych let. In: Novyj mir 4 (1970), 126–127).

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Literatur die Ziele der Revolution nicht, entgegentritt. Paustovskijs Strategie besteht darin, zunächst einmal Grins literarischen uchod in eine fiktive Welt, der der sowjetischen Literaturkritik der 1920er Jahre als Angriffspunkt dient, mit seinem schwierigen Leben im Zarenreich zu begründen, was impliziert, dass sich aus seiner auch nach 1917 fortgesetzten Bevorzugung nichtrussischer (bzw. nichtsowjetischer) Schauplätze keine negative Haltung Grins gegenüber der Revolution ableiten lässt: Биография Грина – беспощадный приговор дореволюционному строю человеческих отношений. Старая Россия наградила Грина жестоко – она отняла у него еще с детских лет любовь к действительности. Окружающее было страшным, жизнь – невыносимой.580

Aus diesem Grund habe der Autor sich in »страны, созданные из света, морских ветров и цветущих трав«581 geflüchtet.582 Dann allerdings, so Paustovskij, »[п]ришла революция. Ею было поколеблено многое, что угнетало Грина: звериный строй прошлых человеческих отношений, эксплуатация, отщепенство – все, что заставляло Грина бежать от жизни в область сновидений и книг.«583 Dass diese Behauptung die realen Tatsachen gleich in mehrfacher Hinsicht stark zurechtbiegt, ist offensichtlich. Denn erstens ist es unzulässig, die Schuld an Grins ökonomisch und sozial problematischer Kindheit und Jugend und seinem oft von finanziellen Schwierigkeiten geprägten Erwachsenenleben allein dem vorrevolutionären Gesellschaftssystem zuzuschreiben. Und selbst, wenn das der Fall sein sollte, hätte sich, zweitens, Grins Situation mit der Oktoberrevolution dieser Logik zufolge schlagartig verbessern müssen – tatsächlich verschlechtert sie sich aber sowohl während und nach dem Bürgerkrieg als auch ab Ende der 1920er Jahre bis zu seinem Tod sogar gerade wegen der politischen, sozialen und kulturpolitischen Folgen der Revolution gravierend (s. Kap. 2.1.2). Drittens schließlich impliziert die kausale Verknüpfung von widrigen realen Umständen und 580 Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 67. Dt.: »Grins Biographie ist ein schonungsloses Urteil über die vorrevolutionäre Ordnung der menschlichen Beziehungen. Das alte Russland bedachte Grin auf grausame Weise – es nahm ihm schon in der Kindheit die Liebe zur Wirklichkeit. Das ihn Umgebende war schrecklich, das Leben – unerträglich.«. 581 Ebd., 68. Dt.: »Länder, geschaffen aus Licht, Meereswinden und blühenden Gräsern«. 582 Eine solche Interpretation wird durch eine Aussage von Lidin gestützt, der Grin mit den Worten zitiert: »У Грина есть свой мир. Если Грину что-нибудь не нравится, он уходит в свой мир. Там хорошо, могу вас уверить.« (Lidin: Ljudi i vstreči, 164. Dt.: »Grin hat seine eigene Welt. Wenn Grin etwas nicht gefällt, geht er weg in seine Welt. Dort ist es schön, kann ich ihnen versichern.«). 583 Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 68. Dt.: »kam die Revolution. Durch sie wurde vieles ins Wanken gebracht, was Grin bedrückte: die tierische Ordnung der vergangenen menschlichen Beziehungen, die Ausbeutung, das Ausgestoßensein – alles, was Grin dazu brachte, aus dem Leben in die Sphäre der Träume und Bücher zu fliehen.«.

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Grins literarischem Ausweichen nach Grinlandija, dass ein Aufheben jener Umstände durch die Revolution eine Hinwendung Grins zur Darstellung realer Schauplätze bewirken würde, was jedoch nicht der Fall ist. Tatsächlich finden sich in seinen Werken sowohl vor als auch nach der Revolution fiktive und russische (bzw. sowjetische) Handlungsorte, das Jahr 1917 stellt in dieser Hinsicht keinerlei Zäsur dar. Letzteren Widerspruch erkennt Paustovskij selbst und behauptet daher in einem zweiten Argumentationsschritt, dass Grin die Revolution nicht nur freudig begrüßt habe, sondern sich so sehr – fast schon zu sehr – mit ihren Zielen identifiziert habe, dass seine Enttäuschung angesichts von deren nur langsamer Umsetzung umso größer ist: Грин искренне радовался ее приходу, но прекрасные дали нового будущего, вызванного к жизни революцией, были еще неясно видны, а Грин принадлежал к людям, страдающим вечным нетерпением. […] Светлое будущее казалось Грину очень далеким, а он хотел осязать его сейчас, немедленно.584

Mit dieser Behauptung konstruiert Paustovskij zum Ersten eine Haltung Grins zur Revolution, die so zwar nicht der Wahrheit entspricht – er begrüßt sie eher mit Interesse als mit Begeisterung und wendet sich angesichts der durch sie ausgelösten Gewalt, und eben nicht aus Ungeduld, von ihr ab (s. Kap. 2.1.2.3) –, aber dem Zweck seiner Rehabilitierung dienlich ist. Zum Zweiten bietet sie ihm eine Begründung dafür, dass weiterhin viele von Grins Werken an fiktiven Orten, und nicht in der sowjetischen Wirklichkeit spielen: Действительность не могла дать этого Грину тотчас же. Только воображение могло перенести его в желанную обстановку, в круг самых необыкновенных событий и людей. […] Если бы социалистический строй расцвел, как в сказке, за одну ночь, то Грин пришел бы в восторг. Но ждать он не умел и не хотел.585

Hätte Grin die Realisierung des Ideals der sozialistischen Gesellschaft noch erlebt, so die implizite Aussage, hätte er für seine Werke andere Inhalte und Schauplätze gewählt, jedoch: »Он умер слишком рано.«586 584 Ebd., 68. Dt.: »Grin freute sich aufrichtig über ihr Kommen, aber die wunderschönen Fernen der neuen Zukunft, die durch die Revolution ins Leben gerufen worden war, waren noch undeutlich sichtbar, und Grin gehörte zu den Leuten, die an ständiger Ungeduld leiden. […] Die helle Zukunft erschien Grin sehr weit weg, und er wollte sie jetzt, unverzüglich fühlen.«. 585 Ebd., 68 f. Dt.: »Die Wirklichkeit konnte Grin dies nicht sofort geben. Nur die Fantasie konnte ihn in das gewünschte Umfeld versetzen, in den Kreis höchst ungewöhnlicher Ereignisse und Menschen. […] Wenn die sozialistische Ordnung, wie im Märchen, innerhalb einer Nacht erblüht wäre, wäre Grin in Entzücken geraten. Aber warten konnte und wollte er nicht.«. 586 Ebd., 68. Dt.: »Er starb zu früh.«.

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Über diese posthume ›Sowjetisierung‹ Grins hinaus finden sich bei Paustovskij auch die Anfänge seiner Verklärung als Autor des Schönen und Guten, in deren Folge Themen wie Gewalt, Mord, Verbrechen, Verrat oder Perversion, die Grins Gesamtwerk ebenso durchziehen, gänzlich ausgeblendet werden. So schreibt er in »Žizn’ Aleksandra Grina«: »Грин начал писать и создал в своих книгах мир весeлых и смелых людей, прекрасную землю, полную душистых зарослей и солнца […]«.587 Diese Wahrnehmung Grinlandijas als romantisch-idealisierte Utopie, in der edle, mutige Helden das Böse besiegen, wird im Zuge von Grins Wiederentdeckung ab Mitte der 1950er Jahre wieder aufgenommen und avanciert zur dominierenden Lesart, die bis heute die Grinrezeption bestimmt. Darüber hinaus ermöglicht Paustovskij eben jene Fokussierung auf positive, tatkräftige, arbeitsame Helden und ihre Träume wiederum die ›Eingliederung‹ Grins in die sowjetische Literatur, was bis zu diesem Zeitpunkt undenkbar erschien. Denn, wie Paustovskij in »Žizn’ Aleksandra Grina« ausführt: Грин умер, оставив нам решать вопрос, нужны ли нашему времени такие неистовые мечтатели, каким был он. Да, нам нужны мечтатели. Пора избавиться от насмешливого отношения к этому слову. Многие еще не умеют мечтать, и, может быть, поэтому они никак не могут стать в уровень со временем.588

Nähme man nämlich dem Menschen die Fähigkeit zu träumen, »[…] то отпадет одна из самых мощных побудительных причин, рождающих культуру, искусство, науку и желание борьбы во имя прекрасного будущего«589  – mit anderen Worten, Träume seien unabdingbar für das Projekt des Sozialismus: »Грин  – писатель, нужный нашему времени, ибо он вложил свой вклад в дело воспитания высоких чувств, без чего невозможно осуществление социалистического общества.«590 Damit greift Paustovskij einen Gedanken auf, der bereits einige Monate nach Grins Tod in einem Artikel der Schriftstellerin Mariėtta Šaginjan enthalten ist. In 587 Ebd., 67. Dt.: »Grin begann zu schreiben und schuf in seinen Büchern eine Welt fröh­ licher und mutiger Menschen, eine wunderschöne Erde, voll von duftendem Dickicht und Sonne […]«. 588 Ebd., 81. Dt.: »Grin starb und überließ es uns die Frage zu beantworten, ob unsere Zeit solche ungestümen Träumer, wie er einer war, braucht. Ja, wir brauchen Träumer. Es ist Zeit, das spöttische Verhältnis zu diesem Wort loszuwerden. Viele sind noch nicht fähig zu träumen, und vielleicht können sie deshalb auf keine Weise auf eine Ebene mit der Zeit gelangen.«. 589 Ebd., 81 f. Dt.: »[…] dann entfällt einer der mächtigsten Beweggründe, welche die Kultur, die Kunst, die Wissenschaft und den Wunsch nach einem Kampf im Namen einer wunderschönen Zukunft hervorbringen.«. 590 Ebd., 83. Dt.: »Grin ist ein Schriftsteller, den unsere Zeit braucht, denn er hat seinen Beitrag zur Erziehung hoher Gefühle geleistet, ohne die die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft nicht möglich ist.«.

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ihm macht sie erste Schritte in Richtung einer Bestimmung Grins als – im Gegensatz zu den Vorwürfen der letzten Jahre – eben durchaus zeitgemäßer und relevanter Schriftsteller und schreibt »[о] большом воспитательном значении […] для нас литературного творчества Грина«,591 denn die Zeit brauche Träumer. Von Leonid Borisov erscheinen 1939 zwei Artikel zu Grin. Der Titel des einen, »Graždanin rycar’ interesnogo« (dt.: »Bürger Ritter des Interessanten«),592 stellt eine – von Borisov erfundene – Dechiffrierung des Pseudonyms Grin als Akronym (G-r-in) dar.593 Der andere, schlicht betitelt »Aleksandr Grin«,594 enthält im Wesentlichen persönliche Erinnerungen Borisovs an meist kurze Begegnungen mit Grin. Er ist weniger aufgrund seines – nicht sonderlich aussagekräftigen – Inhalts aufschlussreich als vielmehr deshalb, weil er beweist, dass in dieser Zeit offensichtlich genug Interesse an Grin besteht, dass selbst ein solcher Text mit eher geringer Relevanz für das Verständnis Grins oder seines Werks geschrieben und gedruckt wird. Allerdings gilt dies nicht uneingeschränkt: Die Erinnerungen von Grins erster Ehefrau Vera Kalickaja etwa werden 1937 von der Redaktion von Krasnaja nov’ abgelehnt. Die offizielle Begründung, sie aus Platzgründen derzeit nicht drucken zu können,595 entspricht angesichts der Länge des Textes (21 maschinengeschriebene Seiten) möglicherweise tatsächlich der Wahrheit, allerdings wird er auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt und / oder in Fortsetzungen gedruckt. Nach inhaltlichen Gesichtspunkten weit interessanter als Borisovs Artikel sind die Beiträge des Schriftstellers Michail Slonimskij. Er verfasst das zweite Vorwort zu der kombinierten Ausgabe von »Zolotaja cep’« und »Avtobiografičeskaja povest’« aus dem Jahr 1939, in der auch der oben vorgestellte Beitrag von Paustovskij erscheint.596 Sein Aufsatz unter dem Titel »Aleksandr Grin«, der im selben Jahr in »Zvezda« (dt.: »Der Stern«) gedruckt 591 Šaginjan, Mariėtta S.: A. S. Grin. In: Krasnaja nov’ 5 (1933), 171–173, hier 172. Dt.: »[über] die große erzieherische Bedeutung […] des literarischen Werks Grins für uns«. 592 Vgl. Borisov, Leonid: Graždanin rycar’ interesnogo. In: Rezec 4 (1939), 20–21. 593 Über 50 Jahre später nimmt Bystrov diese Bezeichnung in seinem Artikel zu Grins 110. Geburtstag wieder auf, für den er den Titel »Žil na svete bednyj… rycar’« (dt.: »Es lebte auf der Welt ein armer… Ritter«) wählt (vgl. Bystrov, V.: Žil na svete bednyj… rycar’. In: Černomorskaja zdravnica 156 (23 avgusta 1990), 3. In: Bystrov V. A. i Pervova Ju. A., »Žil na svete bednyj… rycar’. »Dver’ zakryta, lampa zažžena«. Stat’i. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 4, l. 1). 594 Vgl. Borisov: Aleksandr Grin; ursprünglich in »Literaturnyj sovremennik« (dt.: »Der literarische Zeitgenosse«), Nr. 7–8 (1939). 595 Vgl. Ermilov, Vladimir V.: [Pis’mo Konstantinu Paustovskomu. 8 nojabrja 1939]. In: Pis’mo Ermilova Vladimira Vladimiroviča Paustovskomu Konstantinu Georgieviču s priloženiem vospominanij Kalickoj Very Pavlovny (pervoj ženy Grina A. S.) = »Ob A. S. Grine« dlja vozmožnogo ispol’zovanija. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 16, l. 1. 596 Vgl. Slonimskij, Michail: A. S. Grin. In: Grin, Aleksandr: Zolotaja cep’. Avtobiografičeskaja povest’. Moskva 1939, 24–35.

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wird,597 geht in gekürzter Form unter dem Titel »Aleksandr Grin real’nyj i fantastičeskij« in den 1972 von Sandler herausgegebenen Sammelband »Vospominanija ob Aleksandre Grine« ein. Neben persönlichen Erinnerungen enthält er unter anderem Aussagen über die Rezeption Grins zu Lebzeiten und Betrachtungen über das Verhältnis von Realität und Fantastik in Grins Werk. Darüber hinaus unternimmt auch Slonimskij, wie Paustovskij, den Versuch, Grin als ›sowjetischen‹ Autor zu rehabilitieren. So schreibt er z. B.: Мотивы одиночества и отчаяния особенно характерны для дореволюционного Грина […]. Но все эти черты постепенно пропадали в Грине в послеоктябрьские годы. Черты эти не выражали подлинного характера Грина.598

Darüber hinaus erscheint in dieser Rezeptionsphase eine Reihe von Literaturkritiken, die ebenfalls um eine von aktuellen kulturpolitischen Forderungen losgelöste Bewertung Grins bemüht sind, unter anderem von Kritikern wie K.  Loks (1933), N.  Oružejnikov (1933), M.  Levidov (1935), C.  Vol’pe (1935) und I. Sergievskij (1936).599 Angesichts dieser nicht geringen Anzahl an relativ objektiven und wertschätzenden Aufsätzen und Kritiken ist eine Aussage wie von Luker, dass erste seriöse und positive Artikel zu Grin erst ab 1956 erschienen seien,600 nicht haltbar. Diese Phase der wohlwollenden Rezeption in den 1930er Jahren geht einher mit der Erstveröffentlichung und Neuauflage zahlreicher Werke Grins, unter anderem von drei zu Lebzeiten nicht gedruckten Erzählungen in Krasnaja nov’ 1933,601 den Sammelbänden »Fantastičeskie novelly« (1934), »Rasskazy« (1935), »Doroga nikuda« (1935), »Rasskazy« (1937) sowie der erwähnten Doppelausgabe von »Zolotaja cep’« und »Avtobiografičeskaja povest’« (1939). Treibende Kräfte dahinter sind viele der hier genannten und einige weitere Schriftsteller und Dichter – Paustovskij, Oleša, Slonimskij, Leonov, Malyškin, Ognëv und Bagrickij – sowie, ganz wesentlich, die Witwe des Autors, Nina Grin.602 597 Vgl. Slonimskij, M.: Aleksandr Grin. In: Zvezda 4 (1939), 159–167. 598 Slonimskij: Aleksandr Grin real’nyj i fantastičeskij, 261. Dt.: »Die Motive der Einsamkeit und der Verzweiflung sind besonders charakteristisch für den vorrevolutionären Grin […]. Aber all diese Merkmale verschwanden bei Grin allmählich in den Jahren nach der Oktoberrevolution. Diese Merkmale drückten nicht den wahren Charakter Grins aus.«. 599 Vgl. Loks, K. G.: A. S. Grin. In: 30 dnej 7 (1933), 68–69; Oružejnikov, N.: Na poljach žurnalov. In: Literaturnaja gazeta (29 ijunja 1933), 2. In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 7; Levidov, M. Ju.: Geroičeskoe; Vol’pe: Ob avantjurno-psichologičeskich novellach; Sergievskij, I. V.: Vymysel i žizn’. In: Literaturnyj kritik 1 (1936), 240–243. Vgl. dazu Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 3.  FLMMG , K 247, l. 3. 600 Vgl. Luker: Aleksandr Stepanovich Grin. Dictionary of Literary Biography, 135. 601 Vgl. Varlamov: Aleksandr Grin, 446. 602 Vgl. [o. V.]: [Gazetnoe soobščenie]. [ok. 1939]. In: Pis’ma izdatel’stv: »Sovetskij pisatel’«, »Chudožestvennaja literatura«, »Žurnal’no-gazetnogo ob’’edinenija«, redakcii žurnala

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Schließlich findet die Bewahrung und Rezeption des literarischen Erbes Grins noch in einer dritten Form statt, denn der Schriftsteller und sein Werk sind nicht nur Gegenstand von Aufsätzen und Erinnerungen, sondern gehen auch in eine Reihe belletristischer Erzeugnisse ein. Paustovskij ›verarbeitet‹ Grin gleich in zwei seiner längeren Werke. Noch zu Lebzeiten Grins erscheint das Werk »Blistajuščie oblaka« (1929; dt.: »Glänzende Wolken«; wohl in Anlehnung an Grins Roman »Blistajuščij mir«)603, dessen Schauplatz Taganrog stark an Grins Zurbagan erinnert, samt dem zugehörigen ›Personal‹ aus abenteuerlustigen Seefahrern und Dichtern. In der Povest’ »Čërnoe more« (1936) ist der Bezug noch deutlicher.604 Darin porträtiert Paustovskij Grin in Gestalt des Schriftstellers Gart,605 dessen Name – vier Buchstaben, eine Silbe, beginnend mit G – nicht nur dem seines realen Vorbilds ähnelt,606 sondern auch bei diesem selbst vorkommt (als reicher Afrikaner Gart in »Serdce pustyni« (1923; dt.: »Das Herz der Wildnis«)607 sowie als Nebenfigur in Gestalt des Bootsmanns Sajlas Gart in »Slabost’ Daniėla Chortona« (1927; dt.: »Die Schwäche des Daniel Horton«)608) und zudem an Bret Harte (russ.: Брет Гарт / Bret Gart) erinnert, dessen Geschichten Grin als Kind mit Begeisterung liest und mit dem er v. a. in den 1910er Jahren immer wieder verglichen wird.609 »Internacional’naja literatura« Grin Nine Nikolaevne o perevode na anglijskij jazyk i pereizdanii proizvedenij A. S. Grina. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 22, l. 27; Varlamov: Aleksandr Grin, 413. 603 Vgl. Paustovskij, Konstantin: Blistajuščie oblaka. Roman. In: Ders.: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach. Tom pervyj. Romany i povesti. Moskva 1967, 189–398. 604 Vgl. dazu Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 98–105. 605 Vgl. Kasper: Russische Prosa, 74. 606 Damit übernimmt Paustovskij zudem ein Muster aus Grins eigenem Schaffen, in dem sich auffällig viele Namen von Haupt- und Nebenfiguren finden, die mit dem Buchstaben G beginnen, z. B. Genik aus »V Italiju« und »Malen’kij zagovor« (1909; dt.: »Ein kleines Komplott«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Malen’kij zagovor. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 178–207. Kürzel: MZ), Gorn aus »Kolonija Lanfier«, Gnor aus »Pozornyj stolb« und »Žizn’ Gnora« (1912; dt.: »Das Leben Gnors«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Žizn’ Gnora. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 608–642. Kürzel: ŽI), Ginč aus »Priključenija Ginča«, Grėj aus »Alye parusa«, Garvej und Gez aus »Beguščaja po volnam« oder Galeran aus »Doroga nikuda« (vgl. Revjakina, A.: Primečanija. In: Grin, Aleksandr S.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 669–701, hier 689). 607 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Serdce pustyni. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 264–272. Kürzel: SP. 608 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Slabost’ Daniėla Chortona. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 491–496. Kürzel: SD. 609 In seinen letzten Lebensjahren veröffentlicht Paustovskij noch einmal zwei Werke, in denen Grin und sein Werk ebenfalls literarisch verarbeitet werden: das Stück »Prostye serdca« (dt.: »Einfache Herzen«; vgl. Paustovskij, Konstantin: Prostye serdca: P’esa v 4-ch dejstvijach, 6-ti kartinach. Moskva 1963) und die Erzählung »Poterjannyj den’«

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Auch Leonid Borisov belässt es nicht bei Aufsätzen über Grin, sondern verfasst eine literarisierte Biographie des Autors unter dem Titel »Volšebnik iz Gel’-G’ju: Romantičeskaja povest’« (dt.: »Der Zauberer aus Gel’-G’ju: Romantischer Kurzroman«), in der er Grin als Zauberer aus einer seiner fiktiven Städte, Gel’-G’ju, porträtiert, sowie einige Erzählungen mit Referenzen auf Grin.610 1980, zum 100-jährigen Jahrestag von Grins Geburtstag, erscheint außerdem die auf Grins »Avtobiografičeskaja povest’« basierende Novelle »Povelitel’ slučajnostej« (dt.: »Der Gebieter der Zufälle«) von Valentin Zorin.611 Außer in diesen Prosaerzeugnissen wird Grin auch in zahlreichen Gedichten verewigt,612 unter anderem von Aleksandr Kovalenkov in »Pamjati A. S. Grina« (dt.: »Zum Gedenken an A. S. Grin«)613 und von Georgij Šengeli in einem Gedicht über die Krim (»Там[,] где могила Волошина, / Там, где могила Грина…«),614 das von Osip Mandel’štam aufgeschrieben wird. Gleichfalls auf das Grab Grins (in Staryj Krym) bezieht sich Roždestvenskij in einem ebenso den Titel »Pamjati A. S. Grina« tragenden Gedicht, in dem er die Bezie(dt.: »Ein verlorener Tag«; vgl. Paustovskij, Konstantin: Poterjannyj den’. In: Ders.: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach. Tom šestoj. Malen’kie povesti. Rasskazy 1922–1940. Moskva 1969, 469–480, hier 476). 610 Vgl. Borisov, Leonid: Volšebnik iz Gel’-G’ju: Romantičeskaja povest’. Leningrad 1945. Vgl. dazu ausführlicher Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 106–112. In den 1960er Jahren erscheinen von Borisov, ähnlich wie bei Paustovskij, weitere Erzählungen mit literarischen Verarbeitungen des Autors und seines Werks: »Budni volšebnika« (dt.: »Die Wochentage des Zauberers«), ein Ausschnitt aus der Povest’ »Spjaščaja krasavica« (dt.: »Dornröschen«), der auf Borisovs eigene fiktionalisierte GrinBiographie »Volšebnik iz Gel’-G’ju« Bezug nimmt (vgl. Borisov, Leonid: Budni volšebnika. In: Iskatel’ 1 (1962), 130–151), »Aprel’ 1920 goda« (dt.: »April 1920«; vgl. Borisov, Leonid: Aprel’ 1920 goda. Rasskaz. In: Prostor 1 (1966), 64–68), »Nemyslimye podarki« (dt.: »Undenkbare Geschenke«; vgl. Borisov, Leonid: Nemyslimye podarki. Rasskaz. In: Prostor 8 (1966), 38–42) sowie »Vtoraja očered’« (dt.: »Die zweite Reihe«; vgl. Borisov, Leonid: Vtoraja očered’. Rasskaz. In: Prostor 5 (1968), 16–31). 611 Vgl. Zorin, Valentin: Povelitel’ slučajnostej. Kaliningrad 1980. Vgl. dazu ausführlicher Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 113–121. 612 Machnëva spricht von etwa 1000 Gedichten über Grin von professionellen Dichtern und Amateuren (vgl. Machnëva, M. A.: ›Zvuk prekrasnyj – imja Grina‹ (A. S. Grin v poėzii). In: Zagvozdkina, T. E. (Hg.): A. S. Grin: Vzgljad iz XXI veka. K 125-letiju Aleksandra Grina. Sbornik statej po materialam Meždunarodnoj naučnoj konferencii ›Aktual’nye problemy sovremennoj filologii‹. Kirov 2005, 259–262, hier 260. 613 Vgl. Kovalenkov, Aleksandr A.: Pamjati A. S. Grina. [ok. 1933–1939]. In: Stichotvorenija, posvjaščënnye pamjati Grina Aleksandra Stepanoviča poėtov Kovalenkova Aleksandra Aleksandroviča, Litvinova V., Šengeli, Smirenskogo Vladimira i dr. Avtografy i maši­ nopis’ s pripiskami Grin Niny Nikolaevny. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 15, l. 1–2. 614 Šengeli, G.: Otryvok iz stichotvorenija G. Šengeli. 1934. In: Stichotvorenija, posvjaščënnye pamjati Grina Aleksandra Stepanoviča poėtov Kovalenkova Aleksandra Aleksandroviča, Litvinova V., Šengeli, Smirenskogo Vladimira i dr. Avtografy i mašinopis’ s pripiskami Grin Niny Nikolaevny. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 15, l. 5. Dt.: »Dort[,] wo das Grab Vološins ist, / Dort, wo das Grab Grins ist…«.

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hung Grins zum Meer thematisiert und über die letzte Ruhestätte des Dichters mit Referenz auf eine der fiktiven Städte Grins schreibt: »И этот край назвал бы Зурбаганом«.615 Vladimir Litvinov versetzt Grin in seinem Gedicht mit dem fast übereinstimmenden Titel »Pamjati Aleksandra Grina« (dt.: »Zum Gedenken an Aleksandr Grin«) sogar direkt in die Welt seiner Werke, unter anderem nach Zurbagan und auf die Sekret (dt.: Geheimnis), das Schiff aus »Alye parusa«.616 Smirenskij widmet »Alye parusa« sogar ein ganzes Gedicht mit demselben Titel.617 Ein zweites Gedicht Smirenskijs, betitelt »Grin«, beginnt mit einer Referenz auf die Hafenstädte Grinlandijas (»В глухих углах морских таверн«)618 und kulminiert in den Zeilen: »Как будто жил он где-то там, / Где не бываем мы«.619 In dem Gedicht heißt es auch, Grin habe viele Märchen geschaffen.620 Wie daraus erkennbar ist, kristallisiert sich als gemeinsamer Nenner dieser literarischen Verarbeitungen Grins im Jahrzehnt nach seinem Tod die Konzentration auf Grins fiktive Schauplätze heraus, die nun oft schon als zusammengehöriges Grinlandija wahrgenommen werden,621 und im Zusammenhang damit eine Hervorhebung von als ›typisch‹ wahrgenommenen Elementen wie dem Meer, Schiffen, Abenteuern und märchenhaften Ereignissen. Die Rezep615 Roždestvenskij, Vsevolod: Pamjati A. S. Grina. In: Literaturnyj sovremennik 2 (1937). In: Stichotvorenija, posvjaščënnye pamjati Grina Aleksandra Stepanoviča poėtov Kovalenkova Aleksandra Aleksandroviča, Litvinova V., Šengeli, Smirenskogo Vladimira i dr. Avtografy i mašinopis’ s pripiskami Grin Niny Nikolaevny. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 15, l. 6–8, hier 8. Dt.: »Und dieses Land würde ich Zurbagan nennen«. 616 Vgl. Litvinov, Vladimir: Pamjati Aleksandra Grina. 1933. In: Stichotvorenija, posvja­ ščënnye pamjati Grina Aleksandra Stepanoviča poėtov Kovalenkova Aleksandra Aleksandroviča, Litvinova V., Šengeli, Smirenskogo Vladimira i dr. Avtografy i maši­ nopis’ s pripiskami Grin Niny Nikolaevny. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 15, l. 3–3ob. 617 Vgl. Smirenskij, Vladimir: Alye parusa. [ok. 1933–1939]. In: Stichotvorenija, posvjaščënnye pamjati Grina Aleksandra Stepanoviča poėtov Kovalenkova Aleksandra Aleksandroviča, Litvinova V., Šengeli, Smirenskogo Vladimira i dr. Avtografy i mašinopis’ s pripiskami Grin Niny Nikolaevny. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 15, l. 11. 618 Smirenskij, Vladimir: Grin. In: Volžskaja nov’ 10 (1940). In: Stichotvorenija, posvja­ ščënnye pamjati Grina Aleksandra Stepanoviča poėtov Kovalenkova Aleksandra Aleksandroviča, Litvinova V., Šengeli, Smirenskogo Vladimira i dr. Avtografy i maši­ nopis’ s pripiskami Grin Niny Nikolaevny. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 15, l. 9–10, hier 9. Dt.: »In den stillen Ecken der Seemannstavernen«. 619 Ebd., l. 10. Dt.: »Als ob er irgendwo dort gelebt hätte, / Wo wir nicht sind.«. 620 Vgl. ebd., l. 9ob. 621 Die Verwendung der von Grin geschaffenen Schauplätze in literarischen Erzeugnissen, die sich auf Grins Werk beziehen, ist keineswegs nur ein Phänomen der 1930er und 1940er Jahre. Im Jahr 2004 erscheint z. B. ein Abenteuerroman von Leonid Ostrecov mit dem Titel »Vsë zoloto mira ili Otpusk v Zurbagane« (dt.: »Alles Gold der Welt oder Urlaub in Zurbagan), dessen Handlung in Grins fiktiver Hafenstadt Zurbagan spielt (vgl. Ostrecov, Leonid: Vsë zoloto mira ili Otpusk v Zurbagane. Moskva 2004); vgl. dazu Oryshchuk: Holidays in Zurbagan, 73.

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tion Grins löst sich hier also von dem in den Jahren zuvor durch die Literaturkritik formulierten Anspruch der Darstellung der sowjetischen Realität und schätzt Grin gerade dafür, dass er in vielen seiner Werke einen gegenteiligen Ansatz verfolgt. Diese Entwicklung ist als komplementäre Erscheinung zu den unter anderem in den oben vorgestellten Aufsätzen von Paustovskij und Šagi­njan betriebenen Versuchen, Grin als Träumer und damit als zeitgemäßen, mit dem Geist der Vision des Sozialismus kompatiblen Autor zu konzeptualisieren, zu betrachten. Die Reduzierung des literarischen Erbes Grins auf diejenigen Werke, die den Schauplatz Grinlandija und die genannten, damit verbundenen Assoziationen aufweisen, setzt sich nach der ›Wiederentdeckung‹ des Autors nach dem Ende des Stalinismus fort  – und zwar sowohl in der literaturwissenschaftlichen als auch in der populären Rezeption. 2.2.4

Vierte Phase (1940–1956): Beschuldigungen des Kosmopolitismus, Formalismus und Reaktionismus

Dass es in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre überhaupt notwendig ist, Grin neu zu entdecken, ist der vierten Rezeptionsphase von ca. 1940 bis zur Mitte der 1950er Jahre geschuldet, die von einigen wenigen, aber umso heftigeren Angriffen auf Grin durch stalinistische Kritiker sowie dem Verbot von Grins Werken geprägt ist. Sie überschneidet sich mit dem Nachhall der positiven Rezeption des vorangegangenen Jahrzehnts während der Kriegsjahre, überlagert diese aber weitgehend. Als Grund für die aggressive Haltung der Kritiker ist der Konflikt zwischen dem soziokulturellen Paradigma des stalinistischen Totalitarismus und Grins künstlerischer Weltsicht zu betrachten.622 Hatte Gornfel’d, wie oben erwähnt, noch 1923 die Einflüsse westlicher Abenteuerschriftsteller als nicht entscheidend eingeordnet, da die fremden Länder und Menschen ein genuin eigenes Produkt von Grins Phantasie seien,623 ist eine solche Lesart nun undenkbar. Die fremden Elemente in Grins Werken führen zu Vorwürfen der fehlenden Vaterlandsliebe bzw. des Kosmopolitismus, also eines inakzeptablen literarischen uchod, gegen Grin, die sich wie ein roter Faden durch die Kritiken dieser Periode ziehen und den Zweck erfüllen, seinen Ausschluss aus der sowjetischen Literatur zu rechtfertigen. Die erste posthume Attacke gegen den Autor, eine »разгромная антигриновская публикация«,624 erscheint am 23. Februar 1941 in Gestalt des Artikels »Korabl’ bez flaga« (dt.: »Schiff ohne Flagge«) von Vera Smirnova in 622 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, iv. 623 Vgl. Gornfel’d: A. S. Grin. FLMMG , n / v 7444, l. 5. 624 Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 41. Dt.: »vernichtende anti-Grin’sche Publikation«.

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der Literaturnaja gazeta.625 Das Publikationsdatum ist kein zufälliges, denn es handelt sich um den Tag der Roten Armee, und der Leitartikel der Ausgabe der Zeitung an diesem Tag ist, vier Monate vor Kriegseintritt der Sowjetunion, dem Soldaten als dem neuen sowjetischen literarischen Helden gewidmet. Vor diesem Hintergrund vertritt Smirnova die Meinung, dass Autoren wie Grin endlich als antisowjetisch entlarvt werden müssen626 – und setzt diese Forderung in ihrem Artikel selbst um. Smirnova appelliert an den Leser, Grins Werke einer nüchternen, nicht von Begeisterung verzerrten Betrachtung zu unterziehen, was ihr zufolge unweigerlich zu der Erkenntnis führt, dass die Diskrepanz zwischen der Phantasie und dem Wissen des Lesers über die reale Welt »причин[у] всех недостатков«627 in Grins Schreiben darstellt. Als Beispiel dafür führt sie ausgerechnet Grins bereits damals erfolgreichstes Werk, die Povest’ »Alye parusa«, an, nicht ohne das Urteil der Unglaubwürdigkeit und Unsinnigkeit indirekt mit einem Hinweis auf Grins Wahl eines bourgeoisen Helden (Grėj) zu verknüpfen: »Алый парус, очаровательный на игрушечной яхте, вырастает до размеров огромной нелепости, претенциозной прихоти богача, который может купить две тысячи метров красного шелка, чтобы получить в жены дочь рыбака.«628 Noch weit gravierender ist jedoch der folgende Vorwurf: »Герои Грина  – люди без родины […]. У корабля, на котором Грин со своей командой отверженных отплыл от берегов своего отечества, нет никакого флага, он держит курс в ›никуда‹.«629 Aus dieser Bewertung der Werke leitet Smirnova die Anschuldigung des mangelnden Patriotismus gegen den Autor selbst ab: Grin »не любил своей родины, он отрекся от земли, на которой никак не мог устроится, и думал, что создал свой собственный ›блистательный‹630 мир […]«.631 625 Vgl. Smirnova, Vera A.: Korabl’ bez flaga. In: Literaturnaja gazeta 8 (23 fevralja 1941), 4. 626 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 41. 627 Smirnova: Korabl’ bez flaga, 4. Dt.: »den Grund für alle Mängel«. 628 Ebd. Dt.: »Das purpurrote Segel, das auf einem Spielzeugsegelboot reizend ist, nimmt Ausmaße einer gewaltigen Absurdität an, einer prätentiösen Laune eines Reichen, der zweitausend Meter roter Seide kaufen kann, um die Tochter eines Fischers als Frau zu gewinnen.«. 629 Ebd. Dt.: »Grins Helden sind Helden ohne Heimat […]. Das Schiff, auf dem Grin mit seiner Mannschaft an Ausgestoßenen von den Ufern seines Vaterlands wegfuhr, hat keine Flagge, es hält Kurs nach ›Nirgendwo‹.«. 630 Kovskij weist darauf hin, dass Smirnova hier vermutlich ›блистающий‹ (dt.: ›glänzend‹) meint, in Anspielung auf Grins Roman »Blistajuščij mir« (vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 78). Diese Annahme liegt nahe, weil der zuvor verwendete Ausdruck »никуда« (dt.: »nirgendwohin«) höchstwahrscheinlich ebenfalls auf einen Roman des Autors, »Doroga nikuda«, referiert. 631 Smirnova: Korabl’ bez flaga, 4. Dt.: »liebte seine Heimat nicht, er sagte sich von der Erde los, auf der er sich auf keinerlei Weise einrichten konnte, und dachte, dass er seine eigene ›glanzvolle‹ Welt geschaffen habe […]«.

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Smirnova bestimmt Grin damit als Autor, dessen Umgang mit kulturell und national Eigenem und Fremdem in diametralem Gegensatz zur offiziellen stalinistischen Kultur und ihrem – in dieser Zeit angesichts der weltpolitischen Lage zunehmend an Bedeutung gewinnenden – Verständnis von Patriotismus steht und der daher aus der sowjetischen Literatur ausgeschlossen werden muss.632 Paradoxerweise ermöglicht gerade der Eintritt der Sowjetunion in den Zweiten Weltkrieg (Velikaja otečestvennaja vojna; dt.: Großer Vaterländischer Krieg) ein kurzes Intermezzo der positiven Bewertung Grins. Dies lässt sich zum Ersten durch eine allgemeine Abschwächung der ideologisch bedingten Repressionen gegen Kulturschaffende erklären,633 die die literarische Rückkehr von in den 1930er Jahren zum Schweigen gebrachten oder vergessenen Autoren wie Anna Achmatova ermöglicht.634 Zum Zweiten scheint das Bedürfnis nach optimistischen Werken, die vom Sieg des Guten über das Böse, von der Verwirklichung von Träumen erzählen – wozu Grins Werke der v. a. von Paustovskij begründeten, verklärenden Rezeption Grins nach zu zählen sind – so sehr zu überwiegen, dass es für kurze Zeit möglich wird, über die nichtrussischen Schauplätze hinwegzusehen. 1943 wird im von deutschen Truppen eingeschlossenen Leningrad eine Lesung von »Alye parusa« im Radio übertragen,635 das Bol’šoj teatr (dt.: Bolschoi-Theater / Großes Theater) in Moskau bringt im selben Jahr mit großem Erfolg das Ballett »Alye parusa« zur Aufführung. Dmitrij Šostakovič schreibt darüber in der »Pravda« (dt.: »Die Wahrheit«) vom 18. Februar 1943: »Театр в наше трудное военное время сумел создать еще одно произведение… близкое нам по своей возвышенной, благородной, гуманистической идее«.636 Paustovskij, die Zeichen der Zeit erkennend und klug für die weitere ›Sowjetisierung‹ Grins nutzend, bezeichnet dessen Werke 1944 im Vorwort zu einem Grin-Sammelband mit dem Titel »Alye parusa« als »oборонными и боевыми«.637 1945 wird noch eine weitere Radioversion von »Alye parusa« realisiert638 sowie die

632 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 42. 633 Vgl. Kasack, Wolfgang: Die russische Literatur des 20. Jahrhunderts vom Symbolismus bis zum Ende der Sowjetunion. In: Jens, Walter (Hg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon. Bd. 20. Essays. Register zu den Essays. München 1988, 386–392, hier 388. 634 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 50. 635 Vgl. ebd. 636 Zit. nach Kovskij: Romantičeskij mir, 9. Dt.: »Das Theater schaffte es in unserer schweren Kriegszeit, noch ein Werk zu kreieren… eines, das uns in seiner erhabenen, edlen, humanistischen Idee nah ist.«. 637 Paustovskij, Konstantin: Aleksandr Grin. In: Grin, Aleksandr: Alye parusa. Moskva, Leningrad 1944, 3–6, hier 6. Dt.: »verteidigend und kämpferisch«. 638 Vgl. Važdaev: Propovednik kosmopolitizma, 259.

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bereits erwähnte fiktionale Grin-Biographie von Borisov »Volšebnik iz Gel’G’ju« publiziert.639 Erneute Angriffe auf und Maßnahmen gegen Grin folgen dann nach dem Erlass des »Orgbjuro CK VKP(b)« (»Organizacionnoe bjuro Central’nogo Komiteta Vsesojuznoj Kommunističeskoj Partii (bol’ševikov)«; dt.: »Organisationsbüros des Zentralkomitees der Kommunistischen Allunionspartei (der Bolschewiken)«) gegen die Zeitschriften Zvezda und »Leningrad«640 vom 14. August 1946, der sich primär gegen die Veröffentlichung ›antisowjetischer‹, ›apolitischer‹, ›dekadenter‹, bourgeoiser‹ und ›pessimistischer‹, kurz: ›ideo­ logisch schädlicher‹ Werke in den beiden Zeitschriften richtet,641 aber darüber hinaus auch als allgemeingültige und für die nächsten Jahre richtungsweisende kulturpolitische Aussage zu betrachten ist.642 In diesem Klima werden Grins Werke in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre als unerwünscht eingestuft643 und ein Teil von ihnen sogar auf die Liste nicht empfohlener Bücher für große Bibliotheken gesetzt644 und daher aus den Regalen der Buchhandlungen und Bibliotheken entfernt.645 Für die Dauer eines ganzen Jahrzehnts nach dem Ende des Krieges werden keine Werke Grins neu verlegt.646 639 Die schriftstellerischen Freiheiten in der Darstellung Grins, die sich Borisov darin nimmt – teils auch notgedrungen, da er Grins Biographie nicht genau kennt –, stoßen allerdings auf wenig Gegenliebe von Seiten der Rezipienten; vgl. dazu z. B. den Artikel von Evgenij Ryss unter dem Titel »Iskažënnyj portret« (dt.: »Ein verzerrtes Porträt«; vgl. Ryss, Evgenij S.: Iskažënnyj portret. In: Literaturnaja gazeta (24 avgusta 1946)) oder die Ablehnung des Romans durch Nina Grin (vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 88). 640 Ausgerechnet in diesen beiden Zeitschriften publiziert Borisov wenige Monate vorher Kapitel aus dem Roman »Volšebnik iz Gel’-G’ju«: unter dem Titel »Volšebnik iz Gel’G’ju« in Nr. 4–6 von Zvedza 1945, unter dem Titel »Tri novelly« (dt.: »Drei Novellen«) in Nr. 1–2 von Leningrad 1945 (vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 51). 641 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 51. 642 Vgl. Orgbjuro CK VKP(b): Postanovlenie Orgbjuro CK VKP(b) o žurnalach ›Zvezda‹ i ›Leningrad‹, 14 avgusta 1946 g. In: Artizov, Andrej / Naumov, Oleg (Hg.): Vlast’ i chudo­ žestvennaja intelligencija. Dokumenty CK RKP(b) – VKP(b), VČK – OGPU – NKVD o kul’turnoj politike. 1917–1953 gg. Moskva 1999, 587–591. 643 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 51. 644 Vgl. Kirkin: A. S. Grin v pečati, 10.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 10. 645 Vgl. Luker: Alexander Grin’s Grinlandia, 191; Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 51. 646 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 3. Vermutlich ohne Zusammenhang mit der Veränderung im kulturpolitischen Klima wird Nina Grin bereits im Februar 1946 wegen – tatsächlich stattgefundener – Zusammenarbeit mit den Deutschen während des Krieges zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt. Sie kommt 1955 im Zuge einer Amnestie frei (vgl. Varlamov: Aleksandr Grin, 417). Diese Information findet in der Sekundärliteratur zu Grin nur äußerst selten Erwähnung (so z. B. in Perminova, N. I.: Grin i Assol’. In: Zagvozdkina, T. E. (Hg.): A. S. Grin: Vzgljad iz XXI veka. K 125-letiju Aleksandra Grina. Sbornik statej po materialam Meždunarodnoj naučnoj konferencii ›Aktual’nye problemy sovremennoj filologii‹. Kirov 2005, 12–15, hier 13), vermutlich, weil sie ein unerwünschtes Licht auf die oftmals ebenso stark wie ihr Mann idealisierte Ehefrau Grins wirft.

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1950 erscheinen dann fast zeitgleich zwei Artikel, »[н]аписанные в худших традициях вульгарного социологизма«,647 genauer gesagt im Geiste der ždanovščina (dt.: Ždanov-Ära) mit ihren Kampagnen gegen den ›Kosmopolitismus‹ (d. h. gegen alle ausländischen Einflüsse; gerade 1948/49 auch mit stark antisemitischer Ausrichtung) und den ›Formalismus‹ (im Sinne eines l’art pour l’art ohne politische Aussage), in denen Grin äußerst scharf attackiert wird. Die Gründe dafür sind offensichtlich, bedenkt man die von Beginn der Rezeption an stets betonten Parallelen Grins mit westlichen Autoren sowie die Hervorhebung des exotischen Grinlandija als Hauptcharakteristikum seines Schaffens in den 1930er Jahren. In seinem Aufsatz »O nacional’nych tradicijach i buržuaznom kosmopolitizme« (1950; dt.: »Über nationale Traditionen und den bourgeoisen Kosmopolitismus«) widmet Tarasenkov Grin mehrere Seiten.648 Er kritisiert mit Bezug auf eben diese letztgenannte Rezeptionsphase den »культ Грина«649 bzw. die »гриновщина«650 bei einem Teil von Grins Schriftstellerkollegen, unter anderem Paustovskij, Oleša und Borisov,651 und nennt sein Werk »архиреакционное явление«.652 Wie schon bei Smirnova liegt auch bei ­Tarasenkov sowohl eine Fokussierung auf die fremden Schauplätze bei Grin als auch, in Bezug darauf, eine undifferenzierte Gleichsetzung von Werkinhalten und unterstellter politischer Haltung des Autors vor: Этот писатель отказался в своем творчестве от изображения русской действительности. Он постоянно жил в мире условных, выдуманных им самим иностранных персонажей. Имена и географические названия, избранные Грином для своих произведений, носят откровенно космополитический характер. Это – какое-то уродливое литературное ›эсперанто‹, с помощью которого писатель отрывался от реальной русской действительности.653

Tarasenkov zieht aus seinen Ausführungen den wenig überraschenden Schluss, dass die Grundlage von Grins Werk »продуманное презрение ко всему 647 Kovskij: Romantičeskij mir, 9. Dt.: »geschrieben in den schlimmsten Traditionen des Vulgärsoziologismus«. 648 Vgl. Tarasenkov, A. K.: O nacional’nych tradicijach i buržuaznom kosmopolitizme. In: Znamja 1 (1950), 152–164. 649 Ebd., 157. Dt.: »Grin-Kult«. 650 Ebd. Dt.: »Grinovščina«, in etwa: »Grintum«. 651 Vgl. ebd., 156 f. 652 Ebd., 155. Dt.: »erzreaktionäre Erscheinung«. 653 Ebd. Dt.: »Dieser Schriftsteller verweigerte in seinem Werk die Darstellung der russischen Wirklichkeit. Er lebte ständig in der Welt seiner fiktiven, von ihm selbst ausgedachten ausländischen Figuren. Die Namen und geografischen Bezeichnungen, die von Grin für seine Werke gewählt wurden, tragen einen offen kosmopolitischen Charakter. Das ist irgendein monströses literarisches ›Esperanto‹, mit dessen Hilfe sich der Schriftsteller von der realen russischen Wirklichkeit losriss.«.

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русскому, национальному«654 bilde und der Autor sich zudem durch einen »антинародное мировоззрение«655 auszeichne. Abschließend spitzt der Kritiker diese Feststellung im selben Atemzug auf das Schlagwort des Kosmopolitismus wie auch den (wenn auch nicht direkt benannten) Vorwurf des Formalismus zu, wenn er Grins Schaffen als verdeckte Umsetzung des literarischen Credos des »искусства для искусства«656 der Serapionovy brat’ ja657 und als »проповедь отказа от реалистических традиций русской литературы, культ литературного космополитизма«658 bezeichnet. Der zweite der beiden Artikel, »Propovednik kosmopolitizma. Nečistyj smysl ›čistogo iskusstva‹ Aleksandra Grina« (dt.: »Der Prediger des Kosmopolitismus. Die unreine Bedeutung der ›reinen Kunst‹ Aleksandr Grins«), stammt von Važdaev und ist vollständig Grin gewidmet. Wie bereits dem Titel zu entnehmen ist, zielt Važdaevs Attacke gegen den Schriftsteller auf dieselben ideologisch begründeten ›Vergehen‹ ab wie Tarasenkovs, nämlich auf Kosmopolitismus und Formalismus (›reine Kunst‹). Sowohl inhaltlich als auch sprachlich weisen die beiden Texte frappierende Übereinstimmungen bis hin zum Gebrauch identischer Formulierungen auf, was die Formel- und Schablonenhaftigkeit der Anschuldigungen belegt. Auch Važdaev kritisiert den »культ А. Грина«659 unter anderem bei Paustovskij, Slonimskij und Borisov, und nennt den Grund dafür auch gleich 654 655 656 657

Ebd. Dt.: »eine durchdachte Verachtung gegenüber allem Russischen«. Ebd. Dt.: »volksfeindliche Weltanschauung«. Ebd., 157. Dt.: »der Kunst um der Kunst willen«. Tarasenkov bezieht sich in seinem Aufsatz auf den oben genannten Erlass vom 14. August 1946, in welchem aus dem – von Tarasenkov als »документ[…] буржуазного эстетства« (ebd. Dt.: »Dokument eines bourgeoisen Ästhetentums«) bezeichneten – Manifest der Serapionsbrüder »Počemu my Serapionovy brat’ja« (1922; dt.: »Warum wir Serapionsbrüder sind«; vgl. Lunc, Lev: Počemu my Serapionovy brat’ja. In: Ders.: Rodina i drugie proizvedenija. Sostavlenie, posleslovie i primečanija M. Vajnštejna. Ierusalim 1981, 279–284) zitiert wird. Der von Tarasenkov wiedergegebene Ausschnitt enthält die Ablehnung der Vorgabe, über aktuelle Themen zu schreiben, und damit einer politischen Instrumentalisierung der Kultur (vgl. Tarasenkov: O nacional’nych tradicijach, 157; im Original: Lunc: Počemu my Serapionovy brat’ja, 281). An einer anderen, von ihm nicht zitierten Stelle des Manifests kommt das von Tarasenkov kritisierte Prinzip des »искусства для искусства« (dt.: »Kunst um der Kunst willen«) noch deutlicher zum Ausdruck; hier schreibt Lunc: »Искусство реально, как сама жизнь. И как сама жизнь, оно без цели и без смысла: существует, потому что не может не существовать.« (ebd. Dt.: »Die Kunst ist real wie das Leben selbst, und wie das Leben selbst ist sie ohne Ziel und ohne Sinn: sie existiert, weil sie existieren muß.« (Lunc, Lev, N.: Warum wir Serapionsbrüder sind. Übersetzt von Gisela Drohla. In: Ders.: Die Affen kommen. Erzählungen, Dramen, Essays, Briefe. Herausgegeben von Wolfgang Schriek. Mit einem Vorwort von Friedrich Scholz. Münster 1989, 257–261, hier 260)). 658 Tarasenkov: O nacional’nych tradicijach, 157. Dt.: »Predigt der Ablehnung der realistischen Traditionen der russischen Literatur, Kult des literarischen Kosmopolitismus«. 659 Važdaev: Propovednik kosmopolitizma, 258. Dt.: »Kult um A. Grin«.

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in seiner ersten, auf Grin bezogenen Zwischenüberschrift: »Писатель без родины«.660 Damit nimmt er die knapp zehn Jahre zuvor von Smirnova formulierte Behauptung wieder auf und stützt sich zudem auf dieselbe Gleichsetzung von Werkinhalten und persönlicher Autormeinung wie Tarasenkov. Denn die »сугубо ›иностранные‹, совсем ›заграничные‹«661 Abenteuer versprechen dem Leser, so Važdaev, die Flucht in eine von der realen Wirklichkeit völlig losgelöste Welt – und das ausgerechnet in der Periode nach der Revolution, während des Aufbaus des Sozialismus, in der sich, wie der Kritiker fälschlicherweise behauptet, Grins Werk entwickelt662 und der Schriftsteller sein Grinlandija als »замаскированн[ый] метод[…] реакционной пропаганды«663 geschaffen habe. Oryshchuk weist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, dass der starke ideologische Konflikt Grinlandijas mit der (Kultur-)Politik des Stali­nismus nicht allein in der Fremdheit des fiktiven Landes begründet liegt, sondern dass Grinlandija als verbal geschaffener Raum in Konkurrenz zur Geographie der UdSSR als einem ebenfalls diskursiven Raum der sowjetischen politischen und sozialen Utopie tritt und daher in deren totalitärem System unmöglich Platz finden kann.664 Für eine solche Lesart sprechen auch die weiteren Ausführungen Važdaevs, in denen er Grins individuelle Utopie als der offiziellen, kollektiven Utopie diametral entgegengesetzt klassifiziert: »А. Грин создал свою утопию – реакционную, враждебную, уводящую назад, в прошлое. Он сознательно отказался от страны будущего, от родины.«665 Das Projekt des Sozialismus als »велик[ую] мечт[у] человечества«666 bezeichnend, konstatiert er, wohl mit Blick auf Paustovskijs und Šaginjans Bezeichnung Grins als Träumer: »А.  Грин никогда не был безобидным ›мечтателем‹. Он был воинствующим реакционером и космополитом«.667 Als »[…]идеолог[…] космополитизма«668 befasse sich Grin in seinen Werken gerade mit dem, »чему нет места в советской реальности«,669 und zwar deshalb, weil er selbige abgelehnt habe.

660 Ebd., 257. Dt.: »Schriftsteller ohne Heimat«. 661 Ebd., 258. Dt.: »höchst ›fremden‹, vollkommen ›ausländischen‹«. 662 Vgl. ebd., 259. 663 Ebd., 262. Dt.: »verschleierte Methode reaktionärer Propaganda«. 664 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 45. 665 Važdaev: Propovednik kosmopolitizma, 265 f. Dt.: »A. Grin schuf seine eigene Utopie – eine reaktionäre, feindliche, eine zurück, in die Vergangenheit, führende. Er sagte sich bewusst vom Land der Zukunft, von der Heimat los.«. 666 Ebd., 259. Dt.: »großen Traum der Menschheit«. 667 Ebd., 259 f. Dt.: »A. Grin war nie ein harmloser ›Träumer‹. Er war ein militanter Reaktionär und Kosmopolit.«. 668 Ebd., 260. Dt.: »Ideologe des Kosmopolitismus«. 669 Ebd. Dt.: »was in der sowjetischen Realität keinen Platz hat«.

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Die genannten Anschuldigungen gegen Grin und seine Werke, die auf der Gleichung ›fremd bzw. ausländisch gleich kosmopolitisch, kapitalistisch, bourgeois, antirevolutionär, reaktionär und antisowjetisch‹ basieren, wiederholt Važdaev im Verlauf seines Aufsatzes noch mehrfach in verschiedenen Variationen, in denen die Begriffe beinahe beliebig austauschbar erscheinen: Grin »укоротил своe имя, чтобы оно звучало на иностранный лад«,670 und sei ein »писатель без родины«,671 »порвав с народом и с Революцией, уйдя в духовную эмиграцию«.672 Grinlandija beschreibt er analog dazu als »населено людьми без родины. Понятия патриотизма, любви к родной земле не существуют для гринландцев«673 und nennt es »космополитический рай, лишeнный всяких признаков русского, национального«,674 »идеализированны[й] капиталистически[й] стро[й]«675 und »буржуазный мир«.676 Die in diesen beiden Artikeln mehr als deutlich zum Ausdruck kommende Anti-Grin-Stimmung bleibt bis zum Einsetzen des ›Tauwetters‹ bestehen. Ebenfalls 1950 erscheint in »Sovetskaja muzyka« (dt.: »Sowjetische Musik«) ein gegen das oben erwähnte, seit 1943 auf dem Spielplan des Bol’šoj teatr stehende Ballett »Alye parusa« gerichteter Artikel unter dem Titel »Komu nužen takoj spektakl’?« (dt.: »Wer braucht eine solche Vorstellung?«).677 Der Eintrag zu Grin in der »Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija« (dt.: »Große sowjetische Enzyklopädie«) aus dem Jahr 1952 gibt als weiterführende Literatur die beiden Artikel von Važdaev und Tarasenkov an und stimmt inhaltlich, wie auch z. T. in den Formulierungen, mit ihnen überein. So heißt es z. B.: »Г[рин] противопоставляет реальной советской действительности некую ›страну-мечту‹ с несуществующими экзотич[ескими] городами Зурбаган и Гель-Гью – своего рода вненациональный космополитич[еский] рай.«678 Zudem betont der Eintrag ein weiteres Mal den scharfen, unversöhnlichen 670 Ebd., 258. Dt.: »kürzte seinen Namen ab, damit er ausländisch klingt«. 671 Ebd., 263. Dt.: »Schriftsteller ohne Heimat«. 672 Ebd., 268. Dt.: »der mit dem Volk und mit der Revolution gebrochen hat und in die geistige Emigration gegangen ist.«. 673 Ebd., 260. Dt.: »bevölkert von Menschen ohne Heimat. Die Begriffe des Patriotismus und der Liebe zur Heimaterde existieren nicht für die Grinländer.«. 674 Ebd., 264. Dt.: »ein kosmopolitisches Paradies, bar jeglicher Merkmale des Russischen, Nationalen«. 675 Ebd., 265. Dt.: »idealisierte kapitalistische Ordnung«. 676 Ebd., Hervorhebung im Original. Dt.: »bourgeoise Welt«. 677 Vgl. Rittrich, M.: Komu nužen takoj spektakl’?. In: Sovetskaja muzyka 5 (1950), 33–34; zit. nach Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 52. 678 Grin. In: Vvedenskij, B. A. (Hg.): Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. Vtoroe izdanie. Tom 12: Golubjanki – Grodovka. Moskva 1952, 616. Dt.: »G[rin] stellt der realen sowjetischen Wirklichkeit ein gewisses ›Traumland‹ mit den nichtexistierenden exot[ischen] Städten Zurbagan und Gel’-G’ju gegenüber – eine Art außer-nationales kosmopolit[isches] Paradies.«.

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Kontrast zwischen Grinlandija und der Sowjetunion: Grin »тенденциозно противопоставляет своих героев – […] людей без родины – народу, к[ото] рый предстает […] в виде темной, тупой и жестокой массы […]«.679 Äußerst aufschlussreich ist der Vergleich dieses Lexikonartikels mit dem Eintrag in der gleichen Enzyklopädie (»Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija«) genau 20 Jahre später, der einen kompletten Wandel in der offiziellen Beurteilung Grins bezeugt. Der Autor wird nun als »русский советский писатель«680 und »[п]исатель-романтик«681 bezeichnet und wie folgt beschrieben: »Г[рин] верил в человека и считал, что все прекрасное на земле зависит от воли сильных, чистых сердцем людей […]«.682 Weiter heißt es: »Идеальные образы Любви, Красоты и Человечности, созданные Г[рином], полны высокого гуманистич[еского] смысла […]«.683 Der Lexikoneintrag bildet das Ergebnis der Rezeption Grins ab 1956 ab, die sich unter anderem durch die hier zum Ausdruck kommende Eingliederung Grins in die sowjetische Literatur, einen verklärenden Blick auf Autor und Werk und seine Konzeptualisierung als romantischer Schriftsteller auszeichnet. Diese Merkmale werden im folgenden Abschnitt herausgearbeitet. 2.2.5

Fünfte Phase (ab 1956): Die ideologische (Um-)Deutung Grins nach dem Ende des Stalinismus

Unmittelbar mit dem Beginn des ›Tauwetters‹ setzt 1956 die letzte Phase der Grin-Rezeption ein. Sie beginnt mit seiner Wiederentdeckung durch Schriftsteller, Kritiker, Leser und schließlich auch Literaturwissenschaftler – bzw. mit einer Neubelebung der Anstrengungen seitens Akteuren wie Paustovskij und anderen, die sich bereits zwei Jahrzehnte zuvor um eine Anerkennung Grins als russischer / sowjetischer Schriftsteller bemüht haben. Wie erfolgreich dies ist, zeigt sich an der Mitte der 1960er Jahre in der Sowjetunion einsetzenden regelrechten grinomanija, während der der Autor und sein Werk einen zu Lebzeiten undenkbaren Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad in der Bevölke-

679 Ebd. Dt.: »stellt seine Helden – […] Menschen ohne Heimat – auf tendenziöse Weise dem Volk gegenüber, das als dunkle, stumpfe und grausame Masse erscheint.«. 680 Rusakova, A. F.: Grin. In: Prochorov, A. M. (Hg.): Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. Tom 7: Gogol’ – Debit. Tret’e izdanie. Moskva 1972, 334–335, hier 334. Dt.: »russischer sowjetischer Schriftsteller«. 681 Ebd. Dt.: »romantischer Schriftsteller«. 682 Ebd. Dt.: »G[rin] glaubte an den Menschen und meinte, dass alles Schöne auf der Erde vom Willen der starken, im Herzen reinen Menschen abhängt.«. 683 Ebd., 335. Dt.: »Die idealen Bilder der Liebe, Schönheit und Menschlichkeit, die von G[rin] geschaffen wurden, sind voll von hoher humanist[ischer] Bedeutung.«.

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rung erlangen: »[…] это был прямо какой-то обвал всеобщего интереса, миллионы людей переживали вместе с его героями.«684 Die ›Grin-Renaissance‹ beginnt mit einem alten und einem neuen Bewunderer des Schriftstellers: 1956 erscheint der Sammelband »Izbrannoe« (dt.: »Ausgewähltes«) bei »Goslitizdat« (»Gosudarstvennoe literaturnoe izda­ tel’stvo«; dt.: »Staatlicher Literaturverlag«) mit Erzählungen Grins und einem Vorwort mit bahnbrechender Wirkung.685 Es handelt sich dabei um den erstmals 1939 publizierten, stellenweise überarbeiteten Aufsatz »Žizn’ Aleksandra Grina« von Paustovskij, dessen langjähriger und kluger Einsatz für Grin nun endlich Wirkung zeigt.686 Noch größere Resonanz hat ein kurz darauf publizierter Artikel eines ›gewöhnlichen‹ Lesers Grins, des Studenten und jungen Journalisten Mark Ščeglov, der 1956 in »Novyj mir« (dt.: »Die neue Welt«) unter dem Titel »Korabli Aleksandra Grina« (dt.: »Die Schiffe Aleksandr Grins«)687 erscheint und auf dessen Inhalt weiter unten noch genauer eingegangen wird.688 Die in der Folge einsetzende Publikationstätigkeit zeugt von Nachholbedarf in dreierlei Hinsicht:689 Erstens wird eine Reihe bis zu diesem Zeitpunkt unbekannter oder vergessener – da zu Lebzeiten oft nur einmal in einer Zeitschrift veröffentlichter  – Werke Grins neu gedruckt. Zweitens wächst das, wie erwähnt, bereits unmittelbar nach dem Tod des Autors aufkommende Interesse an biographischen Informationen zu Grin mit dessen zunehmender Bekanntheit. Es führt zur Veröffentlichung zahlreicher Erinnerungen (s. Kap. 2.1.1) und treibt bisweilen kuriose Blüten, die möglicherweise eine Gegenreaktion 684 Lepichin, N.: Tainstvennyj Aleksandr Grin. (Iz vospominanij čitatelja). In: Bol’šaja kama 38/6404 (18 maja 1983). In: Akvilev, A. A. »Dve vstreči s pisatelem Grinom« = »Dve vstreči s volšebnikom«, »Podruga volšebnika« i dr. vospominanija. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 1, l. 12. Dt.: […] das war direkt eine Art Erdrutsch allgemeinen Interesses, Millionen Menschen erlebten gemeinsam mit seinen Helden.«. 685 Vgl. Debüser: Alexander Grin und die Phantastik, 225. 686 Vgl. Frioux: Alexandre Grin, 81. 687 Die Titelwahl erfolgt vermutlich in Anlehnung an Grins Erzählung »Korabli v Lisse« (1918; dt.: »Schiffe in Liss«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Korabli v Lisse. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 213–232. Kürzel: KV) und als Erwiderung auf Smirnovas Hetzartikel »Korabl’ bez flaga« (1941). 688 Interessanterweise ist der Publikation des Aufsatzes von Ščeglov 1956 in Novyj mir ein kurzer Text vorangestellt, der über den Tod Ščeglovs informiert und sein journalistisches Talent hervorhebt, dabei aber im selben Zuge eine Distanzierung vom Inhalt des Artikels vornimmt: »Возможно, в ней [в статье] есть спорные положения.« ([o. V.]: [Primečanie k stat’e M. Ščeglova: ›Korabli Aleksandra Grina‹]. In: Novyj mir 10 (1956), 220. Dt.: »Möglicherweise gibt es in ihm [im Artikel] kontroverse Positionen.«) Dies zeigt, dass die in »Korabli Aleksandra Grina« eingenommene positive Perspektive auf Grin zu diesem Zeitpunkt noch alles andere als unstrittig, geschweige denn etabliert ist. 689 Vgl. Kirkin: A. S. Grin v pečati, 11.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 11.

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Aleksandr Grin – ein Fremder in der russischen Literatur

auf die zahlreichen, oben angesprochenen Leerstellen und Mythen in Bezug auf Grins Biographie darstellen: Das Leben des Autors wird bis ins kleinste, noch so unbedeutende Detail beschrieben und rekonstruiert. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Grins zweite Ehefrau, die in ihren Memoiren unter anderem Begebenheiten wie das Verpassen eines Zuges690 oder Objekte wie eine »прелестная гравированная серебряная чайная чашечка с блюдцем и ложечкой«691 ausführlich beschreibt. Darüber hinaus werden aber auch viele durch Archivrecherchen gewonnene, literaturwissenschaftlich relevante Informationen zu Grins Biographie veröffentlicht. Drittens schließlich erscheinen, neben zahlreichen Aufsätzen, auch erste literaturwissenschaftliche Monographien zu Grin, von denen die beiden Arbeiten Vadim Kovskijs, »Aleksandr Grin. Preobraženie dejstvitel’nosti« (dt.: »Aleksandr Grin. Die Verwandlung der Wirklichkeit«) und »Romantičeskij mir Aleksandra Grina« (dt.: »Die romantische Welt Aleksandr Grins«)692 als wegbereitend für das heutige ›romantische‹ Grin-Bild hervorzuheben sind, auf das in der Folge noch eingegangen wird. Kovskij, Autor der ersten Grin-Monographie, erklärt die späte Entstehung einer solchen – fast dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Tod des Autors und sechs Jahrzehnte nach dem Beginn seiner schriftstellerischen Karriere – durch die »[н]еобычность литературной судьбы Грина«,693 womit er sowohl das unstete Leben des Schriftstellers als auch den Wandel in seiner Weltanschauung und die extrem widersprüchlichen Bewertungen durch die Literaturkritik meint.694 Weitere wichtige Monographien stammen von Michajlova, Charčev und Prochorov,695 allerdings wird die Qualität der letztgenannten durch zahlreiche falsche Fakten gemindert.696 Vor dem Hintergrund der scharfen Kritik an Grin wenige Jahre zuvor haben einige der Aufsätze (z. B. von M. Ščeglov, V. Smirenskij, Ju. Oleša) geradezu apologetischen Charakter.697 Es scheint also, als würde Grins Prophezeiung, die er angesichts der schwierigen kulturpolitischen Umstände gegen Ende seines Lebens gegenüber seiner zweiten Frau formuliert, nun endlich wahr werden: »Когда же сойдутся пути эпохи и мой? Должно быть, уже без 690 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 83. 691 Ebd., 104. Dt.: »entzückendes graviertes silbernes Teetässchen mit Untertasse und Löffelchen«. 692 »Romantičeskij mir Aleksandra Grina« ist über ganze Absätze hinweg identisch mit »Aleksandr Grin. Preobraženie dejstvitel’nosti«, führt manche Gedanken aber auch weiter aus sowie einige neue an. 693 Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 4.  FLMMG , K 247, l. 4. Dt.: »Ungewöhnlichkeit des literarischen Schicksals Grins«. 694 Vgl. ebd. 695 Vgl. Michajlova: Aleksandr Grin; Charčev: Poėzija i proza Aleksandra Grina; Prochorov: Aleksandr Grin. 696 Vgl. Kirkin: A. S. Grin v pečati, 12.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 12. 697 Vgl. ebd., 11, l. 11.

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меня.«698 Doch auch jetzt stehen seine Werke bei genauerer Betrachtung keineswegs im Einklang mit der ›Epoche‹, sondern sind der sowjetischen Literatur – durch exotische Schauplätze, fantastische Elemente anstelle einer realistischen Abbildung der sowjetischen Wirklichkeit usw. – weiterhin fremd, was gewisse Strategien der ideologischen (Um-)Deutung seitens seiner posthumen Unterstützer erforderlich macht. Diese werden im Folgenden herausgearbeitet. 2.2.5.1

Die Merkmale der Rezeption ab 1956

Aus der Auswertung der literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Grin,699 die in den Jahren und Jahrzehnten nach dem Einsetzen des politischen ›Tauwetters‹ entstehen, wird deutlich, dass sich die in dieser Zeit etablierten Sichtweisen auf den Autor und sein Werk zu zwei Strategien zusammenfassen lassen. Zum Ersten findet eine ›Sowjetisierung‹ Grins statt, die darauf abzielt, eine Übereinstimmung seiner Werkinhalte mit den politischen Zielen und ideologischen Grundsätzen der UdSSR zu konstruieren und Grin so in den Kanon der sowjetischen Literatur einzugliedern. Zum Zweiten kommt es zu einer ›politischen Depotenzierung‹, indem Grin als Kinder- und Jugendbuchautor und Romantiker eingeordnet wird, womit seinen Werken das Potential, soziopolitisch brisante Aussagen zu enthalten, von vornherein abgesprochen wird.700 Obwohl diese Doppelstrategie auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, da sie im ersten Fall eine politische Relevanz postuliert, die sie im zweiten Fall negiert, handelt es sich tatsächlich um eine komplementäre und in dieser Form notwendige Vorgehensweise. Denn da keine der beiden Be­ hauptungen für Grins Gesamtwerk in dieser Form zutrifft  – die erste im Grunde gar nicht, die andere nur mit deutlichen Einschränkungen –, ermöglicht das parallele Verfolgen beider Ansätze eine stark selektive Konzentration auf diejenigen Merkmale, die gemäß der gewünschten Aussage (um-)gedeutet werden können, was dadurch legitim erscheint, dass die aus der Untersuchung 698 Grin, Nina N.: »Bolezn’ Aleksandra Stepanoviča Grina«. Vospominanija. [1952–1954]. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 16, l. 120ob.; zit. nach Michajlova: Aleksandr Grin, 184. Dt.: »Wann nur nähern sich der Weg der Epoche und meiner an? Wohl bereits ohne mich.«. 699 Selbstverständlich treffen die im Folgenden herausgearbeiteten Merkmale der Rezeption Grins ab 1956 nicht auf ausnahmslos alle Publikationen zu Grin zu, bilden jedoch die mehrheitlich vertretenen Perspektiven auf den Schriftsteller und sein Werk ab. Auf abweichende Einschätzungen wird, sofern relevant, am Rande hingewiesen. 700 Oryshchuk definiert fünf wesentliche ideologische Mythen über Grin: seine Unterstützung der Oktoberrevolution; seine Loyalität gegenüber dem politischen Regime; seinen Übergang zum Realismus; seine Wahrnehmung als Kinderbuchautor; sowie »Alye parusa« als wichtigstes Werk Grins. Die ersten drei werden in der hier vorliegenden Studie unter dem Schlagwort der ›Sowjetisierung‹ behandelt, die letzten beiden unter dem der ›politischen Depotenzierung‹ (vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, iv).

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ausgeschlossenen Eigenschaften (zumindest theoretisch) von der jeweils anderen Strategie berücksichtigt werden können. Die Erschaffung dieser ›Grin-Mythen‹ wird notwendig, da mit zunehmender Popularität des Schriftstellers eine Übereinstimmung seines ›fremden‹ Schreibens mit ideologischen Normen unabdingbar wird, um Konflikte mit der offiziellen sowjetischen Literatur- und Kulturpolitik zu umgehen.701 2.2.5.1.1

Die Strategie der ›Sowjetisierung‹ Grins: Unterstützung der Revolution und Übereinstimmung mit der Ideologie des Sozialismus

Die Strategie der ›Sowjetisierung‹ Grins umfasst ihrerseits zwei wesentliche Komponenten: erstens die Behauptung, dass Grin die Revolution willkommen geheißen und / oder ihre Ziele und Ideen unterstützt habe; zweitens die Eingliederung Grins in die sowjetische Literatur durch die Hervorhebung von Inhalten, die mit dem Geist des Sozialismus im Einklang stehen (bzw. so gedeutet werden können). Wie oben bereits angesprochen, sind beide Ansätze schon in den 1930er Jahren, v. a. bei Paustovskij, vorhanden und werden nun wieder aufgegriffen bzw. weiterentwickelt. Grin als Unterstützer der Revolution Hatte Zelinskij 1934 in seinem oben vorgestellten Aufsatz noch ohne Umschweife konstatiert: »Грин, в сущности, никогда не был с революцией.«,702 so machen es die kulturpolitischen Umstände, insbesondere die nur wenige Jahre zurückliegenden scharfen Attacken gegen den Schriftsteller, nun erforderlich, Grin entweder direkt als Unterstützer der Oktoberrevolution oder zumindest als Vertreter ihrer Ideen zu konstruieren.703 Die Frage nach Grins 701 Vgl. ebd., 54. 702 Zelinskij: Grin. Krasnaja nov’, 200 bzw. Zelinskij: Grin. Fantastičeskie novelly, 11 (dort ohne Kommata). Dt.: »Grin war im Grunde niemals auf Seiten der Revolution.«. 703 Auch Paustovskijs oben erwähnter Versuch, Grins mangelnde aktive Unterstützung der Revolution mit seinen schlechten Erfahrungen im vorrevolutionären Russland zu entschuldigen (vgl. Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 67), scheint nun nicht mehr ausreichend für das Projekt der ›Sowjetisierung‹ Grins. Ähnliche Argumentationsmuster, wie etwa bei Dmitrevskij, bleiben die Ausnahme. Dieser ersetzt das zaristische Russland aus Paustovskijs Begründung durch die Bewegung der Sozialrevolutionäre, die ihm zufolge Grins Glauben an die Revolution untergraben haben: »Именно они [эсеры] своим мелким политиканством и бесплодным краснобайством нанесли незаживающую рану в самое сердце писателя, и он предпочел удалиться в мир грез. Именно поэтому в день, когда грянул выстрел с ›Авроры‹, Александр Грин остался на палубе своего корабля-мечты […]« (Dmitrevskij: V cëm volšebstvo, 393. Dt.: »Eben sie [die Sozialrevolutionäre] fügten mit ihrer kleinen Politisiererei und ihrer unproduktiven Phrasendrescherei dem Herzen des Schriftstellers eine unheilbare Wunde zu, und er zog es vor, sich in eine Traumwelt zurückzuziehen. Eben deshalb blieb Aleksandr Grin an dem Tag, als der Schuss von der ›Aurora‹ fiel, auf dem Deck seines Traumschiffs […]«).

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politischer Einstellung im Allgemeinen und zur Oktoberrevolution im Besonderen tritt vor allem im Kontext des 80-jährigen Jubiläums seines Geburtstags im Jahr 1960 in den Vordergrund.704 Um eine Unterstützung der Revolution durch Grin behaupten zu können – entgegen den von Castaing705 herausgearbeiteten und in Kapitel 2.1.2.3 dargestellten Tatsachen –, werden nicht nur Werkinhalte unreflektiert mit persönlichen Ansichten des realen Autors Grins gleichgesetzt, sondern darüber hinaus nach Belieben zurechtgebogen. Auch die Biographie Grins muss als Beweis für seine revolutionären Tendenzen herhalten. Letzteres nimmt bisweilen absurde Züge an, etwa wenn Charčev in Bezug auf den Heimatort Grins, Vjatka, anmerkt, dass es sich dabei um den Verbannungsort von Aleksandr Gercen, Jan Rajnis, Michail Saltykov-Ščedrin und anderen handelt und aus dieser ›revolutionären Tradition‹ des Ortes die Schlussfolgerung zieht: »[…] конечно же все это оказало влияние на формирование мировоззрения и характер будущего писателя Александра Грина.«706 Ebenfalls angeführt wird die Verbannung des Vaters wegen aufrührerischer Aktivitäten – bzw., wie oftmals behauptet, wegen seiner Beteiligung am polnischen Aufstand von 1863 –, woraus gleichsam eine familiäre Neigung zur Revolution abgeleitet wird.707 Deutlich weniger weit hergeholt, aber ebenfalls nicht unproblematisch, erscheint die Argumentation, die sich auf Grins Zugehörigkeit zur Partei der Sozialrevolutionäre zwischen 1903 und 1906 stützt, und daraus auf seine Unterstützung der Oktoberrevolution schließt. Arnol’di etwa schreibt: Не случайно Грин многие годы молодости отдал революционной борьбе. Об этом следует вспомнить, когда обвиняют его в аполитичности. […] Симпатии Грина оставались с теми, кто шел на битву с миром угнетения, жестокости и несправедливости […].708

704 Vgl. Pervova, Julija: Alye parusa v serom tumane. In: Grani: Žurnal literatury, iskusstva, nauki i obščestvenno-političeskoj mysli 147 u. 148 (1988), 143–196 u. 65–128, hier Nr. 148, 83. 705 Vgl. Castaing: Grin et la révolution, passim. 706 Charčev, V.: Čelovek, umevšij pridumyvat’ udivitel’noe. In: Zorin, Valentin: Povelitel’ slučajnostej. Kaliningrad 1980, 5–9, hier 6; zit. nach Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 60. Dt.: »[…] selbstverständlich hatte all dies Einfluss auf die Herausbildung der Weltanschauung und den Charakter des zukünftigen Schriftstellers Aleksandr Grin.«. 707 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 59 f. 708 Arnol’di: Belletrist Grin, 180. Dt.: »Nicht zufällig widmete Grin viele Jahre seiner Jugend dem revolutionären Kampf. Daran muss man erinnern, wenn er einer apolitischen Haltung beschuldigt wird. […] Die Sympathien Grins blieben bei denjenigen, die in den Kampf mit der Welt der Unterdrückung, der Grausamkeit und der Ungerechtigkeit eintraten.«.

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Šklovskij betont ebenfalls, dass Grin »принимал участие в революции«,709 wobei sich zwar aus dem Kontext erschließen lässt, dass es um die Revolution von 1905 geht – allerdings formuliert der Verfasser dies nicht eindeutig, sodass die Aussage von einem weniger aufmerksamen Leser auch durchaus auf die Oktoberrevolution bezogen werden könnte. Einige Zeilen später spricht er sogar vom Werk des »писателя-революционера Александра Грина«.710 Im Zuge der ›revolutionären‹ Deutung von Grins Werken werden die meisten seiner offen antirevolutionären Texte711 in der sowjetischen Sekundärliteratur ab 1956 nicht erwähnt.712 Eine Ausnahme davon stellt Grins satirische Erzählung »Vosstanie« (1917; dt.: »Der Aufstand«)713 dar, die weniger als zwei Wochen vor der Oktoberrevolution in der Zeitschrift »Vol’nost’« (dt.: »Freiheit«) erscheint. Die Erzählung handelt von einem Aufstand in der fiktiven Stadt Zurbagan, in dem sich Prezidion, der Anführer der Aufständischen und Verfechter des Mottos »Все для других!«,714 und der den Grundsatz »Все для себя!«715 vertretende Ferfas gegenüberstehen. Es kommt zum Kampf; doch da keiner der beiden den anderen töten und somit gewinnen kann, vergiften sie sich schließlich selbst. Nur wenige Tage später jedoch stellen zwei andere Männer beim Blick in den Spiegel ihre jeweilige Ähnlichkeit mit Prezidion respektive Ferfas fest und beschließen: »›Итак я – новый Президион!‹ – ›Решено: я новый Ферфас!‹«716 Damit beginnt der Kreislauf – ebenso unausweichlich wie sinnlos – von vorne. Interessanterweise gelingt es einigen Grin-Forschern, selbst diesen Text auf eine Weise zu lesen, die Grins positive Einstellung zur Oktoberrevolution belegen bzw. hervorheben soll, indem ein Gegensatz zwischen seinen Haltungen zu den beiden Revolutionen des Jahres 1917 behauptet wird. Sandler etwa sieht den Anlass für das Verfassen von »Vosstanie« in der Erschießung von Demonstranten während des Juliaufstands 1917 durch die Provisorische Regierung, die zu Grins Abwendung von ihr geführt habe. Anstelle der von den Zeitungen und Zeitschriften geforderten Satiren über die Bol’ševiki habe 709 Šklovskij, Viktor: Sčast’e otkryvat’ mir. In: Izvestija 38 (15 fevralja 1965), 4. Dt.: »an der Revolution teilnahm«. 710 Ebd. Dt.: »Schriftsteller-Revolutionärs Aleksandr Grin«. 711 Vgl. Castaing: Grin et la révolution, passim. 712 Allerdings ist auch nicht auszuschließen, dass viele von ihnen, da sie in den posthum gedruckten Sammlungen nicht enthalten sind, schlichtweg nicht bekannt waren. 713 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Vosstanie. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 66–71. Kürzel: VE . 714 VE , 70. Dt.: »Alles für andere!«. 715 VE , 70. Dt.: »Alles für sich selbst!«. 716 VE , 70. Dt.: »›Somit bin ich der neue Prezidion!‹ – ›Es ist entschieden: Ich bin der neue Ferfas!‹«.

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er daher eine »злейшую сатиру на буржуазную революцию«717 geschrieben, womit Sandler implizit behauptet, Grin habe sich also bereits hier für die Seite der Bol’ševiki und damit für die einige Tage später stattfindende Oktober­ revolution entschieden. Kovskij widerspricht Sandlers Lesart explizit, indem er darauf hinweist, dass es sich bei der Zeitschrift Vol’nost’, in der die Erzählung gedruckt wird, um ein Publikationsorgan handelt, das die Februarrevolution explizit begrüßt und sich auf die Macht der Bourgeoisie stützt.718 Dessen ungeachtet deutet auch Rossel’s »Vosstanie« als Ausdruck von Grins Bitterkeit und Zorn angesichts des Scheiterns der Februarrevolution dahingehend, dass es ihr nicht gelingt, das ›Kleinbürgertum‹ zu besiegen.719 Als Beweis dafür, dass es die Oktoberrevolution im Gegensatz dazu sehr wohl vermag, nicht nur Grins resignierte Haltung zu beenden, sondern ihn sogar für sich einzunehmen, führt er die wenige Monate später erschienene Erzählung »Majatnik duši« (1917/1918; dt.: »Das Pendel der Seele«) an, in der der Kleinbürger Rep’ev vor der Revolution aufs Land flieht und dort vor Angst Selbstmord begeht.720 Vor allem ihr Ende bewertet Rossel’s als klares Zeichen für einen Umschwung in Grins Einstellung: »Между тем грозная живая жизнь кипела вокруг, сливая свою героическую мелодию с взволнованными 717 Sandler: Kak priplyli, 4; zit. nach Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 65. Dt.: »äußerst bösartige Satire auf die bourgeoise Revolution«. 718 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 65. 719 Vgl. dazu auch Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 28. 720 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Majatnik duši. In: Raduga 8 (avgust 1965), 114–116, hier 116. Kürzel: MD. Vgl. dazu Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 373. Castaing gibt an, dass »Majatnik duši« erstmals 1965 publiziert wird (vgl. Castaing: Grin et la révolution, 199). Allerdings befinden sich im RGALI zwei einzelne Seiten aus der Zeitung »Respublikanec« (dt.: »Der Republikaner«), die (nur) das Ende der Erzählung enthalten (vgl. Grin, Aleksandr: [Konec rasskaza »Majatnik duši«]. In: Respublikanec 37–38 [ok. 1917], 7–8. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 215, l. 14–14ob.); das Jahr der Zeitung ist zwar unbekannt, aufgrund der verwendeten alten Orthographie ist aber anzunehmen, dass sie aus der Zeit vor oder kurz nach der Rechtschreibreform von 1918 stammt, sodass davon ausgegangen werden kann, dass es sich bei der Publikation von 1965 um den zweiten Abdruck des Textes handelt. Rossel’s datiert den Erstdruck der Erzählung in Respublikanec auf Dezember 1917 (vgl. Rossel’s: A. Grin. Iz neizdannogo i zabytogo, 644). Die im dritten Band von Grins »Sobranie sočinenij v pjati tomach« (dt.: »Gesammelte Werke in fünf Bänden«) von 1991 (S. 101–106) abgedruckte Erzählung »Majatnik duši« über die Rückkehr eines norwegischen Matrosen in seine Heimat ist fälschlicherweise so betitelt. Es handelt sich dabei um die Erzählung »Vozvraščenie« (1917; dt.: »Die Rückkehr«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Vozvraščenie. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 6. Moskva 1980, 273–278. Kürzel: VV), die unter diesem Titel im sechsten Band von Grins »Sobranie sočinenij v šesti tomach« (dt.: »Gesammelte Werke in sechs Bänden«) von 1980 enthalten ist. Diese Verwechslung resultiert aus dem Umstand, dass die Erzählung über den Selbstmord Rep’evs, die im Originalmanuskript den Titel »Majatnik duši« trägt, durch die Redaktion von Respublikanec unautorisiert mit dem Titel »Vozvraščenie« versehen wird und 1917 (oder 1918) unter diesem erscheint (vgl. Rossel’s: A. Grin. Iz neizdannogo i zabytogo, 644).

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голосами души, внимающей ярко озаренному будущему.«721 Der positive Grundton bleibt laut Rossel’s in den drei Jahren nach der Oktoberrevolution bestehen und wird unter anderem durch den glückbringenden Lotsen BittBoj aus »Korabli v Lisse« verkörpert. In der Povest’ »Alye parusa« sieht er schließlich den endgültigen Sieg über die ›Ferfasy‹ aus »Vosstanie« und damit implizit den Sieg der Revolution.722 Die beiden letztgenannten Punkte – die Feststellung einer positiven Grundstimmung und ›guter‹ Helden seit 1917 und die Verknüpfung von »Alye parusa« mit der Revolution – finden sich bei einer Reihe sowjetischer Literaturwissenschaftler als Argumente für Grins unterstützende Haltung gegenüber der Revolution.723 Dass gerade die Povest’ »Alye parusa« immer wieder als Beleg dafür angeführt wird, mag an ihrem hohen Bekanntheitsgrad liegen; der Hauptgrund ist aber wohl der, dass ihr Inhalt  – die Verwirklichung des Traums der Protagonistin von einem Schiff mit purpurroten Segeln, das eines Tages kommen und sie in ein besseres Leben bringen wird, durch einen edlen Helden – und ihr Entstehungszeitraum (1916–1923) einer solchen Lesart in gewisser Weise entgegenkommen. Michajlova etwa identifiziert als Kernmotiv des Werks den Kampf gegen die Herrschaft der Stagnation. Daraus leitet sie eine »[н]еоспорим[ую] связь феерии, задуманной в 1916 году, с бурно надвигавшейся революцией«724 ab. Vichrov zitiert eine der bekanntesten Stellen aus »Alye parusa« und verknüpft sie mit der Oktoberrevolution: ›[…] Я понял одну нехитрую истину. Она в том, чтобы делать чудеса своими руками…‹ Эти строки из ›Алых парусов‹. Они задумывались в 1917–1918 годах, в те дни, когда люди ›своими руками‹ творили чудеса революционного переустройства жизни.725 721 MD, 116. Dt.: »Währenddessen kochte ringsherum das fürchterliche lebendige Leben und vereinigte seine heroische Melodie mit den ergriffenen Stimmen der Seele, die der hell erleuchteten Zukunft lauschte.«. 722 Vgl. Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 374 f. 723 Dass Grins Werke auch nach 1991 nicht vor einer – in der Zusammenschau der einander widersprechenden Sichtweisen fast schon beliebig erscheinenden  – politischen (Um-) Deutung gefeit sind, zeigt die kuriose Interpretation von »Krysolov« als Grins zutreffende Vision vom Ende des Bolschewismus (gemeint ist das Ende der Sowjetunion 1991)  – symbolisiert durch die Vernichtung der Ratten  – durch Doroškevič; vgl. Doroškevič, Vladimir: ›Krysolov‹ Aleksandra Grina – proizvedenie, soderžaščee neobyčnoe predvidenie konca bol’ševizma v Rossii. In: Nenada, Alla (Hg.): Aleksandr Grin: žizn’, ličnost’, tvorčestvo. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2010, 61–65. 724 Michajlova: Aleksandr Grin, 87. Dt.: »unbestreitbare Verbindung der Feerie, die im Jahr 1916 erdacht wurde, mit der stürmisch herannahenden Revolution«. 725 Vichrov: Rycar’ mečty, 117. Dt.: »›[…] Ich habe eine einfache Wahrheit verstanden. Sie besteht darin, Wunder mit seinen eigenen Händen zu vollbringen…‹ Diese Zeilen stammen aus ›Alye parusa‹. Sie wurden in den Jahren 1917–1918 ersonnen, in jenen Tagen, als die Menschen ›mit ihren eigenen Händen‹ die Wunder der revolutionären Umgestaltung des Lebens schufen.«. Der von Vichrov zitierte Ausschnitt aus »Alye parusa« lautet

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Die meisten Literaturwissenschaftler aber begründen den Bezug der Povest’ zur Oktoberrevolution mit den titelgebenden roten Segeln, die sie als Symbol für diese deuten – analog zu anderen, die Farbe Rot als Symbol der Revolution verwendenden Motiven etwa bei Blok (»Dvenadcat’«, 1918; dt.: »Die Zwölf«) oder Majakovskij (»150 000 000«, 1919–1920).726 So schreibt z. B. Viktor Šklov­­ skij: »[В] алом отблеске парусов времени героиня Грина увидела образ небывалого, и наше небывалое время ее признало«.727 Ähnlich äußert sich Kovskij über die Segel: »Их цвет […] был отблеском зарева революционных преобразований.«728 Diese Interpretation des Werks ist gleich aus mehreren Gründen unzutreffend. Erstens widerspricht ihr Grins generelle Haltung gegenüber der Revolution, was die Lesart von »Alye parusa« als Revolutionstext äußerst unglaubwürdig macht. Zweitens verfasst der Schriftsteller bereits im Juli 1916 die im Original: »[…] я понял одну нехитрую истину. Она в том, чтобы делать так называемые чудеса своими руками.« (AL , 67. Dt.: »[…] ich […] [habe] eine einfache Wahrheit begriffen […]. Diese Wahrheit besteht darin, daß man ›Wunder‹ mit eigenen Händen vollbringen soll.« (ALd, 101)). 726 Vgl. Blok, Aleksandr A.: Dvenadcat’. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij v dvadcati tomach. Tom pjatyj. Stichotvorenija i poėmy (1917–1921). Moskva 1999, 7–20, hier 18 f.; Majakovskij, Vladimir: 150 000 000. Poėma. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij v trina­ dcati tomach. Tom vtoroj. 1917–1921. Moskva 1956, 113–164, hier 145, 153 f., 158 u. 161. Auch der Titel des Romans »Blistajuščij mir« wird als positive Positionierung Grins gegenüber der Oktoberrevolution gedeutet. Vichrov etwa spricht von ihm als »роман, озаглавленный так значительно« (Vichrov: Rycar’ mečty, 143. Dt.: »Roman, der so bedeutsam betitelt ist«). Die Einreihung von »Alye parusa« in die genannten Werke mit eindeutiger Thematisierung der Revolution mag auch durch den Umstand verstärkt worden sein, dass bei den Literaturabenden im Petrograder Dom iskusstv Blok im Juli 1920 sein Poem »Dvenadcat’« präsentiert, am 4. Dezember desselben Jahres Majakovskij aus »150 000 000« liest und am 8. Dezember eine Lesung Grins mit einem Kapitel aus »Alye parusa« stattfindet (vgl. Tarasenko: Dom Grina, 27). 727 Zit. nach Tarasenko: Dom Grina, 28. Dt.: »[Im] purpurroten Widerschein der Segel der Zeit sah die Heldin Grins ein Bild des nie Dagewesenen, und unsere nie dagewesene Zeit erkannte sie.«. 728 Kovskij: Romantičeskij mir, 75. Dt.: »Ihre Farbe […] war ein Abglanz des Feuerscheins der revolutionären Veränderungen.« Der deutsche Slavist Kasper interpretiert »Alye parusa« – wohlgemerkt in einer DDR-Publikation – als Ausdruck der Hoffnungen Grins in Bezug auf die Oktoberrevolution (vgl. Kasper: Alexander Grins phantastische Projektion, 137). Als Belege dafür führt er einige Stellen aus der Povest’ an, z. B. die Bezeichnung der Farbe Purpurrot als »цвет[…] глубокой радости« (AL , 66. Dt.: »Farbe tiefer Freude« (ALd, 100)) und als »совершенно чистый, как алая утренняя струя, […] цвет« (AL , 55. Dt.: »vollkommen reine, dem purpurnen Strömen des Morgens gleichende […] Farbe« (ALd, 82)). Den Protagonisten Grėj bezeichnet er als ersten wichtigen Vertreter in einer Reihe von »Tatmenschen« (Kasper: Alexander Grins phantastische Projektion, 137) Grins und stellt ihn den Menschen der »alten Gesellschaft« (ebd.) gegenüber (vgl. dazu auch Kasper: Nachwort, 292 f.).

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Skizze »Razmyšlenija nad ›Krasnymi parusami‹« (dt.: »Überlegungen zu ›Die roten Segel‹«),729 die Farbe der Segel ist also schon lange vor der Revolution festgelegt.730 Drittens schließlich lautet der ursprüngliche Titel der Povest’, wie auch anhand der soeben genannten Skizze deutlich wird, »Krasnye parusa« (dt.: »Die roten Segel«). Grin verändert den Titel nach 1917 in der dritten Manuskriptvariante und ersetzt die Farbe der Revolution – die mittlerweile Teil der Titel unzähliger Periodika wie Krasnaja nov’, Krasnaja niva, »Krasnyj žurnal dlja vsech« (dt.: »Rote Zeitschrift für alle«) oder Krasnaja gazeta ist – bewusst durch die ungewöhnlichere, nicht politisch aufgeladene Farbnuance alyj (dt.: purpurrot).731 Diese ideologische Lesart der Povest’ ist daher als inkorrekt zu bewerten. Nicht auf die Behauptung einer aktiven Unterstützung der Revolution durch Grin in seinen Texten, aber doch zumindest einer generellen Übereinstimmung mit deren Ideen zielt der zweite genannte Aspekt, die Betonung einer positiven Grundstimmung nach 1917, bedingt v. a. durch die Darstellung positiver Helden, ab. Die Argumentation folgt dabei in der Regel dem Muster post hoc, ergo propter hoc: Eine logische Verknüpfung über die zeitliche Beziehung hinaus wird nicht argumentativ begründet, aber implizit behauptet. Rossel’s etwa betont, dass sich nach der Oktoberrevolution die Zahl der guten, einfachen Menschen in Grins Werk stark erhöht habe und das Thema der dobrota (dt.: Herzensgüte)  von da an einen wichtigen Platz in Grins Prosa einnehme.732 Tarasenko macht eine sehr ähnliche Beobachtung: Während in vorrevolutionären Werken Grins wie »Pozornyj stolb«, »Sinij kaskad Telluri«, »Kolonija Lanfier« oder »Ostrov Reno« einzelgängerische Helden für sich selbst kämpfen, sei in Werken nach 1917 die Welt der Grin’schen Werke häufiger von guten, altruistischen Menschen wie Bitt-Boj aus »Korabli v Lisse«

729 Vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 28. 730 Vgl. hierzu auch Izergina: A. S. Grin, 104. Die Grundzüge des Sujets von »Alye parusa« entwickelt Grin sogar bereits zehn Jahre vor der Revolution: Das während der Verbannung nach Pinega entstandene Gedicht »Melodija« (1917; dt.: »Melodie«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Melodija. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 673–674. Kürzel: ML ; alternativer Titel: »Tanis«) erzählt ebenfalls von einem Schiff, das eines Tages in einen Hafen einfährt, um einem Mädchen namens Tanis (in der publizierten Version: Tais) Glück zu bringen (vgl. Sukiasova: A. S. Grin. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 46). 731 Vgl. Sukiasova: Novoe ob Aleksandre Grine, 72. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 55ob.; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 48; Semibratov, Vladimir: ›Alye parusa‹ A. S. Grina v kontekste ėpochi. In: Nenada, Alla (Hg.): Aleksandr Grin: Tvorčeskaja biografija. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2014, 27–32, hier 28 u. 30. 732 Vgl. Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 379. Vgl. hierzu auch Rossel’s: Grin. Russkie pisateli, 42.

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bewohnt,733 die zudem gemeinsam – um nicht zu sagen: kollektiv – agieren, so z. B. in »Beguščaja po volnam«.734 Auch Kovskij spricht, etwas allgemeiner, von einer merklichen Aufhellung des Weltkonzepts Grins als Reaktion auf die Oktoberrevolution,735 ebenso Slonimskij: »Творчество Грина просветлело после Октября.«736 Als einer der wenigen weist Kovskij aber auch darauf hin, dass sich auch vor der Revolution schon positive Figuren bei Grin finden. Ihm zufolge ist bereits die Verlagerung der Handlung an fiktive Schauplätze ab 1909 verbunden »[…] с созданием глубоко позитивной концепции человека.«737 Auch der misanthropische Egozentrismus früher Helden (wie z. B. Gorn aus »Kolonija Lanfier«) verwandelt sich ihm zufolge bereits Anfang der 1910er Jahre in Altruismus.738 Diese Beobachtung ist in Bezug auf einige ausgewählte Werke – im Wesentlichen auf diejenigen, die ab Beginn des ›Tauwetters‹ wieder und wieder gedruckt werden – vollkommen korrekt, aber eben deswegen auch nicht vollständig. Nimmt man nämlich das Gesamtwerk Grins in den Blick, wird klar, dass sich darin sowohl vor als auch nach der Revolution positive und negative Protagonisten finden. Aus der Präsenz positiver Helden in Grins nachrevolutionären Texten eine implizite Übereinstimmung des Autors mit deren Zielen abzuleiten, ist demnach neben der unzureichenden, da nicht über eine zeitliche Verknüpfung hinausgehenden, logischen Begründung noch aus einem zweiten Grund nicht zulässig. Interessanterweise widerspricht Kovskij den genannten Grin-Forschern nicht nur in Bezug auf die zeitliche Entwicklung der Heldengestaltung, son-

733 Vgl. dazu auch die Charakterisierung des Protagonisten Drud aus »Blistajuščij mir« als Kämpfer »против психологии своекорыстия« durch Kobzev (vgl. Kobzev, Nikolaj A.: A. S. Grin: Žizn’ i tvorčestvo. In: Kazarin, V. (Hg.): Aleksandr Grin: Čelovek i chudožnik. Materialy Četyrnadcatoj Meždunarodnoj naučnoj konferencii. Krymskij centr gumanitarnych issledovanij. Simferopol’ 2000, 6–27, hier 21; zit. nach Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 58. Dt.: »gegen die Psychologie des Eigennutzes«). 734 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 40. 735 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 122. 736 Slonimskij: Aleksandr Grin real’nyj i fantastičeskij, 270. Dt.: »Grins Werk wurde nach der Oktoberrevolution heller.« Vgl. dazu auch Kasper: Diesem zufolge spiegeln die vor 1917 entstandenen Werke Grins die unklare soziopolitische Haltung des Autors wider, während sich in ihnen zwischen 1917 und 1926 neue Züge entwickeln, darunter die Darstellung tatkräftiger Menschen und optimistischer Ideen (vgl. Kasper: Alexander Grins phantastische Projektion, 137). Luker stellt zwar keinen Bezug der Heldenentwicklung zur Revolution her, übernimmt aber trotzdem die Einschätzung, dass Altruismus und geistige Energie typische Merkmale der späteren Helden seien (vgl. Luker: Alexander Grin. A Survey, 352). 737 Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 7.  FLMMG , K 247, l. 7. Dt.: »[…] mit der Schaffung einer zutiefst positiven Konzeption des Menschen«. 738 Ebd., 9, l. 9

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dern erkennt außerdem an, dass der Schriftsteller die Oktoberrevolution aufgrund der mit ihr verbundenen Gewalt ablehnt  – und gelangt am Ende doch zum selben Schluss wie sie, nämlich, dass Grins Werke inhaltliche Über­einstimmungen mit den Zielen der Revolution aufweisen. Kovskij beschreibt Grins Haltung als charakteristisch für die russische liberal-demokratische Intelligencija (dt.: Intelligenz) dieser Zeit, die die Februarrevolution begrüßt, von der Oktoberrevolution jedoch abgeschreckt wird. Einerseits habe Grin sich entschieden gegen die alte Ordnung positioniert, sich aber gleichzeitig nicht mit vielen konkreten Zügen der nachrevolutionären Wirklichkeit abfinden können, die im Widerspruch zu seiner abstrakten und idealisierten Vorstellung von der Zukunft standen. Aus diesem Grund habe er seine eigene gewaltfreie, ethische Utopie geschaffen.739 Dass diese seiner Einschätzung nach in wesentlichen Merkmalen mit der marxistisch-sozialistischen Utopie übereinstimmt, zeigt z. B. die Bemerkung, Grin habe trotz der Gewalterfahrungen der Oktoberrevolution weiterhin auf eine Zeit gehofft, in der  – mit Worten aus »Alye parusa« ausgedrückt  – der »миллиардер подарит писцу виллу […] и сейф«;740 in einer anderen Studie schreibt Kovskij, Grin habe die Revolution in seinen Werken zwar nicht direkt dargestellt, aber ihr humanistischer Ursprung sei in seine Schaffensmethode eingedrungen.741 Eben diese, von ihm als romantisch bezeichnete, Methode identifiziert er auch als Grins Weg zur Aufhebung der Gegensätze bei gleichzeitiger Beibehaltung der Übereinstimmungen mit der Revolution: »Грин как бы сознательно отворачивался от крови и жестокости, неизбежно сопровождавшей революцию, и принимал ее в очищенном от страданий и противоречий, прекрасно-душно-романтическом виде.«742 Grins ›Romantik‹  – auf die unten noch genauer eingegangen wird – verteidigt er darüber hinaus gegen Versuche, sie als »романтизм в его пассивной форме«,743 d. h. als reaktionäre Romantik, zu klassifizieren, und bezeichnet sie im Gegensatz dazu als »программой революционной«.744 Dabei stellt er eine Ähnlichkeit mit den

739 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 64. 740 Ebd., 66; im Original: AL , 67. Dt.: »Milliardär einem Angestellten eine Villa […] und ein Safe […] schenken würde« (ALd, 101). 741 Vgl. Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 10.  FLMMG , K 247, l. 10. 742 Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 63. Dt.: »Grin wandte sich gleichsam bewusst von dem Blut und der Grausamkeit ab, die die Revolution unvermeidlich begleitete, und nahm sie in einer von Leiden und Widersprüchen gereinigten, wunderschön-seelischromantischen Form an.«. 743 Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 20.  FLMMG , K 247, l. 20. Dt.: »Romantik in ihrer passiven Form«. 744 Ebd., 21, l. 21. Dt.: »revolutionäres Programm«.

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frühen romantischen Werken Gor’kijs und deren Helden fest, die ebenfalls ›kollektivistische‹ Ziele verfolgen.745 Die Konstruktion Grins als Schriftsteller, der in seinem Werk die Revolution direkt oder indirekt unterstützt, weist einen fließenden Übergang zur Erschaffung eines Grin-Bilds auf, das auf der Postulierung von Übereinstimmungen seines Werkes mit dem Geist des sozialistischen Umbaus der Gesellschaft bzw. sozialistischen Idealen im Allgemeinen basiert. Übereinstimmung von Grins Werk mit der Ideologie des Sozialismus Dies geschieht häufig durch die Anwendung ideologischer Schlagworte auf Grins Werk (vorwiegend aus der Zeit nach 1917) und die Feststellung, dass deren Prinzipien in ihm enthalten sind oder gar von ihm verkörpert werden. Rossel’s zum Beispiel betont, wie Sandler,746 generell den sozialen Aussagegehalt von Grins Werken, deren Charaktere sich ihm zufolge in ihrem Handeln stets an den Bedürfnissen der Zeit und der Gesellschaft orientieren. Als im Fokus des Gesamtwerks des Schriftstellers stehendes Thema identifiziert er die Inkompatibilität des starken Geistes mit der Stagnation einer von Macht und Geld bestimmten bourgeoisen Gesellschaft; so etwa in dem Roman »Blistajuščij mir«.747 Den wenige Jahre später erschienenen Roman »Beguščaja po volnam« bezeichnet er als den, der Literaturkritik zufolge, besten Roman Grins und begründet diese Einschätzung mit zwei Argumenten. Zum einen führt er an, dass darin erstmals in Grins Werk hunderte von Menschen kollektiv handeln, als sie die Statue der »Beguščaja po volnam«, einer Gestalt aus Seefahrerlegenden, beschützen, und dass der Held Garvej dabei Teil der Menge wird,748 womit er ihn implizit von den oben genannten ›individualistischen‹, ›egozentrischen‹ Protagonisten der vorrevolutionären Werke Grins abgrenzt. Zum anderen identifiziert er als Antagonisten Garvejs und seiner Mitstreiter eine Gruppe von wohlhabenden Männern, die ihm zufolge keine abstrakten ›grinländischen‹ Reichen, sondern Kapitalisten sind: den Müller Kabon, den 745 Vgl. ebd. Zu biographischen und schriftstellerischen Gemeinsamkeiten zwischen Grin und Gor’kij vgl. auch Primočkina, Natal’ja: A. Grin i M. Gor’kij: istorija literaturnych otnošenij. In: Nenada, Alla (Hg.): Aleksandr Grin: Tvorčeskaja biografija. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2014, 68–74. Kritik an der verbreiteten Behauptung von Ähnlichkeiten zwischen Grins und Gor’kijs (frühem) Schaffen übt der Romantik-Experte Frizman (vgl. Frizman, Leonid: A. Grin i romantizm. In: Nenada, Alla (Hg.): Aleksandr Grin: Tvorčeskaja biografija. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2014, 107–114, hier 112). 746 Vgl. Sandler, Vladimir: Čelovek mečty. In: Zvezda 9 (sentjabr’ 1960), 219. 747 Vgl. Rossels, Vladimir: Between Fantasy and Reality. In: Grin, Alexander: The Seeker of Adventure. Stories. Moscow 1989, 7–14, hier 12. 748 Vgl. Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 380.

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Fabrikanten Tukar, den Millionär und Besitzer von Eisenbahnen, Fabriken und Plantagen Paran.749 Diese Lesart stimmt überein mit der Verfilmung des Romans von 1967, in dem die Handlung in ein kapitalistisches Land verlegt wird, welches dem Regisseur Ljubimov zufolge »типичные черты«750 des Westens aufweist. In einer Rezension zu dem Film heißt es dementsprechend: »Современная жизнь Запада с ее лживостью, жестокостью, алчностью предстает на экране во всем своем ›блеске‹.«751 Sehr ähnlich liest sich eine Rezension von E.  Klokova, die den Handlungsort als ein Land, »словно вобравшую в себя главные черты капиталистического мира«,752 beschreibt, und der zufolge in der Maskerade der Karnevalsszene »проходит Запад со всей его лживистью и цинизмом.«753 Die Deutung von Grins Werken als Kritik am Kapitalismus und der Bourgeoisie oder als Ausdruck des Klassenkampfs findet sich noch bei einer Reihe weiterer Grin-Forscher dieser Zeit. Slonimskij etwa identifiziert als Inhalt des Romans »Blistajuščij mir« »борьб[у] бескрылого буржуазного мира против ›чуда‹, против мечты, воплощенной в образе летающего человека Друда«.754 Kobzev betont die soziale Aussage des Romans »Doroga nikuda« mit stark antibourgeoiser Ausrichtung.755 Tarasenko identifiziert als spezielle Gruppe unter den Antihelden seiner Prosa die Ausbeuter (ėkspluatatory), zu denen er Fabrikbesitzer, Millionäre und Finanzbeamte zählt. Grins schonungs749 Vgl. ebd. Der deutsche Slavist Kasper bezieht sich in seiner Interpretation des Romans auf Rossel’s und schließt sich dessen Einschätzung an. Er hebt ebenfalls den Kampf des Prota­gonisten Garvej gegen Paran, Tukar und Kabon hervor und beschreibt den Karneval in Gel’-G’ju, eine der zentralen Szenen des Romans, als »eine Parabel jener Klassenkämpfe, mit denen die Hauptentwicklungstendenz unseres Jahrhunderts eingeleitet wurde« (Kasper: Alexander Grins phantastische Projektion, 138). In einem anderen Aufsatz weist er, ebenfalls wie Rossel’s, darauf hin, dass sich der Held mit der »Masse des Volkes« (Kasper: Nachwort, 296) solidarisiere. 750 [o. V.]: Prem’ery kino. In: Večernij Leningrad (4 avgusta 1967). In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 25. Dt.: »typische Merkmale«. 751 [o. V.]: Novinki ėkrana. In: Gor’kovskij rabočij (5 avgusta 1967). In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 26. Dt.: »Das gegenwärtige Leben des Westens mit seiner Verlogenheit, Grausamkeit, Gier erscheint auf der Leinwand in seinem ganzen ›Glanz‹.«. 752 Klokova, E.: Kino. ›Beguščaja po volnam‹. In: Leninskoe znamja (Petropavlovsk) (9 avgusta 1967). In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 31. Dt.: »das gleichsam die Hauptmerkmale der kapitalistischen Welt in sich aufgenommen hat«. 753 Ebd. Dt.: »der Westen mit all seiner Verlogenheit und seinem Zynismus vorbeizieht«. 754 Slonimskij: Aleksandr Grin real’nyj i fantastičeskij, 268. Dt.: »den Kampf der flügellosen bourgeoisen Welt gegen das ›Wunder‹, gegen den Traum, der durch das Bild des fliegenden Menschen Drud verkörpert wird.«. 755 Vgl. Kobzev: A. S. Grin, 22 f.; zit. nach Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 58.

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lose, sarkastische Darstellung dieser Figuren belegt er durch ein Zitat aus der Erzählung »Na oblačnom beregu« (1924; dt.: »Am bewölkten Ufer«),756 in der die Аtmosphäre im Haus des Fabrikbesitzers Ionson beschrieben wird: »Там крикливыми голосами, счетами и проклятиями, бранью и своеобразной душевной отрыжкой, точно обозначающей все колебания делового дня, текла […] своя жизнь.«757 Kovskij758 betont ebenfalls, dass Grin die Mehrzahl der Reichen in seinen Werken negativ zeichne, z. B. den verbrecherischen Avel’ Choggej aus »Gladiatory« (1923; dt.: »Gladiatoren«)759 oder den auch von Rossel’s genannten Gras Paran aus »Beguščaja po volnam«.760 Auch die Darstellung zahlreicher Charaktere außerhalb sozialer Kategorien, die in den 1920er Jahren zu den Vorwürfen des Fehlens einer soziopolitischen Aussage beiträgt, weiß Kovskij zu begründen: Grin habe sich bewusst dafür entschieden, weil er sich der Problematik einer Darstellung von Kapitalisten als guten Menschen bewusst gewesen sei, bei der ein Widerspruch zwischen der ethischen Konzeption und der sozialen Logik der Figur drohe.761 Werke 756 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Na oblačnom beregu. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 367–381. Kürzel: OB. 757 Tarasenko: Dom Grina, 41; im Original: OB , 375. Dt.: »Dort verging mit kreischenden Stimmen, Rechnungen und Flüchen, Schimpfen und eigenartigem seelischem Rülpsen, das alle Schwankungen des Geschäftstages genau kennzeichnete, […] das eigene Leben.«. 758 Allerdings schließt sich Kovskij nicht der erwähnten Einschätzung von Rossel’s und Tarasenko an, dass es sich bei Grinlandija um ein kapitalistisches Land handle. Vielmehr beziehe Grin Eigenschaften aus verschiedenen Wirtschaftsformen vor dem Sozialismus mit ein: »Поэтому его страна представляет не схему капиталистического мира, а модель мира антагонистического, вне зависимости от конкретно-исторических своих разновидностей.« (Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 75; Hervorhebung im Original. Dt.: »Deshalb stellt sein Land kein Schema der kapitalistischen Welt dar, sondern ein Modell einer antagonistischen Welt, außerhalb der Abhängigkeit von ihren konkrethistorischen Spielarten.«; vgl. auch Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 17. FLMMG , K 247, l. 17) Andererseits betont Kovskij an anderer Stelle, dass Grins Helden nicht in einem ›exotischen Vakuum‹ leben, sondern von einem sozialen und materiellen Umfeld um­ geben seien, welches auf »реальные общественные отношения« (ebd., 14, l. 14. Dt.: »die realen gesellschaftlichen Verhältnisse«) referiere. 759 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Gladiatory. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 245–247. Kürzel: GL ; siehe dazu Kap. 4.1.2. 760 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 66 f. Ähnlich äußert sich Kasper: Grin habe in seinem Werk die realen sozialen Probleme der Zeit auf eine Modellebene in Gestalt Grinlandijas transponiert, auf der somit notwendigerweise auch Kontraste wie arm / reich und gut / schlecht verhandelt werden (vgl. Kasper: Alexander Grins phantastische Projektion, 136 f.). Grinlandija sei somit »keineswegs eine weltferne, fiktiv-illusionäre Trauminsel des Autors, wie immer wieder angenommen wurde. Es ist vielmehr ein mit Darbietungsformen der Romantik geschaffenes Abbild unserer Wirklichkeit, das deren Bewegungsgesetze teils schärfer zuspitzt, teils unproportioniert erkennen läßt.« (ebd., 137). 761 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 67.

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dieser Art, in denen die soziale Zugehörigkeit der Helden nicht thematisiert wird, versucht Kovskij darüber hinaus ebenfalls ideologisch umzudeuten, indem er Grinlandija als Abbild des marxistischen Ideals der klassenlosen Gesellschaft interpretiert. In beiden, so die implizite Aussage, ist eine Entfaltung des Menschen und seiner Fähigkeiten möglich: »Гриновская Мечта реализует скрытые возможности героя, придавленные в классовом обществе грузом внешних обстоятельств.«762 Der Begriff des Traums, der, wie erwähnt, bereits Ende der 1930er Jahre bei Paustovskij auftaucht, wird nicht nur im Sinne eines herausragenden Motivs in Grins Prosa verwendet, sondern sogar, wie hier, als Metapher für die eng mit Grinlandija verbundene ›Romantik‹ Grins gebraucht. Er wird zu einem zentralen Element der Verknüpfung von Grins Werken mit der sozialistischen Ideologie. Auf Lenin als höchste ideologische Instanz zurückgreifend,763 führt Prochorov diesbezüglich aus: Прежде всего, что такое ›мечта‹, ›фантазия‹ в жизни и деятельности человека? ›Фантазия есть качество величайшей ценности‹, – говорил Ленин и даже подчеркивал: ›Откуда же было в такой стране [как царская Россия – Е. П.] начать социалистическую революцию без фантазеров?‹. Значит, мечтать, фантазировать человеку нужно: мечта  – это один из важных двигателей человеческой деятельности, живой и надежный инструмент для овладения будущим.764

Eine sehr ähnliche Aussage findet sich bei Grins Apologeten Paustovskij in seiner Povest’ »Zolotaja roza« (dt.: »Die goldene Rose«): Грин писал почти все свои вещи в оправдание мечты. Мы должны быть благодарны ему за это. Мы знаем, что будущее, к которому мы стремимся, родилось из непобедимого человеческого свойства – умения мечтать и любить.765 762 Ebd., 7. Dt.: »Der Grin’sche Traum realisiert verborgene Möglichkeiten des Helden, die in einer Klassengesellschaft von der Last der äußeren Umstände niedergedrückt werden.«. 763 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 62. 764 Prochorov: Aleksandr Grin, 83; zit. nach Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 62; Originalzitat bei Lenin: Lenin, Vladimir I.: Zaključitel’noe slovo po političeskomu otčëtu CK RKP(b)  28 marta [1922 g.] In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Tom 45. Mart 1922 – mart 1923. Pjatoe izdanie. Moskva 1970, 117–130, hier 125. Dt.: »Vor allem, was sind ›Traum‹ und ›Fantasie‹ im Leben und Wirken des Menschen? ›Die Fantasie ist eine Eigenschaft von höchstem Wert‹, sagte Lenin und betonte sogar: ›Woher sollte denn ohne Fantasten in einem solchen Land [wie dem zaristischen Russland – E. P.] die sozialistische Revolution beginnen?‹ Das bedeutet, dass der Mensch träumen, fantasieren muss: Der Traum ist einer der wichtigen Motoren des menschlichen Wirkens, ein lebendiges und verlässliches Instrument für die Aneignung der Zukunft.«. 765 Paustovskij, Konstantin: Zolotaja roza. In: Ders.: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach. Tom tretij. Povesti. Moskva 1967, 285–527, hier 502. Dt.: »Grin schrieb fast alle seine Werke als Rechtfertigung des Traums. Wir müssen ihm dafür dankbar sein. Wir wissen, dass die Zukunft, nach der wir streben, aus einer unbesiegbaren menschlichen Eigenschaft entstanden ist – der Fähigkeit zu träumen und zu lieben.«.

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Auch von anderen Grin-Forschern und -Kritikern wird Grins ›Traum‹ mit der Revolution bzw. der nachrevolutionären sozialistischen Gesellschaft verknüpft. Šklovskij etwa drückt die Überzeugung, Grin habe die Ziele der Oktoberrevolution geteilt, auf indirekte Weise aus, indem er zunächst die Träume der Revolutionäre beschreibt und dann hinzufügt: »Мечтал и Грин. […] [Он] мечтал о человеке, который может сделать сверхвозможное. Его мечты – это мозговое усилие, подвиг, который превращает фантазию в действительность.«766 Durch die Parallelstellung beider Aussagen suggeriert er eine inhaltliche Übereinstimmung der beiden Träume.767 Auch für die poststalinistische Ära, die durch die Notwendigkeit einer Neuorientierung angesichts des Wegbrechens der Ideologie des Stalinismus gekennzeichnet ist, wird Grins Fähigkeit zu ›träumen‹ als hochgradig aktuell und relevant für die sowjetische Gesellschaft identifiziert. Vachtin etwa betont den positiven Einfluss von Grins – Träume und deren Realisierung darstellender – Romantik auf die sozialistische Gesellschaft: Сильный дух в сильном теле, соединение силы и интеллекта воли и душевной тонкости – таков гриновский идеал. Вся романтика и фантастичность наших дней способствуют возникновению такого типа людей, причастных к творчес­ кому труду и открыванию нового.768 766 Šklovskij: Tri vstreči s Grinom, 215. Dt.: »Auch Grin träumte. […] [Er] träumte vom Menschen, der das Unmögliche [wörtl.: Übermögliche] tun kann. Seine Träume sind eine Anstrengung des Gehirns, eine Heldentat, die die Fantasie in Wirklichkeit verwandelt.«. 767 Šklovskij bezieht sich mit der Formulierung »превращает фантазию в действительность« (ebd. Dt.: »die Fantasie in Wirklichkeit verwandelt«) höchstwahrscheinlich auf »Alye parusa«, da die Povest’ von der Realisierung der Phantasie des Mädchens Assol’, von einem Schiff mit roten Segeln abgeholt zu werden, durch den Protagonisten Grėj handelt, der ihren Wunsch erfüllt, indem er sein Schiff tatsächlich mit roten Segeln ausstatten lässt und in ihren Heimatort segelt. Einen Hinweis auf eine solche Verbindung gibt auch der Umstand, dass Šklovskij direkt im nächsten Satz zu »Alye parusa« überleitet. 768 Vachtin, B.: V Starom Krymu. In: Neva 8 (1960), 151–154, hier 154. Dt.: »Ein starker Geist in einem starken Körper, die Vereinigung der Kräfte des Intellekts des Willens und der seelischen Finesse – so ist das Grin’sche Ideal. Die ganze Romantik und der fantastische Charakter unserer Tage tragen zur Entstehung eines solchen Typs von Menschen bei, die an der schöpferischen Arbeit und dem Erschließen von Neuem beteiligt sind.« Schon 1924 findet sich in der oben erwähnten Rezension zu »Blistajuščij mir« von Šepelenko der Versuch einer ›sozialistischen‹ Deutung, der allerdings ohne Resonanz bleibt. Darin heißt es, ähnlich wie bei Vachtin: »Не к мертвому созерцанию, а к радостному неустанному труду призываeт нас ›Блистающий мир‹ Грина.« (Šepelenko: [Recenzija na knigu:] A. Grin. Blistajuščij mir, 1032. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 14, l. 19. Dt.: »Nicht zur toten Kontemplation, sondern zur freudigen unablässigen Arbeit fordert uns Grins ›Blistajuščij mir‹ auf.«) Die Begründung hierfür lautet: Der Name des Protagonisten, Drud, klinge wie trud (dt.: Arbeit; vgl. ebd.). Zudem interpretiert Šepelenko die Ablehnung des fliegenden Menschen als Angst der ›bourgeoisen Psychologie‹ vor der Freiheit (vgl. ebd.).

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Polevoj verknüpft ebenfalls die Romantik mit dem Traum und konstatiert eine besondere Affinität des sowjetischen Lesers zu ihr: »[…] советский человек […] любит искреннюю, неподдельную романтику, благородство чувств, смелые мечтания, самоотверженность и веру в победу разума и света.«769 Aleksandr Grin im Speziellen sei so beliebt wegen der »потребность советских людей в высокой, вдохновляющей романтике, в чистом, воинствующем гуманизме«.770 Das hier erwähnte Schlagwort des Humanismus dient ebenfalls der Eingliederung von Grins Werk in die sowjetische Kultur. So argumentiert etwa Timofeev: Zwar gebe es bei Grin keine explizite Darstellung des ›sozialistischen Menschen‹, doch »общий гуманистический пафос, характерный для Грина, участвует в конечном счете в развитии того социалистического гуманизма, который присущ в целом советскому искусству.«771 Rossel’s betont die Nähe der humanistischen Ideale Grins zu den Überzeugungen vor allem der zeitgenössischen sowjetischen Jugend.772 Eine Variation davon stellt die Betonung der in Grins Werk zum Ausdruck kommenden ethisch-moralischen Grundsätze dar – ein Thema, mit dem sich auch die sowjetische Literatur der 1960er Jahre intensiv befasst.773 Kovskij etwa erklärt die Beliebtheit des Schriftstellers durch seinen Kampf für den ethisch vollendeten Menschen774 und bestimmt als »сам[ую] важн[ую] иде[ю] гриновского творчества: человек для человека«.775 Wie erfolgreich diese Strategie der sowjetischen Literaturwissenschaft ist, zeigt ein Eintrag zu Grin in der »New Encyclopædia Britannica«, der eine Wahrnehmung Grins auf diese Weise auch im Westen bezeugt: »Grin is now fully recognized […] as the creator of a fantasy world expressive of a profound humanism and moral responsibility.«776

769 Polevoj: Korotkaja vstreča. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 12. Dt.: »[…] der sowjetische Mensch […] liebt die aufrichtige, unverfälschte Romantik, den Edelmut der Gefühle, die kühnen Träumereien, die Selbstaufopferung und den Glauben an den Sieg der Vernunft und des Lichts.«. 770 Ebd., l. 13. Dt.: »Bedürfnis der sowjetischen Menschen nach einer hohen, inspirierenden Romantik, nach einem reinen, streitbaren Humanismus«. 771 Timofeev, L.: Sovetskaja literatura. Metod, stil’, poėtika. Moskva 1964, 68; zit. nach Kov­ skij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 7. Dt.: »das allgemeine humanistische Pathos, das für Grin charakteristisch ist, wirkt letztendlich an der Entwicklung jenes sozialistischen Humanismus mit, der der gesamten sowjetischen Kunst eigen ist.«. 772 Vgl. Rossels: Between Fantasy and Reality, 7. 773 Vgl. Debüser: Alexander Grin und die Phantastik, 226. 774 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 122. 775 Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 9.  FLMMG , K 247, l. 9. Dt.: »wichtigste Idee des Grin’schen Werks: der Mensch für den Menschen«. 776 Grin, Aleksandr Stepanovich. New Encyclopædia Britannica, 504.

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2.2.5.1.2 Die Strategie der ›politischen Depotenzierung‹ Grins: Grin als Romantiker und Kinder- und Jugendbuchautor

Die beiden letztgenannten Aspekte der ›Sowjetisierung‹ Grins, der verwirklichte Traum und der humanistisch-ethische Gehalt von Grins Werken, sind, wie in einigen der Zitate schon angeklungen ist, zugleich Teil der Konzeptualisierung Grins als romantischer Autor. Zusammen mit der damit eng verknüpften Einordnung von Grins Werk in die marginale Kategorie der Kinder- und Jugendliteratur bildet sie die zweite ab 1956 von der sowjetischen Literaturwissenschaft angewandte Strategie der ›politischen Depotenzierung‹ des Schriftstellers. Grin als Romantiker Bereits in den ersten Kritiken zu Grin erfolgt eine Einordnung des Autors als Romantiker, etwa 1910 bei Kranichfel’d oder Vojtolovskij.777 Letzterer spezifiziert seine Aussage dahingehend, dass Grins Romantik keine dekadente sei, sondern, »сродни романтизму Горького«,778 denn Grin schreibe mit festem Glauben an das Leben und mit dem Drang nach gesunden, starken Empfindungen.779 Damit formuliert er eine Einschätzung, die fünfzig Jahre später aus offensichtlichen Gründen äußerst willkommen ist und wieder aufgenommen wird – etwa in der oben genannten Bestimmung von Grins Romantik als ›revolutionäres Programm‹ mit Ähnlichkeiten zu Gor’kij bei Kovskij.780 In den Jahren und Jahrzehnten nach diesen ersten Kritiken allerdings finden sich zwar immer wieder Bezeichnungen von Werken Grins als ›romantisch‹, dennoch spielt diese Auffassung zu Lebzeiten des Schriftstellers angesichts seiner vorherrschenden Klassifizierung als Abenteuerschriftsteller nur eine untergeordnete Rolle. Wie in der Darstellung der dritten Rezeptionsphase bereits angeklungen ist, beginnt die eigentliche Konstruktion Grins als Romantiker posthum in den 1930er Jahren, unter anderem bei Paustovskij.781 Doch erst nach dem Ende des Stalinismus wird die Romantik als das charakteristische Merkmal von Grins Schaffen definiert. Rossel’s etwa beginnt 777 Vgl. Kranichfel’d: Literaturnye otkliki. 778 Vojtolovskij: Literaturnye siluėty. FLMMG , n / v 2868, l. 7. Dt.: »der Romantik Gor’kijs verwandt«. 779 Vgl. ebd. 780 Vgl. Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 20 f. FLMMG , K 247, l. 20 f. 781 Vgl. z. B. auch das Manuskript von Kulešov, in dem er Grins Landschaften und Sujets als »законченной композицией романтической новеллы« (Kulešov, Aleksandr: Pejzaž Aleksandra Grina. [1940]. In: Stat’i o žizni, tvorčestve i smerti Grina Aleksandra Stepanoviča – pisatelej Borisova Leonida Il’iča, Kulešova Aleksandra Aleksandroviča, Loksa Konstantina Grigor’eviča i Šepelenko D. Avtograf, mašinopis’ i pečati. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 14, l. 5–9ob., hier 5ob. Dt.: »vollendete Komposition der romantischen Novelle«) bezeichnet.

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seinen Artikel über Grin für die »Istorija russkoj sovetskoj literatury« (dt.: »Geschichte der russischen sowjetischen Literatur«) mit den Worten: »Творчество Александра Степановича Грина представляет в русской советской прозе […] законченное явление романтизма.«782 Den Hintergrund dessen bildet das Aufkommen eines romantischen Idealismus während dieser Zeit, in den Grins Werk sich – eine entsprechende Auswahl von Texten vorausgesetzt – problemlos einfügen lässt. Pervova schreibt dazu: Обнищавшая идеями и идеалами, утратившая романтику революции, энтузиазм эпохи реконструкции и патриотизм времен Второй мировой войны, система нуждалась в инъекции романтики. Грин нужен был идеологам, как источник романтической, ободряющей струи, которую можно присвоить, объявить своей, советской.783

Darüber hinaus gelingt es auf diese Weise, die individuelle (als solche wahrgenommene)  Utopie Grinlandijas, die wenige Jahre zuvor im Stalinismus noch als inakzeptabler Alternativentwurf zur alleingültigen kollektiven sowjetischen Utopie gilt und als solcher bekämpft werden muss,784 in Letztere zu integrieren und so politisch unschädlich zu machen. Die Konstruktion Grins als Romantiker erfüllt somit eine Doppelfunktion, da sie sowohl die ›politische Depotenzierung‹ gewährleistet als auch die ›Sowjetisierung‹ Grins entscheidend vorantreibt bzw. sogar zu einem erfolgreichen Abschluss bringt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die von Kovskij konstatierte Tatsache, dass das »нигилистическое отрицание гриновской романтики ныне нередко сменяется явной апологией«785  – und zwar bereits in den ersten beiden Aufsätzen zu Grin von Paustovskij und Ščeglov, die 1956 erscheinen und die ›Grin-Renaissance‹ einleiten. Fortgeführt wird dieser Ansatz von Kovskij selbst, dessen überarbeitete Grin-Monographie von 1969, wie erwähnt, sogar den Titel »Romantičeskij mir Aleksandra Grina« trägt,786 von Charčev in seinem Aufsatz »Chudožestvennye principy romantiki A. S. Grina« (dt.: »Die 782 Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 370. Dt.: »Das Werk Aleksandr Stepanovič Grins stellt in der russischen sowjetischen Prosa […] die vollendete Erscheinung der Romantik dar.«. 783 Pervova: Alye parusa. Nr. 148, 107; zit. nach Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 53. Dt.: »Verarmt an Ideen und Idealen, nachdem es die Romantik der Revolution, den Enthusiasmus der Epoche der Neugestaltung und den Patriotismus der Zeit des Zweiten Weltkriegs verloren hatte, benötigte das System eine Spritze Romantik. Die Ideologen brauchten Grin, als Quelle eines romantischen, ermutigenden Stroms, den man sich aneignen, als eigen, sowjetisch erklären kann.«. 784 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 29. 785 Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 4. Dt.: »nihilistische Verneinung der Grin’schen Romantik heutzutage oftmals durch eine explizite Apologie abgelöst wird«. 786 Vgl. auch Kovskij: Nastojaščaja, vnutrennjaja žizn’, passim.

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künstlerischen Prinzipien der Romantik A. S. Grins«) sowie von weiteren GrinForschern wie Rossel’s, Michajlova und anderen.787 Da die Bezeichnung ›Romantik‹ in Bezug auf Grin in einem besonderen, von der allgemeinen Begriffsverwendung abweichenden Verständnis gebraucht wird, dieses jedoch in der Regel nicht definiert wird,788 soll sie im folgenden Abschnitt einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Dabei wird gezeigt, dass das Attribut ›romantisch‹ in der Grin-Rezeption ab 1956 im Wesentlichen gleichbedeutend mit einer oder mehreren der folgenden Eigenschaften ist: 1) Das Werk ist in Grinlandija angesiedelt, was oftmals mit einem Schauplatz mit maritimen Elementen und archaischen Zügen einhergeht; 2) der Protagonist und ggf. seine Mitstreiter sind gute, mutige, abenteuerlustige und kreative Menschen, die für ihre Träume kämpfen und sich dem Bösen – in Gestalt ebenso eindeutig charakterisierter Gegenspieler – entgegenstellen und daraus meist siegreich hervorgehen; 3) die Handlung enthält fantastische Elemente.789 Der romantische Schauplatz: Grinlandija Das von Zelinskij 1934 erschaffene Konzept Grinlandija gilt vielen Grin-Forschern als Schlüssel zum Verständnis von Grins Werk im Ganzen. So schreibt etwa Tarasenko in seinem Buchkapitel über Grinlandija, Goethe zitierend: »Кто хочет понять поэта, тот должен отправиться в страну поэта«.790 Nur ein Jahrzehnt nach der Wiederentdeckung Grins ist der Begriff zu einem festen Bestandteil, oft sogar zum Zentrum der literaturwissenschaftlichen Be787 Vgl. Charčev, V.: Chudožestvennye principy romantiki A. S. Grina. In: Učënye zapiski Gor’kovskogo gosudarstvennogo pedagogičeskogo instituta. Vypusk 54, serija literatury. Gor’kij 1966, 22–50; Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury; Michajlova: Aleksandr Grin. 788 Luker führt, als einer der wenigen überhaupt, eine Definition des Begriffs ›romantisch‹ an, die jedoch teilweise zirkulär und zudem in Bezug auf Grin zu allgemein ist: das Aufweisen eines fiktiven Charakters ohne reale Grundlage, der sich durch Romantik und imaginative Besonderheit auszeichnet (vgl. Luker: Grinlandia in Embryo, 206). Luker selbst verwendet den Begriff mit Referenz auf Grin, wie die meisten Grin-Forscher, in einem spezifischeren Verständnis. 789 Von Zeit zu Zeit wird als Merkmal der Romantik Grins auch die oft ausführliche Darstellung der Psychologie seiner Figuren genannt (vgl. z. B.  Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 389; Kirkin: A. S. Grin v pečati, 7. FLMMG , KP 4625 K 748, l. 7). Dieser Aspekt ist zwar durchaus von großer Bedeutung für Grins Schreiben, stellt jedoch nicht den Kern des hier untersuchten Romantik-Begriffs in Bezug auf Grin dar und wird daher an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt. 790 Tarasenko: Dom Grina, 9. Dt.: »Wer den Dichter verstehen will, der muss sich ins Land des Dichters begeben.« Im Original: »Wer den Dichter will verstehen / Muß in Dichters Lande gehen.« (Goethe, Johann Wolfgang: West-oestlicher Divan. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. I. Abteilung, Bd. 3/1. Frankfurt a. M. 1994, 8–299, hier 137).

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schäftigung mit dem Autor geworden.791 Gerade das ›fremde‹ Merkmal seines Schreibens, das noch wenige Jahre zuvor Anlass für scharfe Angriffe gegen Grin war, wird nun also zum Kern seiner schriftstellerischen Leistung792 und zu seiner Schaffensmethode erklärt, wobei der Großteil derjenigen Werke Grins, die dieses Kriterium nicht erfüllen, einfach aus der Rezeption ausgeklammert wird. Eine aus diesem und anderen Gründen notwendige kritische Betrachtung des Konzepts Grinlandija erfolgt in Kapitel 4.2.2 im Rahmen der Analyse des strukturell Fremden. An dieser Stelle soll lediglich seine Verknüpfung mit der ›Romantik‹ Grins in der Sekundärliteratur aufgezeigt werden, die jeweilige Begriffsverwendung des Begriffs Grinlandija entspricht also der darin vorliegenden. Eine solche Verbindung von Romantik und fremdem, fiktivem Schauplatz findet sich schon bei Ščeglov, wenn er über Grin schreibt: »[…] он сделал волнующее романтическое фантазерство – страну отроческого воображения […]«.793 Kovskij führt als einen der wesentlichen Bestandteile von Grins Romantik die Exotik der Handlungsorte an.794 In Übereinstimmung mit den meisten Grin-Forschern795 vertritt er die Ansicht, dass der romantische Schauplatz, d. h. Grinlandija, in Grins Werk erstmals in der Erzählung »Ostrov Reno« erscheint, in der der Protagonist sein Schiff verlässt, um auf einer fiktiven tropischen, unbewohnten Insel zu leben.796 Diese Interpretation wird durch die Aussage von Grins erster Frau in ihren Memoiren gestützt, dass der Schriftsteller in »Ostrov Reno« »как бы заявил о своем желании и праве сделаться романтиком«.797 Obwohl Tarasenko abweichend davon den Beginn Grinlandijas in der bereits ein Jahr vor »Ostrov Reno« erschienenen Erzählung »›Ona‹« (1908; dt.: »›Sie‹«)798 sieht, deren Schauplatz nicht verortbar, 791 Vgl. Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 370. 792 Vgl. Debüser: Alexander Grin und die Phantastik, 222. 793 Ščeglov: Korabli Aleksandra Grina, 220. Dt.: »[…] er schuf eine aufwühlende romantische Fantasterei – ein Land jugendlicher Einbildungskraft […]«. 794 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 7. 795 Vgl. z. B. Luker: Grinlandia in Embryo, 198. 796 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 21. In diesem Zusammenhang wird von Kovskij an anderer Stelle auch die Argumentation Paustovskijs wieder aufgenommen, dass Grins literarischer uchod nach Grinlandija nicht durch die Revolution, sondern durch die Situation im vorrevolutionären Russland ausgelöst wird: »[…] диктовался решительным протестом против несправедливости существующего общественного устройства […]« (Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 7. FLMMG , K 247, l. 7. Dt.: »[…] er wurde durch einen entschlossenen Protest gegen die Ungerechtigkeiten der existierenden gesellschaftlichen Struktur aufgezwungen […]«). 797 Kalickaja: Iz vospominanij, 168. Dt.: »gewissermaßen seinen Wunsch und sein Recht, Romantiker zu werden, anmeldete«. 798 Vgl. Grin, Aleksandr S.: ›Ona‹. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 274–284. Kürzel: ON; Titel der Erstveröffentlichung: »Igra sveta« (dt.: »Das Spiel des Lichts«).

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aber offensichtlich nicht in Russland gelegen ist, nimmt auch er eine Gleichsetzung der Abwendung von russischen Schauplätzen (wie sie in den meisten Erzählungen aus Grins erstem Sammelband »Šapka nevidimka« vorliegen) mit Grins (behauptetem) Übergang vom Realismus zur Romantik vor.799 Die enge Verbindung von fremden Schauplätzen und Romantik bei Grin kommt auch in der Formulierung Oulanoffs deutlich zum Ausdruck, wenn er von Grins »romantic exoticism«800 schreibt.801 Als eines der herausragenden Merkmale Grinlandijas – oder sogar als das wichtigste –802 gilt darüber hinaus das Element des Meeres. Mit ihm verbundene Aspekte, wie zu bewältigende Gefahren oder die Sehnsucht nach der Ferne, machen das Meer zu einem per se romantisch konnotierten Schauplatz, der dementsprechend auch traditioneller Bestandteil vieler Abenteuertexte ist.803 Ein großer Teil derjenigen Werke Grins, auf die sich die Rezeption ab 1956 weitgehend konzentriert, weist maritime Handlungsorte auf, darunter die Romane »Blistajuščij mir«, »Zolotaja cep’« und »Doroga nikuda«, die Povest’ »Alye parusa« sowie eine Reihe von Erzählungen, darunter »Korabli v Lisse«, »Komendant porta« (1929; dt.: »Der Hafenkommandant«)804 und »Kapitan Djuk« (1915; dt.: »Kapitän Duke«).805 Aus dieser selektiven Werkrezeption resultiert teilweise sogar eine Gleichsetzung von Grinlandija und einer Lage am Meer, etwa bei Debüser, die Grins fiktive Geographie als »Städte von einem südlichen Meer umgeben«806 beschreibt. Auch Slonim charakterisiert Grins Schaffen als geprägt von Träumen »of beautiful isles, foaming oceans,

799 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 14 f. Auch Kovskij nennt »›Ona‹« in seiner zweiten Monographie »[п]ервой заявкой Грина на подлинный романтизм« (Kovskij: Romantičeskij mir, 44. Dt.: »die erste Bewerbung Grins für genuine Romantik«) und betont den nichtrussischen Schauplatz. Vermutlich, weil in »›Ona‹« noch keine fiktiven Ortsnamen auftreten, sieht er den Beginn Grinlandijas dennoch erst in »Ostrov Reno«. 800 Oulanoff: Grin, Aleksandr Stepanovich, 187. 801 Rossel’s merkt zwar an, dass nicht alle Werke Grins den Schauplatz Grinlandija auf­ weisen, sieht aber bei den in Russland angesiedelten Werken dieselbe romantische Darstellung der Realität (vgl. Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 370). 802 Vgl. Luker: Alexander Grin’s Grinlandia, 204. 803 Vgl. ebd., 204 f. Luker weist darauf hin, dass gerade die mit dem Abenteuergenre verbundenen Elemente dem Leser die Möglichkeit einer ›geistigen Flucht‹ bieten, was Grins Werke in einem totalitären Staat besonders attraktiv macht (vgl. Luker: Alexander Grin, 121). 804 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Komendant porta. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 611–619. Kürzel: KT. 805 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Kapitan Djuk. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 345–364. Kürzel: KD. 806 Debüser: Alexander Grin und die Phantastik, 222.

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sand dunes covered with heather, and white-walled cities on the shores of warm bays, where lovely women met captains and poets and where strange adventures awaited the traveler […]«.807 In »Archipelag GULAG« (1973–1975; dt.: »Der Archipel Gulag«) kontrastiert Aleksandr Solženicyn die realen Häfen des Archipelagos mit den fiktiven – und in der verbreiteten Rezeption idealisierten – Aleksandr Grins: »Это, правда, не те феерические порты, куда увлекал нас Александр Грин, где пьют ром в тавернах и ухаживают за красотками.«808 Eine etwas sonderbare Einschätzung, die die enge Verbindung von Grinlandija, dem Meer und der Romantik in der Grin-Rezeption belegt, aber in dieser Form nicht nachvollziehbar ist, findet sich bei Kirkin, der der oben genannten Meinung, dass »Ostrov Reno« Grins erstes romantisches Werk sei, explizit widerspricht. Als Begründung führt er an, dass die Erzählung diesem Genre nur bedingt zuzurechnen sei, weil ihr Sujet nicht mit der (offenbar als entscheidendes Kriterium verstandenen) ›Meeresromantik‹ verbunden sei – was aufgrund der Tatsache, dass der Schauplatz die titelgebende Insel ist und der Protagonist sie mit einem Schiff erreicht,809 wenig schlüssig erscheint.810 Die Verknüpfung von Grins Schaffen mit dem Meer kommt auch in einer Reihe von Aufsatztiteln aus den 1950er und 1960er Jahren, die meist auf Werktitel Grins referieren, deutlich zum Ausdruck – angefangen mit Ščeglovs »Korabli Aleksandra Grina« über Kirill Andreevs »Letjaščij nad volnami« (dt.: »Der über den Wellen fliegt«) bis hin zu Sandlers »Kapitan iz Lissa« (dt.: »Der Kapitän aus Liss«) und »Kak priplyli k nam ›Alye parusa‹« (dt.: »Wie die ›Purpurroten Segel‹ zu uns kamen«).811 Ein zweiter Aspekt, der neben dem Meer die ›romantische‹ Wahrnehmung Grinlandijas verstärkt, stellt die teilweise archaische Gestaltung der fiktiven Orte dar. Zwar existiert an Grins fiktiven Schauplätzen  – objektiv betrachtet  – Altes neben Neuem, es finden sich dort beispielsweise auch technische Errungenschaften wie Autos, Straßenbahnen und Kinos (z. B. in »Doroga nikuda«812 und in der Erzählung »Seryj avtomobil’« (1925; dt.: »Das

807 Slonim: Soviet Russian Literature, 117. 808 Solženicyn, Aleksandr: Archipelag GULAG . 1918–1956. Opyt chudožestvennogo issledovanija. T. I–II . Paris 1973, 529. Dt.: »Das sind freilich nicht jene märchenhaften Häfen, zu denen Aleksandr Grin uns hinzog, wo man Rum in den Tavernen trinkt und Schönheiten den Hof macht.«. 809 Vgl. OR , 213. 810 Vgl. Kirkin: A. S. Grin v pečati, 6.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 6. 811 Vgl. Ščeglov: Korabli Aleksandra Grina; Andreev, Kirill K.: Letjaščij nad volnami. In: Ders.: Iskateli priključenij. Moskva 1968, 236–286; Sandler, Vladimir: Kapitan iz Lissa. In: Choču vsë znat’! Al’manach. Leningrad 1965, 166–175; Sandler: Kak priplyli. 812 Vgl. DN, 82, 84, 171–173, 358, 363, 365 u. 371.

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graue Automobil«),813 in der von einem Film über Autorennen zwischen den ›grinländischen‹ Städten Liss und Zurbagan die Rede ist, welcher auf einem Kinematographenapparat abgespielt wird), Telefone (z. B. in »Zolotaja cep’«)814 oder Flugzeuge (z. B. in »Tjažëlyj vozduch« (1912; dt.: »Schwere Luft«),815 in »Sostjazanie v Lisse« (1921; dt.: »Der Wettstreit in Liss«),816 oder in »Otravlennyj ostrov«).817 Dennoch werden vor allem die Elemente einer alten Welt wahrgenommen. Tarasenko etwa konstatiert: »Не какая-нибудь страна будущего, нет, ›Гринландия‹ архаична.«818 Kovskij nimmt das Stichwort der »романтическая архаика«819 von Roskin auf und hebt diese als heraus­ ragendes Merkmal Grinlandijas hervor.820 Als für Grins Werk allgemeingültige Aussage und auch Ausdruck der persönlichen Meinung des Autors821 wird in diesem Zusammenhang häufig822 ein Zitat aus »Korabli v Lisse« angeführt, in dem ein bestimmter, poetisch-anachronistischer Menschenschlag beschrieben 813 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Seryj avtomobil’. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 417–453, hier 437. Kürzel: SE . In »Seryj avtomobil’« erfolgt eine äußerst negative Darstellung neuer technischer und künstlerischer Entwicklungen: Der Protagonist entwickelt einen Verfolgungswahn durch ein Auto und lehnt sowohl das Kino als auch den Futurismus und den (mit Ersterem gleichgesetzten) Kubismus explizit ab (vgl. SE , 419–422 u. 434 f.). Für eine Analyse der philosophischen Inhalte in »Seryj avtomobil’« vgl. Doroškevič, Vladimir: Obraz filosofii i vse nevozmožnoe, sledujuščee iz nego v rasskaze Aleksandra Grina ›Seryj avtomobil’‹. In: Nenada, Alla (Hg.): Aleksandr Grin: Tvorčeskaja biografija. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2014, 115–120. 814 Vgl. ZC , 252 f. 815 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Tjažëlyj vozduch. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 3. Moskva 1980, 439–446. Kürzel: TV. 816 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Sostjazanie v Lisse. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 168–176. Kürzel: SO. 817 Vgl. OO, 579. 818 Tarasenko: Dom Grina, 34. Dt.: »Nicht irgendein Land der Zukunft, nein, ›Grinlandija‹ ist archaisch.«. 819 Roskin: Sud’ba pisatelja-fabulista, 6. Dt.: »romantischen Archaik«. 820 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 42 f. Naumann weist darauf hin, dass sich Grin durch diese Ausrichtung Grinlandijas auf die Vergangenheit von einer Reihe von Schriftstellern aus dieser Zeit unterscheidet, die in ihren literarischen Werken fiktive Länder mit einer Orientierung in Richtung Zukunft erschaffen – z. B. Sologub: »Tvorimaja legenda« (1907–1909; dt.: »Eine Legende im Werden«), Čapek: »R. U. R.« (1921), Zamjatin: »My« (1922; dt.: »Wir«), Kafka: »Das Schloss« (1926), Witkiewicz: »Nienasycenie« (1930; dt.: »Unersättlichkeit«), Huxley: »Brave New World« (1932), Orwell: »1984« (1949) – darin aber mit Nabokovs Schauplatz Zoorlandija übereinstimmt (vgl. Naumann: Grin’s Grinlandia, 237). 821 Vgl. für Betrachtungen zu Grins Verhältnis zum technischen Fortschritt Kovskij: Pre­ obraženie dejstvitel’nosti, 43–46. 822 U. a. von Varlamov: Aleksandr Grin, 188; Michajlova: Aleksandr Grin, 81; Kovskij: Pre­ obraženie dejstvitel’nosti, 42; Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 17.  FLMMG , K 247, l. 17.

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wird: »Такой человек предпочтет лошадей вагону; свечу – электрической груше; […] неуклюжий парусник с возвышенной громадой белых парусов […] предпочтет он игрушечно-красивому пароходу.«823 Im Zuge dieser Festlegung des romantisch-exotischen Grinlandija als eines der wesentlichen Merkmale von Grins Schaffen wird es notwendig, die Gefahr der Wiederholung von Kosmopolitismus-Vorwürfen, wie sie in nicht allzu ferner Vergangenheit eben wegen dieser fremden Schauplätze gegen Grin vorgebracht wurden, auszuräumen. Als Ausgangspunkt hierfür dient Kovskij – als einem der ersten und wichtigsten Vertreter dieser Perspektive auf Grin  – ein Zitat von Gogol’: »Поэт даже может быть и тогда национален, когда описывает совершенно сторонний мир, но глядит на него глазами своей национальной стихии, глазами всего народа […]«.824 Daraus leitet er Grins Bestimmung als »писателем русским, художником национальным«825 ab, da seine Romantik aus der russischen Wirklichkeit und Literatur gewachsen sei und seine ethisch-ästhetischen literarischen Konzeptionen in der Tradition des russischen Humanismus stünden.826 Letztere werden vor allem durch einen Heldentypus verkörpert, der den zweiten Bestandteil der ›Romantik‹ Grins darstellt. Der romantische Heldentypus: mutige Kämpfer für das Schöne und Gute Wie schon im Fall von Grinlandija basiert die Bestimmung eines idealen Heldentypus, der ohne Furcht gegen das Böse und für seine Träume kämpft, als romantisches Charakteristikum der Prosa Grins auf einer stark selektiven Rezeption seines Gesamtwerks. Angesichts der nicht geringen Zahl an Antihelden und unmoralischen Taten, die Grin in seiner Prosa beschreibt – dies wird im Rahmen der in dieser Studie vorgenommenen Textanalysen deutlich werden –, ist das daraus entstehende Bild des Autors und seines Werks als stark verklärend zu bezeichnen. 823 KV, 214. Dt.: »Solch ein Mensch wird Pferde dem Eisenbahnwagen vorziehen; die Kerze der elektrischen Glühbirne; […] er wird einem ungefügen Schiff mit gehißten weißen Segeln […] den Vorzug geben vor einem spielzeughaft schönen Dampfer.« (Grin, Alexander: Schiffe in Liss. Übersetzt von Brigitta Schröder. In: Ders.: Der Rattenfänger. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1984, 86–109, hier 87. Kürzel: KVd). 824 Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 84; Original: Gogol’, Nikolaj V.: Neskol’ko slov o Puškine. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Tom vos’moj. Stat’i. Leningrad 1952, 50–55, hier 51. Dt.: »Der Dichter kann sogar dann national sein, wenn er eine völlig fremde Welt beschreibt, aber auf sie mit den Augen seines nationalen Elements schaut, mit den Augen des ganzen Volkes […]« (Gogol, Nikolai: Ein paar Worte über Puschkin. Aus dem Russischen übersetzt von Werner Creutziger. In: Ders.: Aufsätze und Briefe. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Herausgegeben von Michael Wegner. Berlin, Weimar 1977, 68–76, hier 70). 825 Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 85. 826 Vgl. ebd.

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In diesem Zusammenhang wird oftmals, wenn auch nicht immer, eine Lokalisierung dieser guten Protagonisten in Grinlandija vorgenommen. Schon bei Ščeglov findet sich eine solche Verbindung, wenn er fordert, dass Grins Romantik должна быть воспринята не как ›уход от жизни‹, но как приход к ней со всем очарованием и волнением веры в добро и красоту людей, в расцвет иной жизни на берегах безмятежных морей, где ходят отрадно стройные корабли.827

Izergina charakterisiert Grins Schaffen als ›helle‹ Romantik828 und sieht diese in Grins Schreiben […] о радости сбывающейся мечты, о праве человека на большое счастье, о чудесных подвигах и открытиях, о красивой любви, способной совершить чудо, о дружбе навек, о мужественных, героических, благородных людях, смело идущих навстречу опастности.829

In den romantischen Helden, die nach dem Schönen und Guten und nach Gerechtigkeit streben, erkennt sie (ähnlich wie Kovskij, siehe oben) eine Pa­ rallele zwischen Grin und Gor’kij.830 Kovskij weist darauf hin, dass der positive romantische Heldentypus eine Erscheinung der späteren Werke Grins – mit anderen Worten: der im Fokus der Rezeption stehenden Romane, der Povest’ 827 Ščeglov: Korabli Aleksandra Grina, 223; Hervorhebung im Original. Dt.: »nicht als ›Weggang aus dem Leben‹ aufgefasst werden muss, sondern als Hingehen zu ihm mit allem Zauber und Aufruhr des Glaubens an das Gute und die Schönheit der Menschen, an das Erblühen eines anderen Lebens an den Ufern ruhiger Meere, wo erfreulich wohlgeformte Schiffe fahren.«. 828 Als einer der wenigen weist Kovskij auch auf die ›dunkle‹ Romantik bei Grin hin, die er unter dem Stichwort des »романтическое отчаяние« (Kovskij: Preobraženie dejstvi­ tel’nosti, 31. Dt.: »romantische Verzweiflung«) fasst. Als Beispiele führt er die Erzählungen »Okno v lesu«, »Proisšestvie v ulice Psa« (1909; dt.: »Der Vorfall in der Köterstraße«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Proisšestvie v ulice Psa. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 244–248. Kürzel: PV) sowie den von einem kollektiven Selbstmord handelnden Text »Raj« (1909; »Das Paradies«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Raj. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 1. Moskva 1980, 148–175. Kürzel: RA) an. Auch Tarasenko erwähnt eine Reihe von Grin-Texten mit düsterer, bedrückender Stimmung und mystisch-unerklärbaren Elementen, die er mit Poes romantischen Werken vergleicht, z. B. »Seryj avtomobil’« und »Fandango« (vgl. Tarasenko: Dom Grina, 37). Dann aber geht er mit den Worten: »[…] но Грин, которого мы знаем, другой« (ebd. Dt.: »[…] aber der Grin, den wir kennen, ist ein anderer«) sogleich wieder zu der verklärenden Sichtweise auf den Schriftsteller über. 829 Izergina: A. S. Grin, 81. Dt.: »[…] über die Freude des in Erfüllung gehenden Traums, über das Recht des Menschen auf das große Glück, über wunderbare Heldentaten und Entdeckungen, über die schöne Liebe, die in der Lage ist, ein Wunder zu vollbringen, über Freundschaft auf ewig, über tapfere, heldenhafte, edle Menschen, die mutig der Gefahr entgegengehen.«. 830 Vgl. ebd., 92 f.

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»Alye parusa« sowie einiger ausgewählter Erzählungen – ist, und dass sich in ihn der »страдающий романтик-одиночка«831 der frühen Texte verwandelt, womit er vermutlich die Protagonisten aus »Ostrov Reno« und »Kolonija Lanfier« meint. Die Beschreibungen der Helden Grins in der Sekundärliteratur ähneln einander stark und vermitteln dadurch – trotz vereinzelter Hinweise darauf, dass die Aussage nicht für alle gilt  – den falschen Eindruck, dass in Grins Prosa ausschließlich positive Protagonisten auftreten. Dies zeigt bereits eine exemplarische Auswahl entsprechender Aussagen: Ščeglov bezeichnet den bei Grin auftretenden Helden verallgemeinernd als »романтик, сказочник, с душой, полной поэтических движений«,832 der sich der Vulgarität und Herzlosigkeit des gewöhnlichen Lebens entgegenstellt. Die Bewohner Grinlandijas sind ihm zufolge »[…] мужчины  – благородные покровители слабых, друзья мужественных; женщины и девушки, чье очарование несказанно, – какие-то золушки, феи и принцессы на горошине […]«.833 Bei Voronova heißt es: »Герои Грина, почти все без исключения, страстно любят жизнь, свободу и независимость.«834 Die männlichen Helden seien in der Regel »благородны и мужественны, упорны и великодушны«,835 Frauen stelle er »чисто и целомудренно«836 dar. Der für die Konstruktion des Grin-Bilds ab der Tauwetterperiode sehr einflussreiche Kovskij schreibt in seiner ersten Grin-Monographie: »Излюбленные гриновские герои, по существу,  – герои идеальные, рыцари без страха и упрека«837 und verallgemeinert seine Aussage in einem späteren Abschnitt des Buches: »В представлении Грина человек всегда чудесен […]. Каждое произведение писателя борется за светлое, прекрасное в человеке.«838 Diese verklärende Sichtweise auf Grin findet sich noch Jahrzehnte später, in aktuellen Publikationen, unverändert wieder. So schreibt etwa Nenada, fast mit dem-

831 Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 14. FLMMG , K 247, l. 14. Dt.: »leidende romantische Einzelgänger«. 832 Ščeglov: Korabli Aleksandra Grina, 221. Dt.: »Romantiker, Märchenerzähler, mit einer Seele voll poetischer Regungen«. 833 Ebd., 220 f. Dt.: »[…] Männer – edle Beschützer der Schwachen, Freunde der Tapferen; Frauen und Mädchen, deren Zauber unbeschreiblich ist, – gewissermaßen Aschenputtel, Feen und Prinzessinnen auf der Erbse […]«. 834 Voronova: Poėzija mečty, 144. Dt.: »Grins Helden, fast alle ohne Ausnahme, lieben leidenschaftlich das Leben, die Freiheit und die Unabhängigkeit.«. 835 Ebd., 146. Dt.: »edel und tapfer, ausdauernd und großmütig«. 836 Ebd. Dt.: »rein und keusch«. 837 Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 47. Dt.: »Die beliebten Grin’schen Helden sind, im Grunde genommen, ideale Helden, Ritter ohne Furcht und Tadel.«. 838 Ebd., 82. Dt.: »In Grins Vorstellung ist der Mensch immer wundervoll […]. Jedes Werk des Schriftstellers kämpft für das Helle, Schöne im Menschen.«.

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selben Wortlaut wie Kovskij, über Grins »настоящая глубинная нежность к Прекрасному – в человеке«.839 Arnol’di betont die moralischen Prinzipien, wie Ehrlichkeit, Edelmut und Integrität, nach denen die schönen, guten Menschen in Grins Werken ihr Handeln ausrichten.840 In sehr ähnlicher Weise hebt Kovskij die ethischhumanistische Konzeption der Werke Grins hervor, von deren Normen sich seine positiven Helden leiten lassen.841 Rossel’s behauptet in Übereinstimmung damit, dass alles Gute im Menschen in Grins Figuren enthalten sei.842 In einem anderen Beitrag schreibt er: »[…] мужественные, благородные и свободные люди населяют придуманные им [Грином] приморские города […], овеянные романтикой странствий и приключений.«843 Bei ihm findet sich aber immerhin der seltene – und zutreffende – Hinweis, dass das Gute im Kampf gegen das Böse in einer Reihe von Erzählungen und Romanen Grins (z. B. »Doroga nikuda« oder »Blistajuščij mir«) eine Niederlage erleidet.844 Das offizielle Bild des Autors und seines Werks blendet solche ›Feinheiten‹ allerdings in der Regel aus. In einem Heft über Grin für sowjetische Schüler ist beispielsweise zu lesen: »Книги Грина привлекают прежде всего необыкновенностью героев, людей смелых, сильных и честных, хорошо знающих, что такое дружба, любовь, верность и ›вовремя сказанное нужное слово‹.«845 Darin findet sich auch eine Aussage der Schriftstellerin Vera Ketlinskaja über Grin: »[…] через все его произведения победно проходит глубокая и светлая вера в человека, в добрые начала души человеческой […]«.846 Grossmann fasst die Rezeption Grins in der UdSSR in zutreffender Weise mit der Aussage zusammen, dass die sowjetische Kritik dem Schriftsteller einen Platz in der Literatur als Dichter der Träume und der Suche nach dem 839 Nenada, Alla: Aleksandr Grin i chudožnik Ivan Kulikov. In: Dies. (Hg.): Aleksandr Grin: žizn’, ličnost’, tvorčestvo. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2010, 56–61, hier 56. Dt.: »wahre tiefe Zärtlichkeit für das Schöne – im Menschen«. 840 Vgl. Arnol’di: Belletrist Grin, 179 f. 841 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 6 f. 842 Vgl. Rossels: Between Fantasy and Reality, 14.  843 Rossel’s: Grin. Russkie pisateli, 42. Dt.: »[…] tapfere, edle und freie Menschen bevölkern die von ihm [Grin] ausgedachten Städte am Meer […], die von der Romantik der Wanderschaften und Abenteuer umweht werden.«. 844 Vgl. Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 379. 845 Novosëlova: A. S. Grin. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 61. Dt.: »Grins Bücher reizen vor allem durch die Ungewöhnlichkeit der Helden, mutiger, starker und ehrlicher Menschen, die genau wissen, was Freundschaft, Liebe, Treue und ein ›zur rechten Zeit ausgesprochenes notwendiges Wort‹ sind.«. 846 Zit. nach ebd. Dt.: »[…] durch all seine Werke zieht sich siegreich ein tiefer und heller Glaube an den Menschen, an die guten Anfänge der menschlichen Seele […]«.

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Edlen und Schönen im Menschen zugeteilt habe.847 Diese Sichtweise prägt die Grin-Forschung bis heute, sodass sich auch in den neuesten Publikationen noch Aussagen wie die folgende finden, die ein weiteres Mal die Idee des ›Traums‹ aufgreift: »Героям Грина дана абсолютная чистота мечты […].«848 Das verklärte Bild des Schriftstellers wird auch in nichtsowjetischen Publikationen übernommen, darunter auch von Grossmann selbst, wenn er über Grin schreibt: »Für seine Traumwelt schuf er edle und schöne, mutige und fröhliche Helden, die das Böse bekämpften […]«.849 Beaujour erklärt die Attraktivität von Grins Werken für die sowjetischen Leser der poststalinistischen Zeit damit, dass sie von einer »morality of total individual honesty and sincerity«850 durchdrungen seien. Luker identifiziert den Dienst an den Mitmenschen und den Nutzen für die Menschheit im Allgemeinen als dominante Kriterien für das Handeln der starken und großzügigen Helden in Grins späteren romantischen Werken, v. a. in den Romanen.851 Und bei Vishnyakova heißt es: »Grin teaches how to be brave and to enjoy life. He believed in a world of beauty and justice, in the eventual victory of Good over Evil«.852 Die bereits oben angeklungene Verbindung des idealen Helden mit dem Schauplatz Grinlandija wird in einigen Studien genauer ausgeführt. Bereits Ščeglov betrachtet das fiktive Land als wichtigen Hintergrund für die Realisierung des Guten: »В стране А. Грина человек просто осуществляет все то хорошее, что в реальной действительности часто держится в душе под замком […]«.853 Auch Kovskij führt im Zusammenhang mit der Behauptung einer tief positiven Konzeption des Menschen bei Grin die Funktion Grinlandijas als Schauplatz, der dem Helden die Möglichkeit zum Ausleben seiner besten Eigenschaften bietet, an.854

847 Vgl. Grossmann: Nachwort, 186. 848 Puškarëva, Svetlana: ›Blagorodnyj geroj‹ v tvorčeskom mire Aleksandra Grina i ›rycar’ ducha‹ v poėzii Nikolaja Gumilëva. In: Nenada, Alla (Hg.): Aleksandr Grin: Tvorčeskaja biografija. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2014, 75–81, hier 77. Dt.: »Grins Helden ist die absolute Reinheit des Traums gegeben […].«. 849 Grossmann: Nachwort, 181 f. 850 Beaujour, Elizabeth K.: The Invisible Land: A Study of the Artistic Imagination of Iurii Olesha. New York 1970, 167. 851 Vgl. Luker: Alexander Grin. A Survey, 352. 852 Vishnyakova, O.: Introduction. In: Dies. (Hg.): Ėcho. Sbornik rasskazov sovetskich pisatelej./Echo. Short Stories by A. Grin, K. Fedin, Y. Kuranov, V. Lidin, Y. Nagibin, L. Panteleyev, E. Permyak, M. Prishvin, G. Skulsky. Compiled by O. Vishnyakova. Introduction, notes and vocabulary translated from the Russian by V. Korotky. Moscow 1962, 5–7, hier 6. 853 Ščeglov: Korabli Aleksandra Grina, 222. Dt.: »Im Land A. Grins realisiert der Mensch einfach all jenes Gute, was in der realen Wirklichkeit oft in der Seele unter Verschluss gehalten wird.«. 854 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 20.

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Als Resultat dieser engen Verknüpfung von ›romantischem‹ Schauplatz und positivem Held muss das Phänomen gedeutet werden, dass in zahlreichen Fällen Grinlandija selbst als idealisierter Ort des Schönen und Guten wahrgenommen wird, obwohl im Zentrum des Sujets sogar in den bekanntesten ›romantischen‹ Werken häufig gerade ein Konflikt zwischen dem idealen Helden und einem negativen, das Schlechte, Unmoralische verkörpernden Gegenspieler steht. Slonim beschreibt Grinlandija als »another world, light and wonderful, freed from contingencies, misery, struggle, and death«,855 und Tarasenko zufolge löst das fiktive Land Grins die Überzeugung aus, dass das Helle im Menschen stets die Oberhand behält.856 Diese Wahrnehmung Grinlandijas in der (sowjetischen) Literaturwissenschaft bestimmt auch generell das populäre Bild des Autors und seines Werks. Rasul Gamzatov etwa behauptet: »В мире много стран, но самая мирная, самая прекрасная страна – это Гринландия.«857 Daniil Granin bekennt: »Когда дни начинают пылиться и краски блекнут, я беру Грина. Я открываю его на любой странице […]. Всe становится светлым, ярким […]«.858 Zwar finden sich in Grins Romanen und Erzählungen tatsächlich eine Reihe moralisch vorbildlicher Protagonisten, die für das Schöne und Gute kämpfen, allerdings sind Grins Werke auch von unzähligen negativen oder ambivalenten Figuren ›bevölkert‹, sodass das hier konstruierte Bild in dieser Absolutheit nicht korrekt ist. Die romantische Handlung: nicht-realistische (fantastische) Handlungselemente In ihrer dritten Bedeutungsvariante wird ›Romantik‹ in Bezug auf Grin als Gegenbegriff zu ›Realismus‹ verwendet. Tarasenko etwa unterscheidet zwischen »Грин-романтик« und »Грин-реалист«.859 Kirkin konstatiert einen Übergang Grins vom Realismus zur Romantik zwischen 1906 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs.860 Diese Einschätzung wird von Kovskij geteilt, der den Wandel damit erklärt, dass Grin seine Romantik im Vergleich zu seinem Realismus viel attraktivere künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten bietet.861 855 Slonim: Soviet Russian Literature, 118. 856 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 35. 857 Zit. nach Gorjunov, Nikolaj: Čelovek iz Zurbagana. In: Krymskaja pravda 185 (9 oktjabrja 2001), URL : http://grin.lit-info.ru/grin/kritika/goryunov-chelovek-iz-zurbagana.htm. Dt.: »Auf der Welt gibt es viele Länder, aber das friedlichste, das allerschönste Land ist Grinlandija.«. 858 Zit. nach Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 566. Dt.: »Wenn die Tage beginnen zu verstauben und die Farben verblassen, nehme ich Grin zur Hand. Ich öffne ihn auf einer beliebigen Seite […]. Alles wird hell, leuchtend […]«. 859 Tarasenko: Dom Grina, 14. Dt.: »dem Romantiker Grin«, »dem Realisten Grin«. Vgl. auch ebd., 23 f. u. 30. 860 Vgl. Kirkin: A. S. Grin v pečati, 6.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 6. 861 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 12; Kovskij: Romantičeskij mir, 34.

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Paustovskij dagegen konstatiert eine organische Verschmelzung von Grins »реализм со свободным и смелым воображением«.862 In all diesen Aussagen vermischen sich – in der Regel unreflektiert – zwei Bedeutungen von ›romantisch‹ als ›nicht-realistisch‹. Erstens ist damit eine Werkgestaltung ohne (realistische)  Widerspiegelung der außerliterarischen sozialen, kulturellen, geographischen etc. Realität gemeint, die sich in Grins Fall, in der allgemeinen Wahrnehmung, am deutlichsten in der Wahl fiktiver Schauplätze niederschlägt und damit im Wesentlichen mit der ersten Bedeutungsvariante von Grins ›Romantik‹ zusammenfällt. Kovskij etwa spricht im Zusammenhang mit dem erstmaligen Auftreten des romantischen Schauplatzes Grinlandija in »Ostrov Reno« von einer Abwendung von der Wirklichkeit.863 Auch Luker kontrastiert die frühen, realistischen Erzählungen, von denen viele das Thema der Sozialrevolutionäre behandeln, mit dem späteren Werk, »which, located chiefly as it is in Grinlandia, has very different preoccupations«;864 an anderer Stelle setzt er noch expliziter Grinlandija mit ›romantisch‹ in der Bedeutung ›nicht im Stil des Realismus, ohne Darstellung außerliterarischer realer Gegebenheiten‹ gleich.865 Ebenso betont Rossel’s, dass sich Grin, anders als etwa Bagrickij oder Babel’, nicht mit der Zeit dem Realismus zugewendet habe, sondern »в замкнутом условном мире своей Гринландии«866 geblieben sei. Neben Grinlandija fallen in diese Kategorie auch Heldenfiguren ohne reale Vorbilder, Ereignisse ohne Entsprechungen in der Wirklichkeit etc., die bei Grin ebenso stark ausgeprägt sind, aber in der Rezeption seltener (mit Ausnahme der 1920er Jahre, siehe Kap. 2.2.2) hervorgehoben werden. Zweitens bezieht sich ›Romantik‹ als Gegenbegriff zu ›Realismus‹ in der Grin-Rezeption auf die Präsenz fantastischer (übernatürlicher) Handlungselemente, die die Naturgesetze der realen Welt außerhalb des Werks aufheben. In diesem Sinne wird Grin oft als »писател[ь]-фантаст[…]«867 charakterisiert.868 Kirkin beispielsweise bezeichnet einen Teil der Werke, die ihm zufolge für die Jahre nach der Revolution charakteristisch sind, als romantische Fantastik.869 Kovskij verknüpft explizit den oben vorgestellten romantischen Heldentypus 862 Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 69. Dt.: »Realismus mit einer freien und mutigen Fantasie«. 863 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 22. 864 Luker: Tales of an Invisible Man, 2. 865 Vgl. ebd., 24. 866 Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 386. Dt.: »in der geschlossenen fiktiven Welt seines Grinlandija«. Vgl. auch ebd., 390. 867 Bočkovskaja, T.: Real’noe i fantastika v romanach Aleksandra Grina. [ok. načala 1980-ch]. FLMMG , KP 2410 D 760, l. 1. Dt.: »Fantastik-Schriftsteller«. 868 Vgl. z. B. auch N. B.-B.: [Recenzija na knigu:] Aleksandr Grin. Sobranie sočinenij, Sp. 138; Frioux: Sur deux romans, 558; Grossmann: Nachwort, 180. 869 Vgl. Kirkin: A. S. Grin v pečati, 7.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 7.

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des ›Ritters ohne Furcht und Tadel‹, dem er unbegrenzte geistige Möglichkeiten zuschreibt, mit den fantastischen Elementen in Grins Werken, die er als Projektion dieser geistigen Möglichkeiten nach außen interpretiert.870 Mit dieser Deutung folgt er Gornfel’d, der Grins Schreiben bereits 1910 als »психологическ[ую] фантастик[у]«871 bestimmt. Luker vertritt eine ähnliche Sicht auf die Fantastik Grins, wenn er sie als »›socio-ethical‹ fantasy«872 bezeichnet, also als Fantastik, in deren Zentrum der Mensch mit seinen geistigen Fähigkeiten und ethischen Überzeugungen steht, nicht die Technik oder Wissenschaft wie in der (auch sowjetischen) Science-Fiction, womit er ebenfalls von dem oben herausgearbeiteten romantischen Heldentypus ausgeht. Nicht selten verbinden sich in Grins Werk diese beiden Komponenten der dritten Bedeutung von ›Romantik‹ (als Gegensatz zu ›Realismus‹), also eine Werkgestaltung ohne Widerspiegelung von realen Gegebenheiten und die Präsenz fantastischer Handlungselemente, wodurch die unreflektierte Vermischung der beiden Bedeutungen in der Sekundärliteratur erklärbar ist. Dies trifft z. B. auf den Roman »Beguščaja po volnam« zu, der in Grinlandija spielt und in dem die Frau aus dem Titel die Fähigkeit besitzt, über Wellen zu laufen (wenn auch offenbleibt, ob diese tatsächlich existiert oder nur Produkt einer Seemannslegende ist), auf die Erzählung »Korabli v Lisse«, in der der Lotse Bitt-Boj aus der typisch ›grinländischen‹ Stadt Liss ein übernatürliches Gespür für die Gefahren des Meeres besitzt, oder auf den Roman »Blistajuščij mir«, der über eine Referenz auf Liss mit dem fiktiven Land verbunden ist und dessen Protagonist Drud fliegen kann.873 Allerdings beschränkt sich das Auftreten übernatürlicher Elemente keineswegs auf in Grinlandija spielende Werke. »Krysolov« und »Fandango« beispielsweise lassen sich klar in Sankt Petersburg (Petrograd) verorten; im erstgenannten Text trifft der Protagonist auf Ratten mit menschlichen Fähigkeiten,874 im zweiten geht der Held in ein Bild hinein und in eine andere Welt hinüber.875 Ebenso wenig weisen umgekehrt alle Werke mit fiktiven 870 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 47. Kovskij sieht in Grins Romantik, die sich für ihn durch Verwebung von Realem mit Fantastischem (Wunderbarem) auszeichnet, eine Parallele zur Romantik Aleksandr Bloks (vgl. ebd., 50 f.). 871 Gornfel’d: A. S. Grin. Rasskazy, 146. FLMMG , n / v 4710, l. 2. Dt.: »psychologische Fantastik«. 872 Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 54. 873 Interessanterweise wehrt sich Grin im Fall von »Blistajuščij mir« explizit gegen eine Interpretation seines Romans als Fantastik. Als Jurij Oleša eben diese Einordnung vornimmt, reagiert Grin beinahe ungehalten: »›[…] Это символический роман, а не фантастический! Это вовсе не человек летает, это парение духа!‹« (Oleša: Pisatel’unik, 316. Dt.: »›[…] Das ist ein symbolischer Roman, kein fantastischer! Das ist ganz und gar nicht ein Mensch, der da fliegt, das ist ein Schweben des Geistes!‹«). 874 Vgl. KR , 354. 875 Vgl. FA , 542.

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Schauplätzen o. Ä. automatisch auch fantastische Bestandteile der Handlung auf. Die Erzählung »Komendant porta« etwa thematisiert gänzlich alltägliche Szenen im Hafen der fiktiven Stadt Gerton, Selbiges gilt für die in der Hafenstadt Poket spielende Handlung von »Barchatnaja port’era« (1929; dt.: »Die Samtportiere«),876 und auch die in dem und um das fiktive Zurbagan spielende Erzählung »Kapitan Djuk« ist gänzlich realistisch gestaltet. Dass dennoch von vielen Rezipienten eine Gleichsetzung der beiden Bedeutungen der Bezeichnung ›nicht-realistisch‹, also v. a. von fiktivem Schauplatz und übernatürlichen Handlungselementen, vorgenommen wird, zeigt sich am deutlichsten am Beispiel von »Alye parusa«. Obwohl in der Povest’ die Naturgesetze der außerliterarischen Welt ihre Gültigkeit behalten und das Schiff mit den purpurroten Segeln, von dem das Mädchen Assol’ seit seiner Kindheit träumt, nicht wie von Zauberhand erscheint, sondern weil ein reicher Mann von diesem Wunsch hört und sein Schiff mit großem Aufwand mit solchen Segeln bestücken lässt, wird der Text dennoch sehr oft als Märchen (russ.: skazka) bezeichnet.877 Diese letzte Einordnung von Grins Werk als Fantastik (im weiteren Sinne als Literatur mit übernatürlichen Elementen) birgt jedoch auch eine gewisse, nicht zu unterschätzende Problematik. Zwar erlaubt das einsetzende politische und kulturelle ›Tauwetter‹ die Etablierung einer sowjetischen Fantastik, was zuvor aufgrund der bereits angesprochenen ideologisch begründeten Unmöglichkeit der Existenz einer alternativen Utopie, neben der sowjetischen, undenkbar ist. Jedoch bleibt diese auf das Subgenre der Science-Fiction beschränkt, das für die Propaganda marxistischer und positivistischer Theorien instrumentalisiert wird, während andere Untergattungen bis zum Ende der Sowjetunion politisch unerwünscht bleiben.878 Da Grins Fantastik nicht der Science-Fiction zugerechnet werden kann, ist zusätzlich zu der bisher genannten Strategie der ›Romantisierung‹ Grins eine weitere Form der ›politischen Depotenzierung‹ notwendig. Dies geschieht in Form der Zuordnung seiner Werke zur Kinderund Jugendliteratur, welche gleich noch Betrachtung findet. Vorher sollen aber noch kurz zwei – die Romantisierung Grins ergänzende, zugleich aber auch zu den Versuchen der ›Sowjetisierung‹ des Autors zählende – Strategien vorgestellt werden: Erstens gibt es bisweilen Versuche, Grins

876 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Barchatnaja port’era. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 619–627. Kürzel: BP. 877 Z. B. bei Izergina: A. S. Grin, 105; Voronova: Poėzija mečty, 147; Bočkovskaja: Real’noe i fantastika. FLMMG , KP 2410 D 760, l. 1 u. 4 f.; Šklovskij: Tri vstreči s Grinom, 215. Vermutlich trägt auch der von Grin gewählte Untertitel der Povest’, »Feerija« (dt.: »Feerie«), zu dieser Einordnung bei. 878 Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, v.

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Werk in die literarische Methode des Sozialistischen Realismus einzuordnen. Ovčarenko etwa zeigt die Nähe der Romantik Grins zum Sozialistischen Realismus auf.879 Zelinskij schreibt in seinem Aufsatz »Nacional’naja forma i socialističeskij realizm« (dt.: »Nationale Form und Sozialistischer Realismus«) allgemein »[о] развити[и] самого метода социалистического реализма, сумевшего охватить и романтические стили, подчинить их своим идейным задачам.«880 Chrapčenko geht in ähnlicher Weise von der Idee aus, dass die sozialistische Literatur unterschiedliche Formen annehmen kann und formuliert daher die Forderung einer »необходимость рассматривать различные течения в социалистической литературе с точки зрения их общественно-эстетической функции«881. In diesem Zusammenhang nennt er auch die Romantik im Allgemeinen sowie die Romantik Grins im Besonderen, die durch die innere Stärke ihrer Helden und deren Taten (russ.: podvigi) begeistere,882 womit sie die Anforderung einer gesellschaftlichen Funktion erfüllt.883 Obwohl der einflussreiche Grin-Forscher Kovskij es nicht ausformuliert und dies möglicherweise auch nicht seiner Intention entspricht, klingt eine seiner Charakterisierungen von Grins Werk wie eine Beschreibung der Schaffensmethode des Sozialistischen Realismus: Der Leser sei bei Grin ständig konfrontiert mit »утверждением желаемого как действительного, должного как сущего.«884 Auch in einer Aussage Šklovskijs über Grin und sein Werk klingt die Idee der Darstellung der Wirklichkeit »в ее революционном развитии«885 an: »Он [Грин] стал символом мечты о невозможном. Но таком невозможном, которое надо записать на сегодняшний день как невозможное и как реальное – на завтра.«886

879 Vgl. Ovčarenko, A.: Socialističeskij realizm i sovremennyj literaturnyj process. Moskva 1968, 208–217; zit. nach Kirkin: A. S. Grin v pečati, 13.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 13. 880 Zelinskij, Kornelij: Nacional’naja forma i socialističeskij realizm. In: Voprosy literatury 3 (1957), 3–34, hier 33 f.; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »[über] die Entwicklung der Methode des Sozialistischen Realismus selbst, der in der Lage war, auch romantische Stile zu umfassen, sie seinen ideellen Aufgaben zu unterwerfen.«. 881 Chrapčenko, M.: Tvorčeskaja individual’nost’ pisatelja i razvitie literatury. Moskva 1970, 212. Dt.: »Notwendigkeit, verschiedene Strömungen in der sozialistischen Literatur aus der Perspektive ihrer gesellschaftlich-ästhetischen Funktion zu betrachten«. 882 Vgl. ebd. 883 Vgl. hierzu auch ebd., 191 u. 210. 884 Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 7. Dt.: »der Behauptung des Gewünschten als Wirkliches, des Gebührenden als Seiendes.«. 885 Sojuz sovetskich pisatelej SSSR : Ustav Sojuza sovetskich pisatelej SSSR , 716. Dt.: »in ihrer revolutionären Entwicklung«. 886 Šklovskij: Tri vstreči s Grinom, 215 f. Dt.: »Er [Grin] wurde zum Symbol für den Traum vom Unmöglichen. Aber von einem solchen Unmöglichen, das man für den heutigen Tag als Unmögliches verzeichnen muss und als Reales – für morgen.«.

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Weiter verbreitet als die Versuche, Grin als Vertreter des Sozialistischen Realismus umzudeuten, ist die zweite mit der Romantisierung Grins einhergehende Idee, dass der Schriftsteller sich gegen Ende seines Lebens von der Romantik ab- und wieder dem Realismus zuwendet, dem auch seine ersten literarischen Erzeugnisse zuzuordnen sind. Wie so viele ideologisch ›günstige‹ Lesarten findet auch diese durch Paustovskijs einflussreichen Aufsatz »Žizn’ Aleksandra Grina« Verbreitung.887 Darin heißt es über Grin: »Он умер слишком рано. Смерть застала его в самом начале душевного перелома. Грин начал прислушиваться и пристально присматриваться к действительности.«888 Eine wichtige Rolle für seine These spielt die Idee, dass Grins Art zu schreiben eigentlich als »замаскированн[ая] реалистичност[ь]«889 zu bewerten sei. Zum Beweis dessen versuchen viele Kritiker und Literaturwissenschaftler in der Folge, autobiographische Motive und Referenzen auf zeitgenössische Ereignisse in Grins Werken zu identifizieren. Vichrov beispielsweise dechiffriert die »Partija Osennogo mesjaca« (dt.: »Partei des Herbstmonats«) und deren ›Seele‹ Guktas aus der Erzählung »Vozvraščënnyj ad« (1915; dt.: »Die zurückgegebene Hölle«)890 als Partei der »Oktjabristy« (dt.: »Oktobristen«) und deren Parteivorsitzenden Aleksandr Gučkov.891 Der Übergang von der Romantik zum Realismus wird von den Vertretern dieser These übereinstimmend in den letzten Jahren von Grins Schaffen verortet. Slonimskij etwa sieht seinen Beginn in einer Erzählung von 1929 – »›Комендант порта‹ предшествует переходу Александра Грина к реализму.«892  – und seine endgültige Realisierung in »Avtobiografičeskaja povest’« von 1932.893 Wohl in Anschluss an Paustovskij fügt er hinzu: »Неизвестно, что дал бы Грин на новом – реалистическом – этапе своего творчества. Он умер от рака в самом начале этого своего нового пути, не закончив ›Автобиографической повести‹.«894 887 Paustovskij ist jedoch nicht der erste, der diese Idee äußert. Šepelenko konstatiert schon zu Lebzeiten Grins: »Грин является реалистом, писателем земли […]« (Šepelenko: [Recenzija na knigu:] A. Grin. Blistajuščij mir, 1032. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 14, l. 19. Dt.: »Grin ist Realist, ein Schriftsteller der Erde […]«). 888 Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 69. Dt.: »Er starb zu früh. Der Tod überraschte ihn direkt am Beginn seiner seelischen Wende. Grin hatte begonnen, der Wirklichkeit zu lauschen und sie sich aufmerksam anzusehen.«. 889 Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 9. Dt.: »maskierte Wirklichkeitsnähe«. 890 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Vozvraščënnyj ad. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 398–426. Kürzel: VA . 891 Vgl. Vichrov: Rycar’ mečty, 91 f. 892 Slonimskij: Aleksandr Grin real’nyj i fantastičeskij, 270. Dt.: »›Der Hafenkommandant‹ geht dem Übergang Aleksandr Grins zum Realismus voraus.«. 893 Vgl. ebd. 894 Ebd. Dt.: »Es ist nicht bekannt, was Grin in der neuen – realistischen – Etappe seines Schaffens hervorgebracht hätte. Er starb an Krebs direkt am Beginn seines neuen Weges, ohne den ›Autobiographischen Kurzroman‹ vollendet zu haben.«.

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Jedoch kann gerade »Avtobiografičeskaja povest’« gleich aus zwei Gründen nicht als Beleg für einen Übergang zum Realismus herangezogen werden. Erstens besteht dank Nina Grins Memoiren kein Zweifel daran, dass Grin seine Autobiographie nur aus finanziellem (in wesentlichem Maße durch die literaturpolitische Situation verursachtem) Zwang heraus und mit großem Widerwillen verfasst.895 Zweitens verweigert sich Grin selbst im Genre der Autobiographie der rein realistischen, wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe von Fakten, indem er, wie einführend in Kapitel 2.1.1 dargelegt, eine teilweise fiktionalisierte »Legenda o sebe« (dt.: »Legende über mich selbst«) schreibt. Der einflussreiche Grin-Forscher Kovskij lehnt nicht nur explizit die oben genannte Idee ab, dass Grins Schreiben eigentlich realistisch sei, nur eben in maskierter Form,896 sondern widerspricht auch der These eines Übergangs zum Realismus mit dem Argument, dass Grin gerade in den letzten Jahren mit »Beguščaja po volnam« und »Doroga nikuda« seine wichtigsten romantischen Werke geschaffen habe und auch die Entwürfe zu seinem nächsten Roman, »Nedotroga«, auf eine Weiterführung dieser Art zu schreiben hinweisen.897 Diese Einschätzung unterstreicht Kovskij in seiner zweiten GrinMonographie noch einmal nachdrücklich: »Находить в произведениях писателя реализм, а тем более  – реализм социалистический, можно лишь искусственно вычленяя и изолируя в его системе отдельные, не главные ее признаки.«898 Tatsächlich kann von einem Wechsel zum Realismus nicht die Rede sein – und zwar nicht nur aus den von Kovskij genannten Gründen, sondern auch und vor allem deshalb, weil Grin während seiner gesamten Schaffenszeit sowohl realistische als auch ›romantische‹ (im oben herausgearbeiteten Sinne, d. h. nicht-realistische Elemente beinhaltende) Werke schreibt, sodass ein Übergang in der behaupteten Form gar nicht stattfinden kann. Grin als Kinder- und Jugendbuchautor Die letzte Strategie der ›politischen Depotenzierung‹ von Grins Schreiben wird gleichsam von zwei Seiten realisiert. Erstens werden Grins Werke durch seine Einordnung als Kinder- und Jugendbuchautor als grundsätzlich ideologisch harmlos, da ohne politisch relevante oder gar brisante Aussagen, ein-

895 Vgl. u. a. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 117. 896 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 10. 897 Vgl. Ebd., 29. 898 Kovskij: Romantičeskij mir, 266. Dt.: »In den Werken des Schriftstellers einen Realismus finden, und umso mehr einen Sozialistischen Realismus, kann man nur, indem man in seinem System einzelne, und nicht seine wichtigsten, Merkmale künstlich ausgliedert und isoliert.«.

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gestuft.899 Indem seine Romane und Erzählungen in Bibliotheken und damit auch in der öffentlichen Wahrnehmung in die marginale Abteilung der Kinderliteratur verbannt werden, wird es möglich, problematische ideologische Fragen zu Grins Stil oder Weltsicht zu umgehen.900 Zweitens erfolgt im Zuge dessen auch eine weitgehende Begrenzung der rezipierten (und publizierten) Werke auf diejenigen, die dieses Kriterium auch tatsächlich erfüllen. Die Einordnung Grins als Kinderbuchautor beruht im Wesentlichen auf der oben angesprochenen Interpretation seiner Werke, allen voran »Alye parusa«, als Märchen.901 Die sich bereits in den Jahren nach Grins Tod entwickelnde Lesart seiner Texte als Märchen902 wird ab 1956 unter anderem von Ščeglov und Slonimskij wieder aufgenommen und führt zu der Prägung des Bilds von Grin als skazočnik (dt.: Märchenerzähler), das eng mit der oben dargestellten Romantisierung des Autors verbunden ist. Diese Bezeichnung findet sich beispielsweise bei Arnol’di, Michajlova und Vichrov.903 Immer wieder zitiert wird auch das Gedicht »Grin« von Vissarion Sajanov, das mit der Zeile »Он жил 899 Vgl. dazu etwa Daniil Charms, von dem zu Lebzeiten nur zwei Gedichte für Erwachsene gedruckt werden, der aber als Schriftsteller für Kinder vergleichsweise ungehindert arbeiten kann und als solcher bekannt wird (vgl. Schriek, Wolfgang: Nachwort. In: Charms, Daniil: Proza, stichi, p’esy. Herausgegeben von Wolfgang Schriek. Stuttgart 2014, 237–260, hier 246 f.), oder Aleksandr Vvedenskij, der Kinderliteratur schreibt und übersetzt, während mit Ausnahme von ebenfalls nur zwei Gedichten der Großteil seiner Werke für Erwachsene erst Jahrzehnte nach seinem Tod gedruckt wird (vgl. Kasack, Wolfgang: Vorwort. In: Vvedenskij, Aleksandr: Izbrannoe. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Kasack. München 1974, 5–6, hier 5; Kasack, Wolfgang: Aleksandr Vvedenskij. In: Vvedenskij, Aleksandr: Izbrannoe. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Kasack. München 1974, 9–16, hier 10). Gerade im Stalinismus gilt jedoch selbst für Kinderliteratur die ›Unschuldsvermutung‹ nur eingeschränkt, wie beispielsweise die von der Witwe Lenins, Krupskaja, angeführte Kampagne gegen als ideologisch schädlich eingestufte Märchen und Kinderbücher von 1927 zeigt (vgl. O’Dell, Felicity Ann: Socialisation through children’s literature. The Soviet example. Cambridge u. a. 1978, 12 f.). Dass das Genre der detskaja literatura (dt.: Kinderliteratur) tatsächlich keineswegs immer politisch harmlos ist, zeigt der Gebrauch Äsopischer Sprache, d. h. chiffrierter (politischer) Kritik, beispielsweise bei Charms (vgl. Drews-Sylla, Gesine: Wie Doctor Dolittle zu Doktor Ajbolit und was aus ihnen wurde. In: Dathe, Claudia / Makarska, Renata / Schahadat, Schamma (Hg.): Zwischentexte. Literarisches Übersetzen in Theorie und Praxis. Berlin 2013, 215–234, hier 225). 900 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, v. 901 Für eine kritische Diskussion der Einordnung von »Alye parusa« als Märchen vgl. Scherrs Aufsatz »Aleksandr Grin’s ›Scarlet Sails‹ and the Fairy Tale«, in dem Übereinstimmungen mit dem, aber auch Diskrepanzen zum Märchengenre herausarbeitet werden. 902 Schon in einer der ersten Kritiken zu Lebzeiten Grins wird eine Verknüpfung mit dem Märchengenre hergestellt: Laut Vojtolovskij fühlt sich Grin angezogen von der Welt der »гигантов и чародеев« (Vojtolovskij: Literaturnye siluėty. FLMMG , n / v 2868, l. 4. Dt.: »Riesen und Zauberer«). 903 Vgl. Arnol’di: Belletrist Grin, 179; Michajlova: Aleksandr Grin, 91; Vichrov: Rycar’ mečty, 87 u. 117.

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среди нас, этот сказочник странный«904 beginnt.905 Obwohl Charčev dieser Sichtweise auf Grin in seinem Aufsatz »On ne byl skazočnikom strannym« (dt.: »Er war kein merkwürdiger Märchenerzähler«) entschieden widerspricht,906 nimmt er in einem früheren Artikel selbst die Deutung von Grins Werken als  – erzieherisch wertvolle  – Märchen auf.907 Diese stammt ursprünglich von Grins Unterstützer Maksim Gor’kij: »Горький […] везде, где было нужно, защищал Грина от упреков в ›нездешности‹, ласково-иронически называя его ›полезным сказочником‹ и ›нужным фантазером‹.«908 Eine der wenigen differenzierten Aussagen zu diesem Thema findet sich bei Tarasenko. Er weist erstens darauf hin, dass die Logik der Märchen, welche lautet: »›Вдруг откуда ни возьмись…‹«,909 auf Grins Werke nicht zutrifft, da sich die Ereignisse bei ihm aus den Gesetzen der Realität ergeben.910 Zweitens begründet er die Zuordnung zum Märchengenre damit, dass wohlgesonnenen Literaturwissenschaftler und -kritiker versuchen, auf diese Weise ein versöhnliches Urteil in der unruhigen Welt der sowjetischen Literatur(politik) zu fällen, was mit der hier aufgestellten These der ›politischen Depotenzierung‹ übereinstimmt. Zudem argumentiert er, dass auch Grins Gegner seine Einordnung als Märchenautor begrüßen, da dies ihrer Meinung nach die Bedeutung seiner Werke schmälert.911 Drittens schließlich führt Tarasenko Grins eigene, ablehnende Haltung zu dieser Klassifizierung an, die durch Aussagen seiner Wegbegleiter belegt ist.912 In den Erinnerungen Nina Grins etwa findet sich eine Anekdote über ein Gespräch zwischen ihrem Mann und Boris Pil’njak, in dem Letzterer fragt: 904 Sajanov, Vissarion: Grin. In: Ders.: Stichotvorenija i poėmy. Vstupitel’naja stat’ja B. Solov’ëva. Sostavlenie, podgotovka teksta i primečanija V. M.  Abramkina i A. N.  Lur’e. Moskva, Leningrad 1966, 216–218, hier 216. Dt.: »Er lebte unter uns, dieser merkwürdige Märchenerzähler«. 905 U. a. in Voronova: Poėzija mečty, 144; Dmitrevskij: V cëm volšebstvo, 397; Tarasenko: Dom Grina, 51; Kovskij: Nastojaščaja, vnutrennjaja žizn’, 245. 906 Vgl. Charčev, V.: On ne byl skazočnikom strannym. In: Sever 8 (1980), 122–128. 907 Vgl. Charčev, V.: Skazki pišut dlja chrabrych. In: Molodoj kommunist 2 (1966), 115–118. Zur Verknüpfung von Grin und Märchen vgl. auch Kasper: Nachwort, 286 f. 908 Roždestvenskij: V Dome iskusstv, 242. Dt.: »Gor’kij […] verteidigte Grin überall, wo es nötig war, gegen Vorwürfe der ›Fremdheit‹ und nannte ihn liebevoll-ironisch einen ›nützlichen Märchenerzähler‹ und ›notwendigen Fantasten‹.«. 909 Tarasenko: Dom Grina, 51. Dt.: »›Plötzlich wie aus dem Nichts…‹«. 910 Diese Einschätzung trifft durchaus auf einen Teil von Grins Werken zu, darunter, wie oben argumentiert, auch auf »Alye parusa«. Auch bei Ščeglov findet sich der Hinweis, dass »Alye parusa« kein Märchen ist, weil das Werk zu realistisch gestaltet ist (vgl. Ščeg­lov: Korabli Aleksandra Grina, 222). Tarasenkos Urteil kann allerdings nicht verallgemeinert werden, da das Übernatürliche, wie in Kapitel 4.3 gezeigt wird, bei Grin durchaus auch vdrug (dt.: plötzlich) und ohne logische Erklärung auftritt. 911 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 51. 912 Vgl. ebd., 52.

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›Что, Александр Степанович, пописываете свои сказочки?‹ Вижу, Александр Степанович побледнел, скула у него чуть дрогнула (признак раздражения), и он ответил: ›Да, пописываю, а дураки находятся – почитывают‹. И больше во весь вечер ни слова с Пильняком.913

Die Klassifikation Grins als Jugendbuchautor, die einen fließenden Übergang zu seiner Bestimmung als Kinderbuchautor aufweist und der Intention des Schriftstellers ebenso wenig entspricht wie diese, beruht vor allem auf der oben herausgearbeiteten Konzeption von Grins ›Romantik‹ mit ihren positiven Helden und zu bestehenden Abenteuern im Kampf für das Gute, die als nützlich für die ideologische Erziehung der sowjetischen Jugend konstruiert wird. Ausgewählten Werken Grins wird also die Erfüllung des literaturpolitischen Kriteriums der pedagogičnost’, d. h. der didaktischen Funktion mit dem Ziel einer Erziehung der jungen Leser zu sowjetischen Idealen wie Kollektivismus oder Liebe zur Arbeit, zugesprochen. Bereits zu Lebzeiten Grins wird dieses Potential von seinem Unterstützer Gor’kij erkannt, der in einem Vorwort zum Abschnitt ›Kinderliteratur‹ im Katalog des »Izdatel’stvo Z. I. Gržebina« (dt.: »Verlag Z. I. Gržebin«) die Forderung nach der Schaffung einer Heldenliteratur für Kinder formuliert: Человек должен быть показан ребенку прежде всего как герой, как смелый путешественник по неизведанным странам, как рыцарь духа, борец за правду, революционер и мученик идеи, как фантазер, влюбленный в свою мечту и оплодотворящий ее силою своей фантазии, оживляющий силою воли своей. Только человек, насыщенный верой в себя, осуществляет свою волю, прямо внедряя ее в жизнь. Дети должны быть с малых лет вооружены именно верою в человека и в великий смысл его творчества, – это сделает их крепкими духом, стойкими борцами.914 913 Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 389. Dt.: »›Na, Aleksandr Stepanovič, schreiben Sie ab und zu Ihre kleinen Märchen?‹ Ich sehe, dass Aleksandr Stepanovič erblasst ist, sein Wangenknochen zitterte ein wenig (ein Zeichen für Gereiztheit), und er antwortete: ›Ja, schreibe ich ab und zu, und es finden sich Dummköpfe – die lesen sie ab und zu.‹ Und den ganzen weiteren Abend lang nicht ein Wort mehr zu Pil’njak.«. 914 Gor’kij, Maksim: Katalog izdatel’stva Z. I. Gržebina [Predislovie]. In: Ders.: M. Gor’kij o detskoj literature. Stat’i, vyskazyvanija, pis’ma. Sostavlenie, vstupitel’naja stat’ja, kommentarii N. B.  Medvedevoj. Tret’e izdanie. Moskva 1968, 77–81, hier 77 f. Dt.: »Der Mensch muss dem Kind vor allem als Held gezeigt werden, als mutiger Reisender durch unerforschte Länder, als Ritter des Geistes, Kämpfer für die Wahrheit, Revolutionär und Märtyrer für die Idee, als Fantast, der in seinen Traum verliebt ist und ihn mit der Kraft seiner Fantasie befruchtet, durch die Kraft seines Willens belebt. Nur der Mensch, der vom Glauben an sich selbst erfüllt ist, verwirklicht seinen Willen, indem er ihn direkt -ins Leben einführt. Kinder müssen von klein auf gerade mit dem Glauben an den Menschen und an den großen Sinn seines Schaffens ausgestattet werden, – das macht sie zu im Geiste festen, standhaften Kämpfern.«.

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Gor’kij betrachtet Grin als Schriftsteller, der fähig ist, solche Werke zu schaffen, und schlägt ihm daher vor, zwei Romane für die Jugend für den Verlag Izdatel’stvo Z. I.  Gržebina zu schreiben: einen über die Reisen von David Livingstone und Henry Morton Stanley durch Afrika, einen über die Nordpolexpedition von Fridtjof Nansen.915 Gor’kijs Bewertung »оказал[a]сь той соломинкой, за которую хватались советские критики многие годы спустя«916 in ihren Versuchen, Grin einen Platz in der sowjetischen Literatur zuzuteilen. Beispielsweise Izergina zufolge handelt es sich bei Grins Romanen und Povesti der 1920er Jahre vor allem um Werke für die Jugend,917 und Šklovskij nennt Grin »художником молодежи«.918 Wie einflussreich Gor’kijs Unterstützung für Grin ist, zeigt sich darin, dass sogar der RAPP-Schriftsteller Fadeev, der Grins Werken aus kulturpolitischen Gründen grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen müsste, diese Sichtweise übernimmt. Er wendet sich ein Jahr nach Grins Tod zusammen mit Jurij Libedinskij mit einem Brief an den Verlag »Sovetskaja literatura« (dt.: »Sowjetische Literatur«), um für eine Publikation eines GrinSammelbands zu werben. Darin heißt es: »Несомненно, что А. С. Грин является одним из оригинальнейших писателей… Многие книги его, отличающиеся совершенством формы и столь редким у нас авантюрным сюжетом, любимы молодежью… Они принесут немалую пользу.«919

Deutliche Belege für die Klassifikation Grins als Kinder- und Jugendbuchautor v. a. nach dem Ende des Stalinismus sind die Tatsache, dass viele seiner Werke in Serien mit Namen wie »Biblioteka škol’nika« (dt.: »Schülerbibliothek«), »Biblioteka junošestva« (dt.: »Jugendbibliothek«), »Biblioteka priključenij« (dt.: »Abenteuerbibliothek«) oder »Biblioteka priključenij i fantastiki« (dt.: »Abenteuer- und Fantastikbibliothek«) erscheinen, sowie der Eintrag zu Grin in

915 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 14; Izergina: A. S. Grin, 91. Der Roman über Stanley und Livingstone erscheint 1925 unter dem Titel »Sokrovišče Afrikanskich gor« (dt.: »Der Schatz der Afrikanischen Berge«; 1927 in gekürzter Form als Povest’ »Vokrug central’nych ozër« (dt.: »Um die zentralen Seen herum«) publiziert), der Roman über Nansen bleibt ein unvollendetes Manuskript (vgl. Grin: Tainstvennyj krug. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 26) unter dem Titel »Tainstvennyj krug« (vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 14). 916 Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 65. Dt.: »erwies sich als jener Strohhalm, an den sich die sowjetischen Kritiker viele Jahre später klammerten«. 917 Vgl. Izergina: A. S. Grin, 93. 918 Šklovskij: Tri vstreči s Grinom, 215. Dt.: »Künstler der Jugend«. 919 Zit. nach Varlamov: Aleksandr Grin, 414. Dt.: »Es ist unbestreitbar, dass A. S. Grin einer der originellsten Schriftsteller ist… Viele seiner Bücher, die sich durch die Vollendung der Form und ein bei uns so seltenes Abenteuersujet hervortun, werden von der Jugend geliebt… Sie werden einen nicht geringen Nutzen bringen.«.

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der Enzyklopädie »Sovetskie detskie pisateli« (dt.: »Sowjetische Kinderbuch­ autoren«) von 1961.920 Dass diese Einordnung auch nach dem Ende der Sowjetunion Bestand hat, zeigt die Enzyklopädie »Russkie detskie pisateli XX veka« (dt.: »Russische Kinderbuchautoren des 20. Jahrhunderts«) von 2001, die ebenfalls einen Eintrag zu Grin aufweist.921 Die Povest’ »Alye parusa« vereint alle hier herausgearbeiteten Bestandteile der Grin-Rezeption ab 1956 in sich: Das Motiv der roten Segel dient als Beweis für Grins Unterstützung der Oktoberrevolution, der mit eigenen Händen – »своими руками«922 – realisierte Traum entspricht der sozialistischen Ideologie. Auch alle drei Bedeutungsvarianten der Grin’schen ›Romantik‹ finden sich in ihr: ein fiktiver Schauplatz am Meer, ein ›edler Ritter‹, der den Wunsch des Mädchens Assol’ nach dem Schiff mit roten Segeln erfüllt und es mit diesem aus einem feindlich gesinnten Umfeld befreit, und ein  – zwar nicht wirklich, aber in der allgemeinen Wahrnehmung – märchenhaftes, fantastisches Sujet, das zudem die Einordnung der Povest’ als Kinderliteratur ermöglicht. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass »Alye parusa« zum Inbegriff von Grins Werk geworden ist. Die Logik dessen ist vermutlich eine wechselseitige: Weil »Alye parusa« als »самое яркое, вдохновенное произведение Грина […] о победе добра и света над тьмой и злом«923 so gut in das ab 1956 konstruierte Grin-Bild passt, wird die Povest’ am intensivsten rezipiert;924 und weil sie so intensiv rezipiert wird, beeinflusst sie ihrerseits das Grin-Bild entscheidend mit. Daher kann es kaum verwundern, dass auch die große Popularität Grins in der Sowjetunion, die im Folgenden Betrachtung finden soll, ganz wesentlich mit »Alye parusa« verknüpft ist.

920 Vgl. Bank, N. (Hg.): Sovetskie detskie pisateli: Bibliografičeskij slovar’ (1917–1957). Moskva 1961, 108 f. 921 Vgl. Arzamanceva, I./Čërnaja, G. A. (Hg.): Russkie detskie pisateli XX veka. Biblio­ grafičeskij slovar’. Moskva 2001, 141–143. Vgl. hierzu Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 66 f. 922 AL , 67. Dt.: »mit eigenen Händen« (ALd, 101). 923 Novosëlova: A. S. Grin. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 61. Dt.: »leuchtendstes, inspiriertestes Werk Grins […] über den Sieg des Guten und des Lichts über die Dunkelheit und das Böse«. 924 Dass die Popularität von »Alye parusa« sehr stark mit dem nach Beginn der ›Grin-Renaissance‹ konstruierten Bild zusammenhängt, zeigt auch die Tatsache, dass die Rezeption des Werks keineswegs von Anfang an so enthusiastisch ist. Die unmittelbar nach dem Erscheinen der Povest’ veröffentlichten Rezensionen sind vielmehr sehr ambivalent (vgl. Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 374).

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2.2.5.2 Die Folge der Rezeption ab 1956: Einschluss in die offizielle sowjetische und die russische Kultur durch partiellen Ausschluss

Die im vorangegangenen Abschnitt herausgearbeiteten Strategien der ›Sowjetisierung‹ und der ›politischen Depotenzierung‹ von Grins Werk mit ihren ideologisch vereinnahmenden Interpretationen von Grins fremdem Schreiben ermöglichen eine offizielle Aufnahme des Schriftstellers, der wenige Jahre zuvor wegen seiner ›unrussischen‹ Schauplätze noch als ›Kosmopolit‹ und ›bourgeoiser Reaktionär‹ angegriffen wurde, in den Kanon der sowjetischen Literatur.925 Zwar ist dadurch die Fremdheit bzw. Ungewöhnlichkeit seines Schreibens nicht aufgehoben  – Kovskij spricht von einer »крайняя специфичность места Грина в русской и советской литературе«926 –, aber gewissermaßen ›unschädlich‹ gemacht. Nachdem durch eine entsprechende ideologische (Um-)Deutung von Leben und Werk, einhergehend mit einer starken Begrenzung der überhaupt rezipierten Grin-Texte, nicht nur die politische Unbedenklichkeit, sondern sogar die Nützlichkeit von Grins Werken gerade für die Jugend ›bewiesen‹ ist, kommt es ab Mitte der 1960er bis in die 1980er Jahre hinein zu einer von offizieller Seite nicht nur geduldeten, sondern sogar geförderten Grin-Verehrung in der Sowjetunion. Die große Popularität Grins in der Sowjetunion Grin avanciert innerhalb weniger Jahre von einem fast vergessenen zu einem der beliebtesten Autoren der Sowjetunion,927 seine Werke werden mit hoher Frequenz neu herausgegeben und in Dutzende Sprachen der Sowjetunion und darüber hinaus übersetzt.928 Die Auflagen seiner Bücher »достигли астрономических цифр«,929 doch nach der Aufnahme von einigen von Grins Werken als Lektüretexte in den Lehrplan ist selbst das bisweilen nicht ausreichend.930 Die ersten Gesammelten Werke (»Sobranie sočinenij v šesti tomach«, verlegt bei Pravda 1965)931 erscheinen in einer Auflage von ca. einer halben 925 Vgl. hierzu beispielsweise die Einordnung Grins als »русский советский писатель« (Rusakova: Grin, 334. Dt.: »russischer sowjetischer Schriftsteller«) in der »Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija« oder seine Bezeichnung als »major Soviet romantic prose writer« (Rossels: Between Fantasy and Reality, 9). 926 Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 4. FLMMG , K 247, l. 4. Dt.: »äußersten Spezifität von Grins Platz in der russischen und sowjetischen Literatur«. 927 Vgl. Luker: Alexander Grin’s Grinlandia, 191. 928 Vgl. Polevoj: Korotkaja vstreča. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 12. 929 Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 4. FLMMG , K 247, l. 4. Dt.: »erreichten astronomische Zahlen«. 930 Vgl. Kirkin: A. S. Grin v pečati, 8.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 8. 931 Der verantwortliche Redakteur ist der Literaturwissenschaftler Vladimir Rossel’s, die Illustrationen stammen von Savva G. Brodskij, den Grin selbst noch als Wunschkandidaten für diese Aufgabe benannt hatte (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Ėpilog. RGALI,

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Million und sind trotzdem in kürzester Zeit ausverkauft,932 die des Jahres 1980 in einer Auflage von 600 000.933 Als 1972 der von Vladimir Sandler herausgegebene Sammelband »Vospominanija ob Aleksandre Grine« veröffentlicht wird, kommt es in Buchhandlungen in Moskau und Leningrad zu Handgemengen aufgrund der hohen Nachfrage.934 Ausgaben von Grins Werken werden neben Twain, Shakespeare und Dostoevskij im Verzeichnis der raren (russ.: deficitnye)  Bücher in den bukinistiki (dt.: antiquarischen Buchhandlungen) geführt.935 Bereits 1961 wird eine Verfilmung von »Alye parusa«936 fertiggestellt, 1967 erscheint der Film »Beguščaja po volnam«,937 1984 und 1986 folgen die Filmversionen von »Blistajuščij mir« respektive »Zolotaja cep’« unter dem Originaltitel sowie 1988 der Film »Gospodin oformitel’« (dt.: »Herr Designer«) nach Motiven von »Seryj avtomobil’«.938 Grins Heimatstadt Vjatka (Kirov) benennt – ungeachtet Grins ablehnender Haltung ihr gegenüber – eine Straße nach ihm: Naberežnaja Grina (dt.: f. 127, op. 5, ed. chr. 7, l. 48). Von Brodskij stammt auch die Karte von Grinlandija, die sich im Eingangsbereich des Grin-Museums in Feodosija befindet (vgl. Kobeleva, E. A.: Grin i ego geroi v tvorčestve chudožnikov-illjustratorov. In: Zagvozdkina, T. E. (Hg.): A. S. Grin: Vzgljad iz XXI veka. K 125-letiju Aleksandra Grina. Sbornik statej po materialam Meždunarodnoj naučnoj konferencii ›Aktual’nye problemy sovremennoj filologii‹. Kirov 2005, 250–255, hier 251. 932 Vgl. Luker: Alexander Grin, 8. 933 Vgl. Kasper: Nachwort, 288. 934 Vgl. Luker: Introduction. Selected Short Stories, 13. 935 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 56. 936 Die teilweise durch Elemente des Actionfilms wie Verfolgungsjagden und Prügeleien ergänzte Verfilmung wird von vielen als nicht gelungen beurteilt, darunter von Viktor Šklovskij (vgl. Šklovskij, Viktor: Zarja na parusach. In: Ders.: Za sorok let. Stat’i o kino. Moskva 1965, 315–321, hier 318–321) und von Nina Grin (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Ėpilog. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 7, l. 39). Bezymenskij verfasst sogar ein Gedicht über den von ihm als schlecht beurteilten Film mit den Zeilen: »Картина оскорблялa Грина, / Литературу и кино.« (Bezymenskij, A.: O fil’me ›Alye parusa‹. In: Moskovskij Literator 17 (1962). In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 9. Dt.: »Der Film beleidigte Grin, / Die Literatur und das Kino.«) Der Grund hierfür liegt sicherlich in der starken ideologischen wie auch emotionalen Aufladung des Werks, welche zu einer Wahrnehmung jeglicher Veränderung der originalen literarischen Vorlage als Verrat an Grin und Beleidigung seines Erbes führt. 937 Auch der Film »Beguščaja po volnam« ruft heftige Kritik hervor, unter anderem weil darin die Statue der Titelfigur – anders in der Romanvorlage – zerstört wird, weshalb der Film eine pessimistische Aussage habe, die Grins Intention widerspreche und seine Romantik nicht bewahre (vgl. Alekseenko, D.: Beguščaja po volnam. In: Leningradskaja pravda (5 avgusta 1967). In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 27–28, hier 27; Klokova: Kino. ›Beguščaja po volnam‹. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 31). 938 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 132. Für eine ausführliche Darstellung zu den Verfilmungen von Werken Grins vgl. ebd., 123–266.

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Grin-Uferstraße).939 Zudem findet sich eine ganze Reihe von ulicy Grina (bzw. z. T. ukr.: vulyci Hrina; dt.: Grin-Straßen) in Russland und der Ukraine: in seinem Geburtsort Slobodskoj, in seinem Verbannungsort Archangel’sk, in Muraši, einem der Orte auf seinen Reisen in der Jugend, in Koktebel’, einem seiner liebsten Ausflugsorte auf der Krim, außerdem im Rajon Severnoe Butovo in Moskau, in Korolëv, Naberežnye Čelny, Gelendžik und Kryvyj Rih; in Sankt Petersburg gibt es außerdem einen Bul’var Aleksandra Grina (dt.: Aleksandr-Grin-Boulevard). Auch Cafés tragen nun Grins Namen, in den Läden findet sich sogar ein Waschpulver namens ›Assol’‹,940 benannt nach der Protagonistin aus »Alye parusa« – möglicherweise in Anspielung auf ihre (charakterliche) Reinheit. Im Zuge der romantisierenden Verknüpfung Grins mit maritimen Themen werden mehrere Schiffe auf Grins Namen getauft, darunter ein großer Frachter.941 Gerade im Umfeld der sowjetischen Jugend erfreuen sich Grin und sein Werk, vor allem seine Povest’ »Alye parusa«, deren Titel »стало как бы символом юношеской мечты«,942 höchster Beliebtheit: Zahlreiche Jugendklubs, literarische Klubs und Sportmannschaften in unterschiedlichen Städten der Sowjetunion tragen den Namen »Alyj parus« (dt.: Das purpurrote Segel«), »Alye parusa« oder »Brigantina« (dt.: »Brigantine«).943 Die monatliche Themenseite der »Komsomol’skaja pravda« (dt.: »Komsomol-Wahrheit«) zur Romantik erscheint unter der Überschrift »Alyj parus«.944 Gleich mehrere Lieder über »Alye parusa« gehen in den Liederkanon des Pionierlagers »Artek« ein und werden dort bis in die 1980er Jahre hinein gesungen.945 1965, dem Jahr,

939 Vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Ėpilog. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 7, l. 38. 940 Vgl. Lepichin: Tainstvennyj Aleksandr Grin. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 1, l. 12. 941 Vgl. Bystrov, V.: Pamjatnik Kapitanu. In: Černomorskaja zdravnica (8 ijulja 1972), 3. In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 64. 942 Polevoj: Korotkaja vstreča. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 13. Dt.: »gleichsam zum Symbol des jugendlichen Traums wurde«. 943 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 43; Rossel’s: A.  Grin. Iz neizdannogo i zabytogo, 630; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Ėpilog. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 7, l. 49. ›Brigantina‹ ist der Schiffstyp des Schiffs »Begušcaja po volnam« aus dem gleichnamigen Roman (vgl. BV, 48). 944 Vgl. Rossel’s: A. Grin. Iz neizdannogo i zabytogo, 630. 945 Vgl. Černyšov, Aleksandr V./Zemljanskij, Nikolaj V./Kočegarov, Evgenij S. (Hg.): Kogda poët Artek. Pesni Arteka. Pesni v Arteke. Pesni ob Arteke. Moskva 2005, 543 u. 545. Es handelt sich dabei um das Lied »U sinego morja« (dt.: »Am blauen Meer«), das die Geschichte von »Alye parusa« nacherzählt und das Werk im Refrain auch direkt benennt (»Алые паруса, Алые паруса, Алые паруса, паруса!«; zit. nach ebd., 514. Dt.: »Purpurrote Segel, Purpurrote Segel, Purpurrote Segel, Segel!«); das von V.  Lancberg geschriebene Lied »Alye parusa«, das mit der Zeile beginnt: »Ребята, надо верить в чудеса!« (zit. nach ebd., 544. Dt.: »Kinder, man muss an Wunder glauben!«); sowie ein

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in dem sich Grins Geburtstag zum 85. Mal jährt, erreicht der Grin-Kult mit gleich mehreren großen Veranstaltungen zu Ehren des Schriftstellers einen Höhepunkt. Bereits im Juli errichtet der literarische Klub »Alye parusa«946 aus Leningrad, deren Mitglieder sich selbst als »Ребята из Зурбагана«947 bezeichnen, in Koktebel’ die Zeltstadt ›Zurbagan‹.948 Diese wird mit einem großen Festakt eröffnet, bei dem neben Komsomolzenorganisationen auch Parteivertreter, Mitglieder der Schwarzmeerflotte und viele Journalisten anwesend sind.949 Zu Grins Geburtstag am 23. August findet eine große Feier mit über zweitausend Besuchern in Staryj Krym statt,950 zu der unter anderem artekovcy (Pioniere aus dem Pionierlager Artek in Gurzuf), weitere Pioniere und Studenten, aber auch Schriftsteller aus Moskau, Leningrad, Kyiv und anderen Städten, darunter der Leninpreisträger Sergej Smirnov, anreisen.951 In Leningrad etabliert sich Ende der 1960er Jahre der bis heute begangene Feiertag »Alye parusa« zu Ehren der Schulabsolventen. Dieser findet jährlich während der Weißen Nächte am Ufer der Neva statt, seinen Höhepunkt bildet die Vorbeifahrt eines mit roten Segeln ausgestatteten Segelschiffs.952 von O. Askel’rod (Text) und A. Jankovskij (Musik) stammendes Lied, das ebenfalls den Titel »Alye parusa« trägt und mit der Strophe endet: »И теперь, как прежде по морским волнам / Я иду навстречу алым парусам. / На лицо попала мне морская соль. / Это мой кораблик, это я, Ассоль.« (zit. nach ebd., 546. Dt.: »Und nun, wie früher über die Meereswellen, / Gehe ich den purpurroten Segeln entgegen. / Ins Gesicht geriet mir Meeressalz. / Das ist mein Schiffchen, das bin ich, Assol’.«) Weitere Lieder, die nicht aus dem Umfeld von Artek stammen, sind »Brigantina« (dt.: »Brigantine«) von Pavel Kogan (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Ėpilog. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 7, l. 52), sowie – sämtlich auf die Povest’ »Alye parusa« bezogen – »Ne šumi, okean, ne pugaj« (dt.: »Rausche nicht, Ozean, erschrecke nicht«), von Michail Ančarov, »Alye parusa« von Aleksandr Rubejkin und die 33 Lieder des Theaterstücks »Predskazanie Ėglja« (»Egls Prophezeiung«) von Novella Matveeva (vgl. Primočkin, Boris: Grin i avtorskaja pesnja. In: Nenada, Alla (Hg.): Aleksandr Grin: Tvorčeskaja biografija. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2014, 246–251, hier 247 f. u. 250). 946 Der Schwur des Klubs »Alye parusa« lautet: »Я вступаю в клуб ›Алые паруса‹ для того, чтобы быть с теми, кто любит людей и книги, дороги и море. Я клянусь всегда идти в ногу со временем, не страшась ветра в лицо!« (Machonina, I.: Jubilej volšebnika. In: Krymskaja pravda (25 avgusta 1965). In: Stat’i i zametki o žizni i tvorčestve A. S. Grina. Vyrezki iz gazet i žurnalov, mašinopis’. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 10. Dt.: »Ich trete in den Klub ›Alye parusa‹ ein, um mit denen zusammen zu sein, die die Menschen und die Bücher, die Wege und das Meer lieben. Ich schwöre, immer mit der Zeit Schritt zu halten, ohne den Wind im Gesicht zu fürchten!«) und fasst damit wesentliche Merkmale des mittlerweile etablierten Grin-Bilds zusammen. 947 Man’kovskij: Dvadcat’ let. Ėpilog. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 7, l. 50. Dt.: »Kinder aus Zurbagan«. 948 Vgl. ebd., l. 51. 949 Vgl. ebd., l. 55 f. 950 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 54. 951 Vgl. Machonina: Jubilej volšebnika. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 10. 952 Vgl. Scherr: Aleksandr Grin’s Scarlet Sails, 387.

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Zu diesem Zeitpunkt kommen jedes Jahr bereits Tausende von Besuchern nach Staryj Krym, um den letzten Wohnort und das Grab des Autors zu besichtigen. Ab Mitte der 1960er Jahre wird es zur Tradition, jährlich an Grins Geburtstag ein großes, rotes Segel über dem Friedhof des kleinen Orts zu hissen.953 Das Grab selbst wird oft mit roten Pionierhalstüchern geschmückt;954 noch heute finden sich dort rote Bänder. 1960 gelingt Nina Grin, die ihr Leben ganz in den Dienst der Bewahrung von Grins Erbe stellt,955 gegen den Widerstand lokaler Behörden – möglicherweise Nachwirkungen der vernichtenden Kritiken der 1940er und Anfang der 1950er Jahre – die Einrichtung eines Museums im ehemaligen Wohnhaus des 953 Vgl. Bystrov: Pamjatnik Kapitanu, 3. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 64; Man’kovskij: Dvadcat’ let. Ėpilog. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 7, l. 58. 954 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 57. 955 Bereits zu Lebzeiten Grins besteht Ninas Lebensaufgabe in der Unterstützung ihres Ehemanns. Sie bewahrt Manuskripte, Briefe und andere Materialien für die Nachwelt auf, gründet nach Grins Tod die Sammlung zu Grin im RGALI (bis 1954 CGLA (Central’nyj gosudarstvennyj literaturnyj archiv; dt.: Zentrales staatliches Literaturarchiv), bis 1992 CGALI (Central’nyj gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva; dt.: Zentrales staatliches Archiv für Literatur und Kunst)) (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Ėpilog. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 7, l. 39), setzt sich für die Neuauflage seiner Werke ein, agiert nach erfolgreicher Gründung des ersten Grin-Museums in Staryj Krym als dessen Kuratorin (vgl. Luker: Alexander Grin. A Survey, 345) und empfängt die Museumsbesucher meist persönlich, um ihnen vom Leben und Schaffen ihres verstorbenen Ehemanns zu erzählen (vgl. Polevoj: Korotkaja vstreča. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 12). Die völlige Identifikation mit der Rolle der Schriftstellergattin zeigt auch die Tatsache, dass sie in den Vorschlag ihres Mannes einwilligt, ihren Pass auf den Namen ›Nina Grin‹ (statt ›Grinevskaja‹) ausstellen zu lassen (vgl. Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 396). Ein Teil von Aleksandr Grins Ruhm geht nach seinem Tod, gleichsam stellvertretend, auf Nina über und führt zu einer ähnlichen Verklärung ihrer Person, wie dies bei Grin selbst der Fall ist. Nina Nikolaevna werden sogar eigene Aufsätze gewidmet, z. B. »Geroine Aleksandra Grina« (dt.: »Der Heldin Aleksandr Grins«; vgl. Sukiasova: Geroine Aleksandra Grina. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 11) oder »Podruga volšebnika« (dt.: »Die Freundin des Zauberers«; vgl. Akvilev: Podruga volšebnika. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 1, l. 14–16). Auch eine Identifikation von Grins berühmtester Figur Assol’ aus »Alye parusa« mit Nina Grin erfolgt (vgl. Perminova: Grin i Assol’, 13). Im Vorwort zu Nina Grins Memoiren über ihren Ehemann, »Vospominanija ob Aleksandre Grine«, wird nicht nur – zu Recht – Ninas Einsatz für die Bewahrung des Andenkens an Grin hervorgehoben, sondern ihr Eintreten in Grins Leben auch als »поистине Божий дар« (Varlamova, Ljudmila: Posmertnyj dar chudožniku. In: Grin, Nina N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki. Dnevnikovye zapisi. Pis’ma. Sostavlenie, podgotovka teksta, kommentarii Natal’i Jalovoj, Ljudmily Varlamovoj, Svetlany Kolotupovoj. Feodosija, Moskva 2005, 5–8, hier 5. Dt.: »wahrhaft göttliches Geschenk«) bezeichnet; und im Anhang dieses Buchs findet sich kurioserweise kein biographischer Überblick zu Aleksandr Grin, sondern zu Nina Nikolaevna Grin (vgl. Jalovaja, Natal’ja: Biografičeskaja chronika N. N. Grin. In: Grin, Nina N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki. Dnevnikovye zapisi. Pis’ma. Sostavlenie, podgotovka teksta, kommentarii Natal’i Jalovoj, Ljudmily Varlamovoj, Svetlany Kolotupovoj. Feodosija, Moskva 2005, 358–382).

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Autors in Staryj Krym.956 Bereits in den ersten Monaten nach der Eröffnung kommen etwa 2000 Besucher.957 1970, wenige Monate vor Nina Grins Tod, folgt die Gründung des deutlich größeren Grin-Museums in der ulica Gale­ rejnaja in Feodosija, das Häuschen in der ulica Libknechta in Staryj Krym wird zu dessen Filiale gemacht.958 Beide Museen dienen als eine Art ›Pilgerort‹ für Zehntausende – erwachsene, vor allem aber junge – Leser.959 Mit etwa 180 000 – 200 000 Besuchern pro Jahr erfreut sich das Museum in Feodosija zu Sowjetzeiten enormer Beliebtheit und übertrifft sogar die Besucherzahlen der Moskauer Literaturmuseen.960 Die Gestaltung des Museums in Feodosija entspricht ganz der oben herausgearbeiteten Konstruktion Grins als ›Romantiker‹. Der Museumsführer von Tarasenko benennt dies sogar ganz explizit: Ясно, что ›романтическое‹ оформление музея […] призвано показать именно гриновских героев, и не только с ›видовой‹ стороны, но, что гораздо важнее, поведать об их внутренней, духовной жизни, с их мечтами, благородными поступками и порывами, с характерами, с враждой и любовью.961

Die gesamte Gestaltung des Museums orientiert sich, wenig überraschend, an einer Meeres- bzw. Schifffahrtsmotivik, die, vor allem durch die enorme Popularität von »Alye parusa«, zum Inbegriff von Grins ›Romantik‹ geworden ist. Bereits beim Betreten des Gebäudes sieht sich der Besucher einem großen, sich über drei Wände und die Decke erstreckenden Wandrelief mit einer Karte von Grinlandija gegenüber. Die Räume des Museums tragen Namen wie »Kajuta kapitana Geza« (dt.: »Kajüte von Kapitän Gez«; nach dem Kapitän aus 956 Vgl. Polevoj: Korotkaja vstreča. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 13; Jalovaja: Bio­ grafičeskaja chronika, 377; Bystrov: Žil na svete, 3.  RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 4, l. 1. Nina Grin wendet sich bereits 1941 an den Narkompros RSFSR mit der Bitte um finanzielle Unterstützung für die Eröffnung eines Grin-Museums in Staryj Krym. Diese wird ihr zugesagt, jedoch verhindert der Krieg eine Realisierung der Pläne (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Ėpilog. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 7, l. 33 f.). 957 Vgl. Jalovaja: Biografičeskaja chronika, 377. 958 Vgl. ebd., 382. Zur Entstehungsgeschichte des Museums in der ulica Galerejnaja in Feodosija vgl. Varlamova: Dom-muzej A. S. Grina, 3–7. 959 Vgl. Rossels: Between Fantasy and Reality, 7. Bereits zu Lebzeiten Grins kommen erste jugendliche Leser nach Feodosija bzw. später nach Staryj Krym, um den Schriftsteller zu besuchen (vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 100). Auch nach Grins Tod bleibt Staryj Krym in den 1930er Jahren eine Art Pilgerort gerade für junge Leser (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Ėpilog. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 7, l. 32). 960 Vgl. Kovskij: Nastojaščaja, vnutrennjaja žizn’, 243. 961 Tarasenko: Dom Grina, 9. Dt.: »Es ist klar, dass die ›romantische‹ Gestaltung des Museums […] dazu bestimmt ist, gerade die Grin’schen Helden zu zeigen, und zwar nicht nur von ihrer ›Ansichts‹-Seite, sondern, was bei Weitem wichtiger ist, von ihrem inneren, geistigen Leben zu erzählen, mit ihren Träumen, edlen Taten und Regungen, mit ihren Charakteren, mit Feindschaft und Liebe.«.

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»Beguščaja po volnam«), »Kajut-kompanija klipera« (dt.: »Offiziersmesse des Klippers«) oder »Korabel’naja biblioteka« (dt.: »Schiffsbibliothek«) und sind mit Schiffsmodellen, Tauen, einem Fernrohr, einem Sextanten und Laternen ausgestattet. Die seitliche Fassade der Häuserreihe, in der sich das Museum befindet, ist mit einem großen Schiffsrelief dekoriert. Das Dom-muzej A. S. Grina in Staryj Krym ist zwar deutlich schlichter gestaltet, auch hier findet sich aber ein Schiffsmodell mit roten Segeln im ehemaligen Arbeitszimmer Grins, und auf der Straße weist ein Schild mit einem ebensolchen Schiff mit roten Segeln den Weg zum Museum. Einschluss durch partiellen Ausschluss: Das selektive Grin-Bild Gerade das Grin-Museum in Feodosija steht mit seiner Gestaltung symbolisch für die weite Verbreitung des ab 1956 konstruierten romantisch-verklärenden und zugleich stark selektiven Grin-Bilds: Es weckt Assoziationen von Aben­teuern, edlen und mutigen – der sowjetischen Jugend als Vorbilder dienenden – Helden und Reisen nach bzw. in Grinlandija, wo das Gute über das Böse siegt. Dabei ignoriert es nicht nur einen Großteil der Werke Grins, die sich nicht in dieses simple Schema einordnen lassen, vollständig, sondern mit ihnen auch ihre ästhetische Qualität ebenso wie die enorme Bandbreite ihrer Themen. Dies ist kein Zufall: Der Einschluss Grins in die offizielle sowjetische Kultur geht, nicht nur im Museum, sondern, wie gezeigt wurde, auch in literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Grin, notwendigerweise mit seinem partiellen Ausschluss einher. Denn zahlreiche Aspekte seines Gesamtwerks – etwa die weder für Kinder und Jugendliche geeigneten noch moralisch erbaulichen Darstellungen kafkaesk-verstörender Ereignisse, die starke Psychologisierung von Figuren, die Aufhebung eindeutiger Axiologien, die Qualität und Quantität von Gewaltszenen oder die enorme Komplexität vieler seiner Erzählungen – widersprechen dem konstruierten Bild von Autor und Werk. Sie müssen daher ausgeblendet werden, um Grins (ohnehin nur durch ideologische (Um-)Deutungen mühsam eroberten) Platz in der sowjetischen Literatur nicht zu gefährden. Dies erklärt, warum nur etwa zwei bis drei Dutzend der Romane und Erzählungen Grins962 – also weniger als zehn Prozent 962 Dies sind im Wesentlichen: »Alye parusa«, die Romane »Beguščaja po volnam«, »Blista­ juščij mir«, »Doroga nikuda« und »Zolotaja cep’«, »Avtobiografičeskaja povest’«, die Erzählungen (nicht zufällig mit maritimen Themen) »Ostrov Reno«, »Kolonija ­Lanfier«, »Korabli v Lisse«, »Kapitan Djuk«, »Šturman ›Četyrëch vetrov‹« und »Komendant porta« sowie bisweilen »Fandango«, »Krysolov«, »Seryj avtomobil’«, »›Ona‹«, »Put’« (dt.: »Der Weg«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Put’. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 365–370. Kürzel: PU), »Dalëkij put’« (dt.: »Der weite Weg«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Dalëkij put’. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 139–154. Kürzel: DP), »Vozvraščënnyj ad«, »Serdce pustyni«, »Sinij kaskad Telluri«, »Iskatel’ priključenij« und

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seines über 400 Texte umfassenden Gesamtwerks – von der sowjetischen GrinForschung in ihre Untersuchungen einbezogen werden, während die übrigen weitgehend oder sogar vollständig ausgeschlossen werden. Darüber hinaus steht das Grin-Museum in Feodosija aber auch symbolisch für die Gültigkeit dieser Perspektive auf Grin und sein Schaffen bis heute – und das, obwohl die politischen Umstände längst vollkommen andere sind: Ebenso wie die Gestaltung des bis heute beliebten Museums seit seiner Eröffnung vor fast 50 Jahren weitestgehend unverändert geblieben ist,963 wird auch in der Forschungsliteratur das selektive und verklärende Bild von Grin als romantischem Schriftsteller  – wie in einem Vorwort von 2005 zu lesen ist, als »романтик, певец моря и морских странствий«964 – und als Autor des Schönen und Guten bis heute reproduziert; wenn auch nicht mehr ausschließlich.965 »Sostjazanie v Lisse«. Vereinzelt werden noch etwa zwanzig weitere, in dieser Aufzählung nicht genannte Werke berücksichtigt. Gerade vor der Publikation des ersten »Sobranie sočinenij« 1965 scheint einigen Grin-Forschern der Umfang von Grins Gesamtwerk gar nicht bewusst zu sein: Selbst einer der wichtigsten grinovedy (dt.: Grin-Forscher), Sandler, spricht 1960 beispielsweise von ›Dutzenden‹ Erzählungen Grins (vgl. Sandler: Čelovek mečty, 219), obwohl es Hunderte sind. Die stark eingeschränkte Rezeption von Grins Gesamtwerk zeigt sich auch bei den Verlagen: An Neuauflagen der längeren Werke erscheinen überwiegend »Alye parusa« und »Beguščaja po volnam«, und auch von den Erzählungen werden fast immer dieselben etwa 40 Erzählungen wieder und wieder gedruckt (vgl. Rossel’s: A. Grin. Iz neizdannogo i zabytogo, 625; vgl. dazu auch Kirkin: A. S. Grin v pečati, 8.  FLMMG , KP 4625 K 748, l. 8). 963 Dass etwa die Auffassung von Grinlandija als idealisierte fiktive Welt noch immer Bestand hat  – ja sogar an Bedeutung gewinnt  –, zeigt sich auch in einem kleinen, aber vielsagenden Detail: Der erste Museumsführer für die beiden Museen in Feodosija und Staryj Krym von Varlamova erscheint 1986 noch unter dem neutralen Titel »Dom-muzej A. S. Grina. Putevoditel’ po muzeju A. S. Grina v Feodosii i filialu muzeja v Starom Krymu« (dt.: »Das A. S. Grin-Museum. Führer durch das A. S. Grin-Museum in Feodosija und die Museumsfiliale in Staryj Krym«); die zweite, nur geringfügig überarbeitete Auflage von 2005 trägt dagegen den Titel »Muzei Grina. Feodosija. Staryj Krym. Putešestvie v stranu Grinlandiju« (dt.: »Die Grin-Museen. Feodosija. Staryj Krym. Eine Reise in das Land Grinlandija«; vgl. Varlamova, Ljudmila: Muzei Grina. Feodosija. Staryj Krym. Putešestvie v stranu Grinlandiju. Simferopol’ 2005). 964 Varlamova: Posmertnyj dar, 6 f. Dt.: »Romantiker, Sänger des Meeres und der Meeres­ reisen«. 965 Verstärkt wird dieser Zusammenhang dadurch, dass ein großer Teil der in den letzten beiden Jahrzehnten erschienenen Publikationen zu Grin gerade aus dem Umfeld des Grin-Museums in Feodosija stammt. Vgl. z. B. das Vorwort zu einer Sammlung von Erzählungen Grins von Nenada, das mit dem Satz beginn: »Имя этого писателя звучит как камертон мелодии нашего сердца.« (Nenada, Alla: ›Pust’ vse živut tak…‹. In: Grin, Aleksandr: Nežnyj roman. Rasskazy o ljubvi. Sostavlenie i predislovie Ally Nenady. Feodosija, Moskva 2012, 5–7, hier 5. Dt.: »Der Name dieses Schriftstellers klingt wie der Kammerton der Melodie unseres Herzens.«), oder das Vorwort zu einer Samm-

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So finden sich in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur zu Grin bisweilen auch kritische Stimmen wie die des Romantik-Experten Frizman, der konstatiert: Упоминания о романтизме Грина пронизывают большинство посвященных ему работ. Притом это именно упоминания: принадлежность Грина к романтизму как литературному направлению или художественному методу никак не обосновывается, о ней говорится как о чем-то установленном и само собой разумеющемся.966

Und auch die Wahrnehmung der von Grin geschaffenen Welten und Helden als ausschließlich positiv bleibt nicht mehr unwidersprochen. Wie die folgende Aussage aus einem zeitgenössischen Artikel zu Grin zeigt, kann jedoch bisweilen auch dann keine Rede von einer Loslösung von dem Schlagwort des ›romantischen Ideals‹ sein; lediglich von der Behauptung einer Allgemeingültigkeit desselben wird Abstand genommen: Творчество этого писателя очень разнообразно. Здесь можно увидеть как мир, полный сказок и чудес, так и жестокую реальность повседневных будней. Романтический идеал, волшебная мечта, благородные авантюры неизменно сопрягаются и перемежаются с тяжелейшими человеческими конфликтами и поражениями.967

Derartige, die etablierte Sichtweise auf den Schriftsteller – mal mehr, mal weniger deutlich – hinterfragende Stimmen sind jedoch noch immer die Ausnahme: Die ›helle‹, positive Romantik – Grin als »создатель ярких романтических

lung von Kriminalgeschichten Grins von Varlamova, in dem, wohl aufgrund des für die Grin-­Rezeption untypischen Themas der Sammlung, explizit an die hohen moralischen Prinzipien erinnert wird, die Grin sein ganzes Leben lang auch in seinen Werken vertreten habe (vgl. Varlamova, Ljudmila: Grin: neožidannyj rakurs. In: Grin, Aleksandr: Iz pamjatnoj knižki syšika. Detektivnye istorii. Sostavlenie Ljudmily Varlamovoj i Svetlany Titovoj. Feodosija, Moskva 2009, 5–6, hier 6). 966 Frizman: A. Grin i romantizm, 107. Dt.: »Erwähnungen der Romantik Grins durchdringen die Mehrheit der ihm gewidmeten Arbeiten. Dabei sind es eben Erwähnungen: Die Zugehörigkeit Grins zur Romantik als literarischer Strömung oder künstlerischer Methode wird auf keine Weise begründet, man spricht über sie wie über etwas, was etabliert ist und sich von selbst versteht.«. 967 Starinovič, Aleksandra: ›Ja tak dolgo byl bolen tjur’moj…‹ (po motivam proizvedenij A. Grina ›Avtobiografičeskaja povest’‹, ›Doroga nikuda‹ i romanu Ė. Vojnič ›Ovod‹). In: Nenada, Alla (Hg.): Aleksandr Grin: žizn’, ličnost’, tvorčestvo. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2010, 132–141, hier 132. Dt.: »Das Werk dieses Schriftstellers ist sehr abwechslungsreich. Hier kann man sowohl eine Welt voller Märchen und Wunder als auch die grausame Realität des Alltags sehen. Das romantische Ideal, der zauberhafte Traum, die edlen Abenteuer verbinden sich und alternieren unabänderlich mit den schwersten menschlichen Konflikten und Niederlagen.«.

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образов«968 – bildet bis heute den Fokus der Grin-Forschung. Es ist insofern höchst charakteristisch, dass gleich im Vorwort eines Sammelbandes von 2005, der – so sein Titel – den Anspruch erhebt, einen Blick auf Grin aus dem 21. Jahrhundert zu werfen, durch die Herausgeberin betont wird: »[…] А. Грин создал свой особый романтический мир«.969 Im selben Band finden sich dann auch mehrere Aufsätze, die sich mit Grins Romantik und / oder seinem als deren Inbegriff geltenden Werk »Alye parusa« befassen, so z. B. die Artikel von Poljakova, Petrovskij und der Herausgeberin Zagvozdkina selbst.970 Weitere Aufsätze, etwa von Degtjareva u. a. über Grins Schaffensmethode der romantischen Verwandlung der Welt, ergänzen das dominierende Bild der Grin-Forschung im neuen Jahrtausend.971 Dass es sich bei der bis heute vorherrschenden Perspektive auf Grin um das Ergebnis sowjetischer ideologisch vereinnahmender Lektüren handelt, welche auf den beiden hier herausgearbeiteten  – und längst obsolet gewordenen  – Strategien der ›Sowjetisierung‹ und der ›politischen Depotenzierung‹ basieren, wird so gut wie nie reflektiert.972 Auch stehen in vielen Studien bis heute die immer gleichen Werke Grins im Fokus der Analysen. 968 Šeršneva, G. N.: ›Ljudi real’nogo mira‹ v rasskazach A. Grina 1920-ch – načala 1930-ch godov. In: Zagvozdkina, T. E. (Hg.): A. S. Grin: Vzgljad iz XXI veka. K 125-letiju Aleksandra Grina. Sbornik statej po materialam Meždunarodnoj naučnoj konferencii ›Aktual’nye problemy sovremennoj filologii‹. Kirov 2005, 172–179, hier 173. Dt.: »Schöpfer heller romantischer Bilder«. 969 Zagvozdkina, T. E.: Ot redaktora. In: Dies.: A. S. Grin: Vzgljad iz XXI veka. K 125-letiju Aleksandra Grina. Sbornik statej po materialam Meždunarodnoj naučnoj konferencii ›Aktual’nye problemy sovremennoj filologii‹. Kirov 2005, 3–4, hier 3. Dt.: »[…] A. Grin erschuf seine eigene besondere romantische Welt.«. 970 Vgl. Poljakova, O. A.: Romantičeskie tradicii vosprijatija prirody v feerii A. S. Grina ›Alye parusa‹. In: Zagvozdkina, T. E. (Hg.): A. S. Grin: Vzgljad iz XXI veka. K 125-letiju Aleksandra Grina. Sbornik statej po materialam Meždunarodnoj naučnoj konferencii ›Aktual’nye problemy sovremennoj filologii‹. Kirov 2005, 165–167; Petrovskij, M. S.: Romans i feerija. O proischoždenii sjužeta ›Alych parusov‹ A. S. Grina. In: Zagvozdkina, T. E. (Hg.): A. S. Grin: Vzgljad iz XXI veka. K 125-letiju Aleksandra Grina. Sbornik statej po materialam Meždunarodnoj naučnoj konferencii ›Aktual’nye problemy sovremennoj filologii‹. Kirov 2005, 155–164; Zagvozdkina, T. E.: Romantičeskaja mifologizacija v ras­ skaze A. S. Grina ›Krysolov‹. In: Dies. (Hg.): A. S. Grin: Vzgljad iz XXI veka. K 125-letiju Aleksandra Grina. Sbornik statej po materialam Meždunarodnoj naučnoj konferencii ›Aktual’nye problemy sovremennoj filologii‹. Kirov 2005, 146–155. 971 Vgl. Degtjareva, T. O.: Chudožestvennyj mir A. S. Grina v literaturovedčeskom diskurse. In: Filolohični traktaty 3/2 (2011), 16–21. 972 Vgl. hierzu beispielsweise Aussagen wie die folgende, die unhinterfragt und wohl ohne sich dessen bewusst zu sein die  – oben herausgearbeitete (vgl. Kap. 2.2.5)  – Strategie der poststalinistischen Literaturwissenschaft mit dem Ziel der Eingliederung Grins in die sowjetische Literatur übernimmt, bei der Grins positive Einstellung zur Revolution durch die Behauptung einer Wende hin zu positiven Figuren in seinen Werken nach 1917 bewiesen werden soll: »В послереволюционное десятилетие центральное место

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Wie durch die hier vorgenommene kritische Analyse der Rezeptions­ geschichte deutlich wurde, ist die zu Beginn von Kapitel 2.2 zitierte Aussage von Frioux über Grin – »Sa carrière d’écrivain s’est déroulée presque toute entière dans un climat d’incompréhension […]« –973 somit nicht nur auf die Phasen der Ablehnung zu beziehen, sondern auch und ganz wesentlich auf die Zeit seit der Wiederentdeckung des Schriftstellers ab 1956.974 Noch heute ist Grin, bedingt durch die noch immer vorherrschende stark selektive Perspektive auf sein Werk, weitgehend unverstanden und (auch) in diesem Sinne der russischen Kultur fremd. Die in dieser Studie vorgenommenen Textanalysen des Fremden in der Prosa Grins zeigen durch die Einbeziehung bislang kaum oder gar nicht beachteter Werke und Aspekte diese Fremdheit (Unverstandenheit, Unbekanntheit) des Schriftstellers auf – und wirken ihr im selben Zuge durch die Neuerschließung von Grins Schaffen entgegen. Um ein begriffliches Instrumentarium für eine adäquate Analyse des überaus komplexen Phänomens des Fremden, im eingangs dargestellten breiten Verständnis, zu haben, ist den Textanalysen ein Kapitel mit entsprechenden theoretisch-methodischen Überlegungen vorgeschaltet.

в произведениях Грина займут ›герои идеальные, рыцари без страха и упрека‹« (Šeršneva: Ljudi real’nogo mira, 172; Zitat im Zitat: Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 47. Dt.: »Im Jahrzehnt nach der Revolution nehmen ›ideale Helden, Ritter ohne Furcht und Tadel‹ den zentralen Platz in Grins Werken ein«). 973 Frioux: Alexandre Grin, 81. 974 Interessanterweise findet sich das Muster der ab 1956  – zur Bewältigung der Widersprüchlichkeit und Fremdheit von Grins Schreiben – praktizierten Reduktion des komplexen Gesamtwerks auf wenige ausgewählte Aspekte bereits in den früheren Rezeptionsphasen. In den 1910er Jahren stehen vor allem die Ähnlichkeiten zur (westlichen) Abenteuerliteratur im Fokus, in den 1920ern die Widersprüche zum ›sozialen Auftrag‹ der Literatur durch fremde, fiktive und fantastische Elemente, in den 1940er Jahren die ›kosmopolitischen‹ fremden Schauplätze – und in den 1930er Jahren sowie ab 1956 vor allem die ›Romantik‹, die Übereinstimmung mit der sowjetischen Ideologie und der pädagogische Nutzen für die sowjetische Jugend; hiervon bleibt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die weitgehende Beschränkung auf die ›Romantik‹ Grins übrig. Offenbar ist es in keiner der genannten Phasen möglich, die Komplexität und Vielfältigkeit von Grins Werk im Ganzen zu erfassen.

3.

Das Fremde: theoretisch-methodische Grundlagen

Die theoretisch-methodischen Grundlagen des Fremden werden in zwei großen Unterkapiteln behandelt. Im ersten Schritt erfolgt eine Auseinander­ setzung mit dem Begriff des Fremden. Die Ausführlichkeit dieses Abschnitts ist zum Ersten bedingt durch die Unschärfe und Uneinheitlichkeit der Begriffsverwendung nicht nur im Alltag, sondern auch in der theoretischen Literatur zum Fremden, in der sich, wie einleitend erwähnt, einerseits ein Gebrauch derselben Ausdrücke mit unterschiedlichen Bedeutungen findet, andererseits die Verwendung verschiedener Begriffe zur Beschreibung desselben Sachverhalts. Zum Zweiten besteht Klärungsbedarf hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen den zahlreichen Einzelaspekten des Fremden. Kapitel 3.1 stellt daher einen Ansatz zur Systematisierung dessen dar, was als Essenz unterschiedlichster fremdheitstheoretischer Ansätze v. a. aus der Philosophie, Soziologie, Ethnologie, Psychologie sowie Kultur- und Literaturwissenschaft erachtet wird. Dementsprechend wird hier auch nicht der Anspruch erhoben, einzelne Fremdheitstheorien umfassend vorzustellen. Stattdessen wird durch einen bewusst gewählten Pluralismus der Ansätze versucht, der – im Folgenden noch zu zeigenden – Komplexität des Themas sowohl in der Theorie als auch in der Anwendung auf ausgewählte Werke Aleksandr Grins Rechnung zu tragen. Wie in der Einleitung ausgeführt, handelt es sich bei dem hier gewählten Zugang um einen vornehmlich phänomenologisch-strukturalistischen. Im zweiten Teil des Kapitels (Kap. 3.2) wird anschließend der Aspekt des Raums mit einbezogen, der in einem so engen Verhältnis zum Thema Alienität steht, dass dieses nicht abgekoppelt von ihm betrachtet werden kann. Die Ergebnisse aus Kapitel 3.1 werden dabei durch weitere Ansätze aus der Literaturwissenschaft und Psychoanalyse ergänzt.

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3.1

Das Fremde: theoretisch-methodische Grundlagen

Das Fremde – Annäherung an einen ›unzugänglichen‹ Begriff »Fremdes zeigt sich, indem es sich entzieht […].« Bernhard Waldenfels1

Eine Bestimmung des Fremden scheint per se ein Paradox zu sein, da das Fremde gerade das ist, was sich nicht (in Begriffe) fassen, nicht (be-)greifen lässt. »Si comprehendis non est alter«,2 wandelt Waldenfels das augustinische Diktum des »Si […] comprehendis, non est Deus«3 ab, da die Konfrontation mit dem Fremden »über jedes Verstehen hinaus[geht]«.4 Dennoch kann von einer vollständigen Aporie des Fremdverstehens nicht die Rede sein.5 1 Waldenfels, Bernhard: Der Anspruch des Fremden. In: Breuninger, Renate (Hg.): Andersheit – Fremdheit – Toleranz. Ulm 1999, 31–51, hier 45. 2 Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie des Eigenen und des Fremden. In: Münkler, Herfried (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit. Berlin 1998, 65–83, hier 79. Dt.: »Wenn du ihn begreifst, ist er kein Fremder«. 3 Sermo CXVII, Caput III, 5; Augustinus, Aurelius: Sermo CXVII . In: Ders.: Sancti Aurelii Augustini, Hipponensis episcopi, opera omnia. Editio novissima, emendata et auctior, accurante J.-P. Migne. Lutetiae Parisiorum 1841, Sp. 661–671, hier 663. Dt.: »Wenn du ihn begreifst, ist er nicht Gott« (Schmaus, Michael: Einleitung. In: Augustinus, Aurelius: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften. Bd. 11–12. Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus fünfzehn Bücher über die Dreieinigkeit. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Michael Schmaus. Kempten, München 1935, 15–66, hier 23). 4 Waldenfels: Phänomenologie des Eigenen, 79. 5 Häufig wird die Möglichkeit eines Fremdverstehens mit dem Argument, dass das Fremde hierdurch seine Fremdheit verliere und damit gleichsam verschwinde, prinzipiell negiert und / oder zumindest in Frage gestellt (vgl. hierzu Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 1. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 1999, 108). In diesem Sinne fragt Merleau-Ponty: »Comment comprendre l’autre sans le sacrifier à notre logique […]?« (Merleau-Ponty, Maurice: De Mauss à Claude Lévi-Strauss. In: Ders.: Signes. Paris 1960, 143–157, hier 144; vgl. hierzu Waldenfels: Topographie des Fremden, 100 f.). Auch im Kontext der Ethnologie wird nicht selten das Argument vorgebracht, dass das Analysieren und Verstehen einer fremden Kultur ihre Zerstörung (als fremde Kultur, oder gar als Kultur an sich) zur Folge habe (vgl. Wierlacher, Alois: Kulturwissenschaftliche Xenologie. Ausgangslage, Leitbegriffe und Problemfelder. In: Ders. (Hg.): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. München 1993, 19–112, hier 47 u. 107). Dieser Haltung wird in der vorliegenden Studie widersprochen. Nach Waldenfels lässt sich das Dilemma der Auflösung des Fremden umgehen, indem man von einer Bestimmung des Fremden absieht und es stattdessen als das betrachtet, »worauf wir antworten« (Waldenfels: Topographie des Fremden, 109; Hervorhebung im Original). Obwohl diese Forderung durchaus ihre Berechtigung hat, wird dabei außer Acht gelassen, dass auch diese Bestimmung eine – wenn auch indirekte – Definition des

Das Fremde – Annäherung an einen ›unzugänglichen‹ Begriff 

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Stattdessen wird hier von der Prämisse ausgegangen, dass sich das Fremde, »[s]o wie historische Distanzen in literarischen Texten durch hermeneutische Verfahren erschlossen und beschrieben werden können, […] grundsätzlich erschließen, beschreiben und vermitteln«6 lässt. Obwohl eine hermeneutiFremden darstellt. Zudem unternimmt Waldenfels in seinen zahlreichen Schriften zum Fremden selbst den Versuch, das Fremde keineswegs nur indirekt zu bestimmen, worin sich die stark eingeschränkte praktische Implementierung dieses Lösungsansatzes zeigt. Einen deutlich praktikableren Ansatz bietet Jurij Lotman (s. zu Lotman auch Kap. 3.2) in seiner Studie »Dinamičeskaja model’ semiotičeskoj sistemy« (dt.: »Das dynamische Modell eines semiotischen Systems«). Seine darin vorgenommene Unterscheidung zwischen sistemnoe (dt.: Systematischem) und vnesistemnoe (dt.: Extrasystematischem) entspricht dem Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem. In diesem Zusammenhang konstatiert Lotman eine zweifache Problematik der Unzugänglichkeit des vnesistemnoe sowie seines Übergehens in ein sistemnoe – und somit seines Verschwindens – als Folge des Zugänglichmachens: »Требование описывать внесистемное наталкивается на значительные трудности методического характера. С одной стороны, внесистемное в принципе ускользает от аналитической мысли, с другой – самый процесс описания с неизбежностью превращает его в факт системы. Таким образом, формулируя требование включить в область структурных описаний обволакивающий структуру внесистемный материал, мы, казалось бы, полагаем возможным невозможное. Дело, однако, предстанет перед нами в несколько другом свете, если мы вспомним, что внесистемное отнюдь не синоним хаотического. Внесистемное  – понятие, дополнительное к системному. Каждое из них получает полноту значений лишь во взаимной соотнесенности, а совсем не как изолированная данность.« (Lotman, Jurij M.: Dinamičeskaja model’ semiotičeskoj sistemy. In: Ders.: Semiosfera. Kul’tura i vzryv. Vnutri mysljaščich mirov. Stat’i. Issledovanija. Zametki (1968–1992). Red. N. G. Nikolajuk, T. A. Špak. Sankt-Peterburg 2010, 543–556, hier 547. Dt.: »Die Beschreibung des Extrasystematischen bereitet erhebliche Schwierigkeiten methodologischer Art. Einerseits entzieht sich das Extrasystematische prinzipiell dem analytischen Zugriff, andererseits verwandelt der Beschreibungsprozeß das Extrasystematische unweigerlich in einen Tatbestand des Systems. Wenn wir also die Forderung aufstellen, daß eine strukturelle Beschreibung auch das die Struktur umgebende Material einbeziehen soll, so schlagen wir scheinbar vor, Unmögliches möglich zu machen. Nun stellt sich die Sache allerdings etwas anders dar, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß ›extrasystematisch‹ nicht gleichbedeutend ist mit ›chaotisch‹. ›Extrasystematisch‹ ist der Komplementärbegriff zu ›systematisch‹. Jeder der beiden Begriffe kann seine volle Bedeutung nur in diesem Wechselverhältnis gewinnen, nicht als isolierte Entität.« (Lotman, Juri M.: Das dynamische Modell eines semiotischen Systems. Aus dem Russischen übersetzt von Ewald Lang. In: Ders.: Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst. Herausgegeben von Klaus Städtke. Mit einem Nachwort von Klaus Städtke und einem Essay von Ewald Lang. Leipzig 1981, 89–110, hier 94)). Sein auf der Annahme eines komplementären und von Wechselwirkung gekennzeichneten Verhältnisses zwischen sistemnoe und vnesistemnoe basierender Lösungsvorschlag stimmt mit dem im Verlauf des Theoriekapitels der vorliegenden Studie vorgestellten Verständnis des Eigenen und des Fremden überein. 6 Hinderer, Walter: Das Phantom des Herrn Kannitverstan. Methodische Überlegungen zu einer interkulturellen Literaturwissenschaft als Fremdheitswissenschaft. In: Wierlacher, Alois (Hg.): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. München 1993, 199–217, hier 216.

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sche Annäherung an das Fremde unvermeidlich eine auf eigenem Vorwissen und eigenen Vorurteilen basierende Auslegung ist, ist ein Verständnis des Fremden keineswegs gleichzusetzen mit seiner Aneignung, sondern es kann »gerade in der adäquaten Darstellung der Differenz des Anderen im Hinblick auf das Eigene«7 der Fremdheit des Fremden gerecht werden. Der Ausdruck ›Annäherung‹ wird hierbei bewusst gewählt, sowohl um der Vorstellung des hermeneutischen Zirkels, der eigentlich als hermeneutische Spirale zu denken ist,8 Rechnung zu tragen, als auch um auf eine immer bestehende Restdistanz zum Fremden hinzuweisen. Gerade diese Distanz des Fremden, seine wesenhafte Unbestimmbarkeit und Unzugänglichkeit bietet ihrerseits bereits einen ersten Anhaltspunkt zur Bestimmung des Fremden und versieht es auf diese Weise mit einer – wie von Husserl treffend paradox formuliert wurde – »Zugänglichkeit in der eigentlichen Unzugänglichkeit, im Modus der Unverständlichkeit«.9 Die vorliegende Studie geht dabei von einer grundlegenden Dialektik zwischen Eigenem und Fremdem aus. Einerseits ist zur Bestimmung des Eigenen eine Abgrenzung vom Fremden unabdingbar; andererseits existiert das Fremde nicht ohne ein Eigenes, das dabei stets mitgedacht wird. Somit sind »alle Definitionen von Fremdheit implizit oder explizit die Kehrseite von Identitätsbestimmungen«10 – und umgekehrt. Das Eigene ist dabei dem Fremden gegenüber stets primär, da den Ausgangspunkt (Origo) einer solchen Aussage immer das deiktische Zentrum des Koordinatensystems aus Ich, Hier und Jetzt

7 Ebd. 8 Bolten, Jürgen: Die Hermeneutische Spirale. Überlegungen zu einer integrativen Literaturtheorie. In: Poetica 17/3–4 (1985), 355–371, hier 358. 9 Husserl, Edmund: Beilage XLVIII . Heimwelt als Welt der All-Zugänglichkeit. Fremdheit als Zugänglichkeit in der eigentlichen Unzugänglichkeit. In: Ders.: Husserliana. Gesammelte Werke. Bd. XV. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935. Herausgegeben von Iso Kern. Den Haag 1973, 627–631, hier 631. Eine ähnliche Formulierung findet sich an anderer Stelle als »bewährbare[…] Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« (§ 52; Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen. In: Ders.: Husserliana. Gesammelte Werke. Bd. I. Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Herausgegeben und eingeleitet von S. Strasser. Den Haag 1950, 41–183, hier 144). Auf Husserls phänomenologischen Ansatz, der den Seinsgehalt und die Zugangsart der Erfahrung untrennbar miteinander verknüpft (vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 65), stützt sich auch die für die vorliegende Studie grundlegende Phänomenologie des Fremden nach Waldenfels (vgl. u. a. Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden. Frankfurt a. M. 1990, 7; Waldenfels, Bernhard: Grundlinien einer Phänomenologie des Fremden. In: Chapuis, Blandine / Chassagne, Jean-Pierre (Hg.): Étrangeté des ­formes, formes de l’étrangeté. Fremdheit der Formen, Formen der Fremdheit. SaintÉtienne 2013, 25–41, hier 31; Waldenfels: Topographie des Fremden, 25). 10 Hahn, Alois: Partizipative Identitäten. In: Münkler, Herfried (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit. Berlin 1998, 115–158, hier 115.

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bildet.11 Gleichzeitig ist es auch das Eigene, das durch die bloße Existenz eines Fremden grundsätzlich gefährdet ist. Aus diesem Grund wird den folgenden Ausführungen zum Fremden ein Abschnitt über den zugrundeliegenden Identitätsbegriff und dessen relationalen Charakter vorangestellt, bevor eine Bestimmung der Eigenschaften sowie eine Systematisierung der Dimensionen des Fremden erfolgen. 3.1.1

Vorüberlegung: Identität und Alienität »[…] никакое ›мы‹ не может существовать, если отсутствуют ›они‹ […].« Jurij Lotman12

Der Begriff ›Identität‹ umfasst die beiden Phänomene der individuellen Identität sowie der überindividuellen, kollektiven Identität, welche sich unter anderem in nationale, ethnische, religiöse oder geschlechtliche Identitäten untergliedern lässt.13 Jede individuelle Identität enthält multiple Gruppenidentitäten, an denen ein Individuum Teil hat  – Hahn spricht daher von »partizipativen Identitäten«14  –, und welche auch in Konflikt miteinander geraten können.15 Während individuelle Identität in der vormodernen Epoche als stabiles, unveränderliches, homogenes Merkmal einer in eine einheitliche und kohärente soziale Welt eingebetteten Person verstanden wird, das keiner Reflexion und 11 Vgl. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. 2. Auflage. Stuttgart 1965, 102. Dass jedes Sprechen über den Anderen immer vom Ich ausgeht, ist im Russischen auch sprachlich enkodiert. Der Andere, drugoj, ist im Slavischen zugleich auch der ›Zweite‹ (vtoroj; z. B. poln.: drugi, tschech.: druhý) (vgl. Fasmer, Maks: Ėtimologičeskij slovar’ russkogo jazyka. Tom I (A – D). Moskva 1964, 543), welcher immer einen Ersten voraussetzt, dessen Position grundsätzlich durch das Ich eingenommen wird. 12 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 267. Dt.: »[…] kein ›wir‹ [kommt] ohne ›die anderen‹ aus[…] […].« (Lotman, Jurij M.: Kultur und Explosion. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Berlin 2010, 189). 13 Vgl. Assmann, Aleida / Friese, Heidrun: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Identitäten. Frankfurt a. M. 1999, 11–23, hier 11. 14 Hahn: Partizipative Identitäten, 117. 15 Vgl. Todorov, Tzvetan: Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen. Bonn 2011, 23 u. 77. Vgl. hierzu auch die Definition von sozialer bzw. Gruppenidentität als Teil der individuellen Identität von Tajfel: »[…] social identity will be under­ stood as that part of an individual’s self-concept which derives from his knowledge of his membership of a social group (or groups) together with the value and emotional significance attached to that membership.« (Tajfel, Henri: Human groups and social categories. Studies in social psychology. Cambridge u. a. 1981, 255; Hervorhebung im Original).

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Problematisierung bedarf,16 binden neuere Ansätze das Wesen der Identität eines Individuums an die spezifischen Bedingungen der Moderne. Diese ist durch die Brüchigkeit von Ordnungen gekennzeichnet17 und infolgedessen durch Differenz-, Alteritäts- bzw. Alienitäts-18 und Kontingenzerfahrungen geprägt.19 Dementsprechend wird Identität nunmehr als labiler, transitorischer und unabgeschlossener Entwurf verstanden, der immer auch die Möglichkeit von Identitätskrisen enthält.20 Diese Identitätstheorie wird nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich von den psychoanalytischen Schriften Erik H. Eriksons zur Ich-Psychologie geprägt,21 ihre Wurzeln reichen aber bis zu den pragmatistischen (William James) und psychoanalytischen (Sigmund Freud) Theorien vom Beginn des 20. Jahrhunderts zurück.22 Auch die Kunst und Literatur dieser Epoche um die vorletzte Jahrhundertwende setzen sich intensiv mit dem Thema der Erschütterung vermeintlich stabiler Identitäten und Bezugssysteme auseinander – so auch eine Vielzahl der Werke Aleksandr Grins. Diesem neueren Ansatz folgend wird individuelle oder Ich-Identität 23 in der vorliegenden Studie als die bewusste Vorstellung von der »Einheit, Selbig­ 16 Vgl. Assmann / Friese: Einleitung, 13; Kellner, Douglas: Popular culture and the construction of postmodern identities. In: Lash, Scott / Friedman, Jonathan (Hg.): Modernity and identity. Oxford 1993, 141–177, hier 141. 17 Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Seetiefen und Seelentiefen. Literarische Spiegelungen innerer und äußerer Fremde. Würzburg 2003, 19. 18 Zum in dieser Studie verwendeten Verständnis von Alterität und Alienität siehe die Ausführungen am Ende von Kapitel 3.1.1. 19 Vgl. Straub, Jürgen: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs. In: Assmann, Aleida / Friese, Heidrun (Hg.): Identitäten. Frankfurt a. M. 1999, 73–104, hier 82 f. 20 Vgl. Berger, Peter L./Berger, Brigitte / Kellner, Hansfried: Das Unbehagen in der Modernität. Frankfurt a. M., New York 1987, 71. Die Autoren sprechen sogar davon »daß der moderne Mensch an einer permanenten Identitätskrise leidet […]« (ebd.; Hervorhebung im Original). 21 Vgl. Straub: Personale und kollektive Identität, 73 f. 22 Erikson bezieht sich in seinen Überlegungen zur Ich-Identität in »Childhood and Society« (1950; vgl. Erikson, Erik H.: Kindheit und Gesellschaft. 3. Auflage. Stuttgart 1968) auf Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung, die er zu einem achtstufigen, den gesamten Lebenslauf eines Individuums einbeziehenden Modell der psychosozialen Entwicklung erweitert und um kulturelle und soziale Aspekte ergänzt (vgl. ebd., 268). Die entscheidende Phase für die Herausbildung der Ich-Identität ist für Erikson die Adoleszenz (vgl. ebd., 256; Erikson, Erik H.: Das Problem der Ich-Identität. In: Ders.: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Übersetzt von Käte Hügel. 17. Auflage. Frankfurt a. M. 1998, 123–212, hier 123; vgl. dazu auch ebd., 140 f. u. 144). 23 In Abgrenzung zum theoretisch-konzeptuellen Begriff der ›Identität‹ beschreibt der Begriff der ›Persönlichkeit‹ v. a. die empirisch beobachtbaren »Charaktereigenschaften und Wesenszüge« (Northoff, Georg: Personale Identität und operative Eingriffe in das Gehirn. Neurophilosophische, empirische und ethische Untersuchungen. Paderborn 2001, 421) einer Person.

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keit, Nämlichkeit«24 eines Individuums verstanden. Sie basiert auf der Leitdifferenz Eigenes vs. Fremdes und resultiert aus deren Anwendung.25 »Der Gegensatz […] des Eigenen und Fremden […] ist eines der ursprünglichsten Ordnungs- und Orientierungsprinzipien des menschlichen Denkens und Handelns«26 und seinerseits das Produkt von Zuschreibungsakten. Identität entspricht damit dem Selbstbild einer Person,27 welches die Gesamtheit dessen, was als ›eigen‹ definiert wird, umfasst und dabei stets auf ein Fremdes rückbezogen bleibt. In Stuart Halls Worten ausgedrückt: »Identity is always […] a structured representation which only achieves its positive through the narrow eye of the negative. It has to go through the eye of the needle of the other before it can construct itself.«28 Als Konstrukt ist Identität weder faktisch gegeben noch allumfassend oder unveränderlich, sondern »limitiert, vorläufig, fragil«29 und damit potentiell permanent gefährdet.30 Nicht nur ihre Ausformung in der sozialen Interaktion,31 sondern auch ihre Bewahrung und Entwicklung, die durch die Überwindung »psychosoziale[r] Krisen«32 erreicht wird, erfordert somit eine kontinuierliche »Identitätsarbeit«33 in Form psychischer Akte und »symbolisch und soziokulturell vermittelte[r], bedeutungsstrukturierte[r] und Bedeutungen schaffende[r] Handlungen«34 als Reaktion auf sich ununterbrochen wandelnde Umstände. Durch diese Synthetisierungs- oder Integrations­

24 Straub: Personale und kollektive Identität, 91. 25 Vgl. Tschilschke, Christian von: Identität der Aufklärung / Aufklärung der Identität. Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2009, 25 f. 26 Müller, Carl Werner: Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens. Wiesbaden 1965, X; zit. nach Horstmann, Axel: Das Fremde und das Eigene – ›Assimilation‹ als hermeneutischer Begriff. In: Wierlacher, Alois (Hg.): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. München 1993, 371–409, hier 377. 27 Vgl. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders./Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, 9–19, hier 17. 28 Hall, Stuart: The Local and the Global: Globalization and Ethnicity. In: King, Anthony (Hg.): Culture, Globalization and the World-System. Contemporary Conditions for the Representation of Identity. Minneapolis 1991, 19–40, hier 21. 29 Straub: Personale und kollektive Identität, 82. 30 Vgl. ebd., 93 u. 95. Gerade im Zuge des postcolonial turn in den Kulturwissenschaften verschiebt sich der Fokus bei der Betrachtung der Identität von Aspekten wie Einheit, Ursprung oder Wesen hin zu Brüchen, Übergängen und Transformationen und damit auf das Moment der Differenz (vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek b. Hamburg 2006, 206). 31 Vgl. Mead, George H.: Mind, Self and Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist. Edited, with introduction, by Charles W. Morris. Chicago, London 1967, 135. 32 Erikson: Das Problem der Ich-Identität, 148. 33 Straub: Personale und kollektive Identität, 87. 34 Ebd., 95.

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leistungen erzeugt und aktualisiert das Individuum eine Vorstellung von der Kontinuität und Kohärenz35 des eigenen Daseins.36 Hierdurch gewinnt es einen übergeordneten Rahmen, der seinem Denken und Handeln Orientierung und Sinn verleiht.37 Später erfolgt eine  – nicht unumstrittene –38 Übertragung des in Bezug auf Individuen entwickelten Identitätsbegriffs auf Gruppen.39 Nach Jan Assmann bezeichnet kollektive Identität40 […] das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ›an sich‹, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen.41

Da kollektive Identität nicht an der Leiblichkeit des Individuums festgemacht werden kann, sondern auf einen metaphorischen ›Kollektivkörper‹ bezogen ist, wird ihr diskursiver Charakter als – hier soziales – Konstrukt umso deut35 Aleida Assmann bestimmt Identität in ähnlicher Weise als »eine Qualität der konstruktiven Konsistenz und Kohärenz« (Assmann, Aleida: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 21/2 (1993), 238–253, hier 238). 36 Vgl. Erikson, Erik H.: Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit. In: Ders.: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Übersetzt von Käte Hügel. 17. Auflage. Frankfurt a. M. 1998, 55–122, hier 107; Straub: Personale und kollektive Identität, 75. Konkret handelt es sich hierbei um die »Kohärenz von moralischen und ästhetischen Maximen­ systemen« und die »Kontinuität zeitlicher Differenzen«, die im Wesentlichen die »biographische Kontinuität« des Individuums sowie die »Kontinuität des Geschichtsbewußtseins einer Person, durch das sich diese gleichsam in der Historie identitätsrelevanter Bezugskollektive verortet« (ebd., 91 f.; Hervorhebungen im Original), umfasst. Zur biographischen Identität vgl. bereits John Locke (1690): »For since consciousness always accompanies thinking, and it is that that makes everyone to be what he calls self, and thereby distinguishes himself from all other thinking things: in this alone consists personal identity, i. e. the sameness of the rational being. And as far as this consciousness can be extended backwards to any past action or thought, so far reaches the identity of that person: it is the same self now it was then […]« (Locke, John: An essay concerning human understanding. Vol. 1. Edited and with an introduction by John W. Yolton. London 1961, 281). 37 Vgl. Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. M. 1977, 31; Assmann / Friese: Einleitung, 11; Straub: Personale und kollektive Identität, 91. 38 Vgl. hierzu z. B. Straub: Personale und kollektive Identität, 99–102. 39 Vgl. ebd., 83. 40 Zu beachten ist hierbei, dass der Begriff der kollektiven Identität nicht mit kollektiven Elementen der individuellen Identität einer Person, wie z. B. ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen oder sozialen Gruppe, vermischt wird (vgl. Straub: Personale und kollektive Identität, 96). 41 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, 132; Hervorhebung im Original.

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licher.42 Aleida Assmann bestimmt kollektive Identitäten daher als »Diskursformationen« und betont: »[S]ie stehen und fallen mit den Symbolsystemen, über die sich die Träger einer Kultur als zugehörig definieren und identifizieren.«43 Analog zur individuellen wird also auch die kollektive Identität durch inkludierende und exkludierende soziokulturelle bzw. symbolische Praktiken, z. B. durch die Affirmation eines geteilten Selbst- und Weltverständnisses, konstituiert.44 Dabei besitzt diese Betonung einer Zusammengehörigkeit in Abgrenzung zu einem Fremden einen performativen, d. h. realitätskonstituierenden Charakter: Das »Nicht-eigen-sein-sollen«45 des Ausgegrenzten bewirkt sein Nicht-eigen-sein, sein Fremdsein; im Zusammenspiel mit dem Eigensein-sollen der Eingegrenzten erzeugt es eine kollektive Identität. In diesem Sinne lässt sich mit Benedict Anderson von imagined communities sprechen.46 Eine entscheidende Rolle bei der Erschaffung und Bewahrung von Gruppenidentität spielt das kulturelle Gedächtnis, das »den Wissensvorrat einer Gruppe [bewahrt], die aus ihm ein Bewußtsein ihrer Einheit und Eigenart bezieht«.47 Dieser Wissensvorrat weist ebenfalls eine scharfe Grenze zwischen Zugehörigem und Nichtzugehörigem, Vertrautem und Unvertrautem auf,48 aus der das gemeinsame Eigene sein Profil und damit die Gruppe ihre Ordnungs- und Orientierungsstrukturen gewinnt, welche eine Welt ermöglichen, die »als bis auf Widerruf fraglos gegeben hingenommen«49 wird. Ein solcher Widerruf resultiert wiederum aus einer Konfrontation mit dem Fremden, das die vermeintliche Selbstverständlichkeit von Selbst und Welt erschüttert. Erfahrungen von Alientität besitzen somit einen hochgradig ambivalenten Charakter für die individuelle ebenso wie für die kollektive Identität. Einerseits stellen sie eine Bedrohung für die Kohärenz und Kontinuität des Selbstbildes dar, andererseits werden die zur Herstellung und Bewahrung einer Identität notwendigen Integrationsleistungen erst durch sie ausgelöst,50 bzw. 42 Vgl. Straub: Personale und kollektive Identität, 97 f. u. 104. 43 Assmann: Zum Problem der Identität, 240. 44 Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 132 u. 145–151; Straub: Personale und kollektive Identität, 97 u. 103. 45 Stenger, Horst: Soziale und kulturelle Fremdheit. Zur Differenzierung von Fremdheitserfahrungen am Beispiel ostdeutscher Wissenschaftler. In: Zeitschrift für Soziologie 27/1 (1998), 18–38, hier 23. 46 Vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. New York, London 1983. Zu den verschiedenen Modellen kollektiver Identität vgl. Assmann: Zum Problem der Identität, 240–248. 47 Assmann: Kollektives Gedächtnis, 13. 48 Vgl. ebd. 49 Schütz, Alfred: Strukturen der Lebenswelt. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Bd. III . Stu­ dien zur phänomenologischen Philosophie. Herausgegeben von Ilse Schütz. Den Haag 1971, 153–170, hier 153. 50 Vgl. Straub: Personale und kollektive Identität, 75.

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sogar erst ermöglicht.51 Da Eigenes und Fremdes durch Differenzierung entstehen,52 ist jedes Ich stets dialektisch rückbezogen auf ein Nicht-Ich, jedes Wir auf ein Nicht-Wir. An dieser Stelle ist jedoch eine genauere Bestimmung der Begriffe vonnöten, da sich der Begriff ›Identität‹, von dem hier ausgegangen wurde, bei näherer Betrachtung als nicht unproblematisch für eine Untersuchung des Fremden erweist. Das in ihm enthaltene lateinische Wort idem verweist auf das Selbe (gr.: ταὐτόν), das in einem ontologischen Gegensatz zum anderen (lat.: aliud, gr.: έτερον) – im Sinne einer bloßen Verschiedenheit, eines Nicht-identischSeins – steht. Den Gegenbegriff zum Anderen oder Fremden (lat.: alienum, gr.: ξένον) bildet dagegen das Selbst (lat.: ipse, gr.: αὐτό),53 sodass das Konzept der Identität hier ungeeignet zu sein scheint. Die Verwendungsweise des Begriffs zeigt jedoch, dass er in vielen Fällen durchaus auf das Selbst eines Individuums oder eines Kollektivs referiert, wie die oben genannten Begriffe ›Selbstbild‹ oder ›Selbstverständnis‹ zeigen.54 Ein Ansatz zur Lösung dieses Problems findet sich in Paul Ricœurs Konzept der personalen Identität (frz.: l’identité personelle), dem die Annahme einer Überlagerung von ipse und idem im Begriff der Identität zugrunde liegt.55 Bei der Identität im Sinne von idem (frz.: »l’identité-idem«),56 steht die »permanence dans le temps«57 gegenüber dem Veränderlichen im Vordergrund, d. h. ein Identisch-Sein in der Bedeutung von Gleichheit (frz.: mêmeté), basierend

51 Vgl. zur Ambivalenz des Fremden Kapitel 3.1.2.2. Dieser Gedanke findet sich auch in J. Lotmans Theorie der Semiosphäre, die in Kapitel 3.2 vorgestellt wird. Sartre geht in Nachfolge von Hobbes sogar so weit zu behaupten, dass sich das Subjekt-Wir der eigenen Gruppe nur in der Konfrontation mit einer feindlichen (!) Gruppe »als ›seinshaftes‹ Objekt-Wir konstituiert« (Waldenfels: Topographie des Fremden, 47). Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch bei Carl Schmitt in seinen Ausführungen über den politischen Feind (vgl. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin 1963, 27). 52 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 156. 53 Vgl. Hahn: Partizipative Identitäten, 115; Waldenfels: Grundlinien einer Phänomeno­ logie, 26. Wierlacher versteht die Differenz ›Selbes‹ und ›Anderes‹ als Beschreibung einer objektiven Gegebenheit, während die Differenz ›Eigenes‹ und ›Fremdes‹ das Resultat einer interpretierenden Zuschreibung darstellt: das Fremde ist das »aufgefaßte Andere« (Wierlacher: Kulturwissenschaftliche Xenologie, 62). Der hierin zum Ausdruck kommende konstrukthafte Charakter des Eigenen und des Fremden deckt sich mit den Überlegungen zum Identitätsbegriff in dieser Studie. 54 Vgl. hierzu auch den Titel der Fremdheitsstudie von J. Kristeva: »Étrangers à nous-mêmes« (vgl. Kristeva, Julia: Étrangers à nous-mêmes. Paris 2007). 55 Vgl. Ricœur, Paul: Soi-même comme un autre. Paris 1990, 12. 56 Ebd., 13; Hervorhebung im Original. 57 Ebd., 12; Hervorhebung im Original.

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auf Unveränderlichkeit in der Zeit.58 Die Identität im Sinne von ipse (frz.: »l’identité-ipse«)59 impliziert dagegen prinzipiell keine Festlegung in Bezug auf Beständigkeit, sondern nur ein Mit-sich-selbst-identisch-Sein in der Bedeutung von ›nicht anders oder fremd‹; diese Selbstheit (frz.: ipseité)60 kann, anders als die Gleichheit (frz.: mêmeté), beständig oder veränderlich sein.61 Die Bedeutung des Begriffs ›Identität‹ erweist sich in diesem Verständnis also als partiell von seinem etymologischen Ursprung losgelöst.62 Ein solches Identitätsmodell, das beide Bedeutungskomponenten enthält, erlaubt somit auch die Bildung des Begriffspaars Identität vs. Alienität, d. h. Fremdheit. Das zweite Paar, ontologische Identität vs. Nicht-Identität, d. h. bloße Differenz, ist für die vorliegende Studie nicht relevant. Jedoch existiert darüber hinaus noch ein drittes Begriffspaar, das die beiden ersten in der Häufigkeit seines Gebrauchs deutlich übertrifft: Identität vs. Alterität. Das Konzept der Alterität wird in der Kultur- und Literaturtheorie dabei oftmals als Synonym zu ›Fremdheit‹ verwendet. Dies zeigen beispielsweise die Begriffe der ›alterité‹, der ›question de l’autre‹63 oder auch der ›other­ ness‹ oder des ›othering‹ in postkolonialistischen Ansätzen,64 die alle auf das Konzept des Fremden referieren. Von dieser Gleichsetzung wird hier im Interesse begrifflicher Schärfe Abstand genommen. Alterität verweist etymologisch auf alter(um), d. h. auf den Anderen bzw. das Andere von zweien – in Unterscheidung zum oben genannten ontologischen anderen (lat.: aliud) im Gegensatz zum Selben (lat.: idem).65 Jedem Anderen (lat.: alter(um)) wohnt zwangsläufig eine Fremdheit inne, da es weder dem Ich zugehörig noch diesem vollständig vertraut sein kann. Solange diese Fremdheit lediglich unterschwellig besteht, wird sie jedoch nicht als solche empfunden und verbleibt

58 Vgl. Ricœur, Paul: Narrative Identität. In: Heidelberger Jahrbücher XXXI (1987), 57–67, hier 57. 59 Ricœur: Soi-même comme un autre, 13; Hervorhebung im Original. 60 Vgl. ebd., 167. 61 Vgl. Ricœur: Narrative Identität, 57. Auf der Dialektik von ipseité und mêmeté baut Ricœur sein Konzept der narrativen Identität (frz.: l’identité narrative) auf (vgl. Ricœur: Soi-même comme un autre, 167–180). 62 Tatsächlich trifft dies nur auf die lateinischen Begriffe zu, von denen sich der Ausdruck ›Identität‹ ableitet. Das Griechische dagegen drückt die enge Verknüpfung des Selben und des Selbst auch etymologisch aus: ταὐτό wird durch eine Krasis des bestimmten Artikels mit dem Lexem αὐτός gebildet, was im Neutrum Singular – τὸ αὐτό – besonders deutlich wird. 63 Vgl. auch den Titel von Ricœurs Monographie: »Soi-même comme un autre«. 64 Vgl. Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 27. 65 Die Unterscheidung zwischen anderem (lat.: aliud) und Anderem (lat.: alienum) wird in dieser Studie durch die unterschiedliche Schreibweise markiert. Ein Bezug zu der Unterscheidung Lacans zwischen l’autre (dem konkreten Mitmenschen) und l’Autre (dem Unbewussten) besteht dabei nicht.

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im Stadium der Andersheit. Alterität wird hier somit nicht als vollständiges Synonym zu Alienität verstanden, sondern als eine Unterform davon, nämlich als ihre schwächste, lediglich latente Ausprägungsform. 3.1.2

Entwurf einer Semiotik des Fremden

Ausgehend von dem hier vorgestellten Identitätsbegriff der Moderne soll im Folgenden der Versuch einer genaueren Bestimmung des komplexen Begriffs des Fremden unternommen werden. Angesichts der eingangs angesprochenen – zum Teil durch die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in den einzelnen fachlichen Disziplinen bedingten  – uneinheitlichen Verwendung des Begriffs des Fremden in der theoretischen Literatur sollen zunächst einige invariable Eigenschaften des Fremden identifiziert werden, die es in jedem Fall, unabhängig vom Kontext, aufweist. Hiervon zu unterscheiden sind die anschließend näher betrachteten vielfältigen veränderlichen Dimensionen des Fremden, die verschiedene Ausprägungen annehmen können. Die Klassifikation soll dabei zum einen das Geflecht der Dimensionen des Fremden strukturieren und zum anderen die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge verdeutlichen. Zur Vermeidung begrifflicher Unschärfen wird im Zuge dessen eine Reihe von terminologischen Bestimmungen vorgenommen, auf die im Analyseteil zurückgegriffen wird. Der Begriff ›Fremdheit‹ wird dabei als die spezifische Qualität des Fremden verstanden, die aus seiner Erfahrung – einer Fremdheitserfahrung – resultiert. Da sich das Fremde in der Erfahrung (als Phänomen) mitteilt, wird im Folgenden in vielen Kontexten von ›Fremdheit‹ statt vom ›Fremden‹ die Rede sein. 3.1.2.1

Die Eigenschaften des Fremden

Wie aus den vorangestellten Überlegungen zur Identität abzuleiten ist, ist das Fremde notwendigerweise relational.66 Es existiert nicht ›an sich‹, sondern immer nur im Verhältnis zu jemandem bzw. etwas. Fremdheit ist somit »keine Eigenschaft, auch kein objektives Verhältnis […], sondern die Definition einer Beziehung.«67 Dabei kann diese Beziehung nicht nur von der eigenen Seite her

66 Vgl. Münkler, Herfried / Ladwig, Bernd: Dimensionen der Fremdheit. In: Münkler, Herfried (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit. Berlin 1998, 11–44, hier 14; Kohl, Karl-Heinz: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. München 1993, 95. 67 Hahn, Alois: Die soziale Konstruktion des Fremden. In: Sprondel, Walter M. (Hg.): Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luckmann. Frankfurt a. M. 1994, 140–166, hier 140.

Das Fremde – Annäherung an einen ›unzugänglichen‹ Begriff 

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definiert werden, sondern auch von Seiten anderer – wodurch man selbst die Rolle des Fremden erhält.68 Analog69 zu Identitäten sind Alienitäten ebenfalls Konstrukte, die »nicht einfach gegeben sind, auch niemals einfach gefunden oder angetroffen werden  – sie werden gemacht«.70 Dieser Prozess stellt aufgrund der Ausgangsprämisse einer Dialektik von Eigenem und Fremdem lediglich die Kehrseite der symbolischen Praktiken der Ein- und Ausgrenzung im Zuge der Identitätskonstruktion und -affirmation dar.71 Aus der Relationalität erklärt sich auch das oben genannte Merkmal des Fremden, seine zugängliche Unzugänglichkeit: Das – potentiell, da nicht a priori vorhandene – Fremde muss zugänglich sein, d. h. in einem Verhältnis zum Eigenen stehen, um überhaupt fremd sein zu können. So sind beispielsweise die zum Topos gewordenen Bewohner des Sirius aus Georg Simmels »Exkurs über den Fremden« »uns nicht eigentlich fremd […], sondern sie existieren überhaupt nicht für uns«.72 Zugleich muss es in dieser Zugänglichkeit aber unzugänglich bleiben, sich durch »Nichtassimilierbarkeit«73 auszeichnen, um als fremd bestimmt und ausgegrenzt werden zu können. »Das Un-, das in der Unzugänglichkeit und Unzugehörigkeit des Fremden […] auftritt, bezeichnet […] eine Erfahrung des Entzugs, in der etwas abwesend anwesend ist.«74 Das Fremde verkörpert somit eine »Einheit von Nähe und Entferntheit«,75 68 Vgl. Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 28. 69 Vgl. hierzu Husserl: »Fremdes […] ist also nur denkbar als Analogon von Eigenheit­ lichem.« (§ 52; Husserl: Cartesianische Meditationen, 144; Hervorhebung im Original). 70 Fabian, Johannes: Präsenz und Repräsentation. Die Anderen und das anthropologische Schreiben. In: Berg, Eberhard / Fuchs, Martin (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt a. M. 1995, 335–364, hier 337; Hervorhebung im Original. Obwohl Fabian diese Beschreibung als Definition für den Akt des Othering anführt, also der Fremdsetzung v. a. im (post-)kolonialen Kontext, ist sie auch in einem breiteren Verständnis anwendbar. 71 Die hierbei gezogene Grenze kann, je nachdem, was als ›fremd‹ definiert wird, verschiedenste Ausprägungen annehmen: als raumzeitliche Grenze zwischen Hier und Dort, zwischen Jetzt und Früher oder Später; als interpersonale Grenze zwischen Angehörigen verschiedener Gruppen; als leibkörperliche Grenze zwischen Ich und Umwelt; als Normierungsgrenze zwischen Normalem und Abnormalem etc. (vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 195 f.). 72 Simmel, Georg: Gesamtausgabe. Bd. 11. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1992, 765. 73 Waldenfels: Topographie des Fremden, 51; Hervorhebung im Original. 74 Waldenfels, Bernhard: Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 4. Frankfurt a. M. 1999, 12 f. An anderer Stelle schreibt Waldenfels: »Die Erfahrung […] des Fremden stellt sich somit dar als eine Erfahrung unüberwindlicher Abwesenheit.« (Waldenfels: Topographie des Fremden, 90; Hervorhebung im Original). 75 Auf das Irritationspotential dieser Einheit weist Bauman, Simmel zitierend  – zwar in Bezug auf das personale Fremde, jedoch auf andere Referenten übertragbar – hin: »Der Fremde stellt eine inkongruente und daher abgelehnte ›Synthesis aus Nähe und Ferne‹

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bei der »die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist«.76 Die enge Verknüpfung von Alientität und Raum, die in Kapitel 3.2 nähere Betrachtung findet, klingt hier bereits deutlich an. Mit dem relationalen Charakter des Fremden ebenfalls eng verknüpft ist die bereits angedeutete Eigenschaft der Indexikalität. Die Zuschreibung bzw. Zuschreibbarkeit von Alienität ist abhängig von der Position des Sprechers und seinen Intentionen.77 Dies wird besonders deutlich anhand des russischen Begriffspaars svoë – čužoe (dt.: das Eigene – das Fremde), bei dem das dem Fremden gegenüberstehende Eigene als reflexives Possessivpronomen rea­ lisiert wird, das grammatikalisch eindeutig auf den Sprecher referiert. Dementsprechend lässt sich das Fremde immer nur im Hinblick auf eine konkrete Situation bestimmen. Die Zuschreibung verläuft dabei stets asymmetrisch, d. h. mit einer »unaufhebbare[n] Präferenz des Eigenen, und dies nicht im Sinne eines Besseren oder Höheren, sondern im Sinne eines Sich-Unterscheidens, eines Selbstbezugs in der Beziehung […]«.78 Dies erklärt auch die von Kristeva konstatierte häufige Bestimmung des Fremden ex negativo,79 d. h., indem dem Fremden die Eigenschaften des Eigenen abgesprochen werden (das Fremde ist z. B. nicht eigen, nicht vertraut, nicht zugehörig), anstatt ihm spezifische Merkmale zuzuschreiben. Ebenfalls Ausdruck der Asymmetrie von Fremdheit ist die Tatsache, dass das Eigene in der Regel unmarkiert, da selbstverständlich, das Fremde hingegen markiert ist. In Bezug auf kulturelle Fremdheit formuliert Terry Eagleton dies wie folgt: »One’s own way of life is simply human; it is other people who are ethnic, idiosyncratic, culturally peculiar.«80 Ein Beweis hierfür findet sich in der Tatsache, dass die Selbstbezeichnung zahlreicher ethnischer Gruppen sich schlicht als ›Mensch‹ oder ›wahrer Mensch‹ übersetzen lässt, so dar.« (Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt a. M. 1996, 82; Zitat im Original bei Simmel: »Synthese von Nähe und Ferne«; Simmel: Gesamtausgabe. Soziologie, 766). 76 Borsò, Vittoria: Michel Foucault und Emmanuel Levinas – zum ethischen Auftrag der Kulturwissenschaften. In: Brohm, Heike / Gerling, Vera Elisabeth / Goldammer, Björn / ​ Schuchardt, Beatrice (Hg.): Vittoria Borsò. Das Andere denken, schreiben, sehen. Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft. Bielefeld 2008, 23–47, hier 43. 77 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 14. 78 Waldenfels: Topographie des Fremden, 74; vgl. hierzu auch ebd., 114. 79 Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 139. 80 Eagleton, Terry: The Idea of Culture. Oxford, Malden / Massachusetts 2000, 27. Ein sehr ähnlicher Gedanke, hier allerdings bezogen auf das Verhältnis zwischen dem Zentrum einer Kultur und deren Peripherie, findet sich bei Jurij Lotman in seinem Modell der Semiosphäre, auf das in Kapitel 3.2 genauer eingegangen wird: »Периферия ярко окрашена, маркирована – ядро ›нормально‹, то есть не имеет ни цвета, ни запаха, оно ›просто существует‹.« (Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 267. Dt.: »Die Peripherie hat eine starke Färbung, sie ist markiert, der Kern dagegen ist ›normal‹, also farb- und geruchlos, er ist ›einfach nur da‹.« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 189).

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z. B. im Fall der Roma (rom), des polynesischen Volks der Kanaken (kanaka), der südafrikanischen Khoi-Khoi (khoi) oder der Inuit (inuk).81 Die Differenzierung ist somit nicht grundsätzlich reversibel, da sie aus einem Vorgang der Ein- und Ausgrenzung vom Standpunkt des Eigenen aus resultiert, nicht aus einem Prozess der Abgrenzung zwischen zwei Entitäten aus Sicht eines Dritten. Letzterer führt, wie im Zusammenhang mit den Begriffen idem und aliud bereits angedeutet, zu einer symmetrischen, umkehrbaren Aussage: Dasselbe ist nicht das andere, somit ist auch das andere nicht das­selbe.82 Fremdheit dagegen »ist ein Beziehungsprädikat je eines Subjekts«,83 das nicht automatisch auch für das andere Subjekt (bzw. das Objekt, je nach Perspektive) gelten muss. Fremdheit kann allerdings durchaus auf Gegenseitigkeit beruhen. Dies erfordert dann jedoch entsprechende Prozesse der Fremdsetzung von beiden Seiten. Nach dieser Bestimmung wesentlicher Eigenschaften des Fremden soll im Folgenden eine Reihe von Dimensionen nähere Betrachtung finden, aus denen die verschiedenen Ausprägungen des Fremden resultieren. Im Interesse der Übersichtlichkeit wurden die neun identifizierten Dimensionen dabei drei verschiedenen Kategorien zugeordnet. Allerdings bestehen sowohl zwischen diesen als auch innerhalb der Kategorien vielfältige Wechselwirkungen, sodass von einem Geflecht an Fremdheitsdimensionen gesprochen werden kann. 3.1.2.2

Die Dimensionen des Fremden

Die vielfältigen Dimensionen des Fremden lassen sich in drei Gruppen einteilen, die eng an die Kategorien der Semiotik nach Morris – Syntaktik, Semiotik und Pragmatik – angelehnt sind.84 Das hier ausschließlich betrachtete Zeichen Fremdes besteht dabei aus dem Signifikanten (russ.: označajuščee) ›Fremdes‹,85 d. h. dem materiellen lautlichen bzw. graphischen Zeichen, und 81 Vgl. Antweiler, Christoph: Mensch und Weltkultur: Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung. Bielefeld 2014, 153 f. 82 Vgl. Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 26 f. 83 Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 12. 84 Morris, Charles W.: Foundations of the Theory of Signs. Chicago 1938, 6. 85 An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass Übersetzungen des Begriffs (d. h. des Signifikanten) ›Fremdes‹ in andere Sprachen (z. B. Russisch) unvermeidlich mit einer Veränderung des Signifikats einhergehen, da keine hundertprozentige Übereinstimmung besteht (und bestehen kann). Da die vorliegende Studie auf Deutsch verfasst ist und somit auch der deutsche Begriff ›Fremdes‹ verwendet wird, wird im Folgenden von ihm ausgegangen. Obwohl viele der hier herausgearbeiteten Merkmale des Fremden kulturübergreifend gültig sind, muss im Umgang mit den im Analyseteil behandelten russischen Texten und den darin vorkommenden konkreten Signifikanten (z. B. ›чужое‹ (dt.: ›das Fremde‹), ›иностранное‹ (dt.: ›das Ausländische‹) etc.) die Differenz zur deutschen Entsprechung stets mitgedacht werden.

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Das Fremde: theoretisch-methodische Grundlagen

dem Signifikat (russ.: označaemoe), der hiervon evozierten Vorstellung des Fremden.86 Da das Signifikat in diesem Fall äußerst komplex und vieldeutig ist, können als Referent des Zeichens verschiedenste konkrete und abstrakte Entitäten fungieren, auf die sich die Zuschreibung ›Fremdes‹ beziehen kann. Signifikant, Signifikat und Referent bilden gemeinsam das semiotische Dreieck.87 In einer so definierten Semiotik des Fremden beziehen sich die syntaktischen Dimensionen auf die Relationen verschiedener Ausprägungen des Zeichens Fremdes (z. B. Fremdes1, Fremdes2 mit unterschiedlichen Signifikaten) untereinander. Die Kategorie der semantischen Dimensionen des Fremden beschreibt die Beziehungen zwischen dem Zeichen Fremdes und dem Referenten, dem als fremd Be-Zeichneten. Die pragmatischen Dimensionen schließlich beleuchten die Verhältnisse zwischen dem Zeichen Fremdes und dem mit dem Fremden Konfrontierten, d. h. demjenigen, der das Zeichen benutzt (interpretiert). Die bereits identifizierten wesenhaften Eigenschaften des Fremden sind allesamt dem Bereich der Pragmatik zuzuordnen. Dieser grundlegende Zusammenhang besteht nicht zufällig, da es ja – wie in Kapitel 3.1.2.1 ausgeführt wurde – gerade der Zeichenbenutzer ist, der den Referenten, d. h. das Fremde, durch den Akt der Zuschreibung erst erzeugt.

86 Die Begriffe ›Signifikant‹ und ›Signifikat‹ – im Original signifiant und signifié – entstammen Ferdinand de Saussures Theorie zum Zeichenbegriff. Die Beziehung zwischen ihnen definiert Saussure als »une entité psychique à deux faces« (Saussure, Ferdinand de: Cours de linguistique générale. Paris 1995, 99), d. h. als zwei voneinander untrennbare Seiten ein- und derselben Sache. An anderer Stelle verwendet Saussure die Metapher eines Blatts Papier zur Verdeutlichung der unaufhebbaren Verbindung zwischen der Vorstellung und dem lautlichen Zeichen, das auf sie verweist: »La langue est encore comparable à une feuille de papier: la pensée est le recto et le son le verso; on ne peut découper le recto sans découper en même temps le verso; de même dans la langue, on ne saurait isoler ni le son de la pensée, ni la pensée du son.« (ebd., 157). Anders als Saussures dyadischer Ansatz geht Peirce von einem triadischen Zeichenbegriff aus, der die Komponente des außersprachlichen Bezugsobjekts miteinschließt. Sein Modell besteht demnach aus sign bzw. representamen, interpretant und object, wobei die ersten beiden Elemente deutliche Ähnlichkeiten zu Saussures signifiant respektive signifié aufweisen, während das letzte dem bei de Saussure nicht zum Zeichen selbst gehörenden Referenten entspricht. Ein representamen ist demnach »something which stands to somebody for something in some respect or capacity« (Peirce, Charles Sanders: ­Collected Papers. Vol. II . Elements of Logic. Edited by Charles Hartshorne and Paul Weiss. Cambridge 1965, 135), und das im Geist dieser Person eine Vorstellung erzeugt, welche dem interpretant entspricht. Das, wofür die Vorstellung steht, nennt Peirce object (§ 228, vgl. ebd.). 87 Das Dreieck Signifikant – Signifikat – Referent entspricht im einflussreichen Modell von Ogden / R ichards den Begriffen symbol – reference / thought – referent (vgl. Ogden, Charles Kay / Richards, Ivor Armstrong: The Meaning of Meaning. A Study of the Influence of Language upon Thought and of The Science of Symbolism. 10th edition. London 1966, 11).

Das Fremde – Annäherung an einen ›unzugänglichen‹ Begriff 

3.1.2.2.1

207

Die semantischen Dimensionen des Fremden

Begonnen werden soll mit denjenigen Dimensionen des Fremden, die dem Bereich der Semantik zugeordnet werden können, da sich viele der syntak­ tischen und pragmatischen Aspekte auf sie beziehen. Die im Folgenden identifizierten Bedeutungen des Fremden und die daraus abgeleiteten Fremdheitsbegriffe weisen in der Praxis zwar häufig enge Verknüpfungen oder sogar Überschneidungen auf, für eine angemessene Begriffsbestimmung ist ein klar differenzierender, analytischer Ansatz jedoch trotzdem unumgänglich. Anschließend werden die möglichen Referenten des Fremden vorgestellt und den zuvor identifizierten Bedeutungen zugeordnet. 3.1.2.2.1.1 Bedeutungen

Ausgehend von sprachlichen Überlegungen lassen sich die verschiedenen Bedeutungskomponenten des Begriffs des ›Fremden‹ näher bestimmen. Das polyseme deutsche Adjektiv ›fremd‹, auf dem die Substantivierung ›das Fremde‹ basiert, weist Waldenfels zufolge drei grundlegende Bedeutungen auf, die auf die Aspekte Ort, Besitz und Art referieren: Erstens ist fremd, was außerhalb des eigenen Bereichs angesiedelt ist oder von dort kommt, zweitens ist fremd, was einem anderen gehört, drittens, was fremdartig ist.88 Dies wird besonders deutlich bei dem Versuch, das deutsche Lexem ›fremd‹ in andere Sprachen zu übersetzen. Hinsichtlich der drei genannten Aspekte unterscheidet das Lateinische 1. externum, extraneum, peregrinum, alienum, 2. alienum und 3. insolitum, das Griechische differenziert zwischen ξένον zur Bezeichnung lokaler und qualitativer Fremdheit und ἀλλότριον zur Referenz auf Besitzverhältnisse. Im Französischen finden sich entsprechend 1. étranger, 2. autre (bzw. die Genitivkonstruktion d’autrui), 3. étrange, im Englischen 1. foreign, alien, 2. alien, 3. strange.89 Das Russische schließlich unterscheidet zwischen 1. чужой, иностранный, 2. чужой, принадлежащий другому und 3. чуждый, странный, необычный. Wie die Unterscheidung mehrerer Lexeme in anderen Sprachen zeigt, können die drei Bedeutungsvarianten des deutschen Adjektivs ›fremd‹ unabhängig voneinander auftreten; ebenso möglich ist aber ihre Kombination,90 wie z. B. im Fall der Fremdartigkeit dessen, der von einem fremden Ort kommt, des

88 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 20. 89 Vgl. Stagl, Justin: Grade der Fremdheit. In: Münkler, Herfried (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit. Berlin 1998, 85–114, hier 88; Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 26; Waldenfels: Topographie des Fremden, 20. 90 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 20.

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Das Fremde: theoretisch-methodische Grundlagen

›странный иностранец‹.91 Für die folgende Analyse sind im Wesentlichen der erste und der dritte Aspekt von Interesse, der zweite wird, sowohl im Theorieals auch im Analyseteil, weitgehend ausgeklammert. Mit den drei Bedeutungen sind zwei für das Fremde wesentliche Merkmale verbunden: Die auf den Ort und den Besitz bezogenen Bedeutungen verweisen auf die Bestimmung des Fremden durch seine Nichtzugehörigkeit (zu einer Gruppe oder einem Besitz92), die auf die Art bezogene auf seine Unvertrautheit.93 Die Unzugänglichkeit in Husserls oben zitierter Bestimmung referiert in der Originalverwendung auf die Unvertrautheit, aber kann auch auf die Nichtzugehörigkeit bezogen werden, denn: Im Falle der Nichtzugehörigkeit erfolgt eine exkludierende Grenzziehung94 zwischen dem Eigenen und dem Fremden entlang einer »emphatische[n] Demarkationslinie«.95 Entscheidend ist hierfür nicht das objektive Vorhandensein einer Nichtzugehörigkeit, sondern die Zuschreibung einer solchen. Die dabei hervorgehobene Distanz kann nicht nur räumlicher, sondern z. B. auch zeitlicher, soziokultureller oder moralischer Art sein.96 Das Resultat der Betonung einer Nichtzugehörigkeit von Personen ist soziale Fremdheit.97 Die in 91 Dt.: ›seltsamen Ausländers‹. Die beiden Lexeme sind etymologisch verwandt; auch ­strannyj (dt.: seltsam) geht auf strana (dt.: Land, Gegend)  bzw. das ältere storona (dt.: Seite, Land, Gegend) zurück (vgl. Fasmer, Maks: Ėtimologičeskij slovar’ russkogo jazyka. Tom III (Muza – Sjat). Moskva 1971, 771). Beide verweisen auf das Moment der Grenze zwischen Innen und Außen und die damit verbundene Unterscheidung von Zentrum und Peripherie: Der Ausländer stammt von der anderen Seite der Grenze, der Seltsame ist eine Randerscheinung, befindet sich an der Peripherie der Gesellschaft bzw. allgemein einer Gruppe. 92 In juristischer Terminologie handelt es sich hierbei um Eigentum, nicht um Besitz. 93 Vgl. Hogrebe, Wolfram: Die epistemische Bedeutung des Fremden. In: Wierlacher, Alois (Hg.): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. München 1993, 355–369, hier 358. Diese beiden Bedeutungen werden selbst in der Theorie zum Fremden häufig vermischt, unter anderem bei Waldenfels selbst, der trotz dieser von ihm selbst vorgenommenen Differenzierung teilweise allgemeine Aussagen zum Fremden trifft, die aber nur auf das unvertraute Fremde oder das nichtzugehörige Fremde zutreffen, oder bei Kristeva, die sich in weiten Teilen ihrer Studie auf Fremdheit im Sinne von Nichtzugehörigkeit bezieht, aber teilweise auch, ohne dies explizit kenntlich zu machen, Fremdheit im Sinne von Unvertrautheit behandelt (vgl. Kristeva: Étrangers à nous-mêmes). Obwohl die beiden Aspekte in der Praxis oftmals miteinander einhergehen, unterscheiden sie sich, wie aus den folgenden Überlegungen deutlich wird, in vielen Aspekten jedoch wesentlich voneinander und sind daher in der Theorie, soweit möglich, zu differenzieren. 94 Münkler, Herfried / Ladwig, Bernd: Vorwort. In: Münkler, Herfried (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit. Berlin 1998, 7–9, hier 8.  95 Hahn: Die soziale Konstruktion, 140. 96 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 15 f. 97 Vgl. ebd., 15. Auf nichtpersonale Referenten ist der Begriff der sozialen Fremdheit nur im übertragenen Sinne anwendbar; hier wird daher allgemein von Nichtzugehörigkeit gesprochen. Dagegen bezeichnet der Begriff der kulturellen Fremdheit (Unvertrautheit)

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der Praxis wohl wichtigste Ausprägung des soziologischen Fremdheitsbegriffs ist die der politischen Fremdheit, die denjenigen als fremd definiert, der nicht derselben Nationalität angehört wie man selbst.98 Diese politische Zugehörigkeit wird nach dem ius solis, dem Recht des Bodens, d. h. in Abhängigkeit vom Geburtsort, und / oder dem ius sanguinis, dem Recht des Blutes, d. h. in Abhängigkeit von der Abstammung, verliehen.99 Soziale Fremdheit kann in unterschiedlich starken Ausprägungen auftreten. Sie hat einen eingeschränkten Charakter, wenn sie von einer Zugehörigkeit auf höherer Ebene umrahmt wird. In diesem Fall kann die Nichtzugehörigkeit einer Person zu einer ethnischen oder religiösen Gruppe beispielsweise durch eine gemeinsame Staatsangehörigkeit abgemildert werden. Die umfassendste praxisrelevante Zugehörigkeit stellt in diesem Fall die Kategorie ›Mensch‹ dar, die etwa in moralischen Fragen nicht selten bemüht wird. Ist eine solche höhere Zugehörigkeit nicht mehr gegeben bzw. wird sie nicht zuerkannt, liegt eine umfassende, »definitive soziale Fremdheit«100 vor. Auf politischer Ebene kennzeichnet diese den Staatenlosen, auf rechtlicher den Vogelfreien.101 Der entgegengesetzte Grenzwert der »allumfassende[n] Zugehörigkeit«102 dagegen würde jede soziale Fremdheit aufheben. Dieser Fall ist jedoch nur theoretisch denkbar, da, wie zu Beginn des Theorieteils erwähnt, in der Praxis die Ausgrenzung eines Fremden für die Konstituierung des Eigenen unabdingbar ist, sodass stets Nichtzugehörigkeiten konstruiert und häufig auch strategisch eingesetzt werden. Fremdheit als Nichtzugehörigkeit verweist somit stets auch auf eine affektive Distanzierung vom Fremden. Eine kognitive Distanzierung kennzeichnet dagegen das Phänomen der lebensweltlichen Fremdheit, die auch die kulturelle Fremdheit miteinschließt.103

personale wie auch nichtpersonale Fremdheitsphänomene, da als Träger von Kultur nicht nur Menschen, sondern auch Gegenstände und immaterielle Entitäten fungieren. 98 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 24 f. 99 Vgl. Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 140. 100 Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 18; Hervorhebung im Original. 101 Vgl. Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, 90. 102 Ebd.; Hervorhebung im Original. 103 Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 25 f. Der Begriff der Lebenswelt geht zurück auf Husserl, der diese in eine Heimwelt und eine Fremdwelt (d. h. eine Heimwelt anderer) unterteilt (vgl. Husserl, Edmund: Beilage X. Welt und Wir. Menschliche und tierische Umwelt. In: Ders.: Husserliana. Gesammelte Werke. Bd. XV. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935. Herausgegeben von Iso Kern. Den Haag 1973, 174–185, hier 176; Husserl, Edmund: Beilage XII . Sprache, Urteilswahrheit, Umwelt (Heimwelt). Die Funktion der sprachlichen Mitteilung für die Konstitution der Umwelt. In: Ders.: Husserliana. Gesammelte Werke. Bd. XV. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935. Herausgegeben von Iso Kern. Den Haag 1973, 218–227, hier 221 f.; Husserl, Edmund: Nr. 27. Heim – fremd. Ich – die Andern, Wir. Die für mich primordiale Menschheit, meine WirMenschheit – andere Menschheiten – neues Wir. Entsprechende Relativität der gemein-

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In diesem Fall wird das zweite oben genannte Merkmal, das der Unvertrautheit des Fremden, hervorgehoben. Der oder das als fremd Bezeichnete ist un­vertraut und wird ggf. als fremdartig wahrgenommen. In diesem Fall ist eine Zuschreibung von Alienität also paradoxerweise vor allem eine Aussage über sich selbst, denn im Vordergrund steht die eigene Unvertrautheit mit dem Fremden. Die Unvertrautheit einer Person hat allerdings oftmals – aber nicht zwangsläufig – einen reziproken Charakter, sie betrifft also beide beteiligten Parteien: Unvertraut ist nicht nur der Fremde den Angehörigen der Eigengruppe bzw. dem Ich, sondern auch diese bzw. dieses dem Fremden. Hierbei lässt sich zwischen epistemischer und praktischer Unvertrautheit unterscheiden. Erstere bezieht sich auf ein Nichtwissen oder Nichtverstehen, d. h. auf ein fehlendes (explizites) ›knowing that‹ im Sinne Gilbert Ryles104 oder ›Etwas verstehen‹ im Sinne Heideggers.105 Letztere dagegen bezeichnet ein Nichtkönnen bzw. Nichtumgehenkönnen, d. h. ein unzureichendes (implizites) ›knowing how‹106 bzw. ›Sich-auf-etwas-verstehen‹.107 Praktische Fremdheit kann dabei aus epistemischer resultieren, beide Formen können aber auch getrennt voneinander auftreten. Dem Ich bzw. der Eigengruppe ist der bzw. das unvertraute Fremde in mehr oder weniger großem Ausmaß unbekannt und unverständlich. Dadurch wird seine Einordnung in bestehende, Orientierung schaffende Wissensstrukturen erschwert oder gar unmöglich.108 Unter der Prämisse, dass der Fremde sich an anderen Regeln und Normen orientiert als man selbst,109 bzw. dass das Fremde anderen Regeln unterliegt, besteht in der praktischen Interaktion mit ihm stets eine Unsicherheit hinsichtlich ihres Verlaufs und ihres Er­ gebnisses. Im Falle einer (nicht notwendigerweise vorliegenden) reziproken Unvertrautheit weiß der Fremde sich seinerseits in der ihm fremden Ordnung ebenfalls nicht zu verhalten, denn selbst wenn er ihre Regeln kennt, d. h. auf epistemischer Ebene mit ihnen vertraut ist, fehlt es ihm an Routine bei ihrer praktischen Umsetzung.110 Dies wiederum kann zu einer Rückkopplung mit samen Welt. In: Ders.: Husserliana. Gesammelte Werke. Bd. XV. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935. Herausgegeben von Iso Kern. Den Haag 1973, 428–437, hier 430–432; Husserl: Beilage XLVIII, 629). 104 Vgl. Ryle, Gilbert: The Concept of Mind. 60 th Anniversary Edition. London, New York 2009, 14. 105 Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. 11. Auflage. Tübingen 1967, 143; zit. nach Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, 91. 106 Vgl. Ryle: The Concept of Mind, 14. 107 Vgl. Münkler / Ladwig: Vorwort, 8; Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 33. 108 Vgl. Hogrebe: Die epistemische Bedeutung, 359. 109 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 25. 110 Vgl. Schütz, Alfred: Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Bd. II: Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag 1972, 53–69, hier 67; Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 33 f.

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der Unvertrautheit des Ich bzw. Wir mit dem Fremden führen, da sein fremdartiges Verhalten sowohl das Verstehen als auch den Umgang mit ihm zusätzlich verkompliziert. Analog zur Bedeutungsvariante der Nichtzugehörigkeit bewegt sich auch der Aspekt der Unvertrautheit des Fremden zwischen zwei entgegengesetzten extremen Grenzwerten: Eine »prinzipielle Unverständlichkeit«111 würde bedeuten, dass jeder Versuch, die Unvertrautheit durch Lernen aufzulösen, scheitern muss. Das bloße Verstehenwollen des Fremden unterstellt jedoch zwangsläufig, dass ein Verstehen grundsätzlich möglich ist, sodass dies in der Regel ein theoretisches Konzept bleibt. Im Gegensatz dazu steht die Annahme einer »erschöpfenden Verständlichkeit«112 des Fremden, die in jedem Fall lediglich eine theoretische Denkfigur darstellt,113 da das Fremde per definitionem nie gänzlich zugänglich (verständlich) sein kann. Allerdings kommt es wie im Falle der Zuschreibung einer Nichtzugehörigkeit auch hier bei der Konstruktion eines Fremden nicht auf das objektive Vorhandensein einer solchen Unvertrautheit an, sondern auf deren Feststellung. Somit ist die unterstellte grundlegende Unvertrautheit des Gegenübers zwar die notwendige, nicht aber die hinreichende Bedingung für lebensweltliche Fremdheit, da sie innerhalb der Lebenswelt durch die Unterstellung von Konsens und Gemeinsamkeiten unbewusst gehalten wird.114 Die Deutungsmacht obliegt dabei, der oben definierten Asymmetrie des Fremden entsprechend, in jedem Fall dem Ich bzw. dem Eigenkollektiv: Dieses entscheidet nicht nur, ob die – stets vorhandene – eigene epistemische und praktische Unvertrautheit mit dem Gegenüber als Merkmal für dessen Fremdheit interpretiert wird oder nicht, sondern im Falle einer fremden Person auch, ob deren (unterstelltes) Nichtwissen und Nichtkönnen entsprechend ausgelegt wird. Dies macht deutlich, dass die Hürde für die Zuschreibung von Alienität potentiell sehr niedrig ist, da uns letztlich alles und jeder in gewisser Weise fremd ist oder fremd werden kann115 und zudem die Norm und damit auch die Abweichung davon von der Eigengruppe bzw. dem Ich definiert wird. Gerade das Merkmal epistemischer Unvertrautheit wird oftmals bei der Konstruktion eines essentiellen Fremden benutzt, da diese aufgrund der eingangs genannten grundlegenden Unzugänglichkeit des Fremden nicht widerlegbar ist.116 Auch praktische Unvertrautheit kann strategisch eingesetzt werden, da ihr Grad nicht objektiv feststellbar ist, sodass dem personellen Fremden, selbst wenn 111 Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, 92; Hervorhebung im Original. 112 Ebd., Hervorhebung im Original. 113 Vgl. ebd. 114 Vgl. Hahn: Partizipative Identitäten, 141. 115 Vgl. ebd., 135. 116 Vgl. ebd., 136.

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er seit langer Zeit in einer Gemeinschaft lebt, von deren Mitgliedern die Bestätigung seiner Mitgliedschaft dauerhaft verweigert werden kann.117 In diesem Falle bildet also Unvertrautheit die Grundlage für Nichtzugehörigkeit. Derartige Verbindungen sind in der Realität häufig anzutreffen, da Zugehörigkeit in der Praxis häufig ein gewisses Maß an Wissen und Routine voraussetzt und umgekehrt Nichtzugehörigkeit nicht selten mit Unvertraut­heit einhergeht. Jedoch können, analog zu den Bedeutungsvarianten Ort, Besitz und Art, auch diese beiden Aspekte unabhängig voneinander auftreten, d. h. ein vertrautes Nichtzugehöriges ist in der Praxis ebenso möglich wie ein unvertrautes Zugehöriges.118 Wie bereits erwähnt, geht gerade der soziologische Fremdheitsbegriff (Nichtzugehörigkeit) von einem personalen Fremden aus, aber auch epistemische und praktische Unvertrautheit sind oftmals vorwiegend auf diesen ausgerichtet. Da jedoch auch nichtpersonale Referenten nicht nur möglich, sondern für diese Studie ebenso von großer Bedeutung sind, soll im Folgenden eine Vorstellung beider Gruppen erfolgen. 3.1.2.2.1.2 Referenten

Auch bei der genaueren Bestimmung der Referenten des Fremden kann ein Blick auf die sprachliche Ebene als Ausgangspunkt dienen. Das Adjektiv ›fremd‹ existiert im Deutschen in substantivierter Form in Verbindung mit allen drei Artikeln: Der Begriff ›der Fremde‹ bezeichnet im Regelfall einen Menschen, d. h. eine Personifikation des Fremden; ›die Fremde‹ referiert auf einen vom eigenen (Herkunfts-, Wohn-)Ort weit entfernten Raum, während ›das Fremde‹ die beiden ersten Bedeutungen und zudem alle weiteren denkbaren, belebten und unbelebten, konkreten und abstrakten Referenten des Zeichens Fremd mit einschließt. Die fremde Person oder »Figur des Fremden«119 steht im Fokus soziologischer Fremdheitsstudien. Diese kann innerhalb wie auch außerhalb der eigenen Ordnung auftreten und von innerhalb oder außerhalb dieser stammen. Eine für die ortsbasierte Fremdheit häufige Konstellation ist die eines Fremden, der von außerhalb in den eigenen Raum eintritt. Dies kann sowohl dauerhaft bzw. längerfristig als auch vorübergehend geschehen. Simmels bekannte soziologische Definition des Fremden »als der Wandernde, […] der heute kommt und morgen bleibt«120 betont neben dem Aspekt des Ortes auch 117 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 34. 118 Vgl. ebd., 26 u. 28. 119 Stichweh, Rudolf: Der Fremde – Zur Soziologie der Indifferenz. In: Münkler, Herfried (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit. Berlin 1998, 45–64, hier 46. 120 Simmel: Gesamtausgabe. Soziologie, 764.

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die damit verbundene verweigerte Zugehörigkeit des Fremden, Migranten, Zugewanderten: Dieser ist »der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.«121 Im Falle eines nur kurzfristigen Aufenthalts des Fremden in der Eigensphäre, gleichsam »als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht«,122 kommt ihm nicht selten die Rolle des Gastes zu. Dass dabei neben der Nichtzugehörigkeit auch das Moment der Unvertrautheit vorhanden ist, zeigt sich darin, dass die Aufnahme des Gastes bereits seit archaischen Zeiten durch die moralische Institution des Gastrechts geregelt ist.123 Denn dieses garantiert 121 Ebd. 122 Ebd. 123 Vgl. hierzu z. B. die unveränderliche Verbindlichkeit des Gesetzes der Gastfreundschaft im alten Griechenland (vgl. Fortes, Meyer: Fremde. In: Loycke, Almut (Hg.): Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins. Frankfurt a. M., New York 1992, 43–79, hier 66): »There never was a time […] to turn the stranger away.« (Jones, Walter J.: The Law and Legal Theory of the Greeks. An Introduction. Oxford 1956, 29) Der Fremde wie auch der Gastgeber stehen dabei unter dem Schutz von Zeus Xenios und Athena Xenia (vgl. Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 72). Die Vorstellung von Zeus in Verkleidung eines Fremden garantiert dabei das Funktionieren des Systems des Gastrechts durch moralische Verpflichtung (vgl. Pitt-Rivers, Julian: Das Gastrecht. In: Loycke, Almut (Hg.): Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins. Frankfurt a. M., New York 1992, 17–42, hier 26 f.). Bereits in dieser Zeit entsteht die Institution des proxenos, eines Einheimischen, der die Schirmherrschaft über eine Gemeinschaft von Fremden übernimmt und deren Rechte gegenüber der Stadt vertritt (vgl. Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 70–72), was ihnen aufgrund ihres »Status eines Statuslosen« (Pitt-Rivers: Das Gastrecht, 21) selbst nicht möglich ist. Eine Entsprechung hierzu, jedoch nicht kollektiver, sondern persönlicher Art, findet sich im römischen Recht in der Institution des Schutzherrn (lat.: patronus), der die Sicherheit seines Gastes (lat.: cliens) garantiert (vgl. Kaser, Max: Römisches Privatrecht. München 1983, 73; zit. nach Fortes: Fremde, 72; Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 71). Auch die jüdische und die christliche Religion sprechen klare Regeln zum Umgang mit dem Fremden innerhalb der eigenen Sphäre aus, vgl. etwa 4 Mose 15,15–16: »Ein und dieselbe Satzung gilt für euch wie für den Fremden, der sich bei euch aufhält; eine immerwährende für eure Geschlechterfolge geltende Satzung sei es: Vor dem Herrn gilt für den Fremden dasselbe wie für euch. Das gleiche Gesetz und das gleiche Recht gelte für euch und für den Fremden, der sich bei euch aufhält.« (Das Alte Testament. Nach den Grundtexten übersetzt und herausgegeben von Vinzenz Hamp und Meinrad Stenzel. Aschaffenburg 1963; vgl. dazu Loycke, Almut: Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins. In: Dies. (Hg.): Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins. Frankfurt a. M., New York 1992, 103–123, hier 108; ebenfalls in 2 Mose 12,49 u. 3 Mose 24,22; Das Alte Testament). An mehreren Stellen der Thora und der Bibel findet sich zudem eine Herleitung der Forderung nach Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden aus dem eigenen Fremdheitsstatus in der Vergangenheit, z. B.: »Wie ein Einheimischer von euch selbst soll euch der Fremdling gelten, der bei euch weilt; du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid ja auch Fremdlinge gewesen im Ägypterland […]« (3 Mose 19,34; Das Alte Testament; vgl. dazu Kristeva: Étrangers

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nicht nur die Sicherheit des Gastes und reziprok die des Gastgebers, sollte dieser sich seinerseits in die Fremde begeben,124 sondern es spiegelt in seinen klaren Regeln und Rollen vor allem auch die Notwendigkeit von Strukturen wider, auf die sich beide Seiten in ihrer Interaktion verlassen können, wodurch ein konfliktfreier Aufenthalt der gegenseitigen epistemischen und praktischen Fremdheit zum Trotz ermöglicht wird. Der prototypische Fremde schlechthin aber ist der Barbar. Der Begriff des Barbaren entsteht infolge der Perserkriege (Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr.) und der Peloponnesischen Kriege (Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr.), die die Bewohner Athens mit dem Fremden von außerhalb respektive innerhalb (d. h. aus einer fremden, hier feindlichen Stadt wie Sparta) des griechischen Raumes konfrontieren.125 Zur Unterscheidung dieser beiden Fremdheitsarten entwickelt sich der Begriff des barbaros (βάρβαρος) in Abgrenzung zum xenos (ξένος).126 Der Barbar verbleibt im Unterschied zum xenos, dem vorübergehend in der Stadt befindlichen Fremden, und zum zusätzlich zu unterscheidenden metoikos (μέτοικος), dem ortsansässigen Fremden,127 welcher gekommen und geblieben ist, generell außerhalb der Eigensphäre oder dringt in diese – zumindest im ursprünglichen Wortsinn – nur in kriegerischer Absicht ein. In Homers »Ilias« findet sich erstmals der Begriff ›barbarophon‹ (gr.: βαρβαρόφωνος)128 zur Beschreibung für die mit den Griechen im Krieg befindlichen Bewohner Kleinasiens.129 Dieser verweist lautmalerisch auf die unverständliche Sprache der Fremden, die für griechische Ohren wie ein unartikuliertes ›Bara-bara‹ oder ›Bla-bla‹ klingt.130 An dieser Stelle jedoch wird à nous-mêmes, 98; ebenfalls in 5 Mose 10,19 u. 2 Mose 22,20; Das Alte Testament). Im Mittelalter und noch in der Neuzeit stehen die christlichen Pilger (lat.: peregrini) unter dem Schutz der Kirche, sie finden in eigens errichteten xenodochia (dt.: Fremdenher­ bergen) Aufnahme (vgl. Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 127). 124 Vgl. Pitt-Rivers: Das Gastrecht, 27. Diese Reziprozität ist auch in der Polysemie des französischen Ausdrucks l’hôte verankert, der sowohl den Gastgeber als auch den Gast bezeichnet (vgl. ebd., 31); ebenso im ihm zugrundeliegenden lateinischen Lexem hospes, das gleichfalls den Gast bzw. Fremden und den Gastgeber meinen kann. 125 Vgl. Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 74. 126 Vgl. Román, Ediberto: Citizenship and Its Exclusions: A Classical, Constitutional, and Critical Race Critique. New York, London 2010, 19. 127 Vgl. Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 73. Dem entspricht im Römischen Reich der dem civis (dt.: Bürger) bzw. civis romanus (dt.: römischen Bürger) entgegengesetzte Begriff des peregrinus (dt.: Pilger, Fremder) (vgl. ebd., 129). 128 2. Gesang, Vers 867; vgl. Homer: Ilias. Griechisch und deutsch. Übertragen von Hans Rupé. Düsseldorf, Zürich 2004, 84. 129 Baslez, Marie-Françoise: L’Étranger dans la Grèce antique. Paris 1984, 184; zit. nach Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 75. 130 Vgl. Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 75. Vgl. hierzu auch das Lexem barbara (ब र् ब र), ›stammelnd‹, aus dem Sanskrit (vgl. Monier-Williams, Monier: A Sanskrit-English-Dic­ tionary. Etymologically and philologically arranged. With special reference to cognate Indo-European languages. Oxford 1964, 722).

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eine Umkehrung vollzogen: Der Akzent wird von der in dem Begriff zum Ausdruck kommenden Unvertrautheit der Griechen mit der fremden Sprache auf die umgekehrte Unvertrautheit der Barbaren mit der eigenen Sprache verschoben. In der Folge bezeichnet der Ausdruck ›Barbar‹ denjenigen, der die griechische, d. h. die eigene Sprache nicht oder nur fehlerhaft spricht.131 Die aus der Unvertrautheit resultierende Nichtzugehörigkeit des Barbaren zur Eigengruppe der Griechen wird hier an ein (potentiell) objektiv beurteilbares Merkmal gebunden und beinhaltet grundsätzlich kein Werturteil.132 Neben dieser ersten Bedeutung existiert jedoch von Beginn an eine zweite, keineswegs wertfreie. Dabei wird der Barbar in einem Akt der Monopolisierung des logos133 mit dem Zivilisierten kontrastiert, d. h. als ›Wilder‹ aufgefasst, dessen Handlungen von Gewalt, Willkür und Chaos geprägt sind.134 In dem Begriffspaar Grieche – Barbar verschmilzt somit ein grundsätzlich wertfreier und relativer mit einem absoluten moralischen Gegensatz,135 wobei im zweiten Fall die Beziehung als »Nicht-Beziehung«136 aufzufassen ist. Seit dem Aufkommen des modernen Nationalismus Ende des 18. Jahrhunderts tritt das personifizierte Fremde (Nichtzugehörige) häufig in der Person des Ausländers auf.137 Vor allem durch nationale Fremdheit (aber nicht nur diese) definierte Individuen und Gruppen werden durch die Interpreten nicht selten mit Stereotypen (genauer: Heterostereotypen) belegt. Das 20. Jahrhundert schließlich identifiziert uns alle als Fremde; Fremdheit – auch und vor allem im Sinne von epistemologischer Unvertrautheit – wird endgültig zum konstituierenden Element der conditio humana. In diesem Sinne nennt Muschg Menschsein und Fremdsein »fast eine Tautologie«.138 131 Vgl. Todorov: Angst vor den Barbaren, 28. Der Begriff bezeichnet noch im 5. Jahrhundert n. Chr. eine Person mit schwerfälliger oder fehlerhafter Sprechweise; dass diese nun sowohl ein Grieche als auch ein Nicht-Grieche sein kann (vgl. Kristeva: Étrangers à nousmêmes, 75), zeigt, dass der Ausdruck in dieser Verwendungsweise im Laufe der Zeit eine Ablösung von dem ursprünglichen Gegensatz Grieche-Barbar erfahren hat. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die Reaktion Kolumbus’ auf die Ureinwohner Amerikas, denen er nicht nur die Fähigkeit, seine eigene Sprache zu sprechen, abspricht, sondern sogar das Sprechen überhaupt: Er möchte eine Gruppe von Indianern nach Spanien bringen, »pour qu’ils apprennent à parler« (zit. nach Todorov, Tzvetan: La conquête de l’Amérique. La question de l’autre. Paris 1982, 36; im altspanischen Original: »para que deprendan fablar«; Colón, Cristóbal: Los cuatro viajes del almirante y su testamento. Edición y prólogo de Ignacio B. Anzoátegui. Buenos Aires u. a. 1946, 31. Dt.: »damit sie lernen zu sprechen«). 132 Vgl. Todorov: Angst vor den Barbaren, 29. 133 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 22. 134 Vgl. Todorov: Angst vor den Barbaren, 29 f. 135 Vgl. ebd., 32. 136 Simmel: Gesamtausgabe. Soziologie, 770. 137 Vgl. Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 255 f. 138 Muschg, Adolf: Die Erfahrung von Fremdsein. München 1987, 16.

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Neben Menschen weist das Zeichen Fremdes eine Reihe weiterer möglicher Referenten auf. Ebenfalls konkrete Verkörperungen des Fremden sind belebte Entitäten wie Tiere und Pflanzen, aber auch unbelebte, d. h. Gegenstände. Sie können in allen drei Bedeutungen des Wortes fremd sein, also von einem anderen Ort stammen, im Besitz eines anderen oder fremdartig sein. Die Fremde, d. h. der fremde Raum im geographischen Sinne, der vor allem im Kontext der Reiseliteratur verhandelt wird, stellt ein Phänomen mit sowohl konkreten als auch abstrakten Eigenschaften dar. Zum einen handelt es sich hierbei um ein greifbares, oft sogar vermessbares Stück Land. Zum anderen ist dieser Raum jedoch stets mit Bedeutungen und Vorstellungen aufgeladen (s. zum Raumbegriff Kap. 3.2). Der fremde Raum verweist logischerweise in erster Linie auf das Fremdheitsmerkmal des Ortes, aber auch auf Qualität und Besitz. Fremde Räume treten jedoch nicht nur in der Ferne auf; auch das Nachbarhaus, auf einem anderen Grundstück gelegen, kann nicht nur in fremdem Besitz, sondern auch unvertraut sein. Da das deiktische Zentrum neben dem Ich und Hier auch das Jetzt als Referenzpunkt beinhaltet, kann das Fremde nicht nur auf der räumlichen, sondern auch auf der zeitlichen Ebene lokalisiert werden. Dabei ist nicht nur die Vergangenheit fremd – sie befindet sich an einem metaphorischen fremden Ort und ist zudem häufig von fremder Art –, sondern in noch wesentlicherem Maße auch die Zukunft, die uns nicht nur unverständlich, sondern fast gänzlich unzugänglich ist. Zeitliche Fremdheit kann auch die Form einer Störung der chronologischen Ordnung annehmen. Weitere abstrakte Referenten des Zeichens Fremdes treten meist, allerdings bei Weitem nicht ausschließlich, in Verbindung mit einem Menschen auf, der dadurch häufig selbst als ›fremd‹ wahrgenommen wird. Fremdes Aussehen etwa verweist auf das Bedeutungsmerkmal ›Art‹, tritt aber auch häufig in Verbindung mit dem Merkmal ›Ort‹ auf. Das Fremde kann sich auch in einer Handlung, einem Verhalten oder einem Zustand manifestieren; hier liegt der Fokus klar auf dem Aspekt der Art, d. h. der Unvertrautheit und Unverständlichkeit, wie sie z. B. im Zusammenhang mit unterschiedlichen Kulturen, aber durchaus auch innerhalb der Eigensphäre und sogar in Bezug auf das eigene Ich auftritt. Ebenfalls unvertraut sind die Fremdheit von Sprache und verbaler wie nonverbaler Kommunikation sowie – nicht zwingend menschliche Beteiligung erfordernde – fremde Ereignisse. Schließlich können auch Gedanken fremd sein, sowohl im Sinne einer Unvertrautheit als auch im Sinne eines Ursprungs in einem fremden Geist und daraus resultierend eines fremden ›Besitzes‹ (d. h. geistiges Eigentum). Auch hier ist ebenfalls eine befremdliche Wirkung eigener Gedanken möglich. All diese Referenten treten nicht nur in der Wirklichkeit, sondern auch in der Literatur auf. Wie die spätere Analyse, für die die hier vorgenommene Klassifikation als Orientierung dienen soll, zeigen wird, weist das Werk Alek-

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sandr Grins nicht nur eine Vielzahl der vorgestellten Referenten des Fremden auf, sondern spiegelt dieses zudem durch kommunikative Fremdheit auf der Ebene der Narration wider. 3.1.2.2.2 Die syntaktischen Dimensionen des Fremden

Im Folgenden sollen zwei Aspekte nähere Betrachtung finden, die die Beziehungen zwischen den verschiedenen Ausprägungen des Zeichens Fremdes beschreiben. Der erste Aspekt betrifft die unterschiedlichen Grade des Fremden bei synchroner Betrachtungsweise, d. h. die Intensität von Fremdes1 im Verhältnis zu Fremdes2 usw. Dies bildet die Grundlage für den zweiten Aspekt, die Dynamiken von Fremdheit, die auf einer diachronen Betrachtungsweise beruhen. Hierbei wird die Relation einer einzigen Ausprägung des Zeichens zu einem früheren mit der zu einem späteren Zeitpunkt betrachtet, d. h. die Entwicklung des Fremdheitsgrads von Fremdes1 zu Fremdes1’. 3.1.2.2.2.1 Grade

Der Grad des Fremden lässt sich an seiner Be-fremd-lichkeit messen, also daran, wie sehr es die eigene Ordnung, die der individuellen oder kollektiven Identität zugrunde liegt, stört oder erschüttert. Zwischen Fremdheitserfahrungen, die kaum als solche wahrgenommen werden,139 und solchen, die das Eigene in seinem Wesen ernsthaft bedrohen, liegt eine große Bandbreite an Abstufungen. Entscheidend für die Intensität des Fremden ist, ob eine Übersetzung (des Unvertrauten)140 bzw. eine Eingliederung (des Nichtzugehörigen) in die eigene Ordnung für möglich gehalten wird. Der Grad der Fremdheit ist somit von einem subjektiv empfundenen Abstand zwischen dem Eigenen und dem Fremden abhängig, nicht von ihrer tatsächlichen Distanz.141 Der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels unterscheidet in seinen »Studien zur Phänomenologie des Fremden« drei große Steigerungsgrade von Fremdheit: Als alltägliche bzw. normale Fremdheit bezeichnet er eine, »die innerhalb der jeweiligen Ordnung verbleibt«142 und daher zumindest teilweise verständlich ist. Außerhalb der eigenen Ordnung ist die strukturelle Fremdheit angesiedelt. Ihre Übersetzbarkeit ist stark eingeschränkt und geht stets mit Brüchen einher; sie bleibt daher oft unverständlich-rätselhaft und führt fast zwangsläufig zu Missverständnissen.143 Den höchsten Steigerungsgrad stellt 139 Vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 86. 140 Vgl. Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 29. 141 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 32. 142 Waldenfels: Topographie des Fremden, 35. 143 Vgl. ebd., 36.

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die radikale Fremdheit dar, die außerhalb jeglicher Ordnung steht und sich jedem Übersetzungsversuch widersetzt.144 Obwohl Waldenfels dies nicht explizit benennt, bezieht er sich in seiner Gradeinteilung auf das qualitativ Fremde, das sich durch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Unvertrautheit, hier v. a. epistemischer Art, auszeichnet. Allerdings lässt sich das Modell auch im Sinne einer Steigerung des Ausmaßes der Nichtzugehörigkeit von einer Marginalisierung innerhalb der eigenen Ordnung über die Ausgrenzung aus der eigenen bis hin zur Ausgrenzung aus jeglicher Ordnung interpretieren. Die Existenz von alltäglicher Fremdheit basiert auf der Annahme, dass jede Ordnung Binnenfremdheiten enthält, da sie sich in zahlreiche Sub-Ordnungen gliedert.145 Letztlich liegt das Vorhandensein von Fremdheit innerhalb der eigenen Ordnung bereits in deren Wesen begründet, da jede Ordnung und deren Versprachlichung durch Begriffe ein »Gleichsetzen des Nicht-Gleichen«146 bedeutet, das in dieser Ordnung zusammengefasst und strukturiert wird. Eine Konfrontation mit einem alltäglichen Fremden im qualitativen Sinn verbleibt damit innerhalb des eigenen Sinnhorizonts,147 sodass es trotz seiner Unvertrautheit mit Hilfe der bekannten Codes bis zu einem gewissen Grad dechiffrierbar und damit anschlussfähig ist. Nur eine geringe Fremdheit weisen z. B. Städte oder Gebäude innerhalb der Eigensphäre, in denen man zuvor noch nie war, fremde Handschriften oder Nachbarn und Passanten auf, mit denen eine alltägliche Verständigung möglich ist, obwohl sie uns nicht vertraut sind.148 Auch sektorale Fremdheiten verschiedener Berufsgruppen, Subkulturen etc. lassen sich diesem Fremdheitsgrad zuordnen.149 Aufgrund der weniger starken Ausprägung von Binnengrenzen im Vergleich zu Außengrenzen ist auch das durch Nichtzugehörigkeit gekennzeichnete alltägliche Fremde vergleichsweise einfach in das Eigene einzugliedern und besitzt nur ein relativ geringes Irritationspotential. 144 Vgl. ebd., 36 f. 145 Vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 86. Hierbei lassen sich segmentäre, funktionale (vgl. Hahn: Partizipative Identitäten, 118) sowie hierarchische Differenzierungen (vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 34) unterscheiden. 146 Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873. München u. a. 1999, 873–890, hier 880. 147 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 36. 148 Vgl. ebd., 35. Die hier anklingende große Bedeutung einer gelingenden Kommunikation für den Grad der Fremdheit verweist auf den oben vorgestellten Begriff des Barbaren zurück, dessen ursprüngliches Merkmal sein Nichtbeherrschen der eigenen, griechischen Sprache darstellt, sodass eine Verständigung mit ihm stark erschwert, wenn nicht sogar unmöglich ist. 149 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 22.

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In seiner alltäglichen Ausprägung nimmt das Fremde die Gestalt des Anderen (russ.: drugoj bzw. drugoe) an, dessen Fremdheit die eigene Ordnung kaum erschüttert. Die Fremdheit wird in der Interaktion zwar (zumindest unbewusst) wahrgenommen, jedoch meist als so gering empfunden, dass sie von untergeordneter Bedeutung ist. Die Alienität verbleibt hier auf der Stufe der Alterität. Der geringe Fremdheitsgrad des personalen Anderen stellt die Voraussetzung dafür dar, dass sich das Individuum im Zuge der Konstruktion der Ich-Identität, die stets kollektive Teilidentitäten enthält (s. Kap. 3.1.1), mit diesem, in der Terminologie von George Mead, »generalized other«150 identifizieren kann. Neben den in irgendeiner Form unvertrauten oder nichtzugehörigen Ein­ heimischen kann als Personifikation des alltäglichen Fremden auch der Fremde in Simmels Verständnis als der dagebliebene Wandernde – z. B. der metoikos, peregrinus, ger, Jude oder Migrant – auftreten.151 Diese Figuren gehören der eigenen Ordnung an und sind mit ihrem Code (zumindest teilweise) vertraut. Dennoch sind sie nicht völlig Teil der Eigengruppe und bewahren stets ein Residuum an Unvertrautheit. In der »Zugehörigkeit in der Nichtzugehörigkeit«152 dieser eigenen Fremden, in der Vertrautheit ihrer Unvertrautheit verbindet sich alltägliche mit struktureller Fremdheit. Stärkere Intensität als die alltägliche Fremdheit weist die außerhalb der eigenen Ordnung angesiedelte strukturelle Fremdheit auf, die jedoch trotzdem noch Teil einer (nur eben fremden) Ordnung ist. In der Terminologie Husserls gehört die strukturelle Fremdheit der Fremdwelt an, während alltägliche Fremdheit eine Erscheinung der Heimwelt bzw. Nahwelt ist.153 Strukturelle Fremdheit besitzt den »Charakter des Fremdartigen«154 und kennzeichnet nicht nur eine Person aus einem anderen Land oder Kulturkreis,155 etwa den 150 Mead: Mind, Self and Society, 154. 151 Vgl. Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 95. 152 Waldenfels: Topographie des Fremden, 39. 153 Vgl. Husserl, Edmund: Beilage XI . Heimwelt, fremde Welt und ›die‹ Welt. In: Ders.: Husserliana. Gesammelte Werke. Bd. XV. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935. Herausgegeben von Iso Kern. Den Haag 1973, 214–218; Husserl: Nr. 27. Heim – fremd, 428–431; Husserl: Beilage XLVIII, 629. Vgl. dazu Waldenfels: Topographie des Fremden, 36. 154 Waldenfels: Topographie des Fremden, 78. 155 Stagl merkt an, dass der Begriff des Fremden erst in neuerer Zeit zur Bezeichnung von Personen aus ›ganz fremden‹ Kulturkreisen verwendet wird. Diese wurden stattdessen ›Wilde‹, ›Wildfremde‹ oder sogar ›Menschenfresser‹ genannt (vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 87). Die enge Assoziation des Fremden mit dem Wilden belegt der Hinweis im »Deutschen Wörterbuch« der Brüder Grimm, dass es sich bei dem Begriff ›wildfremd‹ um einen Pleonasmus handelt, »da wild auch ›fremd‹ bedeutet« (Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Vierzehnter Band. II . Abteilung: Wilb – Ysop. Leipzig 1960, Sp. 81; Hervorhebung im Original).

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Barbaren, sondern auch die mit ihm verknüpfte unverständliche Sprache, das fremde religiöse oder säkulare Ritual oder auch einen Gegenstand oder Gedanken aus der Vergangenheit, der heute nicht mehr zugänglich ist.156 Strukturelle Fremdheit ist eng verknüpft mit interkultureller Fremdheit,157 da die dem Modell zugrundeliegenden Ordnungen oft kultureller Art sind, und bezieht sich somit häufig auf das Merkmal der Unvertrautheit. Sie ist aber dementsprechend nicht auf diese beschränkt, sondern kann z. B. auch auf politische Ordnungen und damit in der Regel Nichtzugehörigkeiten referieren.158 Strukturelle Alterität konfrontiert uns mit der Begrenztheit der eigenen Ordnung und stellt in diesem Sinne eine Kontingenzerfahrung dar.159 Die durch sie ausgelösten Irritationen des Eigenen sind weit größer als im Falle der alltäglichen Fremdheit, ebenso wie, bei Unvertrautheit, die aufgrund der divergenten Codes notwendigerweise auftretenden Missverständnisse, die in kritischen Situationen sogar tödlich enden können.160 Nichtsdestotrotz handelt es sich bei struktureller wie auch bei alltäglicher Fremdheit um eine bloß relative, standortbezogene Alienität, die in der Existenz einer Ordnung aufgehoben ist. Strukturelle Fremdheit ist lediglich eine »Fremdheit für uns«,161 da sie einer anderen Ordnung angehört, für deren Mitglieder diese Fremdheit nicht besteht. Sie ist somit potentiell überwindbar, sei es durch Lernen, d. h. Überwindung der Unvertrautheit,162 oder durch die Aufhebung der Nichtzugehörigkeit. Analog dazu ließe sich alltägliche Fremdheit als ›Fremdheit für mich‹ bezeichnen, da sie von anderen Mitgliedern meiner Gruppe nicht (zwangsläufig) empfunden wird. Diesen beiden Formen relativer Fremdheit steht die letzte Steigerungsstufe, die radikale Fremdheit, gegenüber. Das radikal Fremde lässt sich weder in eine über- noch nebengeordnete Ordnung einbetten und konfrontiert uns auf diese Weise mit einem hors ­d ’ordre,163 das dem Konzept der Ordnung an sich voraus- und über jeden Verstehensho-

156 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 36. 157 Analog dazu äußert sich alltägliche Fremdheit häufig, aber nicht ausschließlich, in Form von intrakultureller Fremdheit. 158 Münkler / Ladwig setzen strukturelle Fremdheit nach Waldenfels mit kultureller Fremdheit gleich (vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 30). Dies würde jedoch bedeuten, dass jede Ordnung eine kulturelle Ordnung ist, und z. B. natürliche Ordnungen ausschließen. Allerdings sind in der vorliegenden Studie tatsächlich im Wesentlichen kulturelle Ordnungen von Interesse. 159 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 30. 160 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 36. 161 Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 28. 162 Vgl. ebd. 163 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 115; Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 28.

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rizont hinausgeht.164 Eine Konfrontation mit ihm unterminiert somit nicht nur eine bestimmte Interpretationsweise, sondern sogar die Möglichkeit einer Interpretation an sich.165 Der radikale Charakter dieser Form der Alienität basiert auf der Infragestellung der Voraussetzungen von Orientierung überhaupt, aus der eine Erschütterung jeglicher Gewissheiten und damit des Seins als solches resultiert.166 Realität ist damit akut von Derealisierung bedroht, Personalität von Depersonalisierung.167 Beide Motive sind in der Prosa Aleksandr Grins von großer Bedeutung. Radikale Fremdheit nimmt die Form von Grenz- oder Hyperphänomenen wie Schlaf und Rausch, Geburt und Tod oder Eros an, »die den Gang der Dinge, auch die Raum- und Zeitordnung durchbrechen«168 oder tritt in Form von Umbrucherfahrungen wie Revolution, Sezession oder Konversion auf, in denen eine Transformation oder Auflösung von Ordnungen ohne die abmildernde Kontrolle einer übergreifenden Ordnung vonstattengeht.169 Des Weiteren sind, gerade im Kontext der Literatur, Erscheinungen zu nennen, welche im Widerspruch zu Naturgesetzen und anderen (vermeintlich) allgemeingültigen Regeln und Normen stehen, jenseits derer folglich keine Ordnung existieren kann, etwa übernatürliche Phänomene wie Magie, Fabelwesen etc. Der abstrakte Inbegriff des radikal Fremden schließlich ist das Amorphe, das jenseits jeder Struktur steht.170 Ein im Außerhalb jeder Ordnung angesiedeltes radikal Fremdes setzt deren Begrenztheit voraus. Unter der Bedingung einer allumfassenden Ordnung dagegen, d. h. eines mythischen Rahmens bzw. kosmischen Ordnungs­gefüges wie in der klassischen griechischen Kultur, ist jedes Fremde nur relativ (d. h. meist strukturell) fremd.171 Auch der westliche Logozentrismus relativiert als »Glaube an eine integrative Tiefengrammatik der Welt«172 jede Nichtzugehörigkeit und Unvertrautheit und macht sie potentiell überwindbar.

164 Waldenfels betont an dieser Stelle, dass es sich hierbei nicht um eine absolute oder totale Fremdheit handelt, da jedes ›Außer-ordentliche‹ auf die Ordnungen, über die es hinausgeht, rückbezogen bleibt (vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 37). 165 Vgl. ebd., 36 f. Vgl. dazu Geertz’ Begriff der »Interpretationsmöglichkeit« (Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übersetzt von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann. Frankfurt a. M. 1983, 61). 166 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 30; Waldenfels: Topographie des Fremden, 16. 167 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 43. 168 Ebd., 37; vgl. auch ebd., 78. 169 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 30; Waldenfels: Topographie des Fremden, 37. 170 Vgl. Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 147. 171 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 16. 172 Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 28.

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Die Geschlossenheit und Totalität der ›klassischen‹, d. h. vormodernen, Ordnung173 erleidet jedoch seit dem Mittelalter einen zunehmenden »Ordnungsschwund«.174 Mit der Aufklärung schließlich verliert der logos endgültig seine Rolle als maßgebliche Instanz einer allumfassenden Ordnung. Die bislang unterstellte Identität der menschlichen Vernunft mit der Weltvernunft wird zweifelhaft, was eine potentielle Unübersetzbarkeit des Fremden in die eigenen Begriffe175 und somit eine Begrenztheit der eigenen Ordnung impliziert.176 Aus dem Verlust des logos als verbindliche Interpretationsgrundlage resultiert ein Bewusstsein von der Kontingenz aller Ordnungen und ihrer Grenzen.177 Hiervon ist auch das neuzeitliche Subjekt selbst betroffen, das seine Stellung im Zentrum der Ordnung einbüßt und zugleich das Fremde in sich selbst (s. hierzu Kap. 4.4) lokalisiert.178 Diese Entwicklungen bereiten den Boden für den Auftritt des radikal Fremden, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts endgültig in den Kern des Denkens und des Eigenen eindringt.179 In diesem Sinne findet auf der Makroebene der abendländischen Geschichte eine Steigerung von einer relativen (alltäglichen oder strukturellen) hin zu einer radikalen Fremdheit statt, ohne dass Erstere dabei verschwunden wäre.180 3.1.2.2.2.2 Dynamiken

Auch auf der Mikroebene, d. h. im Hinblick auf eine konkrete Fremdheitsbeziehung, lassen sich im Zeitverlauf oftmals Dynamiken des Fremden, im Sinne einer Veränderung des Fremdheitsgrads, feststellen. Dabei muss es sich nicht zwingend um Übergänge zwischen den soeben vorgestellten drei großen Steigerungsgraden handeln, sondern kann auch kleinere Abstufungen innerhalb dieser betreffen. Die Entwicklung kann sich in zwei entgegengesetzte Richtungen vollziehen, als Steigerung und Abschwächung, wobei aufgrund des situativen Charakters des Fremden bereits eine kleine Veränderung des Kontextes eine Umkeh-

173 Vgl. Waldenfels: Stachel des Fremden, 17 f. 174 Blumenberg, Hans: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt a. M. 1974, 158; zit. nach Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 29. 175 Vgl. ebd., 85. 176 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 10. 177 Vgl. Waldenfels: Stachel des Fremden, 19; Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, 193. 178 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 10 f.; Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 85. 179 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 17. 180 Auch die relative, v. a. strukturelle Fremdheit erfährt aus historischer Perspektive eine Steigerung, als im 18. Jahrhundert die Einsicht in die Unaufhebbarkeit der Differenzen zwischen Kulturen und Epochen aufkommt (vgl. Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 85).

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rung der Richtung auslösen kann.181 Im ersten Fall lässt sich der Prozess als Entfremdung im üblichen Wortsinn eines Fremd(er)-Werdens bezeichnen (lat.: alienare), im zweiten Fall als Ent-fremdung im Sinne eines Weniger- /  Gar-nicht-mehr-fremd-Werdens. In der literarischen Darstellung von Fremdheit werden die Dynamiken des Fremden oftmals im Verlauf der Handlung deutlich. Bei dieser Dimension des Fremden ist die Differenzierung zwischen den Aspekten Nichtzugehörigkeit und Unvertrautheit von besonderer Relevanz, weil die Dynamik dabei von je unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. Nichtzugehörigkeit entwickelt sich in Abhängigkeit von den Parametern Inklusion bzw. Exklusion, Unvertrautheit dagegen von Lernen und Verstehen bzw. Verlernen und Vergessen.182 In beiden Fällen kann dies sowohl vollständig als auch partiell geschehen. Eine Zunahme von Fremdheit als Nichtzugehörigkeit innerhalb einer Ordnung erfolgt durch den Prozess der Marginalisierung, während das Ausstoßen ein zunächst zugehöriges Element außerhalb der Grenzen der Ordnung versetzt. Umgekehrt kann etwas der Ordnung Fremdes eine Inklusion erfahren, was im Falle von Personen häufig von einem Aufnahmeritual (frz.: rite de passage)183 begleitet und durch dieses markiert wird. Ebenso möglich ist die Überwindung von Binnengrenzen in Richtung des Zentrums, d. h. als Verstärkung einer bereits vorhandenen Zugehörigkeit. Die Steigerung von Fremdheit als Unvertrautheit geht notwendigerweise mit der Enttäuschung einer bestimmten (Un-)Vertrautheitserwartung einher. Wird dem Referenten nämlich von vornherein ein hoher Fremdheitsgrad unterstellt, erzeugt eine entsprechend befremdende Interaktion mit ihm keine Veränderung im Hinblick auf diesen. Analog dazu setzt die Abschwächung dieser Art von Alienität die (positive) Enttäuschung einer unterstellten Nichtvertrautheit voraus. Diese Nichterfüllung einer erwarteten Unvertrautheit lässt sich durch (Kennen-)Lernen, d. h. ein An-Eignen auf epistemischer wie praktischer Ebene aktiv beeinflussen. Das hierdurch zu erlangende Verständnis basiert jedoch auf der Prämisse, dass das Fremde prinzipiell verstehbar ist –184 was im Falle 181 Vgl. Nieswand, Boris / Vogel, Ulrich: Dimensionen der Fremdheit. Eine empirische Analyse anhand qualitativer Interviews mit Angehörigen einer Migrantengruppe. In: Soziale Probleme. Zeitschrift für soziale Probleme und soziale Kontrolle 11/1–2 (2000), 140–176. So kann beispielsweise ein in eine Gemeinschaft aufgenommener Fremder, dessen soziale wie lebensweltliche Fremdheit weitestgehend verschwunden ist, aus dieser jederzeit wieder ausgestoßen werden, da er kein richtiger ›Socius‹, sondern nur ein ›Assoziierter‹ ist. Sein vergangener Status als Fremder macht ihn verdächtig, sich in der Zukunft wieder von der Gemeinschaft zu lösen, sodass er nicht vollkommen vertrauenswürdig und damit jederzeit von einem Ausschluss bedroht ist (vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 90). 182 Vgl. Münkler / Ladwig: Vorwort, 8. 183 Vgl. Gennep, Arnold van: The Rites of Passage. London 1960. 184 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 31 f.

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des radikal Fremden nicht gegeben ist, sodass dieses nicht oder nur in äußerst eingeschränktem Maße abgemildert werden kann.185 Die Enttäuschung einer Vertrautheitserwartung lässt sich dagegen kaum beeinflussen: Die Prozesse des Vergessens und Verlernens sind weitestgehend passiver Art (mit Ausnahme etwa eines aktiven Verdrängens). So existieren beispielsweise innerhalb jeder Ordnung Elemente, die einst vertraut waren, diesen Status durch Vergessen aber verloren haben.186 Eine andere Variante der nichterfüllten Vertrautheitserwartung stellt das Phänomen der ›Entfremdung‹ bei Hegel (mit ambivalenter Bedeutung)187 und Marx (mit negativer Bedeutung)188 dar.189 Auch die Zunahme einer Unvertrautheit durch Konfrontation mit neuen Eigenschaften eines eigentlich Vertrauten liegt nicht im eigenen Einflussbereich. Diese unvertrauten Eigenschaften werden häufig erst durch eine große Vertrautheit, etwa mit einem anderen Menschen, aber z. B. auch mit einem Wissensgebiet, entdeckt. Im Falle einer solchen »sekundären Fremdheit«190 resultiert die Steigerung des Fremdheitsgrades also paradoxerweise aus einer ihr vorausgehenden starken Abschwächung desselben, sodass die Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfahrung hier besonders hoch ist. Je größer diese Kluft ausfällt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für eine durch diese Erfahrung ausgelöste Krise des Eigenen. 185 Wie sehr die Unterstellung einer Kommensurabilität des Eigenen mit dem Fremden den empfundenen Fremdheitsgrad beeinflusst, zeigt sich eindrücklich am Beispiel der Kommunikation Christoph Kolumbus’ mit den amerikanischen Ureinwohnern. Da den beiden Parteien keine gemeinsame Sprache zur Verfügung steht – die Bedeutung von Sprache für die Zuschreibung von Fremdheit wurde bereits erwähnt  –, ist in diesem Fall ein hoher Grad an Fremdheit zu erwarten. Kolumbus jedoch besteht in zahlreichen Situationen darauf, dass die Worte der Eingeborenen Ähnlichkeiten zum Spanischen aufweisen und ihre Äußerungen daher verständlich sind. Tatsächlich ›versteht‹ Kolumbus lediglich das, was er unter anderem aus der Lektüre von Marco Polos Reisebeschreibungen bereits weiß – und was oft ganz und gar nicht dem entspricht, was die indigenen ›Gesprächs‹partner eigentlich gesagt haben (vgl. Todorov: La conquête, 36 f.). Durch diese Herstellung von Übereinstimmungen, wo keine sind, kommt es jedoch zu einer – ja stets subjektiv empfundenen – Verringerung des Fremdheitsgrades, obwohl aufgrund der faktisch gescheiterten Kommunikation von einer Verstärkung oder zumindest Beibehaltung des ursprünglichen hohen Levels auszugehen gewesen wäre. 186 Vgl. Waldenfels: Phänomenologie des Eigenen, 73. Zur Verschränkung von Erinnerung und Vergessen vgl. das gleichnamige Kapitel in A. Assmanns »Formen des Vergessens« (vgl. Assmann, Aleida: Formen des Vergessens. 3. Auflage. Göttingen 2017, 11–21). 187 Vgl. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Werke. Bd. 3. Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M. 1986, 277 u. 359–364. 188 Vgl. Marx, Karl: I. Manuskript. In: Ders.: Texte zu Methode und Praxis  II . Pariser Manuskripte 1844. Mit einem Essay ›Zum Verständnis der Texte‹, Erläuterungen und Bibliographie herausgegeben von Günther Hillmann. Reinbek b. Hamburg 1969, 10–63, hier 50–63. 189 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 17. 190 Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 31; Hervorhebung im Original.

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Selbst das hochgradig Vertraute kann sich also jederzeit als fremd erweisen, ebenso wie das vermeintlich Fremde mit vertrauten Zügen überraschen kann. Nicht immer unterliegt der Grad einer Fremdheitsbeziehung jedoch einer Dynamik. Unvertrautheit wie Vertrautheit können über längere Zeit unverändert bestehen; das Nichtzugehörige kann dauerhaft außerhalb bleiben, das Zugehörige innerhalb. Selbst der Status einer Halbzugehörigkeit kann über lange Zeit, sogar Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten werden, wie das Beispiel des jüdischen Volkes zeigt.191 Die Bewertung sowohl der Grade als auch der Dynamiken des Fremden obliegt aufgrund der oben ausgeführten Indexikalität des Fremden einem Interpreten. Dieser stellt eine der pragmatischen Dimensionen des Fremden dar, die im Folgenden ausgeführt werden. 3.1.2.2.3 Die pragmatischen Dimensionen des Fremden 3.1.2.2.3.1 Interpreten

Anders als der Referent des Zeichens Fremdes, der in verschiedensten Erscheinungsformen auftreten kann, ist die Rolle des Interpreten, d. h. des Zeichenbenutzers, auf Menschen und (in der Regel höher entwickelte) Tiere beschränkt,192 da sowohl eine auf Nichtzugehörigkeit als auch eine auf Unvertrautheit basierende Fremdheit eine kognitive Leistung in Form der Zuschreibung von Fremdheit erfordern. Ein Gegenstand ist dem anderen Gegenstand nicht fremd, sondern lediglich von ihm verschieden im Sinne der oben genannten Abgrenzung zwischen idem (dt.: dasselbe) und aliud (dt.: das andere), die von dritter Seite vorgenommen wird.193 Des Weiteren ist auf die grundsätzliche Unterscheidung zwischen einer individuellen und einer kollektiven Fremdheit hinzuweisen. Diese bezieht sich nicht auf den Referenten, d. h. darauf, ob eine Person oder eine Gruppe als fremd bezeichnet wird, sondern auf den Interpreten. Komplementär zu der Auffassung, dass die individuelle Identität einer Person bzw. die kollektive Identität einer Gruppe auf dem beruht, was ihr als ›eigen‹ gilt, wird individuelle Fremdheit hier als das verstanden, was einem Individuum fremd ist, kollektive Fremdheit als das, was einer Gruppe fremd ist. 191 Vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 91. Der Sonderstatus solcher binnenfremden Gruppen führt häufig zu sozioökonomischer Spezialisierung (vgl. ebd.). 192 Beispielsweise existiert für ein Rudeltier eine klare Trennung zwischen einem Gruppenfremden und einem Gruppenmitglied, ein Haustier unterscheidet zwischen ihm vertrauten Menschen und Fremden. Allerdings finden sich die Merkmale Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit auch bei Tieren niedrigerer Ordnung, z. B. bei staatenbildenden Insekten. 193 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 20 f.

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In den folgenden Abschnitten sollen einige Aspekte der Verwendung des Zeichens Fremdes durch den Interpreten vorgestellt werden. 3.1.2.2.3.2 Vektoren

Die Vektoren194 des Fremden beziehen sich auf den Ausgangspunkt und die Richtung der Zuschreibung von Alienität. Bezüglich des Ausgangspunkts (Origo) ist zwischen aktiver und passiver Fremdheit zu unterscheiden.195 Im Regelfall der passiven Fremdheit wird etwas anderes oder ein anderer von einem Ich oder Wir als fremd identifiziert. Im soziopolitischen Kontext (d. h. in Bezug auf Nichtzugehörigkeit) kommt die Rolle des Zuschreibenden im Allgemeinen der dominierenden ethnischen, religiösen, sprachlichen oder auch ökonomischen Gruppe zu,196 die dadurch wiederum das ›Eigene‹ definiert. Besteht eine Diskrepanz zwischen der passiven, von außen zugeschriebenen Fremdheit und der Selbstwahrnehmung des als fremd Bezeichneten, der sich seinerseits dem oder den Interpreten zugehörig oder vertraut fühlt, kann dies eine empfindliche Irritation seiner Erwartungssicherheit zur Folge haben.197 Alternativ kann die Zuschreibung von Alienität jedoch auch aktiv erfolgen. Dies erfordert notwendigerweise einen menschlichen Referenten des Zeichens Fremdes, da er zugleich die Rolle des Interpreten einnimmt: Der Fremde bezeichnet sich selbst als fremd. Da das Fremde jedoch, wie zu Beginn festgestellt, nur in Beziehung zu einem Eigenen existieren kann, muss der Fremde für diese Operation die externe Perspektive dieses Eigenen, aus dem er sich selbst ausschließt, annehmen. Somit wird der als »Maßstab für Normalität«198 dienende deiktische Ausgangspunkt des Ich und Hier vorübergehend durch ein Er / Sie und Dort ersetzt. Wurde bereits eine passive Fremdheit konstruiert, kann diese durch aktive Fremdheit ergänzt werden, indem der Fremde die Perspektive der anderen auf ihn lediglich übernimmt, ohne sie selbst etablieren zu müssen. In diesem Fall stellt die Fremdheit des Fremden einen von beiden Seiten anerkannten Status dar.199 Eine solche Konstellation besteht z. B. im 194 Waldenfels spricht von den »Vektoren des Fremdwerdens« (ebd., 37). Da in dieser Formulierung Vektoren, d. h. Richtungen der Zuschreibung von Fremdheit, und Dynamiken, d. h. Zu- oder Abnahme dieser Fremdheit, vermischt werden, wurde sie nur in abgewandelter Form übernommen. 195 Münkler / Ladwig verwenden zur Bezeichnung der Richtung die Begriffe ›Fremdexklusion‹ und ›Selbstexklusion‹ (vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 42 f.), die jedoch zum einen irreführend sein können, da hier Referent und Interpret der Fremdsetzung verwechselt werden können, und sich zum anderen auf das nichtzugehörige Fremde beschränken. 196 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 38. 197 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 23. 198 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 43. 199 Vgl. Hahn: Partizipative Identitäten, 142.

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Zusammenhang mit den beiden von Alfred Schütz beschriebenen Figuren, denen er jeweils einen Aufsatz widmet: des Migranten, der im fremden Land als fremd gilt und sich ebenso fühlt,200 und des Heimkehrers, der den Zuhausegebliebenen fremd geworden ist und dies auch selbst so empfindet.201 Obwohl im Falle der aktiven Fremdheit die Zuschreibung durch den Bezeichneten selbst erfolgt, ist sie häufig nicht weniger gravierend in ihren Auswirkungen als ihre passive Form. Während die Vektoren bei diesem ersten Aspekt des Ausgangspunkts (Origo) von zwei unterschiedlichen Interpreten (dem jemanden / etwas als fremd Identifizierenden und dem sich selbst aktiv als fremd Bezeichnenden) zu ein und demselben Referenten (dem Fremden) führen, sind beim zweiten Aspekt, der Direktionalität, potentiell mehrere Referenten beteiligt. Obwohl eine Fremdheitsbeziehung, wie bereits erwähnt, nicht automatisch reversibel ist, d. h. aus der Fremdheit von A gegenüber B nicht immer auch die Fremdheit von B gegenüber A folgt, kann sie dennoch auf Gegenseitigkeit beruhen, also bidirektional sein. Verläuft die Zuschreibung dagegen nur in eine Richtung, liegt eine monodirektionale Fremdheit vor. Letzteres trifft notwendigerweise bei unbelebten und abstrakten Referenten zu. Sind mehr als zwei Parteien beteiligt, die sich gegenseitig als fremd bestimmen, lässt sich von Polydirektionalität sprechen. 3.1.2.2.3.3 Ausdrucksmodi

Da Fremdheit, wie erwähnt, nicht einfach als gegebene Eigenschaft besteht, »sondern die Definition einer Beziehung«202 darstellt, liegt ihr zwangsläufig ein kommunikativer Akt zugrunde. Dieser kann jedoch, in Abhängigkeit von der Art der Markierung der Alientität durch den Interpreten, unterschiedlich deutlich ausgeprägt sein. Wird die Fremdheit lediglich nonverbal, durch entsprechendes Verhalten, symbolische Handlungen etc., kommuniziert – oder, im Falle von Texten, um- oder beschrieben, aber nicht als solche bezeichnet – liegt eine implizite Fremdheit vor. Erfolgt dagegen eine verbale Benennung des Fremden als Fremdes, lässt sich von expliziter Fremdheit sprechen. Schließlich besteht auch noch die Variante einer hyperexpliziten Fremdheit, wenn diese in Form einer Metarede (eines Metakommentars) selbst thematisiert wird. Diese Dimension des Fremden ist von besonderer Bedeutung für die literarische Darstellung des Fremden, v. a. auf der Ebene der Narration. 200 Vgl. Schütz: Der Fremde. 201 Vgl. Schütz, Alfred: Der Heimkehrer. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Bd. II: Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag 1972, 70–84. Vgl. hierzu Waldenfels: Topographie des Fremden, 39 f. 202 Hahn: Die soziale Konstruktion, 140.

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Nach der Betrachtung dessen, von wem und auf welche Weise das Zeichen Fremdes verwendet werden kann, sollen im Folgenden zwei (auch im engeren Wortsinn pragmatische)  Aspekte Betrachtung finden, die eng miteinander verknüpft sind und jeweils bestimmte Strategien des Umgangs mit dem Fremden nach sich ziehen: zum einen die ambivalenten Wirkungen des Fremden auf den Interpreten, zum anderen seine ebenso zwiespältige Bewertung. 3.1.2.2.3.4 Wirkungen und Bewältigungsstrategien

Die Wirkung des Fremden lässt sich generell als »Anspruch« im doppelten Sinne, »als Appell, der uns anspricht und als Prätention, die auf etwas Anspruch erhebt«,203 beschreiben. Der Appell verweist dabei zurück auf das Bestehen einer Beziehung als Voraussetzung für die Existenz des Fremden (Relationalität), die Prätention weist voraus auf die Unausweichlichkeit einer Antwort auf diesen Anspruch, da selbst ein Nichtantworten eine Form der Reaktion darstellen würde.204 Während also die Zuschreibung von Alienität stets beim Eigenen beginnt und in diesem Sinne asymmetrisch ist, geht der Anspruch immer vom Fremden aus;205 die Asymmetrie wird hierdurch nicht aufgehoben, sondern verdoppelt. Der Anspruch des Fremden besitzt als Provokation206 eine hochgradig ambivalente Wirkung, die sich zwischen Verunsicherung, Versicherung und Verhandlung bewegt, wobei erstere Wirkung den beiden letztgenannten stets vorangeht. Die Verunsicherung resultiert bei beiden hier diskutierten Fremdheitsarten aus der Erschütterung des Eigenen durch das Fremde. Dieses Be-Fremden, d. h. Fremdwerden der eigenen Erfahrung,207 vollzieht sich allerdings auf unterschiedliche Weise: Im Falle einer auf Nichtzugehörigkeit beruhenden Fremdheit bedeutet der bloße Auftritt des Fremden eine Kontingenzerfahrung infolge einer Infragestellung der essentiellen Natur der Grenzen der Eigensphäre, aus denen diese ihr Wesen und ihre Orientierung bezieht. Entsteht die Fremdheit dagegen aus Unvertrautheit, die ja, wie oben angemerkt, vor allem eine Aussage über den Interpreten des Fremden darstellt, nimmt sie den Charakter eines »dérèglement de tous les sens«208 an, das be203 Waldenfels: Phänomenologie des Eigenen, 79; Hervorhebung im Original. 204 Vgl. ebd., 81. In diesem Sinne postuliert Waldenfels, dass bei der Beschäftigung mit dem Thema Fremdheit nicht von dem »Wovon des Getroffenseins«, sondern von dem »Worauf eines Antwortens« auszugehen ist (vgl. Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 35; Hervorhebungen im Original). 205 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 14, 42 u. 52 f. 206 Vgl. ebd., 51. 207 Vgl. ebd., 10 u. 136. 208 Rimbaud, Arthur: À Georges Izambard. [Lettre, 13 mai 1871]. In: Ders.: Œuvres. Édition de S. Bernard et A. Guyaux. Paris 1981, 345–346, hier 346; Hervorhebung im Original. Rimbaud nutzt das dérèglement de tous les sens als Methode, um in seiner Poesie das Un-

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stehende Sinnbezüge aufhebt 209 und als »Bruchstelle […] die eigene Erkenntnisfähigkeit […] verunsichert«.210 In diesem Sinne entlarvt sie die – kulturell produzierte und vermittelte, häufig unbewusste und gerade dadurch prekäre –211 Selbstverständlichkeit und vermeintliche Absolutheit der eigenen (Wissens-)Ordnung als Illusion und zeigt die Grenzen des eigenen Sinnhorizonts auf.212 Die Krisensituation entsteht somit bei beiden Fremdheitsarten aus einem Bewusstmachen von Grenzen, die sich jedoch in ihrer Art unterscheiden: Die selbst gesetzten Grenzen (der Zugehörigkeit) wirken identitätsbildend, die dem Selbst gesetzten Grenzen (der epistemischen und praktischen Vertrautheit) identitäts(zer)störend. Dementsprechend sind auch zwei verschiedene Wirkungen des Fremden in Hinblick auf die Grenzen zu differenzieren. Da es unmöglich ist, den fremden Anspruch zu umgehen, müssen Möglichkeiten gefunden werden, mit ihm umzugehen. Zum Schutz seiner gefährdeten Identität stehen dem Ich bzw. Wir grundsätzlich zwei unterschiedliche Strategien zur Verfügung: Der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremdem wird entweder aufrechterhalten oder (vorübergehend) aufgehoben.213 Die Antwort auf das Fragwürdigwerden der selbst gesetzten Grenzen kann entsprechend in einem emphatisch-kontrastiven Bestätigen der bestehenden Ein- und Ausgrenzungen bestehen, sodass die Verunsicherung also eine Versicherung des Status quo des Eigenen und seiner Grenzen bewirkt.214 Infolge der durch die Fremdheitserfahrung gewonnenen Distanz kann aber auch eine Reflexion bekannte (frz.: l’inconnu), d. h. ein auf Unvertrautheit basierendes Fremdes, zu erreichen (vgl. ebd., 345 f.). Ein Verlassen der Ordnung wird hier also nicht nur durch das Fremde provoziert, sondern führt zirkulär auf es zurück. 209 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 52. 210 Schuck, Silke C.: ›Alles Vortreffliche führt etwas Befremdendes mit sich…‹. Heinrich von Kleists Wendung der Fremdheit. In: Chapuis, Blandine / Chassagne, Jean-Pierre (Hg.): Étrangeté des formes, formes de l’étrangeté. Fremdheit der Formen, Formen der Fremdheit. Saint-Étienne 2013, 61–78, hier 61. 211 Vgl. Hahn: Partizipative Identitäten, 147. 212 Kant verweist in »Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte« (1786) sowohl auf die Unabdingbarkeit von Ordnungen für den Menschen als auch auf deren stets defizitären, da zwangsläufig mehr oder weniger arbiträren Charakter: Nach seinem Heraustreten aus der Obhut der Natur und der Entdeckung seiner Vernunft, die es ihm erlaubt, »sich selbst eine Lebensweise auszuwählen und nicht gleich anderen Thieren [sic!] an eine einzige gebunden zu sein« (Kant, Immanuel: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. In: Ders./Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant’s Werke. Bd. VIII . Abhandlungen nach 1781. Berlin, Leipzig 1923, 107–123, hier 112), steht der Mensch »gleichsam am Rande eines Abgrundes« (ebd.) unendlich vieler Möglichkeiten. Erst mit der Herstellung bestimmter vermeintlich essentieller Ordnungen vermag er sich Orientierung zu verschaffen (vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 43 f.). Werden diese fragilen Strukturen jedoch erschüttert, bricht der Abgrund erneut auf. 213 Vgl. Tschilschke: Identität der Aufklärung, 32. 214 Vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 93.

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über die bisherigen Grenzziehungen sowie die Zugangsbedingungen und ihre eventuelle Revision und infolgedessen eine Neubestimmung von (Nicht-) Zu­gehörigkeiten angeregt werden. Das Fremde führt hier also zu einer Verhandlung bestehender Strukturen. Aufgrund der umgekehrten Vorzeichen der Auswirkungen der dem Selbst gesetzten Grenzen auf die Identität geht in diesem Fall – genau andersherum als bei den selbst gesetzten Grenzen – die Aufhebung der Grenzen mit der Wirkung des Fremden als Versicherung und deren Bestehenbleiben mit der Wirkung als Stimulus zur Verhandlung einher. Im ersten Fall wird der Versuch unternommen, sich seiner Selbst zu versichern, indem auf dem umfassenden Charakter der eigenen (Wissens-)Ordnung beharrt und das Fremde relativiert, d. h. auf das Eigene zurückgeführt wird bzw. ein prinzipiell über die eigene Ordnung hinausgehendes Fremdes und somit auch die Existenz von dem Selbst gesetzten Grenzen geleugnet werden. Erfolgt dagegen eine Umwertung der Verunsicherung zum Stimulus für eine Verhandlung, werden die dem Selbst gesetzten Grenzen und das jenseits dieser Grenzen situierte Fremde anerkannt und das innovative Potential des Fremden, z. B. in Form einer neuen Perspektive, genutzt. Die Bestätigung der selbstgesetzten Grenzen und der dem Selbst gesetzten Grenzen führt zu einer Bewahrung der Dichotomie von Eigenem und Fremdem, während die Aufhebung / Neubestimmung der selbstgesetzten und die Aufhebung / Leugnung der dem Selbst gesetzten Grenzen zu einer dauerhaften oder vorübergehenden Auflösung dieser Dichotomie führen. Aus den beiden Identitätsstrategien der Aufrechterhaltung bzw. Aufhebung der Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem ergeben sich jeweils mehrere mögliche Arten des Umgangs mit dem Fremden,215 die die Handlungs- und Orientierungsmuster der eigenen Identität nach innen legitimieren und nach innen und außen verteidigen.216 Erfolgt eine Bewahrung der Dichotomie eigen / fremd, kann das Fremde – jeweils in extremen Ausprägungen gedacht – auf seine Faszination reduziert und verklärt oder umgekehrt als Inbegriff des Schlechten dämonisiert, sowie, als Mittelweg, exotisiert oder mythisiert werden. Daraus ergeben sich wiederum drei grundsätzliche Strategien hinsichtlich der Beziehungen zum Eigenen: Entweder kann das Fremde als Kontrastfolie für das Eigene zum Zweck der Selbstkritik (basierend auf der Verklärung) oder Selbsterhöhung (basierend auf der Dämonisierung) verwendet oder eine relativistische Perspektive (basierend auf der Exotisierung bzw. Mythisierung) eingenommen werden, die das Fremde in seiner Fremdheit anerkennt und auf einem deskriptiven, dezidiert nichtnormativen Zugang zu ihm beruht. 215 Die Klassifikation erfolgt hier in Anlehnung an Tschilschke (vgl. Tschilschke: Identität der Aufklärung, 32 f.), wurde jedoch an mehreren Stellen verändert, ergänzt und neu strukturiert. 216 Vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 93 f.

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Die (zumindest vorübergehende)  Aufhebung des Gegensatzes zwischen Eigenem und Fremdem kann dagegen zum einen die Aneignung, d. h. Assimilation und / oder Inklusion des Fremden217 zur Folge haben, zum anderen die Entstehung hybrider Formen, wie sie in Bezug auf Kulturen im Kontext des postkolonialen Diskurses in den Fokus getreten sind. In diesem Kontext beschreibt der Begriff ›Hybridität‹ »die Fruchtbarkeit kultureller Vermischungen jenseits kultureller Reinheit«,218 denen unter anderem von Bhabha ein subversives, Zuschreibungen sprengendes Potential zugeschrieben wird.219 Bei all diesen Strategien verläuft die Krisenbewältigung erfolgreich, da ein produktiver Umgang mit dem Fremden unter Bewahrung des Eigenen in entweder unveränderter oder modifizierter Form etabliert wird. Scheitert dies jedoch – was mit einer Erhöhung des Fremdheitsgrads an Wahrscheinlichkeit gewinnt –, steigert sich die Verunsicherung potentiell bis zu einer existentiellen Bedrohung des Eigenen und der eigenen Identität. Hieraus erklärt sich das Phänomen des »horror alieni«,220 der unvermeidlichen Furcht vor dem Fremden, sobald dieses als etwas Nichtzubewältigendes identifiziert wird.221 In diesem Fall verbleibt eine letzte Möglichkeit, das Eigene zu schützen, bei der die Dichotomie zwischen Eigenem und Fremdem nicht durch die Beseitigung der Grenze zwischen ihnen, sondern durch die Beseitigung des Fremden selbst, d. h. durch seine Vernichtung aufgehoben wird. Ebenso breit wie das Spektrum der Bewältigungsstrategien des Fremden sind also seine Auswirkungen, die sich zwischen den beiden Extremen, Faszination und Furcht, bewegen. Diese, häufig als Begriffspaar im Zusammenhang mit dem Fremden genannt,222 schließen einander dabei ebenso wenig aus wie alle dazwischenliegenden Abstufungen und können im Falle eines partiellen Scheiterns bzw. Gelingens der Bewältigungsstrategien auch gleichzeitig auftreten.223 Die Ambivalenz der Wirkungen des Fremden ist eng verknüpft mit 217 Ebenfalls möglich ist eine Assimilation des Eigenen an das Fremde; da hier jedoch die Strategien zur Bewahrung der eigenen Identität von Interesse sind, wird diese Möglichkeit ausgeklammert; Selbiges gilt auch für die beiden anderen auf der Aufhebung der Differenz eigen / f remd basierenden Umgangsstrategien. 218 Bachmann-Medick: Cultural Turns, 197. 219 Vgl. ebd., 200. Neben der Hybridität sind hier unter anderem die Konzepte des Third Space (Bhabha), der Métissage, der Kreolisierung sowie der Transkulturalität zu nennen (vgl. ebd., 203 f.). 220 Waldenfels: Topographie des Fremden, 44; Hervorhebung im Original. 221 Neben der psychischen Bedrohung der eigenen Identität kann die Furcht auch auf einer physischen Bedrohung, d. h. einer vom Fremden ausgehenden Gefahr für Leib und Leben, basieren. In diesem Fall wird der Fremde zum Feind. 222 Vgl. u. a. Schuck: Alles Vortreffliche, 62; Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 26. 223 Hahn führt als Beispiel hierfür Götter an, da diese sowohl bewundert und verehrt als auch gefürchtet werden (vgl. Hahn: Partizipative Identitäten, 143); Otto bezeichnet die Verbindung des fascinans mit dem tremendum als den »Doppel-charakter des Numi­

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den dementsprechend ebenso ambivalenten Bewertungen des Fremden. In diesem Zusammenhang soll auch auf die vorgestellten Bewältigungsstrategien noch etwas genauer eingegangen werden. 3.1.2.2.3.5 Axiologie

Im Moment der Konfrontation mit dem Fremden entzieht sich dieses zunächst jeder begründeten Bewertung, es begegnet uns als das »Unentscheid­ bare[…]«.224 Die Ursache hierfür ist erstens, dass die Antwort auf den Anspruch des Fremden stets von einem Verhältnis der Nachträglichkeit, der temporalen »Diastase«225 gekennzeichnet ist, und dass sich zweitens diese Antwort in Form der oben vorgestellten Bewältigungsstrategien erst als Erfolg oder Misserfolg erweisen muss. Für das personale Fremde bedeutet dieser anfängliche Schwebezustand: »Es gibt Freunde und Feinde. Und es gibt Fremde.«.226 Allerdings besteht grundsätzlich die Tendenz zu einer  a priori negativen Bewertung. Diese erklärt sich generell durch die in jedem Fall zunächst verunsichernde Wirkung des Fremden sowie zusätzlich bei Alienität als Nichtzugehörigkeit durch die bereits angesprochene affektive Distanzierung von einem im Regelfall positiv bewerteten Ich bzw. Wir,227 im Falle von kognitiver oder praktischer Fremdheit durch eine natürliche Angst vor dem Unvertrauten: »Das Wesen des Fremden besteht darin, und das ist tautologisch genug, daß er unbekannt ist. Potentiell mag er alles mögliche [sic!] bleiben«, jedoch »ist ihm vor allem nicht zu trauen.«228

nosen« (Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München 1963, 42). Nicht zufällig werden die grausamen spanischen Eroberer von den Azteken zunächst für Götter gehalten (vgl. Todorov: La conquête, 81). 224 Bauman: Moderne und Ambivalenz, 76; Hervorhebung im Original. 225 Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 36. 226 Bauman: Moderne und Ambivalenz, 73; vgl. hierzu auch Bauman, Zygmunt: Vereint in Verschiedenheit. In: Berghold, Joe / Menasse, Elisabeth / Ottomeyer, Klaus (Hg.): Trennlinien. Imagination des Fremden und Konstruktion des Eigenen. Klagenfurt 2000, 35–46, hier 39. 227 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 25; Die Abgrenzung bzw. Ausgrenzung von Mitgliedern einer Fremdgruppe erfolgt gemäß der Theorie der sozialen Identität (vgl. Tajfel: Human groups, 254–259), indem diese grundsätzlich negativer bewertet werden als Mitglieder der Eigengruppe, sodass Kontrasteffekte entstehen, die die Unterschiede zwischen Eigen- und Fremdgruppe übermäßig betonen, Gemeinsamkeiten dagegen unterbewerten (vgl. Thomas, Alexander: Fremdheitskonzepte in der Psychologie als Grundlage der Austauschforschung und der interkulturellen Managerausbildung. In: Wierlacher, Alois (Hg.): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. München 1993, 257–281, hier 269). 228 Pitt-Rivers: Das Gastrecht, 22.

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Das »Unentscheidbare« kann diesen Status für eine gewisse Zeit behalten, wenn es durch Institutionen wie das oben erwähnte Gastrecht in kontrollierte Bahnen gelenkt wird. Der Gast ist von einer Bewährungsprobe entbunden, da ihre Notwendigkeit durch die Regeln der Gastfreundschaft und unter der Bedingung eines zeitlich begrenzten Aufenthalts vorübergehend außer Kraft gesetzt ist.229 Das nichtsdestotrotz im Hintergrund weiterbestehende Dilemma spiegelt sich im lateinischen Begriff hostis wider, dessen Polysemie ein jederzeit mögliches Umschlagen vom ›Gast‹ zum ›Feind‹ impliziert.230 Erst infolge der Erprobung der vorgestellten Bewältigungsstrategien nimmt die Wirkung des Fremden klarer definierte Züge an, was eine differenziertere Axiologie zur Folge hat. Entscheidend ist hier jedoch nicht das objektive Gelingen oder Scheitern der Strategie, sondern – wie schon im Falle der Definition einer Fremdheit unabhängig von einer objektiv vorliegenden Unvertrautheit oder Nichtzugehörigkeit – die subjektive Bewertung der Situation. Eine positive Bewertung des Fremden basiert häufig auf seinem Nutzen für das Eigene. Dieser besteht, wie oben bereits angedeutet, oftmals in der Ermöglichung einer neuen Perspektive: »L’étrange, c’est ce qui conduit au renouvellement de notre perception du monde […]«.231 Das Fremde »provoziert […] Sinn«232 im doppelten Verständnis einer Störung gewohnter Sinnbezüge und einer hierdurch hervorgerufenen Erneuerung selbiger. Für Erkenntnisse über das Eigene ist die Annahme eines verfremdeten, d. h. distanzierten Blicks dabei nicht nur hilfreich, sondern stellt sogar ihre notwendige Bedingung dar.233 229 Der Gaststatus ist zwingend zeitlich begrenzt. Nach Ablauf einer gewissen Frist reist der Gast entweder ab oder er wird schließlich doch einer Bewährungsprobe unterzogen, nach deren erfolgreichem Durchlaufen er die Möglichkeit zur Inklusion und Assimilation erhält (vgl. ebd., 40). 230 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 45. Vgl. auch Daremberg / Saglio: »D’après Servius, certains auteurs anciens employaient le mot hostis pour hospes« (Daremberg, C./ Saglio, E. (Hg.): Dictionnaire des antiquités grecques et romaines. T. III, première partie: H – K. Paris 1900, 303; zit. nach Pitt-Rivers: Das Gastrecht, 31). 231 Margotton, Jean-Charles: Conclusion / Schluss. In: Chapuis, Blandine / Chassagne, JeanPierre (Hg.): Étrangeté des formes, formes de l’étrangeté. Fremdheit der Formen, Formen der Fremdheit. Saint-Étienne 2013, 317–319, hier 318. 232 Waldenfels: Topographie des Fremden, 52. 233 Vgl. Schuck: Alles Vortreffliche, 66. So entsteht beispielsweise bei den Griechen das Bewusstsein für die eigene, auf der Demokratie basierende Freiheit erst im Kontakt und Kontrast zu den ›Barbaren‹ (vgl. Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 77). Vgl. dazu auch Wilhelm von Humboldt, der fragt: »Wie […] ist es möglich den Charakter Einer [sic!] Nation vollständig zu kennen, ohne nicht zugleich auch die andern [sic!] erforscht zu haben, mit welchen jene in den nächsten Beziehungen steht, durch deren contrastirende [sic!] Verschiedenheit er theils [sic!] wirklich entstanden ist, theils [sic!] allein voll-kommen [sic!] begriffen werden kann?« (Humboldt, Wilhelm von: Plan einer vergleichenden Anthropologie. In: Ders.: Werke in fünf Bänden. Erster Band. Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Herausgegeben von Andreas Flitner und Klaus Giel. Berlin 1960, 337–375, hier 338 f.; vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 93).

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Dank ihm eröffnen sich neue Möglichkeiten234 sowie neue, stärker reflektierte Perspektiven auf Eigenes und Fremdes, die ein Aufbrechen von und Ausbrechen aus bestehenden Strukturen und eine Neuordnung des Eigenen ermöglichen.235 In seiner auf personale Referenten beschränkten Soziologie des Fremden betont Simmel dessen Objektivität, weil er freier und »nicht von der Wurzel her für […] die einseitigen Tendenzen der Gruppe festgelegt ist«;236 zu einem übereinstimmenden Urteil kommt Alfred Schütz.237 Beide gehen dabei von einem soziologischen Fremdheitsbegriff, d. h. von einer auf Nichtzugehörigkeit basierenden Fremdheit aus. Auch Unvertrautheit ermöglicht jedoch eine neue Sichtweise, sie geht sogar zwangsläufig mit ihr einher, da sie ein genaueres Hinsehen nötig macht.238 Die verfremdete Perspektive kann entweder von einem personalen Fremden selbst vertreten und kommuniziert oder von einem Fremden in jedweder Form angeregt und vom Ich bzw. Wir eingenommen werden. Letzteres trifft auf die Gegenüberstellung von positiv(er) bewertetem Fremdem und negativ(er) bewertetem Eigenem zum Zweck der Selbstkritik zu, die z. B. in der Aufklärung häufig als rhetorisches Mittel verwendet wird, etwa in Jean-Jacques Rousseaus Zivilisationskritik.239 234 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 44; Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 379. 235 Beispielsweise erfolgt eine Reflexion über ›Heimat‹ nur unter der Bedingung einer vorausgehenden Fremdheitserfahrung, sei es durch ein Verlassen der Heimat oder ein Eindringen des Fremden in selbige (vgl. Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. Frankfurt a. M. 1972, 56; zit. nach Hinderer: Das Phantom, 205). 236 Simmel: Gesamtausgabe. Soziologie, 766. Die Objektivität des Fremden prädestiniert ihn für die Rolle des Richters; in dieser Funktion werden Ausländer in mittelalterlichen italienischen Städten eingesetzt, wenn interne Feindschaften ein unparteiisches Urteil eines einheimischen Richters zweifelhaft machen. In diesem Sinne können Fremde von einer Gemeinschaft, von bzw. in der sie gerade nicht als Personen anerkannt sind, als Träger einer Funktion anerkannt werden (vgl. Hahn: Partizipative Identitäten, 151 f.). 237 Vgl. Schütz: Der Fremde, 68. Dies ist insofern bemerkenswert, da Simmel die Rolle des Fremden aus der Perspektive der den Fremden aufnehmenden Gesellschaft thematisiert, Schütz dagegen aus der des Fremden (vgl. Gottowik, Volker: Der Ethnologe als Fremder. Zur Genealogie einer rhetorischen Figur. In: Zeitschrift für Ethnologie 130 (2005), 23–44, hier 30). Diese Erkenntnis liegt auch den Wissenschaften vom Eigenen und Fremden zugrunde: Mit Referenz auf Simmel konstatiert Waldenfels die »Geburt der Soziologie aus dem Geist der Fremdheit« (Waldenfels: Topographie des Fremden, 39). Auch die Ethnologie basiert auf einer dem Gegenstand der Beobachtung distanzierten Perspektive (vgl. Kohl: Ethnologie, 95). 238 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 35. 239 Vgl. z. B. Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur les sciences et les arts. In: Ders.: Œuvres complètes. T. 2. Œuvres philosophiques et politiques: des premiers écrits au Contrat social. 1735–1762. Préface de Jean Fabre. Introduction, présentation et notes de Michel Launay. Paris 1971, 52–68; Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur l’origine et les fonde-

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Aus den mithilfe des Fremden gewonnenen Erkenntnissen können Innovationen hervorgehen, die unabdingbar sind, um das Eigene vor der Stagnation und letztlich dem Zerfall zu bewahren (s. hierzu auch Kap. 3.2.1). Bei der Überwindung eines von Erstarrung bedrohten Zustands kommt der Erschütterung durch das Fremde bisweilen die Funktion einer Katharsis zu.240 Zur Methode erhoben wird dieses Potential des Fremden im auf das ξενικόν der aristote­lischen Rhetorik241 zurückgehenden Verfahren der Verfremdung,242 dessen Ziel die Durchbrechung von Selbstverständlichkeiten und Automatismen der Wahrnehmung und Interpretation ist. Eben darin besteht auch das formalistische Verfahren des ostranenie (dt.: Verfremdung), dessen Ziel Viktor Šklovskijs programmatischem Aufsatz »Iskusstvo kak priëm« (1916; dt.: »Die Kunst als Verfahren«) zufolge die ›Entautomatisierung‹ der gewohnten Wahrnehmungsmuster in der Kunst ist: Целью искусства является дать ощущение вещи, как видение, а не как ­у знавание; приемом искусства является прием ›остранения‹ вещей и прием затрудненной формы, увеличивающий трудность и долготу восприятия […].243

Innovation kann auch aus der Assimilation und / oder Inklusion des Fremden sowie der Hybridisierung von Eigenem und Fremdem entstehen. Diese Fähigments de l’inégalité parmi les hommes. In: Ders.: Œuvres complètes. T. 2. Œuvres philosophiques et politiques: des premiers écrits au Contrat social. 1735–1762. Préface de Jean Fabre. Introduction, présentation et notes de Michel Launay. Paris 1971, 204–262. Racault unterscheidet hierbei drei Strategien der aufklärerischen Schriftsteller: Eine identité masqué liegt vor, wenn eigene Verhältnisse in ein fremdes Umfeld verlagert werden, wie z. B. in den »Lettres persanes« (1721) von Montesquieu. Im Fall einer altération weist das fremde Milieu die in der Eigensphäre kritisierten Elemente nicht auf, so etwa in Diderots »Supplément au voyage de Bougainville« (1796). Bei einem renversement schließlich gelten in der fremden Sphäre Wertvorstellungen, die denen der Eigensphäre diametral entgegengesetzt sind, wie in Voltaires Eldorado-Episode aus »Candide« (1759), in der das Gold nichts als Gleichgültigkeit bewirkt (vgl. Racault, Jean-Michel: Instances médiatrices et production de l’altérité dans le récit exotique aux 17e et 18e siècles. In: Buisine, Alain / Dodille, Norbert / Duchet, Claude (Hg.): L’Exotisme. Actes du colloque de Saint-Denis de la Réunion. Paris 1988, 33–43, hier 34–37). Vgl. hierzu Tschilschke: Identität der Aufklärung, 32 f. 240 Vgl. Dischner, Gisela: Die Stimme des Fremden. Hofheim 1992, 8. 241 Buch III, 2–3; vgl. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger. Stuttgart 2007, 154–161. 242 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 17. 243 Šklovskij: Iskusstvo kak priëm, 13. Dt.: »Das Ziel der Kunst ist, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei Kunstgriffe: die Verfremdung der Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern.« ­(Šklovskij, Viktor: Theorie der Prosa. Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Gisela Drohla. Frankfurt a. M. 1984, 13). Vgl. hierzu Hansen-Löve, Aage: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien 1978.

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keit, »Fremdes umzubilden und einzuverleiben«,244 stellt eine Existenzbedingung für Individuen wie auch für Gruppen dar.245 Das Fremde wird in der Aneignung im doppelten Wortsinn aufgehoben, d. h. bewahrt und zugleich eliminiert.246 Die Bewertung des Fremden ist dabei prinzipiell ambivalent: Wird es als positiv bestimmt, liegt der Fokus auf einer Aneignung dieser positiven Aspekte für das Eigene; ist die Haltung negativ, zielt die Aneignung auf ein Ersetzen des Fremden durch das Eigene ab. Dieses Ersetzen kann, vor allem bei einem unvertrauten Fremden, auch in Form einer relativierenden Rückführung auf das Eigene, z. B. durch die Herstellung von Analogien,247 244 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873. München u. a. 1999, 243–334, hier 251. 245 Für Hegel ist die Aufnahme von Einflüssen aus anderen Kulturen nicht nur Voraussetzung für das Überleben einer Kultur, sondern auch für ihre Entwicklung hin zu weltgeschichtlicher Bedeutung (vgl. Hogrebe: Die epistemische Bedeutung, 361). Hegel betont z. B. explizit »jene Vertheiltheit [sic!] und Vielfältigkeit, die der mannigfachen Art griechischer Völkerschaften und der Beweglichkeit des griechischen Geistes vollkommen entspricht. […] Bei der Ursprünglichkeit der nationalen Einheit ist die Zertheilung [sic!] überhaupt, die Fremdartigkeit in sich selbst, das Hauptmoment, das zu betrachten ist.« (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Elfter Band. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Herausgegeben von Hermann Glockner. Mit einem Vorwort von Eduard Gans und Karl Hegel. 4. Auflage. Stuttgart 1961, 298; Hervorhebung im Original). Letztlich existiert keine Kultur, die sich ausschließlich in Bezug auf sich selbst entwickelt hat. Auch Gruppen enthalten fast immer Personen fremden Ursprungs, die in näherer oder fernerer Vergangenheit in sie eingegliedert wurden. Diese Tatsache steht häufig in Konflikt mit dem Selbstbild von Kollektiven (v. a. Nationen), die sich als homogene, seit ›Urzeiten‹ stabile Abstammungsgruppen verstehen. In schriftlosen Gesellschaften kann dieser Widerspruch durch eine entsprechende Manipulation des kollektiven Gedächtnisses ausgemerzt werden (vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 90). 246 Vgl. Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 138. 247 Vgl. Neubauer-Petzoldt, Ruth: Fremdheit und Aneignung als poetologische Strategien im Werk Yoko Tawadas und Hisako Matsubaras: Zwischen dokumentarischer Beobachtung und mythischem Erzählen. In: Chapuis, Blandine / Chassagne, Jean-Pierre (Hg.): Étrangeté des formes, formes de l’étrangeté. Fremdheit der Formen, Formen der Fremdheit. Saint-Étienne 2013, 117–133, hier 120. Vgl. dazu Nietzsche über das »Bedürfniss [sic!] nach Bekanntem, de[n] Wille[n], unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt« (Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 3. Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. München u. a. 1999, 343–651, hier 594; zit. nach Waldenfels: Topographie des Fremden, 49). Diese Strategie verfolgt z. B. Kolumbus in dem oben angeführten Beispiel, als er in der Sprache der amerikanischen Ureinwohner dem Spanischen ähnliche Worte zu verstehen glaubt (vgl. Todorov: La conquête, 36). Herder weist darauf hin, dass die animistische Deutung des Gemurmels von Quellen als Mitteilungen der Najaden durch die Griechen

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oder auf ein Allgemeinsames, wie das griechische Konzept des ›Kosmos‹ oder einen allumfassenden Mythos,248 erfolgen.249 Hierdurch wird eine Vergleichbarkeit und Kommensurabilität zwischen dem Eigenen und dem Fremden postuliert 250 und die durch das Fremde hervorgerufene Verunsicherung entsprechend abgemildert.251 Eine dezidiert und ausschließlich positive Bewertung erfährt das Fremde im Falle einer Verklärung, wobei der praktische Nutzen hier nicht zwingend im Fokus der Bewertung steht. Das Fremde dient dann vor allem als Projektionsfläche für eigene Sehnsüchte, kann aber auch die Grundlage für Selbstkritik darstellen. Besonders ausgeprägt zeigt sich diese verklärende Bewertung des Fremden in der Romantik in der Figur des Edlen Wilden, als deren Ursprung Rousseaus »Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes« (1755) gilt.252 Das Fremde verkörpert dabei auch immer einen Ort der Freiheit, der sich der Normierung und Normalisierung der eigenen Ordnung entzieht.253 Darin besteht sein subversives Potential – das jedoch, wie bereits betont, zugleich auch eine Gefahr für das Eigene bedeutet. Nimmt letztere Eigenschaft überhand, kippt die Verklärung in die ihr eng verwandten Strategien der Exotisierung oder der Mythisierung – welche eine

»nicht die objective [sic!] Sinnigkeit der Quelle, sondern die subjective [sic!] des Subjects [sic!] selbst« (Hegel: Sämtliche Werke. Elfter Band, 310) zur Grundlage hat. Eine weitere Variante der Zurückführung des Fremden auf das Eigene besteht im Verweis auf die asynchrone Entwicklung der Menschheit, der z. B. eine Einordung sogenannter ›primitiver‹ Kulturen als Vorstufe der eigenen ›zivilisierten‹ Kultur ermöglicht (vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 35). 248 Der Mythos bietet ein umfassendes Erklärungsmuster, das die vom Fremden hervorgerufene Orientierungslosigkeit aufhebt. Er stellt die »früheste Verarbeitung der Schrecken des Unbekannten und der Übermächtigkeit« (Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1996, 424) dar, was letztendlich ebenfalls mittels einer Rückführung auf das Eigene, durch eine »Vermenschlichung der Welt« (ebd.) geschieht. So wird beispielsweise eine irrationale, unerklärliche Erfahrung mit dem Handeln von Göttern in Menschengestalt erklärt oder, auf Basis eines animistischen Weltverständnisses, die Möglichkeit einer Einflussnahme des Menschen auf eine beseelte Natur und Dingwelt durch magisch-rituelle Handlungen, d. h. deren Beherrschbarkeit, postuliert (vgl. Neubauer-Petzoldt: Fremdheit und Aneignung, 120 f.). 249 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 49. 250 Vgl. Waldenfels: Phänomenologie des Eigenen, 75; Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 28 f.; Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 30. 251 Vgl. Hogrebe: Die epistemische Bedeutung, 367 f. Die Rückführung des Fremden auf das Eigene begegnet uns auch in Gestalt des Egozentrismus (bzw. Ethnozentrismus), die Rückführung auf ein Allgemeinsames als Logozentrismus. Eine Verbindung beider Varianten stellt der Eurozentrismus dar (vgl. Waldenfels: Phänomenologie des Eigenen, 75; Waldenfels: Topographie des Fremden, 49). 252 Vgl. Rousseau: Discours sur l’origine. 253 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 12.

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Das Fremde: theoretisch-methodische Grundlagen

die Bedrohung abmildernde »Unvergleichbarkeit der Ebenen«254 erzeugt  –, die sich in axiologischer Hinsicht von der Verklärung unterscheiden. Beide sind hochgradig ambivalent, sie oszillieren zwischen positiver und negativer Bewertung, zwischen Furcht und Faszination, wobei die Mythisierung zu Ersterem tendiert, die Exotisierung zu Letzterem. Erfolgt eine Bestimmung des Fremden als exotisch, wird die von ihm ausgehende Gefährdung durch die Betonung seiner (nicht nur räumlichen) Distanz zum Eigenen gebannt. So mag beispielsweise der ›Wilde‹ zwar ein kulturloser, grausamer Kannibale sein – aber er ist dies weit entfernt von dem Ich / Wir und sein Verhalten hat keinen Einfluss auf es. Auf diese Weise kann das exotisierte Fremde seine Faszination, weitgehend ungehindert durch Furcht, entfalten. Kommt es dagegen zu einer Mythisierung des Fremden, erfolgt eine scheinbar paradoxe Distanzierung durch Zuordnung des Fremden zum Kern der Gruppenidentität: der Sakralsphäre.255 Dieser Widerspruch löst sich jedoch angesichts der Ähnlichkeit von Fremdem und Sakralem, das religionsphänomenologisch als das »Ganz andere«256 definiert werden kann, auf.257 Durch Situierung des Fremden im Bereich des Sakralen wird es von der Sphäre des Alltäglichen, deren Ordnung es bedroht, isoliert und auf diese Weise unschädlich gemacht.258 In Folge dieser defensiven Reaktion kann neben seiner negativen, furchterregenden auch die positive, d. h. faszinierende, Bewunderung und Verehrung hervorrufende Seite des Fremden wahrgenommen werden. Sowohl die Exotisierung als auch die Mythisierung des partiell negativ bewerteten Fremden zielen darauf ab, jegliche Auswirkungen des Fremden auf das Eigene möglichst zu unterbinden, um es zu kontrollieren. Wird das Fremde dagegen zur Selbsterhöhung benutzt, werden, analog zur Selbstkritik, explizit Vergleiche zwischen beiden Seiten hergestellt, wobei das Fremde hierbei stets die negative(re) Einschätzung erhält. Auch in diesem wertenden Sinne kann das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem also asymmetrisch sein. Im Falle eines fremden Kollektivs kommt es im Zuge dessen unweigerlich zu Stereotypisierungen, da eine differenzierte Betrachtung kein eindeutiges Urteil erlauben würde. Die Aufwertung des Eigenen basiert hier auf der Abwertung des Fremden, dem ein ebenbürtiger Status abgesprochen wird.259 Auf dieser Strategie beruhen ›asymmetrische Gegenbegriffe‹,260 z. B. die Begriffspaare 254 Greverus: Der territoriale Mensch, 60. 255 Vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 92 u. 94. 256 Otto: Das Heilige, 31. 257 Vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 94. Vgl. auch zur Person des Fremden: »[…] das Geheimnis, das ihn [den Fremden] umgibt, verbindet ihn mit dem Heiligen« (Pitt-Rivers: Das Gastrecht, 29). 258 Vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 94. 259 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 18. 260 Vgl. Koselleck, Reinhart: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Weinrich, Harald (Hg.): Positionen der Negativität. München 1975, 65–104.

Das Fremde – Annäherung an einen ›unzugänglichen‹ Begriff 

239

Griechen / Barbaren, Christen / Heiden, Zivilisierte / Wilde, Freunde / Feinde oder Menschen / Un(ter)menschen,261 bei denen der zweite Ausdruck jeweils nichts anderes als eine – unterschiedlich extreme – Rolle des Fremden ist.262 Die Gegensätze Freund vs. Feind und Mensch vs. Unmensch gehen über eine bloße Abwertung des Fremden hinaus und in eine auf Furcht basierende Dämonisierung des Fremden über. Der Fremde als Unmensch begegnet uns z. B. im Topos des Kannibalen, wie er in historischen Reiseberichten etwa über Amerika oder die Südsee häufig anzutreffen ist (vgl. z. B. den wohl bekanntesten dieser Texte, Michel de Montaignes »Des Cannibales« (1580)),263 der Fremde als Feind ist fast allgegenwärtig – und nicht selten geht ein Konzept in das andere über. Das dämonisierte Fremde unterliegt einer unzweideutig negativen Bewertung, wobei die […] Feindseligkeit […] kaum einer Erklärung [bedarf], denn die Bedrohung, die […] [es] für die anerkannten Normen und die verbindliche Ordnung der Gesellschaft 264 darstellt, ist offenkundig, abgesehen von allen imaginären natürlichen oder übernatürlichen Gefahren, die […] [es] in seinem Unbekanntsein verkörpert.265

Entscheidend ist also – erneut – nicht, ob vom Fremden tatsächlich eine begründete Gefahr ausgeht, sondern es genügt eine entsprechende Unterstellung, um es mit dem Feindlichen gleichzusetzen. Auf diese Weise lässt sich die eigene feindselige Haltung gegenüber dem Fremden – und gegebenenfalls auch ein entsprechendes Agieren – ganz einfach als Maßnahme zur Selbsterhaltung angesichts einer empfundenen oder unterstellten Feindseligkeit des Fremden rechtfertigen.266 Die Dämonisierung des Fremden schlägt sich in ihrer mildesten Form in tiefem Misstrauen nieder, oftmals aber zieht sie 261 Vgl. ebd., 92–104. 262 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 18. 263 Montaigne nutzt den Topos des ›Menschenfressers‹, hier in Bezug auf die indigene Bevölkerung Lateinamerikas, rhetorisch, indem er im Verlauf des Textes die Frage aufwirft, wer eigentlich der ›Barbar‹ ist: die Einheimischen oder die nicht weniger grausamen portugiesischen Eroberer: »Ie [sic!] ne suis pas marry [sic!] que nous remarquons l’horreur barbaresque qu’il y a en une telle action [le cannibalisme], mais ouy [sic!] bien dequoy [sic!] iugeans [sic!] à point de leurs fautes, nous soyons si aveuglez aux nostres [sic!].« (Chap. XXX : Des cannibales; Montaigne, Michel de: Les Essais De Michel Seigneur De Montaigne. Leyden 1602, 164). 264 Im Falle eines personalen Fremden sind von der unterstellten Bedrohung nicht nur diskursive Ordnungsprinzipien betroffen, sondern auch ganz konkrete materielle Verhältnisse, z. B. in Form einer Konkurrenz um Raum, Geld, Arbeit usw. (vgl. Hahn: Partizipative Identitäten, 145). 265 Pitt-Rivers: Das Gastrecht, 26. 266 Hinter der von Carl Schmitt postulierten politischen Leitdifferenz zwischen Freund und Feind (vgl. Schmitt: Der Begriff des Politischen, 26–37) steht eben diese Annahme einer Selbsterhaltung angesichts einer beständigen potentiellen Bedrohung durch das Fremde als Basis für politisches Handeln (vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 45 f.).

240

Das Fremde: theoretisch-methodische Grundlagen

verbale oder physische Aggression gegen es bzw. ihn nach sich. Dabei profitiert das Kollektiv oder Individuum, das sich einem feindlichen Fremden gegenübersieht – oder ein solches konstruiert –, allerdings auch in diesem Fall von der Konfrontation, da es durch Rückbesinnung auf das Eigene und eine klarere Selbstartikulation267 seine Identität stärkt. Somit resultiert sowohl aus einer positiven als auch aus einer negativen Haltung gegenüber dem Fremden letztlich in den meisten bisher genannten Umgangsstrategien eine positive, das Eigene stärkende Wirkung (lediglich im Fall der Mythisierung und Exotisierung liegt in der Regel eine neutrale Wirkung vor). Diese »Berührung mit Fremden«268 oder allgemein mit dem Fremden ist zur Bewahrung des Eigenen unabdingbar, ist das, was es »am Leben hält«,269 da es andernfalls der Stagnation und letztendlich dem Verfall anheimfallen würde. Allerdings bleibt hinter jeder erfolgreichen Bewältigung des Fremden stets das Moment der Irritation bzw. Verunsicherung und potentiellen Bedrohung des Eigenen erhalten, das ihr vorausgeht.270 Somit ist eine Fremdheitserfahrung – sofern sie nicht, wie im Folgenden ausgeführt wird, über jeden Versuch der Bewältigung hinausgeht und damit ausschließlich negativ ist – unabhängig von jeder expliziten axiologischen Einordung im Grunde immer ambivalent, da sie zwischen einer Bedrohung des Eigenen durch das Fremde und einer Bewahrung des Eigenen vor der Bedrohung durch das Fehlen eines unabdingbaren Fremden oszilliert. Diese grundlegende Ambivalenz des Fremden weicht nur dann einer ausschließlich negativen Bewertung und Wirkung, wenn es sich als nicht zu bewältigende Bedrohung entpuppt, die jegliche positive Umwertung ausschließt. Um das Eigene zu schützen, steigert sich in einer »Panikreaktion«271 die Aggression gegen das Fremde zum Versuch seiner Vernichtung.272 Im äußersten Fall bedeutet dies bei belebten Referenten seine Ermordung bzw. bei nichtbelebten seine wörtliche oder metaphorische Zerstörung, in abgeschwächter Form ein Verdrängen im räumlichen, sozialen oder psychischen Wortsinn. Ein bewusstes Ignorieren des Fremden ist dabei nicht zu verwechseln mit Indifferenz, sondern als Ausdruck einer passiven Abwehrhaltung zu werten. 267 Vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 93. 268 Hinderer: Das Phantom, 206. 269 Waldenfels: Topographie des Fremden, 183. 270 Schuck: Alles Vortreffliche, 61. 271 Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, 92. 272 Vgl. hierzu z. B. den Umgang vieler lokaler Gemeinschaften sogenannter ›primitiver‹ Kulturen ohne differenzierte, Alternativen ermöglichende Bewältigungsstrategien mit jedem Fremden, der keine verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihr nachweisen konnte. Dieser wurde zum Feind erklärt, dem gegenüber keinerlei moralische Verpflichtung bestand; als Vogelfreier konnte er straflos beraubt, verletzt oder getötet werden (vgl. Pitt-Rivers: Das Gastrecht, 26).

Das Fremde – Annäherung an einen ›unzugänglichen‹ Begriff 

241

Grundsätzlich wird das Fremde also stets einer positiven und / oder negativen Bewertung unterzogen. Ein Verhältnis der Indifferenz gegenüber dem Fremden ist nur unter der Bedingung möglich, dass die Irritation durch das Fremde ausreichend gering ist, um dieses distanziert zu betrachten. Zum Ersten charakterisiert Indifferenz eine relativistische Haltung, die Eigenes und Fremdes, z. B. in Bezug auf Kulturen, nicht gegeneinander aufwiegt, sondern jedem für sich eine Existenzberechtigung in seiner bestehenden Form zuerkennt. Ein indifferentes Verhältnis auf personaler Ebene wird ermöglicht durch einen typisierenden Umgang mit dem Fremden, das ihn auf seine soziale Rolle, z. B. seinen Beruf, reduziert,273 wodurch eine Auseinandersetzung mit der Fremdheit seiner Person unnötig wird, da diese in den Hintergrund tritt. Zum Zweiten ist Indifferenz besonders häufig gegenüber einem kaum mehr als fremd wahrgenommenen, alltäglichen Fremden, d. h. dem Anderen, anzutreffen. Diese Art der Relation ist beschreibbar als »Anwesenheit anderer Menschen bei Abwesenheit von Interaktion mit diesen Menschen«,274 wie sie beispielsweise in öffentlichen Räumen in urbanen Kontexten alltäglich ist. Ein Verhältnis zu diesen Fremden ist insofern gegeben, als dass ihre Anwesenheit das eigene Verhalten beeinflusst.275 Kommt es jedoch zu einer befremdlichen Interaktion, wird die nur latente276 Haltung der Indifferenz durch eine Bewertung in die eine oder andere Richtung beendet. Wie im Rahmen dieser Systematisierung deutlich wird, setzt sich die ›Semiotik des Fremden‹ also aus einem komplexen Geflecht der unveränderlichen Eigenschaften und veränderlichen Dimensionen des Fremden zusammen. Die folgende Graphik (Abb. 1) veranschaulicht dies. Das sich per definitionem durch Unzugänglichkeit auszeichnende Phänomen des Fremden erweist sich also durchaus, wie die hier vorgenommene theoretische Annäherung zeigt, als bis zu einem gewissen Grad zugänglich. Im zweiten Teil der theoretisch-methodischen Grundlagen soll nun ausgehend von den bislang gewonnenen Erkenntnissen über das Fremde ein Aspekt nähere Betrachtung finden, der hierbei bereits mehrfach angeklungen ist: die Verknüpfung des Fremden mit dem Raum.

273 Vgl. Münkler / Ladwig: Dimensionen der Fremdheit, 29. 274 Ebd. 275 Vgl. ebd. 276 Vgl. ebd.

Das Fremde: theoretisch-methodische Grundlagen

242

Dynamiken

Bedeutungen evtl. Grund für

Nichtzugehörigkeit zu Gruppe/ zu Individuum Ort

Unvertrautheit Unvertrautheit

zu Besitz

zunehmend

unverändert

abnehmend

Entfremdung

Statik

Aneignung

beeinflußt durch (Un-)Vertrautheitserwartung

Besitz

Nichtzugehörigkeit

Art

Exklusion

Statik

Referenten nicht personal

extrasubjektiv

DIM HE

EIGENSCHAFTEN

N

NT MA

NE

SIO

EN

IM

ISC

ED

CH

FREMDES

Dialektisches Verhältnis zum Eigenen Konstruktcharakter Zugängliche Unzugänglichkeit Relationalität Indexikalität Asymmetrie Keine zwingende Reversibilität

SE

intrasubjektiv

TIS

EN

Die Fremde

radikal

K TA

Der Fremde Das Fremde

Ort

strukturell

N SY

Tier/Pflanze/ Sache/ Abstraktum

alltäglich

EN

Person/ Gruppe

Grade

SIO N

personal

Inklusion

PRAGMATISCHE DIMENSIONEN Interpreten Individuum

Kollektiv

Vektoren Ausgangspunkt (Origo) passiv

Nichtzugehörigkeit

Direktionalität

aktiv mono-

implizit

explizit hyperexplizit

bipolydirektional

Wirkungen und Bewältigungsstrategien

Axiologie

Verunsicherung

unentscheidbar

Versicherung Unvertrautheit

Ausdrucksmodi

Leugnung

Verhandlung Anerkennung

Bestätigung Neubestimmung

(vorübergehende) Aufhebung

Bewahrung

Vernichtung der dem Selbst gesetzten Grenzen

positiv ambivalent negativ Selbstkritik

der selbstgesetzten Grenzen der Dichotomie eigen/fremd

Assimilation Hybridität Verklärung Exotisierung Mythisierung Dämonisierung

Abbildung 1: Semiotik des Fremden

indifferent

Selbster- Relativishöhung mus

Fremdheit und Raum 

3.2

243

Fremdheit und Raum »Es gehört zu den Grundannahmen unserer Fremdheitsstudien, daß das Fremde primär von Orten des Fremden her zu denken ist […].« Bernhard Waldenfels277

Unter den verschiedenen Bedeutungen des Fremden kommt dem Aspekt des Räumlichen eine herausragende Rolle zu: Fremdheit wird grundsätzlich zunächst mit einem fremden (physischen oder metaphorischen) Raum assoziiert, in ihm verortet und von ihm her gedacht. Bernhard Waldenfels identifiziert unter den vorgestellten drei Grundbedeutungen des Zeichens Fremd – 1. außerhalb des eigenen Bereichs verortet, 2. einer anderen Person gehörend, 3. fremdartig  – die erstgenannte, räumliche, als dominierend.278 Zudem sind viele Fremdheitsformen, so z. B. das sprachlich Fremde, das geographisch Fremde oder das kulturell Fremde, mehr oder weniger stark mit der räumlichen Distanz zum Eigenen korreliert. Für die folgenden Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Raum und Alienität ist zunächst der zugrundeliegende Raumbegriff zu klären. Zum einen bezieht sich dieser auf einen physischen – realen oder, z. B. im Kontext der Literatur, fiktiven – Raum, der jedoch weniger als geographisches Phänomen denn vielmehr als kulturelles Konstrukt zu betrachten ist. Der Raum wird dadurch zum Träger von Bedeutung und im Sinne einer ›mentalen Geographie‹ konzeptualisiert.279 Die Semantisierung des Raums in Form von mental maps280 ist dabei eng mit der Identitätsbildung verknüpft.281 Zum anderen werden in dieser Studie auch imaginäre, z. B. rein mentale, symbolische oder metaphorische, Räume berücksichtigt, die aber potentiell konkrete territoriale Züge annehmen können und z. T. ein (reales) physisch-geographisches Pendant besitzen. Die große Bedeutung des Raumes für die Betrachtung des Fremden liegt wesentlich in der räumlichen Verankerung von Eigenem und Fremdem begründet, was im ersten Teil dieses Unterkapitels kurz vorgestellt werden soll. 277 Waldenfels: Topographie des Fremden, 12; Hervorhebung im Original. 278 Vgl. Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 26. 279 Vgl. Lamberz, Irene: Raum und Subversion. Die Semantisierung des Raums als Gegenund Interdiskurs in russischen Erzähltexten des 20. Jahrhunderts (Charms, Bulgakov, Trifonov, Pelevin). München 2010, 14. 280 Vgl. Schenk, Frithjof Benjamin: Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 28 (2002), 493–514, hier 494–497. 281 Vgl. Lamberz: Raum und Subversion, 15.

244

Das Fremde: theoretisch-methodische Grundlagen

Anschließend erfolgt eine Klassifikation des Fremden nach dem Kriterium der – realen oder metaphorischen – räumlichen Distanz, wofür das kultur­ semiotische Modell der Semiosphäre von Jurij M.  Lotman als Grundlage dient. Dieses Modell der räumlichen Verortung des Fremden wird mit den Graden der Fremdheit nach Waldenfels, wie in Kapitel 3.1.2.2 vorgestellt, zusammengedacht. Lotmans Modell bezieht sich, obwohl er dies selbst nicht deutlich macht, sowohl auf Fremdheit im Sinne einer epistemischen, praktischen und / oder psychologischen Unvertrautheit wie auch auf Fremdheit im Sinne einer Nichtzugehörigkeit, was auf die in der Praxis oftmals vorliegende enge Verwebung beider Fremdheitsarten zurückzuführen ist. 3.2.1

Die räumliche Verankerung von Eigenem und Fremdem: J. Lotmans Modell der Semiosphäre »La preuve première d’existence, c’est d’occuper l’espace.« Le Corbusier282

Da uns Fremdes, wie aus den vorangehenden Überlegungen deutlich wurde, als etwas begegnet, das über die eigene Ordnung hinausgeht, ist es zu denken »als ein Anderswo und als ein Außer-ordentliches«.283 Dies wird auch anhand einiger Etymologien deutlich. So leitet sich etwa das deutsche Adjektiv ›fremd‹ von der Partikel fram ab, welche als ›vorwärts‹, ›weiter‹ sowie ›von… weg‹ übersetzbar ist;284 diese Bedeutung ist im englischen from bis heute erhalten.285 Somit verweist das Lexem ›fremd‹ ursprünglich auf eine räumliche Entfernung. Auch der lateinischen Bezeichnung für den Fremden, peregrinus, liegt der Hinweis auf eine Distanz zugrunde: Der Ort des Fremden befindet sich per ager, d. h. über den Acker, außerhalb der Stadt.286 Der Fremde im Russischen trägt unter anderem die Bezeichnung prišelec, die ihn in Übereinstimmung mit Simmel als jemanden bestimmt, der von einem anderen Ort gekommen ist.287 Die Unmöglichkeit, Eigenes und Fremdes unabhängig von spatialen Kategorien zu denken, zeigt sich besonders deutlich in ihrer auf einer Grenzzie282 Le Corbusier: L’espace indicible. In: Ockman, Joan (Hg.): Architecture Culture 1943–1968. A Documentary Anthology. New York 1993, 66–67, hier 66. 283 Waldenfels: Topographie des Fremden, 12. 284 Vgl. Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Vierten Bandes erste Abtheilung. Erste Hälfte: Forschel – Gefolgsmann. Leipzig 1878, Sp. 125. 285 Vgl. Hogrebe: Die epistemische Bedeutung, 357; Stagl: Grade der Fremdheit, 88 f. 286 Vgl. Hogrebe: Die epistemische Bedeutung, 357. 287 Vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 89.

Fremdheit und Raum 

245

hung basierenden Bestimmung, die die Vorstellung zweier durch die Grenze getrennter Räume impliziert. Dementsprechend konstatiert Waldenfels: »Im Falle des Eigenen und Fremden haben wir es […] nicht bloß mit zwei Themen zu tun, sondern mit zwei Topoi. Sobald wir vom Ort des Fremden absehen, verflüchtigt sich das Fremde in eine allgemeine Bestimmung.«288 Der äußerst engen Verknüpfung von Raum mit (v. a. strukturell) Eigenem und Fremdem liegt in hohem Maße die unaufhebbare Bindung von Kultur an Raum zugrunde: Jeder kulturelle Akt trägt im Wesentlichen räumliche Züge. Dies spiegelt sich bereits im lateinischen Verb colere wider, das in seiner ursprünglichen Bedeutung die auf dem Raum basierende und diesen verändernde Tätigkeit des Anbauens beschreibt.289 Somit sind Kulturen290  – die eigene wie die fremde – nicht unabhängig vom Raum, sondern »nur als stabilisierte Raumordnungen denkbar […]«.291 In diesem Sinne spricht Böhme auch von »kulturelle[n] Topographien«.292 Die im Folgenden vorgenommenen Verortungen des Fremden könnten somit als »Topographie des Fremden« – wie im Titel der Monographie von Waldenfels (1999) – bezeichnet werden. Da eine Topographie des Fremden, wie vor allem in den Textanalysen zu zeigen sein wird, als Verfahren jedoch nicht nur stabile Verortungen und Grenzen festschreibt, sondern in wesentlichem Maße auch Grenzüberschreitungen und -verletzungen, Verbindungen und Kreuzungen293 beschreibt, umschreibt und neu schreibt, ist neben der Kategorie des Raums auch die der Zeit mit einzubeziehen. Aufgrund dieser Dynamiken, in denen sich Zeit und Raum verbinden, soll hier von einer Chronotopographie294 des Fremden die Rede sein. 288 Waldenfels: Der Anspruch des Fremden, 40. Darüber hinaus lassen sich Eigenes und Fremdes auch als Topoi im Sinne von Denkorten in Literatur und Philosophie verstehen. 289 Vgl. Böhme, Hartmut: Einleitung: Raum  – Bewegung  – Topographie. In: Ders. (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart, Weimar 2005, IX–XXIII, hier XIII . 290 Hierbei wird von einem breiten Kulturbegriff ausgegangen. Kulturelle Ordnungen in diesem Sinne schließen somit unter anderem nationale, transnationale, lokale oder religiöse Lebensstrukturen mit ein. 291 Böhme: Einleitung, XIV. 292 Ebd., XVIII . 293 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 12. 294 Waldenfels selbst modifiziert seinen Begriff der »Topographie« zu dem der »Chronotopologie« (Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 27; der Wechsel von -graphie zu -logie wird dabei nicht erklärt) und begründet dies mit der engen Verknüpfung räumlicher und zeitlicher Fremdheit. Dieser Zusammenhang soll aus den hier vorgenommenen Betrachtungen keineswegs ausgeklammert werden, jedoch liegt der Fokus bei der Einbeziehung des chronos, wie beschrieben, auf dem Aspekt des Dynamischen, der Wandelbarkeit. Die Chronotopographie des Fremden stellt im konkreten literarischen Text eine Unterform des Chronotopos im Verständnis Bachtins, also der Raum-Zeit der Handlung, dar. Bachtin definiert den Begriff Chronotopos (russ.: chronotop, wörtlich

246

Das Fremde: theoretisch-methodische Grundlagen

Die genannten topographischen Ansätze von Waldenfels und Böhme weisen auffällige Parallelen zu dem im Kontext der Moskau-Tartuer Schule entwickelten Konzept des semiotischen Raumes des russischen Kultursemiotikers Jurij Lotman auf, welches darüber hinaus den – für diese Studie soeben als unerlässlich bestimmten – Faktor Zeit mit einbezieht. Nach diesem Modell besteht für die Existenz einer Kultur die unerlässliche Bedingung einer »особой структуры ›пространства – времени‹«.295 Den kulturellen Akt der Raumnahme296 bringt Lotman explizit in Verbindung mit dem Moment des Eigenen und des Fremden: »Всякая культура начинается с разбиения мира на внутреннее (›свое‹) пространство и внешнее (›их‹).«297 Dies entspricht Husserls oben erwähnter Einteilung der Lebenswelt in eine Heim- und eine Fremdwelt.298 Da der eigene Raum – analog zum Eigenen allgemein, wie in Kapitel 3.1.1 definiert, – nicht per se existiert, sondern sich nur durch den Akt der Abgrenzung vom fremden, d. h. als relationaler Raum konstituiert, definiert Lotman als eine der beiden Hauptfragen bei der Beschreibung eines semiotischen Systems »ее отношение к вне-системе, к миру, лежащему за ее пределами«.299 übersetzt als vremjaprostranstvo) als »[с]ущественную взаимосвязь временных и пространственных отношений, художественно освоенных в литературе« (Bachtin, M. M.: Formy vremeni i chronotopa v romane. In: Ders.: Sobranie sočinenij v semi tomach. T. 3. Teorija romana (1930–1961 gg.). Moskva 2012, 340–511, hier 341. Dt.: »[d]en grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen« (Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt a. M. 2008, 7)). 295 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 259. Dt.: »spezifische[n] Raum-Zeit-Struktur« (­Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 177). 296 Vgl. hierzu auch den kulturellen Akt des Wohnens als erste Raumnahme (vgl. Heidegger, Martin: Bauen – Wohnen – Denken. Vorträge und Aufsätze. Teil II . Pfullingen 1967) sowie den Akt der Landnahme, z. B. im Kontext der Kolonialgeschichte, als elementare Form der Aneignung (vgl. Waldenfels: Der Anspruch des Fremden, 31). 297 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 257. Dt.: »Am Beginn jeder Kultur steht die Einteilung der Welt in einen inneren (›eigenen‹) und einen äußeren Raum (den der ›anderen‹).« ­(Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 174). Aus der grundlegenden Bedeutung des Raums für die Etablierung und Erhaltung einer Kultur erklärt sich auch das territoriale Verhalten des Menschen, da der eigene – geographische – Raum mit Sicherheit assoziiert wird und eine Identifikationsmöglichkeit bietet (vgl. Greverus: Der territoriale Mensch, 53). Dementsprechend ist auch das Konzept von ›Heimat‹ stark an einen realen Raum gebunden (vgl. Treppte, Carmen: Auf der Suche nach Heimat. Eine Reise mit den Brüdern Grimm nach Mittelasien und zurück. In: Dies.: Das Fremde als Spiegel. Kolportagen zur interkulturellen Entwirrung. Weinheim, Basel 1992, 12–24, hier 15). 298 Vgl. Husserl: Beilage X, 176; Husserl: Beilage XII, 221 f.; Husserl: Nr. 27. Heim – fremd, 430–432; Husserl: Beilage XLVIII, 629. 299 Lotman, Jurij M.: Kul’tura i vzryv. In: Ders.: Semiosfera. Kul’tura i vzryv. Vnutri mysljaščich mirov. Stat’i. Issledovanija. Zametki (1968–1992). Red. N. G.  Nikolajuk, T. A.  Špak. Sankt-Peterburg 2010, 11–148, hier 12. Dt.: »sein Verhältnis zum System-

Fremdheit und Raum 

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Die Grenze ist dementsprechend auch ein entscheidendes Element in Lotmans kultursemiotischem Modell der Semiosphäre, auf das sich die im nächsten Abschnitt entwickelte Chronotopographie des Fremden wesentlich stützen soll. Die Semiosphäre stellt, in Analogie zu V. Vernadskijs Begriff der ›Biosphäre‹, sowohl die Voraussetzung für die Entwicklung der Kultur als auch das Ergebnis des kulturellen Entwicklungsprozesses zu einem gegebenen Zeitpunkt dar.300 Innerhalb der Semiosphäre laufen semiotische Prozesse ab, welche die zunächst unmarkierte Welt mit Bedeutung belegen. Die Semiosphäre ist als Modell konzentrischer Ringe konzipiert, was ebenfalls mit Husserls Ansatz der Heim- und Fremdwelt übereinstimmt.301 Sie zeichnet sich durch zwei wesentliche organisierende Faktoren aus, mit denen sich die in Kapitel 3.1.2.2 vorgestellte Dynamik – zwischen Entfremdung und Ent-fremdung – erklären lässt: zum einen durch das asymmetrische302 Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, zum anderen durch die bereits genannte Grenze. Im Zentrum einer Kultur befinden sich diejenigen Sprachen (im semiotischen Sinne), die am stärksten strukturiert und normiert sind.303 Sie werden zur Peripherie hin nach und nach durch weniger entwickelte Sprachen abgelöst, die in immer größerem Widerspruch zu den im Zentrum definierten und dort geltenden Normen stehen.304 Analog hierzu nimmt in Husserls Modell die Vertrautheit innerhalb der Heimwelt mit wachsendem Abstand vom Zentrum allmählich ab.305 Die Normen innerhalb der Semiosphäre sind das Ergebnis einer Selbstbeschreibung von Texten – einer Beschreibung des (vermeintlich) genuin Eigenen – in Form von Grammatikalisierung und Kodifizierung, was Lotman als »[в]ысшей формой структурной организации Äuße­ren, zur Welt jenseits seiner Grenzen« (Lotman: Kultur und Explosion, 7). Als zweite Hauptfrage nennt Lotman das Verhältnis von Statik und Dynamik eines Systems (vgl. Lotman: Kul’tura i vzryv, 12). 300 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 251. 301 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 92. Auch Husserl entwirft sein Modell der Lebenswelt, das sich aus Heim- und Fremdwelt zusammensetzt, als »ringförmig[e] (kugelschalenförmig[e]) […] Raumsphäre« (Husserl: Nr. 27. Heim – fremd, 430). Das Modell konzentrischer Kreise oder Ringe wird bereits in der Antike bei Aristeas zur räumlichen Konzeptualisierung von Eigenem und Fremdem angewandt: »Die fremden Völker legen sich gleichsam in Ringen um die bekannte Welt. Je weiter sie entfernt wohnen, desto wunderlicher werden sie in Wesen und Aussehen.« (vgl. Dihle, Albrecht: Die Griechen und die Fremden. München 1994, 20). 302 Dies entspricht der Asymmetrie als wesentlichem Merkmal von Fremdheit im Allgemeinen, wie in Kapitel 3.1.1 festgehalten wurde. 303 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 254. 304 Vgl. ebd., 259. Im Kontext der postcolonial studies findet sich ein analoges Konzept des Zentrums in Homi Bhabhas Begriff der imperialen »metropolis« (vgl. u. a. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London 1994, 212 f.), die versucht, der Peripherie – d. h., der Kolonie – ihren kulturellen Code überzustülpen. 305 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 92.

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семиотической системы«306 definiert. Diese metastrukturellen Konstruktionen sind unabdingbar zur Eindämmung übermäßiger, den Zusammenhalt der Semiosphäre gefährdender Heterogenität. Dazu werden die im Rahmen der Selbstbeschreibung im Zentrum formulierten Normen auf andere Bereiche der Semiosphäre mit ihren von der Norm abweichenden oder ihr sogar widersprechenden Texten ausgeweitet.307 Je weiter die Strukturierung des semiotischen Systems jedoch fortgeschritten ist, desto weniger Flexibilität und Entwicklungsmöglichkeiten verbleiben ihm.308 Einer hierdurch drohenden Erstarrung wirkt die Peripherie entgegen. Die in ihr angesiedelten, aus Sicht des Zentrums mehr oder weniger fremden Texte generieren durch Kontakt mit den im Zentrum formulierten Normen immer neue Informationen. Sie können zudem allmählich ins Zentrum einer Kultur rücken und selbst Metabeschreibungen hervorbringen, die schließlich ebenfalls Anspruch auf universelle Gültigkeit in der gesamten Semiosphäre erheben.309 Das asymmetrische Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie bringt somit zwei einander wechselseitig ausgleichende Prozesse – Vereinheitlichung und Festschreibung vs. Diversifizierung und Dynamisierung – hervor, die das Entwicklungspotential der Kultur erhalten.310 Mit noch weitaus höherer Intensität als zwischen Zentrum und Peripherie vollziehen sich semiotisierende (russ.: semioobrazovatel’nye) Prozesse an der Grenze der Semiosphäre, zwischen Innen- und Außenraum.311 Die Grenze ist dabei zu verstehen »как черт[а], на которой кончается периодичная форма«,312 jenseits derer sich also ein nicht-semiotisierter Raum befindet. Ihr kommt die Funktion eines Filters zu, der das Eindringen fremder Texte in die eigene Semiosphäre erschwert und die aufgenommenen Texte soweit in die eigene Sprache übersetzt, dass sie mit dem internen Code kompatibel sind.313 Die Funktionen der Grenze gestalten sich somit analog zu jenen von Zentrum und Peripherie: Einerseits besitzt sie – wie die Normierung durch das Zentrum  – eine vereinheitlichende Wirkung auf die Semiosphäre, da alle 306 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 254. Dt.: »[d]ie höchste Stufe der strukturellen Organisation eines semiotischen Systems« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 170). 307 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 255 f. 308 Vgl. ebd., 255 u. 259. 309 Vgl. ebd., 260. 310 Dasselbe Prinzip gilt auch für die Identität von Individuen: »Identität […] erwirbt man […] in der psychischen Bearbeitung von Übergängen und Transformationen, nicht in starren, gleichbleibenden Situationen« (Straub: Personale und kollektive Identität, 92). 311 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 262. 312 Ebd., 257. Dt.: »als Linie […], an der periodische Formen enden.« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 174). 313 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 265.

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diesseits verorteten Texte (russ.: sistemnoe)314 in ihrer Zugehörigkeit zum Innenraum als Gesamtheit den Elementen des Außenraums (russ.: vnesis­ temnoe)315 gegenüberstehen.316 Auf der anderen Seite bedingt die Grenze durch die Semiotisierung von Elementen aus dem Außenraum und ihre Eingliederung in das eigene semiotische System eine Heterogenisierung der Semio­ sphäre und die beständige Generierung neuer Bedeutungen.317 Dies entspricht den in Kapitel 3.1.2.2 vorgestellten Wirkungen des Fremden als Medium zur Versicherung des Eigenen in bestehender Form bzw. als Stimulus zu dessen Modifikation (Verhandlung). Auch das Moment der Verunsicherung durch das Fremde, das in diesem Zusammenhang vorgestellt wurde, kommt in Lotmans Modell zum Tragen. Während das Eigene im Zentrum von Normen und Regeln, welche Stabilität, Zugehörigkeit und Vertrautheit schaffen, gekennzeichnet ist, führt die Konfrontation mit nicht-normierten oder gar nicht-semiotisierten Elementen der Peripherie bzw. des Außenraums zwangsläufig zu Irritationen und Missverständnissen, da ihr Code teilweise oder vollkommen unbekannt ist.318 Die Intensität dieser Veränderungen, Infragestellungen und Irritationen, die bis hin zur Erschütterung der eigenen Identität gehen können,319 fällt in Abhängigkeit von der Distanz dieses Fremden zum Zentrum der Semiosphäre unterschiedlich aus. Die zahlreichen identifizierten Übereinstimmungen zwischen Lotmans Ansatz und den bisherigen in dieser Studie vorgenommenen theoretischen (oftmals phänomenologischen) Überlegungen zum Fremden und Eigenen ermöglichen die Kombination des Modells der Semiosphäre mit dem bereits eingeführten phänomenologischen Modell der Fremdheitsgrade nach Bern314 Dt.: »[S]ystematisch[es]« (Lotman: Das dynamische Modell, 94). 315 Dt.: »Extrasystematische[s]« (ebd.). 316 Vgl. Lotman: Dinamičeskaja model’, 547; Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 256. 317 Vgl. denselben Gedanken bei Waldenfels mit Referenz auf Husserls Konzept der Lebenswelt: »Die Risse der Fremdheit, die durch die Lebenswelt gehen und sie in Heim- und Fremdwelt zerteilen, sind somit keine Schäden, sie sind das, was die Lebenswelt aufsprengt, am Leben hält und sie vor dem Absinken in das Gleichmaß purer Normalität bewahren könnte.« (Waldenfels: Topographie des Fremden, 183). Deutliche Parallelen von Lotmans Verständnis der Rolle des vnesistemnoe bestehen auch zu Luhmanns systemtheoretischem Ansatz. In seinen Ausführungen zu System und Umwelt betont er: »Der Begriff der Umwelt darf nicht als eine Art Restkategorie mißverstanden werden. Vielmehr ist das Umweltverhältnis konstitutiv für Systembildung. […] Auch ist die Umwelt nicht nur für die ›Erhaltung‹ des Systems, für Nachschub von Energie und Information bedeutsam. Für die Theorie selbstreferentieller Systeme ist die Umwelt vielmehr Voraussetzung der Identität des Systems, weil Identität nur durch Differenz möglich ist.« (Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1987, 243; Hervorhebung im Original). 318 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 253. 319 Vgl. Böhme: Einleitung, XXI .

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hard Waldenfels, wobei an beiden gewisse notwendige Modifikationen vorgenommen werden. Dieses kombinierte Modell einer Chronotopographie des Fremden soll im folgenden Unterkapitel vorgestellt werden. 3.2.2

Die Chronotopographie des Fremden

Zwar ist das Fremde zunächst einmal grundsätzlich im fremden Raum angesiedelt, es ist jedoch, wie gezeigt wurde, auch im eigenen Raum vorhanden: Zum einen kommt es an der Grenze der Semiosphäre stets zu einem Kontakt des Fremden mit dem Eigenen, zum anderen tritt das Fremde  – im Sinne eines nicht den Normen des Zentrums entsprechenden Textes – immer auch im Inneren der Semiosphäre auf. Somit lässt sich bei der Bestimmung der Chronotopographie des Fremden zunächst eine Trennung zwischen Fremdem im Außenraum der Semiosphäre und Fremdem im Innenraum vornehmen. In beiden Kategorien können zudem je zwei weitere Unterarten von Alienität unterschieden werden. Im Zusammenhang mit dieser Einteilung sind zwei der in Kapitel 3.1.2.1 als wesentlich und unveränderlich identifizierten Eigenschaften des Fremden zu berücksichtigen: Da das Fremde immer nur indexikalisch von einem Eigenen ausgehend sowie relational zu einem Eigenen gedacht werden kann, ist auch bei dessen Verortung stets von einem »auf das jeweilige Hier und Jetzt, von dem aus jemand spricht, handelt und denkt«320 bezogenen Ich auszugehen. Folglich ist an dieser Stelle eine erste Modifikation des ursprünglichen Modells vorzunehmen, da die Theorie der Semiosphäre in dieser Studie nicht zur Modellierung der Funktionsweise einer Kultur im Ganzen, sondern zur spezifischeren Betrachtung des Verhältnisses von Eigenem und Fremdem aus der Perspektive der in ihr befindlichen Individuen dienen soll. Während Lotman, wie erwähnt, als Zentrum der Semiosphäre »наиболее развитые и структурно организованные языки«321 definiert, soll in Übereinstimmung mit Waldenfels’ hier zitierter Forderung in dieser Studie das Ich als (deikti­sches) Zentrum gedacht werden, welches mit den eigenen (individuellen und kollektiven) Normen stärker übereinstimmende Phänomene als weniger fremd, weniger stark übereinstimmende als fremder wahrnimmt.322 Diese Veränderung des Modells steht keineswegs im Widerspruch zu Lotman, der selbst 320 Waldenfels: Topographie des Fremden, 23. 321 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 254. Dt.: »die am weitesten entwickelten und strukturell am stärksten organisierten Sprachen« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 169). 322 Vgl. hierzu auch Waldenfels: »Entscheidend ist aber, daß sich das Wechselspiel von Eigenem und Fremdem immerzu zwischen Drinnen und Draußen abspielt. […] Das Drinnen ist kein fixer Ort, sondern ein Wanderort gleich der Wanderdüne. Er bildet sich okkasio-

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festhält: »Самоописание этого пространства подразумевает местоимение первого лица«323 und sogar von einem »семиотическое ›я‹«324 spricht. Bei der späteren Analyse des Fremden in der fiktiven Realität der Werke Aleksandr Grins muss dementsprechend in jedem einzelnen Text zunächst das Ich bzw. dessen ›Eigenes‹ im Zentrum der Semiosphäre bestimmt werden. Auf einer zweiten, extratextuellen Ebene bildet den Ausgangspunkt das deiktische Zentrum des im Regelfall russischen Lesers, des unterstellten Adressaten. 3.2.2.1

Im semiotischen Außenraum: das radikal Fremde und das strukturell Fremde »Das Fremde ist ›außerhalb‹.« Monika Schmitz-Emans325

Der Außenraum der Semiosphäre bildet das Gegenkonzept, den »антимир«,326 zum Innenraum: Dem semiotisierten, geordneten eigenen Raum stehen das (vermeintliche) Chaos, die unkultivierte Wildnis und die Gefährlichkeit des Außenraums gegenüber.327 Bezeichnenderweise sind die Räume, denen diese Eigenschaften zugeschrieben werden, von den frühen Mythen bis heute weitestgehend dieselben geblieben – der Raum der fremden Kultur, die Wildnis, der Wald, die Berge und das Meer.328 Bei den im semiotischen Außenraum angesiedelten Formen des Fremden ist also zunächst von einem höheren Fremdheitsgrad als bei denjenigen im Innenraum auszugehen. Dies stimmt überein mit Waldenfels, der die Fremdheit im Inneren der eigenen Ordnung als alltäglich, die außerhalb der eigenen, aber innerhalb einer fremden Ordnung als strukturell und schließlich diejenige außerhalb jeglicher Ordnung als radikal bestimmt.329 Die beiden letztgenannten Ausprägungen des Fremden sind also nell, von Fall zu Fall, angezeigt durch das indexikalische ›hier‹ des jeweiligen Sprechers oder Täters.« (Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 27; Hervorhebungen im Original). 323 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 257. Dt.: »Die Selbstbeschreibung dieses Raums geschieht aus der ersten Person.« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 174). 324 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 263. Dt.: »semiotische[n] ›Ich‹« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 184). 325 Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 36. 326 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 266. Dt.: »Antiwelt« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 188). 327 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 257; Böhme: Einleitung, XX . 328 Vgl. Großklaus, Götz: Neue Medienrealität – jenseits der alten Dichotomie von ›fremd‹ und ›eigen‹. In: Iwasaki, Eijiro / Shichiji, Yoshinori (Hg.): Begegnung mit dem ›Fremden‹: Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des 8. Internationalen Germanisten-Kongresses, Tokyo 1990. Bd. II, Sektion 1: Theorie der Alterität. München 1991, 29–37, hier 30 f. 329 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 36 f.

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dem semiotischen Außenraum zuzuordnen, welcher als »›их-пространство‹, ›чужое‹, ›враждебное‹, ›опасное‹, ›хаотическое‹«330 dem als »›наше‹, ›свое‹, ›культурное‹, ›безопасное‹, ›гармонически организованное‹«331 konzeptualisierten semiotischen Innenraum gegenübergestellt wird. Das radikal Fremde als das per definitionem Außer-ordentliche ist dabei nicht irrelevant für die Ordnung, sondern »begleitet [sie] […] wie ein Schatten.«332 In Lotmans Modell des semiotischen Raums ist dieser höchste Fremdheitsgrad an ›entfernten‹ Orten im Außenraum, die nicht an den Innenraum der Semiosphäre grenzen, anzusiedeln. Ohne Kontakt zur als Übersetzungsmechanismus fungierenden Grenze kann es nicht in die eigene Ordnung eingegliedert und zum Inhalt eines semiotischen Textes werden. Da – aus der prinzipiell eingenommenen Innenperspektive betrachtet – gilt: »Вне семиосферы нет ни коммуникации, ни языка«,333 bleibt das radikal Fremde unzugänglich. In den Erzählungen, Povesti und Romanen Aleksandr Grins spielen radikal fremde Phänomene eine große Rolle, sowohl hinsichtlich ihrer Häufigkeit als auch ihrer Bedeutung für das Sujet. Besonders übernatürliche Phänomene, aber auch Tod, Schlaf, tranceartige Zustände und Ähnliches sind in zahlreichen seiner Texte anzutreffen. Das strukturell Fremde nach Waldenfels ist weniger unzugänglich als das radikal Fremde, steht jedoch ebenfalls außerhalb der eigenen Ordnung.334 Im Lotman’schen Modell ist dieser Grad der Fremdheit zwar im semio­tischen Außenraum, aber an der Außengrenze der Semiosphäre anzusiedeln, wodurch es zumindest potentiell, bei einem Überschreiten der Grenze, semiotisierbar ist, wenn auch nie vollkommen bruchlos übersetzbar. Nach Waldenfels wird strukturelle Fremdheit in deutlicher Übereinstimmung hiermit als unverständlich oder sogar sinnlos, aber dennoch einer, wenn auch fremden, Ordnung zugehörig wahrgenommen.335 Lotman weist ebenfalls darauf hin, dass »реально любая семиосфера не погружена в аморфное ›дикое‹ пространство, а соприкасается с другими семиосферами, обладающими своей организацией […].«336 330 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 257. Dt.: »Raum ›der anderen‹ […], […] ›fremd‹, ›feindlich‹, ›gefährlich‹ und ›chaotisch‹« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 174). 331 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 257. Dt.: »›unser eigener‹, […] ›vertraut‹, ›kultiviert‹, ›sicher‹, ›harmonisch organisiert‹ (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 174). 332 Waldenfels: Topographie des Fremden, 33. 333 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 250. Dt.: »Außerhalb der Semiosphäre gibt es weder Kommunikation noch Sprache« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 164). 334 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 36. 335 Vgl. ebd. 336 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 267. Dt.: »jede Semiosphäre in der Realität nicht von einem amorphen ›wilden‹ Raum umgeben ist, sondern an andere Semiosphären mit ihrer je eigenen Organisation angrenzt […].« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 190).

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Strukturelle Alienität begegnet uns häufig in Gestalt fremder Kulturen und fremder Sprachen337 und nimmt dabei teilweise den Charakter eines exotischen Fremden an. Besonders prominent figuriert diese Art des strukturell Fremden bei Grin in Gestalt der oft exotisch gestalteten Schauplätze und deren Bewohner, die von Zeit zu Zeit auf Mitglieder der Eigengruppe, d. h. hier meist – aber bei Weitem nicht immer – Europäer, treffen. Dem radikal und strukturell Fremden im Außenraum der Semiosphäre – bzw. der auf Husserls Unterscheidung von Heim- und Fremdwelt basierenden »Fremdheit außerhalb der Heimwelt, die zu deren Außenhorizont gehört«  – steht das Fremde im semiotischen Innenraum  – nach Husserl eine »Fremdheit innerhalb der Heimwelt, die zu deren Innenhorizont gehört«338 – gegenüber.339 3.2.2.2 Im semiotischen Innenraum: das alltägliche Fremde und das intrasubjektive Fremde

Im Innenraum der Semiosphäre lassen sich ebenfalls zwei Arten von räumlicher Fremdheit verorten. Die jeder Gesellschaft innewohnende Fremdheit bezeichnet Waldenfels, wie erwähnt, als das alltägliche bzw. normale Fremde. Da dieses Fremde aber gerade nicht ›normal‹ ist, d. h. nicht der Norm des Lotman’schen Zentrums wie auch der Norm des deiktischen Zentrums (Ich) entspricht, wird hier der Bezeichnung des ›alltäglichen‹ Fremden der Vorrang gegeben. Den drei Fremdheitsgraden nach Waldenfels ist schließlich noch eine Fremdheit im Individuum selbst hinzuzufügen. Sie soll in dieser Studie als intrasubjektive oder Ich-Fremdheit bezeichnet werden.340 Eine für die Analyse bedeutende Implikation der einleitend vorgestellten Überlegungen Lotmans zur Grenze und Peripherie besteht darin, dass die Semiosphäre infolge des universellen Gültigkeitsanspruchs ihrer metastrukturellen Selbstbeschreibung nur homogen erscheint, tatsächlich aber von der simultanen Koexistenz abweichender, ›fremder‹ semiotischer Praktiken gekenn337 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 36. 338 Ebd., 91; Hervorhebung im Original. 339 Dem entspricht die von Waldenfels getroffene Unterscheidung zwischen »Fremdheit in der Gemeinschaft« und »Fremdheit gegenüber der Gemeinschaft« (Waldenfels, Bernhard: Das Zwischenreich des Dialogs: Sozialphilosophische Untersuchungen im Anschluss an Edmund Husserl. Den Haag 1971, 359). Da diese Formulierungen jedoch stark auf soziale Fremdheit bezogen sind, soll hier stattdessen von einer Fremdheit in respektive gegenüber der Eigensphäre (bei Lotman: der Semiosphäre) gesprochen werden. 340 Intrasubjektive Fremdheit ist nicht zu verwechseln mit der oben vorgestellten personalen Fremdheit, die einen menschlichen Referenten der Fremdheitszuschreibung bezeichnet, und auch nicht mit individueller Fremdheit, die im Unterschied zur kollektiven Fremdheit auf einen alleinigen Interpreten, der etwas oder jemanden als fremd wahrnimmt, referiert.

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zeichnet ist.341 Hinzu kommen ständig neue Einflüsse aus dem Außenraum, die an der Grenze zwar in die Sprache(n) des Innenraums übersetzt werden, dabei jedoch aufgrund einer für das Fremde charakteristischen »Nicht­ assimilierbarkeit«342 immer ein Residuum ihrer Fremdheit behalten.343 Das Fremde ist somit nicht nur notwendiger Bezugspunkt für das Eigene, sondern zudem auch im vermeintlich ausschließlich ›eigenen‹ Raum stets präsent. Entsprechend erklärt Lotman Heterogenität (russ.: neodnorodnost’) zu einem Kennzeichen der Semiosphäre344 und betont, dass diese von zahlreichen Binnengrenzen durchzogen ist, welche wiederum Sub-Semiosphären mit einem je eigenen semiotischen ›Ich‹ und eigenen, in unterschiedlichem Maße ineinander übersetzbaren Sprachen definieren.345 Auch hier gibt es also, gemäß dem Modell konzentrischer Ringe, Abstufungen alltäglicher Fremdheit in Abhängigkeit davon, wo innerhalb der Semio­sphäre sie zu verorten sind. Eine längerfristig gültige Bestimmung ist dabei jedoch unmöglich, weil aufgrund der zwischen den Elementen der Semiosphäre herrschenden Dynamik beständig Veränderungen vonstattengehen.346 Beispiele für ein tendenziell zentral angesiedeltes alltägliches Fremdes sind etwa die bereits genannten Nachbarn oder Passanten, bei denen die Fremdheit eher eine Anonymität ist.347 An der Peripherie befinden sich dagegen Vertreter alltäglicher Fremdheit mit z. B. sozial niedrigem Status wie Obdachlose oder Drogensüchtige, ebenso wie Orte alltäglicher Fremdheit wie Stadien oder Friedhöfe.348 Unter anderem auf den Friedhof bezieht sich Michel Foucault in seiner Theorie der Heterotopie (frz.: hétérotopie)  explizit, nennt diesen sogar »un lieu hautement hétérotopique«.349 Heterotopien sind wie Utopien Räume, »qui sont en liaison avec tous les autres«,350 doch sind sie »absolument autres que tous les emplacements qu’ils reflètent et dont ils parlent«.351 Sie sind in jeder Kultur vorhanden und treten im Gegensatz zur Utopie als realisierte Orte

341 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 259. 342 Waldenfels: Topographie des Fremden, 51; Hervorhebung im Original. 343 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 262. 344 Vgl. ebd., 252. 345 Vgl. ebd., 263. 346 Vgl. ebd., 253. 347 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 35. 348 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 266. 349 Foucault, Michel: Des espaces autres. In: Ders.: Dits et écrits. 1954–1988. Tome IV. 1980–1988. Paris 1994, 752–762, hier 759. Der Friedhof stellt deshalb einen hochgradig heterotopischen Ort dar, weil er zudem einen Bruch in der Zeit verkörpert (vgl. vierter Grundsatz der Heterotopie; ebd.). 350 Ebd., 755. 351 Ebd., 756.

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in Erscheinung.352 Foucault unterscheidet dabei v. a. zwischen Krisenheterotopien (frz.: hétérotopies de crise), die in einem Krisenzustand befindlichen Personen vorbehalten sind, wie z. B. der Militärdienst für heranwachsende Männer, und Abweichungsheterotopien (frz.: hétérotopies de déviation) für Individuen, deren Verhalten nicht mit der herrschenden Norm übereinstimmt, wie psychiatrische Kliniken und Gefängnisse.353 Beide Personengruppen sowie die heterotopischen Orte, an denen sie sich befinden, liegen damit an der Peripherie der Semiosphäre.354 Solche und andere Heterotopien spielen in der Prosa Aleksandr Grins eine große Rolle (s. Kap. 4.1.1). Das alltägliche Fremde weist ein sehr viel geringeres Irritationspotential auf als das strukturell oder gar das radikal Fremde, da es zwar, aus der Per­ spektive des Ich (des deiktischen Zentrums) nicht genuin eigen, aber trotzdem mehr oder weniger vertraut oder zugehörig ist. Während im Fall des strukturell Fremden eine Übersetzung ins Eigene an der Grenze auf der Grundlage von Analogien zumindest teilweise fehlgehen muss, verläuft der Versuch bei einem alltäglichen Fremden meist weitgehend – wenn auch nie vollständig – erfolgreich, da dieses von sich aus eine entsprechende »Stilanalogie«355 zum Eigenen, d. h. einen ähnlichen Code aufweist. Lotman beschreibt diese nicht vollständige Übersetzbarkeit als »ситуацию условного соответствия, а не взаимно-однозначной семантической переводимости«.356 Der hier vorgestellten Verortung der drei Grade des Fremden nach Waldenfels im Modell der Semiosphäre – im Außenraum, auf der äußeren Seite der Grenze zwischen Innen- und Außenraum und an der Peripherie oder zumindest außerhalb des Zentrums des Innenraums – ist eine Fremdheitsart zu ergänzen, die sowohl forschungsgeschichtlich als auch für die hier konkret vorgenommene Analyse von höchster Relevanz ist. Es handelt sich dabei um das im Zentrum angesiedelte intrasubjektive Fremde, d. h. ein Fremdes im 352 Vgl. ebd., 755. 353 Vgl. ebd., 756 f. 354 Zwar spricht Foucault in »Des espaces autres« über die Heterotopie im Kontext eines »espace du dehors« (ebd., 754), und auch bei Waldenfels findet sich eine entsprechende Verortung (»Das Außerhalb der Ordnung […] bildet eine Heterotopie […]«; Waldenfels: Topographie des Fremden, 187) mit Verweis auf Foucault; allerdings handelt es sich bei eben diesen von Foucault genannten Heterotopien eindeutig um periphere Elemente des semiotischen Innenraums, die dabei eine alltägliche Fremdheit aufweisen. Es ist daher anzunehmen, dass die Unterscheidung Foucaults zwischen einem Raum des Außen und einem Raum des Innen, die von ihm nicht weiter ausgeführt wird, auf anderen Grundlagen basiert als diejenige Lotmans zwischen Innen- und Außenraum der Semio­ sphäre. 355 Waldenfels: Topographie des Fremden, 91. 356 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 252. Dt.: »Situation der eingeschränkten Entsprechung, nicht aber der eineindeutigen semantischen Übersetzbarkeit« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 166 f.).

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Ich selbst – dem berühmten Diktum Arthur Rimbauds entsprechend: »Je est un autre.«357 Obwohl Waldenfels in seiner Gradeinteilung des Fremden nicht auf die Variante der intrasubjektiven Fremdheit eingeht, unterscheidet er an anderer Stelle zwischen einer »Fremdheit meiner selbst«, einer »Fremdheit des Ande­ren« und einer »Fremdheit einer ganz anderen Ordnung«.358 Die beiden letztgenannten Kategorien lassen sich seinen Begriffen der alltäglichen respektive strukturellen Fremdheit zuordnen, während die radikale Form in dieser Unterteilung aus unbekannten Gründen fehlt. Die erstgenannte Art von Alienität entspricht dagegen dem, was in dieser Studie als intrasubjektive Fremdheit bezeichnet wird. Eine sehr ähnliche Einteilung, ebenfalls ohne Berücksichtigung eines radikal Fremden, findet sich auch bei Marc Augé: Während »l’autre exotique« und »l’autre des autres« / »l’autre ethnique ou culturel«359 auf verschiedene Formen struktureller Fremdheit referieren, beziehen sich »l’autre social« und »l’autre de l’intérieur«360 auf innergesellschaftliche oder -kulturelle Differenzen, d. h. ein alltägliches Fremdes. Die intrasubjektive Form der Fremdheit fasst Augé unter dem Begriff »l’autre intime«.361 Das intrasubjektive Fremde befindet sich nicht nur innerhalb der Semio­ sphäre, sondern sogar in deren Zentrum, da es das Ich selbst betrifft, welches, wie oben definiert, den Kern der Semiosphäre bildet, von dem aus Eigenes und Fremdes indexikalisch bestimmt werden. In Übereinstimmung mit dem bisher verzeichneten abnehmenden Fremdheitsgrad von außen nach innen, von der radikalen über die strukturelle zur alltäglichen Fremdheit, wäre folglich hier der niedrigste Grad zu erwarten. Dass dies jedoch nur sehr eingeschränkt der Fall und vielfach sogar genau umgekehrt ist, wird im Folgenden zu zeigen sein. Die intrasubjektive Fremdheit weist ihrerseits drei verschiedene Ausprägungen auf, die sich analog zu den drei außerhalb des Ich lokalisierten (extrasubjektiven)362 gestalten. Zum einen betrifft sie die Tatsache, dass letztlich alles, was ein Individuum ausmacht und ihm als genuin eigen erscheint, von anderen übernommen oder erhalten wurde – von der Muttersprache bis hin 357 Rimbaud: À Georges Izambard, 346. 358 Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 32. 359 Augé, Marc: Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité. Paris 1992, 28. 360 Ebd. 361 Ebd., 29. Wie bereits in Kapitel 3.1.1 erwähnt, wird der Begriff des ›Anderen‹ häufig mit dem des ›Fremden‹ gleichgesetzt. Auch im vorliegenden Fall ist l’autre in diesem Sinne zu verstehen. 362 Aus Gründen der Einfachheit wird im Folgenden bei den drei extrasubjektiven Formen des Fremden (alltägliches, strukturell und radikal Fremdes) der Hinweis ›extrasubjektiv‹ in der Regel weggelassen. Ist die Rede von den drei korrespondierenden Formen des intrasubjektiven Fremden, wird dies dagegen explizit markiert.

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zum eigenen Namen.363 Letzteres markiert das Russische mit der Konstruktion menja zovut (dt.: ich heiße, wörtl.: man ruft mich), in der das Ich die grammatikalische Rolle des Akkusativobjekts einnimmt, im Gegensatz etwa zu den romanischen Sprachen, in denen dem Ich vermeintlich die Position des Benennenden zukommt  – vgl. z. B.  Französisch: je m’appelle, Spanisch: me llamo, Italienisch: mi chiamo, Portugiesisch: chamo-me. Diese Art der Fremdheit wird ohne bewusste Reflexion nicht einmal als solche wahrgenommen und stellt somit den niedrigsten denkbaren Fremdheitsgrad dar, der hier als intrasubjektive alltägliche Fremdheit bezeichnet werden soll. Aufgrund seines äußerst geringen Irritationspotentials wird dieser Typus des Fremden in der Regel nicht thematisiert und daher auch aus der späteren Textanalyse ausgeklammert. Die zweite Form, die intrasubjektive strukturelle Fremdheit, bezieht sich auf von außen übernommene Inhalte der Ich-Sphäre, die im Rahmen der Sozialisierung in einem Lern- bzw. Aneignungsprozess in diese integriert wurden, dabei jedoch stets ein Fremdheitsresiduum bewahren. Hierzu zählen z. B. gesellschaftliche Regeln und Konventionen, Normen und Werte, mit denen das Subjekt auch in Konflikt geraten kann. Gerade in diesem Fall wird ihr fremder Ursprung deutlich. Mit Freud wäre diese Art des intrasubjektiven Fremden als Über-Ich zu beschreiben, das als eine Art »kategorische[r] Imperativ«364 fungiert. Diese Form der intrasubjektiven Fremdheit findet ihren Niederschlag auch in der Nichtkorrespondenz zwischen gänzlich privatem Ich und öffentlichem Ich, das eben jenen sozialen Regeln unterliegt. Auch die zweite Art der Ich-Fremdheit wird selten als solche wahrgenommen und daher ebenfalls im Analyseteil nicht extra behandelt. Die dritte Variante intrasubjektiver Fremdheit bezieht sich auf die Fremdheit des Unter- oder Unbewussten, welches, wenn es an die Oberfläche tritt, hochgradig irritierend auf das (bewusste)  Ich wirken oder dessen Identität sogar zerstören kann. Da dieses Unbewusste, analog zur radikalen Fremdheit nach Waldenfels, weitgehend unzugänglich bleibt und nur unvollständige Annäherungen erlaubt, soll es in dieser Studie als intrasubjektives radikal Fremdes bezeichnet werden. Manche Ausprägungen des von Waldenfels identifizierten radikal Fremden, etwa der Traum, sind präziser als Ausdrucksformen eines intrasubjektiven radikal Fremden zu klassifizieren. Diese dritte Form der Ich-Fremdheit fällt in wesentlichen Punkten mit dem Freud’schen Konzept des Es zusammen, das als Sammelbegriff für das Unbewusste und Verdrängte fungiert.365 363 Vgl. Waldenfels: Phänomenologie des Eigenen, 70 f.; Waldenfels: Grundlinien einer Phänomenologie, 32. 364 Freud, Sigmund: Das Ich und das Es. Herausgegeben von Lothar Bayer. Stuttgart 2013, 51. 365 Vgl. ebd., 21. Der bei Freud vorliegende Fokus auf psychosexuellen Aspekten wird hier allerdings nicht übernommen.

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Diese dritte Form der Ich-Fremdheit, auf der in der späteren Textanalyse ein Fokus liegt, wird von den Schriftstellern der Romantik für die Literatur entdeckt und erfährt verstärkt seit Anfang des 20. Jahrhunderts, im Kontext der Psychologie und v. a. der Psychoanalyse, eine theoretische Fundierung. Grundlegend hierfür sind v. a. die Arbeiten Sigmund Freuds sowie, in dessen Nachfolge, unter anderem die Ansätze von Lacan und Kristeva, die beide von einer dem Selbst inhärenten unaufhebbaren Differenz ausgehen. Sigmund Freud stellt in seiner Schrift »Das Unheimliche« (1919) eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Unheimlichen und dem eigenen Verdrängten bzw. vermeintlich Überwundenen her. Dabei geht er von der Beobachtung aus, dass das ›Heimliche‹ durch seine doppelte Bedeutung – als etwas Heimeliges, Vertrautes, aber auch als etwas Verstecktes, verborgen Gehaltenes – einerseits einen Gegensatz zum ›Unheimlichen‹ darstellt, andererseits aber in seiner Bedeutung fast mit diesem zusammenfällt.366 Eigenes und fremd Gewordenes, einst Vertrautes und Unheimliches sind also untrennbar miteinander verbunden.367 Das Gefühl von Unheimlichkeit entsteht dabei, wenn ein ursprünglich eigener, aber verdrängter und dadurch entfremdeter Affekt wiederkehrt.368 Freud unterscheidet hier zwischen ontogenetischer und phylogenetischer Entwicklung, d. h. zwischen individuellen verdrängten infantilen Komplexen wie dem Kastrationskomplex und kollektiven vermeintlich überwundenen primitiven Überzeugungen wie der Angst vor der Wiederkehr der Toten oder dämonischen Kräften, bei denen nichtsdestotrotz eine gewisse Unsicherheit zurückgeblieben ist.369 Gerade letztere Variante des Unheimlichen spielt in der Literatur (u. a. der Romantik) eine große Rolle und kommt auch bei Grin häufig zum Tragen. Wie in der späteren Analyse deutlich wird, können insbesondere die unheimlichen Erscheinungsformen des intrasubjektiven radikal Fremden noch fremder, noch erschütternder sein als das radikal Fremde im Außenraum. Der Zusammenhang zwischen räumlicher Verortung des Fremden und dem Fremdheitsgrad lässt sich somit folgendermaßen beschreiben: Der Grad der Alienität nimmt grundsätzlich mit wachsendem Abstand vom Zentrum der Semiosphäre – vom Innenraum über dessen Peripherie und den grenznahen Außenraum bis hin zum entfernten Außenraum – stetig zu und steigert sich dabei von alltäglicher über strukturelle bis hin zur radikalen Fremdheit. Jedoch besitzt die intrasubjektive Fremdheit, die im Ich und damit im absoluten 366 Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Ders.: Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur. London 1963, 45–84, hier 47–53. 367 Vgl. hierzu auch die Übersetzung von Freuds »Das Unheimliche« ins Französische unter dem Titel »L’inquiétante étrangeté« als explizite Verknüpfung von Beunruhigung und Fremdheit. 368 Vgl. Freud: Das Unheimliche, 51. 369 Vgl. ebd., 78 f.

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Zentrum der Semiosphäre zu verorten ist, in ihrer radikalen Ausprägung eine potentiell ebenso oder sogar noch be-fremd-lichere Wirkung als das extrasubjektive radikal Fremde. Beide Formen wirken dabei destabilisierend auf grundsätzliche Überzeugungen und damit letztlich auf Identitäten. Ebenso wie das radikal Fremde nicht nur die Ordnung der eigenen Gruppe, sondern die Existenz einer Ordnung an sich und damit die schiere Möglichkeit einer – notwendigerweise auf Ordnungsmustern beruhenden – (kollektiven und individuellen) Identität in Frage stellt, unterminiert die an die Oberfläche getretene intrasubjektive radikale Fremdheit die vermeintlich stabile Identität des Ich, zeigt seine fundamentale inhärente Fremdheit auf und macht dabei die grundsätzliche Unterscheidbarkeit von Eigenem und Fremdem fraglich. Fremdheit in ihrer besonders frappierenden, identitätsgefährdenden Form ist somit letztlich eng mit dem Moment der Nichtverortbarkeit verknüpft, das eine Verunsicherung darüber impliziert, ob etwas als fremd oder eigen einzuordnen und in welchem Raum es also zu verorten ist: »Identitätsprobleme sind Orientierungsprobleme.«370 Folglich sind in eine Chronotopographie des Fremden auch Räume bzw. Orte einzubeziehen, die sich weder (eindeutig oder überhaupt) im Innen- noch im Außenraum lokalisieren lassen, um dieser Unmöglichkeit einer (klaren) Verortung Rechnung zu tragen. Hierfür ist das Lotman’sche Modell der Semiosphäre in einigen weiteren Details anzupassen. 3.2.2.3 Dazwischen und (n)irgendwo

Im Zusammenhang mit dem Moment der Nichtverortbarkeit bzw. Uneindeutigkeit der Verortung im Innen- oder Außenraum sind drei Konzepte von Bedeutung, die im Folgenden behandelt werden: Grenze, Schwelle und Atopie. 3.2.2.3.1 Grenzen »Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern […] die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt.« Martin Heidegger371

Das erstgenannte Konzept ist im Modell der Semiosphäre nicht nur enthalten, sondern bildet, wie oben dargestellt, sogar eines ihrer konstituierenden Elemente. Nach Lotman befindet sich die Grenze (russ.: granica, z. T. auch predel) zwischen Innen- und Außenraum der Semiosphäre und scheidet so

370 Straub: Personale und kollektive Identität, 86. 371 Heidegger: Bauen – Wohnen – Denken, 29.

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»ее в от вне«.372 Sie ist ambigue, da sie die beiden Räume nicht nur vonein­ ander trennt, sondern sie zugleich auch miteinander verbindet,373 und somit »одновременно принадлежит […] обеим взаимно прилегающим семиосферам.«374 In frappierender Übereinstimmung formuliert auch Waldenfels: »[D]er Ort, an dem die Ordnungsgrenzen gezogen werden, [ist] weder innerhalb der Ordnungen noch außerhalb ihrer anzusiedeln […], sondern innerhalb und außerhalb zugleich.«375 Die Grenze stellt dementsprechend selbst keinen Raum, sondern eine Linie (russ.: čerta)376 dar, die als »фильтрующая мембрана«377 fungiert. An ihr spielen sich Übersetzungsprozesse ab, im Zuge derer fremdsprachige Texte aus dem semiotischen Außenraum zumindest insoweit in die Sprache(n) des semiotischen Innenraums übertragen, d. h. semiotisiert, werden, dass sie trotz eines gewissen Fremdheitsresiduums als ›eigen‹ gelten.378 Dementsprechend beschreibt Lotman die Grenze als »бии полилингвистична«.379 In Hinblick auf die Verortung des Eigenen und des Fremden stellt sich an dieser Stelle nun die Frage, wo in diesem Modell Phänomene, die selbst zweioder mehrsprachig sind, einzuordnen wären. Hier stößt das Lotman’sche Modell im doppelten Wortsinn an seine Grenzen, da es zwar Abstufungen des Fremden innerhalb der Semiosphäre vom Zentrum zur Peripherie mitdenkt, 372 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 256; Hervorhebung im Original. Dt.: »ihr Innen von ihrem Außen« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 173; Hervorhebung im Original). Auch innerhalb der Semiosphäre existieren Grenzen, die die Semiosphäre in untergeordnete Räume (russ.: subsemiosfery; dt.: Sub-Semiosphären (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 184)) einteilen (vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 263). 373 Vgl. ebd., 262. 374 Ebd. Dt.: »gleichzeitig […] zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären [gehört]« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 182). In »O metajazyke tipologičeskich opisanij kul’tury« (1968; dt.: »Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen«) schreibt Lotman jedoch: »Поскольку в моделях культуры в пограничных точках непрерывность пространства нарушается, граница всегда принадлежит лишь одному – внутреннему или внешнему – и никогда обоим сразу.« (Lotman, Jurij M.: O metajazyke tipologičeskich opisanij kul’tury. In: Ders.: Izbrannye stat’i v trëch tomach. Tom I. Stat’i po semiotike i tipologii kul’tury. Tallinn 1992, 386–406, hier 397. Dt.: »Da in den Kultur-Modellen die Kontinuität des Raumes an den Grenzpunkten unterbrochen wird, gehört die Grenze immer nur zu einem Raum, dem inneren oder dem äusseren – und niemals zu beiden gleichzeitig.« (Lotman, Jurij M.: Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen. Übersetzt von Adelheid Schramm. In: Ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Herausgegeben von Karl Eimermacher. Kronberg im Taunus 1974, 338–377, hier 357)). Da es sich um einen früheren Text handelt, ist anzunehmen, dass Lotman sein Verständnis der Grenze in seinem in den 1980er Jahren entworfenen Modell der Semiosphäre entsprechend weiterentwickelt hat. 375 Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, 198. 376 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 257. 377 Ebd., 262. Dt.: »filternde Membran« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 182). 378 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 262. 379 Ebd. Dt.: »zwei- oder mehrsprachig« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 182).

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nicht aber ein genuin Hybrides, Eigen-Fremdes, das wie die Grenze sowohl dem Innen- als auch dem Außenraum zuzuordnen ist. Das Modell der Semio­ sphäre geht von einem prinzipiellen Entweder-Oder aus, ein Sowohl-Als-Auch wird dagegen ausgeschlossen. Bei dem originalen Aufbau des Lotman’schen Modells ist dies auch folgerichtig, da die Grenze als bloße Übergangslinie kein Verweilen ermöglicht.380 Allerdings ist die Existenz hybrider Elemente, die weder eindeutig eigen noch eindeutig fremd zu nennen sind, nicht zu leugnen – und, wie im Analyseteil zu zeigen sein wird, bei Grin von höchster Bedeutung.381 Um auch diese verorten zu können, soll daher an dieser Stelle eine weitere Modifikation des Ausgangsmodells vorgenommen werden, indem es um das Konzept der Schwelle erweitert wird. 3.2.2.3.2 Schwellen

Während die Grenze als »механизм перевода«382 weniger räumlich als vielmehr funktionell bestimmt wird, soll die Schwelle als ein diesseits und jenseits der Grenzlinie angesiedelter, Grenz- oder Zwischenraum gedacht werden.383 Walter Benjamin, der in den 1930er Jahren in seinem unvollendet gebliebenen »Passagen-Werk« die Figur der Schwelle prägt, schreibt über das Verhältnis von Grenze und Schwelle: »Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte 380 Während das Russische die zweideutige Präposition na (na granice) verwendet, die sowohl mit ›an‹ als auch mit ›auf‹ übersetzt werden kann, ist im Deutschen der Ausdruck ›an der Grenze‹ weit geläufiger als ›auf der Grenze‹. 381 Lotman selbst weist darauf hin, dass es sich bei seinem Modell um eine vereinfachte Darstellung handelt, und dass »[…] границы между ними [языками], столь четкие в грамматическом самоописании языка, в семиотической реальности представляются размытыми и полными переходных форм.« (Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 250; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »[…] die Grenzen zwischen den Sprachen, die in der grammatischen Selbstbeschreibung jeder einzelnen von ihnen so klar sind, […] in der semiotischen Realität verschwommen und voller Übergangsformen [erscheinen].« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 164; Hervorhebungen von A. B.). 382 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 262. Dt.: »Übersetzungsmechanismus« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 182). 383 Zum Begriff der Schwelle vgl. auch die griechische Bezeichnung des thuraios, abgeleitet von dem Lexem thura, ›Haustür‹, für einen Fremden, der sich wortwörtlich auf der Schwelle zwischen Eigenem und Fremdem befindet (vgl. Román: Citizenship and Its Exclusions, 20). Eine grundlegende Verbindung zwischen dem Fremden und dem Schwellenstatus impliziert letztlich auch der lateinische Begriff foris, der zwar ›außerhalb‹ bedeutet und von dem sich z. B. das italienische forestiero oder das englische foreign ableiten: Doch als erstarrter Lokativ von fora (dt.: Tür; vgl. Stagl: Grade der Fremdheit, 88) verweist das Lexem ursprünglich ebenfalls auf den Ort zwischen innen und außen. Der Fremde ist hier also ursprünglich derjenige, der bereits mit dem Eigenen in Kontakt getreten ist und sich auf der Schwelle zum Kern des eigenen Raums, dem Haus, befindet.

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›schwellen‹ und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen.«384 Sie stellt somit neben dem Innen- und dem Außenraum einen eigenständigen dritten Raum385 dar,386 die darin befindlichen Phänomene bilden analog dazu ein Drittes neben Eigenem und Fremdem. Dies ist, neben der räumlichen Ausdehnung der Schwelle, ein grundlegender Unterschied zur Grenze, da diese eine binäre Struktur von Innen und Außen oder Diesseits und Jenseits schafft.387 Schwellen wie auch Schwellenphänomene entstehen durch innovative Austauschprozesse zwischen Innen und Außen und zeichnen sich dementsprechend durch Ambiguität und Hybridität aus. Dies verleiht der Schwelle unterschiedliche Funktionen, die sie zu einer hochgradig ambivalenten Erscheinung machen: Einerseits stellt die Schwelle einen Raum der Innovation, der Erneuerung, der Kreativität und der Infragestellung starrer Muster dar, denn »[d]er Übergang ist mithin auch der transitorische Ort, an dem sich das Unverhoffte, Ungewöhnliche ereignen kann.«388 Schwellen sind als Räume »des Wandels, 384 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. V. Das Passagen-Werk. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1982, 618. 385 An dieser Stelle wird weder unmittelbar Bezug genommen auf den von Homi Bhabha identifizierten »Third Space of enunciation« (Bhabha: The Location of Culture, 37) im Prozess der Kommunikation und Bedeutungsbildung noch auf Edward W.  Sojas Konzept des Thirdspace, um das er in seiner gleichnamigen Monographie (vgl. Soja, Edward W.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and other Real-and-Imagined Places. Cambridge / Massachusetts, Oxford 1996) die beiden bis dato unterschiedenen Raumkonzepte – den physischen Raum (Firstspace) und den mentalen Raum (Secondspace) – ergänzt, welches beide in sich vereint und dabei über sie hinausgeht (vgl. ebd., 62). Dennoch bestehen Parallelen zu Bhabha wie auch zu Soja durch die hier wie dort postulierte Aufbrechung von Binaritäten und die Entstehung hybrider Phänomene. 386 Vgl. hierzu Peter Handke, »Der Chinese des Schmerzes«: »Im üblichen Bewusstsein heißen die Schwellen demnach: Übergang von einem Bereich in den anderen. Weniger bewusst ist uns vielleicht, dass die Schwelle auch für sich ein Bereich ist, besser: ein eigener Ort, der Prüfung oder des Schutzes.« (Handke, Peter: Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt a. M. 1986, 126; zit. nach Nischik, Reingard M./Rosenthal, Caroline: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Schwellentexte der Weltliteratur. Konstanz 2001, 9–31, hier 9). 387 Vgl. hierzu das binäre Kulturmodell der russischen Kultur im Gegensatz zum triadischen des Westens, herausgearbeitet im Aufsatz von Ju. M. Lotman und B. A. Uspenskij »Rol’ dual’nych modelej v dinamike russkoj kul’tury« (dt.: »Die Rolle dualer Modelle in der Dynamik der russischen Kultur«; vgl. Lotman, Jurij M./Uspenskij, Boris A.: Rol’ d ­ ual’nych modelej v dinamike russkoj kul’tury (do konca XVIII veka). In: Trudy po russkoj i sla­ vjanskoj filologii XXVIII . Literaturovedenie. Tartu 1977, 3–36). Zur Bedeutung des Dritten vgl. auch die Überlegungen von Henri Lefebvre: »La pensée réfléchissante, donc philosophante a longuement mis l’accent sur les dyades […] qui constituent le paradigme philosophique de l’Occident: sujet-objet, continu-discontinu, ouvert-fermé, etc. […] Y a-t-il jamais un rapport à deux termes […]? On est toujours Trois. Il y a toujours l’Autre.« (Lefebvre, Henri: La présence et l’absence. Contribution à la théorie des représentations. [Paris] 1980, 143). 388 Görner, Rüdiger: Grenzen, Schwellen, Übergänge. Zur Poetik des Transitorischen. Göttingen 2001, 9.

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der Metamorphose«389 somit immer auch Möglichkeitsräume, Räume der Aushandlung, aber auch der Uneindeutigkeit. Das dadurch in ihnen enthaltene subversive Potential kann andererseits jedoch eine störende oder gar verstörende Wirkung entfalten. Renate Lachmann schreibt hierzu: »Das SchwellenMoment entzieht sich der Messbarkeit und der Fixierung auf einen Ort, es ist beunruhigend durch seine potenzielle Offenheit für alles […]«.390 Die bloße Existenz eines dritten Raumes, der weder dem Innen- noch dem Außenraum angehört, stellt ebenso wie das in ihm angesiedelte Hybride und die in ihm stattfindenden Interferenzen eine Bedrohung dar, da sie, wie Homi Bhabha betont, klare (binäre) Ordnungsmuster unterlaufen und somit Orientierung und Sicherheit nehmen: »The paranoid threat from the hybrid is finally uncontainable because it breaks down the symmetry and duality of self / other, inside / outside.«391 Diese Ambivalenz deckt sich mit den bereits vorgestellten diametral entgegengesetzten Bewertungen des Fremden an sich, die von Verklärung bis Dämonisierung reichen (s. Kap. 3.1.2.2). Als Hauptgrund für die sehr positive und auch gerade für die sehr negative Bewertung ist die Tatsache zu identifizieren, dass die Schwelle nicht nur der Ort der Grenzüberschreitung, sondern auch der Grenzaufhebung ist. An dieser Stelle kommt es also zu einem Paradox, das sich bereits im Zusammenhang mit den ambivalenten Wirkungen des Fremden angedeutet hat: Obwohl die Grenze bzw. deren Überschreitung eine unerlässliche Bedingung für die Entstehung des Zwischenraums darstellt, führt die daraus resultierende Hybridität im Extremfall nicht nur zu ihrer Verwischung, sondern sogar zu ihrem Verschwinden. Somit ist Lotmans Modell in seiner ursprünglichen Form nicht mehr anwendbar, weil es eine Grenze voraussetzt, die sich zwar aus diachroner Perspektive im Laufe der Zeit verschiebt und Grenzüberschreitungen zulässt,392 dabei jedoch bei synchroner Betrachtung in jedem gegebenen ­Augenblick klar lokalisiert werden kann, somit Eigenes von Fremdem kategorisch trennt und Uneindeutigkeiten ausschließt. Die unabdingbare Binarität (russ.: binarnost’)393 wird also in doppelter Hinsicht, erstens durch die Aufhebung der Grenze sowie zweitens durch die Postulierung eines dritten Raums auf der Schwelle, beendet, was nach Lotman gleichbedeutend mit dem Verschwinden der Semiosphäre ist. Diese scheinbare Aporie lässt sich jedoch folgendermaßen auflösen. Zum einen hebt die Existenz der Schwelle zwar tatsächlich die strikte Binarität 389 Lachmann, Renate: Aleksandr Puškins Versroman Eugen Onegin und dessen Nachgeschichte in Vladimir Nabokovs Werk. In: Nischik, Reingard M./Rosenthal, Caroline (Hg.): Schwellentexte der Weltliteratur. Konstanz 2001, 165–199, hier 168. 390 Ebd. 391 Bhabha: The Location of Culture, 116. 392 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 266 f. 393 Vgl. ebd., 251.

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des Systems auf, nicht aber die Existenz eines Fremden, von dem das Eigene abgegrenzt werden kann. Die Schwelle besteht als Drittes neben und nicht anstelle von Eigenem und Fremdem, die Grenzlinie wird lediglich durch einen Grenzraum ersetzt. Die Grundvoraussetzung für die Existenz der Semiosphäre bleibt durch diese Modifikation des Modells also unangetastet. Der zweite Teil der Lösung liegt in der Einbeziehung des Faktors Zeit in das um die Schwelle ergänzte – ohnehin als Chronotopographie konzipierte – Modell. Das Verweilen von Phänomenen auf der Schwelle, d. h. im Zustand eines die Grenze verwischenden oder gar aufhebenden Sowohl-als-Auch, ist als grundsätzlich zeitlich begrenzt zu denken, als nur temporäre Aufhebung der die Semiosphäre konstituierenden Struktur. Ein dauerhafter Verbleib im Zwischenraum ist jedoch nicht möglich, da die dort befindlichen Elemente letztendlich zwangsläufig entweder in den Innen- oder in den Außenraum übergehen und somit auch die vorübergehende Suspension der Grenze wieder aufgehoben wird.394 Als illustrierendes Beispiel ist hier der von Walter Benjamin als eine der wenigen verbliebenen Schwellenerfahrungen des modernen Menschen angeführte Zustand des Einschlafens und des Erwachens zu nennen.395 3.2.2.3.3 Atopien

Schließlich ist noch ein drittes Konzept anzuführen, das ebenso wie die Figur der Schwelle in Lotmans Semiosphärenmodell nicht enthalten und weder dem semiotischen Innenraum noch dem semiotischen Außenraum zuzuordnen ist. Dabei handelt es sich um die Denkfigur der Atopie. Abgeleitet von gr. ατοπία, ›Ortlosigkeit‹, soll der Begriff der Atopie396 die paradoxe Erscheinung eines Ortes ohne Verortbarkeit bezeichnen. Atopien sind (Nicht-)Orte des radikal 394 Vgl. hierzu auch die bereits erwähnte notwendige zeitliche Begrenzung des Gaststatus. 395 Vgl. Benjamin: Gesammelte Schriften, 617. 396 Die Wahl des Begriffs erfolgt bewusst in Analogie zum Begriff der Utopie und dem der Heterotopie, der seinerseits von Foucault in Anlehnung an die Utopie gebildet wird. Gilt nach Foucault: »Les utopies, ce sont les emplacements sans lieu réel.« (Foucault: Des espaces autres, 755; Hervorhebung von A. B.), lassen sich Atopien als Platzierungen ohne bestimmbaren Ort definieren. In diesem Sinne handelt es sich bei Utopien wie bei Atopien gleichermaßen um »un lieu sans lieu« (ebd., 756). Das griechische Lexem άτοπος bezeichnet wörtlich eine Sache ohne Ort, aber auch etwas Außergewöhnliches oder Einzigartiges (vgl. Driesen, Christian: Atopie. In: Günzel, Stephan (Hg.): Lexikon der Raumphilosophie. Unter Mitarbeit von Franziska Kümmerling. Darmstadt 2012, 34). Die deutsche Entsprechung ›Nicht-Ort‹ wurde nicht als Begriff gewählt, weil sie im Deutschen meist als Übersetzung von Marc Augés Konzept des non-lieu verwendet wird. Augé definiert bestimmte Orte nicht – wie hier vorgeschlagen – aufgrund einer Unmöglichkeit ihrer Verortung als Nicht-Orte, sondern wegen des Fehlens gewisser Eigenschaften, die einen (anthropologischen) Ort (lieu) ausmachen: »Si un lieu peut se définir comme identitaire, relationnel et historique, un espace qui ne peut se définir ni comme identitaire, ni comme relationnel, ni comme historique définira un non-lieu.«

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Fremden, das, wie mit Waldenfels definiert, außerhalb jeder Ordnung (bzw. Semiosphäre) steht und so die grundsätzliche Möglichkeit einer Ordnung – und damit auch einer Ein-Ordnung – unterläuft. Sie sind dementsprechend als Orte der Nichtverortbarkeit »zwischen Irgendwo […] und Nirgendwo«397 zu denken. Gerade im Falle des intrasubjektiven radikal Fremden wird die Notwendigkeit der Einführung der Denkfigur der Atopie in die Chronotopographie des Fremden deutlich: Dieses ist und ist zugleich nicht Teil des Ich, ist dem Innersten zu eigen und gleichzeitig radikal fremd, sodass es aufgrund dieser inhärenten Widersprüche notwendigerweise lediglich mithilfe des Konzepts der Atopie bestimmbar ist. Durch die Atopie erklärt sich an dieser Stelle auch die in Kapitel 3.2.2.1 verwendete, unpräzise Zuschreibung des extrasubjektiven radikal Fremden zu einem ›entfernten Ort im Außenraum‹,398 da eine Nichtzugehörigkeit zum Innenraum der Semiosphäre und ein Nichtberühren der Außengrenzen die einzigen vorhandenen Anhaltspunkte zur Lokalisierung der Atopie sind.399 (Augé: Non-Lieux, 100). Konkret handelt es sich dabei oftmals um urbane, funktionell gestaltete Nutzflächen wie Einkaufzentren, Bahnhöfe oder Autobahnen. Vgl. Zur Idee des non-lieu in einem anderen Verständnis auch Levinas: »Il s’agit de penser la possibilité d’un arrachement à l’essence. Pour aller où? Pour aller dans quelle région? Pour se tenir à quel plan ontologique? Mais l’arrachement à l’essence conteste le privilège inconditionnel de la question: où? Il signifie le non-lieu. L’essence prétend recouvrir et recouvrer toute exception – la négativité, la néantisation et déjà depuis Platon, le non-être qui ›dans un certain sens est‹.« (Levinas, Emmanuel: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. Den Haag 1974, 9; Hervorhebung im Original). 397 Waldenfels: Topographie des Fremden, 185. 398 Trotz der Nichtverortbarkeit des radikal Fremden lassen sich kulturgeschichtlich universelle Versuche einer Verortung ausmachen: Als Orte der Götter dienen z. B. der Himmel, hohe Berge oder das Meer, als Orte des Todes die Unterwelt etc. Sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie für den Menschen nur schwer oder gar nicht erreichbar sind, was ihnen letztlich trotz einer mehr oder weniger konkreten topographischen Verortbarkeit den Status eines Orts verwehrt. 399 Waldenfels bezeichnet den Ort des Fremden in der Erfahrung generell, nicht nur des radikal Fremden, als Anderswo, als »Nicht-Ort, der sich in kein Ortsnetz eintragen lässt« (Waldenfels: Topographie des Fremden, 187) und identifiziert sogar das Fremde selbst damit: »Das Fremde ist nicht einfach anderswo, es ist das Anderswo, und zwar ›eine originäre Form des Anderswo‹.« (ebd., 26; Hervorhebung im Original; Zitat im Zitat von Merleau-Ponty im Original: »un originaire de l’ailleurs«; Merleau-Ponty, Maurice: Le visible et l’invisible. Paris 1964, 308; Hervorhebung im Original). Diese Bestimmung resultiert jedoch aus einem zwar ähnlichen, in letzter Konsequenz aber doch anderen Verständnis des Begriffs des Nicht-Orts als dem hier für die Atopie zugrunde gelegten, da Waldenfels die Definition des Fremden als Nicht-Ort aus dessen grundlegender Unzugänglichkeit herleitet (vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 26, 42 u. 187). Im Kontext der Semiosphäre betrifft diese vollkommen unauflösbare, da unübersetzbare, Unzugänglichkeit jedoch lediglich das nichtsemiotisierbare extrasubjektive und intrasubjektive radikal Fremde.

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Im Zusammenhang hiermit wird auch die Wahl der Bezeichnung ›Atopie‹ noch einmal klarer: Wenn schon das an der Peripherie einer Kultur Angesiedelte, der Norm Widersprechende im Selbstverständnis und der Selbstbeschreibung dieser Kultur »не существует«,400 also keinen ›Platz‹ (oder eben Ort) darin findet, trifft dies umso mehr auf das Nichtsemiotisierte – und wegen fehlender Nähe zur Grenze auch nicht Semiotisierbare – zu. Diese Beobachtung findet sich schon bei Aristoteles: »Von dem, was ist, nehmen ja alle an, daß es irgendwo ist – was es nicht gibt, sei auch nirgendwo […]«.401 Entscheidend ist, dass es sich bei diesem ›Nichtsein‹ – wie es bei Lotman und auch in dieser Studie verstanden wird – um die Folge eines Nichtwahrnehmens oder Nichtwahrnehmenwollens und keineswegs um ein tatsächliches Nichtexistieren handelt; erst die Existenz dieses Nichtseienden, des radikal Fremden, macht seine Verortung in der Nichtverortbarkeit, der Atopie, gleichermaßen möglich und notwendig. In dieser Hinsicht gleicht die Atopie der Heterotopie, da beide untrennbar mit der Topie verbunden sind »wie die Rückseite eines Blattes, die sich von der Vorderseite nicht separieren lässt.«402 Neben Schwellen sind also auch Atopien als ein Drittes zu denken, wobei hier die Ambivalenz zwischen Innovation und Bedrohung eine deutliche Tendenz zu Letzterem, zu den »Abgründe[n] des Ortlosen«403 aufweist. Da das Fremde per definitionem auf einer (im wörtlichen oder metaphorischen Sinne) räumlichen Beziehung zum Ich (bzw. zu einem das Ich einschließenden Wir) basiert, lassen sich die vier hier vorgestellten grundlegenden Formen des Fremden somit auch folgendermaßen beschreiben: Das (extrasubjektive) radikal Fremde begegnet uns als ein abstraktes Etwas, ein Es, das sich durch die Denkfigur der Atopie jeder Aneignung, jeder räumlichen wie auch sonstigen Bestimmung und damit auch jeder konkreten Rede darüber entzieht, aber dennoch auf das Ich bzw. Wir einwirkt. Dagegen nimmt das strukturell Fremde die Rolle eines greifbareren Er an, zu dem eine stärker – wenn auch bei Weitem nicht vollständig – kontrollierbare Beziehung besteht. Eine direkte Kommunikation mit dem Er ist zwar nicht möglich, jedoch ein indirektes Sprechen über den Umweg der Übersetzung des Codes. Erst das alltägliche Fremde erlaubt als Du eine direkte Anrede und zudem eine weitgehend erfolgreiche Kommunikation. Das intrasubjektive Fremde schließlich, das vom 400 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 255; Hervorhebung im Original. Dt.: »[nicht] existiert« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 171; Hervorhebung im Original). 401 Physik IV, 1; Aristoteles: Physik. Vorlesung über Natur. Erster Halbband: Bücher I(A) – IV(Δ). Griechisch-deutsch. Übersetzt, mit einer Einleitung und mit Anmerkungen he­ rausgegeben von Hans Günter Zekl. Hamburg 1987, 151. 402 Waldenfels: Topographie des Fremden, 187. Vgl. dazu auch den Hinweis Foucaults, dass Heterotopien wie auch Utopien »sont en liaison avec tous les autres, […] contredisent pourtant tous les autres emplacements […]« (Foucault: Des espaces autres, 755). 403 Waldenfels: Topographie des Fremden, 11.

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Ich zunächst als Nicht-Ich wahrgenommen und abgelehnt wird, erweist sich letztlich als ein Auch-Ich, womit es aufgrund fehlender Distanz ebenfalls aus dem Bereich des Kommunikablen herausfällt.404 Als intrasubjektives radikal Fremdes kann es die Gestalt des Es im Sinne Freuds annehmen, z. B. als verdrängte Triebe, die an die Oberfläche treten und mit dem Ich in Konflikt geraten. Damit schließt sich auch hier – ebenso wie hinsichtlich des Grades der Be-fremd-lichkeit – der Kreis vom extrasubjektiven radikal Fremden zum intrasubjektiven radikal Fremden. Den Aufbau der hier entworfenen Chronotopographie des Fremden mit dem radikal Fremden und dem strukturell Fremden im Außenraum, dem alltäglichen Fremden und dem intrasubjektiven (alltäglichen, strukturell und radikal) Fremden im Innenraum sowie mit Grenze, Schwelle und Atopie veranschaulicht die folgende Graphik (s. Abb. 2).

alltägliches Fremdes Grenze

Schwelle

strukturell Fremdes

radikal Fremdes

ICH intrasubjektives Fremdes Semiotischer Innenraum

Semiotischer Außenraum

[Atopie: nicht eingezeichnet]

Abbildung 2: Chronotopographie des Fremden

404 Vgl. dazu auch Lotmans Hinweis, dass gemäß dem traditionellen Kommunikationsmodell, bestehend aus Sender, Sprache und Empfänger, die Notwendigkeit einer Nichtidentität von Sender und Empfänger angelegt ist (russ.: »неидентичност[ь] говорящего и слушающего«; Lotman: Kul’tura i vzryv, 15. Dt.: »Nicht-Identität von Sprecher und Hörer« (Lotman: Kultur und Explosion, 12)), denn eine solche Identität »делает общение бессодержательным« (Lotman: Kul’tura i vzryv, 16. Dt.: »macht die Kommunikation inhaltsleer« (Lotman: Kultur und Explosion, 12)).

4.

Konzeptionen des Fremden in der Prosa Aleksandr Grins: Textanalysen

Im folgenden Analyseteil sollen die Konzeptionen des Fremden bei Aleksandr Grin einer detaillierten Betrachtung unterzogen werden. Aufgrund der enormen Komplexität des Themas, die sich in den im Theoriekapitel herausgearbeiteten zahlreichen Dimensionen des Fremden widerspiegelt, wurde als Grundstruktur der Analyse die im vorangegangenen Abschnitt entwickelte Einteilung nach vier grundsätzlichen Kategorien von Alienität  – der alltäglichen, strukturellen, radikalen sowie intrasubjektiven (hier: radikalen) Fremdheit  – gewählt. Diese erlaubt eine klare, sogar weitgehend intuitive Systematisierung des ausgewählten Textkorpus der Erzählungen Grins, während sie gleichzeitig eine Einbeziehung sämtlicher weiterer (d. h. neben den Fremdheitsgraden vorhandener) Dimensionen des Fremden in allen vier Analysekapiteln ermöglicht.1 Da die vier Hauptarten des Fremden als theoretische Analysekategorien entwickelt wurden, kann es in der praktischen Anwendung auf konkrete Texte prinzipiell Fälle geben, in denen eine Zuordnung zu einer der vier Kategorien nicht oder nicht eindeutig möglich ist. In den hier analysierten Texten kommt es beispielsweise gelegentlich vor, dass Erscheinungsformen des Fremden im Verlauf einer Erzählung von einer Kategorie in die andere übergehen oder dass mehr als eine Kategorie gleichzeitig für die Analyse von Relevanz ist. In diesen Fällen wird der Fokus auf diejenige Art von Fremdheit gelegt, die im Mittelpunkt des jeweiligen Kapitels steht; die anderen werden am Rande behandelt und v. a. in ihrer Wechselwirkung mit der jeweils zentralen Kategorie betrachtet. In allen vier großen Analysekapiteln wird zunächst ein Überblick über verschiedene Erscheinungsformen des Fremden bei Grin gegeben, die in die Fremdheitskategorie des jeweiligen Kapitels einzuordnen sind, jedoch aus Platzgründen keine tiefergehende Betrachtung finden. Im Anschluss erfolgt eine ausführliche Analyse von jeweils zwei bis drei exemplarisch ausgewählten Erzählungen, die eine der Spielarten der im Zentrum stehenden Kategorie 1 Eine andere, zu kleinteilige Strukturierung, beispielsweise eine gesonderte Betrachtung jeder einzelnen Dimension des Fremden, hätte eine umfassende und tiefgreifende Analyse ausgewählter Texte quasi unmöglich gemacht, da zahlreiche andere, darin ebenfalls enthaltene Dimensionen des Fremden aus dem jeweiligen Unterkapitel von vornherein ausgeschlossen worden wären.

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Konzeptionen des Fremden in der Prosa Aleksandr Grins: Textanalysen

in verschiedenen Variationen behandeln. Dies ermöglicht zum Ersten eine größere Tiefe in der Untersuchung, zum Zweiten ist dadurch eine bessere Vergleichbarkeit gegeben als bei der Analyse von Erzählungen, die völlig unterschiedliche Erscheinungsformen der jeweiligen Fremdheitskategorie zum Thema haben. Anstelle einer chronologischen Reihenfolge der ausgewählten Texte wird dabei eine Anordnung nach logischen Gesichtspunkten gewählt. Auf die Anwendung eines starren Schemas, nach dem in allen Erzählungen dieselben Aspekte in derselben Reihenfolge analysiert werden, wird verzichtet, da in jedem der Texte andere Dimensionen des Fremden im Zentrum stehen und diese auch auf unterschiedliche Weise miteinander interagieren. Daher werden die Schwerpunkte bei jeder analysierten Erzählung individuell gesetzt. Alle vier Hauptkapitel des Analyseteils schließen mit einer kurzen Vorstellung von Variationen der jeweiligen Spielart des Fremden in weiteren Werken Grins. Bei der Zusammenstellung des Textkorpus für die ausführliche Analyse wurden mehrere Kriterien angelegt. Wichtigstes zu erfüllendes Merkmal war die ausführliche Behandlung jeweils einer der vier im Theorieteil definierten Kategorien des Fremden vor allem auf der Ebene des Inhalts, aber auch der Narration, Struktur und Sprache. Zudem wurde darauf geachtet, eine Balance zwischen unterschiedlich populären Texten zu schaffen, um einerseits von der Literaturwissenschaft vollständig oder weitestgehend ignorierte Werke mit einzubeziehen und andererseits neue Perspektiven auf bekanntere Erzählungen aufzuzeigen, sodass in beiden Fällen bislang wenig beachtete Aspekte von Grins Schaffen in den Fokus genommen werden können. Des Weiteren wurden Texte aus allen vier Jahrzehnten, in denen Grin als Schriftsteller tätig ist, ausgewählt, um eine Art exemplarischen Blick auf das Gesamtwerk zu erhalten. Schließlich wurde das Textkorpus der detailliert analysierten Werke auf Erzählungen Grins beschränkt, seine sechs (vollendeten) Romane und seine Povesti dagegen ausgeschlossen, da eine ausführliche Analyse längerer Werke den Rahmen der Studie gesprengt hätte; sie werden daher nur am Rande berücksichtigt. Zudem bieten Erzählungen aufgrund ihrer Kürze eine besonders konzentrierte Darstellung eines Themas – hier, des Fremden.

4.1

Das alltägliche Fremde

4.1.1

Erscheinungsformen des alltäglichen Fremden bei Grin – Überblick

Die zahlreichen Erscheinungsformen alltäglicher Fremdheit, die Grin in seinen Werken thematisiert, lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: Die erste beinhaltet verschiedene Fremdheitsphänomene zwischen bzw. von Individuen

Das alltägliche Fremde 

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oder Gruppen, die zweite bezieht sich auf Orte an der Peripherie einer Kultur, die von Foucault als Heterotopien beschrieben wurden,2 und die mit ihnen assoziierten Menschen. Fremdheiten der ersten Art betreffen beispielsweise die Distanz zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen und basieren auf Nichtzugehörigkeit, gehen aber oftmals auch mit Unvertrautheit einher.3 Den Kontrast zwischen Armut und Reichtum, Unter- und Oberschicht thematisiert Grin in zahlreichen Texten, unter anderem in der Erzählung »Kirpič i muzyka« (1907), in der der Fabrikarbeiter Evstignej an einem Haus vorbeikommt, in dem eine offensichtlich wohlhabende Frau Klavier spielt. In ihren jeweiligen Reaktionen aufeinander kommt die beiderseitige Überforderung im Umgang miteinander zum Ausdruck: Die Frau blickt Evstignej an, »как смотрят на интересное, но противное насекомое«;4 dieser wirft daraufhin seinerseits einen Ziegelstein durch das Fenster. Im Roman »Doroga nikuda« gerät der mittellose Held Tirrej ebenfalls in eine Situation, in der er mit Reichtum und Hochkultur konfrontiert ist, als er sich im Licht, Glanz und Gold des Theaters von Liss wiederfindet – und wird prompt von einer reichen Frau verdächtigt, ein Dieb zu sein.5 Als Tirrej später im Streit den Gouverneurssohn Van-Konet schlägt, weigert dieser sich, sich mit ihm zu duellieren, weil er ihn nicht als gleichwertigen Gegner betrachtet, sondern als tollwütiges Tier,6 d. h. nicht einmal als Menschen. Aus der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Schichten resultiert also oftmals der Unwille oder die Unfähigkeit zur Kommunikation und / oder zum konfliktlosen Umgang miteinander. Mindestens aber geht sie mit einem gewissen Unbehagen einher, wie das Beispiel des Protagonisten Sandi aus dem Roman »Zolotaja cep’« zeigt. Der arme Matrose, dessen Kleidung eher Lumpen ähnelt,7 fühlt sich in dem prunkvollen, mit Elfenbein, Marmor, Schnitzereien 2 Vgl. Foucault: Des espaces autres, 755–757. 3 Auf einer Metaebene betrachtet wird in Grins Gesamtwerk die Frau implizit als alltägliches Fremdes – als Andere, mit Simone de Beauvoir gesprochen: als anderes Geschlecht – behandelt. Die zentralen Protagonisten fast aller Werke des Schriftstellers sind männlich, die Rolle der Frau ist meist marginal und beschränkt auf die der Freundin, Ehefrau oder Geliebten, d. h. als Objekt (der Liebe, des Begehrens etc.) und oft Motivation für das Handeln des männlichen Helden. Dies gilt selbst für Grins berühmteste Frauenfigur, Assol’ aus »Alye parusa«, die zwar ausnahmsweise nicht nur eine Nebenrolle spielt, sondern im Zentrum der Handlung steht, aber dennoch passiv auf die Erfüllung ihres Traums von einem Schiff mit roten Segeln, das kommt, um sie in ein besseres Leben zu bringen, wartet. Die Realisierung dieses Wunsches durch aktives Handeln obliegt auch hier dem männlichen Protagonisten, Grėj. 4 KM , 55. Dt.: »wie man ein interessantes, aber ekelhaftes Insekt anschaut«. 5 Vgl. DN, 186. 6 Vgl. DN, 218. 7 Vgl. ZC , 241.

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Konzeptionen des Fremden in der Prosa Aleksandr Grins: Textanalysen

und Gold ausgestatteten Schloss des reichen Ganuver sichtlich unwohl.8 Der Kontrast der beiden Welten wird besonders deutlich, wenn Sandi in dem ihm zugewiesenen Zimmer »кровать и другие предметы роскошной жизни«9 bestaunt. Entfremdungen zwischen zwei einander ursprünglich nahestehenden Personen thematisieren unter anderem die Erzählungen »Vozvraščënnyj ad« (1915), in der der Protagonist Mark nach einer Kopfverletzung vollkommen gleichgültig gegenüber seiner ihn gesundpflegenden Partnerin wird, »Imenie Chonsa« (1910), in der der diegetische Erzähler seinen Freund nach langer Zeit wiedersieht und ihn äußerlich wie charakterlich kaum mehr erkennt, und die Erzählung »Proisšestvie v ulice Psa«, die in Kapitel 4.3.2.1 analysiert wird. Eine Variation davon stellen Konstellationen dar, in denen eine der beiden Personen von Anfang an distanziert bleibt und die Zuneigung der anderen Person zu ihrem Vorteil ausnutzt. Dies ist beispielsweise der Fall in Grins unvollendetem und unveröffentlichtem Roman »Tainstvennyj krug«, in dem die hübsche Gul’da ihren Verehrer Fal’k nur dann erhören will, wenn er als reicher Mann von seinen Reisen zurückkehrt.10 Noch deutlicher ausgeprägt findet sich das Motiv in der Erzählung »Rene« (1917), in der ein Häftling die Tochter des Gefängniswärters benutzt, um zu fliehen, sie aber im Moment der wiedergewonnenen Freiheit verstößt.11 Die genannte Erzählung »Proisšestvie v ulice Psa« enthält außerdem die Variante der Empathielosigkeit und sozialen Kälte in Bezug auf den alltäglichen Fremden schlechthin, den anonymen Mitmenschen. Dies ist auch Thema der Erzählung »Prochodnoj dvor« (1912; dt.: »Der Durchgangshof«),12 in der sich der Fahrgast eines Petersburger Kutschers während eines Zwischenhalts erschießt; das einzige Interesse des Kutschers besteht aber in der Klärung der Frage, von wem er das Fahrgeld für den Transport des Leichnams erhält.13 Die Anonymität des Anderen eröffnet jedoch auch Möglichkeiten, z. B. für ein Spiel mit der – weil dem Gegenüber unbekannten – eigenen Identität. Besonders eindrücklich wird dieser Umstand in der Erzählung »Vesëlyj poputčik« (1924; dt.: »Der fröhliche Reisegefährte«)14 in Szene gesetzt, in der sich zwei Männer mit dem Aussehen von Landstreichern – barfuß, unrasiert 8 Vgl. z. B. ZC , 270. 9 ZC , 251. Dt.: »ein Bett und anderes Zubehör eines luxuriösen Lebens« (ZCd, 36). 10 Vgl. Grin: Tainstvennyj krug. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 26. 11 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Rene. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 71–90. Kürzel: RE . 12 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Prochodnoj dvor. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 601–608. Kürzel: PD. 13 Vgl. PD, 607. 14 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Vesëlyj poputčik. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 303–312. Kürzel: VP.

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und mit zerschlissener Kleidung – begegnen. Der eine von ihnen, Ėmerson, behauptet, eigentlich ein wohlhabender Mann zu sein und nur am Tag zuvor im Wald ausgeraubt worden zu sein. Der andere, Bill’ Železnyj Krjučok (dt.: Eiserner Haken), kontert mit der Geschichte, ein Mitglied der Geographischen Gesellschaft von San Riol’ und wegen einer Wette Teilzeit-Landstreicher für einen Monat zu sein. Beide glauben dem anderen nicht.15 Schließlich stellt sich heraus, dass Ėmerson wirklich ist, wer er zu sein vorgibt – ganz im Gegensatz zu Bill’, der seit dem Verlust seiner Anstellung als Schauspieler (!) tatsächlich als Herumtreiber lebt.16 In der frühen Erzählung »V Italiju« (1906) versteckt sich der Ausbrecher Genik auf der Flucht vor der Polizei in einem Garten und trifft dort auf ein kleines Mädchen, das ihn mit ihrem Onkel Serëža verwechselt. Indem Genik die Rolle des Onkels annimmt, gelingt es ihm, selbst die Polizei zu täuschen und schließlich unerkannt zu fliehen. Der anonyme Andere als Bedrohung ist dagegen unter anderem Thema der Erzählung »Redkij fotografičeskij apparat« (1914; dt.: »Der seltene Fotoapparat«), in der der Protagonist bei Gewitter einem Unbekannten, von dem eine unbestimmte Bedrohung ausgeht, in einem Unterstand begegnet.17 Aus diesem Grund geht er trotz des Regens weiter; nur Momente später erschießt ihn der Unbekannte von hinten.18 Unter den Heterotopien bei Grin sind vor allem das Gefängnis, das Irrenhaus und das Schiff hervorzuheben. Gerade die erstgenannte Heterotopie findet sich auffällig häufig in seinen Werken, vor allem in den frühen, was vermutlich auf die sehr prägende autobiographische Erfahrung des Schriftstellers im Gefängnis von Sevastopol’ zurückzuführen ist. Nina Grin zufolge ist besonders die Beschreibung des Gefängnisses in »Doroga nikuda« davon beeinflusst.19 Neben den bereits genannten Erzählungen »V Italiju« und »Rene« ist das Motiv des Gefängnisses z. B. in »›Ona‹« (1908) zu finden, wo der Protagonist durch eine Haftstrafe seine Geliebte verliert und nach seiner Entlassung nach ihr sucht, oder in der Erzählung »Pozornyj stolb« (1911), in der die Siedler der Kolonie Kantervil’ als erste Institution, neben einer Schule und einem Hotel, ein Gefängnis einrichten.20 Nicht nur Hintergrund, sondern Schauplatz der Handlung selbst ist das Gefängnis z. B. in der Erzählung »Na dosuge« (1907), in der die Wächter ihre Machtposition gegenüber den Häftlingen ausnutzen und zu ihrer Belustigung an sie adressierte Briefe lesen, in »Apel’siny« (1907), wo auf die hoffnungsvolle 15 Vgl. VP, 308 f. 16 Vgl. VP, 311 f. 17 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Redkij fotografičeskij apparat. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 233–238, hier 235. Kürzel: RF. 18 Vgl. RF, 236. 19 Vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 46 f. 20 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 71.

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schriftliche Korrespondenz eines Gefangenen mit einer Frau ein beiderseitig ernüchterndes Treffen folgt, in der Erzählung »Brodjaga i načal’nik tjur’my« (1924; dt.: »Der Vagabund und der Gefängnisvorsteher«), die mit dem Ausbruch des Häftlings endet,21 in »Zagadka predvidennoj smerti« (1914; dt.: »Das Rätsel des vorausgesehenen Todes«)22 über die Stunden vor der Hinrichtung eines Gefangenen, oder in »Čërnyj almaz« (1916; dt.: »Der schwarze Diamant«).23 Im letztgenannten Werk gibt ein Geiger ein Konzert in einem sibirischen Gefängnis – also im Kontext einer doppelten Heterotopie, da Sibirien das eigene Andere der russischen Kultur darstellt 24 und darüber hinaus als Verbannungsort fungiert 25 – unter dem Vorwand, den Häftlingen Freude bereiten zu wollen. Seine eigentliche Absicht aber besteht darin, seinen dort inhaftierten Nebenbuhler, mit dem seine Frau ihn betrogen hat, durch die mit Hilfe der Musik hervorgerufenen Erinnerungen an sein Leben in Freiheit in den Wahnsinn zu treiben.26 Der Plan geht jedoch nicht auf, denn die Musik gibt dem Nebenbuhler erst die Kraft, eine Flucht aus dem Gefängnis unter Einsatz seines Lebens zu wagen, wodurch er am Ende der Erzählung seine Freiheit zurückgewinnt.27 Das Moment der Macht der Institution und das der Ohnmacht der Inhaftierten ist in all diesen Werken, mal unterschwellig, mal stärker ausgeprägt, präsent. Auch in zwei der Romane Grins kommt dem Gefängnis eine wichtige Rolle zu. In »Doroga nikuda« verbringt der Protagonist Davenant das komplette letzte Drittel des Romans im Gefängnis. Grin widmet allein der Beschreibung des Gefängnisses von Poket – das seiner Funktion als Heterotopie entsprechend »на окраине города«28 gelegen ist –, und der Korruptheit des 21 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Brodjaga i načal’nik tjur’my. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 391–394. Kürzel: BN. 22 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Zagadka predvidennoj smerti. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 227–233. Kürzel: ZP. 23 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Čërnyj almaz. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 471–478. Kürzel: ČA . 24 Vgl. Frank, Susi: Sibirien. Peripherie und Anderes der russischen Kultur. In: Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 44 (1997), 357–381. 25 Vgl. zur Verknüpfung von Russland, Sibirien und dem Gefängnismotiv Aleksandr Bloks titelloses Gedicht von 1910: »Русь моя, жизнь моя, вместе ль нам маяться? / Царь, да Сибирь, да Ермак, да тюрьма!« (Blok, Aleksandr A.: Rus’ moja, žizn’ moja, vmeste l’ nam majat’sja?… In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij v dvadcati tomach. Tom tretij. Sticho­ tvorenija. Kniga tret’ja (1907–1916). Moskva 1997, 176. Dt.: »Mein Rußland, mein Leben, was soll unser Leiden? / Der Zar, und Sibirien, Jermak, das Gefängnis!« (Block, Alexander: Mein Rußland, mein Leben. Aus dem Russischen übertragen von Jürgen Rennert. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 1. Gedichte und Poeme. Berlin 1978, 200)). 26 Vgl. ČA , 474–476. 27 Vgl. ČA , 478. 28 DN, 302. Dt.: »am Rande der Stadt« (DNd, 202).

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dort tätigen Personals mehrere Seiten.29 Die Opposition zwischen Gefängnis und Freiheit – das heißt die der Definition der Heterotopie nach Foucault entsprechende gleichzeitige Repräsentation und Verkehrung der übrigen Räume (hier: der Räume außerhalb der Gefängnismauern) –30 wird in »Doroga nikuda« immer wieder betont. Der Raum der Freiheit reduziert sich an diesem Ort auf den Schlaf, in dem der Häftling die Gefängnismauern überwinden kann.31 Das Gefängnis stellt hier eine Vorstufe zum Tod im doppelten Sinne dar: Nicht nur wartet der Protagonist darin auf seine Hinrichtung, sondern der Erzähler beschreibt Davenants Leben in Unfreiheit als Erfahrung »этой, погребенной в стенах, жизни«.32 Der Roman endet pessimistisch: Zwar versuchen Davenants Freunde ihn mit verschiedenen Strategien – durch das Graben eines Tunnels ebenso wie durch Gesuche bei einflussreichen Personen – zu retten. Schließlich gelingt es ihnen tatsächlich, eine Neuverhandlung des Falls zu erwirken, doch bevor es dazu kommt, stirbt Davenant im Gefängnis.33 In »Blistajuščij mir« gerät die Hauptfigur ebenfalls ins Gefängnis. In diesem Fall sind besonders die Gründe dafür beachtenswert: Der Held, Drud, besitzt die Fähigkeit zu fliegen und wird deshalb von der Regierung zur unerwünschten Person erklärt, da er – durch sein Außerkraftsetzen der Naturgesetze – auch als Gefahr für die Stabilität des Staates betrachtet wird: »›[…] никакое правительство не потерпит явлений, вышедших за пределы досягаемости […]‹«.34 Das Ausschließen dessen, was ›nicht sein darf‹, erfolgt also durch sein Einschließen hinter den Mauern des Gefängnisses. Im Gegensatz dazu zeichnen sich gerade diejenigen, die die Exklusion des Nichtkonformen in der Praxis umsetzen, nämlich die Gefängniswärter, durch vollständige Konformität aus: Sie bilden einen »механизм[…], действующи[й] неукоснительно«.35 Die zweite Form der Abweichungsheterotopie, die bei Grin immer wieder anzutreffen ist, ist das Irrenhaus bzw. die Nervenheilanstalt. Die Mehrheit der Protagonisten gerät dorthin, weil sie in eine imaginäre Welt flüchtet, um nicht mit der unerträglichen Wirklichkeit umgehen zu müssen. Handelt es sich also bei der oben genannten Erschaffung einer parallelen Wirklichkeit im Traum, die eine, wenn auch nur temporäre, Flucht aus der Enge der Mauern 29 Vgl. DN, 302–304. 30 Vgl. Foucault: Des espaces autres, 755 f. 31 Vgl. z. B. DN, 345 u. 399. 32 DN, 400. Dt.: »seines Lebendig-Begrabenseins in den Gefängnismauern« (DNd, 265); wörtl.: »dieses, in den Mauern begrabenen, Lebens.«. 33 Vgl. DN, 496–498. 34 BM , 109. Dt.: »›[…] keine Regierung duldet Erscheinungen, die sich ihrer Reichweite entziehen […]‹« (BMd, 54). 35 BM, 112; Hervorhebung im Original. Dt.: »strikt funktionierenden Mechanismus« (BMd, 59; Hervorhebung von A. B.).

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Konzeptionen des Fremden in der Prosa Aleksandr Grins: Textanalysen

ermöglicht, um die Folge der Einschließung in die Heterotopie des Gefängnisses, stellt die Negierung der Realität die Ursache für die Verbringung an den heterotopischen Ort des Irrenhauses dar. Die Erzählung »Sila nepostižimogo« (1918; dt.: »Die Macht des Unfass­ baren«)36 handelt von einem Geiger, der im Traum eine Melodie von unfassbarer Schönheit und Harmonie hört, sie jedoch nach dem Aufwachen nicht mehr rekonstruieren kann. Aus diesem Grund wendet er sich an einen Hypnotiseur, der ihm unter Hypnose seine Geige reicht und ihn die vollendete Musik spielen lässt. Die Klänge sind jedoch so überwältigend, dass der Hypnotiseur sie nicht erträgt, den Geiger unterbricht, ihm befiehlt, die Musik zu vergessen, und ihm nach dem Erwachen aus der Trance mitteilt, dass die vollendete Schönheit der Melodie lediglich eine Einbildung gewesen sei und er nur Fragmente gewöhnlicher Stücke gespielt habe. Als der Musiker kurz darauf von einem Passanten, der das vollendete Geigenspiel durch das Fenster gehört hat, erfährt, dass der Hypnotiseur ihn belogen und ihm die Melodie für immer genommen hat, verliert er den Verstand. In der Nervenheilanstalt bemüht er sich vergeblich darum, die verlorene Musik wiederzuerlangen, und stirbt schließlich im Fieberwahn. In der Erzählung »Ogon’ i voda« (1916; dt.: »Feuer und Wasser«)37 kommen die Frau und die Kinder des Protagonisten Štrich durch ein Feuer ums Leben. Beim Anblick seiner sterbenden Frau vollzieht sich der Übergang des Protagonisten in eine imaginäre Realität, indem er das Geschehene zum Traum erklärt: »›Раньше я умел просыпаться вовремя, если видел тяжелый сон […]. Сны бывают очень отчетливы, заметьте это. Конечно, это не моя жена. Потом, здесь были бы дети. Ну, теперь я спокоен; я думаю, что скоро проснусь.‹«38 Er wird daraufhin in eine Nervenheilanstalt gebracht, wo er nach eineinhalb Jahren tatsächlich aus seinem ›Traum‹ aufwacht. Da das ›Erwachen‹ jedoch, entgegen Štrichs Wunsch und Überzeugung, nicht die Rückkehr in sein Leben mit seiner unversehrten Familie bedeutet, sondern die Erkenntnis, dass die geleugnete Tragödie tatsächlich stattgefunden hat, 36 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Sila nepostižimogo. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 122–128. Kürzel: SN. 37 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Ogon’ i voda. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 435–442. Kürzel: OV. 38 OV, 441. Dt.: »›Früher konnte ich immer zur rechten Zeit aufwachen, wenn ich einen schweren Traum hatte […]. Träume pflegen sehr plastisch zu sein, merken Sie sich das. Natürlich ist das nicht meine Frau. Dann wären ja auch die Kinder da. Nun, jetzt bin ich beruhigt, ich denke, daß ich bald aufwache.‹« (Grin, Alexander: Feuer und Wasser. Übersetzt von Brigitta Schröder. In: Ders.: Der Rattenfänger. Phantastische Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Lola Debüser. Frankfurt a. M. 1986, 22–29, hier 29. Kürzel: OVd).

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folgt unmittelbar darauf der Tod des Protagonisten, der neben dem Wahnsinn ebenfalls eine – die letzte – Fluchtmöglichkeit aus der Wirklichkeit darstellt. In der Erzählung »Mat v tri choda« (1908; dt.: »Matt in drei Zügen«),39 die in Kapitel 4.3.1 kurz vorgestellt wird, kommt es gar nicht erst zu einer Einweisung in eine psychiatrische Anstalt, weil der Protagonist schon vorher in der Praxis seines Psychiaters stirbt, was auch hier als Ausweg aus der Konfrontation mit einem unerträglichen Wissen, in diesem Fall über Unbegreifliches wie den Tod und die Unendlichkeit, zu lesen ist. Neben den genannten Beispielen, in denen tatsächlich eine Flucht in einer andere Realität vorliegt und die Betroffenen sich in der eigentlichen Wirklich­ keit nicht mehr zurechtfinden, sodass ihre Einweisung in die Nervenheilanstalt zu ihrem Besten geschieht, gibt es jedoch auch Fälle, in denen die ›Abweichung‹ von der Norm nicht als Problem für den Betroffenen, sondern als Bedrohung oder zumindest Irritation für sein Umfeld wahrgenommen wird, sodass die Einweisung in die Heterotopie der Psychiatrie lediglich als abgewandelte Form der Inhaftierung im Gefängnis zu betrachten ist.40 In »Otravlennyj ostrov« etwa gerät Skorrej, der einzige erwachsene Überlebende eines Massensuizids 39 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Mat v tri choda. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 172–177. Kürzel: MV. 40 Gerade die Autoren der russischen Moderne und Postmoderne, aber auch früherer Epochen, stellen die Praxis des Wegsperrens des ›Anormalen‹ in psychiatrischen Kliniken in Frage. In einer Reihe von absurden Texten wird die Zuschreibung von Normalität und Verrücktheit auf den Kopf gestellt und so die grundsätzliche Gültigkeit dieser Kategorien unterminiert. Bereits bei Dostoevskij, in »Bobok« (1873), findet sich die Passage: »Припоминается мне испанская острота, когда французы, два с половиною века назад, выстроили у себя первый сумасшедший дом: ›Они заперли всех своих дураков в особенный дом, чтобы уверить, что сами они люди умные‹. Оно и впрямь: тем, что другого запрешь в сумасшедший, своего ума не докажешь.« (Dostoevskij, Fëdor M.: Bobok. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Tom dvadcat’ pervyj. Dnevnik pisatel’ja 1873. Stat’i i zametki 1873–1878. Leningrad 1980, 41–54, hier 42 f. Dt.: »Da fällt mir ein Witz ein, den die Spanier machten, als die Franzosen vor zweieinhalb Jahrhunderten bei sich das erste Irrenhaus erbauten: ›Sie haben alle ihre Dummköpfe in ein besonderes Haus gesperrt, um den Glauben zu erwecken, daß sie selbst klug seien.‹ Es ist ganz richtig: dadurch, daß man einen andern ins Irrenhaus sperrt, beweist man noch nicht seinen eigenen Verstand.« (Dostojewski, F. M.: Bobok. In: Ders.: Gesammelte Werke in 12 Bänden. Bd. XII . Erzählungen. Hamburg 1959, 66–85, hier 68)). In Aleksandr Vvedenskijs absurdem Stück »Ëlka u Ivanovych« ([1938] 1971; dt.: »Weihnachten bei Ivanovs«) wird die Amme, nachdem sie Sonja erschlagen hat, in ein Irrenhaus eingeliefert. Der dortige Arzt erklärt die – sich selbst als verrückt (russ.: sumasšedšaja) bezeichnende – Amme nicht nur für (implizit: auch psychisch) gesund, weil sie eine gesunde Gesichtsfarbe hat (vgl. Vvedenskij, Aleksandr: Ëlka u Ivanovych. In: Ders.: Polnoe sobranie proizvedenij v dvuch tomach. Tom 2. Proizvedenija 1938–1941. Priloženija. Moskva 1993, 47–67, hier 57), sondern verhält sich selbst wie ein Verrückter, leidet unter Verfolgungswahn und schießt erst auf sein eigenes Spiegelbild, von dem er sich bedroht fühlt, dann auf den Sanitäter, den er – und der sich selbst – für einen Bettvorleger hält (vgl. ebd., 56 f.).

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auf einer abgelegenen Insel, in den Verdacht, in Wirklichkeit der Mörder zu sein – und wird, statt in Untersuchungshaft gesteckt zu werden, für mehrere Monate in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.41 In der Erzählung »Put’« (1915), die in Kapitel 4.2.3.1 detailliert analysiert wird, ist die Bedrohung für die Umwelt subtiler. In ihr hat der Protagonist plötzlich Visionen einer Landschaft, die ihm ebenso real erscheint wie seine Umgebung, woraufhin selbst seine Freunde überlegen, ihn in eine Nervenklinik einweisen zu lassen, weil dies ihre eigene Weltsicht in Frage stellt. In »Vragi« (1917; dt.: »Feinde«)42

Venedikt Erofeev lässt den Doktor aus »Val’purgieva noč’« (1985; Dt.: »Die Walpurgisnacht«) die oben genannte funktionale Ähnlichkeit zwischen Irrenanstalt und Gefängnis aussprechen: »Сказать вам по секрету, мы с недавнего времени приступили к госпитализации даже тех, у кого – на поверхностный взгляд – нет в наличии ни единого симптома психического расстройства. Но ведь мы не должны забывать о способностях этих больных к непроизвольной или хорошо обдуманной диссимуляции. Эти люди, как правило, до конца своей жизни не совершают ни одного антисоциального поступка, ни одного преступного деяния, ни даже малейшего намека на нервную неуравновешенность. Но вот именно этим-то они и опасны и должны подлежать лечению. Хотя бы по причине их внутренней несклонности к социальной адаптации…« (Erofeev, Venedikt: Val’purgieva noč’, ili Šagi Komandora. Tragedija v pjati aktach. In: Abdullaeva, Z. K./Michalëva, A. D. (Hg.): Vosem’ nechorošich p’es. Moskva 1990, 5–74, hier 15. Dt.: »Unter uns gesagt, sind wir seit geraumer Zeit dazu übergegangen, auch diejenigen zu behandeln, die, oberflächlich gesehen, keinerlei Anzeichen psychischer Zerrüttung aufweisen. Aber wir dürfen nicht übersehen, daß diese Patienten zur Dissimulation fähig sind. Diese Menschen begehen in der Regel bis an ihr Lebensende keine asoziale oder verbrecherische Handlung, zeigen nicht das geringste Symptom einer nervlichen Anomalie. Aber gerade dadurch sind sie gefährlich und müssen der Behandlung unterzogen werden. Schon aufgrund ihres Widerstandes gegen soziale Anpassung…« (Erofeev, Venedikt: Die Walpurgisnacht, oder Schritte des Komturs. Aus dem Russischen von Peter Urban. In: Urban, Peter (Hg.): Fehler des Todes. Russische Absurde aus zwei Jahrhunderten. Frankfurt a. M. 1990, 423–437, hier 433)). Vor allem im Stalinismus wird genau dieses Prinzip in der Praxis realisiert: Zahlreiche ideologisch unerwünschte Schriftsteller und Dichter werden in Gefängnisse und Irrenhäuser gesteckt (vgl. Urban, Peter: Nachwort. In: Ders. (Hg.): Fehler des Todes. Russische Absurde aus zwei Jahrhunderten. Frankfurt a. M. 1990, 475–484, hier 478), darunter Vvedenskij, der im September 1941 verhaftet wird und wenige Monate später auf einem Gefangenentransport stirbt, und Charms, der nach seiner Verhaftung im August 1941 in die Gefängnispsychiatrie eingewiesen und für psychisch krank erklärt wird und dort im Februar 1942 während der Leningrader Blockade verhungert (vgl. Kasack: Aleksandr Vvedenskij, 13 f.; Schriek: Nachwort, 240). Doch auch hierfür gibt es historische Vorbilder: Pëtr Čaadaev etwa wird nach der Veröffentlichung seiner »Lettres philosophiques« (1836) vom Zaren persönlich für geisteskrank erklärt und verfasst daraufhin seine »Apologija sumasšedšego« (1837/1906; dt.: »Apologie eines Wahnsinnigen«) (vgl. Lauer, Reinhard: Kleine Geschichte der russischen Literatur. München 2005, 94 f.). 41 Vgl. OO, 575. 42 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Vragi. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 26–30. Kürzel: VR .

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dagegen lässt sich Assol’43 auf eigenen Wunsch in eine Nervenheilanstalt bringen, nachdem sie ebenfalls Visionen hat.44 Die Heterotopie des Schiffs schließlich stellt ein sehr häufiges Motiv in Grins Gesamtwerk dar, da viele – wenn auch längst nicht alle, wie dies oft wahrgenommen wird – seiner Schauplätze am Meer gelegen sind. Als einige von zahlreichen Beispielen seien hier genannt: die Erzählungen »Ostrov Reno«, »Korabli v Lisse«, »Smert’ Romelinka« (1910; dt.: »Romelinks Tod«),45 »Komendant porta« und »Vozvraščenie«, die Romane »Beguščaja po volnam« und »Zolotaja cep’« und nicht zuletzt natürlich »Alye parusa«. Allerdings spielt das Schiff in den meisten dieser Texte nur eine Nebenrolle als Fortbewegungsmittel, als gleichsam im doppelten Sinne transitorischer Handlungsort, während die große Mehrzahl der Ereignisse an Land stattfindet. In diesem Sinne konstatiert Frioux: »Grin est le poète du port plutôt que celui de la mer.«46 Darin unterscheidet sich Grin stark von den Autoren westlicher Abenteuerliteratur wie Conrad oder Poe, mit denen er oft verglichen wird, bei denen aber das Schiff auf hoher See der zentrale Schauplatz ist.47 Unter diesen zahlreichen genannten Erscheinungsformen des alltäglichen Fremden in Aleksandr Grins Werken stellt die erstgenannte, die Distanz zwischen Personen unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeiten, den Ausgangspunkt der Handlungen der im Folgenden genauer analysierten Erzählungen dar. 4.1.2

Ennui als Fremdheit (in) der Welt

Eine Erscheinungsform alltäglicher Fremdheit, die Grin in seinem Gesamtwerk immer wieder, sowohl in frühen als auch in späten Texten, thematisiert, ist die Langeweile. Diese lässt sich als Ausdruck eines Fremdheits­ gefühls in Bezug auf die Welt, das eigene Sein und Handeln beschreiben, und zwar mit doppelter Ausrichtung: Die Welt erscheint der Person fremd, die Person fühlt sich fremd in der Welt. Bei der passiv zugeschriebenen Fremd43 Zwar heiratet Assol’ aus »Vragi« ebenso wie Assol’ aus »Alye parusa« einen Kapitän, dennoch handelt es sich nicht um dieselbe Figur, weil sich die Biographien deutlich unterscheiden. Auch zu der dritten Assol’ aus »Vokrug sveta« (1916; dt.: »Um die Welt«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Vokrug sveta. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 610–619. Kürzel: VS) besteht höchstwahrscheinlich keine Verbindung, da diese mit dem Reisenden Žil’ liiert ist (s. Kap. 4.1.2.3). 44 Vgl. VR , 28 f. 45 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Smert’ Romelinka. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 390–397. Kürzel: SM . 46 Frioux: Alexandre Grin, 84. 47 Vgl. Luker: Alexander Grin’s Grinlandia, 206.

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heit der Welt handelt es sich um eine (emotionale) Unzugänglichkeit im Sinne einer empfundenen Unvertrautheit, die paradoxerweise  – als sekundäre Fremdheit – aus einer zu stark ausgeprägten Vertrautheit resultiert und mit der In­fragestellung von Sinnhaftigkeit einhergeht. Die aktiv zugeschriebene Fremdheit der Person in der Welt ist dagegen eine von ihr subjektiv wahrgenom­ mene Nichtzugehörigkeit, z. B. zu der Gruppe, mit der die Langeweile assoziiert wird. In der Regel tritt Langeweile nur für eine begrenzte Dauer auf und beschränkt sich auf eine bestimmte Situation oder Tätigkeit, sodass die Fremdheit normalerweise nicht bewusst als solche empfunden wird. Bisweilen aber entwickelt sie eine solche Intensität, dass sie das Leben der betroffenen Person entscheidend beeinflusst oder es gar vollends bestimmt. In dieser extremen Form umfasst das mit dem französischen Begriff als Ennui bezeichnete, schwer zu fassende Phänomen der Langeweile unter anderem die »an den Weltschmerz anschließende Bewußtseinslage der Ermüdung, das unbehagliche Gefühl des Fremdseins in der Welt und die der Ziellosigkeit entspringende müde Resignation«.48 Eben solche Fälle stehen im Zentrum von mehreren Erzählungen ­Aleksandr Grins. Damit steht er in einer Reihe mit zahlreichen anderen Autoren, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in zunehmendem Maße um die Wende zum 20. Jahrhundert in ihren Werken mit dem Thema des Ennui befassen  – darunter Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Charles Baudelaire.49 Ebenso vielfältig wie die oben genannten Ausprägungen des Ennui sind dabei die Varianten seiner literarischen Gestaltung, etwa als Orientierungsverlust, existentielle Angst oder »namenlose[s], kaum greifbare[s] Leid«.50 Damit erweist sich der Ennui als geradezu klassisches Thema des Fin de Siècle, das eben solche existentiellen Entfremdungserfahrungen verhandelt. Eine Erklärung für die quälende Wirkung der Langeweile findet sich bereits bei Blaise Pascal in seinen »Pensées«: Rien n’est si insupportable à l’homme que d’être dans un plein repos, sans passions, sans affaire, sans divertissement, sans application. Il sent alors son néant, son abandon, son insuffisance, sa dépendance, son impuissance, son vide. Incontinent il sortira du fond de son âme, l’ennui, la noirceur, la tristesse, le chagrin, le dépit, le désespoir.51

48 Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G.: Ennui. In: Dies.: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. Auflage. Tübingen, Basel 1995, 131–133, hier 131. 49 Vgl. ebd., 131 f. 50 Ebd., 132. 51 Pensées 131; Pascal, Blaise: Pensées. Paris 1964, 108.

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Einen Ausweg aus dieser Situation nennt Pascal indirekt im ersten Teil des Zitats: divertissement. Eben diese Strategie – Vergnügung oder Unterhaltung als Mittel zur Flucht aus einer allumfassenden, qualvollen Langeweile – wählen auch Grins (Anti-)Helden in einer Reihe seiner Erzählungen, darunter »Vokrug sveta« (1916), »Gladiatory« (1923), »Serdce pustyni« (1923), »Propavšee solnce« (1923; dt.: »Die verschwundene Sonne«)52 und »Zelënaja lampa« (1930; dt.: »Die grüne Lampe«).53 Gemeinsam ist allen vom Ennui betroffenen Figuren dieser Erzählungen, dass sie ein Leben in Reichtum und Überfluss führen, das eine völlige Übersättigung durch jederzeit verfügbare Annehmlichkeiten und damit letztlich eine allumfassende Langeweile zur Folge hat.54 Diese geht mit einer zynischen Haltung der Betroffenen einher, die sich auch

52 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Propavšee solnce. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 237–241. Kürzel: PS . 53 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Zelënaja lampa. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 593–597. Kürzel: ZL . 54 Die Funktion von Reichtum als Voraussetzung für Handlungsfreiheit findet sich in zahlreichen Werken Grins, auch in solchen mit vollkommen anderen Thematiken und mit einer positiven Verwendung der finanziellen Ressourcen, wie beispielsweise in »Zolotaja cep’« oder »Alye parusa« (vgl. Luker: Alexander Grin’s Grinlandia, 197 f.). Besonders deutlich wird die Determiniertheit der Handlungsmöglichkeiten durch die finanzielle Situation einer Person im direkten Vergleich der genannten Ennui-Texte Grins mit seiner frühen Erzählung »Nakazanie« (1908; dt.: »Die Strafe«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Nakazanie. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 3. Moskva 1980, 400–404. Kürzel: NA). Deren Protagonist Vertljuga gehört der sozialen Unterschicht an; seine Langeweile resultiert dementsprechend auch nicht aus einer Übersättigung mit sämtlichen Arten von Vergnügungen, sondern im Gegenteil aus Mangel an Abwechslung angesichts seiner monotonen Arbeit in einer Holzwerkstatt: »Годами копившееся отвращение к скучному, однообразному труду перешло в болезненно-капризное состояние, когда человек готов заплатить какой угодно ценой за удовлетворение сильной, внезапной прихоти.« (NA , 403. Dt.: »Eine über Jahre hinweg angehäufte Abscheu gegen die langweilige, eintönige Arbeit ging in einen krankhaft-kapriziösen Zustand über, in dem der Mensch bereit ist, jeden beliebigen Preis für die Befriedigung einer starken, plötzlichen Laune zu bezahlen.«). Aufgrund seines Mangels an finanziellen Mitteln gestaltet sich sein Versuch, aus der Langeweile auszubrechen, äußerst bescheiden – er beschließt, schon vor Ende des Arbeitstages an den Fluss zum Angeln zu gehen –, doch selbst dieser ist zum Scheitern verurteilt. Bevor er seinen Plan umsetzen kann, wird er vom Riemen einer der Maschinen erfasst und so schwer verletzt, dass er einige Tage später stirbt, also tatsächlich den höchsten Preis dafür bezahlt. Aufgrund des Titels der Erzählung, »Nakazanie«, in dem dank Dostoevskij auch ein vorausgehendes prestuplenie (dt.: Verbrechen) mitschwingt, kann der Tod des Protagonisten als Strafe für seinen Ausbruchsversuch gedeutet werden. Dem wohnt auch eine für die damalige Zeit hochaktuelle soziopolitische Aussage inne: Vertljugas Optionen als Arbeiter beschränken sich darauf, Teil der metaphorischen industriellen Maschinerie mit ihrer »entfremdete[n] Arbeit« (Marx: I. Manuskript, 56; vgl. dazu auch ebd., 50–63; zum Arbeiter als Teil der Maschine vgl. ebd., 54) zu bleiben – oder von einer ganz konkreten Maschine erfasst und getötet zu werden.

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in der Art der von ihnen gewählten Vergnügungen niederschlägt: Sie alle benutzen andere Menschen als Versuchsobjekte für grausame Spiele und erfreuen sich an dem so hervorgerufenen Leid.55 Grundlegend für die Haltung dieser Figuren ist ein ethischer Nihilismus –56 und damit ein Konzept, das Ende des 19. Jahrhunderts in Russland weit verbreitet ist, vor allem durch die außerordentlich intensive Rezeption Friedrich Nietzsches,57 der den Begriff seinerseits von Mérimée und aus Turgenevs »Otcy i deti« (1862; dt.: »Väter und Söhne [Kinder]«)58 übernimmt.59 Zudem greift Grin in diesen Werken in abgewandelter Form ein Motiv der russischen realistischen Literatur auf, die die Langeweile in Gestalt des byt (dt.: Alltag, Lebensweise) kennt und verarbeitet. Seit dem 19. Jahrhundert dem positiven Begriff des bytie, verstanden als ›sinnvolles Dasein‹, gegenübergestellt,60 ist es gerade die Banalität (russ.: pošlost’) des (provinziellen) byt, in der Sologub in »Mel’kij bes« (1905; dt.: »Der kleine Dämon«) das Böse, Dämonische lokalisiert.61 Die literarische Darstellung alltäglicher Fremdheit in dieser Ausprägung soll im Folgenden anhand der Erzählungen »Propavšee solnce« und »Zelënaja lampa« genauer betrachtet werden, in denen das Thema des Ennui besonders 55 Tat’jana Paromonova führt in ihrer Studie zu Grins Prosa als übertextuelle Einheit ­»Zelënaja lampa« zusammen mit den Erzählungen »Kolonija Lanfier« (1910), »Vokrug sveta« (1916), »Gladiatory« (1923), »Propavšee solnce« (1923), »Pari« (1933; dt.: »Die Wette«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Pari. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 628–634. Kürzel: PA) und »Barchatnaja port’era« (1933 posthum veröffentlicht) als Beispiel für eine Reihe von Texten mit einer gemeinsamen Handlungsinvariante an, nämlich hier dem moralischen Experiment oder Abschließen einer Wette (vgl. Paromonova, Tat’jana A.: Proza A. S. Grina kak sverchtekstovoe edinstvo. Avtoreferat dissertacii. Samara 2009, 16). Als Unterkategorie davon kann das hier in den Blick genommene, aus einem allumfassenden Ennui entstandene moralische, oder vielmehr unmoralische, Experiment eines Menschen mit und auf Kosten eines anderen definiert werden. 56 Vgl. zu Nihilismus und Grausamkeit bei Grin auch Skuratovskij, V. L.: Prodvinut’ čelo­ večestvo k sčast’ju. In: Zagvozdkina, T. E. (Hg.): A. S. Grin: Vzgljad iz XXI veka. K 125-letiju Aleksandra Grina. Sbornik statej po materialam Meždunarodnoj naučnoj konferencii ›Aktual’nye problemy sovremennoj filologii‹. Kirov 2005, 70–74, hier 73. 57 Vgl. Ėtkind, Aleksandr: Ėros nevozmožnogo. Istorija psichoanaliza v Rossii. Moskva 1994, 8. 58 Vgl. Turgenev, Ivan S.: Otcy i deti. In: Ders./Batjuto, S. A. (Hg.)/Nikitina, N. S. (Hg.): Otcy i deti. Sankt-Peterburg 2008, 7–188, hier 25. 59 Vgl. Kuhn, Elisabeth: Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs. In: Nietzsche-Studien 13 (1984), 253–278, hier 261–277. Zum enormen Einfluss der Ideen Nietzsches, unter anderem des Schlagworts der ›Umwertung aller Werte‹ auf das russische Denken vgl. Ėtkind: Ėros nevozmožnogo, 8 f. 60 Vgl. Figes, Orlando: Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands. Bonn 2011, 486. 61 Vgl. Kissel, Wolfgang: Die Moderne. In: Städtke, Klaus (Hg.): Russische Literatur­ geschichte. Stuttgart, Weimar 2002, 226–289, hier 233.

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ausführliche Darstellung erfährt. Die anderen genannten Texte werden im Anschluss daran kurz vorgestellt. 4.1.2.1

Ennui ohne Ende: »Propavšee solnce«

»Propavšee solnce« erscheint erstmals 1923, im selben Jahr wie »Serdce ­pustyni«, in Krasnaja gazeta62 und wird in der Sekundärliteratur zu Grin fast vollständig ausgeblendet – vermutlich wegen seines im krassen Widerspruch zu dem Bild von Grin als Schriftsteller des Schönen und Guten stehenden Sujets. Der Text kann als Vorläufer von »Zelënaja lampa« angesehen werden, da darin mehrere Muster angelegt sind, die sich einige Jahre später in der zweitgenannten Erzählung in stärker elaborierter Form wiederfinden. Dementsprechend soll hier zunächst »Propavšee solnce« Betrachtung finden, bevor »Zelënaja lampa« analysiert wird. Der nur wenige Seiten umfassende Text handelt von einem reichen Mann namens Avel’ Choggej, der ein Kind namens Robert vom Säuglingsalter an in einem geschlossenen Raum ohne Fenster aufziehen lässt,63 nur um ihn schließlich eines Tages mit dem Anblick der Sonne und später der Nacht zu konfrontieren und mit seinen Freunden Wetten auf die Reaktion des Jungen abzuschließen. Die in sechs sehr kurze Kapitel eingeteilte Handlung wird von einem nichtdiegetischen Erzähler aus narratorialer Perspektive geschildert, der die Fähigkeit zur Introspektion in das Bewusstsein der Figuren besitzt.64

62 Ausgabe vom 29. Januar; vgl. Revjakina / Pervova: Primečanija, 711. 63 In die Verfilmung von »Blistajuščij mir« (1984, Regie: Bulat Mansurov) wird die Handlung aus »Propavšee solnce« integriert, da hier die Figur des Leuchtturmwärters Stebbs, in Abweichung von der literarischen Vorlage, eine Tochter hat, die wie Robert aus »Propavšee solnce« ohne Sonnenlicht aufgezogen wurde (vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 179). 64 Wolf Schmid, dessen Monographie »Elemente der Narratologie« die hier für die Analyse verwendeten narratologischen Begriffe entnommen sind, unterscheidet in Bezug auf den diegetischen Status zwei Typen des Erzählers: Der diegetische Erzähler ist selbst Teil der Diegesis und erzählt über sich (bzw. sein früheres Ich) als Figur der von ihm erzählten Geschichte, während der nichtdiegetische Erzähler kein Teil der Diegesis ist und daher nur über andere Personen erzählt (vgl. Schmid: Elemente der Narratologie, 82). Der Erzähler kann das Geschehen – unabhängig von seiner Zugehörigkeit zur Diegesis – aus zwei unterschiedlichen Perspektiven darstellen: aus seiner eigenen, d. h. einer narratorialen, oder aus der einer bzw. mehrerer handelnder Figuren, d. h. einer figuralen Perspektive (vgl. ebd., 127). Des Weiteren kann der Erzähler unterschiedliche Fähigkeiten aufweisen: Er kann z. B. allwissend sein oder nicht und die Fähigkeit zur Introspektion in das Innere von Figuren besitzen oder nicht (vgl. ebd., 80). Weist der Text eine Binnenerzählung auf, ist schließlich noch zwischen dem primären Erzähler der Rahmengeschichte und dem sekundären Erzähler der Binnengeschichte (sowie ggf. dem tertiären Erzähler der Binnengeschichte zweiten Grades usw.) zu differenzieren (vgl. ebd.).

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Der Schauplatz der Handlung wird nicht thematisiert, man erfährt ledig­ lich, dass er sich in der Nähe der fiktiven Gebirgskette von Achuan-Skap65 befindet.66 Einziger Hinweis auf eine Lage in wärmeren Gefilden ist der Bestand an Orangen- und Tulpenbäumen im Garten des Hauses des Antihelden Choggej.67 Das deiktische Zentrum, von dem aus das Fremde als solches bestimmt wird, bildet die Hauptfigur Choggej. Das alltägliche Fremde tritt hier in zwei Formen auf: als sozioökonomisch bedingter Gegensatz zwischen Arm und Reich sowie als ein im Zusammenhang mit dem Ennui entstandenes Gefühl der Fremdheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Sein und Handeln wie auch gegenüber dem Leben anderer. Die Kombination beider bildet die Grundlage für das grausame Spiel Choggejs mit Robert. Choggejs Experiment führt seinerseits zu einer dritten Art von Alienität, die allerdings nicht mehr alltäglicher, sondern bereits struktureller Natur ist und deren Interpret nicht Choggej, sondern Robert ist. Sie betrifft grundsätzliche Annahmen über die Beschaffenheit der Welt und damit darüber, was als Normalität gilt. Sozioökonomische Fremdheit als Voraussetzung für ein grausames Spiel I Die erste Form der alltäglichen Fremdheit weist mit dem Protagonisten der Erzählung, Robert, einen personalen Referenten auf und basiert auf einer kollektiven Fremdsetzung durch Choggej und seine beiden Freunde Chart und Bljum. Dies geschieht implizit, wird also nicht direkt thematisiert, sondern nur durch einige knapp gehaltene Informationen zum sozialen Hintergrund der handelnden Personen umschrieben. Der abstrakte Leser erfährt, dass Choggej »бесчисленны[е] богатства[…]«68 besitzt, dass er verschiedenes Personal,

65 Der Ortsname Achuan-Skap ist Teil der Geographie Grinlandijas im engsten der drei in Kapitel 4.2.2. herausgearbeiteten Verständnisse. Er findet sich ebenfalls in Grins ­Romanen »Zolotaja cep’« (vgl. ZC , 316) und »Doroga nikuda« (vgl. DN, 75 u.79), wie auch in den Erzählungen »Ochota na chuligana« (1915; dt.: »Die Jagd auf den Hooligan«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Ochota na chuligana. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 3. Moskva 1980, 296–305, hier 297 u. 305. Kürzel: OC), »Vokrug sveta« (vgl. VS , 617 f.), »Otravlennyj ostrov« (vgl. OO, 569, 571 f., 576 u. 583), »Korabli v Lisse« (vgl. KV, 218), »Vperëd i nazad« (1918; dt.: »Vorwärts und rückwärts«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Vperëd i nazad. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Sti­ chotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 143–150, hier 144. Kürzel: VN), »Iva« (1923; dt.: »Die Weide«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Iva. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 4. Moskva 1980, 288–310, hier 291, 293 u. 304. Kürzel: IV) und »Čužaja vina« (1926; dt.: »Fremde Schuld«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Čužaja vina. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 468–477, hier 468. Kürzel: ČV). 66 Vgl. PS , 238. 67 Vgl. PS , 240. 68 PS , 237. Dt.: »unendliche Reichtümer«.

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unter anderem den Arzt Fergjuson,69 hat70 und dass Chart und Bljum zwielichtige Geschäfte als Menschenhändler für Bordelle respektive als Kasino­ betreiber machen.71 Obwohl nur im Falle Choggejs explizit auf sein enormes Vermögen hingewiesen wird, präsentiert der Erzähler die drei Männer als eine Gruppe,72 sodass auch bei den anderen beiden von einem zumindest relativ hohen sozialen Stand ausgegangen werden kann. Entscheidend ist allerdings ohnehin vor allem der Reichtum Choggejs, dessen Phantasie das Experiment mit Robert entspringt. Robert dagegen wird von seiner Mutter »в момент безвыходной нищеты«73 und zudem als Halbwaise geboren. Für das Sujet sind diese beiden diametral entgegengesetzten finanziellen Hintergründe – der Reichtum Choggejs und die verzweifelte Armut der Mutter Roberts – entscheidend, denn nur dadurch wird das Geschäft möglich, das die Grundlage für Choggejs Experiment bildet: Er kauft der Frau ihren Säugling für eine »крупную сумму денег«74 ab, mit dem falschen Versprechen, ihn zur Adoption an ein liebevolles, wohlhabendes Paar zu geben – und sperrt ihn in einen Raum ohne Fenster. Bei dieser ersten Form der alltäglichen Fremdheit Roberts (und seiner Mutter) handelt es sich also um eine soziologische Fremdheit im Sinne einer Nichtzugehörigkeit zur Gruppe der Reichen. Denn obwohl Robert durch den reichen Choggej aus dem Umfeld der Armut herausgenommen wird, er69 Figuren mit dem Namen Fergjuson finden sich auffällig oft zwischen 1927 und 1930 in Grins Werken. In der Erzählung »Ėlda i Angotėja« (1928; dt.: »Elda und Angoteja«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Ėlda i Angotėja. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 555–563. Kürzel: ĖA; siehe Kap. 4.4.2.3) tritt eine Person desselben, sogar verdoppelten Namens (Fergjus Fergjuson) als hilfloser, im Sterben liegender Mann auf. Eine Weiterentwicklung derselben Figur enthält Grins Entwurf zu einem unvollendeten Roman mit dem Titel »Fergjus Fergjuson« (dt.: »Fergus Ferguson«; vgl. Grin, Aleksandr S.: »Fergjus Fergjuson« = »Na tenevoj storone« = »Doroga nikuda« = »Oranžereja« = »Smel’čaki grëz«. Roman. Glavy I–V. Varianty. Plan. »Doroga nikuda«. Roman. Glavy X–XII . »Gostinaja trëch strelkov« = »Gostinaja Ėl’merstina« = »Gostinaja tret’ego petucha«. Roman. Glavy I–II . Varianty. [ok. 1927]. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 11. Rulon mikrofil’ma 1), an dem Grin ab 1927 arbeitet (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Okončanie. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 6, l. 62). Kein erkennbarer Zusammenhang besteht dagegen zwischen der geheimnisvollen Gestalt Fergjuson aus der Erzählung »Legenda o Fergjusone« (1927; dt.: »Die Legende von Ferguson«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Legenda o Fergjusone. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 487–491. Kürzel: LF), dem in einer kleinen Nebenrolle im Roman »Džessi i Morgiana« auftretenden Offizier dieses Namens (vgl. DM , 222 f.) sowie Ėlias Fergjuson, als der sich Galeran im Roman »Doroga nikuda« ausgibt (vgl. DN, 373 f.). 70 Vgl. PS , 237. 71 Vgl. PS , 238. 72 Vgl. PS , 238. 73 PS , 237. Dt.: »zu einem Zeitpunkt verzweifelter Armut«. 74 PS , 237. Dt.: »ansehnliche Summe Geld«.

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hält er trotzdem keinen Zugang zur Welt der Reichen – sogar im wörtlichen Sinne, denn er wächst räumlich isoliert in einem speziellen Zimmer im Haus ­Choggejs auf. Aus eben diesem Grund ist seine Fremdheit auch nicht nur passiv, d. h. von außen zugeschrieben, sondern auch monodirektional, weil Robert in seiner Abgeschnittenheit vom Rest der Welt nicht einmal das Konzept von Armut und Reichtum kennt, geschweige denn bei sich selbst oder anderen eine Nichtzugehörigkeit zu einer auf diesem Kriterium basierenden Gruppe feststellen kann. Die sozioökonomische Fremdheit Roberts bleibt während der gesamten Erzählung unverändert, es liegt also keine Dynamik vor. Die Wirkung dieser Fremdheit auf Choggej und seine Freunde besteht in der Versicherung ihrer Gruppenzusammengehörigkeit nicht nur durch die Exklusion Roberts, d. h. durch Ausgrenzung, sondern auch durch das Gefühl von Überlegenheit, das auf einer klaren und extremen Axiologie basiert: Das Nichtvorhandensein eines Geldvermögens wird gleichgesetzt mit der Wertlosigkeit der Person. Beides stellt ebenfalls einen Wegbereiter für das spätere grausame Experiment mit Robert dar. Darüber hinaus bildet der Reichtum auch noch die logische Grundlage dafür, dass dieses und andere ›Spiele‹ dieser Art überhaupt erst möglich, weil finanzierbar, sind. Die Verbindung zwischen Choggejs enormem Wohlstand und seinen grausamen Taten wird bereits im ersten Satz der Erzählung hergestellt: »Страшное употребление, какое дал своим бесчисленным богатствам Авель Хоггей, долго еще будет жить в памяти всех, кто знал этого человека без сердца.«75 Sein Geld verwendet er ganz konkret nicht nur für die Beschaffung von ›Versuchsobjekten‹ wie Robert (»Купи[л] человека«),76 sondern auch zur Vertuschung: »Не раз его злодейства […] грозили, сломав гроб купленного молчания, пасть на его голову, но золото вывозило […]«.77 Choggejs grausame Taten stehen in engem Zu75 PS , 237. Dt.: »Der schreckliche Gebrauch, den Avel’ Choggej von seinen unendlichen Reichtümern machte, wird noch lange in der Erinnerung aller weiterleben, die diesen Menschen ohne Herz kannten.«. 76 PS , 237. Dt.: »Er kaufte einen Menschen«. 77 PS , 237. Dt.: »Mehr als einmal drohten ihn […] seine Verbrechen, nachdem sie das Grab des erkauften Schweigens aufgebrochen hatten, einzuholen, aber das Gold schaffte sie aus der Welt.« Erst in der späten (1927), in zwei Fassungen vorhandenen Erzählung »Vstreči i zaključenija« (dt.: »Begegnungen und Abschlüsse«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Vstreči i zaključenija. In: Voronova, O.: Poėzija mečty i nravstvennych poiskov. In: Neva 8 (1960), 144–150, 149–150. [Abdruck im Rahmen des Artikels von Voronova; = Grin, Aleksandr: »Vstreči i zaključenija«. Rasskaz. [o. J.]. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 58]. Kürzel: VIa) bzw. »Vstreči i priključenija« (dt.: »Begegnungen und Abenteuer«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Vstreči i priključenija. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 6. Moskva 1980, 439–441. Kürzel: VIb) haben Choggejs Taten schließlich doch noch Konsequenzen. (Die Erzählung ist zwar in sich abgeschlossen, wird von Grin aber nie in eine druckfertige Fassung gebracht. Es existieren daher zwei posthum gedruckte Versionen.) Darin lässt der konkrete Autor Grin einen fiktiven Erzähler, der klar als sein literarisches Alter Ego

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sammenhang mit der zweiten in »Propavšee solnce« auftretenden Form alltäglicher Fremdheit, dem Ennui. Das Spiel als Ausdruck der Fremdheit und Versuch ihrer Überwindung Der Ennui im oben definierten Verständnis betrifft in Choggejs Fall eine emotionale Distanz zur Welt und anderen Menschen, die ihm so fremd sind, dass er ihnen gegenüber nichts als Gleichgültigkeit verspürt. Seine zugleich subjektiv empfundene Nichtzugehörigkeit zur Gesellschaft ermöglicht ihm die Nichtbeachtung sogar elementarer ethischer Normen des Zusammenlebens, sodass er in seinem Handeln auch vor der Würde, Gesundheit und dem Leben anderer Menschen keinen Halt macht. Wie die sozioökonomisch bedingte Fremdheit weist auch der Ennui im Verlauf der Erzählung keine Dynamik auf, sondern ist am Ende noch genauso stark wie zu Beginn. Daran ändert auch das Experiment an Robert nichts, das als Ausdruck des Ennui verstanden werden kann. Die Erwähnung eines »глухонемой негр, послушное животное в руках Хоггея«,78 dem also sogar – ob aus rassistischen Gründen oder nicht, bleibt unbeantwortet  – sein Menschsein abgesprochen wird, zeigt, dass Robert nicht der einzige ist, den Choggej als willkürlich zu behandelndes Eigentum betrachtet. An der Grausamkeit und Unmenschlichkeit Avel’ Choggejs lässt der Erzähler von Beginn an keinerlei Zweifel, wenn er ihn als »мистификатор и палач вместе«79 bezeichnet und betont, dass »[…] деяния Хоггея были безмерными, утонченными злодействами«.80 Anstelle der Opferrolle seines biblischen Namensvetters Abel (russ.: Avel’), der von seinem Bruder Kain erschlagen wird, nimmt Avel’ Choggej hier klar die Rolle des Täters ein.81 Seine Untaten sind jedoch nicht nur Ausdruck, sondern zugleich auch Re­aktion auf den Ennui, da sie in Übereinstimmung mit Pascal als Versuch

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›Autor Grin‹ identifizierbar ist, Begegnungen mit einer Reihe von fiktiven Figuren aus den realen Erzählungen des konkreten Autors Grin erleben, die aufgrund der beschriebenen Konstellation zugleich auch Erzählungen des fiktiven Erzählers Grin sind. In beiden bekannten Fassungen erfährt der fiktive Erzähler Grin, dass Choggej nicht mehr lebt, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Einmal führen Choggejs Grausamkeiten zu einem Duell mit dem ritterlichen Helden Grėj aus »Alye parusa«, in dessen Verlauf Choggej getötet wird (vgl. VIa, 149), in der zweiten Version wird Choggej für seine Untaten schließlich doch noch vor Gericht gebracht und erschießt sich deshalb. Beide Textfassungen stimmen darin überein, dass Choggej vor seinem Tod festlegt, dass sein Herz in einem Kristallgefäß aufbewahrt werden solle, das die Inschrift trägt: »›Оно не боялось ни зла, ни добра‹« (VIa, 149 u. VIb, 440. Dt.: »›Es fürchtete weder das Schlechte, noch das Gute‹«). PS , 238. Dt.: »taubstummen Negers [sic!], ein fügsames Tier in den Händen Choggejs«. PS , 237. Dt.: »Mystifikator und Henker in einem«. PS , 237. Dt.: »[…] die Taten Choggejs maßlose, raffinierte Verbrechen waren«. Auch die positiv konnotierten Namen der beiden anderen reichen Männer, Bljum (engl.: Bloom) und Chart (engl.: Heart) stimmen nicht mit ihren negativen Rollen in der Erzählung überein.

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­ hoggejs verstanden werden können, dem Gefühl der allumfassenden Lange­ C weile durch divertissement entgegenzuwirken. Das alltägliche Fremde in Form des Ennui wird als negativ empfunden, die Vergnügungen sind als Versuch zu werten, es aufzuheben (zu vernichten), d. h. als eine Art temporärer geistiger uchod. Dass die Untaten rein der Unterhaltung dienen, wird durch den Erzähler ebenfalls unmissverständlich klargestellt: »Хоггей не преследовал иных целей, кроме забавы«;82 zynisches Vergnügen bereiten ihm seine »запрещенн[ые] игр[ы]«,83 was konkret bedeutet: »играть с живыми людьми«.84 Choggej selbst bezeichnet Robert als »[и]грушка«.85 Der Reiz dieser ›Spiele‹ besteht in dem »скучный вопрос: ›Что выйдет, если я сделаю так?‹«86 Um den Reiz des unbekannten Ausgangs noch zu erhöhen, schließen die Männer in Roberts Fall Wetten darauf ab, wie er auf den Anblick der Sonne und später der Dunkelheit reagieren wird – über die Summe von einhundert Millionen, die, obwohl nicht bekannt ist, in welcher Währung, in jedem Fall absurd hoch erscheint. Die von ihnen abgegebenen Tipps lassen ihre zynische, menschenverachtende Haltung noch einmal ganz deutlich werden. Choggej wettet darauf, dass Robert den Wunsch äußern werde, in seinen Raum mit elektrischer Beleuchtung, also in sein Gefängnis, zurückgebracht zu werden; Bljum glaubt, dass der Junge bei Einbruch der Dunkelheit den Verstand verlieren wird;87 und Chart schließlich setzt sein Geld auf Roberts Tod.88 Empathie 82 83 84 85 86

PS , 237. Dt.: »Choggej verfolgte keine anderen Ziele, außer Vergnügen«. PS , 238. Dt.: »verbotenen Spiele«. PS , 237. Dt.: »mit lebendigen Menschen zu spielen«. PS , 240. Dt.: »Spielzeug«. PS , 240. Dt.: »geistlosen Frage: ›Was kommt heraus, wenn ich es so mache?‹« Vgl. zu dieser

Motivation für das eigene Handeln auch Kambon aus »Ochota na chuligana«, der zwei Personen ›einfach nur‹ »для пробы нового ножа« (OC , 298. Dt.: »zum Ausprobieren des neuen Messers«) niedersticht. 87 Eine Figur namens Bljum tritt bereits gut zehn Jahre vor »Propavšee solnce« in Grins Erzählung »Tragedija ploskogor’ja Suan« (1912; dt.: »Die Tragödie der Hochebene Suan«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Tragedija ploskogor’ja Suan. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 566–601. Kürzel: TS) auf. Der Auftragsmörder, den Kovskij als »самый отвратительный гриновский персонаж« (Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 58. Dt.: »die abscheulichste Grin’sche Figur«), Vichrov als »[м]оральный урод« (Vichrov: Rycar’ mečty, 90. Dt.: »moralisches Scheusal«) und Varlamov als »олицетворение всего скотского, что есть в человеке« (Varlamov: Aleksandr Grin, 88. Dt.: »Verkörperung alles Bestialischen im Menschen«) beschreibt, versteht seine Mission folgendermaßen: Alle Menschen zu töten, die von Geburt an fröhlich sind oder eine Leidenschaft für etwas besitzen (vgl. TS , 585). Bljum aus »Tragedija ploskogor’ja Suan« wird am Ende der Erzählung erschossen (vgl. TS , 600) – und scheint doch in Gestalt von Bljum aus »Propavšee solnce«, der auf den Wahnsinn eines seit vierzehn Jahren eingesperrten Jungen Geld setzt, wieder auferstanden zu sein. 88 Vgl. PS , 238.

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ist den Männern ebenso fremd wie Moral, die Folgen des eigenen Handelns sind ihnen vollkommen gleichgültig. Gerade in diesen Wetten liegt auch der Grund, warum Choggej, »неистощимый на выдумку«,89 sich immer neue Experimente mit neuen Opfern ausdenken muss, denn sobald die Frage beantwortet ist, nimmt unmittelbar die Langeweile wieder überhand. In Übereinstimmung mit diesem endlosen Kreislauf aus Ennui und aus dem Ennui resultierenden ›Spielen‹ haben sich Ablenkung und Langeweile zusammen in ihre Gesichter eingebrannt: Bei den drei Reichen handelt es sich um Männer »[…] с лицами, бесстрастно эмалированными развратом и скукой.«90 Der nur sehr flüchtige Ablenkungseffekt zeigt sich auch in Roberts Fall: Haben Choggej und sein Gehilfe den Jungen zu Beginn noch höchst aufmerksam, wie Wissenschaftler ein Objekt, studiert,91 so schwindet das Interesse sofort, als klar wird, dass die erhoffte extreme Reaktion Roberts nicht eintritt. Choggej stellt enttäuscht fest: »›[…] Игрушка довольно пресная; не все выходит так интересно, как думаешь‹«92 und lässt den Jungen, ohne ihn weiter zu beachten, über Nacht im Garten zurück. Die Absurdität des ganzen Unternehmens wird also auch anhand des Faktors Zeit deutlich, denn der kurze Moment der Ablenkung, die Choggej sich durch den Anblick von Roberts Schock verschafft, steht in keinerlei Verhältnis zu der vierzehnjährigen Vorbereitung des Experiments. Am nächsten Morgen resümiert Choggej: »[…] ›я вижу, что затея не удалась […]‹«93 und gibt seinem Assistenten Fergjuson einen mehrdeutigen Befehl: »›Выгнать его […]. […] Фергюсон, ликвидируйте этот материал. И уберите остатки прочь.‹«94 Oryshchuk bezieht in ihrer Deutung des Textes die Anweisung zur Liquidierung aufgrund des Befehls »Выгнать его« nicht auf Robert, der lediglich verjagt wird, sondern auf sein speziell präpariertes Zimmer.95 Allerdings weist das Demonstrativpronomen ėtot (dt.: dieser) darauf hin, dass sich das zu vernichtende ›Material‹ in unmittelbarer Umgebung des Sprechers befindet, sodass damit Robert gemeint ist. Eine Bestätigung dieser zweiten Lesart bietet die ebenfalls von einem Spiel mit Menschen handelnde und aus demselben Jahr wie »Propavšee solnce« stammende Erzählung »Serdce pustyni«, in der 89 PS , 237. Dt.: »mit unerschöpflicher Fantasie«. 90 PS , 238. Dt.: »[…] mit leidenschaftslos von Ausschweifung und Langeweile emaillierten Gesichtern«. 91 Vgl. PS , 239. 92 PS , 240. Dt.: »›[…] Das Spielzeug ist ziemlich reizlos; nicht alles entwickelt sich so inte­ ressant, wie man denkt.‹«. 93 PS , 241. Dt.: »[…] ›ich sehe, dass das Vorhaben nicht gelungen ist […]‹«. 94 PS , 241. Dt.: »›Ihn wegjagen […]. […] Fergjuson, liquidieren Sie dieses Material. Und räumen Sie die Überreste weg.‹«. 95 Vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 184.

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das Wort ›Material‹ eindeutig auf die Versuchsperson bezogen ist. Darin sagt der für das ›Experiment‹ Hauptverantwortliche zu seinen Begleitern: »›Вот […] богатый материал для игры. Попробуем этого человека.‹«96 und gibt ihnen kurz darauf die Anweisung: »›[…] От вас требуется лишь говорить ›да‹ на всякий всякий вопросительный взгляд со стороны материала.‹«97 Aus den genannten Gründen ist Choggejs Aussage also als Auftrag zu verstehen, Robert zu ermorden. Mit diesen Worten, in dem die menschenverachtende Gleichgültigkeit Choggejs ihren Höhepunkt erreicht, endet die Erzählung. Scheitern des Versuchs: Parallele Fremdheiten – gegensätzliche Auswirkungen Von besonderem Interesse an dem von Choggej gewählten ›Versuchsaufbau‹ ist, dass er sein Opfer Robert in eine Situation bringt, die die seine in veränderter Form widerspiegelt – und somit in gewisser Weise aufhebt. Wie erwähnt, empfindet Choggej infolge seines Ennui die Welt im Allgemeinen als fremd, was sich unter anderem in seiner völligen Indifferenz anderen gegenüber und seinem ethischen Nihilismus äußert. Indem er Robert von frühester Kindheit an in einem fensterlosen Raum einsperrt, sorgt er dafür, dass auch dem Jungen die Welt fremd ist – und zwar sogar in einer gesteigerten Form, die nicht mehr als alltägliche, sondern bereits als strukturelle Fremdheit einzuordnen ist. Die Welt ist ihm epistemisch und praktisch vollkommen unvertraut, da ihm alles außerhalb seines Gefängnisses gänzlich unbekannt ist. Die Unvertrautheit erstreckt sich sogar auf das Wissen über grundlegende Naturgesetze wie den Wechsel zwischen Tag und Nacht durch Sonnenaufgang und -untergang. Roberts Situation erinnert an Platons Höhlengleichnis, in dem die Menschen in der Höhle anstelle der hinter ihnen vorbeigehenden Menschen nur deren Schatten an der Höhlenwand sehen, sich dieses Umstands jedoch anfangs nicht bewusst sind. Sie setzen ihre Sinneswahrnehmungen mit der gesamten Realität gleich und halten sie für das einzig Wahre.98 Auch Robert glaubt, dass die Welt in ihrer Gesamtheit genau so ist, wie er sie von Beginn seines Lebens an kennt. Er nimmt also das Eigene, Bekannte unhinterfragt nicht nur als normal, sondern sogar als universell gültig an. Dafür, dass keine Zweifel an dieser Überzeugung aufkommen, lässt Choggej bewusst durch seine Angestellten sorgen: »Слуги и учитель Роберта должны были на все его вопросы отвечать, что его жизнь – именно такова, какой живут 96 SP, 266. Dt.: »[…] ›hier gibt es reiches Material für ein Spiel. Probieren wir es mit diesem Mann.‹« (Grin, Alexander: Herz der Wildnis. Übersetzt von Brigitta Schröder. In: Ders.: Der Rattenfänger. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1984, 118–127, hier 120. Kürzel: SPd). 97 SP, 266; Hervorhebung im Original. Dt.: »›[…] ihr braucht auf jeden fragenden Blick des Materials nur ja zu sagen.‹« (SPd, 121; Hervorhebung im Original). 98 Vgl. Platon: Der Staat. Eingeleitet von Ulrike Kleemeier. 11., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2011, 238–241.

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все другие люди.«99 Speziell im Hinblick auf Roberts Unwissenheit über die Existenz einer Sonne trifft Choggej ebenfalls Vorkehrungsmaßnahmen, um jegliche Ahnung Roberts, dass es etwas anderes als elektrisches Licht geben könnte, von vornherein zu unterbinden: »Специально для него были заказаны и отпечатаны книги того рода, из каких обычно познает человек жизнь и мир, с той лишь разницей, что в них совершенно не упоминалось о солнце.«100 Dieser Zustand dauert vierzehn Jahre lang an.101 Als Robert schließlich im Zuge der Wette zum ersten Mal die ›Höhle‹ seines Zimmers verlässt und die Sonne erblickt – und von ihr ebenso geblendet und verwirrt wird wie der von seinen Fesseln befreite Gefangene in Platons Höhlengleichnis zunächst beim Anblick des Feuers, dann der Sonne –,102 brechen mit einem Mal sämtliche bisher vorhandene Überzeugungen über die Beschaffenheit der Welt in sich zusammen. Der Effekt ist überwältigend: »Вся жизнь всколыхнулась в нем, зазвучав вихрем, и догадка, что до сих пор от него было отнято все, в первый раз громовым ядом схватила его, стукнувшись по шее и виску, сердце.«103 Entscheidend für den Schock, den Robert bei der Konfrontation mit dem Raum außerhalb seines Zimmers erleidet, ist, dass die Fremdheit der Welt erst in diesem Moment und vollkommen unerwartet, gleichsam aus dem Nichts – oder vielmehr dem bis dahin für ihn nicht Existierenden – entsteht. Denn solange der Junge sich gar nicht darüber bewusst ist, dass sich seine Welt von der Welt jenseits seines Zimmers unterscheidet – wofür Choggej mit Absicht sorgen lässt –, kommt es zu keiner Fremdsetzung, somit liegt auch keine Alienität vor (mit Simmel gesprochen: Die Welt außerhalb seines Zimmers ist für Robert bis zu diesem Moment gleichsam wie der Planet Sirius.).104 In dem Moment jedoch, in dem ihm die Augenbinde abgenommen wird, erkennt er 99 PS , 237. Dt.: »Die Dienerschaft und Roberts Lehrer mussten auf all seine Fragen antworten, dass sein Leben ein eben solches ist, wie es alle anderen Menschen leben.«. 100 PS , 237; Hervorhebung im Original. Dt.: »Speziell für ihn wurden Bücher von der Art bestellt und gedruckt, aus denen der Mensch für gewöhnlich etwas über das Leben und die Welt erfährt, nur mit dem Unterschied, dass in ihnen die Sonne absolut nicht erwähnt wurde.«. 101 Diese Zahl erklärt, warum Chart Robert als »Монте-Кристо« (PS , 238. Dt.: »Monte Christo«) bezeichnet: Dantès, der Protagonist des Romans »Le Comte de Monte-Cristo« (1844–1846) von Alexandre Dumas, verbringt nach einem Komplott gegen ihn ebenfalls vierzehn Jahre in Kerkerhaft (vgl. Dumas, Alexandre: Le Comte de Monte-Cristo. Vol. 1. Paris 1889, 298). 102 Vgl. Platon: Der Staat, 239 f. 103 PS , 239; Hervorhebung im Original. Dt.: »Das ganze Leben geriet in ihm in Bewegung, nachdem es wie ein Wirbelsturm ertönt war, und die Vermutung, dass er bisher allem beraubt worden war, erfasste erstmals als donnerndes Gift sein bis in den Hals und die Schläfen pochendes Herz.«. 104 Vgl. Simmel: Gesamtausgabe. Soziologie, 765.

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nicht nur, dass ihm die Welt fremd (unvertraut), sondern auch, dass er selbst in dieser Welt fremd (nicht zugehörig) ist. Die Wirkung dieses doppelten Fremdheitsgefühls ist hochgradig bedrohlich. Robert erleidet einen Anfall und verliert das Bewusstsein105 – wodurch auch das soeben erlangte Bewusstsein des plötzlichen Fremdseins in einer fremden Welt verschwindet. Die Ohnmacht kann hier als ein Selbstschutzmechanismus der Psyche verstanden werden. Die Erholung währt jedoch nur kurz, denn die Erinnerung kehrt, gleichsam personifiziert und als eigenständige Entität, fast unmittelbar nach dem Erwachen zurück: »›Я спал или был болен‹, – но память не изменила ему; сев рядом, она ласково рассказала о грустном и жестоком восторге.«106 Das Gefühl der Bedrohung angesichts einer vollkommen fremden Welt nimmt unmittelbar darauf noch einmal an Intensität zu, denn Roberts Erwachen wird von dem Arzt Fergjuson gezielt in dem Moment herbeigeführt, als die Sonne untergeht,107 um ihm einen zweiten Schock zu verpassen. Die Dunkelheit ist Robert aufgrund der pausenlosen elektrischen Beleuchtung in seinem Zimmer ebenso fremd (unbekannt) wie die Sonne, was in Kombination mit dem generell mit Nacht und Dunkelheit assoziierten Moment der Bedrohung (s. dazu ausführlicher Kap. 4.2.3.3) extreme Angst hervorruft: »[…] в напряжении его, в волнении, в безумной остроте чувств все перешло в страх.«108 Zusätzlich verstärkt wird Roberts Angst durch einen weiteren Trick Choggejs. Zu Beginn des Experiments erklärt er dem Jungen: […] сейчас ты увидишь солнце […]. Сегодня последний день, как оно светит. Это утверждает наука. Тебе не говорили о солнце потому, что оно не было до сих пор в опасности, но так как сегодня последний день его света, жестоко было бы лишать тебя этого зрелища.109

In einer perfiden Verdrehung der Tatsachen – denn noch grausamer, als ihn in seinem bekannten Leben zu belassen, in welchem er die Sonne nicht kennt und somit auch nicht vermissen kann, ist es, sie ihm einmalig zu zeigen, bevor sie für immer verschwindet  – nimmt Choggej Robert die Hoffnung, 105 Vgl. PS , 239. 106 PS , 240. Dt.: »›Ich habe geschlafen oder war krank‹, – aber die Erinnerung betrog ihn nicht; nachdem sie sich daneben hingesetzt hatte, erzählte sie liebevoll von der traurigen und grausamen Ekstase.«. 107 Vgl. PS , 240. 108 PS , 240. Dt.: »[…] in seiner Anspannung, in der Unruhe, in der wahnsinnigen Schärfe der Gefühle ging alles in Angst über.«. 109 PS , 239. Dt.: […] jetzt wirst du die Sonne sehen […]. Heute ist der letzte Tag, an dem sie scheint. Das bestätigt die Wissenschaft. Man hat dir nichts von der Sonne erzählt, weil sie bisher nicht in Gefahr war, aber da heute der letzte Tag ihres Lichts ist, wäre es grausam, dich um diesen Anblick zu bringen.«.

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dass die Dunkelheit ihrerseits wieder von der ebenfalls unbekannten, durch ihr Licht aber weniger fremden und damit weniger bedrohlichen Sonne abgelöst wird. Ihr Verschwinden am Horizont bedeutet für Robert somit, dass sie »умер[ло], – навсегда! навсегда! навсегда!«110 In seiner Panik sucht der Junge nach anderen Menschen, »так как думал, что наступит невыразимо страшное.«111 Die Unmöglichkeit, die Ereignisse mit Worten zu fassen, entspricht dabei ihrer völligen epistemologischen Fremdheit aus Roberts Per­ spektive. Seine Suche ist jedoch vergeblich, denn die drei Männer, die bereits weitgehend das Interesse an ihrem ›Versuchsobjekt‹ verloren haben, haben sich alle ins Haus zurückgezogen; und selbst wenn Robert sie gefunden hätte, hätte er kaum auf ihren Beistand zählen können, schließlich wurde er von ihnen gezielt zu Unterhaltungszwecken in diese Situation gebracht. Angesichts der moralisch verdorbenen Menschen in seinem Umfeld findet der Junge stattdessen Hilfe von anderer Seite. Obwohl auch die Natur ein Element der Welt außerhalb seines Zimmers darstellt, mit dem er zum ersten Mal konfrontiert wird, spürt er nicht nur instinktiv, dass von ihr keine Gefahr ausgeht, sondern erkennt zudem dank ihr, dass der Untergang der Sonne nichts Beunruhigendes an sich hat. Denn die Geräusche des nächtlichen Gartens verbinden sich »в ощущение спокойного, непобедимого рокота, летящего от земли к небу. Мальчику казалось, что он стоит на живом, теплом теле, заснувшем в некой твердой уверенности, недоступной никакому отчаянию.«112 Aus der Ruhe der anderen Lebewesen, denen die Dunkelheit offenbar keineswegs fremd ist, schließt Robert, dass er in Bezug auf das dauerhafte Verschwinden der Sonne belogen wurde.113 Die Bewegung der am Morgen wiederkehrenden Sonne wird dabei vom Klang der Natur, der sich von der Erde in den Himmel erhebt, präfiguriert. Roberts Ahnung erfüllt sich: Das letzte Kapitel der Erzählung spielt im Moment des Sonnenaufgangs. Damit ist Choggejs Plan, sein eigenes Fremdheitsempfinden gegenüber der Welt durch Erzeugung einer analogen Situation für Robert vorübergehend aufzuheben, sogar in doppelter Hinsicht gescheitert. Zum einen verliert Choggej sogar bereits das Interesse an seinem Experiment, während es noch läuft; 110 PS , 240. Dt.: »gestorben ist, – für immer! für immer! für immer!«. 111 PS , 240; Hervorhebung von A. B. Dt.: »da er dachte, dass etwas unbeschreiblich Schreckliches hereinbrechen würde.«. 112 PS , 240 f.; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »in der Empfindung eines ruhigen, unbezwingbaren Brummens, das von der Erde in den Himmel flog. Dem Jungen schien es, dass er auf einem lebendigen, warmen Körper stand, der in einer gewissen festen Zuversicht eingeschlafen war, die für jegliche Verzweiflung unzugänglich war.«. 113 Vgl. PS , 241. Jurij Oleša äußert sich begeistert über »Propavšee solnce« wegen Roberts Optimismus und seines Urvertrauens darauf, dass die Sonne zurückkommen wird; er gibt in seiner Darstellung den Inhalt der Erzählung allerdings nicht ganz richtig wieder (vgl. Oleša: Pisatel’-unik, 315).

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der gewöhnliche Zustand, in dem ihm die Welt fremd und gleichgültig ist, von dem es ihn ablenken sollte, tritt also noch früher als erwartet wieder ein. Die Dynamik der Alienität ist in Choggejs Fall also als gleichbleibend intensiv mit Ausnahme einer kurzen Verringerung zu Beginn des Versuchs mit Robert zu beschreiben. Zum anderen – und im Gegensatz dazu – verliert die künstlich hergestellte völlige Fremdheit der (Außen-)Welt für Robert verblüffend schnell diese Eigenschaft und damit auch ihren bedrohlichen Effekt. Denn die Konfrontation mit der fremden Welt führt zu einer Verhandlung der Definitionen von Eigenem (Normalem) und Fremdem (Unbekanntem, Ungewöhnlichem), in deren Verlauf Robert das bis dahin Fremde als Normalität erkennt und akzeptiert. Mit dieser Aneignung durch Robert geht eine stark abnehmende Dynamik der Fremdheit einher, die zu Beginn des Experiments, d. h. bei Roberts erstmaliger Konfrontation mit der fremden Welt, ebenso plötzlich wie intensiv aufgetreten war. Aus diesem Grund tritt auch keine der im Zuge der Wetten vorausgesagten Reaktionen Roberts ein – freiwillige Rückkehr in das fensterlose Gefängnis, Wahnsinn oder Tod. Das menschenverachtende Experiment findet somit eigentlich einen positiven Ausgang für Robert, weil es seine Befreiung aus dem räumlichen wie auch mentalen Gefängnis bedeutet, das Choggej für ihn geschaffen hatte, während es zugleich die für Choggej bestehende Ausweglosigkeit aus dem Zustand des Ennui verdeutlicht. Dennoch endet die Erzählung höchst pessimistisch, denn der wahrscheinlichsten Deutung nach lässt Choggej Robert am Morgen nach dem gescheiterten Versuch von seinem Gehilfen ›vernichten‹. Damit gehen aus dem ›Spiel‹ nur Verlierer hervor. Die weit positivere Erzählung »Zelënaja lampa« bildet in dieser Hinsicht gewissermaßen das Gegenstück zu »Propavšee solnce«, denn trotz des gemein­ samen Themas – auch hier versucht ein reicher Mann, seinen Ennui zu bekämpfen, indem er ein ausgewähltes Opfer in eine ähnliche Situation wie die seine bringt – gewinnen am Ende beide Seiten. 4.1.2.2

Ennui mit unverhofftem Ende: »Zelënaja lampa«

Die späte Erzählung »Zelënaja lampa« von 1930114 spielt in der Metropole London, was aus der Perspektive des unterstellten russisch(sprachig)en Adres­ saten ein gemäßigtes strukturell Fremdes darstellt.115 Die strukturelle Fremdheit in Bezug auf den Chronotopos des unterstellten Adressaten beschränkt sich dabei im Wesentlichen auf die Namen der Figuren und Toponyme 114 Die Erzählung erscheint erstmals 1930 in Nr. 11 von Krasnaja niva (vgl. Revjakina / Pervova: Primečanija, 718). 115 Anders als z. B. in »Serdce pustyni«, dessen Schauplatz im afrikanischen Dschungel, d. h. im Kontext einer exotischen Ausprägung des strukturell Fremden, angesiedelt ist.

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wie »Пикадилли«,116 »Дрюриленск[ий] театр[…]«,117 »Гайстрит«118 oder »Сити«.119 Das Werk ist im Stil des Realismus geschrieben: Als Schauplatz wählt Grin das London der 1920er Jahre, bei den Figuren handelt es sich um gewöhnliche Menschen und die dargestellten Ereignisse sind logisch erklärbar und gänzlich irdischer Natur. Möglicherweise lässt sich durch die Tatsache, dass die Erzählung damit nicht in das Schema der ›romantischen‹ Werke Grins passt, erklären, dass die Erzählung in der Sekundärliteratur, sofern sie überhaupt Erwähnung findet, meist in wenigen Sätzen abgehandelt wird. In diesem realistisch-gewöhnlichen Kontext wird von Grin in »Zelënaja lampa« das Motiv der alltäglichen Fremdheit in Szene gesetzt. Wie in »Propavšee solnce« basiert die Handlung auf dem grausamen Spiel eines vom Leben gelangweilten, reichen Mannes mit einem und auf Kosten eines fremden Menschen. Dieser Fremde besitzt in »Zelënaja lampa« allerdings nicht nur die Fähigkeit, die Situation zum Positiven zu wenden, sondern es gelingt ihm, anders als Robert aus »Propavšee solnce«, auch, sie dauerhaft zu seinem eigenen Nutzen zu gestalten. Am Ende stehen der Fall des Reichen und der gesellschaftliche Aufstieg des Armen. Die nur wenige Seiten umfassende Kurzgeschichte, deren Inhalt sich in diesen wenigen Worten zusammenfassen lässt, enthält dabei zahlreiche und komplexe innere Verbindungen in Form von strukturellen und inhaltlichen Äquivalenzen und Oppositionen, lexikalischen Wiederholungen sowie raumzeitlichen (chronotopischen) Strukturen, welche die Logik der auf mehreren Formen alltäglicher Fremdheit basierenden Handlung formal stützen. Dies soll im Folgenden herausgearbeitet werden. »Zelënaja lampa« besteht aus zwei Kapiteln, die jeweils die Schilderung einer Begegnung zwischen den Hauptpersonen Stil’ton und Iv im London der Jahre 1920 und 1928 sowie eine Reihe von durch den Erzähler vermittelten Hintergrundinformationen enthalten. In Bezug auf das Fremde liegt in dieser Erzählung die spezielle Situation eines doppelten deiktischen Zentrums vor, von dem aus das Fremde als solches bestimmt wird. Dies ist zum Ersten durch die symmetrische Konstellation der beiden Protagonisten bedingt, die einander fremd sind. Zum Zweiten werden die Ereignisse von einem namenlosen, nichtdiegetischen Erzähler aus narratorialer Perspektive geschildert, sodass durch die Narration keine der beiden Figuren als vorrangiges oder gar alleiniges deiktisches Zentrum hervortritt. Drittens ist die Verteilung der aktiven und passiven Rollen ausgeglichen, da im ersten Kapitel Stil’ton der aktiv Agierende ist, dem auch der überwiegende Redeanteil zukommt, während Iv vor allem reagiert und zuhört; im zweiten Kapitel ist dies genau umgekehrt. 116 117 118 119

ZL , 593; engl.: »Piccadilly«. ZL , 593; engl.: »Theatre Royal Drury Lane«. ZL , 593; engl.: »High Street«. ZL , 594; engl.: »City«.

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Sozioökonomische Fremdheit als Voraussetzung für ein grausames Spiel II Wie in »Propavšee solnce« bildet der unterschiedliche soziale Status der beiden Hauptpersonen den Ausgangspunkt der Handlung. Iv und Stil’ton werden diesbezüglich bereits in den ersten Zeilen der Erzählung als diametral entgegengesetzte Figuren konstruiert. Stil’ton kommt mit seinem Begleiter Rejmer an einem Winterabend aus einem teuren Restaurant und sieht einen armen Mann, Džon120 Iv, reglos in der Kälte auf der Straße liegen. Der schon durch diese Umstände der ersten Begegnung hergestellte Kontrast zwischen den beiden Hauptfiguren hinsichtlich ihres sozialen Standes wird zusätzlich verstärkt durch die repetitiv-kontrastive Beschreibung Stil’tons als »хорошо одеты[й]«,121 sowie, im übernächsten Satz, Ivs als »плохо одеты[й]«.122 In einem anschließend eingeschobenen Rückblick des Erzählers erfährt der abstrakte Leser, dass Iv als Waisenkind bei einem irischen Waldarbeiter aufwächst. Der Verweis auf Irland, das jahrhundertelang als ›Armenhaus Europas‹ gilt, verstärkt die sozioökonomische Situierung Ivs; als Waise hat Iv zudem den klassischen biographischen Hintergrund des armen und oftmals benachteiligten (Märchen-)Helden. Nach einer Phase als Gelegenheitsarbeiter kommt Iv schließlich nach London, um dort sein Glück zu suchen, findet aber keine Arbeit und landet schließlich, obdachlos und hungrig, auf der Straße.123 Stil’ton dagegen besitzt ein Vermögen von 20 Millionen Pfund sowie mehrere Immobilien und ist damit – erneut im klaren Gegensatz zu Iv, dem gerade diese Sorgen nur allzu bekannt sind – ein »человек, не знающий забот о ночлеге и 120 Der englische Name Džon (John) findet sich häufiger in Grins Werk, z. B. als Džon Grėj, Vorfahre von Artur Grėj aus »Alye parusa« (vgl. AL , 25), Džon Djurok aus »Zolotaja cep’« (vgl. ZC , passim), Džon Mastakar, Vertreter aus »Legenda o Fergjusone« (vgl. LF, 487, 488 u. 490), Džon Terner, Alter Ego von Avgust Ėsborn aus »Brak Avgusta Ėsborna« (dt.: »Die Ehe des August Esborne«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Brak Avgusta Ėsborna. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 453–458, hier 457 f. Kürzel: BA) oder Džon Trengan, verstorbener Vater von Džessi und Morgiana aus dem gleichnamigen Roman (vgl. DM , 191). 121 ZL , 593. Dt.: »gut gekleidet«. 122 ZL , 593. Dt.: »schlecht gekleidet«. 123 Hinsichtlich der Biographie Ivs weist die Erzählung deutliche Parallelen zu Charles Dickens’ Roman »Oliver Twist« (1838) auf, dessen Titelheld ebenfalls ein Waisenjunge ist, der aus der Provinz nach London kommt und dort von einem Mann von der Straße geholt wird, der ihn und andere Straßenkinder für seine eigenen Zwecke missbraucht – in diesem Fall von dem Hehler Fagin, der die Kinder für sich stehlen lässt (vgl. z. B. Dickens, Charles: The Adventures of Oliver Twist. London 1903, 59–61). Die Parallele ist wohl nicht zufällig – Dickens zählt zu Grins ausländischen Lieblingsschriftstellern (vgl. Kalickaja: Iz vospominanij, 170; Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 401). Nina Grin berichtet, Aleksandr Grin habe alle Werke Dickens’ gelesen (vgl. Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 77). Darüber hinaus erinnert der elende Zustand Ivs auch an Grins autobiographische Erfahrungen als Jugendlicher in Odessa und Baku (s. Kap. 2.1).

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пище«.124 Bei der zwischen Iv und Stil’ton bestehenden alltäglichen Fremdheit handelt es sich somit, wie bei Choggej und Robert aus »Propavšee solnce«, um eine über die allgemeine Anonymität des Anderen hinausgehende Fremdheit im Sinne einer Nichtzugehörigkeit, bedingt durch ihre extreme sozioökonomische Distanz. Zwischen den Lebenswelten der beiden Männer gibt es, obwohl sie sich in derselben Stadt befinden, keinerlei Berührungspunkte – abgesehen von einem zufälligen Kreuzen ihrer Wege an dem Abend der ersten Begegnung, mit dem die Erzählung beginnt. Obwohl der die Alienität bedingende jeweilige soziale Stand der Hauptpersonen durch den Erzähler klar kontrastiv beschrieben wird, liegt hier eine implizite Fremdheit vor, wenn Fremdheit, wie im Theoriekapitel festgelegt, als »die Definition einer Beziehung«125 verstanden wird. Denn nicht nur erfolgt keine ausdrückliche Bestimmung des Verhältnisses zwischen den beiden Hauptpersonen als ›fremd‹, auch wird dieses Verhältnis selbst lediglich indirekt hergestellt, denn die Beschreibungen der Armut bzw. des Reichtums durch den Erzähler erfolgen separat voneinander. Die Beziehung der Männer resultiert lediglich aus einem inhärenten logischen Zusammenhang – der Besetzung zweier gegensätzlicher Positionen –, nicht aber aus einem expliziten Vergleich. Die implizite Darstellung im Text entspricht damit dem üblichen Umgang mit alltäglicher Fremdheit, die zwar unterschwellig empfunden, wegen ihrer Gewöhnlichkeit und ihres geringen Störpotentials aber oftmals nicht thematisiert oder auch nur reflektiert wird. Aufgrund der symmetrischen Konstellation ist die sozioökonomisch bedingte Fremdheit hier bidirektional und zudem passiv: Iv ist Stil’ton fremd, Stil’ton Iv, die Fremdheit wird jeweils dem anderen zugeschrieben. Allerdings besteht ein Ungleichgewicht auf Seiten von Iv, weil seine Fremdheit nicht nur auf sein Verhältnis zu Stil’ton beschränkt ist, sondern er als Obdachloser generell die Position eines Außenseiters einnimmt. Die Erzählung spiegelt dies in der Personenkonstellation der ersten Begegnung wider: Iv liegt alleine auf der Straße, Stil’ton ist dagegen nicht nur in Begleitung von Rejmer unterwegs, sondern schließt sich der um Iv versammelten Menschenmenge an. Gemeinsam symbolisieren sie die Gesellschaft, zu der Iv nicht dazugehört. Die sozioökonomisch bedingte alltägliche Fremdheit zwischen den beiden Hauptpersonen bildet allerdings, wie in »Propavšee solnce«, nur den Hintergrund für eine zweite Erscheinungsform von Alienität, auf der die eigentliche Handlung von »Zelënaja lampa« basiert: Stil’tons Ennui.

124 ZL , 594. Dt.: »Mensch, der keine Sorgen um ein Nachtquartier oder Nahrung kennt.«. 125 Hahn: Die soziale Konstruktion, 140.

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Das Spiel als Versuch der Überwindung der eigenen Fremdheit durch Herstellung einer Parallele Auch bei Stil’tons Ennui handelt es sich, wie bei Choggej, um eine zweifache Fremdheit: Dem reichen Mann wird sein eigenes Leben, sein tagtägliches Sein und Handeln, fremd und gleichgültig; gleichzeitig empfindet er angesichts dieser Sinnlosigkeit seine eigene Fremdheit in der Welt. Diese doppelte Alienität wird, wie in »Propavšee solnce«, nicht explizit als solche benannt und darüber hinaus auch nicht begründet. Wie unten noch ausführlicher gezeigt wird, lässt sich aber als direkte Ursache für den Ennui Stil’tons Reichtum identifizieren – ein Zusammenhang, der in »Propavšee solnce« ebenfalls vorhanden ist, aber weniger deutlich ausgeführt wird. Durch diese kausale Verbindung weist »Zelënaja lampa« eine frappierende Parallele zu den Beobachtungen Nikolaj Karamzins über London in seinen »Pis’ma russkogo putešestvennika« (1791–1792) auf, die Grins – ebenfalls in London spielende – Erzählung wie eine Ausschmückung derselben erscheinen lässt. In einem Brief aus London aus dem September 1790 schreibt Karamzin: Кто думает, что щастье [sic!] состоит в богатстве и в избытке вещей, тому надобно показать многих здешних Крезов, осыпанных средствами наслаждаться, теряющих вкус ко всем наслаждениям и задолго до смерти умирающих душею. Вот Английский сплин! Эту нравственную болезнь можно назвать и Руским [sic!] именем: скукою […].126

Ein wesentliches Element dieses ›englischen Spleens‹ und der melancholischen Stimmung der ›elisabethanischen Krankheit‹ ist gerade der Ennui.127 Dem Ennui Stil’tons steht der trotz aller Widrigkeiten ungebrochene Lebenswille Ivs gegenüber, woraus sich eine zweite Opposition zwischen den Hauptpersonen ergibt. Anders als die sozioökonomisch bedingte erste Form der Fremdheit zwischen Stil’ton und Iv beruht diese nicht auf Nichtzugehörigkeit, sondern auf Unvertrautheit: Das Denken und Handeln des jeweils anderen sind ihnen unbegreiflich. Gerade dies beeinflusst, wie noch zu zeigen sein wird, die weitere Entwicklung der Handlung entscheidend. Stil’tons Fremdsein (in) der Welt findet seinen Ausdruck in einem Zustand des Überdrusses und in seinem nihilistischen Zynismus gegenüber anderen Menschen und deren Leben – hier gegenüber Iv. Nachdem er den Obdachlosen 126 Karamzin, Nikolaj M.: Pis’ma russkogo putešestvennika. Leningrad 1984, 383; Hervorhebung im Original. Dt.: »Wer glaubt, daß das Glück in Reichtum und Überfluß besteht, der muß die hiesigen Nabobs sehen, wie sie, umgeben von allen Mitteln zum Genuß, den Geschmack an allem verlieren und lange vor ihrem Tode sterben. Dies ist der englische Spleen, eine moralische Krankheit, die anderswo unter dem Namen Langeweile […] bekannt ist.« (Karamsin, N. M.: Briefe eines russischen Reisenden. Aus dem Russischen übersetzt von Johann Richter. Berlin 1977, 663; Hervorhebung von A. B.). 127 Vgl. Daemmrich / Daemmrich: Ennui, 132.

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von der Straße aufgelesen hat, macht er ihm ein sonderbares Angebot: Um ein Zimmer und zehn Pfund pro Monat zu erhalten, müsse Iv nichts weiter tun, als jeden Abend von fünf bis zwölf Uhr eine grüne Lampe128 gut sichtbar ans Fenster zu stellen und in dieser Zeit allein zu Hause zu bleiben. Wie schon in »Propavšee solnce« ist Ausgangselement des grausamen Versuchs also eine elektrische Beleuchtung. Eines Tages, so Stil’ton, werde jemand kommen und Iv zu einem vermögenden Mann machen.129 In dieser Hinsicht stellt »Zelënaja lampa« gleichsam einen Gegentext zu »Alye parusa« dar, wo die Prophezeiung, dass eines Tages ein Schiff mit roten Segeln kommen und das Mädchen Assol’ abholen werde, sich tatsächlich erfüllt. Während die vermeintliche Fürsorge des reichen Stil’ton gegenüber dem Armen der umstehenden Menge als lobenswerter Akt der Nächstenliebe erscheint130 und Iv das Angebot Stil’tons erstaunt und dankbar annimmt,131 wird der abstrakte Leser keinen Moment im Unklaren über die tatsächlichen Absichten des reichen Mannes gelassen. Diese nämlich offenbart Stil’ton selbst in zwei Gesprächen mit Rejmer, die die erste Begegnung mit Iv wie eine Klammer einrahmen. Stil’ton kommentiert den Anblick des auf dem Boden liegenden Obdachlosen mit den Worten: »›Вот случай проделать шутку. У меня явился интересный замысел. Мне надоели обычные развлечения, а хорошо шутить можно только одним способом: делать из людей игрушки.‹«132 Stil’tons Ennui ist also ein direktes Resultat seines Reichtums, der es ihm erlaubt, jede erdenkliche Art von Amüsement zu kaufen, nachdem er, in Karamzins Worten, »осыпанны[й] средствами наслаждаться, [по]теря[л] вкус ко всем наслаждениям«.133 Als einzige außergewöhnliche Freude bleiben ihm perfide Scherze mit seinen als ›Spielzeug‹ bezeichneten und damit verdinglichten Opfern. Die in sehr ähnlichem Kontext verwendeten Formulierungen »играть с живыми людьми«134 und »[и]грушка«135 aus »Propavšee solnce« klingen hier deutlich an. Seine Aussage wiederholt Stil’ton am Tag nach seiner Begegnung mit Iv, als er mit Rejmer das erstmalige Entzünden der grünen Lampe am Fenster überprüft, sogar ein zweites Mal: »›Игрушка… игрушка из живого 128 Grin selbst besitzt eine Lampe mit grünem Schirm. Sie ist heute in seinem Arbeitszimmer im Grin-Museum in Feodosija zu sehen. 129 Vgl. ZL , 594 f. 130 Vgl. ZL , 593. 131 Vgl. ZL , 595. 132 ZL , 595. Dt.: »›Hier ist eine Gelegenheit, einen Scherz zu machen. Mir ist ein interessantes Vorhaben in den Sinn gekommen. Ich habe die gewöhnlichen Vergnügungen satt, und gut scherzen kann man nur auf eine Art: aus Menschen Spielzeuge machen.‹«. 133 Karamzin: Pis’ma russkogo putešestvennika, 383. Dt.: »umgeben von allen Mitteln zum Genuß, den Geschmack an allem verl[or].« (Karamsin: Briefe eines russischen Reisenden, 663). 134 PS , 237. Dt.: »mit lebendigen Menschen spielen«. 135 PS , 240. Dt.: »Spielzeug«.

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человека,‹ сказал Стильтон, ›самое сладкое кушанье!‹«136 Hierfür sucht er sich ausgerechnet einen Menschen aus der gesellschaftlichen Peripherie aus, mit einem Status, der von seinem eigenen kaum weiter entfernt sein könnte. Das Ziel dieses höchst dekadenten und zynischen ›Spiels‹ besteht darin, Iv in eine Situation zu bringen, die diesem langfristig die Sinnlosigkeit seiner Existenz vor Augen führt, sodass er schließlich unweigerlich, wie Stil’ton schadenfroh prognostiziert, »›[…] сопьется от скуки или сойдет с ума […]‹«.137 Anders als in »Propavšee solnce«, wo der Reiz der Menschenversuche für Choggej gerade in der Ungewissheit darüber besteht, »›Что выйдет, если я сделаю так?‹«,138 sodass sein Interesse auch sofort erlischt, sobald diese Frage beantwortet ist, geht es Stil’ton darum, einen als sicher vorausgesagten Effekt so lange wie möglich auszukosten. Gemeinsam ist beiden Figuren, dass die Spiele dem Zweck der wenigstens vorübergehenden Aufhebung der eigenen, als negativ empfundenen Fremdheit in der Welt dienen. Entscheidend für das Gelingen des Vorhabens ist eine Reihe semantischer Leerstellen in Form von Iv bewusst vorenthaltenen Informationen. Als sich Iv nach der Dauer des unerwarteten Geldsegens erkundigt, erwidert Stil’ton: »›Это неизвестно. Может быть, год, может быть – всю жизнь.‹«139 Ebenso unbestimmt bleibt der Zeitpunkt des Besuchs der Reichtum bringenden, und gleichfalls unbekannten Personen, welcher »›[…] неизвестно когда, может быть, через месяц, может быть, через год, – словом, совершенно неожиданно […]‹«140 stattfinden soll. Auch die zweite Rückfrage Ivs, »›[…] для чего понадобилась вам эта зеленая иллюминация?‹«141 beantwortet er ausweichend: »›Тайна! […] Великая тайна! Лампа будет служить сигналом для людей и дел, о которых вы никогда не узнаете ничего.‹«142 Ebenso wenig erfährt der Obdachlose die Identität seines Gegenübers – »›[…] Моего имени я вам не скажу.‹«143 – oder den Grund für den zu erwartenden Geldsegen: »›[…] Почему это и как – я объяснить не имею права. […]‹«.144 Das Gespräch stellt also eher einen Akt der Nichtkommunikation als der Kommunikation dar, da mehr nicht gesagt als gesagt wird, mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben werden. Und doch handelt es sich nicht um 136 ZL , 595. Dt.: »›Ein Spielzeug… ein Spielzeug aus einem lebendigen Menschen‹, sagte Stil’ton, ›ist die süßeste Speise!‹«. 137 ZL , 595. Dt.: »›[…] aus Langeweile dem Alkohol verfällt oder den Verstand verliert […]‹«. 138 PS , 237. Dt.: »›Was kommt heraus, wenn ich es so mache?‹«. 139 ZL , 594. Dt.: »›Das ist nicht bekannt. Vielleicht ein Jahr, vielleicht – das ganze Leben.‹«. 140 ZL , 595. Dt.: »›[…] zu einem unbekannten Zeitpunkt, vielleicht in einem Monat, vielleicht in einem Jahr – kurz, vollkommen unerwartet […]‹«. 141 ZL , 594. Dt.: »›[…] wozu brauchten Sie diese grüne Beleuchtung?‹«. 142 ZL , 594. Dt.: »›Ein Geheimnis! […] Ein großes Geheimnis! Die Lampe wird als Signal für Menschen und Angelegenheiten dienen, über die Sie niemals etwas erfahren werden.‹«. 143 ZL , 594. Dt.: »›[…] Meinen Namen sage ich Ihnen nicht.‹«. 144 ZL , 595. Dt.: »›[…] Warum das so ist und wie – habe ich kein Recht zu erklären. […]‹«.

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eine gescheiterte Kommunikation, da sie aus Stil’tons Perspektive gerade aufgrund dieser Unbestimmtheitsstellen funktioniert. Die Leerstellen gehen hier also auf eine handelnde Figur, Stil’ton, und nicht auf den Erzähler zurück, der gewissenhaft Hintergrundinformationen z. B. zur Biographie der handelnden Personen liefert  – anders als in vielen anderen Texten Grins, in denen ein unzuverlässiger oder Informationen zurückhaltender Erzähler für sie verantwortlich ist (siehe hierzu Kap. 4.3.2 und 4.4.2). Dementsprechend bestehen die Informationslücken auch nicht für den abstrakten Leser, sondern nur für eine der Figuren, Iv. Durch diesen erzählerischen Kniff ist dem abstrakten Leser der Zynismus von Stil’tons Plan, der den Dreh- und Angelpunkt der gesamten Erzählungen bildet, von Beginn an bewusst, während er zugleich seine Auswirkungen auf den unwissenden Iv verfolgen kann. Die Leerstellen erfüllen  – zumindest nach Stil’tons Plan  – eine doppelte Funktion, wobei der Aspekt der Zeit in mehrfacher Hinsicht zentral ist. Einerseits wecken die zahlreichen Unbestimmtheiten in Stil’tons Aussagen – die Begriffe »может быть«,145 »тайна«146 und »нeизвестно«147 werden sogar jeweils wiederholt und damit betont  – die Neugier und Phantasie Ivs, und stellen, wie das Unbekannte bzw. Fremde so häufig, eine Quelle der Faszination dar. Diese wird durch die zeitliche Unbegrenztheit des Auftrags und die Erwartung der irgendwann und »совершенно неожиданно«148 zu erhaltenden Entlohnung lebendig gehalten. Allerdings führt andererseits gerade das Fehlen eines Orientierung bietenden zeitlichen Rahmens der Abmachung schlussendlich zu Zweifeln an der in vager Zukunft liegenden Erfüllung des Angekündigten und damit auch zu Zweifeln an der Sinnhaftigkeit der eigenen gewissenhaften und mit großen persönlichen Einschränkungen einhergehenden Erfüllung der Aufgabe. Hinzu kommen die anderen fehlenden Informationen, die verhindern, dass Iv im täglichen Anzünden der Lampe einen Sinn jenseits der ungewissen finanziellen Entlohnung finden kann: Er weiß weder, warum er die Lampe entzündet, noch für wen er dies tut – er kennt weder Stil’tons Namen noch den der angekündigten ›Leute‹ –, kann sich also weder der Sache noch den Personen verbunden fühlen. Dass Iv der Zugang hierzu kategorisch verwehrt wird, deutet sich schon in den zahlreichen unzweideutigen, negativen Aussagen Stil’tons an (»не скажу«149, »вы никогда не узнаете ничего«,150 »объяснить не имею права«151), durch die das ergeb-

145 146 147 148 149 150 151

ZL , 594 u. 595. Dt.: »vielleicht«. ZL , 594. Dt.: »Geheimnis«. ZL , 594 u. 595. Dt.: »unbekannt«. ZL , 595. Dt.: »vollkommen unerwartet«. ZL , 594. Dt.: »sage ich nicht«. ZL , 594. Dt.: »Sie werden niemals etwas erfahren«. ZL , 595. Dt.: »ich habe kein Recht zu erklären«.

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nisoffene »может быть«152 aufgehoben wird. Stil’ton selbst fasst Ivs Situation, ebenfalls ein verneintes Verb gebrauchend, wie folgt zusammen: »›[…] будет ждать сам не зная чего. […]‹«.153 Semantische Leerstellen, d. h. Ivs kognitive Fremdheit allen wesentlichen Aspekten seines Auftrags gegenüber, führen zur Unmöglichkeit, das eigene Tun als sinnhaft zu begreifen, und somit zu einer Fremdheit dieses Lebens selbst. An dieser Stelle wird der Aspekt der Zeit in einer dritten Weise bedeutsam: Führt bereits die Kombination aus der Dauer des Auftrags und Zweifeln an dem Zweck desselben  – beides bedingt durch die zeitliche Unbegrenztheit der Vereinbarung  – zu einer Sinnkrise, so wird diese umso tiefgreifender angesichts der Tatsache, dass der gewaltigen Menge möglicherweise sinnlos verschwendeter Lebenszeit – sieben Stunden täglich neben einer entzündeten Lampe wartend – die Begrenztheit des eigenen Lebens gegenübersteht. Anders als in »Propavšee solnce«, wo die ebenfalls extrem lange Zeit von vierzehn Jahren in einem fensterlosen Raum die Voraussetzung für den Schock der Konfrontation mit der Sonne und der Dunkelheit bildet, ist die Dauer des Experiments in »Zelënaja lampa« nicht nur zeitlich unbegrenzt, sondern mündet zudem nicht in einen Schockmoment, sondern verweilt im Gegenteil im Zustand völliger Ereignislosigkeit. Eben hieraus erklärt sich Stil’tons Prognose, Iv werde dem Alkohol oder – worauf auch Bljum bei Robert in »Propavšee solnce« wettet – dem Wahnsinn anheimfallen. Beide bieten eine Fluchtmöglichkeit aus einem Leben, aus dem Iv aufgrund der perfiden Konstruktion der Situation anderweitig nicht ausbrechen kann: Da der Tag des versprochenen Reichtums irgendwann vielleicht doch noch kommt, kann Iv trotz aller Zweifel und gerade wegen der bereits investierten Zeit nicht aufhören, jeden Tag seinen Dienst an der Lampe zu erfüllen. Stil’ton erweist sich damit als klassischer Antagonist, der das (positive) Handeln des Protagonisten be- bzw. hier sogar verhindert. Stil’tons ›Spiel‹ ist bei genauerer Betrachtung nicht zufällig so gewählt, sondern weist dasselbe Muster wie das in »Propavšee solnce« auf. Der Zustand der Langeweile (russ.: skuka) und der Entfremdung von einem sinnhaften Leben, in den er Iv bringt, entspricht seinem eigenen Befinden. Die grüne Lampe, die das Verbindungsglied zwischen den beiden Männern darstellt, steht dabei metonymisch für diese verdoppelte Fremdheit – als ihre Folge bei Stil’ton, als ihre Ursache bei Iv. Diese Parallele zwischen sich und Iv stellt Stil’ton implizit selbst her, wenn er, vor dem Fenster mit der grün leuchtenden Lampe stehend, Rejmer rät: »›[…] когда вам будет скучно, приходите сюда и улыбнитесь. Там, за окном, сидит дурак. […] Он сопьется от скуки […].‹«154 Stil’ton 152 ZL , 594 u. 595. Dt.: »vielleicht«. 153 ZL , 595. Dt.: »›[…] er wird warten und dabei selbst nicht wissen, worauf. […]‹«. 154 ZL , 595; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »›[…] wenn Ihnen langweilig ist, kommen Sie hierher und lächeln Sie. Dort, hinter dem Fenster, sitzt ein Dummkopf. […] Er wird vor Langeweile dem Alkohol verfallen […].‹«.

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gewinnt also nicht nur durch die kurzzeitige Freude – wenn auch in Gestalt von Schadenfreude – etwas Distanz zu seinem Zustand des Ennui (sie dient ihm also, wie Choggej aus »Propavšee solnce«, als Möglichkeit für einen geistigen uchod), sondern auch durch die Übertragung desselben auf eine andere Person.155 Der Abstand wird verstärkt durch die Auswahl dieses anderen, bei dem es sich, wie oben gezeigt, um eine Person mit maximaler alltäglicher Fremdheit zu Stil’ton in Bezug auf den sozialen Status handelt. Jedoch entsprechen all diese Folgen der Vereinbarung über die grüne Lampe lediglich Stil’tons theoretischer Intention; in der Realität der Erzählung nehmen die Ereignisse eine andere Wendung. Hierbei spielt die kognitive Fremdheit zwischen den beiden Männern, d. h. ihre Unfähigkeit, das Denken und Handeln des Anderen zu verstehen oder gar richtig vorherzusagen, eine entscheidende Rolle: Gelingt die Abmachung zwischen Stil’ton und Iv zunächst nur deshalb, weil Iv sich keine bösen Absichten vorstellen kann und deshalb ohne jegliches Misstrauen in den merkwürdigen Vorschlag einwilligt, so scheitert der Plan letztendlich daran, dass umgekehrt Stil’ton die Möglichkeit einer positiven Eigeninitiative Ivs nicht bedacht und daher auch keine Maßnahmen zu ihrer Verhinderung getroffen hat. Der zweite oben genannte Gegensatz zwischen den beiden Hauptpersonen  – ihre unterschiedlichen Lebenshaltungen – kommt an dieser Stelle zusätzlich zum Tragen und durchkreuzt Stil’tons Pläne – durchkreuzt im doppelten Wortsinn, denn statt der von Stil’ton intendierten Parallele zwischen den beiden Männern realisiert sich ein Chiasmus: Sie tauschen ihre gesellschaftlichen Positionen. Diese Entwicklung ist Inhalt des zweiten Kapitels, das acht Jahre nach der ersten Begegnung der beiden Männer spielt. Chiastische Umkehrung der Verhältnisse und partielle Aufhebung der Gegensätze Im Zuge der zweiten Begegnung wird deutlich, dass Iv auf seine Langeweile nicht wie Stil’ton mit destruktivem Zynismus reagiert, sondern sie von Beginn an auf positive und produktive Weise bekämpft. Entscheidend hierfür ist, wie erwähnt, die diametral entgegengesetzte Haltung zum Leben der beiden Antagonisten, die mit ihrem gegensätzlichen Sozialstatus verknüpft ist. Ohne dass es für den abstrakten Leser unmittelbar erkennbar ist, wird dies bereits im ersten Kapitel der Erzählung durch Stil’ton und Iv jeweils in direkter Rede angekündigt. In beiden Fällen ist die Aussage über das Leben mit einer Referenz auf Nahrung, also auf eine Grundvoraussetzung für selbiges, verbunden,

155 Dieses Muster stellt eine Vorstufe zu dem in Kapitel 4.4 analysierten Mechanismus der Projektion des verdrängten Eigenen nach außen, auf eine andere Person – hier in Gestalt eines Doppelgängers – dar.

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wobei deren Gegensätzlichkeit den Kontrast zwischen den Antagonisten zusätzlich verstärkt. Im Falle des reichen Stil’ton liegt ein Überdruss durch Überfluss vor, der ihn die Wertschätzung für das Leben verlieren lässt und sich in seinem zynischen Spiel mit dem Schicksal anderer niederschlägt: »›Игрушка… игрушка из живого человека‹, сказал Стильтон, ›самое сладкое кушанье!‹«156 Der metaphorischen Süßspeise Stil’tons, die offensichtlich nicht zur Erfüllung eines Grundbedürfnisses des eigenen Lebens dient, sondern die aus Übersättigung entstandene Missachtung gegenüber fremdem Leben ausdrückt, steht eben das sehr reale Bedürfnis des hungernden, auf der Straße kollabierten Iv gegenüber. Erscheint seine Aussage »›Я голоден… и я жив‹«157 auf den ersten Blick lediglich wie eine Replik auf Rejmers abschätzige Bemerkung »›[…] Он пьян или умер.‹«,158 lässt sie sich bei genauerem Hinsehen auch im Kontrast zu Stil’tons Aussage lesen. Nicht nur qualifiziert Iv sich damit selbst als eben der živoj čelovek (dt.: lebendige Mensch), den Stil’ton für sein Spiel benötigt, sondern er drückt zugleich auch seinen Willen zu leben, seinen Lebenshunger aus. Die Beziehung der beiden Aussagen aufeinander wird zusätzlich durch ihre Position im Text suggeriert, da es sich um Ivs erste und Stil’tons letzte Worte in Kapitel 1 der Erzählung handelt. Diese bilden somit ebenfalls – wie schon Stil’tons oben angesprochene Darlegung seiner eigentlichen Absichten gegenüber Rejmer – eine Klammer um die erste Begegnung der beiden Hauptpersonen. An dieser Stelle kommt es zu einer Verdichtung von parallelen und antithetischen Elementen: Die beiden Rahmen – die Offenbarung von Stil’tons wahren Absichten hinter seinem Angebot und die Andeutung der unterschiedlichen Beziehungen der Antagonisten zum Leben – bilden einen strukturellen Parallelismus. Auf inhaltlicher Ebene weist erstere Aussage wiederum ebenfalls einen Parallelismus (bzw. den Wunsch eines solchen) auf, nämlich die Gleichsetzung Ivs und Stil’tons durch Langeweile und Entfremdung vom Leben; letztere dagegen enthält eine Antithese in Form der gegensätzlichen Lebenshaltungen, die wesentlich durch den ebenfalls im ersten Kapitel dargestellten Kontrast ihrer gesellschaftlichen Stellungen bedingt sind. Ein Vergleich der Inhalte der beiden strukturell parallelen Rahmen offenbart seinerseits zwei weitere Antithesen: Gleichsetzung vs. Gegensatz von Stil’ton und Iv, und Wunschdenken vs. tatsächliche Entwicklung. Diese komplexe Verknüpfung von inhaltlichen und strukturellen Parallelismen und Anti­ thesen weist indirekt auf die Figur des Chiasmus im zweiten Kapitel voraus, 156 ZL , 593; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »›Ein Spielzeug… ein Spielzeug aus einem lebendigen Menschen‹, sagte Stil’ton, ›ist die süßeste Speise!‹«. 157 ZL , 593; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »›Ich bin hungrig… und ich bin lebendig‹«. 158 ZL , 593. Dt.: »›[…] Er ist betrunken oder tot.‹«.

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durch die die sozialen Status der beiden Hauptpersonen umgekehrt werden, ihre Gegensätzlichkeit dadurch zugleich aber aufrechterhalten wird, während sich ihre Haltung zum Leben angleicht. Die weitere Entwicklung der Handlung deutet sich also nicht nur inhaltlich in den Aussagen Ivs und Stil’tons am Anfang und am Ende des Kapitels an, sondern auch durch die formale Gestaltung der Erzählung. Das Ergebnis davon zeigt sich unmittelbar durch die Umstände der zweiten Begegnung Ivs und Stil’tons zu Beginn des zweiten Kapitels. Stil’ton wird vollkommen verarmt und schwer verletzt in ein Armenhospital eingeliefert, wo ihm sein Bein von Iv amputiert wird, der mittlerweile dort als Chirurg arbeitet. In ihrem Gespräch nach der Operation wird deutlich, dass sich das weitere Schicksal beider Männer seit ihrem ersten Aufeinandertreffen entsprechend der im ersten Teil der Erzählung angedeuteten entgegengesetzten Verhaltensweisen entwickelt hat. Als der übersättigte, zynische Reiche an der Börse sein gesamtes Vermögen verliert, besitzt er nicht die Fähigkeit, selbst Initiative zu ergreifen und seine Lage zu verbessern, sondern fügt sich passiv in sein Schicksal. Der lebenshungrige Arme dagegen wendet die Situation, in die ihn Stil’ton mit der Absicht, ihn in den Wahnsinn oder die Trunksucht zu treiben, gebracht hat, aktiv zum Positiven. Er macht Stil’tons Pläne, die auf dem Gefühl einer umfassenden Sinnlosigkeit beruhen, zunichte, indem er den langen Stunden neben der grünen Lampe selbst einen Sinn gibt. Die erneut explizit genannte Langeweile (russ.: skuka) dient ihm, anders als Stil’ton, als positiver Impuls für die Neugestaltung des eigenen Lebens: »›Я несколько лет зажигал лампу‹, улыбнулся Ив, ›и вначале от скуки, а потом уже с увлечением начал читать все, что мне попадалось под руку.‹«159 Eines Tages stößt er auf ein Anatomiebuch, beschließt, Arzt zu werden, liest sich während seiner allabendlichen Wachen die notwendigen Vorkenntnisse an, verlässt schließlich entgegen der Abmachung seinen Wachposten, durchläuft eine medizinische Ausbildung und wird Chirurg. Die Entwicklung der Ereignisse wird also maßgeblich durch die diametral entgegengesetzten Lebenseinstellungen Ivs und Stil’tons – positiv vs. negativ, aktiv vs. passiv – beeinflusst. Vadim Kovskij, der als einer der wenigen »Zelënaja lampa« überhaupt erwähnt, ordnet aufgrund dieses Erfolgs des Protagonisten Iv die Erzählung zusammen mit »Serdce pustyni« in eine Reihe von Werken Grins ein, die das Thema des realisierten Traums enthalten.160 Allerdings ist seine Bestimmung der Voraussetzung für die Verwirklichung dieses Traums – der Held müsse lediglich für eine Idee brennen oder etwas stark wollen –161 im Falle 159 ZL , 596; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »›Ich entzündete einige Jahre lang die Lampe‹, lächelte Iv, ›und begann, anfangs aus Langeweile, später bereits mit Begeisterung, alles zu lesen, was ich in die Finger bekam.«. 160 Vgl. Kovskij: Nastojaščaja, vnutrennjaja žizn’, 247. 161 Vgl. ebd.

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von »Zelënaja lampa« nicht zutreffend, denn die Erzählung betont durch den Gegensatz zwischen den beiden Hauptpersonen gerade die aktive, positive, kreative Handlung Ivs gegenüber der passiven Schicksalsergebenheit Stil’tons, in der sich der entfremdete Stillstand seines früheren Lebens als reicher Mann fortsetzt.162 Dieser Stillstand, die Ereignislosigkeit von Stil’tons Alltagsleben (sowie von Ivs Leben in der Vorstellung Stil’tons) überträgt sich als Ereignislosigkeit auf die Struktur des Textes, der im ersten Kapitel »не события, а быт«163 darstellt. Das Sujet im Sinne Lotmans164 beginnt erst mit Ivs Überwindung der 162 Obwohl Kovskij dies nicht explizit macht, ist davon auszugehen, dass er sich bei dem Thema der Wunschrealisierung allein durch festen Glauben vor allem auf »Alye parusa« bezieht, wo die unerschütterliche Überzeugung des Mädchens Assol’, von einem Mann mit einem Schiff mit roten Segeln abgeholt und in ein besseres Leben gebracht zu werden, Kapitän Grėj dazu bewegt, ihr eben diesen Traum zu erfüllen. Auf Kov­ skijs Verknüpfung von »Zelënaja lampa« mit »Alye parusa« weist auch die Tatsache hin, dass er in seiner fast 25 Jahre zuvor verfassten Dissertation zu Grin in den Erzählungen »Zelënaja lampa«, »Serdce pustyni« und »Barchatnaja port’era« eine Wiederholung der Aussage aus »Alye parusa« sieht. Diese besteht für Kovskij darin, dass der Mensch die Wirklichkeit nicht nur durch seine Träume beeinflussen, sondern auch – hier zitiert er Grėj aus »Alye parusa«– Wunder »своими руками« (AL , 67. Dt.: »mit eigenen Händen« (ALd, 101)) vollbringen kann (vgl. Kovskij: Tvorčestvo A. S. Grina, 9 f. FLMMG , K 247, l. 9 f.). Auch diese Parallele ist nicht vollkommen zutreffend, da es in »Zelënaja lampa« in keiner Weise um Wunder geht, sondern um die nüchterne, grausame Wirklichkeit und den Umgang der Menschen mit ihr und miteinander. Kovskijs in dieser früheren Studie enthaltener Hinweis auf die Bedeutung der Eigeninitiative in beiden Texten deckt sich allerdings mit den hier gemachten Beobachtungen. 163 Bachtin, M. M.: Avtor i geroj v ėstetičeskoj dejatel’nosti. In: Ders.: Sobranie sočinenij v semi tomach. T. 1. Filosofskaja ėstetika 1920-ch godov. Moskva 2003, 69–263, hier 224. Dt.: »nicht die Ereignisse, sondern den Alltag« (Bachtin, Michail M.: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit. Aus dem Russischen von Hans-Günter Hilbert, Rainer Grübel, Alexander Haardt und Ulrich Schmid. In: Ders.: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit. Herausgegeben von Rainer Grübel, Edward Kowalski und Ulrich Schmid. Frankfurt a. M. 2008, 33–268, hier 222). 164 Vgl. hierzu Lotmans Definition des Ereignisses, die auch von Wolf Schmid (vgl. Schmid: Elemente der Narratologie, 13) herangezogen wird: »Событием в тексте является перемещение персонажа через границу семантического поля.« (Lotman, Jurij M.: Struktura chudožestvennogo teksta. In: Ders.: Ob iskusstve. Struktura chudožestven­ nogo teksta. Semiotika kino i problemy kinoėstetiki. Stat’i. Zametki. Vystuplenija ­(1962–1993). Sankt-Peterburg 1998, 13–285, hier 224; Hervorhebung im Original. Dt.: »Ein Ereignis in einem Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze des semantischen Feldes hinaus.« (Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Herausgegeben mit einem Nachwort und einem Register von Rainer Grübel. Übersetzung aus dem Russischen von Rainer Grübel, Walter Kroll und Hans-Eberhard Seidel. Frankfurt a. M. 1973, 350; Hervorhebung im Original)). Daraus leitet sich sein Verständnis des Sujets ab: »[…] неизбежными элементами всякого сюжета являются: 1) некоторое семантическое поле, разделенное на два взаимодополнительных подмножества; 2) граница между этими подмножествами, которая в обычных условиях непроницаема, однако в данном случае (сюжетный текст всегда говорит о данном случае) оказывается

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Ereignislosigkeit durch eine Grenzüberschreitung im doppelten Sinne, indem er sich über die strikte Anweisung, täglich stundenlang neben der Lampe zu wachen und die Wohnung nicht zu verlassen, hinwegsetzt, also zugleich die Grenze zur Außenwelt und eine Regel übertritt. Damit erweist sich Iv als Held auch im Lotman’schen Sinne eines Handlungsträgers, während Stil’ton sich als Vertreter und Förderer von Ereignislosigkeit als Antiheld qualifiziert. Durch seine Grenzüberschreitung setzt Iv eine Ereigniskette in Gang, deren Ergebnis in Kapitel 2 der Erzählung thematisiert wird. Denn die hierarchischen Positionen der beiden Männer während ihrer zweiten Begegnung sind genau entgegengesetzt zu denen während der ersten. Es kommt somit zu einer vorübergehenden Aufhebung einer semiotischen (Binnen-)Grenze, die einen solchen Wechsel ermöglicht. Diese Entwicklung wird im Gespräch der beiden Figuren explizit thematisiert, darüber hinaus aber auch sowohl auf lexikalischer als auch struktureller Ebene widergespiegelt. Bei der lexikalischen Verstärkung der inhaltlichen Aussage wird der Chiasmus durch mehrere Wiederholungen von Lexemen oder Phrasen aus dem ersten Kapitel verdeutlicht, bei denen beim zweiten Mal der Sprecher bzw. der Referent der Aussage gewechselt hat. Erstens liegt ein Tausch der gesellschaftlichen Rollen im Allgemeinen vor. Der einst Arme ist nun wohlhabend, der einst Wohlhabende arm. Waren die Hauptpersonen im ersten Kapitel kontrastiv als хорошо одеты[й]«165 respektive »плохо одеты[й]«166 beschrieben worden, stellt nun die Bezeichnung Stil’tons als »скверно одетый«167 den unmittelbaren Bezug zur Ausgangs­ situation her, verkehrt ihn und enthält zudem eine Steigerung von Ivs damaligem Zustand (›schlecht‹) zu Stil’tons jetzigem (›elend‹). Zweitens werden die umgekehrten (Macht-)Verhältnisse zwischen den beiden Männern betont. Eine weitere lexikalische Wiederholung inklusive Steigerung, diesmal numerischer Art, weist ebenfalls indirekt auf eine im Vergleich zum ersten Kapitel umgekehrte Konstellation hin: Angesichts von Stil’tons Angebot hatte Iv ausgerufen: »›Черт возьми!‹«;168 als Stil’ton nun in

165 166 167 168

проницаемой для героя-действователя; 3) герой-действователь.« (Lotman: Struktura chudožestvennogo teksta, 230; Hervorhebung im Original. Dt.: »[…] als notwendige Elemente jedes Sujets […]treten [auf]: 1. ein semantisches Feld, das in zwei komplementäre Untermengen aufgeteilt ist; 2. eine Grenze zwischen diesen Untermengen, die unter normalen Bedingungen impermeabel ist, im vorliegenden Fall jedoch (der sujethaltige Text spricht immer von einem vorliegenden Fall) sich für den die Handlung tragenden Helden als permeabel erweist; 3. der die Handlung tragende Held.« (Lotman: Die Struktur, 360; Hervorhebung im Original)). ZL , 593. Dt.: »gut gekleidet«. ZL , 593. Dt.: »schlecht gekleidet«. ZL , 595. Dt.: »elend gekleidet«. ZL , 595. Dt.: »›Hol’s der Teufel!‹«.

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seinem Chirurgen Iv wiedererkennt, murmelt er: »›Тысяча чертей!‹«169 Bereits hier ist das Verhältnis von Geber und Empfänger von (tatsächlichen oder vermeintlichen) Hilfeleistungen monetärer bzw. medizinischer Art vertauscht. Die Umkehrung wird noch deutlicher, als auch Iv – wie zuvor Stil’ton – seinem Gegenüber eine Arbeit mit Bezahlung anbietet. Wie oben gezeigt wurde, spielt die zeitliche Unbestimmtheit von Stil’tons Angebot an Iv, die in der vierfachen Wiederholung eines ›vielleicht‹ ihren Ausdruck findet  – »›[…] Может быть, год, может быть – всю жизнь.‹«,170 »›[…] может быть, через месяц, может быть, через год […]‹«171 – eine entscheidende Rolle für Stil’tons perfiden Plan. Im zweiten Kapitel kommt es auch diesbezüglich zu einem Rollenwechsel, denn nun ist es Iv, der Stil’ton – ebenfalls mit einem ›vielleicht‹ versehen – eine Arbeitsstelle anbietet: »›[…] быть может, я дам вам работу в нашей амбулатории […]‹«.172 Von Bedeutung ist dabei zum einen, dass der Ausdruck ›vielleicht‹ an keiner anderen Stelle der Erzählung vorkommt, was den Bezug der Textstellen aufeinander und damit den Rollenwechsel betont. Zum anderen liegt auch innerhalb des Ausdrucks ein Wechsel der Positionen der beiden ihn konstituierenden Lexeme vor, was das Russische erlaubt – bei Stil’ton ist es in jedem der vier Fälle »может быть«, bei Iv »быть может«. Somit wird die in einen Tausch der Positionen der handelnden Figuren mündende Handlung hier sogar in doppelter Hinsicht auf lexikalischer Ebene abgebildet. Schließlich findet sich eine vierte implizite, lexikalische Verknüpfung mit dem Inhalt des ersten Teils der Erzählung in der Ursache des Unfalls, auf den Stil’tons Einlieferung in das Armenhospital folgt, denn: Er bricht sich das Bein, »оступившись на черной лестнице темного притона.«173 Stil’ton wird also ironischerweise gerade das Fehlen einer Lichtquelle zum Verhängnis, nachdem er Iv jahrelang eine Lampe ohne jeglichen konkreten Nutzen entzünden hat lassen. Die abschließenden Worte der Erzählung, die Iv an Stil’ton richtet, stellen nicht nur ihre Pointe dar, sondern deuten auch einen kausalen Zusammenhang der beiden Ereignisse an, suggerieren also den Unfall als Strafe für Stil’tons grausames Spiel mit Iv: »›[…] А спускаясь по лестнице, зажигайте… хотя бы спичку.‹«174 Dieser Zusammenhang wird erstens verstärkt durch eine weitere Wiederholung eines Lexems – zažigat’  / ​ zažeč’ (dt.: anzünden) – aus der korrespondierenden Passage des ersten Ka169 170 171 172 173

ZL , 596. Dt.: »›Potztausend!‹«; wörtl.: »›Tausend Teufel!‹«. ZL , 594. Dt.: »›[…] Vielleicht ein Jahr, vielleicht – das ganze Leben.‹«. ZL , 595. Dt.: »›[…] vielleicht in einem Monat, vielleicht in einem Jahr […]‹«. ZL , 597. Dt.: »›[…] vielleicht gebe ich Ihnen eine Arbeit in unserer Ambulanz […]‹«. ZL , 595. Dt.: »nachdem er auf der schwarzen Treppe einer dunklen Spelunke gestolpert

war.«. 174 ZL , 597. Dt.: »›[…] Und wenn Sie die Treppe heruntergehen, zünden Sie… zumindest ein Streichholz an.‹«.

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pitels, in der Stil’ton Iv die Anweisung erteilt, dass allabendlich am Fenster »›[…] должна стоять зажженная лампа […]‹«;175 zweitens findet sich auch hier wieder eine Umkehrung der Rollen, da es im zweiten Kapitel Iv ist, der die Aufforderung ausspricht. Der chiastische Wechsel der Positionen vom ersten zum zweiten Kapitel ist auch in der Struktur des Textes enthalten. Dies betrifft zum einen den generellen Aufbau des Textes, zum anderen seine raumzeitlichen Strukturen. Die zwei Abschnitte der Erzählung sind weitgehend gleich aufgebaut. Beide Kapitel beginnen jeweils mit einer Information zu Zeit und Ort der Handlung, wobei sogar eine Anapher – »В Лондоне«,176 »В 1928 году«177 – vorliegt. Sie bestehen beide größtenteils aus direkter Figurenrede in Form eines Dialogs zwischen Iv und Stil’ton, wobei den Dialogen jeweils eine kurze Erzählerpassage mit Hintergrundinformationen zu den Protagonisten und den Umständen ihrer Begegnung vorgeschaltet ist. Sowohl im ersten als auch im zweiten Kapitel wird durch diese Umstände des Aufeinandertreffens der jeweilige soziale Stand der beiden Beteiligten sofort verdeutlicht. Vor dem Hintergrund dieser Parallelen treten sowohl die bereits genannten inhaltlichen als auch die folgenden strukturellen Unterschiede zwischen den beiden Teilen der Erzählung umso deutlicher hervor. Zum Ersten verändern sich die jeweiligen Redeanteile: Während in Kapitel 1 Stil’ton den Großteil des Dialogs bestreitet und Iv lediglich nachfragt oder antwortet, gestaltet sich die Verteilung in Kapitel 2 genau umgekehrt. Dies korrespondiert mit dem oben erwähnten Tausch der aktiv-agierenden Rolle als Gebender und der passiv-reagierenden Rolle als Empfangender vom ersten zum zweiten Dialog. Zum Zweiten wird am Beginn der beiden Kapitel – erneut chiastisch – die Reihenfolge der Elemente vertauscht: Auf die Angabe ›Ort und Zeit‹: »В Лондоне в 1920 году […]«178 – im ersten Satz des ersten Kapitels folgt am Beginn des zweiten Kapitels die Information ›Zeit und Ort‹: »В 1928 году больница для бедных, помещающаяся на одной из лондонских окраин, огласилась дикими воплями […]«.179 Von noch größerer Bedeutung aber ist die hier enthaltene Verschiebung des Ortes der Handlung innerhalb der Stadt London, von ihrem Zentrum, für das stellvertretend der Verkehrsknotenpunkt Piccadilly Circus, der zur Zeit des British Empire gar als ›The Centre of the World‹ bezeichnet wird, steht, an die Peripherie der Stadt und darüber hinaus auch noch in ein Armenhospital, 175 176 177 178 179

ZL , 594. Dt.: »›[…] die angezündete Lampe stehen muss […]‹«. ZL , 593. Dt.: »In London«. ZL , 595. Dt.: »Im Jahr 1928«. ZL , 593. Dt.: »In London im Jahr 1920 […]«. ZL , 595. Dt.: »Im Jahr 1928 hallte ein Krankenhaus für Arme, das in einem der Londoner

Randbezirke gelegen war, von wilden Schreien wider […]«.

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also an einen mit Foucault als Heterotopie zu bezeichnenden Ort.180 Auch hier liegt eine Verbindung mit einer bereits genannten Umkehrung vor, denn der Ortswechsel korrespondiert mit dem Tausch der Rolle des den Dialog Lenkenden, die im ersten Kapitel dem im Zentrum (der Stadt und der Ge­ sellschaft) stehenden Stil’ton zukommt, im zweiten dem an der Peripherie (der Stadt, jedoch nun nicht mehr der Gesellschaft) angesiedelten Iv. Darin wird der Zusammenhang von Raum und Macht deutlich, die jeweils der in ihrem eigenen Raum agierende Person zukommt. Noch stärker als in dieser horizontalen räumlichen Verschiebung sind Hierarchien generell mit vertikalen Raumstrukturen verknüpft,181 welche ebenfalls in der Erzählung enthalten sind. Auch hierbei findet eine Umkehr der früheren Verhältnisse statt. Ist es im ersten Kapitel Iv, der im wortwörtlichen Sinne ganz unten ist, nämlich am Boden, ja sogar in der Gosse liegt und auf den Stil’ton, stehend, von oben hinabblickt, so ist es bei der zweiten Begegnung Stil’ton, der sich in liegender Position, in einem Krankenhausbett, befindet, nachdem sein metaphorischer gesellschaftlicher Fall seinen Abschluss mit einem physischen Sturz von der Treppe gefunden hat. Zudem wird Iv an dieser Stelle mehrdeutig als »высокий человек«182 beschrieben – in Bezug auf seine Körpergröße, aber auch auf seine räumliche, und im metaphorischen Sinne ebenso auf seine hierarchische Position gegenüber Stil’ton –, während Stil’tons Möglichkeit überhaupt wieder zu stehen durch die Amputation seines Beins stark eingeschränkt ist. Während also im ersten Kapitel, wie gezeigt wurde, vor allem das Moment der Zeit entscheidend war, ist es im zweiten Kapitel nun der Raum, der die Handlung maßgeblich stützt. Jedoch liegt in diesem letzten Fall, anders als in den zahlreichen anderen angeführten Beispielen, keine vollständige Umkehrung der Positionen vor. Denn im Unterschied zu Stil’ton während der ersten Begegnung steht Iv nicht über dem Liegenden, sondern sitzt vor ihm,183 sodass die räumliche Distanz im Vergleich zum ersten Aufeinandertreffen vermindert wird. Dies korrespondiert erneut mit der gesellschaftlichen Stellung der beiden, denn obwohl Iv nunmehr eine Stil’ton deutlich übergeordnete Position einnimmt, so arbeitet er doch in einem Armenhospital und bleibt dadurch dieser Gesellschaftsschicht weiterhin eng verbunden. Darüber hinaus setzt sich die im ersten Kapitel implizit hergestellte kausale Verknüpfung zwischen Reichtum / Armut und Ennui / Lebenslust hier logisch fort, denn auch hinsichtlich der ursprünglich diametral entgegengesetzten Lebenseinstellungen der beiden Männer kommt es zu einer deutlichen Annäherung. Ivs Haltung hat sich nicht verändert, 180 Vgl. Foucault: Des espaces autres, 756 f. 181 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 258. 182 ZL , 596. Dt.: »hoher / hochgewachsener Mensch«. 183 Vgl. ZL , 596.

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während Stil’tons Zynismus verschwunden ist, wie sich an seiner Reaktion auf Ivs Geschichte zeigt: »›Я давно не подходил к вашему окну,‹ – произнес потрясенный рассказом Ива Стильтон, – ›давно… очень давно. Но мне теперь кажется, что там все еще горит зеленая лампа… лампа, озаряющая темноту ночи… Простите меня.‹«184 Die Veränderung in Stil’tons Haltung lässt sich in diesem Zitat an drei Aspekten erkennen. Erstens wird Stil’ton als ›erschüttert‹ beschrieben, er ist somit wieder in der Lage, Emotionen jenseits von Langeweile und Schadenfreude zu empfinden. Zweitens betrachtet er nun  – »мне теперь кажется« –185 die Lampe nicht länger als zentrales Element seines menschenverachtenden Plans, sondern sieht ihre eigentliche, positive Funktion. Drittens schließlich entschuldigt er sich sogar bei Iv für sein Handeln, scheint also aufrichtige Reue zu empfinden. Auch hier wird die Aussage durch eine hervorgehobene Position betont, denn es handelt sich um Stil’tons letzte Worte in der Erzählung, wodurch zugleich ein Abschluss der Entwicklung suggeriert wird. Stil’tons Ennui scheint somit am Ende tatsächlich durch seine Begegnung mit Iv aufgehoben zu sein, und das sogar dauerhaft – wenn auch auf gänzlich anderen Wegen als von ihm geplant. Auch die zwischen den beiden Hauptpersonen bestehende sozioökonomisch bedingte Fremdheit (Nichtzugehörigkeit), ebenso wie die damit eng verknüpfte Fremdheit (Unvertrautheit) der Lebenseinstellungen, die im ersten Kapitel sowohl implizit als auch explizit konstruiert werden, erfahren im zweiten Kapitel also eine starke Abmilderung, d. h., es liegt eine abnehmende Dynamik der Alienität durch Aufhebung von anfangs klar gezogenen Grenzen vor. Diese Aufhebung der Dichotomie der beiden Protagonisten wird auch im Chronotopos der Erzählung abgebildet. Während die erste Begegnung von Stil’ton und Iv sich als ein lediglich flüchtiges Kreuzen im Raum und Zeit zweier vollkommen gegensätzlicher Personen gestaltet, bildet das zweite Aufeinandertreffen den Beginn einer dauerhaften Zusammenarbeit. Die raumzeitliche Struktur der Erzählung dient auch in dieser Hinsicht als Spiegel der Handlung. Dem alltäglichen Fremden kommt in »Zelënaja lampa« also eine zentrale Funktion zu: Es prägt nicht nur die Ausgangskonstellation der Erzählung – zwei einander in doppelter Hinsicht fremde Männer, von denen einer zusätzlich eine Fremdheit (in) der Welt empfindet –, sondern bildet auch den Kern der Handlung, die sich um die Entwicklung dieses Fremdheitsverhältnisses dreht. Deren chiastische Struktur wird dabei sowohl explizit inhaltlich als auch implizit lexikalisch und strukturell abgebildet. 184 ZL , 597. Dt.: »›Ich bin schon lange nicht mehr an Ihr Fenster gegangen‹, sagte der von Ivs Erzählung erschütterte Stil’ton, ›lange… sehr lange. Aber jetzt scheint mir, dass dort noch immer die grüne Lampe brennt… die Lampe, die die Dunkelheit der Nacht erhellt… Verzeihen Sie mir.‹«. 185 ZL , 597; Hervorhebung von A. B. Dt.: »jetzt scheint mir«.

312 4.1.2.3

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Variationen: »Serdce pustyni«, »Vokrug sveta«, »Gladiatory«

Wie einleitend angesprochen, können die beiden analysierten Erzählungen »Propavšee solnce« und »Zelënaja lampa« als Teil eines Zyklus von Grin-Texten betrachtet werden, die das Thema des grausamen Spiels reicher, vom Leben entfremdeter und vom Ennui betroffener Männer mit anderen Menschen behandeln. Die drei wichtigsten von ihnen sollen im Folgenden noch kurz vorgestellt werden. »Serdce pustyni« Ein positives Ende sowohl für das ›Versuchsobjekt‹ als auch seinen Peiniger findet sich nicht nur in »Zelënaja lampa«, sondern auch in der Erzählung »Serdce pustyni« (1923). Der Titel kann als Anspielung auf Joseph Conrads Erzählung »Heart of Darkness« (1899; Titel der russischen Übersetzung: »Serdce t’my«)186 gelesen werden, der ebenfalls in Afrika spielt – genauer gesagt im Kongo und am Fluss Kongo,187 während die Handlung von »Serdce pustyni« im Café ›Kongo‹ ihren Anfang nimmt.188 Urheber des perfiden ›Spiels‹ und deik­ tisches Zentrum des Fremden sind in diesem Fall drei Afrikaner – allerdings mit den europäisch klingenden Namen Gart, Veber und Konsejl’189 –, die wie Choggej und Stil’ton als reich und gelangweilt dargestellt werden. Sie führen eine »лукаво-беззаботную жизнь«190 – ähnlich wie Stil’ton, »человек, не знающий забот о ночлеге и пище«,191 trinken, inmitten des afrikanischen Dschungels, Champagner, rauchen Zigarren und besitzen eine Jacht.192 Bereits im ersten Absatz der Erzählung werden sie als »три погибшие души, несомненно талантливые, но переставшие видеть зерно«193 ein-

186 Vgl. Conrad, Joseph: Heart of Darkness. Stuttgart 1984. Nina Grin berichtet, dass Grin Conrad als Schriftsteller nicht mag (vgl. Grin, Nina N.: Knigi A. S. Grina. »A. S. Grin. Napisano s 1921 g. po 1932 god.« Bibliografija proizvedenij. »Chudožniki ili kartiny, kotorye nravilis’ A. S.«, »Čto čital A. S. Grin pri mne«. Vospominanija. [1921–1932]. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 187, l. 9ob.), was nicht beweist, aber durchaus nahelegt, dass er »Heart of Darkness« in der russischen Übersetzung kennt. 187 Vgl. Conrad: Heart of Darkness, 28–31. 188 Vgl. SP, 265. Beide Texte spielen in den geheimnisvollen Tiefen des afrikanischen Urwalds und thematisieren unter anderem die Ausbeutung der lokalen Ressourcen (v. a. Elfenbein in »Heart of Darkness«, v. a. Diamanten, aber auch Elfenbein in »Serdce pustyni«). 189 Den Namen Konsejl’ (frz.: Conseil) übernimmt Grin möglicherweise aus Vernes Roman »Vingt mille lieues sous les mers« (1869–1870), in dem der Diener von Professor Aronnax diesen Namen trägt (vgl. Verne, Jules: Vingt mille lieues sous les mers. Paris 1935). 190 SP, 265. Dt.: »ränkevoll unbekümmertes Leben« (SPd, 119). 191 ZL , 594. Dt.: »Mensch, der keine Sorgen um ein Nachtquartier oder Nahrung kennt.«. 192 Vgl. SP, 265. 193 SP, 264; Hervorhebung im Original. Dt.: »drei verlorene Seelen, begabt zweifellos, aber nicht mehr imstande, den Kern zu sehen« (SPd, 118; Hervorhebung im Original).

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geführt, womit ihre Entfremdung vom Leben angedeutet wird. Die drei Männer entdecken als ihr divertissement als Mittel gegen den Ennui die »мистификаци[я]«194  – und stimmen darin mit dem »мистификатор«195 Choggej aus »Propavšee solnce« überein. Auch ihre Unterhaltung geschieht auf Kosten anderer Menschen. Beispielsweise schicken sie Tausende von Männern auf die Suche nach einem Brillanten, der gar nicht existiert; durch eine andere Lüge verursachen sie ein Dreiecks-Drama mit Todesfolge: »Эванс стал думать о Стелле и застрелился.«196 Obwohl dieser Satz graphisch durch einen Absatz von dem folgenden getrennt ist, suggeriert ihr unmittelbares Aufeinanderfolgen auch einen inhaltlichen Zusammenhang und somit die völlige Gefühlskälte der drei Männer: »Гарт, Вебер и Консейль забавлялись.«197 Später in der Erzählung werden sie sogar explizit als »холодны[е] люд[и]«198 beschrieben, und eine Aussage von Gart als »хладнокровно«199 bezeichnet. Im Zentrum der Erzählung steht ein weiteres dieser Spiele, das in sehr ähnlicher Weise wie in »Propavšee solnce« beginnt. Die reichen Männer aus »Propavšee solnce« »сидели и пили«,200 woraufhin das Opfer den Ort des Geschehens betritt: »Мальчик вошел […].«201 In »Serdce pustyni« gestaltet sich die Szene fast genauso: »Гарт, Вебер и Консейль пили. Вошел Эммануил Стиль.«202 Die ›Versuchsperson‹, Stil’, wird bereits im Moment des Eintretens explizit als gegensätzlich zu den drei Männern dargestellt: »Вошедший резко отличался от трех африканских снобов красотой, силой сложения и детской верой, что никто не захочет причинить ему ничего дурного […].«203 Die Fremdheit Stil’s gegenüber der Dreiergruppe basiert hier also nicht (bzw. nicht maßgeblich), wie in »Propavšee solnce« und »Zelënaja lampa«, auf sozialen Unterschieden, ist aber nicht weniger stark ausgeprägt. Mit der Absicht, Stil’ zu seiner Belustigung wochenlang sinnlos durch den gefährlichen Wald irren zu lassen, erzählt Konsejl’ ihm eine ausgedachte Geschichte über ein wunderschönes kleines Dorf, genannt »Сердце Пустыни«204 mitten im Urwald, vierzehn Tagesmärsche in jede Richtung von anderen Sied194 SP, 264. Dt.: »Mystifikation« (SPd, 118). 195 PS , 237. Dt.: »Mystifikator«. 196 SP, 265; Hervorhebung im Original. Dt.: »Evans begann an Stella zu denken und erschoß sich.« (SPd, 119: Hervorhebung im Original). 197 SP, 265. Dt.: »Gart, Weber und Conseil amüsierten sich.« (SPd, 119). 198 SP, 269. Dt.: »kaltherzige[…] Menschen« (SPd, 124). 199 SP, 269. Dt.: »kaltblütig« (SPd, 124). 200 PS , 238. Dt.: »saßen und tranken«. 201 PS , 238. Dt.: »Der Junge trat ein […].«. 202 SP, 265. Dt.: »Gart, Weber und Conseil tranken. Da trat Emmanuel Steele ein.« (SPd, 119). 203 SP, 265. Dt.: »Der Ankömmling unterschied sich kraß von den drei afrikanischen Snobs durch seinen schönen, kräftigen Körperbau und den […] kindlichen Glauben, daß niemand ihm Böses wollte.« (SPd, 119). 204 SP, 268. Dt.: »Herz der Wildnis« (SPd, 123).

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lungen entfernt, in dem sieben Familien ein märchenhaftes Leben führen.205 Eine genaue Wegbeschreibung gibt er ihm jedoch nicht – und erzeugt auf diese Weise ähnliche Unbestimmtheitsstellen wie Stil’ton aus »Zelënaja lampa«, die eine möglichst lange Dauer des Spiels gewährleisten. Stil’ macht sich auf den Weg, um das Dorf zu finden, und erleidet im Wald, wie zu erwarten, eine wahre Tortur: Hunger, Durst und Einsamkeit, hinzu kommen Malaria und ein Schlangenbiss.206 Als er zwei Jahre später Konsejl’ aufsucht und ihn mit seiner Lüge konfrontiert, tut er dies jedoch keineswegs, um sich zu rächen, sondern um ihm mitzuteilen, dass er das Dorf zwar nicht gefunden, aber stattdessen selbst erbaut und mit ausgewählten Menschen besiedelt habe. Ähnlich wie Iv aus »Zelënaja lampa« verkehrt Stil’ also den negativen, destruktiven Plan des vom Leben entfremdeten Mannes in einen positiven, kreativen Impuls. Als Konsejl’ ungläubig wiederholt, dass es das Dorf nicht gab – »›Но его не было. Не было.‹«207 –, antwortet Stil’: »›Был. […] Он был. Потому, что я его нес в сердце своем.‹«208 Ebenfalls ähnlich wie in »Zelënaja lampa« gestaltet sich das Ende der Erzählung für den Antihelden, da dessen zynisches Spiel letztendlich doch ein Ende des Ennui bewirkt, und zwar auch hier anders als geplant. Als Stil’ Konsejl’ nämlich von dem wundervollen Ort erzählt, den er erschaffen hat, vollzieht sich in diesem eine Wandlung: »Лицо Консейля порозовело. Давно забытая музыка прозвучала в его душе […]«209 und er erkennt: »›Я долго спал […] [.] Быть может, надо еще жить, а?‹«210 Der letzte Satz der Erzählung zeigt schließlich die Annäherung der anfangs als Gegensätze dargestellten Figuren: »Стиль улыбнулся, и Консейль понял его улыбку.«211 Sowohl in »Zelënaja lampa« als auch in »Serdce pustyni« verwandeln die eigentlichen Opfer der grausamen Spiele eben diese in Möglichkeiten für sich selbst, da sie eine aktive und kreative Grundhaltung besitzen. Damit ›retten‹ sie letztendlich auch die Täter, indem sie ihnen ihre Fremdheit (in) der Welt bewusstmachen und so einen Impuls geben, diese durch Lernen, aber auch durch die Neubestimmung der Zugehörigkeiten definierenden Grenzen, zu verringern. Interessant ist bei einem Vergleich der beiden Erzählungen mit 205 Vgl. SP, 267 f. 206 Vgl. SP, 271. 207 SP, 272; Hervorhebung im Original. Dt.: »›Aber es war nicht da. Es war nicht da.‹« (SPd, 127; Hervorhebung im Original). 208 SP, 272. Dt.: »›Es war da. […] Es war da. Weil ich es in meinem Herzen trug.‹« (SPd, 127). 209 SP, 271. Dt.: »Conseils Gesicht bekam eine rosige Farbe. Längst vergessene Musik erklang in seiner Seele […]« (SPd, 126). 210 SP, 271. Dt.: »›Ich habe lange geschlafen […] [.] Vielleicht muß man noch leben, wie?‹« (SPd, 127). 211 SP, 272. Dt.: »Steele lächelte, und Conseil verstand sein Lächeln.« (SPd, 127).

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ihrem ähnlichen Aufbau wie auch Ausgang die Verschiebung bei der Namens­ gebung der Figuren: Heißt der Held aus »Serdce pustyni« Stil’, so verbirgt sich hinter dem Namen Stil’ton der Antiheld aus »Zelënaja lampa«. »Vokrug sveta« Ebenfalls ein versöhnliches Ende, und zudem eine weit weniger zynische Ausgangssituation als die bisher vorgestellten Werke, weist die Erzählung »Vokrug sveta« auf. Sie handelt von einer Wette, die eine Abwandlung von Jules ­Vernes »Le Tour du monde en quatre-vingts jours« (1872) darstellt – und deren Protagonist Žil’ auch einen ähnlichen Vornamen trägt wie der französische Autor des Prätextes: Žil’ soll innerhalb von zwei Jahren um die Welt reisen, allerdings, anders als Phileas Fogg bei Verne, statt mit 20 000 Pfund212 ohne eine einzige Kopeke und auch ohne Reisebegleiter. Schafft er es, erhält er von dem Fabrikanten Frion die Summe von 100 000 – vermutlich, da die Rede von Kopeken ist – Rubel.213 Den Hintergrund dieser Wette bildet erneut eine große sozioökonomische Distanz zwischen den beiden Akteuren. Denn Žil’ benötigt Geld für die Fertigstellung einer Erfindung, erhält aber weder durch das Ministerium noch durch private Investoren Unterstützung. Daher macht ihm der sehr wohlhabende Frion, dabei eine große Ähnlichkeit mit den bereits vorgestellten Reichen aus Grins anderen Erzählungen dieses Zyklus aufweisend, wenn auch ohne das explizite Moment der Langeweile, »жестокой забавы ради«214 den Vorschlag, unter den genannten erschwerten Bedingungen die Welt zu umrunden. Die Erzählung setzt in dem Moment ein, als der Protagonist nicht nur pünktlich, sondern sogar eine Woche zu früh zurück in der fiktiven Stadt Zurbagan, dem Ausgangspunkt seiner Reise, eintrifft. Er ist glücklich, die enormen Strapazen durchgestanden und durch den Gewinn der Wette seine Armut endlich hinter sich gelassen zu haben: »Прекрасной феерией развернулось в его душе опасное прошлое.«215 Dann jedoch folgt die tiefe Enttäuschung: Frion lässt Žil’ ausrichten, dass er durch Spekulationen sein gesamtes Vermögen verloren habe und daher den vereinbarten Wetteinsatz nicht bezahlen könne. In diesem Fall bildet also die sozioökonomische Fremdheit zwischen Žil’ und Frion nicht nur die Grundlage für das grausame Spiel, sondern iro-

212 Vgl. Verne, Jules: Le tour du monde en quatre-vingts jours. In: Ders.: Voyages extraordinaires. Michel Strogoff et autres romans. Édition publiée sous la direction de Jean-Luc Steinmetz, avec la collaboration de Jacques-Remi Dahan, Marie-Hélène Huet, et Henri Scepi. Paris 2017, 1–253, hier 21. 213 Vgl. VS , 611. 214 VS , 612. Dt.: »um eines grausamen Vergnügens willen«. 215 VS , 612. Dt.: »Als wunderschönes Märchen entspann sich in seiner Seele die gefährliche Vergangenheit.«.

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nischerweise führt nun ausgerechnet ihre explizit formulierte Aufhebung – »неудачные спекуляции ныне совершенно уравняли с вами Фриона в отношении материальном«216  – unvorhergesehenerweise zu einem noch grausameren Ende. Žil’ ist angesichts dieser Wendung fassungslos: »[…] он летел в пропасть. Удар был невероятно жесток.«217 Dann jedoch erhält der Protagonist ein neues Angebot, das in mehrfacher Hinsicht eine Steigerung der ersten Vereinbarung darstellt. Es stammt von Asper,218 dessen Reichtum eine nicht mehr fassbare Dimension erreicht hat. Zur Veranschaulichung dessen bedient der Erzähler sich (notwendigerweise) eines Vergleichs – und bemüht dabei ausgerechnet den Planeten Sirius, dessen Bewohner Simmel als Beispiel für eine Nicht-Beziehung und damit auch Nicht-Fremdheit dienen: »Аспер, перейдя те пределы, за которыми понятие богатства так же неуловимо сознанием, как расстояние от Земли до Сириуса […]«.219 Sind Žil’ und Frion »в отношении материальном«220 nun also plötzlich gleichgestellt, so handelt es sich bei Asper um den »[в]ладыка материи«,221 dessen sozioökonomische Distanz zu Žil’ kaum mehr zu beziffern ist. Er schlägt dem Protagonisten eine neue Wette vor, bei der dieser ein weiteres Mal, ebenfalls in zwei Jahren, um die Welt reisen soll, sodass sich mit der bereits absolvierten ersten Umrundung sowohl die Zeit als auch die Strecke verdoppeln; dafür verdoppelt Asper seinerseits auch den Wetteinsatz. Das Wesen dieses vermeintlich gutgemeinten Vorschlags spricht der Protagonist explizit aus: »›[…] предложение ваше бесчеловечно‹«222  – denn angesichts des unsagbaren Reichtums wäre es für Asper ein Leichtes gewesen, die von Frion nicht ausbezahlte Summe direkt zu übernehmen. Dass Asper ebenfalls einen grausamen Charakter besitzt, geht auch aus der nebenbei eingestreuten Information hervor, dass er nach der Berühmtheit Neros strebt.223 Zudem verlangt er von Žil’, dass dieser noch am selben Tag wieder aufbricht 216 VS , 614. Dt.: »missglückte Spekulationen haben Frion Ihnen in materieller Hinsicht jetzt gänzlich gleichgestellt«. 217 VS , 614; Hervorhebung von A. B. Dt.: »[…] er flog in einen Abgrund. Der Schlag war unwahrscheinlich grausam.«. 218 Ein inhaltlicher Zusammenhang mit dem Räuber Asper aus der Erzählung »Sozdanie Aspera« (1917; dt.: »Die Schöpfung Aspers«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Sozdanie Aspera. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 59–66. Kürzel: SA) liegt nicht vor. 219 VS , 615. Dt.: »Asper, der jene Grenzen überschritten hatte, jenseits derer das Verständnis von Reichtum für das Bewusstsein ebenso unfassbar wie die Entfernung von der Erde zum Sirius ist […]«. 220 VS , 614. Dt.: »in materieller Hinsicht«. 221 VS , 615. Dt.: »Herrn der Materie«. 222 VS , 616. Dt.: »›[…] Ihr Vorschlag ist unmenschlich‹«. 223 Vgl. VS , 615.

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und somit seine Ehefrau Assol’224 gleich wieder verlässt – für Asper nichts weiter als ein »[к]априз«.225 Dennoch willigt Žil’, der aufgrund seiner Armut keinen anderen Ausweg sieht, in die neue Wette ein und macht sich auf den qualvollen Weg wieder hinaus aus Zurbagan, während dem ihm bewusstwird, wie gigantisch sein Unternehmen ist, welche Krankheiten, Erschöpfung, endlosen Märsche und andere Strapazen ihm nun ein weiteres Mal bevorstehen.226 Daraufhin kommt es zu einer zweiten unerwarteten Wendung: Asper versteht Žil’s Verzweiflung und hat ein Einsehen. Er holt den Protagonisten unterwegs ein und teilt ihm mit, dass er den Wetteinsatz sofort erhalte, da er ohnehin gewinnen werde und der Zeitaufwand von zwei Jahren daher nur eine leere Formalität sei.227 Dank dieses Ausgangs ist »Vokrug sveta« die positivste Erzählung der hier vorgestellten Gruppe, da sie nicht nur ein gutes Ende für den als Unterhaltungsobjekt benutzten armen Mann hat, sondern auch einen Reichen aufweist, der von sich aus und frühzeitig die Grausamkeit seines Handelns erkennt. »Gladiatory« Ihr gegenüber steht die negativste Erzählung, »Gladiatory«, in der Choggej und der Arzt Fergjuson aus »Propavšee solnce« ein weiteres Mal gemeinsam auftreten, wobei Letzterer dieses Mal die Rolle des diegetischen Erzählers einnimmt. Choggej zeigt im Gegensatz zu Asper nicht das geringste Ein­ sehen oder gar Reue über seine Taten; zudem erreichen diese hier noch einmal eine gänzlich neue Qualität.228 Darin liegt wohl auch der Grund, warum Fergjuson, der Choggej in »Propavšee solnce« noch als treuer Assistent bei dessen Menschenexperiment zur Seite steht, in »Gladiatory« seine Verbrechen offenlegt.229 Wie schon der Erzähler in »Propavšee solnce« lässt Fergjuson von Beginn an keinerlei Zweifel an der Schlechtigkeit des Antihelden. Bereits im zweiten 224 Mit dem gleichnamigen Mädchen aus »Alye parusa« besteht kein erkennbarer Zusammenhang. 225 VS , 617. Dt.: »Laune«. 226 Vgl. VS , 617. 227 Vgl. VS , 619. 228 Varlamov stellt in ähnlicher Weise die beiden im Jahr 1923 publizierten »рассказ[ы] о мистификаторах« (Varlamov: Aleksandr Grin, 232. Dt.: »Erzählungen über Mystifikatoren«) »Serdce pustyni« und »Propavšee solnce« einander direkt gegenüber: »Насколько радостна история первая, настолько же мрачна вторая. Два лика романтизма Александра Грина.« (ebd. Dt.: »So fröhlich die erste Geschichte ist, so düster ist die zweite. Zwei Gesichter der Romantik Aleksandr Grins.«). Varlamov benennt die zweitgenannte Erzählung hier korrekt, an anderer Stelle spricht er fälschlicherweise von »­Pogasšee solnce« (vgl. ebd., 370). 229 Die beiden Erzählungen stammen aus demselben Jahr, aufgrund der Rolle Fergjusons ist die Annahme einer umgekehrten Reihenfolge aber wenig sinnvoll.

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Satz kündigt er an, Enthüllungen zu machen »[…] об Авеле Хоггее, человеке, придумавшем и выполнившем столь затейливые и грандиозные преступления, – единственно удовольствия и забавы ради […]«.230 Die Beschreibung deckt sich mit der aus »Propavšee solnce«, bis hin zur Betonung dessen, dass er die Verbrechen rein aus Vergnügen begeht. Auch seine Vorgehensweise bei der Vorbereitung seiner Untaten ist dieselbe: Ebenso wie er in der anderen Erzählung sein Versuchsobjekt Robert dessen Mutter abkauft, gibt er auch in »Gladiatory« viel Geld aus »на покупку людей«.231 Der Erzähler Fergjuson schildert einen Abend mit geladenen Gästen in der Villa Choggejs, der so oder so ähnlich immer wieder stattfindet.232 Es handelt sich dabei um höchst exklusive Veranstaltungen, zu denen nicht mehr als ein halbes Dutzend ausgewählter Personen Zutritt hat. Diese Leute sind »подобны[e] самому Авелю«,233 und zwar sowohl hinsichtlich ihres Reichtums als auch ihrer höchst fragwürdigen, oder vielmehr nicht vorhandenen, ethischen Grundsätze. Unter diesen Freunden, »имена которых шуршат сухо, как банковые билеты«,234 ist auch ein Asper – möglicherweise der aus »Vokrug sveta«, dessen Läuterung in diesem Fall offenbar nicht von Dauer war. Der Gastgeber Choggej gibt das Motto des Abends vor: »Пусть будет сегодня Рим«.235 Zunächst scheint es, als seien damit ›nur‹ die Darreichung der Speisen auf römischen Triclinia236 und eine ausschweifende Orgie gemeint: mit Essen in absurden Mengen – »это была более декорация, чем ужин – едва ли тысячную часть всего могли съесть Хоггей и его гости, – но он хотел полного впечатления«237  –, mit dunkelhäutigen Sklaven, Alkohol, Tänzerinnen und nicht näher bezeichneten Ausschweifungen.238 Dann jedoch wird klar, was sich eigentlich hinter dem Motto des Abends verbirgt, nämlich ein Gladiatorenkampf wie im antiken Rom, ausgeführt von zwei jungen ­Athleten, »купленные Хоггеем для смертельной борьбы«.239 Wie in »Propavšee solnce« kauft Choggej also Menschen, die zu seiner Unterhaltung mit

230 GL , 245. Dt.: »[…] über Avel’ Choggej, einen Menschen, der so bizarre und grandiose Verbrechen ersonnen und ausgeführt hat – einzig um der Freude und des Vergnügens willen […]«. 231 GL , 245. Dt.: »für den Kauf von Menschen«. 232 Vgl. GL , 245. 233 GL , 245. Dt.: »Avel’ selbst ähnlich«. 234 GL , 245 f. Dt.: »deren Namen trocken knistern, wie Banknoten«. 235 GL , 245. Dt.: »Es sei heute Rom«. 236 Vgl. GL , 245. 237 GL , 245; Hervorhebung im Original. Dt.: »das war eher eine Dekoration als ein Abendessen – kaum ein Tausendstel von allem konnten Choggej und seine Gäste aufessen –, aber er wollte den vollen Eindruck«. 238 Vgl. GL , 246. 239 GL , 246. Dt.: »von Choggej für einen tödlichen Kampf gekauft«.

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nicht geringer Wahrscheinlichkeit ihr Leben verlieren.240 Die Bedingungen des Kampfes sind hochgradig zynisch und bestätigen ein weiteres Mal, dass für Choggej in seinem ethischen Nihilismus Geld der einzige Wert ist, den er anerkennt: Der Sieger des Kampfes erhält 500 000 (in einer unbekannten Währung), die Familie des getöteten Unterlegenen die doppelte Summe.241 Darüber hinaus werden auch in diesem Fall Wetten zwischen den anwesenden Reichen auf den Ausgang des ›Unterhaltungsprogramms‹ abgeschlossen; Choggej, »которому было все равно«,242 der also selbst während dieser eigentlich als Flucht aus seinem Ennui dienenden Situation nicht in der Lage ist, intensive Emotionen zu empfinden, setzt eine Million.243 Wie stark die Entfremdung und Empathielosigkeit aller Zuschauer ausgeprägt ist, zeigt sich, als der tödliche Schwertkampf ihren Zustand einer »пьяной флегмы«244 in einen »кровожадн[ый] азарт[…]«245 verwandelt und sie »криками и жестами ободря[ют] самоубийц«.246 Doch wie schon in »Propavšee solnce« ist Choggejs Interesse an seinen ›Versuchsobjekten‹ nur von kurzer Dauer. Als der Kampf nicht schnell genug zum Tod eines der 240 In der Erzählung »Zurbaganskij strelok« (1913; dt.: »Der Zurbaganer Schütze«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Zurbaganskij strelok. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 2. Moskva 1980, 211–244. Kürzel: ZU) findet sich ebenfalls das Motiv des Spiels mit dem Leben aus Langeweile, hier allerdings mit dem eigenen. Die Mitglieder des nihilistischen »Союз для никого и ничего« (ZU, 222. Dt.: »Verband für niemanden und nichts«) stellen sich verschiedenen potentiell tödlichen Mutproben; z. B. spielen sie Russisches Roulette (vgl. ZU, 224 f.): »Мы производим опыты. Цель этих опытов – испытать, сколько дней может прожить человек, пускаясь в различные рискованные предприятия.« (ZU, 222. Dt.: »Wir führen Experimente durch. Das Ziel dieser Experimente ist  – zu testen, wie viele Tage ein Mensch überleben kann, der sich auf verschiedene riskante Unternehmungen einlässt.«). Auch hier handelt es sich offenbar um eine Gruppe reicher Männer, denn Hindernisse werden ebenfalls mit Geld beseitigt: »›Деньги пустят […]‹« (ZU, 222. Dt.: »›Das Geld wird [uns] hineinlassen […]‹«). In abgeschwächter Form ist das Motiv auch in der Erzählung »Smert’ Romelinka« (1910) enthalten, in der sich der Protagonist im Gegensatz zu »Zurbaganskij strelok« aber nicht absichtlich in Lebensgefahr begibt. Es handelt sich dabei um eine weitere Geschichte über einen reichen, gelangweilten, unzufriedenen Mann. Romelink lenkt sich über Jahre hinweg durch ständiges Reisen von seinem unglücklichen Leben ab, nimmt aber auch die in der Fremde gewonnenen Eindrücke weitgehend gleichgültig auf. Erst als sein Schiff in einen schweren Sturm gerät und er im Wasser um sein Überleben kämpft, kehrt seine Fähigkeit, intensive Emotionen zu empfinden, zurück. Für einen Moment halluziniert Romelink von seiner Rettung auf einer Insel, wird von Freude durchströmt und fühlt sich wie neugeboren; dann aber kehrt sein Geist in die Realität zurück und sein Körper wird endgültig vom eisigen Wasser verschluckt (vgl. SM , 395–397). 241 Vgl. GL , 246. 242 GL , 246; Hervorhebung im Original. Dt.: »dem alles egal war«. 243 Vgl. GL , 247. 244 GL , 247. Dt.: »betrunkenen Phlegmas«. 245 GL , 247. Dt.: »blutrünstigen Eifer«. 246 GL , 247. Dt.: »mit Schreien und Gesten die Selbstmörder ermutigen«.

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Gladiatoren führt, ruft er ihnen zu: »›К делу! […] убей его! Я плачу только за короткие удовольствия!‹«247 und Asper verlangt: »›Ударьте их в зад!‹«248 Die Gladiatoren aber, die auf ehrbare Weise kämpfen, sind nicht bereit, so vorzugehen – und entschließen sich spontan zur Rebellion. Der ältere der beiden ruft dem jüngeren zu: »›[…] Я продал жизнь, но не продавал чести […]‹«.249 Daraufhin stürzen sie sich mit ihren Schwertern auf die Zuschauer und töten oder verletzen sie, bis sie selbst von einem der reichen Männer erschossen werden. Im Sterben stößt einer der Gladiatoren verächtlich die Worte hervor: »›Виват, Цезарь! Умирающие приветствуют тебя!‹«250 Am Ende der Erzählung ist der Raum voll mit Blut und Leichen, nur drei der Zuschauer überleben den Abend. Die bidirektionale Fremdheit (Nichtzugehörigkeit) zwischen den beiden Gladiatoren und der Gruppe der Reichen, die zunächst das Leben der für einen tödlichen Kampf gekauften Männer bedroht, nach deren Rebellion aber auch das Leben der Zuschauer, führt letztlich also zur Anwendung der äußersten der zur Verfügung stehenden Umgangsstrategien mit dem Fremden: die – in diesem Fall sogar gegenseitige – Vernichtung. Die hier vorgestellte Gruppe von Erzählungen über die Untaten von zynischen, gelangweilten Menschen, deren Gegenspieler bzw. Opfer nur in einem Teil der Texte genügend Gewicht erhalten und, wie es etwa in »Gladiatory« nicht gegeben ist, die richtigen Mittel verwenden, um die Stimmung des Werks zum Positiven zu wenden, steht in diametralem Gegensatz zu dem verklärten Bild Grins als Autor des Schönen und Guten, dessen Helden der (sowjetischen) Jugend als Vorbilder für ethisches Handeln dienen sollen. Vielmehr verarbeitet Grin hier die durch die intensive Nietzsche-Rezeption in Russland weitverbreitete Idee eines ethischen Nihilismus, in dem keinerlei Werte anerkannt werden. Besonders interessant ist dieser Widerspruch vor dem Hintergrund, dass gleich drei der Erzählungen mit diesem Motiv, darunter die beiden negativsten (»Gladiatory« und »Propavšee solnce« sowie »Serdce pustyni«) im selben Jahr – 1923 – erscheinen wie »Alye parusa«, also das Werk, das als Höhepunkt und Essenz von Grins Schaffen gilt: als ein Märchen über die Erfüllung von Wünschen allein durch den unerschütterlichen Glauben daran und den Sieg des Guten über das Böse. Die Analyse des alltäglichen Fremden in Gestalt des Ennui sowie der sozioökonomischen Distanz zwischen den handelnden Figuren zeigt, dass selbst der niedrigste Grad von Fremdheit, der in die eigene Ordnung eingebettet ist, 247 GL , 247. Dt.: »›Zur Sache! […] töte ihn! Ich zahle nur für kurze Vergnügungen!‹«. 248 GL , 247. Dt.: »›Stoßt ihnen in den Rücken!‹«. 249 GL , 247. Dt.: »›[…] Ich habe mein Leben verkauft, aber ich habe nicht meine Ehre verkauft […]‹«. 250 GL , 247. Dt.: »›Vivat, Cäsar! Die Todgeweihten [wörtl.: Sterbenden] grüßen dich!‹«; lat.: ›Morituri te salutant.‹.

Das alltägliche Fremde 

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gravierende Auswirkungen haben kann. Die Nichtzugehörigkeit der armen oder zumindest deutlich ärmeren Protagonisten zur Gruppe der Reichen bewirkt bei den Letztgenannten in allen hier vorgestellten Texten eine Versicherung des Eigenen durch eine emphatische Bestätigung der bestehenden Grenzen. Dies geschieht in doppelter Form durch den Ausschluss der ›Versuchspersonen‹ nicht nur aus der Eigengruppe, sondern implizit sogar aus der übergreifenden Kategorie der Menschen, indem sie im Zuge der Experimente zu ›Spielzeugen‹ verdinglicht werden. Für die Reichen ist diese Fremdheit also als positiv zu bewerten, da sie ihnen als Grundlage für ihr eigenes Amüsement dient; die in diesem Fall vorliegende reziproke Fremdheit der Armen dagegen als äußerst negativ. Ebenfalls sehr negativ stellt sich die Fremdheit in Gestalt des Ennui dar, auf die die Betroffenen mit der Strategie der Verhandlung reagieren: Durch Ablenkung soll die Unvertrautheit der Welt und das Nichtzugehörigkeits­ gefühl in der Welt abgemildert werden. In keinem der hier betrachteten Texte ist diese Strategie jedoch im eigentlichen Sinne erfolgreich, führt in einigen Erzählungen aber auf Umwegen zu einer tatsächlichen Abnahme der Fremdheit. Nicht in allen Erzählungen Grins geht der Ennui allerdings mit zynischen, menschenverachtenden ›Spielen‹ einher; in einigen anderen, deren Protagonisten in der Regel finanziell deutlich weniger gut gestellt sind, gestaltet sich der uchod aus dem Ennui nicht als geistiger, sondern räumlicher Ausbruch.251 In manchen dieser Fälle gelingt dieser – so zum Beispiel in der im nächsten Kapitel analysierten Erzählung »Dalëkij put’«; in anderen dagegen kommt der gewünschte Weggang nicht über das Stadium der theoretischen Vorstellung hinaus  – etwa in der ebenfalls noch genauer zu betrachtenden Erzählung »Vozdušnyj korabl’« (1909; dt.: »Das Luftschiff« bzw. »Das Geisterschiff«).252 Das strukturell Fremde in Gestalt fremder Räume, in die die Protagonisten der Werke gehen oder in denen sie sich aufhalten, sowie fremder Menschen und Kulturen, auf die sie dort treffen, steht im Fokus des folgenden Kapitels.

251 Luker weist noch auf eine dritte Variante des uchod aus Langeweile, Unzufriedenheit und Frustration hin: Einige Helden Grins verwandeln diese in einen Antrieb für mutige Taten im Kontext gefährlicher Situationen, in die sie sich absichtlich bringen. Valuėr aus »Zurbaganskij strelok« etwa beteiligt sich freiwillig an der Verteidigung eines Berg­passes und findet dadurch geistige Regeneration (zu den zahlreichen autobiographischen Elementen in »Zurbaganskij strelok« vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 104 f.); Reg aus »Sinij kaskad Telluri« durchbricht illegal den Quarantänering um ein von der Pest heimgesuchtes Dorf, um ein Paket für einen Freund zu holen (vgl. Luker: Alexander Grin. A Survey, 350). 252 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Vozdušnyj korabl’. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 208–213. Kürzel: VK .

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4.2

Konzeptionen des Fremden in der Prosa Aleksandr Grins: Textanalysen

Das strukturell Fremde

Das strukturell Fremde begegnet in seiner literarischen Darstellung vor allem in der Reiseliteratur: als fremde Länder, Menschen, Kulturen. Interessanterweise geht das strukturell Fremde in seiner extremen Ausprägung nicht selten in das radikal Fremde über: In Reiseberichten entspricht Letzterem eine komplette Nichterwähnung des nichtsemiotisierbaren Fremden oder eine Mythisierung, in der sich Tatsachen mit Legenden vermischen, Ersteres hingegen schlägt sich in den von Lotman genannten Attribuierungen als ›chaotisch‹, ›kulturlos‹, ›wild‹, ›bedrohlich‹ usw. nieder. In den topographischen Darstellungen früher Landkarten, die seit den Ursprüngen des Reisens angefertigt wurden, manifestiert sich radikale Fremdheit als sprichwörtlich gewordener weißer Fleck auf der Karte: Sie ist jenseits des Fass- und damit des Darstellbaren.253 Strukturell fremde Räume werden dagegen häufig unvollständig, nicht oder wenig strukturiert abgebildet. Diese Verknüpfung von strukturell und radikal Fremdem ist auch in einigen der im Folgenden vorgestellten Werke Grins zu beobachten. Darüber hinaus liegt aber auch eine Verbindung mit dem intrasubjektiven radikal Fremden vor: In der Moderne wird die Reise in fremde Länder durch die Reise ins eigene, oft fremde Innere abgelöst. Gerade diese inneren Reisen finden sich auch bei Grin in zahlreichen Erzählungen und gehen vielfach mit einem Gefühl von Unheimlichkeit einher. 4.2.1

Erscheinungsformen des strukturell Fremden bei Grin – Überblick

Das strukturell Fremde bei Grin umfasst vor allem das geographisch und / oder kulturell Fremde. Die russische Kultur, die bei der Bestimmung des Fremden sowohl für den (konkreten und abstrakten) Autor Grin als auch für den abstrakten Leser seiner Werke das strukturell Eigene darstellt, kennt drei grundlegende Arten bzw. Räume des kulturell Fremden: Europa, Asien sowie ›exotische‹ Regionen der Welt. Während in der russischen Kultur vor allem die beiden Erstgenannten eine entscheidende Rolle für die kollektive Identitäts­bildung und kulturelle Verortung spielen, indem sie als Räume der Abgrenzung und Projektion dienen, kommt in Grins Werk auch dem exotischen Fremden eine große Bedeutung zu. Das europäische Fremde begegnet dem Leser in Grins Prosa vor allem in Form von fiktiven Personen- und Ortsnamen, die nicht selten einen engli253 Vgl. hierzu auch das Verständnis von Topographie als kulturell orientierter Raum (vgl. Böhme: Einleitung, XX).

Das strukturell Fremde 

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schen, französischen, deutschen etc. Klang haben, wie schon in einigen der in Kapitel 4.1 vorgestellten Erzählungen deutlich wurde. Diese fremdklingenden, oft aber dennoch geographische oder kulturelle Assoziationen weckenden Namen sind Teil von Grins Spiel mit dem (strukturell) Eigenen und Fremden. Wie die weiteren Ausführungen zum Konzept Grinlandija und die anschließenden Textanalysen verdeutlichen werden, unterlaufen Grins Erzählungen Versuche einer Verortung und Zuordnung dieser Figuren und Schauplätze auf der Grundlage ihrer Namen – und damit der Schaffung von Orientierung – immer wieder systematisch.254 Einige Handlungen seiner Werke sind allerdings auch an realen europäischen Schauplätzen angesiedelt, z. B. in der Erzählung »Vozvraščenie« (1917), in der der Protagonist Ol’sen nach einer Seereise nach Norwegen zurückkehrt, oder in der bereits analysierten Erzählung »Zelënaja lampa«, die in London spielt. Das strukturell Fremde in asiatischer Ausprägung findet sich bei Grin vergleichsweise selten, dafür aber mit der deutlichsten axiologischen Markierung. Während europäisches und exotisches Fremdes teils positiv, teils negativ und teils neutral dargestellt werden, tritt das asiatische Fremde auffällig oft mit negativer Bewertung auf. In der Erzählung »Ubijstvo v Kunst-Fiše« (1915; dt.: »Der Mord im Vorort Kunstfisch«)255 etwa kommt eine kleine Samuraifigur aus Porzellan vor, die mit stereotypischen asiatischen Attributen beschrieben wird: »Желтое лицо с острыми косыми глазами и свисавшими кончиками черных усов, под которыми змеилась тонкая азиатская улыбка […]«.256 Die Figur trägt zwei Säbel,257 wodurch sie bereits bei der ersten Erwähnung mit potentieller Gewalt und Bedrohung verknüpft wird. Nachdem die beiden Protagonisten der Erzählung unter mysteriösen Umständen ermordet wurden, erfährt der Leser am Ende der Erzählung, dass ihre Wunden »точный вид сабельных ударов«258 aufweisen, was – verstärkt durch das Detail, dass es sich um zwei Opfer handelt und der Samurai zwei Säbel trägt – eine Täterschaft der 254 Zu Eigennamen bei Grin, die Assoziationen mit Elementen der außerliterarischen Wirklichkeit oder anderen literarischen Werken hervorrufen vgl. Fomin, A. A.: Imja kak priëm: reminiscentnyj onim v chudožestvennom tekste. In: Izvestija Ural’skogo gosudarstvennogo universiteta 28 (2003), 167–181. 255 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Ubijstvo v Kunst-Fiše. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 4. Moskva 1980, 204–208. Kürzel: UK . 256 UK , 206. Dt.: »Das gelbe Gesicht mit den schrägen Schlitzaugen und den herabhängenden Enden des schwarzen Schnurrbarts, unter dem sich ein feines asiatisches Lächeln schlängelte […]« (Grin, Alexander: Der Mord im Vorort Kunstfisch. Aus dem Russischen von Renate Landa. In: Ders.: Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1989, 162–171, hier 167. Kürzel: UKd). 257 Vgl. UK , 206. 258 UK , 208. Dt.: »allem Anschein nach Säbelhiebe« (UKd, 170); wörtl.: »die präzise Form von Säbelhieben«.

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Konzeptionen des Fremden in der Prosa Aleksandr Grins: Textanalysen

asiatischen Porzellanfigur suggeriert. Weit weniger rätselhaft gestaltet sich die Ermordung eines jungen Mädchens in ihrem gemieteten Zimmer durch einen Messerstich in den Rücken in der Erzählung »Meblirovannyj dom« (1916; dt.: »Das möblierte Haus«).259 Ein Architekturstudent mit asiatischem Aussehen260 rekonstruiert den Mord als Verzweiflungstat aufgrund einer unerwiderten Liebe zu dem Mädchen – und wird am Ende selbst als Mörder überführt. Auch die eigenen Fremden, die russischen Asiaten, werden häufig mit Gewalt und Aggression assoziiert. Der russische Protagonist Evstignej aus der Erzählung »Kirpič i muzyka« (1907) gerät im Ural – also ausgerechnet an der geographischen Grenze zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil Russlands – in einen Konflikt mit Tataren. Einer von ihnen droht, ihn zu erstechen: »Узкий, острый нож блеснул в его руках, и глаза вспыхнули спокойной, беспощадной жестокостью.«261 Der Russe Evstignej grenzt sich zuvor demonstrativ von den Tataren ab, indem er in ihrer Gegenwart Schweinefleisch isst, was den muslimischen Tataren verboten ist,262 und Christus anruft.263 Allerdings verschwimmen die Grenzen zwischen strukturell Eigenem und Fremdem, und zwar von beiden Seiten her. Denn einer der Tataren »ругался русской и татарской бранью«,264 während der russische Protagonist »садился на нары, поджав ноги по-татарски«.265 Im zweiten Teil der Erzählung ist es schließlich kein Asiate, sondern der – zuvor asiatische Verhaltensweisen zeigende – Russe Evstignej, der als Aggressor auftritt, indem er einen Ziegelstein durch ein Fenster wirft.266 Dem exotischen Fremden kommt in Grins Werk eine für die russische Literatur ungewöhnlich ausgeprägte Rolle zu. Ähnlich wie im Fall des europäischen Fremden begegnet es sowohl in Gestalt realer geographischer Orte als auch als Bestandteil fiktiver Geographien. Ein Beispiel für erstere Variante ist etwa Alexandria aus der unten noch genauer vorgestellten Erzählung »Zoloto i šachtëry«, einen fiktiven Ort mit exotischer Geographie und Kultur stellt z. B. die Insel Farfont aus der Erzählung »Otravlennyj ostrov« dar, gelegen auf 41° 17’ südlicher Breite.267 Das unter dem Begriff Grinlandija bekannt ge­ 259 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Meblirovannyj dom. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 442–450. Kürzel: ME ; alternativer Titel: »Romantičeskoe ubijstvo« (dt.: »Ein romantischer Mord«). 260 Vgl. ME , 445. 261 KM , 52. Dt.: »Ein schmales, scharfes Messer glänzte in seinen Händen, und die Augen blitzten in ruhiger, erbarmungsloser Grausamkeit auf.«. 262 Vgl. KM , 49. 263 Vgl. KM , 52. 264 KM , 49. Dt.: »fluchte mit russischen und tatarischen Schimpfworten«. 265 KM , 49. Dt.: »sich auf die Pritsche setzte und dabei die Beine auf tatarische Art unterschlug«. 266 Vgl. KM , 59. 267 Vgl. OO, 570.

Das strukturell Fremde 

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wordene fiktive Land weist sowohl europäische als auch exotische Ausprägungen des strukturell Fremden auf und verknüpft diese darüber hinaus mit peripheren Elementen des Eigenen, z. B. in Form von Übereinstimmungen fiktiver Orte mit den realen Hafenstädten der Krim. 4.2.2

Das Konzept Grinlandija

4.2.2.1

Die Problematik des Konzepts Grinlandija

Das von Kornelij Zelinskij 1934 begründete Konzept Grinlandija bezieht sich auf Grins häufige Wahl strukturell fremder, oft exotischer Schauplätze und gilt, wie in Kapitel 2.2.5 dargestellt, als eines der charakteristischsten Merkmale des ›Romantikers‹ Grin. Allerdings ist das Konzept ebenso problematisch wie weitverbreitet und soll daher einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Ausgangspunkt der mit dem Begriff Grinlandija verbundenen Problematik ist, dass er in drei unterschiedlichen Verständnissen gebraucht wird, was allerdings so gut wie nie reflektiert wird. Erstens umfasst Grinlandija im engsten Sinne nur diejenigen Orte, die in mehreren Werken Grins vorkommen, sowie mit ihnen räumlich verknüpfte topographische Elemente. Beispiele hierfür sind etwa die Städte Zurbagan, Liss, San-Riol’, Gel’-G’ju oder Poket mit ihren umliegenden Bergen, Buchten, Ortschaften etc. Zweitens wird mit dem Begriff Grinlandija generell jeder Schauplatz Grins bezeichnet, der durch einen in der Regel fremdklingenden Phantasienamen als fiktiv markiert ist. Charakteristisch hierfür ist z. B. die Bestimmung der Insel Reno und der Kolonie Lanfier aus den gleichnamigen Erzählungen (»Ostrov Reno«, »Kolonija Lanfier«) als Beginn der Entwicklung Grinlandijas, obwohl beide Orte später in keinen weiteren Prosatexten Grins mehr vorkommen. Drittens schließlich fallen im weitesten Verständnis unter Grinlandija sämtliche Handlungsschauplätze, die nicht durch entsprechende Toponyme explizit als ›russisch‹ markiert sind, d. h. auch Darstellungen von in der außerliterarischen Welt real existierenden Orten und Räumen. Die erstgenannte Variante entspricht als einzige der rekonstruierbaren Intention des Autors und findet sich zugleich am seltensten in der Rezeption – vermutlich, weil sie nur einen relativ kleinen Teil von Grins Werken miteinschließt. Zwar konzentriert sich die Grin-Rezeption ohnehin hauptsächlich auf Grins Romane und seine Povest’ »Alye parusa«, auf deren Haupt- oder Nebenschauplätze das Kriterium der mehrfachen Wiederholung und räum­lichen Verknüpfung zutrifft, aber eben nicht ausschließlich, sodass ein Gebrauch dieser engsten Bedeutungsvariante relativ rar ist. Sie klingt unter anderem bei Kobzev an, der seine Aussage, dass die Entwicklung Grinlandijas in »Zur-

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baganskij strelok« (1913) beginne, damit begründet, dass Zurbagan den ersten – d. h. den ersten in mehreren Werken vorkommenden – Ort Grinlandijas darstelle.268 Auch für Kovskij manifestiert sich die Einheit der fiktiven Welt Grins unter anderem darin, dass dieselben Städte in verschiedenen Werken zu finden sind.269 Tatsächlich ist aufgrund der in unterschiedlichen Werken auftretenden identischen Toponyme davon auszugehen, dass diese Orte von Grin als Bestandteile einer intertextuellen fiktiven Topographie intendiert sind, weshalb im Folgenden von diesem engsten Begriffsverständnis ausgegangen wird, sofern dies nicht anderweitig markiert ist. Jedoch liegen, wie unten gezeigt wird, selbst hier bisweilen Inkonsistenzen in der Beschreibung der Orte vor. Deutlich weiter verbreitet ist die zweite Begriffsverwendung von G ­ rinlandija. Luker etwa, der dem Thema mehrere Aufsätze widmet, identifiziert es als einen Subkontinent, der allmählich entsteht und erst im Verlauf der 1920er Jahre vollständig entwickelt ist, da sich die fiktiven Schauplätze in früheren Werken wie »Ostrov Reno« und »Kolonija Lanfier« noch in einem ›geographischen Vakuum‹ befinden. Erst später, vor allem in den Romanen, entsteht ihm zufolge mit dem mehrmaligen Auftreten von Schauplätzen in unterschiedlichen Werken ein detaillierteres Bild Grinlandijas.270 Luker zählt also sowohl einmalig als auch wiederholt vorkommende fiktive Orte zu Grin­ landija, betrachtet Letztere aber als seinen Kern. Eine sehr ähnliche Sichtweise vertritt Naumann, die darauf hinweist, dass Grinlandija bereits in den frühen Erzählungen Grins verankert ist und sich langsam zu den Schauplätzen der Werke der 1920er Jahre entwickelt, in denen es am besten beschrieben ist. Sie konzentriert sich in ihrer Darstellung ebenfalls auf Grins Romane und »Alye parusa«.271 Gegen ein solches umfassenderes Verständnis Grinlandijas unter Einbeziehung sämtlicher fiktiver Orte spricht aber, dass Grin seine fiktiven Topographien nie selbst unter einem Namen zusammenfasst,272 was darauf hinweist, 268 Vgl. Kobzev: Roman Aleksandra Grina, 9. Die Aussage Kobzevs ist nicht korrekt, denn die Stadt Zurbagan findet sich bereits 1912 in der Erzählung »Luža borodatoj svin’i« (dt.: »Die Pfütze des bärtigen Schweins«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Luža borodatoj svin’i. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 663–668, hier 666. Kürzel: LB). Entscheidend ist hier aber das darin zum Ausdruck kommende Verständnis Grinlandijas als eine fiktive Geographie, die durch in verschiedenen Werken wiederholt auftretende Orte entsteht. 269 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 116. 270 Vgl. Luker: Alexander Grin’s Grinlandia, 192; vgl. dazu auch Luker: Alexander Grin, 111. 271 Vgl. Naumann: Grin’s Grinlandia, 241 f. 272 Vgl. ebd., 243. Manchen Forschern, die sich mit Grin befassen, scheint nicht bewusst zu sein, dass der Begriff Grinlandija nicht von Grin selbst stammt und auch nicht von ihm benutzt wird, da er erst 1934, also zwei Jahre nach Grins Tod, von Zelinskij geprägt wird. So behauptet beispielsweise Vdovin in Bezug auf die Erzählung »Zelënaja lampa«:

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dass er sie selbst nicht als ein Land wahrnimmt. In diese Richtung deutet auch eine Aussage Grins gegenüber seiner Ehefrau Nina, in der er in Bezug auf seine fiktiven Schauplätze von ›Ländern‹ im Plural spricht: »До конца дней своих хотел бы я бродить по светлым странам своего воображения.«273 Ebenfalls unwahrscheinlich ist diese zweite Variante aufgrund widersprüchlicher Hinweise bezüglich der geographischen Lage der äußerst zahlreichen fiktiven Orte im Gesamtwerk Grins. Das dritte, breiteste Verständnis des Begriffs meint sämtliche nichtrussischen Schauplätze bei Grin und geht nicht selten mit der (unreflektierten) Gleichsetzung Grinlandijas mit fantastischen Elementen (d. h. von zwei der drei wesentlichen Elemente der ›Romantik‹ Grins, siehe Kap. 2.2.5) einher. Dies ist beispielsweise der Fall bei der Erzählung »Gatt, Vitt i Redott« (1924; dt.: »Gatt, Vitt und Redott«),274 die in Afrika spielt und deren Protagonisten drei magische Weizenkörner erhalten, die ihnen unendliche körperliche Kraft verleihen. Die Problematik des Begriffs beschränkt sich jedoch nicht nur auf seinen meist unreflektierten, uneinheitlichen Gebrauch, sondern bringt gerade in den letzten beiden Varianten unausweichlich Widersprüche mit sich. Denn aus den beiden weiter gefassten Begriffsverständnissen ergeben sich notwendigerweise noch stärker ausgeprägte Inkonsistenzen als in der ersten Bedeutungsvariante, z. B. hinsichtlich des Verhältnisses Grinlandijas zur realen Geographie, seiner geographischen Verortung, seiner oft betonten Lage am Meer usw. Allerdings kann dies Grin selbst nicht zur Last gelegt werden: Da die fremden Schauplätze von ihm nicht generell als ein Land entworfen werden, besteht für ihn auch kein Anlass für eine einheitliche Darstellung. Die weitverbreitete Vorstellung von Grinlandija als Einheit, als zusammengehöriges fiktives Land, wird verstärkt durch eine überlieferte (und immer wieder zitierte) Episode,275 die seine Unveränderlichkeit belegen soll. Arnol’di berichtet im Zusammenhang mit dem ›Land‹ der Werke Grins (der Begriff Grinlandija selbst wird hier nicht verwendet) über den Schriftsteller: »Недаром его название в английской интерпретации – Green lamp – фонетически соотносится с Greenland (каламбур, вполне доступный при поверхностном знании языка) […]« (Vdovin, A.: Mif Aleksandra Grina (K 120-letiju so dnja roždenija). In: Ural 8 (2000), 172–178, URL: http://uraljournal.ru/work-2000-8-602; zit. nach Varlamov: Aleksandr Grin, 370. Dt.: »Nicht umsonst korreliert ihr Name in der englischen Interpretation – Green lamp – phonetisch mit Greenland (ein Kalauer, der bei oberflächlicher Kenntnis der Sprache vollkommen verständlich ist) […]«). 273 Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 145. Dt.: »Bis zum Ende meiner Tage möchte ich durch die hellen Länder meiner Fantasie wandern.«. 274 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Gatt, Vitt i Redott. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 381–390. Kürzel: GV. 275 Z. B. bei Tarasenko: Dom Grina, 10.

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Он уверял меня, что представляет себе с большой точностью и совершенно реально места, где происходит действие его рассказов. Он говорил, что это не просто выдуманная местность, которую можно как угодно описывать, а постоянно существующая в его воображении в определенном, неизменном виде.276

Zum Beweis beschreibt Grin Arnol’di den Weg von Zurbagan zu einem anderen Ort mit zahlreichen topographischen Details und wiederholt die Beschreibung zu einem späteren Zeitpunkt ohne inhaltliche Abweichungen.277 Allerdings entspricht diese behauptete Unveränderlichkeit der fiktiven Geographie nicht der Realität ihrer Darstellung in Grins Werken. Selbst bei einer Beschränkung des Konzepts Grinlandija auf die engste Bedeutung, d. h. diejenigen Schauplätze, die in verschiedenen Werken wiederholt vorkommen, fällt bei genauerer Betrachtung auf, dass sich auch dort Widersprüche in der Beschreibung der Orte finden bzw. diese ihr Erscheinungsbild verändern. Vergleicht man beispielsweise die Darstellung der Stadt Liss in der Erzählung »Korabli v Lisse« von 1918 mit derjenigen in dem Roman »Doroga nikuda« von 1930, wird deutlich, dass das Bild der fiktiven Orte in Grins Vorstellung keineswegs so unwandelbar ist, wie behauptet. In »Korabli v Lisse« widmet Grin der Stadt eine ausführliche Beschreibung: Нет более бестолкового и чудесного порта, чем Лисс, кроме, разумеется, Зурбагана. Интернациональный, разноязычный город определенно напоминает бродягу, решившего наконец погрузиться в дебри оседлости. Дома рассажены как попало среди неясных намеков на улицы, но улиц, в прямом смысле слова, не могло быть в Лиссе уже потому, что город возник на обрывках скал и холмов, соединенных лестницами, мостами и винтообразными узенькими тропинками. Все это завалено сплошной густой тропической зеленью […]; рынок на сваях, под тентами и огромными зонтиками […] – вот Лисс. […] Население Лисса состоит из авантюристов, контрабандистов и моряков […].278

276 Arnol’di: Belletrist Grin, 178; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Er versicherte mir, dass er sich die Orte, an denen die Handlung seiner Erzählungen stattfindet, mit großer Genauigkeit und vollkommen real vorstellt. Er sagte, dass das nicht einfach eine ausgedachte Gegend ist, die man beschreiben kann, wie man möchte, sondern eine in seiner Vorstellung in einer bestimmten, unveränderlichen Form beständig existierende. 277 Vgl. ebd., 178 f. 278 KV, 214 f. Dt.: »Wir kennen keinen unverständlicheren und wundersameren Hafen als Liss, abgesehen natürlich von Surbagan. Die internationale, vielsprachige Stadt erinnert an einen Landstreicher, der endlich beschlossen hat, im Labyrinth der Seßhaftigkeit unterzutauchen. Die Häuser sind wahllos hingesetzt, Straßen im eigentlichen Sinn kann es in Liss schon deshalb nicht geben, weil die Stadt auf Felshängen und Hügeln entstanden ist, die durch Treppen, Brücken und schmale, gewundene Pfade verbunden sind. Alles ist dicht bewachsen mit tropischem Grün […]; ein Markt auf Pfählen, unter Segeltuchdächern und riesigen Schirmen […] – das ist Liss. […] Die Bevölkerung von Liss besteht aus Abenteurern, Schmugglern und Seeleuten […].« (KVd, 87 f.).

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Während Liss hier also als verwinkelte, chaotische, ärmliche Hafenstadt inmitten üppiger tropischer Natur dargestellt wird, handelt es sich in »Doroga nikuda« um eine deutlich größere und reichere Stadt in gemäßigten Breiten, wenn auch der Hafen und die Lage auf den Hügeln erhalten bleiben. Nachdem der Protagonist Tirrej auf seinem Weg nach Liss die Kälte (!) der Nacht überstanden hat,279 erreicht er nach einem weiteren langen Fußmarsch sein Ziel: Наконец два последних поворота вывели его на громадную улицу, где жаркий вечер сверкал тысячами огней, а движение экипажей представляло армию черных лиц с огненными глазами, ринувшихся в бой против толпы. Вскинутые головы лошадей и задки автомобилей мелькали на одном уровне с веселыми женскими лицами; витрины пылали, было светло, страшно и упоительно. […] ›Где театр?‹ спросил он молодого человека, который пытливо взглянул на него, сказав: ›Вы стоите против театра.‹ Давенант всмотрелся; действительно, на другой стороне улицы был четырехэтажный дом с пожаром внутри, вырывающимся из окон блеском электрических люстр. Внизу, оклеенные афишами, белые арки и колонны галлерей были полны народа […].280

Ähnliche Inkonsistenzen finden sich zum Beispiel in Bezug auf den Ort Achuan-Skap: Er erscheint mal sehr wild, z. B. in »Vperëd i nazad«, wo die Rede von den »полусказочные, дикие места Ахуан­-Скапа«281 ist, oder in »Iva«, wo der Ort als »затерянный полудикий город«282 beschrieben wird; mal ist er, wie in »Propavšee solnce«, nahe an der modernen Zivilisation gelegen.283 279 Vgl. DN, 181. 280 DN, 185 f. Dt.: »Endlich, nachdem er noch zweimal um die Ecke gebogen war, erreichte er eine riesige Straße, in der der heiße Abend mit Tausenden von Lichtern funkelte und die unaufhörlich vorbeirollenden Equipagen an eine Armee schwarzer Gestalten mit feurigen Augen erinnerten, die zu einer Schlacht gegen die Menge anstürmten. Die emporgeworfenen Köpfe der Pferde und die Karosserien der Autos huschten in gleicher Höhe mit fröhlichen Frauengesichtern vorüber; die Schaufenster waren hell erleuchtet, alles ringsum war in eine beängstigende und berauschende Lichtfülle getaucht. […] ›Wie komme ich zum Theater?‹ fragte er einen jungen Mann. Der antwortete nach einem prüfenden Blick auf Tirrey: ›Sie stehen genau gegenüber dem Theater.‹ Tirrey blickte auf: In der Tat, auf der gegenüberliegenden Straßenseite erhob sich ein dreistöckiges Haus, in dessen Innern ein Brand ausgebrochen zu sein schien – so hell war der Schein, der von den elektrischen Kronleuchtern durch die Fenster fiel. Im Vestibül, dessen weiße Wände und Säulen mit Affichen beklebt waren, staute sich eine dichte Menschenmenge […].« (DNd, 127 f.). 281 VN, 144. Dt.: »halb märchenhaften, wilden Orten Achuan-Skaps«. 282 IV, 291. Dt.: »verlorene, halbwilde Stadt« (Grin, Alexander: Die Weide. Übersetzt von Andreas Pham. In: Ders.: Der Fandango. Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Karlheinz Kasper. Leipzig, Weimar 1984, 32–58, hier 35. Kürzel: IVd). 283 Zu Veränderungen und Widersprüchen in der Darstellung der Städte Poket, Liss und Zurbagan vgl. Kamykov, S. V.: O geografii strany Grina. In: Zagvozdkina, T. E. (Hg.): A. S. Grin: Vzgljad iz XXI veka. K 125-letiju Aleksandra Grina. Sbornik statej po materia-

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Einige Grin-Forscher weisen selbst darauf hin, dass die Darstellung Grinlandijas keineswegs einheitlich und unveränderlich ist. So merkt etwa Tarasenko an, dass Grinlandija sich in den frühen romantischen Erzählungen durch eine üppige, exotische Landschaft auszeichnet, während es später eher ein Land in gemäßigten Breiten mit vielen Merkmalen einer nichtfiktiven Welt ist,284 und auch Voronova konstatiert eine große Wandlung des Landes im Laufe der Zeit.285 Trotzdem führt dies bei ihnen (wie auch generell) nicht zu einer Infragestellung des Konzepts an sich. Die Unstimmigkeiten und Widersprüche in der Darstellung Grinlan­dijas werden logischerweise sowohl häufiger als auch gravierender, je breiter der Begriff gefasst wird. So ist beispielsweise der norwegische Ort Vardø (russ.: Vardë), von wo aus die Polarexpedition in Grins unvollendetem Roman »Tainstvennyj krug« startet 286  – ebenso wie die reale Expedition Nansens, die darin beschrieben wird  –, kaum mehr mit dem fiktiven afrikanischen Schauplatz zwischen Kordon Brjun und der Mündung des Flüsschens Is-Is aus der Erzählung »Obez’jana-sopun« (1924; dt.: »Der Schnauf-Affe«)287 zu einem gemeinsamen Land zu vereinigen, was die dritte Begriffsvariante jedoch erfordern würde. Außerordentlich bezeichnend für die Problematik des Konzepts Grinlandija ist die (wenig bekannte)288 Tatsache, dass, während Grinlandija heute allgemein als südliches, oft sogar tropisch-exotisches Land gilt, ausgerechnet der Begründer der Idee einer zusammengehörigen fiktiven Geographie bei Grin, Zelinskij, den Namen in Anlehnung an Grenlandija (dt.: Grönland) wählt und als Erklärung schreibt: »В ее климате – холодность страны, так сходно с ней звучащей.«289 Das Konzept Grinlandija in der zweiten und vor allem in der dritten Bedeutung umfasst also eine enorme Bandbreite an geographischen Lokalisierungen und damit verknüpften klimatischen, kulturellen und anderen Eigenschaften, da er potentiell jeden Schauplatz mit Ausnahme Russlands, d. h. alle strukturell fremden Orte der Erde ebenso wie verschiedenste fremde fiktive Räume, miteinschließt. Aus diesem Grund erscheinen die beiden weiter gefassten Verwendungen des Begriffs Grinlandija wenig sinnvoll, da sie nicht nur zwangsläufig widersprüchlich (oder, in Vermeidung dessen, in unzulässiger lam Meždunarodnoj naučnoj konferencii ›Aktual’nye problemy sovremennoj filologii‹. Kirov 2005, 128–131, hier 129 f. 284 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 10. 285 Vgl. Voronova: Poėzija mečty, 145. 286 Vgl. Grin: Tainstvennyj krug. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 26, l. 1. 287 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Obez’jana-sopun. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 313–317, hier 316. Kürzel: OS . 288 Ein Hinweis darauf findet sich bei Naumann (vgl. Naumann: Grin’s Grinlandia, 243). 289 Zelinskij: Grin. Krasnaja nov’, 204. Dt.: »In seinem Klima ist die Kälte des Landes, das so ähnlich klingt wie es.«.

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Weise verallgemeinert), sondern auch äußerst unspezifisch und damit kaum mehr aussagekräftig sind. In seiner engsten und in dieser Form vermutlich von Grin intendierten Bedeutung stellt Grinlandija dagegen trotz der oben aufgezeigten Inkonsistenzen ein durchaus interessantes Phänomen dar, weshalb es im Folgenden in Hinblick auf seine Beziehung zu strukturell Eigenem und Fremdem sowie, in enger Verbindung damit, zu außerliterarischer Realität und Fiktionalität betrachtet werden soll. 4.2.2.2 Grinlandija als doppelt hybrider Raum: eigen-fremd und real-imaginär

Das Konstrukt Grinlandija wird häufig als ausschließlich fremdes oder rein imaginäres Land beschrieben, oft sogar beides zugleich. Schon 1915  – und daher noch ohne Gebrauch des Begriffs Grinlandija  – betont Savinič in einer Rezension, dass die exotischen Häfen und tropischen Wälder der Werke Grins keine realen Merkmale besitzen,290 verknüpft dabei also die beiden Aspekte miteinander. Dmitrevskij betont den imaginären Charakter des Landes und seine Distanz zum eigenen, realen Raum Russland: »Грин создал целый мир, не существующий на самом деле, сотканный только неистощимым воображением художника […]«;291 in diese »иллюзорны[e] свои[…] город[а]«292 habe sich der Schriftsteller vor der russischen Realität geflüchtet. Dabei bezieht er sich auf Paustovskij, der in seinem einflussreichen Aufsatz »Žizn’ Aleksandra Grina« mit Verweis auf Grins schwieriges Leben im vorrevolutionären Russland behauptet: »Он всегда пытался уйти от нее [жизни]«,293 weshalb er sich in die idealisierte imaginäre Welt seiner Werke zurückgezogen habe. Auch Zavalishin betont, Grins Welt sei reine Phantasie, während Litvinov ihre Fremdheit in den Fokus stellt.294 In seinem bereits erwähnten Gedicht »Pamjati Aleksandra Grina« heißt es: »Как от нас далеки те места!«295 Kovskij verbindet strukturell Fremdes und Nichtreales bei Grin, wenn er die Exotik der Handlungsumstände hervorhebt296 und dies als »один из принципов […] системы поэтической условности«297 Grins identifiziert. Ähnlich formuliert 290 Vgl. Savinič: Literaturnye tečenija. FLMMG , n / v 2910, 1. 2. 291 Dmitrevskij: V cëm volšebstvo, 388. Dt.: »Grin schuf eine ganze Welt, die in Wirklichkeit nicht existiert, gewoben nur aus der unerschöpflichen Fantasie des Künstlers […]«. 292 Ebd., 391. Dt.: »seine illusorischen Städte«. 293 Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 67. Dt.: »Er versuchte immer, von ihm [dem Leben] wegzugehen«. 294 Zavalishin: Early Soviet Writers, 298. 295 Litvinov: Pamjati Aleksandra Grina. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 15, l. 3ob. Dt.: »Wie weit von uns entfernt sind jene Orte!«. 296 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 7. 297 Ebd., 25. Dt.: »eines der Prinzipien […] des Systems der poetischen Fiktion«.

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schon Smirenskij vor ihm: »[…] особенность писателя Грина заключалась в том, что его мир был очень далек от нашей родины, это был мир фантастических иллюзий«.298 Diese Einschätzung wird häufig auch in westlichen Publikationen übernommen, z. B.: »[Grin] refused to deal with topical themes and to reflect current reality in his works«,299 oder: »His tales are among the most exotic of all Russian literature, fantastic and whimsical works full of mystery and adventure with no relation to everyday life.«300 Luker formuliert in Übereinstimmung damit: »[…] his subcontinent of Grinlandia is an environment geographically and politically independent of actuality […]«.301 Naumann bezeichnet Grinlandija in ihrer Studie dazu als »highly-fictionalized locale, which was totally divorced from his readers’ and censors’ world with its associations and suggestions«.302 Nicht nur die auf den ersten Blick tatsächlich oftmals vollkommen ›unrussisch‹ wirkenden Schauplätze scheinen diesen Einschätzungen Recht zu geben. Auch Details in der Gestaltung der Werke legen vermeintlich solche Annahmen nahe. So kommt es z. B. in einem der Romane Grins, »Beguščaja po volnam«, in dem Grinlandija aufgrund der Werklänge mit am stärksten elaboriert ist, zu einer Markierung des Russischen als fremd und ungewöhnlich: »Я нашел книги на испанском, английском, французском и немецком языках и даже на русском.«303 Tatsächlich aber ist Grinlandija – sogar im hier vertretenen ersten, engsten Verständnis – in doppelter Hinsicht ein hybrides Konstrukt: Es ist zugleich real und imaginär, da Räume und Orte der realen Geographie erstens verfremdet und zweitens mit rein fiktiven Elementen kombiniert werden; und es ist zugleich (strukturell) eigen und fremd im Sinne einer Verbindung russischer und nichtrussischer Räume. Die beiden Aspekte sind auch hier eng miteinander verknüpft und gehen oftmals miteinander einher. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist Michail Bachtins im Rahmen seiner Theorie zum Chronotopos aufgestellte These, dass zwischen realer (darstellender, russ.: izobražajuščij) und fiktiver (dargestellter, russ.: izobražënnyj) Welt – d. h. in diesem Fall Russland bzw. der Sowjetunion und Grinlandija – 298 Smirenskij: Aleksandr Grin. Vstreči. RGALI, f. 127, op. 2, ed. chr. 18, l. 1. Dt.: »[…] die Besonderheit des Schriftstellers Grin bestand darin, dass seine Welt sehr weit von unserer Heimat entfernt war, es war eine Welt fantastischer Illusionen«. 299 Slonim: Soviet Russian Literature, 117. 300 Grin, Aleksandr Stepanovich. New Encyclopædia Britannica, 503 f.; Hervorhebung von A. B. 301 Luker: Aleksandr Stepanovich Grin. Dictionary of Literary Biography, 135. 302 Naumann: Grin’s Grinlandia, 239. 303 BV, 46. Dt.: »[Ich] fand […] Bücher in englischer, spanischer, französischer, deutscher und sogar russischer Sprache vor.« (BVd, 60).

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zwar eine »резкая и принципиальная граница«304 verläuft, diese jedoch als durchlässig zu begreifen ist, denn beide Welten sind »неразрывно связаны друг с другом и находятся в постоянном взаимодействии«.305 Beispielsweise geht der Chronotopos des konkreten Autors, d. h. die zeitlichen und räumlichen Umstände und Hintergründe des Schöpfungsprozesses, unvermeidlich auf irgendeine Weise in die fiktive Welt ein. Die Durchlässigkeit der Grenze zwischen realer und fiktiver Welt wird zusätzlich verstärkt durch eine Gemeinsamkeit, die die Räume auf beiden Seiten dieser Grenze im wahrsten Sinne des Wortes miteinander verbindet. Grundlegend hierfür ist der Raumbegriff nach Henri Lefebvre, der den Raum – auch und vor allem denjenigen der außertextuellen Realität  – als ein Produkt sozialen Handelns, d. h. mehr als nur eine objektiv gegebene, physisch-geo­ graphische Entität auffasst: »L’espace (social) est un produit (social).«306 Auf einem sehr ähnlichen Raumverständnis basiert auch das auf Edward Saids Werk »Orientalism« zurückgehende Konzept der imaginative oder imagined geographies,307 das Räume als Ergebnisse von Semantisierungsprozessen begreift. Der fiktive literarische Raum ist seinerseits, aufgrund der angesprochenen Wechselwirkung inner- und außertextueller Chronotopoi, niemals rein imaginär. Somit lassen sich der Raum der realen Welt wie auch derjenige der fiktiven Welt mit den Worten Edward Sojas als immer »simultaneously ›real-andimagined‹«,308 d. h. als hybrider dritter Raum (Thirdspace)309 beschreiben.310 304 Bachtin: Formy vremeni, 499. Dt.: »scharfe und prinzipielle Grenze (Bachtin: Chrono­ topos, 191). 305 Bachtin: Formy vremeni, 499. Dt.: »unlöslich miteinander verbunden und stehen in ständiger Wechselwirkung« (Bachtin: Chronotopos, 192). 306 Lefebvre, Henri: La production de l’espace. Troisième édition. Paris 1986, 35; Hervorhebung im Original. Lefebvre unterscheidet weiter drei Formen des sozial produzierten Raums – »le perçu, le conçu, le vécu« (ebd., 49) –, die in einem dialektischen (oder vielmehr trialektischen) Verhältnis zueinander stehen. Diesen ordnet er drei Raumaspekte zu, die die Beziehungen innerhalb des sozial produzierten Raums beschreiben: »[l]a pra­ tique spatiale«, »[l]es représentations de l’espace« sowie »[l]es espaces de représentation« (ebd., 48 f.). 307 Vgl. Said, Edward W.: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London 1995, 49 u. 54–73. 308 Soja: Thirdspace, 239. 309 Vgl. ebd., passim. 310 Soja bezieht sich in seinen Überlegungen zum Thirdspace explizit und intensiv auf Le­ febvres »La production de l’espace«, darunter auch auf die oben erwähnte Unterteilung des espace social in einen wahrgenommenen, einen konzipierten und einen gelebten Raum und die drei damit verknüpften Raumaspekte (vgl. ebd., 65–70). Lefebvres Verständnis des letztgenannten Raums (l’espace vécu bzw. les espaces de représentation) ist Soja zufolge sehr nah an seiner eigenen Definition des Thirdspace (vgl. ebd., 68). Soja definiert den Thirdspace auch wie folgt: »It is both a space that is distiguishable from other spaces (physical and mental, or First and Second) and a transcending composite of all spaces […]« (ebd., 62).

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Konzeptionen des Fremden in der Prosa Aleksandr Grins: Textanalysen

Eine rege Wechselwirkung zwischen ihnen erscheint aufgrund dieser wesentlichen Gemeinsamkeit umso wahrscheinlicher. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, dass es sich bei Grinlandija um einen in besonderem Maße, d. h. über die unvermeidliche Beeinflussung des Chronotopos des konkreten Autors auf den werkimmanenten Chronotopos hinaus, hybriden Raum handelt. Besonders deutlich wird die Verbindung des Realen mit dem Imaginären wie auch des Eigenen mit dem Fremden in den vermeintlich vollständig Grins Phantasie entsprungenen, südlichen (bisweilen sogar tropisch anmutenden) Hafenstädten Grinlandijas, die zugleich den Kern des fiktiven Landes bilden. Diese weisen bei genauerem Hinsehen deutliche Ähnlichkeiten mit einigen Städten auf der Krim auf, welche Grin von seinen Reisen und seinem Leben auf der Halbinsel gut kennt. Die ›grinländische‹ Stadt Gel’G’ju beispielsweise besitzt Merkmale von Feodosija, Jalta und Gurzuf.311 In Zurbagan sind zahlreiche Züge Sevastopol’s zu erkennen, z. B. in Gestalt der Kriegsschiffe, der hellen Buchten, der Akazien und des Geruchs nach Fisch.312 Grin selbst bekennt in »Avtobiografičeskaja povest’«, dass »[…] некоторые оттенки Севастополя вошли в мои города: Лисс-Зурбаган [sic!], Гель-Гью и Гертон.«313 Auch Odessa hinterlässt Spuren in den fiktiven Hafenstädten Grinlandijas.314 Diese realen Geographien werden jedoch nicht einfach abgebildet, sondern stimmen zum einen oft nur in Details mit den fiktiven Orten überein und werden zum anderen wie durch ein Prisma verzerrt dargestellt.315 Schon Ščeglov weist in seinem Artikel von 1956 auf das Wechselspiel zwischen schöpferischer Imagination und Verwandlung der Realität hin, wenn er über die Schauplätze bei Grin schreibt: […] кажется, что вся нереальность места действия в его рассказах, вся их подчеркнутая ›нездешность‹ носят характер невольной поэтической мистификации; если всмотреться в мир образов А. Грина, во все частности его художественных

311 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 10. 312 Vgl. Paustovskij: Žizn’ Aleksandra Grina, 77. 313 AP, 136; Hervorhebung im Original. Dt.: »[…] einige Nuancen Sevastopol’s sind in meine Städte eingegangen: Liss-Zurbagan, Gel’-G’ju und Gerton.« Bei der Verbindung von Liss und Zurbagan durch einen Bindestrich liegt höchstwahrscheinlich ein Druckfehler vor, da es sich um zwei verschiedene und an keiner anderen Stelle als Einheit auftretende Städte handelt. 314 Vgl. Frioux: Alexandre Grin, 83. Durch die Verbindung realer und imaginärer Elemente steht Grin unter anderem in der Nachfolge Saltykov-Ščedrins, der in seiner satirischen Geschichte der Stadt Glupov in »Istorija odnogo goroda« (1869–1870; dt.: »Die Geschichte einer Stadt«) zugleich von der Geschichte Russlands während der Leibeigenschaft erzählt (vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 86). 315 Vgl. ebd., 87.

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картин, то мы рядом с уходом от действительности увидим преображение действительности […].316

Der Gedanke wird einige Jahre später von Kovskij in seiner einflussreichen Grin-Monographie mit dem Untertitel »Preobraženie dejstvitel’nosti« (1966; dt.: »Die Verwandlung der Wirklichkeit«) aufgegriffen und auch von Rossel’s bestätigt: »В Гринландии действие происходит на стыке мечты и действительности, на самой границе условного и реального.«317 Besonders deutlich wird die literarische Verwandlung realer Vorbilder anhand des Vergleichs einer Beschreibung aus »Avtobiografičeskaja povest’« mit Darstellungen von zwei ›grinländischen‹ Städten. In der Autobiographie heißt es: Огни вечерней Ялты поразили меня. Весь береговой пейзаж Кавказа и Крыма дал мне сильнейшее впечатление по рассыпанным блистательным созвездиям, – огни Ялты запомнились больше всего. Огни порта сливались с огнями невидимого города. Пароход приближался к молу при ясных звуках оркестра в саду. Пролетел запах цветов, теплые порывы ветра, слышались далеко голоса и смех. Я без разрешения ушел в город, но проходил недолго, – боялся брани. Передо мной шла вверх узкая полуосвещенная улица, по ней спускалась кавалькада: дамы в амазонках, мужчины в цилиндрах, смуглые татары.318

Auch in der Povest’ »Alye parusa« begegnen dem Leser die vom Wasser aus betrachteten Lichter einer Stadt, nur handelt es sich dieses Mal um Liss: »Струя пены, отбрасываемая кормой корабля Грэя ›Секрет‹, прошла через океан белой чертой и погасла в блеске вечерних огней Лисса.«319 Eine Erinnerung 316 Ščeglov: Korabli Aleksandra Grina, 221. Dt.: »[…] es scheint, dass die ganze Unwirklichkeit der Handlungsorte in seinen Erzählungen, die ganze betonte ›Fremdheit‹ den Charakter einer ungewollten poetischen Mystifikation haben; wenn wir uns die Welt der Bilder A. Grins genauer ansehen, alle Einzelheiten seiner künstlerischen Bilder, dann sehen wir neben dem Weggang aus der Wirklichkeit eine Verwandlung der Wirklichkeit […].«. 317 Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 388; Hervorhebung im Original. Dt.: »In Grinlandija findet die Handlung auf der Scheidelinie von Traum und Wirklichkeit statt, direkt an der Grenze von Fiktivem und Realem.«. 318 AP, 53. Dt.: »Die Lichter des abendlichen Jalta frappierten mich. Die ganze Uferlandschaft des Kaukasus und der Krim machte durch die verstreuten glänzenden Sternbilder einen sehr starken Eindruck auf mich – die Lichter Jaltas prägten sich mir am meisten ein. Die Lichter des Hafens flossen mit den Lichtern der unsichtbaren Stadt zusammen. Das Schiff näherte sich der Mole zu den klaren Klängen eines Orchesters im Garten. Der Geruch von Blumen flog vorüber, warme Windböen, man hörte in der Ferne Stimmen und Lachen. Ich ging ohne Erlaubnis in die Stadt, aber ging nicht lange – ich fürchtete mich vor Schelte. Vor mir führte eine enge halbbeleuchtete Straße nach oben, auf ihr kam ein Aufritt herunter: Damen in Reitkleidern, Männer mit Zylindern, dunkelhäutige Tataren.«. 319 AL , 35; Hervorhebung von A. B. Dt.: »Die Schaumspur vom Heck des Grayschen Schiffes ›Secret‹ zog als weißer Strich durch den Ozean, ehe sie im Abglanz der abendlichen Lichter von Liss erlosch.« (ALd, 50; Hervorhebung von A. B.).

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Konzeptionen des Fremden in der Prosa Aleksandr Grins: Textanalysen

an die akustischen Eindrücke der Szene aus der Autobiographie findet sich, ebenfalls in einer Beschreibung von Liss, in Grins Roman »Zolotaja cep’« wieder: »[…] мы […] прошли на бульвар […]. Здесь слышался отдалeнный плеск волн; на другой аллее, повыше, играл оркестр.«320 Noch deutlicher ausgeprägt sind die Parallelen im Roman »Beguščaja po volnam«, wo die Musik, die Lichter in Verbindung mit dem dunklen Wasser und die auffälligen Kleider und Hüte der Menschen den Hintergrund für den Karneval in Gel’-G’ju bilden: Среди теней волн плескался, рассыпаясь подводными искрами, блеск огней. Огненные извивы струились от набережной к тьме, и музыка стала слышна, как в зале. […] Среди яркого света увидел я восемь лошадей в султанах из перьев, катавших огромное сооружение из башенок и ковров, увитое апельсинным цветом. На платформе этого сооружения плясали люди в зеленых цилиндрах и оранжевых сюртуках […].321

Aus dem Zusammenspiel von zahlreichen fiktiven Elementen und realen Details wie diesen entstehen die real-imaginären hybriden Städte und Landschaften Grinlandijas. Auch in die unvollendet gebliebene Erzählung »Chranitel’ morskich kamnej« (dt.: »Der Hüter der Meeressteine«) gehen Eindrücke des Autors von der Krim ein, insbesondere aus dem von ihm oft besuchten Koktebel’ und der Landschaft des Felsmassivs Kara-Dag.322 Beide reale Toponyme krimtatarischen Ursprungs stehen dabei in ihrem für russische Ohren fremden Klang den Hafenstädten Grinlandijas, z. B. Zurbagan oder Gel’-G’ju, in nichts nach. Und nicht nur hinsichtlich der oft nichtrussischen Namen und der maritimen Lage gleichen sich die Krim und Grinlandija – auch das warme, oft sogar heiße Klima verbindet beide.

320 ZC , 354. Dt.: »Wir […] gingen den Boulevard entlang […]. Hier konnten wird das ferne Plätschern der Wellen vernehmen; in einer höher gelegenen Allee spielte ein Orchester.« (ZCd, 179). 321 BV, 99. Dt.: »In den Wellen spiegelten sich wie zerfallende Funken die tausend Lichter. Feuerwindungen strömten vom Kai in das geheimnisvolle Dunkel der Stadt hinein. Musik klang voll und schön wie in einem großen Saal. […] Im grellen Licht sah ich acht Pferde mit blauroten Federbüschen, die einen Riesenaufbau aus Türmchen und Teppichen zogen, der über und über mit Apfelsinenblüten besät war. Auf der Plattform dieses Wagens tanzten seltsame Paare. Die Männer hatten orangefarbene Gehröcke an und grüne Zylinder auf.« (BVd, 128 f.). 322 Vgl. Grin, Aleksandr: Chranitel’ morskich kamnej. [1927–1928]. In: »Lebedi Ėveresta ­Dirama«. Roman. Prolog. Glavy I, III . »Ognennaja voda«. Roman. Nabroski. »Dva pis’ma«, »Volšebnoe bezobrazie«, »Peščera golubych glaz«, »Chranitel’ morskich kamnej«. Rasskazy. Nabroski. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 31, l. 19–33. Vgl. hierzu Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 184 u. 184ob.

Das strukturell Fremde 

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Aus eben diesen Gemeinsamkeiten ergibt sich auf einer übergeordneten Ebene eine weitere Parallele zwischen dem fiktiven Grinlandija und der Krim als einem seiner wichtigsten realen Vorbilder, nämlich durch ihren gemein­ samen Charakter als hybride, eigen-fremde Räume. Die Krim stellt ein Gebiet dar, das sich sowohl in Bezug auf sein Klima und seine Landschaften als auch seine Bevölkerungsstruktur erheblich vom russischen Kernland unterscheidet und vor der Annexion im Jahr 1783 keinerlei historische Bezüge zu diesem aufweist.323 Dieser fremde Raum wird – ganz im Sinne einer imagined geog­ raphy  – in einem »vielschichtigen Prozeß der mentalen und emotionalen Aneignung«324 in einen russischen, eigenen Raum verwandelt. Einen entscheidenden Anteil hieran hat die belletristische Literatur, die durch ihre Krim-Darstellungen die einst als exotisch und peripher geltende Halbinsel zu einem integralen Teil Russlands macht –325 obwohl sich selbstredend weder die maritime geographische Lage noch das warme Klima verändert haben. Trotz der mentalen ›Russifizierung‹ der Krim erweist diese sich eben deshalb zugleich immer auch als unvermeidlich strukturell fremd, wenn auch in unterschiedlich starker Ausprägung. Während in Puškins »Bachčisarajskij fontan« (1824; dt.: »Die Fontäne von Bachčisaraj«)326 die Fremdheit des Gebiets durch seinen orientalischen Charakter noch deutlich markiert wird, ist in Čechovs »Dama s sobačkoj« (1899; dt.: »Die Dame mit dem Hündchen«)327 die Distanz des Schauplatzes Jalta zum genuin russischen Raum nur noch unterschwellig spürbar. Diese hybride, russisch-unrussische Qualität ist einem großen Teil der russischen Krim-Texte gemeinsam.328 Durch die eigen-fremde Hybridität seiner von der Krim beeinflussten fiktiven Hafenstädte und Landschaften schreibt sich Grin somit letztlich in den traditionellen russischen Krim-Diskurs ein. Grins Spiel mit der Vermischung von Eigenem und Fremdem wie auch von Realem und Imaginärem erstreckt sich bis in die Details der Werke. In »Seryj avtomobil’« wird zum Beispiel im Kino ein explizit amerikanischer Film, der in den Straßen New Yorks gedreht wurde, gezeigt; ebenso ist aber die Rede von einem Film über ein Autorennen zwischen Liss und Zurbagan.329 Liss dient auch als Schauplatz für Grins Kapitel »Strannyj večer« für den bereits er323 Vgl. Jobst, Kerstin S.: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz 2007, 9. 324 Ebd. 325 Vgl. ebd., 20 u. 49. 326 Vgl. Puškin, Aleksandr S.: Bachčisarajskij fontan. Red. K. Boneckij. Moskva 1949. 327 Vgl. Čechov, Anton P.: Dama s sobačkoj. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij i pisem v tridcati tomach. Sočinenija v vosemnadcati tomach. Sočinenija. Tom desjatyj. 1898–1903. Moskva 1977, 128–143. 328 Vgl. ebd., 49 f. 329 Vgl. SE , 420 u. 437.

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wähnten kollektiven Roman »Bol’šie požary« (Titel bei Grin: »Motylëk mednoj igly«); die Hausangestellte des Protagonisten verwendet darin Nestlé-Produkte.330 Diese Grenzaufhebungen treibt Grin in der kaum bekannten, sehr kurzen Erzählung »Ochota na Marbruna« (1915; dt.: »Die Jagd auf Marbrun«)331 auf die Spitze. Sie beginnt mit den Worten: Москва! Сердце России! Я вспомнил твои золотые луковицы, кривые переулки, черные картузы и белые передники, сидя в вагоне поезда бегущего в Зурбаган. Я русский. Я вспомнил тебя, Москва, и тотчас забыл, так как пейзаж, наблюдавшийся мной из окна вагона, был экзотичен до последнего камня […].332

Zwischen dem realen russischen Raum und dem explizit als exotisch bezeichneten fiktiven Grinlandija wird hier eine nicht nur metaphorische Verbindung hergestellt, sondern sogar eine konkrete Zugverbindung eingerichtet. Eine ähnliche Konstellation, wenn auch ohne explizite Referenz auf Grinlandija, liegt in dem Fragment »Pachučij kustarnik« (1921; dt. »Der duftende Strauch«) vor.333 Dort verbinden Züge einen der Bahnhöfe Sankt Petersburgs mit einer Reihe fiktiver Städte: »Каждый вечер пригородный поезд Финляндского вокзала изливался шумной толпой, прибывающей, главным образом, из Тэ, Эль и По […]«.334 Im selben Fragment findet sich zudem eine Aussage, die vor dem Hintergrund der eigen-fremden, heimisch330 Vgl. Grin: Motylëk mednoj igly. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 25, l. 1ob. 331 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Ochota na Marbruna. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 3. Alye parusa: Feerija. Blistajuščij mir: Roman. Rasskazy 1914–1916. Moskva 2008, 333–334. Kürzel: OM . 332 OM , 333. Dt.: »Moskau! Herz Russlands! Ich erinnerte mich an deine goldenen Zwiebeltürme, krummen Gassen, schwarzen Schirmmützen und weißen Schürzen, als ich im Waggon des Zuges saß, der nach Zurbagan eilte. Ich bin Russe. Ich erinnerte mich an dich, Moskau, und vergaß dich sogleich, da die Landschaft, die ich aus dem Fenster des Waggons beobachtete, exotisch war bis hin zum letzten Stein […].«. 333 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Pachučij kustarnik. In: Voronova, O.: Poėzija mečty i nravstvennych poiskov. In: Neva 8 (1960), 144–150, 145–146. [Abdruck im Rahmen des Artikels von Voronova; = Grin, Aleksandr S.: Polzučij kustarnik. [1921]. In: Zapisnye knižki s nabroskami k romanu »Blistajuščij mir«, povesti »Tri ozëra«, rasskazam »Čërnyj mužlan«, »Polzučij kustarnik«, zapisjami tem i sjužetov dlja proizvedenij, adresov i telefonov znakomych, redakcij žurnalov, izdatel’stv, s zapisjami chozjajstvennych raschodov i dr. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 64, l. 5–9ob.]. Kürzel: PK . Das im RGALI (f. 127, op. 1, ed. chr. 64, l. 5–9ob.) aufbewahrte Fragment wird 1960 im Rahmen eines Aufsatzes von Voronova veröffentlicht (s. unter dem Kürzel PK im Literaturverzeichnis). Allerdings entspricht der Titel dieses publizierten Textes, »Pachučij kustarnik«, nicht dem Titel des ansonsten identischen Manuskripts, das mit »Polzučij kustarnik« (dt.: »Der rankende Strauch«) überschrieben ist. Der von Voronova angegebene Titel findet sich zwar im selben Archivdokument, aber als Überschrift zu einem zweiten, deutlich kürzeren Fragment (vgl. ebd., l. 3). 334 PK , 146. Dt.: »Jeden Abend entströmte dem Vorortzug des Finnischen Bahnhofs eine lärmende Menge, die hauptsächlich aus Tė, Ėl’ und Po ankam […]«.

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exotischen Hybridität Grinlandijas von Interesse ist, da sie die Gleichwertigkeit beider Komponenten unterstreicht: Одна из главных ошибок наших состоит в том, что мы ценим природу, насыщенную мечтами, и подходим с усмешкой карикатуриста к той, где живем. Между тем, наша, пригородная природа есть мир серьезный не менее, чем берега Ориноко […].335

Diese Aussage bestätigend, gehen neben der südlichen Halbinsel Krim, die den wichtigsten realen Einfluss darstellt, auch Orte des nördlichen Russland,336 in dem Grin über die Hälfte seines Lebens verbringt, in modifizierter Form in sein fiktives Land ein, z. B. Vjatka (Kirov),337 Toksovo338 oder der Moskauer Dvorec truda (dt.: Palast der Arbeit),339 der dem Palast Ganuvers aus »Zolotaja 335 PK , 146. Dt.: »Einer unserer wichtigsten Fehler besteht darin, dass wir die Natur schätzen, die von Träumen gesättigt ist, und mit dem spöttischen Lächeln eines Karikaturisten an die herantreten, in der wir leben. Unterdessen ist unsere vorstädtische Natur eine nicht weniger ernsthafte Welt als die Ufer des Orinoco […].« Der Fluss Orinoco stellt für Grin seit seiner Kindheit, genauer gesagt seit seinen Kindheitslektüren von Abenteuergeschichten, einen Inbegriff fremder Räume dar. In seiner »Avtobiografičeskaja povest’« schreibt er: »Перед моими глазами, в воображении, вечно были – американский лес, дебри Африки, сибирская тайга. Слова ›Ориноко‹, ›Миссисипи‹, ›Суматра‹ звучали для меня как музыка.« (AP, 8. Dt.: »Vor meinen Augen, in der Fantasie, waren fortwährend – der amerikanische Wald, die Wildnis Afrikas, die sibirische Taiga. Die Wörter ›Orinoco‹, ›Mississippi‹, ›Sumatra‹ klangen für mich wie Musik.«). 336 Zavalishin führt an, dass Grin im Norden Russlands Altgläubige getroffen und von ihnen von dem legendären Belovod’e, dem Paradies auf Erden, erfahren habe. In seinem Werk habe er dann Belovod’e in das romantische Zurbagan verwandelt (vgl. Zavalishin: Early Soviet Writers, 313). Ein solcher Zusammenhang ist allerdings wenig wahrscheinlich, da er erstens weder in Grins literarischem Werk noch in anderen Quellen des Schriftstellers oder seines Umfelds belegt ist, und zweitens Zurbagan – ebenso wie Grinlandija im Ganzen – von Grin keineswegs als Paradies auf Erden angelegt ist, sondern nur posthum als solches verklärt wird (s. Kap. 2.2.5). 337 Vgl. Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 104. 338 Vgl. Voronova: Poėzija mečty, 145. 339 Fast zur gleichen Zeit dient der Dvorec truda auch Il’f und Petrov als Vorbild für die Redaktion aus »Dvenadcat’ stul’ev« (1928; dt.: »Zwölf Stühle«), über deren Treppen Ostap Bender vor Madame Gricacueva flüchtet (vgl. Tarasenko: Dom Grina, 34): »Коридоры Дома народов были так длинны и узки, что идущие по ним невольно ускоряли ход.« (Il’ f, Il’ja / Petrov, Evgenij: Dvenadcat’ stul’ev. In: Dies.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Dvenadcat’ stul’ev. Svetlaja ličnost’. Neobyknovennye istorii iz žizni goroda Kolokolamska. 1001 den’, ili novaja šacherezada. Moskva 1994, 25–324, hier 224. Dt.: »Die Korridore des Hauses der Völker waren so lang und schmal, dass die in ihm Gehenden unwillkürlich ihren Gang beschleunigten.« [ohne Übersetzung in Ilf, Ilja /  Petrow, Jewgeni: Zwölf Stühle. Ein Schelmenroman. Übersetzung aus dem Russischen von Ernst von Eck. Berlin 1958]); »В это время мадам Грицацуева, отделенная от Остапа тремя этажами, тысячью дверей и дюжиной коридоров, […] начала поиски. […] В коридорах зажглись несветлые лампы. Все лампы, все коридоры и все двери были одинаковы. Вдове стало страшно. » (Il’ f / Petrov: Dvenadcat’ stul’ev, 225. Dt.: »In diesem Augenblick war Madame Grizazujewa von Ostap durch drei Etagen, tausend

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cep’« mit seinen verschwindenden Wänden, Sackgassen und endlosen Gängen ähnelt.340 Die vermeintlich südliche Hafenstadt Zurbagan ist in »Redkij fotografičeskij apparat« von Steppe, also der wohl charakteristischsten Landschaftsform Russlands überhaupt, umgeben.341 In »Vperëd i nazad« ist sie über einen Steppenweg mit der Umgebung verbunden und wird jeden Frühsommer von einem Wind aus der Steppe erreicht;342 und in »Beguščaja po volnam« führt eine Eisenbahnstrecke nach Liss durch eine sandige Steppe.343 Die Verwandlung der realen Orte auch des nördlichen Russland im Zuge ihrer literarischen Darstellung kommt in einem Fragment Grins mit dem Titel »Ozero Krivoj Nož« (dt.: »Der See Krummes Messer«) besonders deutlich zum Ausdruck. Es beginnt mit den Worten: »На сѣверѣ – да, – но не на томъ, гдѣ живете вы: на болѣе совершенномъ сѣверѣ […]«.344 Ebenfalls sehr aufschlussreich in Bezug auf die Durchlässigkeit der Grenze zwischen realen und fiktiven Orten ist die Tatsache, dass »Alye parusa«, das über die Stadt Liss mit Grinlandija verbunden ist, in einem der frühen Entwürfe im nachrevolutionären Petrograd spielt und erst später in das fiktive Kaperna verlegt wird. Zudem verschmelzen auch hier bereits verschiedene Räume miteinander, wie eine Szene mit De-Lom, einer in der endgültigen Fassung nicht enthaltenen Figur, zeigt: Перед мостом он [Де-Лом] увидел горы снега, высокие, как для катанья. Длинный, деревенского типа обоз […] поворачивал к Седьмой линии. На той стороне речки туманно выступали умолкшие дворцы. Нева казалась пустыней, мертвым простором города, покинутого жизнью и солнцем. В ухабах, обозе […], в атмосфере грозной подавленности, спустившейся на знакомый, но теперь – чужой город, – было нечто предвосхищенное.345 Türen und ein Dutzend Korridore getrennt. Sie […] machte sich […] auf die Suche. In den Korridoren flammten trübe Notlichter auf. Alle Lampen, alle Korridore, alle Türen waren die gleichen. Der Witwe wurde angst.« (Ilf / Petrow: Zwölf Stühle, 241)). 340 Vgl. Tarasenko: Dom Grina, 34. Akvilev führt als Vorbilder für die Städte Grinlandijas die Städte des Baltikums an (vgl. Akvilev: Dve vstreči s pisatelem Grinom. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 1, l. 3 f.); da Grin zum Baltikum jedoch keinen autobiographischen oder sonstigen Bezug hat und sich keine eindeutigen Belege dafür in den Werken Grins oder in der Forschungsliteratur finden, ist diese Behauptung in Frage zu stellen. 341 Vgl. RF, 234. 342 Vgl. VN, 143. 343 Vgl. BV, 14. 344 Grin, Aleksandr: Ozero Krivoj Nož. [ok. 1921–1930]. In: Grin, A. S.: 5 zapisnych knižek A. S. Grina s tvorčeskimi nabroskami i otryvkami, s stichami v tekste, s zapisjami N. N. Grin. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 64, l. 2. Dt.: »Im Norden – ja, aber nicht in dem, wo ihr lebt: in einem vollkommeneren Norden […]«. 345 Grin, Aleksandr: ›Alye parusa‹. Feerija. I Variant. [1917–1918]. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 1; zit. nach Sukiasova: Novoe ob Aleksandre Grine, 69. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 54. Dt.: »Vor der Brücke sah er [De-Lom] Schneeberge, hohe, wie zum Rodeln. Ein langer Wagenzug dörflicher Art bog zur Siebten Linie ab. Auf dieser Seite des Flüsschens

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Grins literarischer uchod aus der russischen Wirklichkeit in seine fiktive Welt ist aufgrund dieser Hybridität also nur ein partieller Weggang, der in der Regel gleichsam von einem prichod begleitet wird. Denn strukturell eigene, reale geographische Vorbilder werden in den von Grin geschaffenen Räumen zwar mit strukturell fremden und fiktiven Elementen vermischt und auf diese Weise selbst verfremdet, gehen aber dennoch in verwandelter Form in die Schauplätze seiner Werke ein und ermöglichen Grin so eine Befreiung von den Einschränkungen und potentiellen Konflikten, die mit der realistischen Darstellung des eigenen Raums einhergehen, ohne eine vollständige Abwendung von diesem vollziehen zu müssen. Die Überlagerung realer und imaginärer, strukturell eigener und fremder Räume findet nicht nur in Grins Werken statt, sondern auch in der visuellen Wahrnehmung des Schriftstellers selbst. Gegenüber Arnol’di bekennt Grin während eines Spaziergangs durch Petersburg, in der gewöhnlichen Straße Stremjannaja: »›Знаешь, я как-то шел здесь и внезапно, вот с этого места совершенно отчетливо увидел пагоды, окруженные пальмами.‹«346 Diese Fähigkeit, die reale Welt auf ungewöhnliche Weise wahrzunehmen und mit eigenen Assoziationen und imaginären Elementen zu verknüpfen, welche in der literarischen Darstellung eine Verfremdung und Hybridisierung der ursprünglichen Eindrücke bewirkt, führt Grin gegenüber seiner zweiten Frau Nina während eines Spaziergangs in Otuzy (Kurortnoe) aus. In ihren Memoiren berichtet diese: Грин останавливает меня и указы­вает на оконный просвет в глубине здания. В просвете свешивается виноградная ветвь, слегка колеблемая ветром. Как попала она сюда? Все разрушено и затоптано вокруг дома. А она темно-зеленая, силь­ная, через тень внутренности здания на фоне яркого синего неба кажется живой картиной. ›Хороша‹, говорит Александр Степано­вич, ›на руинах живет и дышит. Что-то доверчивое есть в том, как она повисла средь старых камней и разбитой штукатурки. Вот нари­с ую я ее, как вижу, – будут читать, будет казаться им, что где-то это в чужой неизвестной стране, а это тут, близко, возле самой моей души и глаз. И все так, важно – как посмотреть. Мои глаза, чувства видят ее ragten verschwommen verstummte Paläste auf. Die Neva erschien wie eine Wüste, ein toter Raum der Stadt, der von Leben und Sonne verlassen wurde. In den Schlaglöchern, dem Wagenzug […], in der Atmosphäre furchtbarer Niedergeschlagenheit, die auf die bekannte, aber jetzt fremde Stadt herabgesunken war, war etwas Vorweggenommenes.« Auch das zentrale Motiv der roten Segel entsteht aus einem realen visuellen Eindruck Grins in Petrograd: »[…] началась с того же дня, когда, благодаря солнечному эффекту, я увидел морской парус красным, почти алым.« (vgl. Grin: ›Alye parusa‹. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 1; zit. nach Sukiasova: Novoe ob Aleksandre Grine, 69. RGALI, f. 127, op. 4, ed. chr. 12, l. 54. Dt.: »[…] es begann an dem Tag, an dem ich, dank eines Effekts der Sonne, ein Meeressegel rot, beinahe purpurfarben sah.«). 346 Arnol’di: Belletrist Grin, 179. Dt.: »›Weißt du, ich ging einmal hier entlang und plötzlich, dort von diesem Ort aus, sah ich vollkommen klar Pagoden, umgeben von Palmen.‹«.

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с той стороны, которой другой не замечает, оттого-то она и кажется нездешней. И люди мои, лишенные обязательного coleur locale [sic!], кажутся нездешними, а они – вокруг нас. Я их вижу, чув­ствую и описываю в цельности их чувств, желаний, переживаний, не смазанных никакими бытовыми, политическими и прочими наслое­ниями. Они живут, страдают, радуются и волнуют читателя.‹347

Bei Grinlandija handelt es sich also um einen Raum, der sich durch seine doppelte Hybridität in einem permanenten Spannungsfeld zwischen den Polen des Eigenen und des Fremden und des Realen und des Imaginären befindet. Daraus resultiert notwendigerweise seine Unverortbarkeit, d. h. eine Atopie, da Hinweise zu seiner Lage – z. B. geographischer, klimatischer oder kultureller Art – entweder widersprüchlich oder gar nicht vorhanden sind.348 Bezeichnenderweise wirkt diese Unverortbarkeit, wie jedes nicht klar einzuordnende Phänomen, auf die Rezipienten der Werke Grins als Provokation und Irritation, die es zu entschärfen gilt – und zwar durch nichtsdestotrotz immer wieder unternommene Versuche der Verortung. Zwar wird in der Sekundärliteratur zu Grin in der Regel anerkannt, dass Grinlandija (hier aufgrund der uneindeutigen Begriffsverwendung allerdings nicht zwingend beschränkt auf die erste, engste Bedeutung) nicht eindeutig lokalisierbar ist – Oulanoff formuliert prägnant: »Grin’s fiction defied topicality.«349  – doch zugleich werden immer wieder Versuche unternommen, ihm dennoch einen Platz auf der Weltkarte zuzuweisen. Schon zu Lebzeiten Grins äußert etwa der Kritiker Frid den Eindruck, dass die Handlung der 347 Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 85. Dt.: »Grin hält mich an und zeigt auf eine Fensteröffnung in der Tiefe des Gebäudes. In der Öffnung hängt ein Weintraubenzweig herab, der leicht vom Wind bewegt wird. Wie ist er hierhin geraten? Alles um das Haus herum ist verfallen und zertreten. Und er, dunkelgrün, stark, scheint durch den Schatten des Inneren des Gebäudes vor dem Hintergrund des hellen blauen Himmels wie ein lebendiges Bild. ›Der Gute‹, sagt Aleksandr Stepanovič, ›lebt und atmet auf den Ruinen. Es ist etwas Vertrauensvolles darin, wie er inmitten der alten Steine und dem zerbrochenen Stuck hängen geblieben ist. Zeichne ich ihn nun, wie ich ihn sehe, und sie lesen es, wird es ihnen scheinen, dass das irgendwo in einem fremden unbekannten Land ist, aber das ist hier, nah, neben meiner Seele selbst und meinen Augen. Und alles ist so, es kommt darauf an – wie man schaut. Meine Augen, Gefühle sehen ihn von jener Seite, die ein anderer nicht bemerkt, weshalb er auch fremd erscheint. Und meine Menschen, ohne die obligatorische coleur locale [sic!], erscheinen fremd, aber sie sind unter uns. Ich sehe, fühle und beschreibe sie in der Ganzheit ihrer Gefühle, Wünsche, Erlebnisse, die nicht durch irgendwelche alltäglichen, politischen und übrigen Überlagerungen verwischt sind. Sie leben, leiden, freuen sich und bewegen den Leser.‹«. 348 In einigen Werken wird diese Unverortbarkeit zusätzlich durch Details verstärkt. In der Erzählung »Vokrug sveta« beispielsweise, deren Handlung in Zurbagan spielt, werden Distanzen sowohl in Werst als auch in Meilen gemessen (vgl. VS , 610 u. 618). 349 Oulanoff: Grin, Aleksandr Stepanovich, 187.

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Werke in einem Land in Westeuropa oder Südamerika zu spielen scheint, räumt dann aber ein, dass sie sich keinem der in Frage kommenden Länder klar zuordnen lässt.350 Auch Luker, der sich intensiv mit dem fiktiven Land auseinandersetzt, weist darauf hin, dass Grin es absichtlich unmöglich macht, dieses zu verorten. Dennoch, so Luker, versuchen zahlreiche Kommentatoren eben dies zu tun, da sie Grinlandija als eine gut verschleierte Darstellung eines realen Landes interpretieren.351 Interessanterweise unternimmt er daraufhin seinerseits einen Versuch der Lokalisierung und führt dabei Südostasien als wahrscheinlichste Lage an, da die Städte Liss und Zurbagan als Häfen für Schiffe zwischen Europa und Australien fungieren.352 Die visuellen Ergebnisse derartiger Verortungsversuche zeigt eine Reihe von Karten Grinlandijas, die im Laufe der Zeit entworfen wurden. Grin selbst wird von seinen Zeitgenossen immer wieder auf das Thema der uneindeutigen Lage seiner fiktiven Schauplätze angesprochen. Gegenüber Veržbickij erwidert er: »›Не думаю, что у тебя изменится отношение ну, скажем, к Гамлету, если тебе скажут, что он не датчанин, а, допустим, житель Новой Зеландии…‹«.353 Vor diesem Hintergrund ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Schriftsteller sich in seiner späten Erzählung »Pari«, die erst posthum (1933) gedruckt wird, über die unvermeidlichen Verortungsversuche seiner fiktiven Schauplätze durch Kritiker und Bekannte lustig macht.354 Die Erzählung handelt von der im Titel genannten Wette, in deren Rahmen sich die beiden Protagonisten Spangid und Tenbrok mit der Aussicht auf den Gewinn von 5000 Dollar pro Person darauf einlassen, von Liss aus mit einem Flugzeug unter Einfluss von Schlafmitteln an einen unbekannten Ort gebracht zu werden, wo sie in einem verschlossenen Zimmer aufwachen – nur um nach zwölf Stunden ohne Auflösung des Geheimnisses um den Aufenthaltsort wieder zurück an den Ausgangspunkt geflogen zu werden. Schaffen sie es, die Ungewissheit auszuhalten, ist die Wette gewonnen.355 Spangid fasst die Situation mit Worten zusammen, die auf die Bewohner Grinlandijas im Allgemeinen übertragbar sind: »Мы везде и нигде. Равно можем мы сейчас лежать 350 Vgl. Frid: [Recenzija na knigu:] Grin A. Gladiatory, 187 f. 351 Vgl. Luker: Alexander Grin’s Grinlandia, 191. 352 Vgl. ebd., 192. 353 Veržbickij: Svetlaja duša. Naš sovremennik, 104. Dt.: »›Ich glaube nicht, dass sich dein Verhältnis, nun, sagen wir, zu Hamlet verändert, wenn man dir sagt, dass er kein Däne ist, sondern, mal angenommen, ein Bewohner Neuseelands…‹«. 354 In der Erzählung »Gatt, Vitt i Redott« findet sich ebenfalls eine Aussage über den Handlungsschauplatz, die als Seitenhieb Grins gegen seine Rezipienten gedeutet werden kann: »[…] африканские алмазные прииски, расположенные на реке Вивере (эта река такая маленькая, что ее нет на карте) […]« (GV, 381. Dt.: »[…] die afrikanischen Diamantenminen, die am Fluss Vivera gelegen sind (dieser Fluss ist so klein, dass er nicht auf der Karte eingezeichnet ist) […]«). 355 Vgl. PA , 630.

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в одном из прирейнских городков, на мысе Доброй Надежды, среди сосен Иоллостон-парка или снегов Аляски.«356 Beide Männer kämpfen von Beginn an gegen die Versuchung an, sich aus dem Zimmer ins Freie bringen und den Ort verraten zu lassen: »›[…] я нетерпелив, любопытен; пари непосильны для меня. Кажется я спрошу! […]‹«;357 »›Две тысячи долларов за честное слово тайны! Где мы?‹«358 Am Ende schafft es nur Tenbrok, die Ungewissheit zu ertragen, während Spangid seiner Neugierde nachgibt. Den finanziellen Verlust durch die verlorene Wette hofft er durch das Schreiben eines Buches »о ›неизвестности разрешенной‹«359 zu kompensieren. Den Wert dieser neizvestnost’ (dt.: Ungewissheit, Unbekanntheit) in Bezug auf Verortungen, deren Auflösung für Spangid – ebenso wie für die Literaturkritiker und -wissenschaftler – so unerlässlich scheint, unterstreicht Grin in seinem Fragment »Kontora neizvestnosti« (dt.: »Das Kontor der Ungewissheit«), das folgendermaßen beginnt: Бываетъ, что, захмелѣвъ, дремлешь, слышишь звуки, бѣду, но, – вдругъ, – не знаешь гдѣ ты. Это состояніе равно блаженству, его не опишешь. Ты – гдѣ-то. Можетъ быть, въ самыхъ необычныхъ мѣстахъ земли. Но контора основана на желаніи […] очутиться, очнувшись, въ Неизвѣстномъ, и, нѣкоторое время, даже не желать знать, гдѣ ты. Это восхитительно.360 356 PA , 629. Dt.: »Wir sind überall und nirgends. In einem Städtchen am Rhein ebensogut wie am Kap der Guten Hoffnung, zwischen den Kiefern des Yellowstone-Parks oder im Schnee von Alaska.« (Grin, Alexander: Die Wette. Aus dem Russischen von Renate Landa. In: Ders.: Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1989, 184–195, hier 185. Kürzel: PAd). Sehr ähnlich äußert sich der Reisebegleiter der beiden Männer: »Вы в Мадриде, в Копенгагене, Каире, Москве, Сан-Франциско и Будапеште.« (PA , 630. Dt.: »Sie sind in Madrid, Kopenhagen, Kairo, Moskau, San Franzisko und Budapest.« (PAd, 187)) Interessanterweise werden in beiden Fällen nur real existierende Orte genannt, während sowohl der Ausgangspunkt Liss als auch der Zielort der Reise, die Stadt Fel’ton auf der Insel Mageskan (möglicherweise abgeleitet von dem Entdecker Magellan) nahe Madagaskar fiktiv sind. 357 PA , 628. Dt.: »›[…] ich bin ungeduldig und neugierig; die Wette übersteigt meine Kraft. Also, ich werde fragen! […]‹« (PAd, 185; Hervorhebung im Original). 358 PA , 629. Dt.: »›Sie kriegen zweitausend Dollar für ein ehrliches Wort! Wo sind wir?‹« (PAd, 187). 359 PA , 634. Dt.: »über die ›Enträtselte Ungewißheit‹« (PAd, 194). 360 Grin, Aleksandr: Kontora neizvestnosti. [ok. 1921–1930]. In: Grin, A. S.: 5 zapisnych knižek A. S. Grina s tvorčeskimi nabroskami i otryvkami, s stichami v tekste, s zapisjami N. N. Grin. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 64, l. 119–120, hier 119–119ob.; Hervorhebungen im Original. Dt.: »Es kommt vor, dass du im Rausch döst, du hörst Geräusche, Unheil, aber  – plötzlich  – weißt du nicht, wo du bist. Dieser Zustand ist einer Glückseligkeit gleich, man kann ihn nicht beschreiben. Du bist – irgendwo. Vielleicht an den ungewöhnlichsten Orten der Erde. Aber das Kontor gründet auf dem Wunsch […], sich nach dem Erwachen im Unbekannten wiederzufinden und, für eine gewisse Zeit, nicht einmal wissen zu wollen, wo man ist. Das ist entzückend.«.

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Der doppelt hybride Raum Grinlandija ist Ausdruck der Wertschätzung eben dieser Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit, die Möglichkeiten eröffnet, Freiheiten schafft und die Entstehung von Neuem begünstigt. Vermischungen von Eigenem und Fremdem wie auch von Realem und Imaginärem, Aufhebungen von Grenzen und Grenzüberschreitungen (im konkreten geographischen wie im allgemeinen semiotischen Sinne) sind auch Bestandteil der im Folgenden genauer zu analysierenden Texte, obwohl sich ihre Schauplätze nicht in Grinlandija im engsten, hier verwendeten Verständnis befinden. Das strukturell Fremde tritt in den ersten beiden Erzählungen als Verheißung und Faszinosum auf, in der dritten dagegen als Bedrohung. Die Textauswahl wurde in dieser Form getroffen, um die Gewichtung der Axiologie des Fremden im Gesamtwerk Grins widerzuspiegeln, in dem geographisch und kulturell Fremdes überwiegend, aber eben nicht ausschließlich, positiv dargestellt wird. Dies begründet auch die Abweichung von der üblichen Anzahl von zwei exemplarisch analysierten Texten. Alle drei Texte entstehen zudem in einem ähnlichen Zeitraum (1913–1915) und bilden somit keine Entwicklung im Schaffen des Autors ab, etwa von einer positiven zu einer negativen Darstellung des strukturell Fremden, sondern zeigen die Ambivalenz des Themas sogar in ein und derselben Schaffensphase. 4.2.3

Begegnungen mit kulturell und geographisch Fremdem

4.2.3.1

Der Weg in die Fremde als Verheißung: »Put’«

Die Erzählung »Put’« wird erstmals in der Zeitschrift »Argus« (Nr. 8, 1915) veröffentlicht und erscheint im selben Jahr in Grins Sammelband »Zagadočnye istorii« im Verlag der Zeitschrift »Otečestvo« (dt.: »Vaterland«).361 Dem Titel der Sammlung gerecht werdend, handelt die Geschichte von dem rätselhaften Erlebnis des Protagonisten, dass vor seinen Augen plötzlich eine fremde Landschaft erscheint, die sich mit dem Anblick der Stadt, in der er sich befindet, vermischt – eine Situation, die an die oben erwähnte Episode erinnert, in der Grin beschreibt, wie er selbst plötzlich Palmen und Pagoden mitten in Sankt Petersburg erblickt. Als diegetischer Erzähler fungiert Këster, ein Bekannter des Protagonisten Ėli (Ėlion) Star, der über die Ereignisse aus seiner eigenen, d. h. einer narratorialen Perspektive berichtet. Von der rätselhaften Verdoppelung der Welt erfährt der Erzähler von Ėli selbst und gibt dessen ausführliche Beschreibung in direkter Rede wieder, sodass der Kern der Erzählung durch einen sekundä361 Vgl. Revjakina, A.: Primečanija. In: Grin, Aleksandr S.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 633–653, hier 647.

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ren, ebenfalls diegetischen Erzähler von der Rahmenhandlung abgegrenzt und gegenüber dieser hervorgehoben ist. Als deiktisches Zentrum zur Bestimmung von Eigenem und Fremdem fungiert innerhalb der Binnenerzählung der Protagonist Ėli, in der Rahmenhandlung dagegen der primäre Erzähler Këster. In der folgenden Analyse soll vor allem darauf eingegangen werden, wie das strukturell Fremde dargestellt wird, inwiefern Eigenes und Fremdes in »Put’« mit Realität und Phantasie korreliert sind, wie der Text mit der Aufhebung und Bestätigung der Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem wie auch zwischen Realem und Fantastischem spielt, und welche Rolle dem Erzähler dabei zukommt. Ėli schildert, wie er eines Morgens – ähnlich wie Kafkas Gregor Samsa – aufwacht und sich alles verändert hat, jedoch nur für ihn. Dies äußert sich zunächst nur unbestimmt, durch ein »непонятное, тревожное ожидание«.362 Etwas konkreter ist bereits sein »[…] ощущение глубокого, торжественного простора, который, так сказать, проникал в меня неизвестно откуда; я был в четырех стенах.«363 Hierin deuten sich gleich zwei Eigenschaften der Veränderung an: Sie ist räumlicher Natur, und sie ist paradox. Beim Verlassen des Hauses offenbart sich Ėli dann der Anblick einer verwandelten Welt: Über die Stadt vor seinen Augen hat sich eine hügelige Steppenlandschaft gelegt, die nur er allein sehen kann. Wie Kovskij anmerkt, ähnelt Ėlis Situation der des Protagonisten Davidson aus H. G.  Wells’ Kurzgeschichte »The Remarkable Case of Davidson’s Eyes« (1895), der ebenfalls vor seinen Augen eine gänzlich andere Welt als die ihn umgebende erblickt.364 Der Referent des Fremden im Sinne eines zugleich (kulturell, geographisch) Nichtzugehörigen und Unvertrauten ist hier also zunächst ein Ort bzw. Raum, die Zuschreibung erfolgt demnach notwendigerweise monodirektional und passiv. Interessanterweise ist Ėli nicht der einzige Interpret des Fremden, obwohl nur er diesen Raum 362 PU, 368. Dt.: »unverständliche, bange Erwartung« (Grin, Alexander: Der Weg. Aus dem Russischen von Renate Landa. In: Ders.: Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1989, 108–118, hier 112. Kürzel: PUd). 363 PU, 368; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »[…] [Gefühl] eine[r] tiefe[n], feierliche[n] Weite, die sozusagen in mich eingedrungen war, ich weiß nicht woher, denn ich war in meinen vier Wänden.« (PUd, 112; Hervorhebungen von A. B.). 364 Vgl. Wells, H. G.: The Remarkable Case of Davidson’s Eyes. In: Ders.: The Stolen Bacillus And Other Incidents. London 1912, 168–191. Vgl. hierzu Kovskij: Preobraženie dejstvitel’nosti, 47. Allerdings postuliert Kovskij in seinen weiteren Ausführungen einen Gegensatz zwischen der Phantastik Grins und derjenigen von Wells, da ersterer keine Erklärungen für übernatürliche Phänomene wie die Visionen Ėlis gibt, während letzterer, wie im Beispiel der Vision Davidsons, die sich als Folge einer durch Elektromagnetismus verursachten Verletzung der Netzhaut herausstellt, (pseudo-)wissenschaftliche Begründungen anführt (vgl. ebd., 48). Tatsächlich bleiben, wie in Kapitel 4.3 und 4.4 gezeigt wird, phantastische Erscheinungen bei Grin oftmals ohne eindeutige rationale Auflösung, allerdings werden nicht selten auch Anspielungen auf mögliche natürliche Erklärungen des Übernatürlichen gemacht, so z. B. Schlaf oder Rausch.

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sehen kann, weil auch andere Figuren der (Rahmen-)Erzählung, einschließlich des Erzählers, diese Einordnung auf der Grundlage von Ėlis Bericht übernehmen. Die Konstruktion von strukturell eigenem und fremdem Raum als Oppositionen Für die Beschreibung der Situation ist bezeichnend, dass der eigene Raum kaum thematisiert wird – der abstrakte Leser erfährt lediglich beiläufig durch den Erzähler und Ėli, dass man sich in einem städtischen Umfeld befindet und dass außerhalb der Stadt ein Park und eine Milchfarm liegen.365 Weitere Angaben werden nicht gemacht. Dies deckt sich mit der in den theoretischen Überlegungen ausgeführten Asymmetrie von Fremdheit, bei der das Eigene in der Regel das Unmarkierte, da Selbstverständliche, das Fremde dagegen das Markierte ist. Erst als die fremde Landschaft sich wie eine Folie über den eigenen Raum der Stadt legt, wird auch er genauer beschrieben, da nun sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit einer Kontrastierung besteht. Die Gegenüberstellung erfolgt explizit, wobei die Stadt von Ėli durch ein Possessivpronomen unmissverständlich als ›eigen‹ gekennzeichnet wird: »[…] два мира, из которых один был наш город, а другой представлял цветущую, холмистую степь с далекими на горизонте голубыми горами.«366 Wie schon beim Aufwachen die Weite des Raums Ėli in seinem Zimmer durchdrungen hat, so macht auch jetzt die Vision der Landschaft nicht an Wänden Halt: »[…] я видел […], в комнате привратника, […] дикие кусты, ручей, пересекавший улицу.«367 Interessanterweise gestaltet sich der Gegensatz zunächst lediglich als einer zwischen Stadt und Land, Kultur und Natur, und nicht zwischen In- und Ausland, Heimat und Fremde: So erhebt sich etwa »маленький цветущий холм […] в середине каменного тротуара«368 und der Protagonist »[…] пришел домой по каменному настилу мостовой и восхитительно густой траве изумрудного блеска.«369 Die Differenz der beiden Welten wird verstärkt durch ihre unterschiedlichen Formen: Die organische Hügellandschaft vermischt sich »своими очертаниями с угловатостью городских линий«.370 365 Vgl. PU, 366. 366 PU, 368. Dt.: »[…] zwei Welten […] – unsere Stadt, und eine hügelige blühende Steppe mit blauen Bergen am Horizont« (PUd, 115). 367 PU, 368. Dt.: »[…] ich [sah] […], im Zimmer des Concierge, […] wilde Büsche, ein Flüßchen, das die Straße durchschnitt.« (PUd, 115). 368 PU, 368. Dt.: »ein kleiner blühender Hügel […] mitten auf dem steinernen Trottoir« (PUd, 112). 369 PU, 368. Dt.: »[…] ging auf dem Steinpflaster nach Hause und zugleich auf herrlich dichtem Gras von smaragdenem Glanz.« (PUd, 115). 370 PU, 368. Dt.: »[mit ihren] Konturen […] mit den eckigen Stadtlinien« (PUd, 115).

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Zunächst scheint es, als könne die sich Ėlis Blick darbietende zweite Welt in Russland verortet werden, worauf sowohl die wenig außergewöhnliche Flora – Gras, Gänseblümchen, Steppenmargeriten, Büsche –371 als auch ihre Landschaftsformen  – Steppe, Hügel, Berge –372 hinweisen. Dieses Spiel mit der Aufhebung der Trennung zwischen eigenem und fremdem Raum durch die Unmöglichkeit ihrer klaren Unterscheidung ist vom ersten Erscheinen der Landschaft an im Text angelegt. Denn die allererste Vorahnung des Kommenden ist Ėlis Erwachen »в тоскливом настроении духа и тела«.373 Diese Schwermut ist über die Wurzel toska (dt.: Sehnsucht) mit dem in der russischen Geistesgeschichte fest verankerten Konzept einer Sehnsucht verbunden, die oftmals räumlicher Natur und dabei vor allem auf die Weite der russischen Erde – d. h. auf den eigenen Raum – bezogen ist. Tatsächlich befällt den Protagonisten gleich darauf auch noch ein entsprechendes »ощущение глубокого, торжественного простора«.374 Mit Ingold lässt sich diese Vermischung der Sehnsucht nach eigenem und fremdem Raum wie folgt erklären: »Russland ist so weitläufig, dass auch der Russe sich darin verliert, es als ferne Heimat empfindet, weshalb bei ihm denn auch Heimweh und Fernweh zu einer großen Nostalgie verschmelzen.«375 Erst im weiteren Verlauf der Beschreibung kommen immer mehr Elemente hinzu, die die Landschaft als strukturell fremd markieren und diese Verschmelzung aufheben. Der Protagonist erblickt einen Strom von Menschen, die auf einem Weg zu den Bergen am Horizont ziehen und deren Erscheinungsbild klar exotisch ist: Bei diesen nun personalen Referenten des Fremden handelt es sich um »полуголые люди«376 – was als Verweis auf Naturvölker verstanden werden kann – mit verschiedenen fremdartigen äußerlichen Eigenschaften teils ethnischer, teils kultureller Natur: »[…] смуглые дети, женщины нездешней красоты, воины в странном вооружении, с 371 Vgl. PU, 368. 372 Vgl. PU, 368 f. 373 PU, 367 f. Dt.: »in einer traurigen Gemüts- und Körperverfassung« (PUd, 112). Hier findet sich eine Parallele zu dem ›Träumer‹ in Dostoevskijs »Belye noči« (dt.: »Weiße Nächte«), der wie Ėli nach dem Aufwachen – ebenfalls am Beginn der Geschichte – eine »удивительная тоска« (Dostoevskij, Fëdor M.: Belye noči. Sentimental’nyj roman. (Iz vospominanij mečtatel’ja). In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Tom vtoroj. Povesti i rasskazy 1848–1859. Leningrad 1972, 102–141, hier 102. Dt.: »eigentümliche Art von Schwermut« (Dostojewski, Fjodor M.: Weiße Nächte. Eine Liebesgeschichte. Aus dem Russischen von Hermann Röhl. Berlin 2014, 11)) nach der Weite des Raums außerhalb der Stadt verspürt (vgl. dazu Ingold, Felix Philipp: Russische Wege. Geschichte, Kultur, Weltbild. München 2007, 113). 374 PU, 368; Hervorhebung von A. B. Dt.: »[Gefühl] eine[r] tiefe[n], feierliche[n] Weite« (PUd, 112; Hervorhebung von A. B.). 375 Ingold: Russische Wege, 112; Hervorhebung im Original. 376 PU, 369. Dt.: »halbnackte Menschen« (PUd, 116).

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золотыми украшениями в ушах и на груди«.377 Die dunkle Hautfarbe der Menschen wird in der kurzen Beschreibung sogar zweimal erwähnt (»смуглые дети«, »смуглы[е] люд[и]«)378 und gewinnt durch die Beschreibung Ėlis als blond379 zusätzlich an Gewicht als Marker für strukturelle Fremdheit. Darüber hinaus sprechen die in die Ferne ziehenden Leute auch noch »на непонятном наречии«.380 Die Menschen bilden zusammen mit ihren Kamelen und Maultieren sowie ihren Fuhrwerken381 einen scharfen Kontrast zu den jeweiligen Entsprechungen in der Stadt, den »чистенько одетые горожане, трамваи, экипажи«.382 Trotz dieses deutlichen Gegensatzes erscheint es, als ob die zwei Welten vor Ėlis Augen miteinander verschmelzen. Die Steppenlandschaft befindet sich »на том же месте, где город«,383 die Konturen beider verschwimmen ineinander384 und der Protagonist formuliert sogar explizit: »[…] для меня предметы стали как бы прозрачными, и я видел одновременно сливающимися, пронизывающими друг друга  – два мира […]«.385 Die Grenze zwischen eigener und fremder Umgebung scheint also aufgehoben zu sein. Implizit jedoch bleibt sie bestehen, was sich in Ėlis Beschreibung der beiden Welten, welche »сливаются и расходятся, не оставляя друг на друге следов малейшего прикосновения«386 andeutet. Noch deutlicher lässt sich die Konstellation parallel existierender, aber keine Berührungspunkte aufweisender Räume aus zwei komplementären Begebenheiten erkennen. Zum einen schildert Ėli, dass ein »господин, шедший впереди меня по тому же самому тротуару, прошел сквозь холм, да, он погрузился в него по пояс и удалился, как будто это была не земля, а легкий ночной туман.«387 Der 377 PU, 369; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »[…] dunkelhäutige Kinder, Frauen von fremdländischer Schönheit, Soldaten in sonderbarer Ausrüstung, mit goldenem Schmuck an den Ohren und auf der Brust« (PUd, 116; Hervorhebungen von A. B.). 378 PU, 369. Dt.: »dunkelhäutige Kinder«, »dunkelhäutige[…] Menschen« (PUd, 116). 379 Vgl. PU, 370. 380 PU, 369. Dt.: »in einer unverständlichen Mundart« (PUd, 116). 381 Vgl. PU, 369. 382 PU, 369. Dt.: »adrett gekleideten Städter[n], […] [den] Straßenbahnen und Equipagen« (PUd, 116). 383 PU, 368; Hervorhebung im Original. Dt.: »an derselben Stelle, wo die Stadt ist« (PUd, 115; Hervorhebung im Original). 384 Vgl. PU, 368. 385 PU, 368. Dt.: »[…] die Gegenstände [wurden] für mich gewissermaßen transparent […] und ich [sah] zwei Welten, ineinanderfließend und einander durchdringend, gleichzeitig […]« (PUd, 115). 386 PU, 369. Dt.: »verschmolzen und sich wieder trennten, ohne daß eine[…] a[n der] andern die geringste Spur einer Berührung zurückgelassen hätte« (PUd, 116). 387 PU, 368; Hervorhebung im Original. Dt.: »Herr, der vor mir auf dem Trottoir ging, durch den Hügel hindurch[schritt], ja, er versank bis zum Gürtel und entschwebte, als wäre das keine Erde, sondern leichter Nachtnebel.« (PUd, 112; Hervorhebung im Original).

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Bewohner des einen Raumes nimmt den anderen also nicht einmal taktil, geschweige denn visuell wahr. Das Gegenstück hierzu bildet ein Ausschnitt aus der am Beginn der Rahmenerzählung stehenden Unterhaltung des diegetischen Erzählers Këster mit dem Bruder der Verlobten Ėlis, Genniker, die sich über das merkwürdige Betragen des Protagonisten unterhalten. Këster errät, dass bei der letzten Begegnung zwischen Genniker und Ėli Letzterer Ersteren nicht bemerkt habe,388 denn sein eigenes letztes Aufeinandertreffen mit dem Protagonisten verläuft ebenso: »[…] я встретился с ним лицом к лицу; но он смотрел сквозь меня и прошел меня.«389 In diesem Fall ist es also die eigene Welt, die nicht wahrgenommen wird. Die beiden Räume scheinen zwar am selben Ort, aber gleichsam in zwei verschiedenen Dimensionen zu existieren. Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem zu Realität und Phantasie Obwohl die beiden gerade genannten Episoden durch den sekundären Erzähler nicht zueinander in Beziehung gesetzt werden, verbindet sie ihre analoge Struktur sowie die Wiederholung des Lexems skvoz’ (dt.: hindurch), das überdies in beiden Fällen graphisch hervorgehoben ist. Erst zusammen betrachtet offenbart sich die Bedeutung der beiden komplementären Szenen für das Verhältnis von Eigenem und Fremdem sowie für die Deutung des Sujets. Bezüglich Ersterem gibt die wiederholte Präposition skvoz’ eine Information über die Beschaffenheit beider Welten und weist dadurch auf die unmittelbar bevorstehende Widerlegung einer impliziten Annahme des abstrakten Lesers voraus. Denn sowohl durch die Information, dass der Mann durch den Hügel hindurchgeht wie durch Nebel, als auch dadurch, dass Ėli allein in der Lage ist, die Steppenlandschaft zu sehen, scheint es zunächst so, als ob die Stadt ihre gewöhnliche, solide  – und damit nicht zuletzt reale  – Materialität behalten hat und sich nur die Steppenlandschaft durch eine merkwürdige, im doppelten Sinne nicht greifbare, visionsartige Immaterialität auszeichnet. Wenige Sätze später jedoch formuliert der Protagonist: »[…] дома, улицы, вывески, трубы  – все было как бы сделано из кисеи, в прозрачности которой лежали странные пейзажи […]«.390 Die Verhältnisse scheinen sich hier also umgekehrt zu haben. In seiner Aussage »[…] для меня предметы стали как бы прозрачными […]«391 sieht Ėli schließlich gänzlich davon ab, 388 Vgl. PU, 366. 389 PU, 366; Hervorhebung im Original. Dt.: »[…] ich bin ihm […] begegnet, von Angesicht zu Angesicht, aber er sah durch mich hindurch und ging weiter.« (PUd, 110; Hervorhebung von A. B.). 390 PU, 368. Dt.: »[…] Häuser, Straßen, Aushängeschilder, Schornsteine – alles war wie aus durchsichtigem Mull, durch den eigenartige Landschaften zu sehen waren […]« (PUd, 115). 391 PU, 368. Dt.: »[…] die Gegenstände [wurden] für mich gewissermaßen transparent […]« (PUd, 115).

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zu spezifizieren, welcher Welt besagte transparente Gegenstände angehören. Besonders deutlich wird die Aufhebung der erwarteten Zuschreibung schließlich in der Formulierung »полн[ая] реальность картины«,392 die der Protagonist keineswegs in Bezug auf die Stadt, sondern auf die Steppenlandschaft verwendet.393 Es scheint also, als ob beide Räume in der Wahrnehmung des Protagonisten eine gleichermaßen phantasmagorische und reale Beschaffenheit aufweisen. Dadurch wird die unterstellte Zuordnung des städtischen Raums zur Sphäre der Realität und der Steppenlandschaft zur Sphäre der Phantasie in Frage gestellt und damit die Möglichkeit einer diesbezüglichen Gleichwertigkeit beider Welten angedeutet. Hierfür spricht auch, dass die fremde Welt die Eigenschaft aufweist, nur tagsüber sichtbar zu sein.394 Damit ähnelt sie nicht nur der eigenen Welt, die in der Dunkelheit der Nacht ebenfalls für das menschliche Auge weitgehend verschwindet, sondern gewinnt darüber hinaus an Glaubwürdigkeit, indem sie gerade kein Produkt der Nacht – der Sphäre von Traum- und Trugbildern – ist.395 Für den Protagonisten steht die reale Existenz des geheimnisvollen fremden Raums nach anfänglichen Zweifeln außer Frage. Er kündigt deshalb seiner Verlobten wie auch dem Erzähler Këster an, fortgehen zu wollen; gegenüber Letzterem führt er aus, warum und wohin: […] я вижу изо дня в день эту стремительную массу людей, проходящих через великую степь. Несомненно, их привлекает страна, лежащая за горами. Я пойду с ними. Я твердо решил это, я завидую глубокой уверенности их лиц. Там, куда направляются эти люди, непременно должны быть чудесные, немыслимые для нас вещи. Я буду идти, придерживаясь направления степной дороги.396 392 PU, 368. Dt.: »völlig[e] [R]eal[ität des] Bildes« (PUd, 115). 393 Vgl. dazu auch Davidsons Aussage über seine Vision in Wells’ Erzählung: »I never saw anything so real.« (Wells: The Remarkable Case, 177). 394 Vgl. PU, 368 f. 395 Auch darin besteht eine Parallele zu H. G. Wells’ »The Remarkable Case of Davidson’s Eyes«, da Davidsons Vision, ebenfalls umgekehrt als zu erwarten wäre, vor seinen geöffneten Augen erscheint – »the yards of the ship, and a tumbled sea, and a couple of birds flying« (Wells: The Remarkable Case, 177), während er mit geschlossenen Augen »in England again« (ebd.) ist. 396 PU, 369; Hervorhebung im Original. Dt.: »[…] ich sehe tagein, tagaus, wie diese Menschen zielstrebig die riesige Steppe durchqueren. Zweifellos zieht es sie in ein Land hinter den Bergen. Ich werde mit ihnen gehen. Dazu bin ich fest entschlossen, denn ich beneide sie um die tiefe Zuversicht in ihren Gesichtern. Dort, wohin diese Menschen streben, muß es wunderbare Dinge geben, von denen wir nichts ahnen. Ich werde gehen, werde dem Steppenweg folgen.« (PUd, 117; Hervorhebung im Original). Luker bezeichnet den Weggang (russ.: uchod) in die Isolation als typischste romantische Fluchtmethode der Helden aus dem belletristischen Frühwerk des Autors. Als Beispiele führt er Tart aus »Ostrov Reno« sowie Gorn aus »Kolonija Lanfier«, aber auch Ėli Star aus »Put’« an (vgl. Luker: Alexander Grin. A Survey, 350; vgl. dazu auch Luker:

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Am Morgen nach dieser Unterhaltung ist Ėli verschwunden. Die Erzählung macht daraufhin einen Zeitsprung von zehn Jahren hin zu dem Moment, als der primäre Erzähler die Nachricht erhält, dass der Protagonist bettelarm in Rio de Janeiro gestorben ist.397 Zwar lässt das Ende der Geschichte die Vermutung zu, dass Ėli seinen Plan umgesetzt hat und tatsächlich auf dem titelgebenden Weg in den fremden Raum hinübergegangen ist, was dessen reale Existenz bestätigen und das Land hinter den Bergen als Brasilien identifizieren würde – allerdings wird dies bis zuletzt nicht eindeutig aufgeklärt. Einen Hinweis in diese Richtung geben die beiden zuvor erwähnten komplementären Episoden zur Nichtwahrnehmung jeweils einer der beiden Welten. Betrachtet man in ihnen die mit der wiederholten Präposition ›hindurch‹ verbundenen Verben  – smotrel skvoz’ (dt.: er blickte hindurch) und prošël skvoz’ (dt.: er ging hindurch), lassen diese sich als Kurzfassung der so interpretierten Handlung lesen: Auf das Hinübersehen in die andere Welt folgt das Hinübergehen des Protagonisten. Die Szene, in der er seine Bekannten nicht erkennt, ist demnach als Übergangsphase zu verstehen, in der Ėli die eigene Welt der Stadt zwar physisch noch nicht verlassen hat, mental aber bereits den Übergang in die fremde Welt der Steppe vollzogen hat. Damit qualifiziert er sich als Held im Lotman’schen Sinne, der als Einziger in der Lage ist, eine semiotische Grenze zu überschreiten –398 zumal eine spezifische, von Lotman in seinen Überlegungen zur Semiosphäre ausdrücklich erwähnte Grenze: »Граница может отделять […] город от степи […]«.399 Ebenfalls für diese Lesart spricht die Information, dass Ėli im Tod ein Lächeln auf den Lippen trägt, was der primäre Erzähler mit der Realisierung des Weggangs in die andere Welt verknüpft: »›Он улыбался‹. Неужели он Alexander Grin, 55). Anders als die ersten beiden wird Letzterer jedoch keineswegs von dem Wunsch nach Einsamkeit zu seinem Weggang motiviert – im Gegenteil, er spricht explizit davon, zusammen mit den Menschen aus der Karawane in das Land hinter den Bergen ziehen zu wollen. 397 Vgl. PU, 370. »Put’« weist Parallelen zu der wenige Jahre zuvor erschienenen Erzählung »Sistema mnemoniki Atleja« (1911; dt.: »Atlejs Mnemoniksystem«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Sistema mnemoniki Atleja. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 478–482. Kürzel: SI) auf, in der ein Mann namens Plener ein Lied singt, das mit den Worten »Земля не принимает моих следов« (SI, 478. Dt.: »Die Erde nimmt meine Spuren nicht auf.«) beginnt, und anschließend, wie Ėli, spurlos verschwindet. Darauf folgt ebenfalls ein Zeitsprung von etwa zehn Jahren, bevor die Erzählung wieder einsetzt. Im Gegensatz zu Ėli kehrt Plener nun zurück, allerdings ohne sich an die Ereignisse der Zwischenzeit erinnern zu können. Erst mit Hilfe der im Titel genannten mnemonischen Techniken gelingt es ihm, sich zurück ins Gedächtnis zu rufen, dass er unter einem anderen Namen gelebt hat und viel gereist ist; negative Erlebnisse jedoch scheinen endgültig aus seiner Erinnerung gelöscht (vgl. SI, 482). 398 Vgl. Lotman: Struktura chudožestvennogo teksta, 230. 399 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 257. Dt.: »Die Grenze kann zwischen […] Stadt und Steppe gezogen werden […]« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 174).

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нашел перед смертью страну, лежащую за горами?«.400 Damit endet die Erzählung  – bezeichnenderweise mit einer Frage, denn eine abschließende Beantwortung ist nicht möglich. Narrativ erzeugte Uneindeutigkeiten und Leerstellen Dieser Umstand ist dem Typus des primären Erzählers ohne Fähigkeit zur Introspektion geschuldet, was zur Folge hat, dass dieser sämtliche ihm bekannte Informationen über das Geschehen nur aus zweiter Hand erfährt und dabei deutlich weniger weiß als der Protagonist. Seine vollständige Abhängigkeit von Ėlis Wissen bei allem, was mit der fremden Landschaft in Zusammenhang steht, kommt auch formell darin zum Ausdruck, dass er dessen Beschreibungen – über mehrere Seiten hinweg – in wörtlicher Rede wiedergibt. Diese Schilderung des Protagonisten ist jedoch notwendigerweise rein subjektiv – es gibt keine weitere Person, die seine Angaben bestätigen könnte –, und zudem nicht umfassend; Ėlis Weggang verhindert dabei jede Möglichkeit einer Nachfrage seitens des diegetischen primären Erzählers. Damit besteht von Anfang an beim Erzähler ein Informationsdefizit, aus dem eine Unsicherheit darüber, wie die Geschehnisse zu bewerten sind, resultiert. Diese überträgt sich zwangsläufig auf den abstrakten Leser, der mit einer narrativ bedingten Fremdheit (epistemischen Unvertrautheit) konfrontiert ist. Besonders deutlich wird die Mittelbarkeit des Erzählerwissens noch einmal am Ende von »Put’«, direkt nach dem Gespräch mit Ėli. Von dessen Verschwinden erfährt Këster nur durch ein Medium (im doppelten Sinne), nämlich über eine Vermisstenanzeige in der Zeitung. Die abschließende Information über den Tod des Protagonisten erhält der primäre Erzähler gar nur aus mindestens dritter Hand: Ein Arzt aus Rio de Janeiro erstattet Ėlis Vater Bericht, diese Nachricht gelangt auf unbekanntem Weg zu einem Wirt, der wiederum Këster davon erzählt. Auch hier fehlt somit jede Möglichkeit einer Verifizierung. Die gesamte Erzählung über werden also Fragen aufgeworfen, aber nicht oder nicht eindeutig beantwortet, sowie durch beiläufige Hinweise aufgebaute Vermutungen oder Erwartungen des abstrakten Lesers nicht erfüllt: Ist das fremde Land Realität oder nur eine Vision? Beruht diese Fremdheit auf einem Gegensatz von Stadt und Land oder handelt es sich doch vielmehr um Exotik? Verschwimmen beide Welten miteinander oder sind sie scharf voneinander abgegrenzt? Und schließlich: Handelt es sich bei dem Land hinter den Bergen um Brasilien oder wurde der Protagonist nur zufällig dort aufgefunden? All dies bleibt letztlich in der Schwebe. Der fremde Raum zeichnet sich somit nicht nur durch Fremdheit im Sinne von Nichtzugehörigkeit, sondern ganz wesentlich auch durch Fremdheit im 400 PU, 370. Dt.: »›Er lächelte.‹ Sollte er vor seinem Tod das Land hinter den Bergen gefunden haben?« (PUd, 118).

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Sinne von Unvertrautheit aus: Er ist unbekannt, unverständlich, undefinierbar. Die zahlreichen Unsicherheiten bezüglich des fremden Landes betreffen dabei nicht nur den abstrakten Leser, sondern auch alle handelnden Personen der Erzählung – anfangs sogar auch den Protagonisten. Der Unvertrautheit kommt eine entscheidende Rolle bei der Bewertung dieses Raums zu: Das eigentlich Befremdliche an ihm ist nicht die Fremdartigkeit der Landschaft und der Menschen, sondern die Unerklärlichkeit seiner Existenz und seines Wesens. Die Axiologie des fremden Raums Die Wirkung des fremden Raums besteht somit, wie bei jedem Fremden, zunächst einmal in einer Verunsicherung. Ėli selbst macht in seinem Gespräch mit dem primären Erzähler deutlich, wie sehr er durch das Erscheinen der Steppenlandschaft inmitten der Stadt irritiert ist. Bereits die erste Vorahnung an jenem Morgen, an dem sein Abenteuer beginnt, beschreibt er als »непонятное, тревожное ожидание«401 – und ebenso unverständlich und (eben deswegen) beunruhigend gestaltet sich dann auch das Kommende. Den ersten grünen Hügel inmitten der Stadt erblickt er kurz darauf »[с] глубоким удивлением«402 und kehrt schließlich abends »[о]шеломленный«403 nach Hause zurück. An Këster gewandt, erklärt er: »Я был бы идиотом, если бы захотел дать тебе уразуметь степень потрясения, уничтожившего меня до полного паралича мысли […].«404 Ėlis Verwirrung zeigt sich im Gespräch mit dem Erzähler auch an seinen »[…] скомканные полуотрывочные фразы, которые обыкновенно предшествуют рассказу всякого потрясенного человека.«405 Obwohl das Gesehene unbegreiflich ist, ringt der Protagonist dennoch darum, es seinem Gegenüber verständlich zu machen. Dabei bedient er sich mehrerer Vergleiche, weil das Phänomen nur indirekt beschreibbar ist: »все было как бы сделано из кисеи«,406 »предметы стали как бы прозрачными«,407 und der Passant geht durch den Hügel hindurch »как будто это была не земля, а легкий ночной туман«.408 Den Gesamteindruck der beiden übereinandergelegten Welten versucht er seinem Zuhörer durch die Umschreibung 401 PU, 368. Dt.: »unverständliche, bange Erwartung« (PUd, 112). 402 PU, 368. Dt.: »[h]öchst verwundert« (PUd, 112). 403 PU, 368. Dt.: »[v]erstört« (PUd, 115). 404 PU, 368. Dt.: »Ich wäre ein Idiot, wollte ich dir den Grad der Erschütterung begreiflich machen, die mein Denken völlig lähmte […]« (PUd, 115). 405 PU, 367. Dt.: »[…] gestammelten Satzfetzen […], die gewöhnlich der Erzählung eines erschütterten Menschen vorausgehen.« (PUd, 112). 406 PU, 368. Dt.: »alles war wie aus […] Mull« (PUd, 115). 407 PU, 368. Dt.: »die Gegenstände [wurden] […] gewissermaßen transparent« (PUd, 115). 408 PU, 368. Dt.: »als wäre das keine Erde, sondern leichter Nachtnebel.« (PUd, 112).

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»дефект зрения«409 zu vermitteln. Die Unzugänglichkeit der fremden Welt kommt hier also auch in der Sprache zum Ausdruck, wird mit ihrer Hilfe aber zugleich abgemildert und gleichsam angeeignet. Es findet also eine zumindest partielle Versicherung der Grenzen der eigenen (Wissens-)Ordnung statt, indem das fremde Phänomen im Zuge der Versprachlichung in diese integriert, also sogar im zweifachen (wörtlichen und semiotischen) Sinne in deren Sprache übersetzt wird. Zunächst allerdings entschließt sich der Protagonist dazu, seine Erlebnisse gänzlich für sich zu behalten. Seiner Verlobten Sintija teilt er daher lediglich mit, dass er die Hochzeit absagen und weggehen werde, er vertraut sich seinem zukünftigen Schwager Genniker nicht an, und auch Këster muss ihn erst überreden, die Gründe für sein als skandalös wahrgenommenes Verhalten gegenüber seiner Verlobten offenzulegen. Ėli erklärt sein Schweigen gegenüber dem Erzähler damit, »[…] что мне нельзя верить […]. Если я расскажу тебе в чем дело, то погублю все. Вы – то есть ты и Генникер – отправите меня с доктором […]«.410 Er befürchtet also, selbst von seinen Freunden für verrückt gehalten zu werden. Diese Begründung ist bezeichnend, da sie auf eine weitverbreitete Strategie des Umgangs mit unverständlichen, unerklärlichen, die bekannte Ordnung der Welt in Frage stellenden Phänomenen verweist. Die einfachste Option, dieser Bedrohung zu begegnen, liegt darin, denjenigen, der die Existenz einer solchen Erscheinung behauptet, für unzurechnungsfähig zu erklären. Die Grenzen des Eigenen, Bekannten und Vertrauten bleiben damit unangetastet, die Verunsicherung wird durch eine Versicherung der selbigen überwunden. Wie richtig Ėli mit dieser Einschätzung liegt, zeigt Kësters keineswegs neutrale Beschreibung der Erregung des Protagonisten als »приступ экзальтации«.411 Nach dem Ende des Gesprächs mit Ėli verrät er dem Leser sogar explizit: »[…] я чувствовал потребность немедленно идти к Генникеру и обсудить качества одной хорошей лечебницы.«412 Die Abweichungsheterotopie des Irrenhauses wird also als angemessener Ort für den Protagonisten betrachtet. Ėlis Umfeld bewertet den fremden Raum somit klar negativ – als Trugbild und Ausdruck geistiger Verwirrtheit des Protagonisten und zudem als Ursache für die als rücksichtslos und unverständlich wahrgenommene Trennung von seiner Verlobten. Für den Protagonisten stellt sich die Angelegenheit dagegen ambivalenter dar. Einerseits sind die beiden soeben genannten Aspekte auch 409 PU, 368. Dt.: »Sehstörung« (PUd, 115). 410 PU, 367. Dt.: »[…] weil mir ohnehin keiner glaubt. […] Wenn ich dir erzähle, worum es geht, mache ich alles kaputt. Ihr, das heißt du und Hennicker, würdet mich zu einem Arzt schicken […]« (PUd, 111). 411 PU, 370. Dt.: »Anfall von Exaltation« (PUd, 117). 412 PU, 370. Dt.: »[…] [ich] fühlte […] das Bedürfnis, unverzüglich Hennicker aufzusuchen und mit ihm die Möglichkeiten einer guten Heilanstalt zu erörtern.« (PUd, 117).

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für Ėli von Bedeutung: Aufgrund der Unerklärlichkeit der Erscheinung mischt sich in die Faszination angesichts der Hügellandschaft auch Angst um die eigene Zurechnungsfähigkeit, was in dem Oxymoron »чувство[…] сладкого ужаса«,413 der ihn beim Anblick des fremden Landes überfällt, zum Ausdruck kommt. Auch leidet der Held unter der Trennung von Sintija,414 akzeptiert sie aber als Notwendigkeit, weil er weiß, dass nur er allein die Grenze zum anderen Raum überschreiten kann. Andererseits beziehen sich beide Punkte nur indirekt auf das fremde Land, denn es handelt sich dabei vielmehr um negative Bewertungen von dessen Auswirkungen auf Ėli und sein Umfeld. Der fremde Raum an sich ist für Ėli dagegen eindeutig positiv besetzt, wie sich an Beschreibungen wie »восхитительно густ[ая] трав[а]«415 und »странный, великолепный пейзаж«416 oder der Aussage »[…] все это действовало на меня так же, как солнечный свет на прозревшего слепца«417 erkennen lässt. Die Steppenlandschaft und die auf dem Weg in die Ferne ziehenden Menschen versprechen ihm »чудесные, немыслимые для нас вещи«,418 für die er bereit ist, ohne zu Zögern alles hinter sich zu lassen. Das Positive des fremden Raums überwiegt somit deutlich. Auch bei dieser Bewertung kommt der Fremdheit im Sinne einer Unvertrautheit eine entscheidende Rolle zu, allerdings in genau entgegengesetzter Weise als zuvor. Während diese, wie oben ausgeführt, auf der einen Seite ein wesentlicher Grund für die negative Bewertung der fremden Welt durch Ėlis Umfeld ist, besteht zugleich gerade in ihr deren unwiderstehliche Anziehungskraft auf den Protagonisten. Denn es ist nicht in erster Linie die fremde Steppenlandschaft, die in Ėli den Wunsch weckt, in die andere Welt hinüberzugehen, sondern der nicht zufällig im Titel der Erzählung genannte Weg, welcher »к таинственному амфитеатру гор«419 führt, und vor allem die »страна, лежащая за горами«.420 Das Ziel ist also in doppelter Hinsicht unbekannt, handelt es sich doch nicht etwa ›nur‹ um die vor Ėlis Augen erschienene Landschaft, über die der Protagonist außer einigen wenigen visuellen Eindrücken nichts weiß, sondern sogar um ein hinter deren Horizont gelegenes und damit gänzlich unbekanntes Land, dessen Existenz der Protagonist allein aus den in die Ferne ziehenden Menschen und dessen Glücksverheißung er allein aus der Zuversicht in den Gesichtern dieser Menschen ableitet. Diese Unsicherheit – 413 PU, 369. Dt.: »[Gefühl von] wonnigem Entsetzen« (PUd, 116). 414 Vgl. PU, 367. 415 PU, 368. Dt.: »herrlich dichte[s] Gras« (PUd, 115). 416 PU, 369. Dt.: »wundersame, phantastische [wörtl.: prächtige] Landschaft« (PUd, 116). 417 PU, 369. Dt.: »[…] das alles wirkte auf mich wie das Sonnenlicht auf einen sehend gewordenen Blinden« (PUd, 116). 418 PU, 369. Dt.: »wunderbare Dinge […], von denen wir nichts ahnen« (PUd, 117). 419 PU, 369. Dt.: »dem geheimnisvollen Amphitheater der Berge entgegen« (PUd, 116). 420 PU, 369. Dt.: »Land hinter den Bergen« (PUd, 117).

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»Куда идут эти люди?«421 – steht also nicht etwa im Widerspruch, sondern im Zusammenhang mit dem festen Entschluss des Helden: »Я пойду с ними.«422 Es kommt damit in doppelter Hinsicht zu einer Aufhebung der Dichotomie zwischen Eigenem und Fremdem in Bezug auf beide grundlegende und auch hier vorliegende Bedeutungen des Fremden: Indem der Protagonist in den fremden (nichtzugehörigen) Raum hinübergeht und ihn damit ebenfalls zu seinem eigenen macht, kommt es zu einer Verhandlung der Grenzen zwischen geographisch Eigenem und Fremdem und deren letztendlicher (subjektiver) Aufhebung. Dies geht einher mit einer Versicherung in Bezug auf die dem Selbst gesetzten Grenzen, welche durch Aneignung des kulturell Unvertrauten ebenfalls aufgehoben werden. Es liegt also eine stark abnehmende Dynamik der Fremdheit vor. Nach der Aufhebung der Dichotomie eigen / fremd kommt es also zu einer Assimilation des Fremden. Vorher, solange der Gegensatz noch besteht, zeigt der Protagonist in Bezug auf das strukturell Fremde dagegen klar die Umgangsstrategie der Verklärung. Interessant ist an dieser Stelle, dass das Eigene – der eigene Raum, das eigene, bisherige Leben – für den Protagonisten keineswegs negativ besetzt ist. Die hier vorliegende Axiologie durchbricht also das gewohnte Muster gut vs. schlecht und ersetzt die Kontrastierung durch eine Steigerung: Ėli tauscht sein gutes Leben im eigenen Land gegen ein besseres im fremden. Er macht damit den fremden Raum zu seinem eigenen, ohne sich von dem ursprünglich eigenen durch eine negative Einstellung loszusagen – wie durch die parallele Präsenz von Stadt und Landschaft in seiner Vision implizit angekündigt wird. Ganz anders stellt sich die Situation in einer nur zwei Jahre vor »Put’« erschienenen Erzählung Aleksandr Grins dar, die auf den ersten Blick der soeben besprochenen sehr ähnlich zu sein scheint – bis hin zum Titel. Auch in »Dalëkij put’« (1913)423 verlässt eine der handelnden Figuren ihre Heimat in Richtung Südamerika. Die Axiologie von eigenem und fremdem Raum ist hier jedoch eine gänzlich andere, zudem ist die Erzählung, anders als »Put’«, im Stil des Realismus geschrieben. Parallelen zu »Put’« weist »Dalëkij put’« dagegen in dem auch hier anzutreffenden Spiel mit Grenzaufhebungen zwischen strukturell Eigenem und Fremdem auf, in diesem Fall allerdings nicht in Bezug auf Räume, sondern auf Zugehörigkeiten bzw. Identitäten.

421 PU, 369. Dt.: »Wohin gehen diese Menschen?« (PUd, 117). 422 PU, 369. Dt.: »Ich werde mit ihnen gehen.« (PUd, 117). 423 Die Ersterscheinung in »Niva« (dt.: »Das Feld«), Nr. 9 (1913) trägt noch den Titel »Gornye pastuchi v Andach« (dt.: »Berghirten in den Anden«; vgl. Revjakina: Primečanija. Sobranie sočinenij. Tom vtoroj, 642).

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4.2.3.2 Der Weg in die Fremde als Befreiung: »Dalëkij put’«

In »Dalëkij put’« berichtet ein russischer, diegetischer Erzähler von seiner Reise, vermutlich durch die Anden, und einer während dieser stattfindenden Begegnung mit einem Mann, der zunächst ein Einheimischer zu sein scheint, sich dann aber ebenfalls als gebürtiger Russe entpuppt. Die Geschichte dieses Mannes ist, ähnlich wie in »Put’«, eine Erzählung in der Erzählung. Dabei bilden Kapitel I und IV den Rahmen, dessen Handlung durch den reisenden, primären Erzähler präsentiert wird, während in Kapitel II und III der Protagonist, der emigrierte Russe, die Rolle des sekundären Erzählers einnimmt und die Hintergründe seiner Auswanderung darstellt. Bereits aus diesen Grundzügen wird deutlich, dass strukturell Eigenes und Fremdes – hier ebenfalls in geographischer und kultureller Hinsicht – in »Dalëkij put’« eine zentrale Rolle spielen. Das deiktische Zentrum, von dem aus das Fremde bestimmt wird, liegt dabei jeweils bei der Figur, die die Erzählerrolle innehat. Da es sich um eine kulturell-geographische Alienität handelt, umfasst der Referent des Fremden personale Entitäten (die Bewohner des fremden Raums) ebenso wie nichtpersonale (den Raum selbst, dessen Geographie, Klima, Flora und Fauna etc., sowie materielle und immaterielle kulturelle Erzeugnisse). Das Fremde ist dabei sowohl ein Nichtzugehöriges als auch ein Unvertrautes. Die folgende Analyse beleuchtet insbesondere die Darstellung, die Wechselwirkung und die – bei primärem und sekundärem Erzähler unterschiedliche – Axiologie von Eigenem und Fremdem sowie das Moment der Überschreitung, Verschiebung und Aufhebung von Grenzen. Die (Nicht-)Verortung und Fremdsetzung des Schauplatzes durch den primären Erzähler Zunächst einmal ist der Schauplatz der Rahmenerzählung zu betrachten. Dabei fällt auf, dass eine genaue geographische Verortung nicht möglich ist. Nicht einmal der Kontinent Südamerika wird explizit genannt, geschweige denn ein Land oder gar ein konkreter Ort. Der abstrakte Leser erfährt zu Beginn der Erzählung lediglich, dass der Erzähler »в горах«424 unterwegs ist. Der Name seines Reiseführers, Choze Čusito (span.: José Chusito), und später auch die Namen der anderen beiden namentlich vorgestellten Personen, Dias (span.: Diaz) und Lolita, suggerieren einen spanischsprachigen Kontext, was in geographischer Hinsicht jedoch noch immer wenig spezifisch ist. Dass der Schauplatz in Südamerika liegt, lässt sich erst in der Mitte der Erzählung der Information entnehmen, dass der sekundäre Erzähler zu seiner Auswanderung wesentlich durch eine Zeichnung mit dem Titel »Горные пастухи

424 DP, 139. Dt.: »in den Bergen«.

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в Андах«425 inspiriert wird. Das Bild stimmt in vielen Details mit dem Ort überein, an dem die Handlung von »Dalëkij put’« stattfindet: Die dort abgebildeten hohen Berge, Schnee, ein Pfad und Reiter auf Maultieren mit Umhängen, Hüten und Gewehren426 finden sich auch in der Beschreibung des primären Erzählers.427 Allerdings ist bezeichnenderweise ausgerechnet die für die Andenregion typischste Fauna, nämlich Lama und Kondor, nur auf der Zeichnung zu sehen,428 während sie in den Beschreibungen des Erzählers nicht auftaucht, wodurch eine eindeutige Lokalisierung des Schauplatzes in den Anden ausbleibt. Eine weitere unpräzise geographische Angabe findet sich in der Aussage des Protagonisten, sein Schiff habe nach der Überfahrt über den Ozean »в устье величайшей реки мира«429 Anker geworfen – gemeint ist wohl der Amazonas als wasserreichster Fluss der Welt. Die einzigen in Bezug auf den Schauplatz erwähnten Toponyme sind »Красн[ая] седловин[а]«,430 was auf Spanisch dem äußerst unspezifischen Ortsnamen Collada roja entsprechen würde, sowie der fiktive Berg Seniar, dessen Name zwar möglicherweise in Anlehnung an das spanische Lexem señor (dt.: Herr) gebildet wurde, aber keine geläufige spanische Ortsbezeichnung darstellt. Noch weniger hilfreich für eine genauere Verortung des Schauplatzes in den Anden ist der Name des Berggeists, der einer lokalen Legende zufolge den Seniar bewohnt: Pedro-di-Santuaro. Nicht nur handelt es sich bei dem letzten Namensteil um eine Abwandlung des spanischen Lexems santuario (dt.: Heiligtum), die, wie ›Seniar‹, kein existierendes spanisches Wort darstellt, wenn dies auch für einen russischsprachigen unterstellten Adressaten ohne Spanischkenntnisse so klingen mag.431 Zusätzlich bildet den Mittelteil auch noch die italienische Präposition di anstelle der spanischen de (dt.: von, aus). Der Schauplatz entzieht sich somit aufgrund fehlender, unpräziser oder gar irreführender Angaben einer eindeutigen Verortung. Vor diesem Hintergrund ist die Darstellung des strukturell Fremden durch den diegetischen primären Erzähler zu betrachten. Die Herkunft des Erzählers, die bestimmt, was für ihn als eigen, und somit auch, was für ihn als fremd gilt, wird anfangs nicht thematisiert. Sie kann auch nicht aus seinem Namen geschlossen werden, da dieser unbekannt bleibt. Erst im Laufe der Erzählung erhält der abstrakte Leser die explizite Information, dass der Erzähler Russe ist. Damit deckt sich seine Einteilung von strukturell Eigenem und Fremdem

425 DP, 146. Dt.: »Berghirten in den Anden«. 426 Vgl. DP, 146. 427 Vgl. DP, 140 f. u. 153. 428 Vgl. DP, 146. 429 DP, 149. Dt.: »in der Mündung des größten Flusses der Welt«. 430 DP, 150. Dt.: »Roter Bergsattel«. 431 Auch Aleksandr Grin selbst spricht kein Spanisch.

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mit der des unterstellten Adressaten, der im wahrscheinlichsten Fall selbst russischer Nationalität ist. Obwohl also anfangs noch unklar ist, dass ›eigen‹ für den Erzähler ›russisch‹ bedeutet, wird von Beginn an anhand seiner Beschreibungen der Landschaft und der Menschen deutlich, dass es sich bei ihm in jedem Fall nicht um einen Einheimischen der dargestellten Gegend handelt. Das bedeutet, dass eine Umkehrung der eigentlichen Verhältnisse vorliegt: Obwohl der Erzähler der Fremde ist, beschreibt er seine Eindrücke aus seiner Sicht, in der die Einheimischen und ihre Heimat fremd sind. Diese Perspektive ist typisch für Reiseberichte, in denen sowohl durch den Verfasser als auch durch die unterstellten Adressaten in seinem Herkunftsland die bereisten Länder und deren Bewohner auf diese Weise betrachtet werden. Auf die Fremdheit des Raums für den Erzähler lassen neben der Information, dass er auf Reisen und zudem mit einem Führer unterwegs ist,432 bestimmte Aussagen schließen, wie beispielsweise sein Erstaunen über die steilen Bergpfade433 oder über die Beschaffenheit der Herberge, die für einen Einheimischen kaum erwähnenswert, da gänzlich gewöhnlich, wären. So betont der Erzähler etwa mehrmals die Einfachheit des Gebäudes, indem er es als »хижин[a]«434 und »сложенно[e] из дикого камня здани[e]«435 bezeichnet und auch die Einrichtung entsprechend beschreibt, z. B. den »грубо сделанн[ый] гигантск[ий] очаг[…]«436oder die »табурет[ы], вернее, обрубк[и] дерева«.437 Vor allem aber manifestiert sich die strukturelle Fremdheit in den Bewohnern dieses Raums. So ist dem Erzähler die mit Federn oder Pferdehaar geschmückte Kleidung der Einheimischen so fremd, dass er sie als »[п]естрые, вызывающие костюмы«438 beschreibt, was einerseits in der Bedeutung ›Tracht‹ neutral auf eine traditionelle Bekleidung verweisen kann, andererseits aber auch im Sinne von ›Kostüm‹ oder ›Verkleidung‹ gelesen werden kann, also als Ausdruck dessen, dass der Sprecher diese als unnatürlich empfindet. Die Abgrenzung wird dadurch verstärkt, dass der Erzähler umgekehrt ebenfalls die Aufmerksamkeit der Einheimischen erregt, »так как я был одет по-своему«.439 Auch in diesem Fall ist neben der Tatsache der Hervorhebung an sich die Formulierung interessant, denn der Erzähler konstatiert nicht etwa einfach nur, dass er ›anders‹ als die Menschen um ihn 432 Vgl. DP, 139. 433 Vgl. DP, 140. 434 DP, 152. Dt.: »Hütte«. 435 DP, 140. Dt.: »aus naturbelassenem Stein gebautes Gebäude«. 436 DP, 140. Dt.: »grob angefertigten gigantischen Herd«. 437 DP, 140. Dt.: »Hocker, oder vielmehr, Holzstümpfe«. 438 DP, 140. Dt.: »bunte, auffällige Kostüme«. 439 DP, 141. Dt.: »da ich nach meiner Art gekleidet war«.

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herum gekleidet sei, sondern explizit ›in der eigenen Art und Weise‹. Die Fremdheit zwischen den personalen Referenten ist somit eine bidirektionale, die jeweils passiv durch Zuschreibung erzeugt wird. Obwohl sie ausführlich be- und umschrieben wird, wird sie jedoch nicht direkt benannt und bleibt damit implizit. Die Fremdheit der Einheimischen setzt sich in ihrer körperlichen Erscheinung fort. Besonders die Gesichter treten mehrfach als Marker für Alienität auf – der primäre Erzähler bezeichnet sie als »полудикие«440 und – wie in »Put’« – »смугл[ые]«.441 Die dunkle Hautfarbe der Menschen erwähnt auch der sekundäre Erzähler in seiner Geschichte. Er verwendet sogar zweimal den Begriff »негр[ы]«,442 allerdings keineswegs in pejorativem Sinne; im Gegenteil, er spricht explizit von »мои чернокожие приятели«443 und betont ihre »добродушие и веселость«.444 Der primäre Erzähler dagegen behält eine unpersönliche Distanz bei, die in der folgenden Beschreibung zum Ausdruck kommt: »Широкополые зонтикишляпы делали все лица похожими друг на друга неуловимой общностью выражения, придаваемого им именно таким головным убором.«445 Zwar schreibt er den Grund für die Gleichartigkeit zumindest den Hüten und nicht den Gesichtern selbst zu, dennoch weist die konstatierte Nichtunterscheidbarkeit der Menschen auf eine stark ausgeprägte Fremdheit, d. h. Unvertrautheit, hin, die eine Wahrnehmung der Fremden als Individuen verhindert und diese zu einer homogenen Menge zusammenfasst. Dies wird gestützt durch die Tatsache, dass außer dem Reiseführer Choze und dem Mädchen Lolita keiner der weiteren vierzehn Einheimischen auf der Hütte namentlich genannt oder auch nur einzeln beschrieben wird. Wenn überhaupt, werden kleinere Gruppen von Personen hervorgehoben, von denen sich manche durch – für den primären Erzähler – befremdliches Verhalten auszeichnen, z. B.: »[…] трое из них лежали на животах, головами к огню, изредка нагибая голову, чтобы хлебнуть из стоящего перед губами стакана […]«.446 Auffällig ist die häufige Erwähnung von Schusswaffen, die die Menschen in der und um die Herberge bei sich tragen.447 Der Art der Beschreibung ist dabei nicht unmittelbar zu entnehmen, ob die Waffen als Attribute der Be440 DP, 140. Dt.: »halbwild«. 441 DP, 151. Dt.: »dunkelhäutig«. 442 DP, 149 f. Dt.: »Neger [sic!]«. 443 DP, 150. Dt.: »meinen schwarzhäutigen Freunden«. 444 DP, 150. Dt.: »Gutmütigkeit und Fröhlichkeit«. 445 DP, 140; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Die breitkrempigen Schirmhüte machten alle Gesichter durch die unfassbare Gemeinsamkeit des Ausdrucks einander ähnlich, der ihnen gerade durch eine solche Kopfbedeckung verliehen wurde.«. 446 DP, 140. Dt.: »[…] drei von ihnen lagen auf dem Bauch, mit den Köpfen zum Feuer, und neigten bisweilen den Kopf, um aus dem vor den Lippen stehenden Glas zu schlürfen.«. 447 Vgl. DP, 140, 142 u. 153.

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drohung genannt werden, zumal der Erzähler und sein Begleiter Choze selbst Gewehre mitführen. Sogar die Bemerkung über die Besitzer bestimmter Pistolen, diese seien, »[…] – как я убеждался неоднократно, – превосходнейшие стрелки«,448 kann ambivalent, also sowohl als Ausdruck von Bewunderung für die als auch von Furcht vor den Fremden, gelesen werden. Erst in einer späteren Bemerkung des Erzählers über die Notwendigkeit, stets aufmerksam zu sein »в этих опасных природою и людьми местах«,449 kommt die zuvor nur angedeutete potentielle Bedrohlichkeit der Fremden explizit zum Ausdruck. Die ebenfalls genannte Gefahr durch die Natur zeigt sich sehr deutlich, als bekannt wird, dass ein gewaltiger Erdrutsch viele Häuser zerstört und den Handelsweg unpassierbar gemacht hat.450 An dieser Stelle findet sich also die im Theoriekapitel angesprochene, häufig anzutreffende Verbindung von Fremdem und Bedrohung, allerdings nur in schwacher Ausprägung. Im Gegensatz dazu steht in der Erzählung »Noč’ju i dnëm« (1915; dt.: »In der Nacht und am Tage«),451 die im nächsten Unterkapitel analysiert wird, eine überwältigende Furcht vor einem geographisch und kulturell Fremden, das wie in »Dalëkij put’« in Gestalt der Natur und vor allem der Menschen auftritt, im Zentrum der Erzählung. Anders als für den Erzähler aus »Dalëkij put’«, für den das Fremde also mit einer leicht negativen Bewertung einhergeht – es ist im besten Falle befremdlich, im schlechtesten etwas bedrohlich –, gestaltet sich die Axiologie von Eigenem und Fremdem für den Protagonisten. Da dieser zugleich als Erzähler der Binnenerzählung auftritt, kann seine Haltung ebenfalls nicht nur den expliziten inhaltlichen Aussagen, sondern auch den dabei verwendeten Formulierungen entnommen werden. Die Opposition von strukturell Eigenem und Fremdem und ihre Axiologie für den Protagonisten Das strukturell Eigene ist für den Protagonisten Šil’derov  – wohlgemerkt verstanden als ursprünglich Eigenes, d. h. vor seiner Emigration und damit vor der noch zu betrachtenden Verschiebung der Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem – stark negativ belegt. Sein Leben in einem, im Unterschied zu Ėlis Heimatstadt in »Put’«, als typisch russisch präsentierten Umfeld – etwa mit einem Kloster mit goldenen Kuppeln,452 Sonnenblumenkerne kauenden

448 DP, 140. Dt.: »[…] – wie ich mich nicht nur einmal überzeugen konnte – die allervortrefflichsten Schützen«. 449 DP, 142. Dt.: »an diesen durch die Natur und die Menschen gefährlichen Orten«. 450 Vgl. DP, 150. 451 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Noč’ju i dnëm. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 451–461. Kürzel: ND. 452 Vgl. DP, 143.

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Männern453 oder mit einer stets bereitstehenden Flasche Wodka454 – ist vollkommen freudlos und monoton. Bereits im dritten Satz seiner Schilderung beschreibt der Protagonist die Stadt als »страшен и тих«,455 mit Häusern »мертвенной, унылой наружности«,456 die an »бараки умалишенных«457 erinnern. Die Stadt besteht der Beschreibung zufolge im Wesentlichen aus Amtsgebäuden, einem Kloster und zwei Kathedralen sowie dem Gefängnis, also ausschließlich Institutionen staatlicher oder kirchlicher Macht. Die vorherrschende Farbe ist Grau: das Hausdach des Protagonisten schimmert grau,458 das Umfeld im Allgemeinen ist ein »сер[ый] простор[…], скрывающ[ий] под беспредельностью своей скудость и скуку«,459 und die Holzhäuser sind »в серую и желтую краску«460 angestrichen, kombinieren also die graue Trostlosigkeit der Stadt mit der Anspielung auf ein Irrenhaus (russ.: zëltyj dom; wörtl.: gelbes Haus), wodurch der Vergleich mit den ›Baracken der Wahnsinnigen‹ verstärkt und neben dem Gefängnis eine zweite Abweichungsheterotopie genannt wird. Wie die Stadt, so sind ihre Bewohner, die als eine Gruppe von »людеймоллюсков, косных, косноязычных, серых и трусливых мужчин«461 beschrieben werden. Hier wird nicht nur durch die erneute Wiederholung der Farbe Grau, sondern auch durch eine pseudoetymologische Verknüpfung eine Parallele zwischen den Einwohnern und ihrer Umgebung hergestellt: Über die gemeinsame Lautfolge kos- verbinden die beiden Adjektive kosnyj (dt.: verknöchert) und kosnojazyčnyj (dt.: stammelnd), die durch ihre unmittelbar aufeinanderfolgende Nennung auffallen, die Menschen mit der einzigen namentlich genannten und dadurch ebenfalls hervorgehobenen Straße der Stadt, Kosaja ulica (dt.: Schiefe Straße).462 Die nur scheinbar widersprüchliche Beschreibung der Stadtbevölkerung kombiniert die Schlaffheit von Weichtieren mit dem Zustand der Erstarrung oder Verknöcherung und verweist dabei auf zweifache Weise auf ein Leben in Stagnation, das an die Trägheit und Festgefahrenheit einer der bekanntesten russischen literarischen Figuren, nämlich von Gončarovs Oblomov erinnert. Auch hier besteht eine enge Verbindung zur Stadt, die ein Fortkommen im wörtlichen Sinne behindert: »Осенью мы 453 Vgl. DP, 148. 454 Vgl. DP, 144. 455 DP, 143. Dt.: »schrecklich und still«. 456 DP, 143. Dt.: »mit totem, trostlosem Aussehen«. 457 DP, 144. Dt.: »Baracken einer Irrenanstalt«; wörtl.: »Baracken der Wahnsinnigen«. 458 Vgl. DP, 149. 459 DP, 145. Dt.: »grauer Raum, der unter seiner Grenzenlosigkeit Armseligkeit und Langeweile versteckt«. 460 DP, 144. Dt.: »in grauer und gelber Farbe«. 461 DP, 145. Dt.: »Weichtier-Menschen, verknöcherten, stammelnden, grauen und feigen Männern«. 462 Vgl. DP, 148.

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тонули в грязи, зимой – в сугробах, летом – в пыли«,463 und metaphorisch jedwedem Fortschritt entgegensteht; wohl nicht zufällig fehlt in dieser Aufzählung der Frühling, das Symbol für neues Leben. Ausgangssituation der Binnenerzählung ist die Zugehörigkeit des Prota­ gonisten zu diesem Umfeld. In Übereinstimmung mit der negativen Darstellung des eigenen Raumes gestaltet sich auch sein Leben, und zwar sein privates ebenso wie sein berufliches. Aus der Art und Weise, wie er seine Kinder beschreibt, geht hervor, dass sie ihm fremd sind: »Мои дети, мальчик и девочка, робкие и сварливые существа […]«.464 Über die Charakterisierung als »робкие«465 werden sie indirekt der als »трусливый«466 beschriebenen Stadtbevölkerung zugeordnet. Einen Hinweis darauf, dass auch seine Ehefrau zur Gruppe der lethargischen, ihren eintönigen Lebensabläufen widerstandslos ergebenen Bewohner gehört, gibt die Information, dass sie »старинные бытовые романы«467 liest, »в которых, как выражалась она, нравятся ей ›правда, подлинность, настоящая жизнь‹«.468 Auch hier erfährt das Eigene, Alltägliche eine Ablehnung, denn im diametralen Gegensatz dazu wird Šil’derov von einem Kinderbuch mit Jagdgeschichten verzaubert, dessen Erzählstil »на самостоятельную работу воображения юных читателей«469 zählt.470 Gerade in diesem Buch stößt er auf die Illustration »Gornye pastuchi v Andach«, die nach eigenen Aussagen eine entscheidende Rolle im Prozess seiner Emigration spielt –471 während die bytovye romany (dt.: Alltagsromane) lediglich eine Perpetuierung des immer Gleichen, Alltäglichen darstellen.472 Die 463 DP, 144. Dt.: »Im Herbst versanken wir im Schlamm, im Winter – in Schneewehen, im Sommer – im Staub«. 464 DP, 144. Dt.: »Meine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, ängstliche und streitsüchtige Wesen […]«. 465 DP, 144. Dt.: »ängstlich«. 466 DP, 145. Dt.: »feig«. 467 DP, 144. Dt.: »altmodische Alltagsromane«. 468 DP, 144. Dt.: »an denen ihr, wie sie sich ausdrückte, ›die Wahrheit, die Authentizität, das wahre Leben‹ gefallen«. 469 DP, 146. Dt.: »auf die eigenständige Arbeit der Fantasie der jungen Leser«. 470 Diese Passage ist als Seitenhieb Grins gegen diejenigen Redakteure zu werten, die ihn immer wieder dazu drängen, im »бытовом русском жанре« (Grin, N.: Vospominanija ob A. S. Grine. Avtograf. RGALI, f. 127, op. 3, ed. chr. 18, tetrad’ 2, l. 6ob. Dt.: »im russischen Alltagsgenre«) zu schreiben. 471 Vgl. DP, 146. 472 Einen Hinweis auf die zentrale Rolle der Illustration für den Handlungsverlauf gibt auch die Tatsache, dass der Titel der Illustration ursprünglich von Grin als Titel der gesamten Erzählung gewählt wurde (vgl. Revjakina: Primečanija. Sobranie sočinenij. Tom vtoroj, 642). Eine Begründung dafür, warum er trotzdem ersetzt wurde, nennt Ševcova in ihrer Dissertation zum Motiv der Bewegung bei Grin. Sie merkt an, dass der Autor gleich bei mehreren Werken die Titel nach der Erstveröffentlichung noch einmal verändert hat, sodass das Motiv des Weges oder allgemeiner der Bewegung in ihnen explizit enthalten ist. Neben »Dalëkij put’« gilt dies auch für die Änderung von »Porochovoj pogreb« (dt.:

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Distanz, die sich in diesen Beschreibungen der Familie des Protagonisten andeutet, formuliert er an einem späteren Punkt der Binnenerzählung unmissverständlich, wenn er über seine »нелюбим[ую] семь[ю]«473 spricht. Auch in beruflicher Hinsicht ist Šil’derov höchst unzufrieden. Er ist als Beamter tätig474 – dies ist die erste Information über sich, die er dem primären Erzähler mitteilt, noch vor seinem Namen  – und kommentiert dies rückblickend lakonisch mit den Worten: »Я прослужил в этом городе пять лет и на шестом запил.«475 Der Grund hierfür liegt in der derselben Monotonie und Stagnation der Tätigkeit, die auch die Stadt und ihre Bewohner im Allgemeinen kennzeichnen. Grin greift hier also mit dem russischen Beamten, der versucht, der Gleichförmigkeit seiner Arbeit zu entkommen oder passiv daran verzweifelt, einen Topos der russischen Literatur auf. Dass dieses Umfeld einem Gefängnis gleicht, wird indirekt deutlich. Sämtliche Bereiche des Lebens des Protagonisten sind mit dem Gefängnis verknüpft – er nennt in seiner Beschreibung der Stadt das Gefängnis, die Kirchen und die Amtsgebäude, in denen er arbeitet, im selben Atemzug;476 darüber hinaus befindet sich sein Haus direkt gegenüber dem Gefängnistor.477 Es werden also beide Bereiche seines Lebens, die ohnehin eine negative Bewertung aufweisen, nämlich Berufliches und Privates, durch räumliche Nähe im Stadtbild wie auch in der Aufzählung mit dem Gefängnis in Verbindung gebracht. Selbiges gilt auch für die Kirchen; zudem hört der Protagonist in einer Szene die Gefängnisinsassen Kirchenlieder singen.478 Durch diese Verbindung von Kirche und Gefangenschaft scheidet implizit die Religion mit ihrem transzendenten Heilsversprechen als Ausweg für den Protagonisten aus. Insgesamt liegt also eine stark ausgeprägte, alle Lebensbereiche umfassende alltägliche Fremdheit im Sinne einer Entfremdung von den Mitmenschen und dem eigenen Tun vor, ähnlich der, die im Zusammenhang mit dem Ennui vorgestellt wurde. Anders als die von ihr betroffenen Personen in »Zelënaja lampa«, »Propavšee solnce« etc. sucht Šil’derov jedoch einen Ausweg nicht in einem destruktiven, nihilistischen, misanthropischen Verhalten, sondern in der konstruktiven, aktiven Veränderung seiner Situation, was angesichts der »Das Pulvermagazin«) zu »Prišël i ušël« (1910; dt.: »Er kam und er ging«) und von »Gluchaja trevoga« (»Dumpfe Unruhe«) zu »Gluchaja tropa« (1913; dt.: »Der wenig begangene Pfad«); außerdem für den späten Roman »Na tenevoj storone«, der schließlich als »Doroga nikuda« veröffentlicht wird (vgl. Ševcova, Galina I.: Chudožestvennoe voploščenie idei dviženija v tvorčestve A. S. Grina (motivnyj aspekt). Elec 2003, 31). 473 DP, 145. Dt.: »ungeliebte Familie«. 474 Vgl. DP, 143. 475 DP, 144. Dt.: »Ich diente in dieser Stadt fünf Jahre lang und im sechsten begann ich zu trinken.«. 476 Vgl. DP, 143. 477 Vgl. DP, 148. 478 Vgl. DP, 148.

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umfassenden Entfremdung notwendigerweise gleichbedeutend ist mit einem Weggang aus der russischen Provinz  – oder gar, der allgemeinrussischen, teils sogar stereotypischen Natur der dargestellten Stadt entsprechend, aus Russland an sich. Grin greift mit »Dalëkij put’« also gleichsam das Thema von Nikolaj Nekrasovs berühmtem unvollendetem Gedicht »Komu na Rusi žit’ chorošo?« (1877; dt.: »Wer lebt glücklich in Russland?«) auf – und beantwortet die titelgebende Frage mit einem – für seine unterstellten, russischen Adressaten äußerst provokanten – ›nikomu‹ (dt.: ›niemand‹): Ein gutes Leben ist unter den gegebenen Umständen nicht möglich, selbst die ›Weichtier-Menschen‹, die sich in diesen ›Lebensraum‹ ideal einfügen, vegetieren, wie ihre Benennung bereits nahelegt, nur dahin. Für einen wachen, aktiven Geist wie den Protagonisten bleibt damit nur das Verlassen dieses Raums durch Überschreitung einer räumlichen – und semiotischen – Grenze. Wie schon in »Put’« handelt es sich auch hier um eine der von Lotman exem­ plarisch genannten Grenzen zwischen verschiedenen semiotischen Innenund Außenräumen, sogar in doppelter Hinsicht: »Граница может отделять живых от мертвых, оседлых от кочевых […]«.479 Während allerdings bei Lotman Lebende und Sesshafte dem eigenen (inneren) Raum und Tote und Nomaden dem fremden (äußeren) Raum zugeordnet werden, kommt es in »Dalëkij put’« gleichsam zu einer chiastischen Kombination: Sesshafte und im metaphorischen Sinne Tote gehören dem semiotischen Innenraum an, Nomaden – oder Reisende – und (auch) im metaphorischen Sinne Lebende dem Außenraum. Aus dieser ungewöhnlichen Verknüpfung erklärt sich auch die Umkehrung der Axiologie hin zu einem positiv bewerteten Außen und einem negativ bewerteten Innen, aus dem sich die Notwendigkeit des uchod des Protagonisten ableitet. Die aktive Strategie des uchod deutet sich bereits bei der ersten direkten Benennung der zuvor lediglich be- und umschriebenen Monotonie an, da schon hier eine Koppelung mit dem Versuch, aus ihr auszubrechen, besteht: Иногда, сидя в так называемом на губернском языке ›присутствии‹, т. е. находясь на службе, я замечал, что монотонный шелест бумаги и скрип перьев, постепенно согласуя звуки и паузы, сливаются в заунывную мелодию, напоминающую татарскую песню или те неуловимые, но гармонические мотивы, которыми так богат рельсовый путь под колесами идущего поезда. Тогда, разрушая унылое очарование, я шел к архивариусу и в полутемном подвале пил с ним водку […].480 479 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 257. Dt.: »Die Grenze kann zwischen Lebenden und Toten, zwischen Sesshaften und Nomaden […] gezogen werden« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 174). 480 DP, 144; Hervorhebungen von A. B.  Dt.: »Manchmal, wenn ich im, in der Gouvernementssprache so genannten, ›Amt‹ saß, d. h. mich im Dienst befand, bemerkte ich, dass das monotone Rascheln des Papiers und das Kratzen der Federn, die Geräusche und Pau-

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Zum Zeitpunkt der geschilderten Begebenheit besteht dieser (wenig erfolgreiche) Fluchtversuch aus dem Herumsitzen in der Amtsstube also noch im Trinken von Alkohol – ausgerechnet zusammen mit dem Archivar, der per definitionem ein Bewahrer des Alten, Bestehenden ist. Die Idee eines dauerhafteren und effektiveren Ausbruchs in der Form eines Weggangs, den der Protagonist später realisiert, ist hier jedoch bereits angelegt. Denn die monotonen Geräusche des Büros erinnern den Protagonisten an die Laute von Tataren – einem nomadischen Reitervolk – und eines fahrenden Zuges; beide Assoziationen sind stark mit dem Moment der Fortbewegung verknüpft. Die Passage zeichnet in ihrem Übergang von der Statik zur Dynamik gewissermaßen den weiteren Weg des Protagonisten vor, der eben diese Entwicklung später durch seinen Auf- und Ausbruch und seine Verwandlung in einen Reisenden durchläuft. Der erste Schritt in diesem Prozess besteht in einer Reflexion Šil’derovs über sich und sein Leben inmitten der ›Weichtier-Menschen‹, die mit einer radikalen Frage ihren Anfang nimmt: »Когда я спросил себя в первый раз – ›что я такое – животное или человек?‹ – меня охватил ужас.«481 Die nächsten zwei Wochen verbringt er »в состоянии цыпленка, вылезающего из скорлупы«482 – ein Hinweis auf den bevorstehenden realen Ausbruch aus seinem bisherigen eingeengten Leben. Schließlich »[…] явился в один прекрасный день вывод. ›Я должен стать другим человеком и жить другой жизнью‹.«483 Um sich selbst darüber klar zu werden, wie das genau aussehen soll, bedient Šil’derov sich des Hilfsmittels der Kontrastierung, indem er zu allen Zuständen und Erscheinungen seines bisherigen Lebens das Gegenteil definiert. Dies entspricht der im Theorieteil als Eigenschaft des Fremden definierten Bestimmung des selbigen ex negativo. Entscheidend ist die dabei zugrunde gelegte Axiologie – »[…] приняв как истину, что все, составляющее мою жизнь теперь, плохо.«484 Damit fasst der Protagonist alle bisherigen Andeutungen bezüglich der negativen Bewertung des Eigenen explizit zusammen und definiert zugleich das Fremde als das Positive. sen nach und nach in Einklang bringend, zu einer schwermütigen Melodie zusammenfließen, die an ein tatarisches Lied oder an jene nicht zu fassenden, aber harmonischen Motive erinnert, an denen der Schienenweg unter den Rädern eines fahrenden Zuges so reich ist. Dann ging ich, den tristen Zauber zerstörend, zum Archivar und trank mit ihm im halbdunklen Keller Wodka […]«. 481 DP, 144. Dt.: »Als ich mich das erste Mal fragte  – ›was bin ich  – ein Tier oder ein Mensch?‹ – erfasste mich ein Grauen.«. 482 DP, 144. Dt.: »im Zustand eines Kükens, das aus der Schale kriecht«. 483 DP, 144. Dt.: »[…] tauchte eines schönen Tages die Schlussfolgerung auf. ›Ich muss ein anderer Mensch werden und ein anderes Leben leben‹.«. 484 DP, 144. Dt.: »[…] ich nahm als Wahrheit an, dass alles, was mein Leben jetzt ausmachte, schlecht war.«.

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Der Monotonie (russ.: odnoobrazie) stellt er Vielfalt und Buntheit gegenüber, und zwar nicht nur in Bezug auf das Leben, sondern kurz darauf auch, in Übereinstimmung mit der oben herausgearbeiteten Analogie zwischen Raum und Lebensweise im Kontext der Stadt, auf die Landschaft: »Разнообразие земных форм вместо глухой русской равнины […]«;485 mit den aufgezwungenen beruflichen Verpflichtungen kontrastiert er die Freiheit davon; mit dem Zusammenleben mit seiner ungeliebten Familie teures Alleinsein; den in der Stagnation gefangenen Leuten stellt er einen einzigen Menschen gegenüber, der sich durch unerwartete Taten und Worte auszeichnet sowie durch eine Psychologie »столь отличной от знакомых моих, даже соотечественников, как юг разен северу.«486 In dieser Passage wird also zum einen eine sehr klar definierte Grenze zwischen Eigenem und Fremdem gezogen, indem das Zweite als das Gegenteil des Ersten bestimmt wird – ein Muster, das sich auch, allerdings deutlich weniger ausgeprägt, in »Put’« findet, z. B. in der Geometrie der Stadt, die im Kontrast zu den organischen Landschaftsformen steht. Vor allem aber ist dieser Gegensatz mit einer klaren Axiologie verbunden. Auf den unterstellten Adressaten des Textes, den russischen Leser, wirkt diese starke Ablehnung und Abwertung der russischen Lebensweise und des russischen Raums, welcher »die Mentalität des Russentums (russkost’) zutiefst geprägt«487 hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit als starke Provokation. Zum anderen kommt hier erstmals eine räumliche Komponente ins Spiel, die auf einen Ortswechsel des Protagonisten im Zuge der Erneuerung seiner selbst und seines Lebens vorausweist. Tatsächlich sind Šil’derovs Vorstellungen diesbezüglich schon recht konkret: Die Erwähnung der negativ konnotierten Landsleute und des ebenso negativ bewerteten russischen Raums impliziert einen Weggang aus Russland, und auch die Richtung steht bereits fest: nach Süden. Diese Opposition ist insofern bemerkenswert, als die russische Kultur, und damit auch die Literatur, sich in den letzten zweihundert Jahren stets in Bezug auf die Dichotomie Ost – West verortet. Die zuvor gültige Selbst- wie auch Fremdbestimmung als nördliches und somit dem Süden gegenüberstehendes Land wird abgelöst durch eine Orientierung am Paradigma des Gegensatzes Ost  – West. Auch in der Außenperspektive ›verschiebt sich‹ Russland im 18. Jahrhundert allmählich von Norden nach Osten. Larry Wolff führt dafür als eine mögliche Erklärung die Eroberung der Krim unter Katharina der Großen 1783 an, ab der eine Verortung Russlands im Norden aus geographischer

485 DP, 145. Dt.: »Vielfalt landschaftlicher Formen anstelle der öden russischen Ebene […]«. 486 DP, 145. Dt.: »so verschieden von meinen Bekannten, sogar von meinen Landsleuten, wie der Süden verschieden vom Norden ist.«. 487 Ingold: Russische Wege, 7.

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Sicht wenig plausibel erscheint.488 Insbesondere die russische Kulturosophie des 19. und (frühen) 20. Jahrhunderts operiert mit der – axiologisch aufgeladenen – Dichotomie von Westen und Osten, Europa und Russland. Konkret lässt Šil’derovs Kontrastierung des negativen, russischen Eigenen im Norden mit dem positiven Fremden im Süden an den Slavophilen Ivan Kireevskij denken, der in seinem Aufsatz »O charaktere prosveščenija Evropy i o ego otnošenii k prosveščeniju Rossii« (1852; dt.: »Über den Charakter der Aufklärung Europas und über sein Verhältnis zur Aufklärung Russlands«) eine ebensolche Gegenüberstellung von »там« (bzw. in der hier zitierten Fassung: »тамъ«) und »здесь« (bzw. »здѣсь«)489 anhand zahlreicher Beispiele vornimmt – allerdings mit umgekehrter Axiologie, die das Eigene als das Positive bestimmt. Den von ihm als charakteristisch identifizierten europäischen Individualismus kontrastiert er z. B. mit Russlands Kollektivismus und die analytische und rationale Ausrichtung Europas mit der russischen Fähigkeit zu einem religiös-mystischen Zugang zur Welt. Indem Grin in »Dalëkij put’« die Dichotomie Ost – West durch das Gegensatzpaar Nord – Süd ersetzt, entzieht er sich einerseits der Einordnung in den enorm weitreichenden Diskurs der Selbstbestimmung Russlands durch die Abgrenzung vom bzw. sein Verhältnis zum Westen. Andererseits schreibt er sich durch die Übernahme sowohl der Binarität als auch der ihr zugeordneten Axiologie in eben diesen Diskurs ein – und schreibt ihn durch die Umkehrung der Vorzeichen gleichzeitig um. Den entscheidenden Impuls für seinen Aufbruch in den positiv konnotierten Süden erhält Šil’derov bezeichnenderweise im Zusammenhang mit dem Gefängnis, das, wie oben beschrieben, als implizite Metapher für das gesamte bisherige Leben des Protagonisten steht. Diese verstärkend, überfällt Šil’derov in der Nähe der Gefangenen das Gefühl, »[…] что я всегда буду жить так, как теперь, и ни на что не осмелюсь«.490 Als er jedoch genauer über seine Situation nachdenkt, kommt er auf einmal zu der entscheidenden Erkenntnis, »[…] что я свободен, ничем не связан и волен распоряжаться собой.«491 Daraufhin bricht er tatsächlich auf und lässt die Stadt und mit ihr sein altes Leben hinter sich. Mit dieser  – erstens  – plötzlichen und unerwarteten ›Befreiung‹ seiner selbst durch – zweitens – die Gegenüberstellung seiner eige488 Vgl. Wolff, Larry: Die Erfindung Osteuropas. Von Voltaire zu Voldemort. In: Kaser, Karl (Hg.): Enzyklopädie des europäischen Ostens. Bd. 11. Europa und die Grenzen im Kopf. Klagenfurt 2003, 21–34, hier 22. 489 Kireevskij, Ivan: O charaktere prosveščenija Evropy i o ego otnošenii k prosveščeniju Rossii. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij v dvuch tomach. Pod redakciej M. Geršenzona. T. 1. Westmead 1970, 174–222, hier 217 f. Dt.: »dort«, »hier«. 490 DP, 148. Dt.: »[…] dass ich immer so leben werde wie jetzt, und nichts wagen werde«. 491 DP, 148. Dt.: »[…] dass ich frei bin, durch nichts gebunden und frei über mich selbst zu verfügen.«.

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nen Situation mit derjenigen der wirklich Gefangenen setzt der Protagonist sogar in doppelter Hinsicht seine zuvor formulierte Strategie um, der entsprechend er »стремительного и резкого, по контрасту, освобождения«492 wünsche. Den Grund dafür illustriert er ebenfalls anhand der Situation eines Häftlings: Werde diesem täglich von einem Wärter versichert, dass man ihn bald in die Freiheit entlassen werde, so nehme man ihm damit einen Großteil der Befriedigung dieser Freilassung, da die Erfahrung durch die mentale Vorbereitung und den dadurch aufgeweichten Kontrast verwässert werde.493 Die Fremde, in die der Held aus »Dalëkij put’« aufbricht bzw. nach der er sich zunächst einmal sehnt, zeichnet sich explizit durch eine epistemische Fremdheit (Unvertrautheit) aus, welche, wie der Protagonist in seinen Schilderungen selbst ausführt, den primären Grund für ihre positive Bewer­tung darstellt: »Против известного, обычного для меня с момента рождения, следовало поставить неизвестность и неизведанное во всем, даже в природе, устранив все лишения чувств.«494 Damit steht er in der Tradition des ersten Protagonisten Grins, der den Ausbruch aus der gewohnten Welt wagt: des Helden Tart aus »Ostrov Reno«. Nachdem Tart sich von seinem Schiff auf eine unbewohnte, dichtbewachsene Tropeninsel abgesetzt hat, ohne zu wissen, was ihn dort erwartet, heißt es im Text: »Да здравствует прекрасная неизвестность!«495 Einen ersten Zugang zum Unbekannten bietet Šil’derov das bereits erwähnte illustrierte Kinderbuch mit der Zeichnung »Gornye pastuchi v Andach«. Dass dieser Zugang erfolgreich sein wird, deutet sich in einer modifizierten lexikalischen Wiederholung an: Hatte den Protagonisten im Zusammenhang mit seinen bisherigen, temporären und dadurch vergeblichen Fluchtversuchen in den Alkohol als Reaktion auf die monotonen Geräusche der Amtsstube noch ein »унылое очарование«496 erfasst, wandelt sich dieser beim Betrachten der Illustration nun zu einem »смутное очарование представлений о загадочном, грандиозном и недостижимом«;497 eine weitere Erwähnung des ›Zaubers‹, diesmal ohne Adjektiv, findet sich in der Frage an den primären Erzähler: »Знакомо ли вам очарование старинных рисунков?«498

492 DP, 146. Dt.: »eine ungestüme und im Kontrast scharfe Befreiung«. 493 Vgl. DP, 145. 494 DP, 145; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Dem Bekannten, für mich vom Moment der Geburt an Gewöhnlichen, galt es die Ungewissheit und das Unerforschte in allem gegenüberzustellen, sogar in der Natur, um alle Verluste von Empfindungen zu beseitigen.«. 495 OR , 231. Dt.: »Es lebe die wunderschöne Ungewissheit!«. 496 DP, 144. Dt.: »trister Zauber«. 497 DP, 146 f. Dt.: »vagen Zauber der Vorstellungen von Rätselhaftem, Grandiosem und Unerreichbarem«. 498 DP, 146. Dt.: »Ist Ihnen der Zauber alter Zeichnungen bekannt?«.

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Der Held versucht daraufhin, sich gedanklich in das Land aus der Zeichnung zu begeben – ein Motiv, das Grin Jahre später in der in Kapitel 4.3.2.3 noch vorgestellten Erzählung »Fandango« wieder aufnimmt und weiterentwickelt. Dort gelangt der Protagonist aus dem kalten Petrograd in ein warmes, helles, südliches Land, indem er in ein Gemälde hineingeht, das eben dieses Land zeigt.499 In »Dalëkij put’« jedoch scheint der Versuch selbst eines lediglich mentalen Übergangs in die andere Welt zunächst zum Scheitern verurteilt zu sein: […] скоро увидел, что здесь для меня нет ничего известного, что я в размышлениях и ассоциациях своих отрезан от этой страны полной невозможностью представить себе что-либо наглядно. Я был здесь в области общих слов и понятий: гора, лес, человек, река, зверь, дерево, дом и т. п. Таким образом, я нашел неизвестное по всем направлениям и в той мере, в какой это возможно, вообще на земле, в условиях трех измерений. Мне предстояло наполнить отвлеченные мои представления содержанием живым, ясным и ощутительным.500

Obwohl dies auf den ersten Blick als Misserfolg verstanden werden könnte, weist die Passage sogar in doppelter Weise darauf voraus, dass der Aufbruch in die abgebildete Andenlandschaft Šil’derovs Weg aus seinem alten bzw. diese sein Ziel für sein neues Leben darstellt. Denn gerade weil das Land gänzlich unbekannt ist, erfüllt es den zuvor formulierten Anspruch, dem negativ konnotierten Altbekannten diametral entgegengesetzt zu sein. Der letzte Satz des Zitats betont zudem die Notwendigkeit eines auch physischen Weggehens, da eine Flucht in Gedanken aufgrund der Unfähigkeit des Protagonisten, sich das Fremde vorzustellen, nicht möglich ist. In seiner Faszination für den vollkommen fremden Raum gleicht Šil’derov Ėli aus »Put’«, der ebenfalls gerade von dem Unbekannten und Ungewissen gleichsam magisch angezogen wird. Eine weitere Parallele zwischen den bei499 Vgl. FA , 542. Ein ähnliches Motiv findet sich auch in der Erzählung »Klubnyj arap« (1918; dt.: »Der Klub-Mohr«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Klubnyj arap. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 106–117. Kürzel: KL), deren Handlung ebenfalls in Petrograd spielt. Darin sieht der Protagonist zunächst ein Bild einer Frau in einer Bibliothek, das dank eines technischen Apparats äußerst lebensecht wirkt (vgl. KL , 112). Wenig später sitzt dieselbe Frau plötzlich in einem Sessel in seinem Zimmer (vgl. KL , 113). 500 DP, 147. Dt.: »[…] bald sah ich, dass es hier für mich nichts Bekanntes gab, dass ich in meinen Überlegungen und Assoziationen von diesem Land voll der Unmöglichkeit, sich irgendetwas anschaulich vorzustellen, abgeschnitten war. Ich war hier auf dem Gebiet allgemeiner Wörter und Begriffe: Berg, Wald, Mensch, Fluss, Tier, Baum, Haus u. dgl. Auf diese Weise fand ich Unbekanntes in allen Richtungen und in dem Maße, in dem das möglich ist, überhaupt auf der Erde, unter den Verhältnissen der drei Dimensionen. Mir stand bevor, meine abstrakten Vorstellungen mit lebendigem, klarem und fühlbarem Inhalt auszufüllen.«.

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den Protagonisten stellt die mit diesem Fernweh verbundene toska dar: Ėli erwacht »в тоскливом настроении духа и тела«,501 Šil’derov erfasst eine »[н]евыразимая тоска«.502 Nicht nur liegt damit in »Dalëkij put’« ebenfalls eine, wie bereits im Rahmen der Analyse von »Put’« ausgeführt wurde, Modifikation des auf den eigenen, russischen Raum bezogenen Konzepts der toska vor, die nunmehr auf die Fremde (tam; dt.: dort) ausgerichtet ist; auch ein zweites spezifisch russisches und ebenfalls mit dem russischen Raum, v. a. mit seiner Weite, verbundenes Konzept, das der duša (dt.: Seele), wird in diesem Zusammenhang genannt und damit ebenfalls umgeschrieben: »Отныне я находился в плену своего желания быть там, куда потянуло меня всей душой […]«.503 Die Aufwertung der Fremde und die Abwertung der Heimat werden schließlich noch ein weiteres Mal verstärkt. Noch bevor der Held den ersten Schritt in die ersehnte Fremde macht, sagt er über sie: »[…] я нашел вторую, настоящую родину. У человека их две, но не у всякого; те же, у кого две, знают, что вторую нужно завоевать, тогда как первая сама требует защиты и подчинения.«504 Mit der Formulierung »втор[ая], настоящ[ая] родин[а]«505 wertet der Protagonist diese nicht nur explizit gegenüber der ›ersten‹ Heimat auf, sondern verstärkt die Axiologie auch noch implizit, indem durch die Verwendung des Lexems nastojaščij (dt.: wahr) die von der Ehefrau stammende Behauptung der »настоящая жизнь«506 in den bytovye romany und damit auch indirekt im russischen byt selbst aufgenommen und zugleich widerlegt wird. Dass der Protagonist eben diesen byt mit seinem Weggang507 erfolgreich hinter sich gelassen hat, zeigt bereits seine Beschreibung der Reise nach Südamerika: »За три следующих месяца я испытал, видел и пережил столько, что иному хватило бы на всю жизнь.«508 Von der verhassten Monotonie ist in seinem neuen Leben also keine Spur geblieben. Dass die Aufgabe des alten, geregelten Lebens zugunsten des Abenteuers auch mit einer Reihe von Unan501 PU, 367 f. Dt.: »in einer traurigen Gemüts- und Körperverfassung« (PUd, 112). 502 DP, 147. Dt.: »unaussprechliche Sehnsucht«. 503 DP, 147; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Von nun an befand ich mich in Gefangenschaft meines Wunsches dort zu sein, wohin es mich mit ganzer Seele zog […]«. 504 DP, 147 f. Dt.: »[…] ich fand eine zweite, wahre Heimat. Der Mensch hat zwei von ihnen, aber nicht jeder; jene, die zwei haben, wissen, dass man die zweite erringen muss, während die erste selbst Schutz und Unterordnung fordert.«. 505 DP, 148. Dt.: »zweite, wahre Heimat«. 506 DP, 144. Dt.: »des wahren Lebens«. 507 Der Weggang Šil’derovs gestaltet sich, anders als bei dem auf rätselhafte Weise verschwindenden Ėli aus »Put’«, gänzlich realistisch: Der Held packt Geld, seine Uhr und seinen Pass ein, verlässt die Stadt zu Fuß und besteigt dann einen Dampfer (vgl. DP, 149). 508 DP, 149. Dt.: »In den drei folgenden Monaten erlebte, sah und durchlebte ich so viel, dass es einem anderen für das ganze Leben reichen würde.«.

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nehmlichkeiten oder gar mit Leid einhergeht – z. B. »долгие дни лишений, голода, ночлеги в трущобах и под открытым небом, томительные пешие переходы в знойные дни […]«509  – mindert die Zufriedenheit des Protagonisten mit seiner Entscheidung nicht im Geringsten, kommentiert er die Schwierigkeiten doch mit den Worten: »Все это мне мило и радостно.«510 Dasselbe Muster der positiven Bewertung des an sich Negativen findet sich auch nach seiner Ankunft in Südamerika. Eigentlich besteht die gesamte Beschreibung von der Ankunft auf dem Kontinent bis zum Ende der Binnenerzählung aus einer Aufzählung von Gefahren und Strapazen, die sich als typisch für tropische Regionen bezeichnen lassen. Der Protagonist arbeitet als Kautschuksucher »в ядовитых болотах«511 und in Wäldern, in denen »царят вечные сумерки, опасности и болезни«;512 und doch findet er hier erste Gefährten unter den Einheimischen.513 Wenig später erkrankt er tatsächlich am Fieber, das »жар и бред, и незаслуженные человеком мучения«514 mit sich bringt. Dieses ausführlich beschriebene, intensive Leiden kann als eine den Prozess der gewünschten Verwandlung – »стать другим человеком и жить другой жизнью«515 – abschließende und somit als positiv zu wertende Katharsis gelesen werden. Verstärkt wird diese Deutung dadurch, dass die Binnenerzählung des Protagonisten mit den ebenfalls auf das Fieber bezogenen Worten »Я умирал, но не умер.«516 endet und somit keine weitere Beschreibung einer allmählichen Eingliederung des Helden in den neuen Raum erfolgt, was ebenfalls einen abrupten Übergang suggeriert. Auch hier findet also das vom Protagonisten gewählte Prinzip des Kontrasts mit seinem »отсутствие смягчающих переходов«517 eine Umsetzung. Nicht nur im ›Wie‹ sondern auch im ›Was‹ realisiert sich der erhoffte Kontrast, denn der Protagonist findet im fremden Raum Südamerika – also im doppelten Sinne der ›Neuen Welt‹ – in jeder Hinsicht das, was er als Gegenteil 509 DP, 149. Dt.: »lange Tage der Entbehrungen, des Hungers, der Nachtlager im Dickicht und unter freiem Himmel, qualvolle Überquerungen zu Fuß an glühend heißen Tagen […]«. In der Beschreibung der Reise finden sich zahlreiche autobiographische Details wieder, von der oben genannten Abreise per Dampfer bis hin zu den hier aufgezählten Schwierigkeiten, die Grin selbst in und um Baku erlebt hat. Auch das illustrierte Kinderbuch mit Jagdgeschichten, das den entscheidenden Impuls für den Aufbruch nach Südamerika darstellt, entstammt höchstwahrscheinlich Grins eigenen Kindheitserinnerungen (s. Kap. 2.1.2). 510 DP, 149. Dt.: »All das ist mir lieb und eine Freude.«. 511 DP, 150. Dt.: »in giftigen Sümpfen«. 512 DP, 150. Dt.: »ewiges Halbdunkel, Gefahren und Krankheiten herrschen«. 513 Vgl. DP, 150. 514 DP, 150. Dt.: »Gluthitze und Delirium, und für den Menschen unverdiente Qualen«. 515 DP, 144. Dt.: »ein anderer Mensch werden und ein anderes Leben leben«. 516 DP, 150. Dt.: »Ich war dabei zu sterben, aber ich starb nicht.«. 517 DP, 145. Dt.: »Fehlen abmildernder Übergänge«.

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des im alten Raum Russland Vorherrschenden definiert und als solches positiv bewertet hat. Neben dem bereits genannten Eintauschen von Monotonie gegen Abenteuer trifft der Held in Südamerika auch auf eine abwechslungsreiche Landschaft von dichtem Urwald bis hin zu hohen Gipfeln anstelle der öden russischen Ebene, Gelegenheitsarbeiten anstelle seines Beamtentums, sowie mutige, aktive Menschen statt der ›Weichtier-Menschen‹ seiner alten Heimat.518 Darüber hinaus finden sich auch nicht direkt formulierte Kontraste wie die bunten Kleider der Andenbewohner,519 die dem grauen Umfeld der Stadt gegenüberstehen. Der fremde Raum ist durch diese diametrale Gegensätzlichkeit zum (ursprünglich) eigenen Raum des Protagonisten gleichsam  a priori als positiv festgelegt. Dass sich die Erwartungen erfüllt haben, wird schließlich explizit durch den letzten Satz des Protagonisten in der gesamten Erzählung, also an herausgehobener Position, bestätigt, in dem er auf die Frage nach seinem Befinden in diesem Land antwortet: »›Очень хорошо и приятно.‹«520 Zwischen doppelter und keiner Zugehörigkeit Im Zusammenhang mit dieser Axiologie von Heimat und Fremde aus Sicht des sekundären Erzählers, die die Bewertung des primären Erzählers umkehrt, steht sein komplexes Verhältnis zu der vermeintlich einfachen Frage, was als strukturell fremd und was als eigen einzuordnen ist. Auf diesen unerwarteten Umstand stößt auch der primäre Erzähler am Beginn der Rahmenerzählung, als er den Protagonisten in einer Berghütte trifft, in der er für die Nacht einkehrt. Obwohl der Gastraum gut besucht ist, fällt dieser ihm von Anfang an auf: »Я невольно рассмотрел его пристальнее, чем других, как будто раньше видел его и говорил с ним.«521 Das Gefühl der Vertrautheit führt er dabei explizit auf die Nationalität des Mannes zurück.522 Dass seine Ahnung nicht trügt, scheint sich kurz darauf zu bestätigen, denn als der primäre Erzähler auf Russisch flucht, wiederholt der Protagonist dessen Schimpfworte und spricht ihn auf Russisch an: »›Кто вы?‹ Это он сказал тоже по-русски, без малейшего иностранного акцента.«523 Es scheint also, als habe der russische Erzähler inmitten der südamerikanischen Berge einen Landsmann getroffen. Hier wird deutlich, welche große Bedeutung der Sprache bei der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zu einer kulturellen, nationalen, regionalen oder 518 Vgl. DP, 150, 152 u. 154. 519 Vgl. DP, 140. 520 DP, 153. Dt.: »›Sehr gut und angenehm.‹«. 521 DP, 141. Dt.: »Ich sah ihn unwillkürlich aufmerksamer an als die anderen, als ob ich ihn früher schon gesehen und mit ihm gesprochen hätte.«. 522 Vgl. DP, 141. 523 DP, 142. Dt.: »›Wer sind Sie?‹ Das sagte er auch auf Russisch, ohne den kleinsten ausländischen Akzent.«.

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ethnischen Gruppe zukommt. Gerade das akzentfreie Sprechen, das für ein Mitglied einer fremden Gruppe nur schwer zu erreichen ist, dient dabei als eine Art Shibboleth. Der Unbekannte scheint damit also zweifelsfrei als Russe identifiziert zu sein, doch die folgende Konversation nimmt eine unerwartete Wendung: »›Я русский‹, ответил я, вытаращив глаза, и назвал себя. Он продолжал пристально смотреть мне в глаза, затем нахмурился и громко сказал: ›Я – здешний и не понимаю вас.‹«524 Der abstrakte Leser erhält keine Information darüber, in welcher Sprache dieser zweite Teil der Unterhaltung stattfindet, ob also der Unbekannte absurderweise auf Russisch erklärt, kein Russisch zu verstehen; doch selbst wenn nicht, widerspricht die Tatsache, dass er die Frage an den Erzähler eigenständig und akzentfrei auf Russisch formuliert, seiner Behauptung. Diese Begebenheit wird durch den Erzähler und den Protagonisten gänzlich unterschiedlich bewertet. Denn der Erzähler ist sich trotz des Einwands des Unbekannten sicher: »›Это русский‹«,525 und ist entsprechend fasziniert davon, ein Mitglied der Eigengruppe in einem völlig unerwarteten Kontext zu treffen, weshalb er »интересу[ется] соотечественником в данный момент более, чем новым видом птицы ара, открытым […] [им] две недели назад«.526 Sein Gesprächspartner dagegen möchte entschieden nicht als Russe identifiziert werden und bestätigt sein Dementi erneut durch eine kurzangebundene Verneinung der Nachfrage des Erzählers, ob er ein Emigrant sei.527 Dies weist darauf hin, dass der Protagonist versucht, seine Herkunft aus Russland vor anderen zu verbergen oder gar selbst zu vergessen, um seine neue, möglicherweise labile, Identität als Andenbewohner nicht zu gefährden – was ihm jedoch nicht gelingt. Damit erweist sich der Mann, der später als Dias bezeichnet wird, als sowohl dem (aus Sicht des primären Erzählers) strukturell Eigenen als auch Fremden zugehörig. Diese doppelte Zugehörigkeit wird im Verlauf der Erzählung durch eine Reihe von Details deutlich, etwa im ständigen Wechsel der verbalen Zuordnungen des Protagonisten. Der Erzähler nennt Dias unmittelbar nach dem ersten Gespräch »соотечественник«528 und »неизвестн[ый] русск[ий]«.529 Wenige Sätze später allerdings merkt er an: »[…] страннее седых волос у 524 DP, 142. Dt.: »›Ich bin Russe‹, antwortete ich mit aufgerissenen Augen und nannten meinen Namen. Er sah mir weiter aufmerksam in die Augen, dann blickte er finster drein und sagte laut: ›Ich bin von hier und verstehe Sie nicht.‹«. 525 DP, 142. Dt.: »Das ist ein Russe«. 526 DP, 142. Dt.: »sich in diesem Moment mehr für seinen Landsmann interessiert als für die neue Ara-Art, die er vor zwei Wochen entdeckt hat«. 527 Vgl. DP, 143. 528 DP, 142. Dt.: »Landsmann«. 529 DP, 142. Dt.: »unbekannter Russe«.

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юноши мне было слышать подлинную русскую речь из уст туземца […]«,530 und bemerkt zudem gegenüber dem Protagonisten, »что он не похож на русского«.531 Damit ordnet er ihn explizit der Fremdgruppe zu, nachdem er ihn zuvor ebenso explizit als Mitglied der eigenen Gruppe identifiziert hat. Nach der oben zitierten Beteuerung des Mannes, ein Einheimischer und kein Emigrant zu sein, kehrt er schließlich wieder zu der Bezeichnung »[н] еизвестный«532 oder »неизвестн[ый] человек[…]«533 ohne Nennung der Nationalität zurück, die er auch im Moment unmittelbar vor Dias’ Frage auf Russisch verwendet hat.534 Damit wählt er eine neutrale Formulierung, die beide Möglichkeiten offenhält. Nachdem Dias seine Geschichte erzählt hat, in der er zugibt, tatsächlich aus Russland emigriert zu sein, greift er selbst die anfängliche nationale Zuschreibung des Erzählers auf und weist sie erneut dezidiert zurück, als er sich wie folgt an sein Gegenüber wendet: »›[…] Простите, дорогой – не соотечественник, дорогой иностранец, – прошло десять лет […]‹«.535 Er bestimmt sich also selbst als Einheimischer, während der primäre Erzähler – und nur dieser  – ein Ausländer ist. Die widersprüchliche Selbstverortung seines Gesprächspartners, der die Information, aus Russland emigriert zu sein, bestätigt, aber gleichzeitig negiert, ein Russe zu sein, verwirrt den Erzähler. Er spricht daher in der Folge von ihm als »мой удивительный собеседник, ›русский‹, – или как было его назвать теперь?«536 Aus der Sicht seines Gegenübers dagegen ist die zitierte Formulierung, die eine gemeinsame nationale Identität mit dem russischen Erzähler explizit verneint und eine unterschiedliche Zugehörigkeit betont, obwohl er zuvor seine russische Herkunft ausführlich beschrieben hat, keineswegs unlogisch. Denn mit diesem Satz, der am Ende seines Berichts steht, bringt er gleichsam auch die Geschichte seiner Auswanderung und damit seiner Transition von einem Russen zu einem Südamerikaner im Verlauf von zehn Jahren zu einem Abschluss. Dieser Übergang vom Eigenen ins Fremde und die sich im Zuge dessen vollziehende Umkehrung der Zuschreibungen, bei der das ursprünglich Eigene fremd, das ursprünglich Fremde dagegen eigen wird, 530 DP, 142 f.; Hervorhebung von A. B. Dt.: »[…] merkwürdiger als graue Haare bei einem jungen Mann war es für mich, die authentische russische Sprache aus dem Mund des Einheimischen zu hören […]«. 531 DP, 143. Dt.: »dass er nicht wie ein Russe aussieht«. 532 DP, 143. Dt.: »der Unbekannte«. 533 DP, 143. Dt.: »der unbekannte Mann«. 534 Vgl. DP, 142. 535 DP, 150. Dt.: »›[…] Verzeihen Sie, lieber – nicht Landsmann, lieber Ausländer, es sind zehn Jahre vergangen […]‹«. 536 DP, 151. Dt.: »mein erstaunlicher Gesprächspartner, der ›Russe‹ – oder wie sollte man ihn jetzt nennen?«.

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wird auch indirekt abgebildet, und zwar in dem Begriffspaar Tataren – südamerikanische Reiter. Es bildet eine implizite Verbindung zwischen Binnenund Rahmenerzählung, zwischen der Zeit vor und nach der Emigration des Protagonisten. Die Tataren werden, wie weiter oben bereits zitiert, vom Protagonisten mit dem »монотонный шелест бумаги и скрип перьев«537 in seiner Amtsstube assoziiert und zugleich kontrastiert. Das Reitervolk der Tataren lässt sich analog zu Jurij Lotmans Hinweis, dass in den Randgebieten sesshaft gewordene Nomaden in der Kyiver Rus’ als »наши поганые«538 bezeichnet wurden, als eigene Fremde, Fremde im eigenen Raum betrachten. Im Unterschied zu Lotmans nunmehr ansässigen Nomaden sind die Tataren hier allerdings umgekehrt gerade durch das sie auszeichnende Moment der Dynamik der, wie oben aufgezeigt, als vollkommen statisch charakterisierten russischen Kultur fremd. Dies gilt auch aus Sicht des Protagonisten vor seinem Ausbruch aus dieser. Im Zuge seines Aufbruchs und seiner Wandlung zu einem Reisenden – mit der er den wesentlichen Zug des ursprünglich eigenen Raums, Statik, ablegt, und den der Tataren, Dynamik, annimmt, verändern sich jedoch die Verhältnisse: Die den Tataren gleichsam wesensverwandten südamerikanischen Reiter werden für ihn dementsprechend zu Eigenen im fremden Raum, denen sich der Protagonist viel stärker zugehörig fühlt als seinen ursprünglichen Landsleuten, und in deren Gruppe er sich eingliedert.539 Hierdurch wird auch der zunächst fremde Raum selbst angeeignet, während vom ursprünglich eigenen Raum eine Entfremdung stattfindet. Die Dynamik des Fremden ist hier also eine doppelte, umgekehrt proportionale: Während die eine abnimmt, nimmt die andere zu. Zu diesem scheinbar vollständigen Identitätswechsel passt sowohl die Kleidung des Protagonisten – »в пестрой грубой одежде«540 fügt er sich in die Gruppe der Einheimischen mit ihren »[п]естрые […] костюмы«541 ein – als auch, dass er seinen Namen von ›Pëtr Šil’derov‹ zu ›Dias‹ geändert hat. Nicht nur nennt der Protagonist selbst seinen früheren russischen Namen explizit in der Vergangenheitsform: »Меня звали Петр Шильдеров.«;542 sein neuer Name ist überdies auch noch typisch spanisch. Letzteres spielt auch eine entscheidende Rolle für die Art, wie der primäre Erzähler den Protagonisten wahrnimmt:

537 DP, 144. Dt.: »monotonen Rascheln des Papiers und dem Kratzen der Federn«. 538 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 262. Dt.: »unsere Wilden« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens: 182). 539 Vgl. DP, 153. 540 DP, 142. Dt.: »mit bunter grober Kleidung«. 541 DP, 140. Dt.: »bunten […] Kostümen«. 542 DP, 143. Dt.: »Ich hieß Pëtr Šil’derov.«.

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Я думал о таинственной власти имен, пересекающих наше сознание полным превращением человека, уничтожением расы, крови, привычных ассоциаций. Диас есть Диас. Никакими усилиями воображения не мог я представить его русским […].543

Bei genauerer Betrachtung erweist sich der Identitätswechsel allerdings als keineswegs vollständig. Dies zeigt sich unter anderem an den Umständen der Begegnung Dias’ mit dem primären Erzähler. Nicht nur wird er durch den Klang der russischen Sprache dazu gebracht, offensichtlich unwillkürlich ebenfalls ins Russische zu wechseln. Dem geht ein scheinbar zufälliges Detail voraus, dessen Bedeutung sich erst im Nachhinein erschließt, wenn der abstrakte Leser den ursprünglichen Namen des Unbekannten erfährt: Der Auftritt von Dias fällt mit dem Moment zusammen, als Choze dem Erzähler die Legende des Berggeists Pedro-di-Santuaro erzählt: »›Тогда Педро…‹ Он [Хозе] продолжал дальше, но здесь человек, вошедший одновременно с произнесенным Хозе именем Педро, как бы окликнутый, повернулся и внимательно осмотрел нас с готовностью отвечать.«544 Dias reagiert also auf den Namen Pedro, die spanische Entsprechung seines früheren Namens Pëtr, den er, zusammen mit seiner russischen Identität, angeblich vor zehn Jahren abgelegt hat. Auch gelingt es dem Erzähler, den anfangs kurz angebundenen und verschlossenen Unbekannten zur Schilderung seiner Geschichte zu bewegen, indem er mit ihm eine scheinbar sinnlose, aus unzusammenhängenden Bemerkungen bestehende Konversation – vom Wetter über Wein, Pferde, lokale Bräuche und Frauen bis hin zur Politik –545 »совершенно в русском духе и вкусе«546 führt. Wie zuvor der Klang der russischen Sprache dringt auch diese spezielle Gesprächsform zu dem verdrängten, russischen Teil der Identität des Protagonisten durch. Ebenfalls auf eine doppelte Identität, allerdings wesentlich impliziter, deutet die Abschiedsszene zwischen Dias und dem Erzähler hin, in der Letzterer 543 DP, 152. Dt.: »Ich dachte über die geheimnisvolle Macht der Namen nach, die unser Bewusstsein mit einer vollständigen Verwandlung des Menschen, mit einer Vernichtung von Rasse, Blut, gewohnten Assoziationen durchkreuzen. Dias ist Dias. Durch keine Anstrengungen der Fantasie konnte ich ihn mir als Russen vorstellen.« Wie treffend diese Bemerkung über die Macht der Namen und ihre nationalen Assoziationen ist, zeigt sich anhand der Rezeptionsgeschichte Grins, in der immer wieder aus den fremdklingenden Namen der Figuren wie auch der Orte in vielen der Werke Grins die Schlussfolgerung gezogen wird, dass deren Schauplatz keinesfalls in Russland angesiedelt sein könne (s. Kap. 2.2). 544 DP, 141. Dt.: »›Und Pedro…‹ Er [Choze] fuhr fort, aber hier drehte sich der Mann, der gleichzeitig mit dem von Choze ausgesprochenen Namen Pedro eingetreten war, als hätte man ihn gerufen, um und musterte uns aufmerksam, bereit zu antworten.«. 545 Vgl. DP, 143. 546 DP, 143. Dt.: »voll und ganz im russischen Geiste und Geschmack«.

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Ersterem noch eine abschließende Frage stellt: »›Как вы чувствуете себя в этой стране?‹ ›Очень хорошо и приятно.‹ Сняв шляпу, он поклонился, улыбнулся и отошел.«547 Auffällig ist, dass die zuvor häufig verwendete Kategorie des Nationalen in Verbindung mit einem Ein- oder Ausschluss in diese bzw. aus dieser hier sowohl in der Frage als auch in der Antwort vermieden wird. Noch aufschlussreicher als Dias’ Antwort aber ist seine Handlung: Mit dem Ziehen des Hutes bedient er sich eben des Gegenstands, der zu Beginn der Erzählung als landestypische Tracht eingeführt wird, die, die Gesichter verdunkelnd, die Einheimischen für den Erzähler gleichsam ununterscheidbar macht. Damit wird der Protagonist als Teil dieser Gruppe markiert – und zugleich von ihr abgegrenzt, da mit dem Ziehen des Hutes, anders als bei den anderen Personen, sein individuelles Gesicht erkennbar wird. Auch in anderen Details seines Aussehens spiegelt sich die doppelte Zugehörigkeit des Protagonisten wider: »небольшие усы […] странно, как и борода, выделялись светлым своим цветом на кофейном загаре лица«.548 Mit der dunklen Haut – wenn auch nur durch Sonnenbräune bedingt – wird ein bei der Beschreibung der Einheimischen verwendetes Merkmal wieder aufgegriffen; die hellen Haare dagegen verraten die ursprüngliche Herkunft des Mannes. Ein weiterer Hinweis findet sich schließlich in seinen Aussagen, in denen er zum Teil die Perspektive eines Einheimischen einnimmt – »основываясь на местных приметах«549 –, zum Teil die eines Fremden, etwa wenn er in Bezug auf die lokalen Sitten und Frauen »выразил надежду, что они лучше, чем кажутся«.550 Mittels dieser – teils deutlichen, oftmals aber auch nur angedeuteten oder versteckten – Details der Erzählung wird deutlich, dass sowohl Russland als auch die Andenregion für Šil’derov-Dias strukturell eigen und fremd sind: Einerseits führt die große räumliche und vor allem zeitliche Distanz zu Russland zu einer Entfremdung von der ursprünglichen Heimat, gleichzeitig ist es ihm aber unmöglich, voll und ganz zum Einheimischen in den Bergen jenseits des Ozeans zu werden; und doch sind ihm beide Räume und Kulturen vertraut. Diese Auflösung von Grenzen kündigt sich ausgerechnet in Verbindung mit der für die Emigration des Protagonisten entscheidenden Illustration »Gornye pastuchi v Andach« an, in welcher »смешивались узенькими полосами границы красок«.551

547 DP, 153. Dt.: »›Wie fühlen Sie sich in diesem Land?‹ ›Sehr gut und angenehm.‹ Er nahm seinen Hut ab, verbeugte sich, lächelte und ging weg.«. 548 DP, 142. Dt.: »der kleine Schnurrbart […], wie auch der Bart, hoben sich durch ihre helle Farbe merkwürdig von der kaffeefarbenen Sonnenbräune des Gesichts ab«. 549 DP, 143. Dt.: »sich auf lokale Merkmale stützend«. 550 DP, 143. Dt.: »die Hoffnung äußert, dass sie besser sind, als sie scheinen«. 551 DP, 146. Dt.: »sich in ganz schmalen Streifen die Grenzen der Farben vermischten«.

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Der primäre Erzähler reflektiert im letzten Kapitel von »Dalëkij put’« über die doppelte Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit des Helden, die als Existenz auf der Schwelle zwischen strukturell Eigenem und Fremdem bezeichnet werden kann. Seine ersten Gedanken dazu kommen ihm ausgerechnet beim Einschlafen, also ebenfalls auf der Schwelle zwischen zwei Zuständen.552 Der Erzähler findet eine Erklärung dafür, die alle Widersprüche, die sich aus der diametralen Gegensätzlichkeit und der dadurch bestehenden klaren Grenzziehung zwischen eigenem und fremdem Raum ergeben, auflöst. Er stellt die These auf, dass der Protagonist »принадлеж[ит] от рождения к загадочной орлиной расе, чья родина – в них самих, способных на все«.553 Der Begriff der Heimat wird damit von der Bedeutung eines physisch-geographischen Raums losgelöst und stattdessen an eine bestimmte aktive, produktive Geisteshaltung und einen sich durch diese eröffnenden mentalen Raum geknüpft. Mit dem Begriff der »орлин[ая] рас[а]«554 nimmt Grin das von Šil’derov bei seinem Weggang aus der Stadt empfundene »окрыляющее«555 Gefühl wieder auf. Dass eine solche gleichsam portable Heimat ganz wesentlich gerade mit der Erschließung ursprünglich, aber nunmehr nicht länger fremder Räume verbunden ist, führt der primäre Erzähler im zweiten Teil seiner Reflexion über den Protagonisten und seinesgleichen aus: Люди, подобные этому человеку, не одиноки. Их семья, цыганское племя, великодушное и строптивое, рассеяно всюду. Я вспомнил тысячи безыменных людей, ›плавающих и путешествующих‹, когорты авантюристов, проникающих в неисследованные места, безумцев, возлюбивших пустыню, детей труда, кладущих основание городам в чаще лесов. Их кости рассеяны за полярным кругом, и в знойных песках черного материка, и в дикой глубине океана. Вторая, настоящая родина торжественной силой любви влечет одинаково искателя приключений и начальника экспедиции, командующего целым отрядом; ничто не останавливает их, только смерть.556 552 Vgl. DP, 152. 553 DP, 152. Dt.: »von Geburt an zu der rätselhaften Adler-Rasse gehört, deren Heimat in ihnen selbst, die sie zu allem fähig sind, liegt«. 554 DP, 152. Dt.: »Adler-Rasse«. 555 DP, 149. Dt.: »beflügelnde«. 556 DP, 153 f.; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Menschen, die von der Art dieses Mannes sind, sind nicht einsam. Ihre Familie, das Zigeunergeschlecht [sic!], edelmütig und störrisch, ist überall verstreut. Ich erinnerte mich an tausende namenlose Menschen, ›Seefahrende und Reisende‹, Kohorten von Abenteurern, die an unerforschte Orte vordringen, Irre, die die Wüste liebgewonnen haben, Kinder der Arbeit, die im Dickicht der Wälder das Fundament für Städte legen. Ihre Knochen sind jenseits des Polarkreises, sowohl im glühend heißen Sand des Schwarzen Kontinents als auch in der ungezähmten Tiefe des Ozeans verstreut. Die zweite, wahre Heimat zieht durch die feierliche Kraft der Liebe ebenso den Abenteuerlustigen wie den Expeditionsleiter an, der eine ganze Abteilung befehligt; nichts hält sie auf, nur der Tod.«.

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Neben der Vielzahl der in dieser Passage aufgezählten Regionen und Landschaftsformen, die eigentlich als Inbegriff strukturell fremder Räume gelten – Wüste, Wald, Ozean, Polarregion, Afrika – ist hier die Betonung der ständigen Bewegung von Bedeutung, die gleichsam zwangsläufig mit Grenzüberschreitungen und damit der Aufhebung fester räumlicher Zugehörigkeiten einhergeht. Dass Dias einer dieser ewig Reisenden ist, zeigt sich auch darin, dass er bei seiner Auswanderung nicht nur Russland und seine Familie zurückgelassen hat,557 sondern am Ende von »Dalëkij put’« erneut aufbricht und dabei gegenüber Lolita vielsagend erklärt: »›Ты же знаешь, почему.‹«558 Darin ähnelt er Ėli aus »Put’«, der ebenfalls dem Drang, in die Ferne zu ziehen, nicht widerstehen kann, und das, obwohl er anders als Šil’derov-Dias in seiner Heimat glücklich ist. In Übereinstimmung damit drückt die Formulierung »[в]торая, настоящая родина«559 im oben genannten Zitat, die der primäre Erzähler, ebenso wie ihre Bewertung, aus der Binnenerzählung des Protagonisten übernimmt, einerseits deren höhere hierarchische Position gegenüber der ›ersten‹, an einen bestimmten physischen Raum gebundenen Heimat aus. Hierzu passt auch die im angeführten Zitat genannte Namenlosigkeit dieses Menschenschlags – nicht nur, weil der transitorische Charakter ihrer Aufenthalte zu ihrer Anonymität führt, sondern auch weil Namen, wie vom Erzähler zuvor festgestellt, notwendigerweise bestimmte nationale Assoziationen hervorrufen, während eine Zugehörigkeit dieser Art durch den übernationalen Charakter ihrer neuen Identität obsolet geworden ist. Andererseits impliziert ›zweite‹ Heimat aber ebenso, dass eine erste existiert, wenn diese auch an Bedeutung verloren hat oder – wie bei Dias – sogar weitgehend verdrängt wurde. Die Tatsache, dass sich, wie oben dargestellt, der Schauplatz der Handlung aufgrund fehlender Informationen von Seiten des Erzählers einer präzisen Verortung entzieht, bildet also letztendlich narratologisch erstens die Situation des Protagonisten ab, der aufgrund seiner doppelten Zugehörigkeit ebenfalls nicht einem bestimmten Raum zugeordnet werden kann, sowie zweitens die generelle Eigenschaft der den Protagonisten einschließenden Gruppe der Reisenden und Entdecker, deren ›wahre‹ Heimat überall und nirgends zugleich ist. Indem sie fremden und eigenen Räumen stets zugleich angehören und nicht angehören, lassen sie sich dem Zwischenraum der Schwelle zuordnen.

557 Vgl. DP, 144. 558 DP, 152. Dt.: »›Du weißt schon, warum.‹«. 559 DP, 148. Dt.: »zweite, wahre Heimat«.

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Konzeptionen des Fremden in der Prosa Aleksandr Grins: Textanalysen

4.2.3.3 Kein Ausweg aus dem Fremden: »Noč’ju i dnëm«

Ebenfalls ein Grenzgänger zwischen strukturell Eigenem und Fremdem ist der Protagonist aus der Erzählung »Noč’ju i dnëm«560 aus dem Jahr 1915. Allerdings weist die Erzählung zwei entscheidende Unterschiede zu »Dalëkij put’« (und »Put’«) auf: Erstens findet der Identitätswechsel einer der handelnden Figuren nicht bewusst und willentlich statt, sondern unbewusst und auf unkontrollierbare Weise. Zweitens tritt das kulturell und geographisch Fremde nicht als Impuls und Faszinosum, sondern im Gegenteil als Bedrohung in Erscheinung. In der folgenden Analyse soll vor allem herausgearbeitet werden, worauf die im Zentrum der Erzählung stehende strukturelle Fremdheit basiert und wie ihre einzelnen Komponenten ineinandergreifen, um die vorliegende Wirkung der Bedrohung zu erzeugen. Außerdem stehen erneut die Axiologie des Fremden sowie das Thema der Grenzauflösungen im Fokus. »Noč’ju i dnëm« spielt nachts in einem Wald, in dem Soldaten Wache halten und dabei extreme Angst empfinden. Grund dafür ist das vorangegangene spurlose Verschwinden von fünf ihrer Kameraden von ihren nächtlichen Wachposten und deren vermutete Ermordung durch die in der Gegend ansässigen Waldbewohner. Die Handlung umfasst die Ereignisse einer einzigen Nacht, in der es einem der Protagonisten, dem Leutnant Ren, gelingt, den unbekannten Angreifer während einer weiteren Attacke zu überwältigen. Dabei stellt sich heraus, dass der Mörder keineswegs wie angenommen einer der Einheimischen ist, sondern der Hauptmann der eigenen Truppe. Da ein Großteil der Erzählung aus Gedanken und Emotionen der handelnden Figuren besteht, die von einem nichtdiegetischen, oft eine figurale Perspektive einnehmenden Erzähler mit der Fähigkeit zur Introspektion wiedergegeben werden, tritt die eigentliche, äußere Handlung hinter die Darstellung der inneren Vorgänge der Protagonisten zurück. Eine zweite Folge aus dieser spezifischen Erzählperspektive bezieht sich auf das die Erzählung dominierende Thema des strukturell Fremden: Der Akt der Fremdsetzung, aus dem das nicht per se Fremde erst als solches resultiert, wird in der Wahrnehmung der Soldaten (dem deiktischen Zentrum der Zuschreibung) vollzogen, die somit die kollektiven Interpreten eines passiv zugeschriebenen Fremden darstellen. Die Bestimmung des Orts (nichtpersonaler Referent) und seiner Bewohner (personale Referenten) als ›fremd‹ wird durch den Erzähler lediglich berichtet, nicht aber explizit bestätigt, was den Raum für die überraschende Wendung am Ende der Erzählung eröffnet.

560 Die Erzählung erscheint erstmals 1915 unter dem Titel »Bol’naja duša« (dt.: »Eine kranke Seele«) in der Zeitschrift »Novaja žizn’« (dt.: »Neues Leben«), Nr. 3 (vgl. Revjakina: Primečanija. Sobranie sočinenij. Tom vtoroj, 649).

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Dreifache Fremdheit als umfassende Bedrohung Wo dieses Fremde genau angesiedelt ist, bleibt unbekannt, denn eine Ver­ ortung des Schauplatzes der Handlung erfolgt nicht. Der abstrakte Leser kann lediglich aus einigen wenigen Details der Beschreibung und der Dialoge der handelnden Figuren entnehmen, dass sich die Soldaten an einem exotischen Ort befinden. Der dichte Wald selbst wird nicht sonderlich detailliert beschrieben und könnte daher prinzipiell auch in Russland zu finden sein (erst spät in der Erzählung wird ein Tamarindenbaum erwähnt, der in tropischen und subtropischen Gebieten wächst und damit einer solchen Lokalisierung widerspricht), allerdings leben in ihm neben giftigen Schlangen und Vogelspinnen auch Menschen, die mit Pfeilen jagen,561 in Stammesstrukturen organisiert sind562 und als »дикар[и]«563 bezeichnet werden. Den auf diese Weise als ›primitiv‹ markierten und damit abgewerteten Einheimischen stehen die mit dem ethnischen Begriff »белы[е]«564 bezeichneten Soldaten gegenüber. Darüber hinaus erfährt der abstrakte Leser, dass diese sich auf einem Feldzug befinden565 und christlichen Glaubens sind,566 womit die Kontexte von Kolonialisierung und damit oftmals einhergehender Missionierung aufgerufen werden. Als das strukturell Eigene aus der Sicht der Soldaten ist damit mit hoher Wahrscheinlichkeit Europa bzw. das Europäische zu bestimmen. In Übereinstimmung mit den Machtstrukturen des kolonialen Diskurses kommt es hier, wie bei Reisetexten, zu einer Umkehrung der eigentlich vorliegenden Zuschreibungen: Obwohl die Soldaten von außen in den Raum eingedrungen und somit fremd in ihm sind, sind es die Einheimischen und ihr Raum, die von ihnen als fremd konzeptualisiert werden. Wie in »Dalëkij put’« und »Put’« handelt es sich dabei um eine kombinierte Fremdheit aus Nichtzugehörigkeit und Unvertrautheit. Die Wirkung des Fremden in »Noč’ju i dnëm« ist, anders als in vielen anderen Texten, ohne jede Ambivalenz und beschränkt sich auf ein einziges Gefühl: Angst. Wie übermächtig diese Emotion ist, lässt sich bereits einer quantitativen Auswertung der Lexeme aus dem zugehörigen semantischen Feld, die in der Erzählung vorkommen, entnehmen. So finden sich in ihr sowohl das Substantiv strach (dt.: Furcht) als auch das zugehörige Adjektiv bzw. Adverb strašnyj / strašno (dt.: schrecklich) jeweils achtmal, hinzu kommt eine einmalige Verwendung des Verbs strašit’sja (dt.: sich ängstigen). Bojat’sja 561 Vgl. ND, 452. 562 Vgl. ND, 459. 563 ND, 452 u. 459. Dt.: »Wilde[…]« (Grin, Alexander: In der Nacht und am Tage. Aus dem Russischen von Renate Landa. In: Ders.: Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1989, 90–107, hier 92 u. 103. Kürzel: NDd). 564 ND, 459. Dt.: »Weiße[…]« (NDd, 103). 565 Vgl. ND, 452. 566 Vgl. ND, 451.

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(dt.: sich fürchten) wird siebenfach gebraucht, panika (dt.: Panik) einmal, užas (dt.: Grauen) fünfmal sowie užasnyj (dt.: schrecklich) ebenfalls einmal. Hinzu kommen Beschreibungen einer die Grenze zum Wahnsinn überschreitenden Angst, z. B. »обезумевши[й]«,567 »не владел собой«568 oder »›[…] ты с ума сошел?!‹ ›Не знаю. […]‹«569 sowie der Hinweis auf mehrere Selbstmorde als Ausweg aus der unerträglichen Lage der Soldaten.570 Die Atmosphäre der Angst ist wesentlich dem die Fähigkeit zu Introspektion besitzenden Erzählertypus und der figuralen Erzählperspektive geschuldet, denn der Erzähler nimmt in weiten Teilen erst die Perspektive des Soldaten Mur, dann des Leutnants Ren ein und beschreibt ausführlich ihre Gedanken und Emotionen, die sich fast ausschließlich um das Gefühl der Bedrohung und die daraus entstehende Angst drehen. Die Gründe und Mechanismen dessen sollen im Folgenden detailliert betrachtet werden. Wie sich bereits an den wenigen in Bezug auf den Schauplatz genannten Details zeigt, ist der fremde Raum stark mit Gefahren assoziiert. Diese sind zudem nicht nur prinzipiell vorhanden, sondern allesamt explizit auf die Soldaten bezogen: Schlangenbisse571 und Fieber572 haben bereits zahlreiche Todesopfer unter ihnen gefordert, die Einheimischen werden in Verbindung mit der Furcht vor vergifteten Pfeilen und dem Verschwinden der Soldaten genannt.573 Ähnlich wie in der Erzählung »Dalëkij put’«, in der der Raum und seine Bewohner durch das gemeinsame Merkmal der Monotonie verbunden sind, weisen in »Noč’ju i dnëm« also sowohl der Wald als auch  – und vor 567 ND, 455. Dt.: »übergeschnappt[…]« (NDd, 97). 568 ND, 454. Dt.: »hatte sich nicht mehr in der Gewalt« (NDd, 96). 569 ND, 455. Dt.: »›[…] bist du von Sinnen?[!]‹ ›Ich weiß nicht. […]‹« (NDd, 96 f.). 570 Vgl. ND, 452. 571 In »Zmeja« (1926; dt.: »Die Schlange«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Zmeja. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 477–482. Kürzel: ZM) wird eine junge Frau, die in Begleitung eines Mannes, dessen Liebe sie nicht erwidert und mit dessen Gefühlen sie spielt, ebenfalls im Wald von einer Giftschlange gebissen. Ihr abgewiesener Verehrer rettet sie, indem er das Gift mit dem Mund aus der Bisswunde saugt, und stirbt selbst daran. Der Schlange kommt eine entscheidende Funktion zu, da sie dem Mann ermöglicht, sich für seine Angebetete zu opfern und die im Leben verweigerte Bindung an ihn durch Dankbarkeit und / oder Schuldgefühle der Frau im Tod zu erreichen. 572 Vgl. ND, 452. Fieber tritt, wie erwähnt, auch in »Dalëkij put’« als typische Gefahr (tropischer) Wälder auf (vgl. DP, 150). In der fantastischen Erzählung »Gatt, Vitt i Redott« machen sich die drei im Titel genannten Männer in der Hoffnung auf Reichtum auf nach Afrika, »в страну змей, обезьян и львов« (GV, 381. Dt.: »in das Land der Schlangen, Affen und Löwen«). Auch bei ihnen lässt das Fieber nicht lange auf sich warten: »Немедленно по приезде с ними начались несчастные случаи. Сначала заболел лихорадкой Редотт, затем Витт и наконец Гатт.« (GV, 381. Dt.: »Sofort nach der Ankunft begannen bei ihnen die unglücklichen Vorfälle. Zuerst erkrankte Redott an Fieber, dann Vitt und schließlich Gatt.«). 573 Vgl. ND, 452.

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allem –574 die in ihm lebenden ›Wilden‹ das Attribut einer Gefahr für Leib und Leben der Soldaten auf. Die daraus resultierende Atmosphäre einer umfassenden Bedrohung wird bereits am Beginn der Erzählung unmittelbar, ohne Kontextualisierung oder sonstige Erklärung, als beherrschendes Moment eingeführt: В восьмом часу вечера, на закате лесного солнца, часовой Мур сменил часового Лида на том самом посту, откуда не возвращались. Лид стоял до восьми и был поэтому сравнительно беспечен; все же, когда Мур стал на его место, Лид молча перекрестился. Перекрестился и Мур: гибельные часы – восемь – двенадцать – падали на него.575

Schon im ersten Satz des Zitats, der zugleich auch der erste Satz des gesamten Textes ist, werden mit Ort, Zeit und Qualität der Bedrohung die entscheidenden Parameter genannt, die die Angst der Soldaten vor den tödlichen Angriffen der (aus ihrer Sicht) Fremden entscheidend verstärken: Wald, Nacht – angekündigt durch die Erwähnung des Sonnenuntergangs – und Unbestimmtheit: Durch das reflexive Verb vozvraščat’sja (dt.: zurückkommen) wird, anders als es bei einer Passivkonstruktion, die immer auch ein Agens impliziert, der Fall wäre, eine Aussage oder zumindest Andeutung über den Grund des Verschwindens vermieden. Wie untrennbar Fremdes und Furcht in »Noč’ju i dnëm« mit­ einander verknüpft sind, zeigt sich bereits an dieser Stelle, denn nicht nur die ›Wilden‹, sondern auch alle drei die Angst intensivierenden Parameter stellen für sich genommen eine Erscheinungsform des Fremden dar. Bei Wald und Nacht handelt es sich um geradezu klassische Figurationen des strukturell 574 In der frühen Erzählung »Okno v lesu« (1909) findet sich ein ähnliches Muster: Als sich ein Jäger verläuft und die Nacht in einem Wald verbringen muss, überfällt ihn große Angst. Zufällig entdeckt er das erleuchtete Fenster einer Hütte im Wald und nähert sich voller Zuversicht, einen sicheren Platz für die Nacht – unter Menschen, geschützt vor der Natur  – gefunden zu haben: »Это было окно, это был дом, произведение человеческих рук, успокоение и находка.« (OL , 237. Dt.: »Das war ein Fenster, das war ein Haus, ein Werk menschlicher Hände, eine Beruhigung und ein Fund.«). Doch der Blick durch das Fenster enthüllt eine grausame Szene: Ein Mann quält einen Vogel, indem er ihm immer wieder mit Nadeln den Kopf durchbohrt. Außer sich vor Wut, erschießt der Jäger den Mann durch das Fenster, »а он все шел, дальше и дальше навстречу голодной, бессонной, полной зверями тьме.« (OL , 239. Dt.: »und er ging und ging, weiter und weiter der hungrigen, schlaflosen Dunkelheit voller wilder Tiere entgegen.«). Die (realen oder imaginären) Gefahren der Wildnis verlieren hier also an Bedeutung angesichts der menschlichen Grausamkeit, die die der Natur bei Weitem übertrifft. 575 ND, 451; Hervorhebungen von A. B.  Dt.: »Um sieben Uhr abends, als die Waldsonne unterging, löste der Soldat Mur den Soldaten Lid auf dem Posten ab, von dem schon mancher nicht zurückgekommen war. Lid hatte bis acht Uhr Wache gehalten und war deshalb recht sorglos; dennoch bekreuzigte er sich schweigend, als Mur seinen Platz einnahm. Auch Mur bekreuzigte sich, denn die unheilvollsten Stunden – von acht bis zwölf – fielen ihm zu.« (NDd, 90; Hervorhebungen von A. B.).

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Fremden im Sinne des Nichtzugehörigen, die dementsprechend auch beide in Lotmans Theorie der Semiosphäre als Beispiele angeführt werden. Nach Lotman liegt der Wald jenseits der geographischen Grenzen der Semiosphäre, die Nacht jenseits der zeitlichen.576 In ähnlicher Weise bestimmt auch Foucault die Nacht als zeitliche Heterotopie bzw. als Heterochronie (frz.: hétérochronie).577 Dieser Raum außerhalb der Semiosphäre bildet die Anti-Welt (»антимир«),578 den Wald bezeichnet Lotman als Anti-Haus (»антидом«).579 Lotman weist, wie im Theorieteil dieser Studie bereits erwähnt, auch explizit auf die inhärente (tatsächliche oder empfundene) Bedrohung hin, die vom semiotischen Außenraum ausgeht, der als »›враждебное‹, ›опасное‹, ›хаотическое‹«580 konzeptualisiert wird. Die Unbestimmtheit dagegen ist, wie ebenfalls in den einführenden theoretischen Überlegungen ausgeführt wurde, elementarer Bestandteil von Fremdheit im Sinne von Unvertrautheit, genauer einer epistemischen Fremdheit, die ebenso eine bedrohliche Wirkung haben kann. Allen drei Parametern kommt in »Noč’ju i dnëm« eine wichtige Funktion in der Erzeugung einer Atmosphäre der Angst vor dem (bzw. vor allem vor den) Fremden zu, weshalb sie im Folgenden einzeln Betrachtung finden sollen. Wald: Raum des Fremden Dass der Wald ein für die Soldaten fremder und gefährlicher Raum ist, zeigt sich bereits darin, dass sie sich paradoxerweise zugleich mitten in ihm aufhalten und doch bewusst außerhalb von ihm bleiben: Schauplatz des Geschehens ist eine grasbewachsene Lichtung mit einem kleinen Flüsschen,581 umringt von gewaltigen Bäumen582 und undurchdringlichem Dickicht.583 Da der Wald nicht nur generell der Raum einer potentiellen Gefahr ist, sondern unter den Soldaten zudem die ganz konkrete Befürchtung herrscht, dass die ›Wilden‹ das dichte Gebüsch und die breiten Baumstämme nutzen, um überraschend aus dem Hinterhalt anzugreifen,584 bietet die Lichtung eine vergleichsweise sichere ›Enklave‹ innerhalb des Waldes. Allerdings handelt es sich dabei nur um eine vermeintliche Sicherheit, denn der Rückzug auf die Lichtung mindert die 576 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 266. Wie in Kapitel 3.2 definiert, ist das strukturell Fremde im semiotischen Außenraum an den Außengrenzen angesiedelt, sodass ein Überschreiten der Grenze in den Innenraum potentiell möglich ist. 577 Vgl. Foucault: Des espaces autres, 759. 578 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 266. 579 Ebd. 580 Ebd., 257. Dt.: »›feindlich‹, ›gefährlich‹ und ›chaotisch‹« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 174). 581 Vgl. ND, 451 f. 582 Vgl. ND, 451 u. 457. 583 Vgl. ND, 451 u. 458. 584 Vgl. ND, 452.

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Gefahr eines Überraschungsangriffs keineswegs, im Gegenteil: Aus der unterschiedlichen Beschaffenheit der beiden Räume ergibt sich ein asymmetrisches Verhältnis der Möglichkeiten der Soldaten und der Einheimischen. Während Ersteren von der Lichtung aus aufgrund der dichten Vegetation selbst vor Einbruch der Nacht nur ein beschränkter Einblick »за пределы опушки«585 in den Wald hinein möglich ist, können Letztere die Grenze zwischen den beiden Räumen in umgekehrter Richtung nicht nur visuell, sondern auch physisch problemlos überschreiten, d. h. ihre wie auf einem Präsentierteller auf der Lichtung befindlichen Opfer sowohl genau beobachten als auch aus dem Dickicht heraus unvermittelt angreifen. Der Wald erweist sich damit als ›Verbündeter‹ der in ihm lebenden Fremden. Somit kehren sich hier die üblicherweise im Kontext der Kolonialisierung vorherrschenden Machtverhältnisse um: Die ›Wilden‹ kontrollieren die Situation, die ›Weißen‹ sind passiv und vor Angst wie gelähmt. Diese räumlich bedingte Konstellation bleibt die gesamte Erzählung über bestehen und beeinflusst die Handlungen und Gedanken der Protagonisten maßgeblich. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Protagonisten Mur, den die Erzählung in der ersten Hälfte ›begleitet‹. Als er sich nach der Wachablösung alleine auf der Waldlichtung befindet und seine Umgebung betrachtet, nimmt unmittelbar das Gefühl von Unheimlichkeit und Bedrohung überhand. Denn er identifiziert die ungezähmte Natur sofort als trügerische Idylle, als Raum der »опасности, прикинувшейся безмятежным голубым вечером, лесом и прозрачной водой.«586 Vor allem der Wald wird immer wieder explizit mit einer unbekannten Gefahr in Verbindung gebracht. So überkommen Mur etwa Horrorvorstellungen wie diese: »[…] волосатые руки, тянущиеся из-за стволов к затылку цепенеющего солдата […]«.587 Der Grund dafür ist nicht nur in seinen überspannten Nerven aufgrund seines Alleinseins im nächtlichen Wald, sondern auch in seinen benebelten Sinnen, für die ebenfalls der Wald verantwortlich ist, zu suchen: »Густой запах леса кружил голову.«588 An anderer Stelle vollzieht sich in Murs Wahrnehmung eine Metamorphose der einzelnen Baumstämme zu einem homogenen Raum der Dunkelheit und des ominösen Schweigens, womit die beiden anderen angsterzeugenden Parameter, Nacht und Unbestimmtheit der Gefahr, aufgerufen und mit dem Wald verknüpft werden: »стволы […], отходя ряд за рядом в тишину диких сумерек, таяли, становясь мраком, жуткой 585 ND, 453. Dt.: »[über] die Grenzen des Waldsaums« (NDd, 93). 586 ND, 451. Dt.: »Gefahr […] [, die] sich als friedvoller blauer Abend, als Wald und durchsichtiges Wasser [tarnte].« (NDd, 90). 587 ND, 452. Dt.: »[…] behaarte […] Arme, die hinter Baumstämmen hervor nach dem Hinterkopf eines erstarrten Soldaten griffen […]« (NDd, 92). 588 ND, 453. Dt.: »Der intensive Waldgeruch benebelte sein Hirn.« (NDd, 94).

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нелюдимостью и молчанием.«589 Die »нелюдимость[…]«590 des Waldes kann darüber hinaus nicht nur als Beschreibung eines für Menschen ungeeigneten oder gar feindlichen Lebensraums, sondern, verstanden als Wortspiel, auch als indirekte Charakterisierung der nichtsdestotrotz in ihm lebenden ›Wilden‹ als Unmenschen (russ.: neljudi) gelesen werden. Von Beginn der Erzählung an wird dem Wald durch die Soldaten zudem eine märchenhafte Qualität zugeschrieben, d. h. das strukturell Fremde nimmt Züge eines radikal Fremden an. Bereits bei der Wachablösung zwischen Lid und Mur in den ersten Zeilen des Textes bezeichnet Lid den kleinen Fluss, an dem die Lichtung liegt, als »сказочн[ый]«.591 Mur übernimmt diese Wahrnehmung, als er alleine ist: »Мур подошел к воде, думая, что Лид прав: характер сказочности ярко и пышно являлся здесь, в диком углу, созданном как бы всецело для гномов и оборотней.«592 Der Wald erscheint dabei nicht nur als ein Raum, der wie für Zauberwesen geschaffen ist, sondern sogar aus ihnen besteht, denn Mur erblickt »стволы, с видом таинственных великанов-оборотней«.593 Durch die Formulierungen kak by (dt.: gleichsam) und s vidom (dt.: mit dem Aussehen) bleibt die Erzählung dabei auf der Ebene des Realistischen und Rationalen, da die Existenz magischer Wesen nicht wirklich behauptet wird; zugleich aber wird das Setting trotzdem so verändert, dass übernatürliche Ereignisse in diesem Wald nunmehr durchaus im Rahmen des Möglichen erscheinen. Dieser Ambiguität zwischen Rationalem und Irrationalem entspricht auch der zweideutige Ausruf des Soldaten Mur, nachdem er den Zauberwald als solchen identifiziert und gründlich betrachtet

589 ND, 451. Dt.: »Baumstämme […] traten Reihe um Reihe in die Stille der unheimlichen Dämmerung zurück, lösten sich auf, wurden zu Finsternis und Schweigen grausliger Unzugänglichkeit [wörtl.: Menschenscheue]« (NDd, 91). 590 ND, 451. Dt.: »Unzugänglichkeit« (NDd, 91); wörtl.: »Menschenscheue«. 591 ND, 451. Dt.: »[z]auber[isch]« (NDd, 90); wörtl.: »märchenhaft«. 592 ND, 451. Dt.: »Mur ging zum Wasser und dachte, wie recht doch Lid hatte: der reinste Märchenwald, wie geschaffen für Kobolde und Zauberwesen.« (NDd, 91). 593 ND, 451. Dt.: »Baumstämme, verwunschenen Riesen gleich« (NDd, 91). In der bereits erwähnten Erzählung »Okno v lesu« überkommt den namenlosen Protagonisten im nächtlichen Wald ebenfalls das Gefühl, von magischen Wesen aus alten Überlieferungen umgeben zu sein: »[…] лицом к лицу с ночью, сбившийся и голодный, бессильный и беззащитный, он воскрешал древние предания, мысленно вызывая мохнатые образы лесных духов, судорожно улыбался в темноте, силясь сбросить овладевшие им представления […].« (OL , 236. Dt.: »[…] von Angesicht zu Angesicht mit der Nacht, verirrt und hungrig, schwach und schutzlos, rief er sich die alten Überlieferungen ins Gedächtnis und rief in seinen Gedanken zottige Bilder von Waldgeistern wach, lächelte krampfhaft in der Dunkelheit und bemühte sich, die ihn beherrschenden Vorstellungen abzustreifen […].«). Wie in »Noč’ju i dnëm« entsteht der Eindruck, sich in einem von Märchenwesen bevölkerten Raum aufzuhalten, aus einer ohnehin bestehenden Atmosphäre der Angst heraus, die dadurch noch zusätzlich verstärkt wird.

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hat: »›Проклятое место!‹«594 Er kann als Fluch sowohl im Sinne eines rein expressiven Ausdrucks als auch im Sinne einer (durch eine andere Person bereits vollzogenen) performativen Sprachhandlung verstanden werden, die auf der Macht des Wortes in einem magischen Weltbild mit seinem Glauben an die Allmacht der Gedanken und Worte basiert, demzufolge das Aussprechen dem Ausführen gleichkommt. Mit der Verknüpfung von Märchen und Wald nimmt Grin einen kulturübergreifenden literarischen Topos auf.595 Vladimir Propp widmet dem Wald in seiner Studie »Istoričeskie korni volšebnoj skazki« (dt.: »Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens«) ein ganzes Kapitel (Kap. III: »Tainstvennyj les«;596 dt.: »Der geheimnisvolle Wald«). Er bestimmt ihn darin als den Raum, in den der Held unabänderlich gelangt und in dem seine Abenteuer beginnen.597 »Этот лес никогда ближе не описывается. Он дремучий, темный, таинственный, несколько условный, не вполне правдоподобный.« –598 Eigenschaften, die auch auf die Beschreibung des Waldes in »Noč’ju i dnëm« zutreffen. Propp weist auf die universelle Funktion des Waldes als Ort der Initiation hin und findet diese auch im Märchen wieder.599 Allgemeiner gefasst ist der Wald im Märchen der Raum, in dem der Held einen Reifeprozess oder eine Wandlung durchläuft, indem er sich dort beweisen, Hindernisse überwinden, Gegenspieler besiegen muss. Die oben zitierte Verortung des Waldes im Außenraum der Semiosphäre durch Lotman erweist sich auch im Kontext des Märchens als gültig, denn er liegt stets ›außerhalb‹ – des Hauses, des Dorfes oder der Stadt, des Schlosses oder der Burg, kurz: des eigenen, sicheren Raums, in den der Held nach bestandener Prüfung zurückkehrt.

594 ND, 451. Dt.: »›Ein verfluchter Ort[!]‹« (NDd, 91). 595 Zum Wald im russischen Zaubermärchen, aber auch in anderen, europäischen Märchen vgl. Propp, Vladimir: Istoričeskie korni volšebnoj skazki. Moskva 2000, 36–89; die Häufigkeit des Waldes als Handlungsschauplatz fällt unter anderem in den Grimm’schen Märchen ins Auge (u. a. als zentraler Schauplatz in »Hänsel und Gretel«, »Schneewittchen«, »Rotkäppchen«, »Brüderchen und Schwesterchen«). Der Wald im Märchen ist geheimnisvoll, birgt Gefahren wie Räuber, Riesen, Dämonen, Gespenster oder Tiere und erzeugt daher Angst. In ihm finden unheimliche Begegnungen und außergewöhnliche Ereignisse statt (vgl. Fischer, Helmut: Wald. In: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 14. Berlin, Boston 2014, Sp. 434–443, hier 435–437). 596 Vgl. dazu die bereits erwähnte Erzählung Grins mit demselben Titel aus dem Jahr 1913; vgl. TA . 597 Vgl. Propp: Istoričeskie korni, 40. 598 Ebd. Dt.: »Dieser Wald wird nie näher beschrieben. Er ist tief, finster, geheimnisvoll, ein wenig stilisiert und nicht ganz glaubwürdig.« (Propp, Vladimir: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens. Aus dem Russischen von Martin Pfeiffer. München, Wien 1987, 65). 599 Vgl. Propp: Istoričeskie korni, 40 f.

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In diesem Verständnis birgt der Wald somit grundsätzlich das Moment der (zu bewältigenden) Gefahr, das auch in »Noč’ju i dnëm« eine entscheidende Rolle für das Sujet spielt. Eine der Figuren, die den Helden im Wald herausfordert oder bedroht, ist nicht nur im Märchen,600 sondern auch in den verwandten Gattungen der Legende und der Sage, der Räuber.601 Lotman hält in Bezug auf den außerhalb der Semiosphäre einer Kultur gelegenen Raum sogar grundsätzlich fest: В антипространстве живет разбойник: его дом  – лес (антидом), его солнце  – луна (›воровское солнышко‹, по русской поговорке), он говорит на анти-языке, 600 Vgl. Propp, Vladimir: Morfologija skazki. Leningrad 1928, 38. 601 Das strukturell Fremde in Gestalt der Figur des Räubers im Wald findet sich bei Grin gleich in mehreren Werken. Besonders zu nennen ist in diesem Zusammenhang der Text »Legenda o Fergjusone«, der besagte Legende als Geschichte in der Geschichte erzählt. Sie handelt von einem mysteriösen, im Wald lebenden, sieben Fuß großen Mann namens Fergjuson, der eine über 120 Mann starke Räuberbande »ночью, когда бандиты спали в своем лесном доме« (LF, 490. Dt.: »nachts, als die Banditen in ihrem Wald-Zuhause schliefen«), mit einem riesigen Felsen erschlägt, den er von einem Berg herabrollen lässt. In der Erzählung »Sozdanie Aspera« (1917) erzählt der Richter Gakker davon, wie er neben anderen Personen auch den Räuber Asper erschaffen habe, wobei sich diese Schöpfung auf der Schwelle zwischen lebendigem Menschen und Kunstwerk, Realität und Fiktion bewegt. Gakker inszeniert Asper als typischen Räuber, der im Wald in einer Hütte wohnt (vgl. SA , 64) und Raubüberfälle begeht, allerdings ohne seinen Opfern körperlichen Schaden zuzufügen (vgl. SA , 63). In Robin-Hood-Manier lässt Gakker Asper das erbeutete Geld überdies an Arme weitergeben (vgl. SA , 62 f.). Weit weniger edel sind die beiden Diebe aus »Vor v lesu« (1929). Sie begeben sich tief in einen Wald »из огромных, высоких и прямых деревьев« (VL , 586. Dt.: »aus gewaltigen, hohen und geraden Bäumen«) auf der Suche nach einem Schatz, der gar nicht existiert, und belügen und betrügen sich dabei gegenseitig immer wieder, bis am Ende der eine den anderen umbringt. Auch in der bereits erwähnten Erzählung »Slučaj« ist der (nächtliche) Wald der Raum der »бродяг и грабителей« (SČ , 78. Dt.: »Vagabunden und Räuber«), auf die zu treffen der Protagonist Bal’sen fürchtet. Als er in der Dunkelheit eine Gruppe von Reitern hört, versteckt er sich deshalb am Wegesrand, doch sein Pferd verrät seine Anwesenheit. Die Handlung nimmt daraufhin eine tragisch-ironische Wendung, denn die vermeintlichen Räuber entpuppen sich als Kosaken auf Patrouille, die Bal’sen für einen Verbrecher halten, weil er sich vor ihnen versteckt hat, und ihn deshalb erschießen. Das Motiv des Räubers oder Diebs tritt in Grins Gesamtwerk noch in einigen weiteren Erzählungen in Erscheinung, z. B. in »Pokajannaja rukopis’« (1914; dt.: »Die Reueschrift«) oder »Zoloto i šachtëry« (1925). Damit knüpft Grin an eine lange Tradition russischer folkloristischer Texte des 17. bis 19. Jahrhunderts an, in denen die Figur des Räubers (russ.: vor-razbojniček) als Held auftritt, der die Grenzen der gesellschaftlichen Normen überschreitet (vgl. Brouwer, Sander: Iz predystorii russkogo romana. Značenie obrazov izgoja i samozvanca dlja razvitija narrativnych žanrov russkoj literatury XVII–XIX vv. In: Weststejn, Willem G. (Hg.): Dutch Contributions to the Eleventh International Congress of Slavists, Bratislava, August 30 – September 9, 1993. Amsterdam 1994, 61–77, hier 67; zit. nach Wöll, Alexander: Doppelgänger. Steinmonument, Spiegelschrift und Usurpation in der russischen Literatur. Frankfurt a. M. 1999, 18).

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осуществляет анти-поведение (громко свистит, непристойно ругается), он спит, когда люди работают, и грабит, когда люди спят, и т. д.602

Obwohl in »Noč’ju i dnëm« nicht im eigentlichen Sinne ein Räuber auftritt, findet sich darin eine Person mit einer äquivalenten Funktion, nämlich, mit Vladimir Propp gesprochen, der des Gegenspielers oder Schädigers (russ.: vreditel’),603 die hier von dem nächtlichen Angreifer erfüllt wird.604 Aus dieser Betrachtungsweise ergibt sich eine Verbindung von Grins Erzählung mit einem wichtigen Text der russischen Kultur. Es fällt auf, dass der Name einer der Hauptfiguren aus »Noč’ju i dnëm«, Mur, an die russische Heldengestalt Il’ja Muromec erinnert.605 Wie Il’ja Muromec zusammen mit Dobrynja Nikitič und Alëša Popovič die Gruppe der drei bedeutendsten bogatyri (dt.: Recken) der russischen Bylinen bildet,606 tritt auch Mur gemeinsam mit Lid und Ren, mit denen er sowohl auf inhaltlicher Ebene über ihren Beruf als Soldaten als auch auf sprachlicher Ebene über ihre einsilbigen Namen verbunden ist, als Dreigespann auf. Allerdings verhält sich Mur anders als 602 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 266. Dt.: »In der[…] Antiwelt lebt […] der Räuber: Sein Zuhause ist der Wald (das Anti-Haus), seine Sonne ist der Mond (die ›Sonne der Diebe‹, nach einer russischen Redensart), er spricht eine Anti-Sprache und pflegt ein Anti-Benehmen (lautes Pfeifen, dreckiges Fluchen), er schläft, wenn andere Leute arbeiten, und stiehlt, wenn andere schlafen, usw.« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 188). 603 Vgl. Propp: Morfologija skazki, 37. 604 Vgl. dazu auch die von Propp identifizierte Funktion XII der handelnden Personen – »Герой испытывается, выспрашивается, подвергается нападению и пр., чем подготовляется получение им волшебного средства или помощника« (ebd., 51. Dt.: »Der Held wird auf die Probe gestellt, ausgefragt, überfallen usw., wodurch der Erwerb des Zaubermittels oder des übernatürlichen Helfers eingeleitet wird.« (Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens. Übersetzt von Christel Wendt. Berlin 1975, 43; im Original fettgedruckt)) –, Variante 9: »Враждебное существо вступает с героем в борьбу […]. Борьба в лесной избушке с различными обитателями леса встречается очень часто.« (Propp: Morfologija skazki, 51; Hervorhebung von A. B.  Dt.: »Ein feindliches Wesen nimmt den Kampf mit dem Helden auf […]. Sehr häufig wird ein Kampf im Waldhäuschen mit den verschiedenen Bewohnern des Waldes geschildert.« (Propp: Morphologie des Märchens, 43; im Original vollständig kursiv; Hervorhebung hier von A. B.). 605 Dass Grin sich auf Il’ja Muromec bezieht, ist nicht unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass der Bylinenstoff von russischen Autoren immer wieder aufgegriffen wird, so etwa von Nikolaj Karamzin in seinem unvollendeten Gedicht »Il’ja Muromec« (1794) wie auch von Aleksej K. Tolstoj in seiner gleichnamigen Ballade (1871). Bei Karamzin finden sich die folgenden Zeilen, die auch den Schauplatz von »Noč’ju i dnëm« beschreiben könnten: »Кто сей рыцарь? – Илья Муромец. / Он проехал дикий темный лес […]« (Karamzin, Nikolaj M.: Il’ja Muromec. Bogatyrskaja skazka. In: Ders.: Polnoe sobranie stichotvorenij. Vstupitel’naja stat’ja, podgotovka teksta i primečanija Ju. M. Lotmana. Moskva, Leningrad 1966, 149–161, hier 152. Dt.: »Wer ist dieser Ritter? – Il’ja Muromec. / Er ritt durch einen wilden dunklen Wald […]«). 606 Vgl. dazu die wohl bekannteste bildliche Darstellung der drei Helden in dem Gemälde »Bogatyri« (1881–1898; dt.: »Recken«) von Viktor Vasnecov.

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Muromec nicht wie ein Held (diese Rolle kommt Ren zu), sondern ist durch seine Angst wie gelähmt und bleibt im Angesicht der Gefahr rein passiv. Dadurch stellt »Noč’ju i dnëm« eine Art Anti-Byline dar, die den russischen Helden-Kult unterläuft. »Noč’ju i dnëm« weist deutliche Parallelen zu einer der Bylinen des Kyiver Zyklus, »Il’ja Muromec i Solovej-Razbojnik« (dt.: »Ilja Muromez und der Räuber Nachtigall«), auf, die wie »Noč’ju i dnëm« in einem Wald spielt, hier im Wald bei Brjansk. Sie erzählt vom Sieg des Il’ja Muromec über den SolovejRazbojnik, ein Halbwesen – teils Mensch, teils Vogel –, das auf einem Baum sitzt und Reisende durch seine mächtigen Pfiffe tötet.607 Das von Lotman explizit als »анти-поведение«608 identifizierte Pfeifen des Räubers wird dort also zur Mordwaffe. Auch im Wald von »Noč’ju i dnëm« lauert ein unbekanntes Wesen; hier ist es allerdings gerade im Gegenteil die Stille, die eine tödliche Gefahr birgt, da die Attacken lautlos aus dem Hinterhalt erfolgen. Als der Angreifer schließlich von einem Baum (!) herabspringt, erscheint auch er seinen Opfern nur zum Teil als Mensch – »[в] его лице не было ничего человеческого« –,609 ja, er weist sogar, wie der Solovej-Razbojnik, vogelhafte Züge auf: »[…] он повторял странные, дикие слова, похожие на крик птицы«.610 Eine weitere Parallele zwischen den beiden Texten stellt die auffällige Wiederholung der magischen Zahl Drei oder ihres Vielfachen dar. In den verschiedenen Varianten der Byline sitzt oder liegt Il’ja Muromec aufgrund einer Krankheit dreißig Jahre lang auf dem Ofen im Haus seiner Eltern.611 Er reitet auf einem seit dreißig Jahren zugewachsenen Waldweg,612 trifft im Wald auf den Räuber Nachtigall, der dreimal pfeift (bzw. zischt und heult),613 tötet oder verwundet ihn mit drei Pfeilen614 und trifft seine drei Töchter.615 In »Noč’ju i dnëm« treten drei Soldaten auf, deren Namen jeweils aus drei Buchstaben bestehen (Lid, Mur, Ren). Schauplatz der Handlung ist eine dreieckige Lichtung,616 auf der Mur, sein Gewehr mit dreißig Patronen in der Hand, nach dem Mondaufgang drei Minuten lang steht, bevor er den vermeintlichen An607 Vgl. [o. V.]: Il’ja Muromec. Podgotovka tekstov, stat’ja i kommentarii A. M. Astachovoj. Moskva, Leningrad 1958, 31. 608 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 266. Dt.: »Anti-Benehmen« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 188). 609 ND, 457. Dt.: »[s]ein Gesicht hatte nichts Menschliches« (NDd, 100). 610 ND, 457. Dt.: »Er stieß immer wieder merkwürdige, wilde Worte aus, Vogelschreien vergleichbar« (NDd, 100). 611 Vgl. [o. V.]: Il’ja Muromec, 14. 612 Vgl. ebd., 50. 613 Vgl. u. a. ebd., 21, 43 u. 53. 614 Vgl. ebd., 28. 615 Vgl. ebd., 36. 616 Vgl. ND, 451.

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greifer hinter sich hört.617 Es handelt sich jedoch um den Soldaten Ren, der ihn zur Beruhigung dreimal mit seinem Namen anspricht.618 Als schließlich der wirkliche Angreifer, Hauptmann Čerbel’, gefasst ist, wird dieser ebenfalls dreimal mit seinem Namen angesprochen619 und muss dann drei Fragen beantworten, bevor er von Ren erschossen wird.620 Trotz dieser zahlreichen Parallelen handelt es sich bei »Noč’ju i dnëm« nicht um eine Legende oder ein Märchen: Die fantastischen oder märchenhaften Eigenschaften des Schauplatzes treten ausschließlich in Zusammenhang mit der Wahrnehmung der handelnden Figuren auf, die entsprechende Vergleiche anstellen. Das Übernatürliche wird an keiner Stelle als genuiner Bestandteil der Handlung eingeführt, sondern es verbleibt auf der Ebene des potentiell Eintretenden in den, dem abstrakten Leser mitgeteilten, Gedanken der handelnden Figuren. Typische Märchenelemente wie ein unbestimmter, dichter, dunkler Wald, das Auftreten eines Schädigers oder die Zahlenmagie verstärken diese unterschwellig präsente Möglichkeit eines Umschlagens der Handlung vom Bereich des Rationalen in den des Irrationalen. Ein entscheidender Unterschied zum Märchen- bzw. Legendengenre besteht auch im Sujet von »Noč’ju i dnëm«, da es hier zu keiner Reifung oder Wandlung des Helden durch das Muster ›Aufbruch in den Wald, Prüfung und Rückkehr aus dem Wald‹ kommt. Die Erzählung setzt zu einem Zeitpunkt ein, als die Soldaten sich bereits im Wald befinden, und endet abrupt mit dem Tod des Angreifers. Dennoch erfüllt auch in diesem Text der Wald die Funktion als Raum der Wandlung, allerdings in modifizierter Form, denn es ist keiner der Protagonisten, sondern der Antagonist (Schädiger) Čerbel’, der im Wald eine Wandlung durchläuft. Hierauf wird an späterer Stelle genauer eingegangen. Nacht: Zeit des Fremden Der zweite Parameter, der die Angst der Soldaten vor den Fremden verstärkt und seinerseits eine Spielart des Fremden darstellt, ist die Nacht bzw. ihre wesentliche Eigenschaft: Dunkelheit. Ort und Zeit des Fremden bilden gemeinsam einen Chronotopos des Fremden. Wie bereits erwähnt, beginnt die Erzählung mit Einbruch der Dämmerung. Schon bevor das Tageslicht endgültig verschwindet, breitet sich die Dunkelheit in Form von Schatten im Wald aus: Der Fluss ist an seinen Ufern umgeben von »угрюмые, падающие черной тенью навесы«,621 das Blattwerk »высилась над водой пышным теневым сводом«.622 Bereits die Schatten, also eine abgeschwächte Form der Finsternis, 617 Vgl. ND, 452 u. 454. 618 Vgl. ND, 454. 619 Vgl. ND, 458 f. 620 Vgl. ND, 460. 621 ND, 453. Dt.: »finstere[n] Überhänge[n] [, die] schwarze Schatten […] warfen« (NDd, 91). 622 ND, 453. Dt.: »breitete ein prunkvolles Schattengewölbe über den Fluss« (NDd, 91).

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werden explizit mit Gefahr assoziiert:623 »От теней […] повеяло холодной угрозой […]«.624 Auch hier verweist die unpersönliche Verbform im Neutrum auf den unbestimmten Charakter der Bedrohung. In Murs Phantasie greifen »длинные, как у тени в закате, волосатые руки«625 nach den Soldaten. Wenig später bestätigt sich diese gedankliche Verknüpfung in der Realität, denn das Erste, was Ren von dem nächtlichen Angreifer wenige Augenblicke vor der Attacke wahrnimmt, ist dessen Schatten.626 Die Intensität der Angst Murs entwickelt sich direkt proportional zur Intensität der Dunkelheit. Als das letzte Licht im Begriff ist zu verschwinden, versucht Mur dem noch mit seinen Augen entgegenzuwirken: »Мрак наступал, отходя перед судорожным напряжением глаз Мура, и снова наваливался […]«.627 Doch umsonst: »Наконец одолел мрак«628 und bringt mit sich eine »предательск[ую] пустот[у] мрака«.629 Ab diesem Moment genügt ein unter Murs eigenen Füßen knackender Ast, und »[…] он был уже во власти страха и покорен ему.«630 Aus den verwendeten Lexemen – navalivat’sja (dt.: herfallen über), odolet’ (dt.: überwältigen), pokoren (dt.: untertan) – entsteht das Bild eines Kampfes des Soldaten Mur gegen die Dunkelheit, die metonymisch für eine abstrakte Gefahr steht, die sich in ihr verbirgt und mit der der Soldat Ren, sobald sie sich als menschlicher Angreifer konkretisiert hat, in einen ganz realen, physischen Kampf eintritt. Ein gegenteiliger Effekt in Bezug auf die Angst Murs tritt, der genannten Logik entsprechend, ein, als der Mond aufgeht und die Lichtung erhellt: »[…] думая, что на озаренной луной поляне никто не осмелится совершить нападение, Мур благодарно улыбнулся ночному солнцу […]«.631 Die Erleichterung dauert jedoch nur kurz an, denn auch der Mond bringt mit sich Schatten: »Лунное утро высветило зелень пахучих сводов уложив черные

623 In »Okno v lesu« findet sich dieselbe Verknüpfung von Wald, (hereinbrechender) Dunkelheit und Gefahr: »лесной страх полз из темнеющего, взбаламученного пространства« (OL , 235. Dt.: »die Waldesfurcht kroch aus dem dunkel werdenden, eingetrübten Raum hervor«). 624 ND, 452 f. Dt.: »Von den Schatten […] ging kalte Drohung aus […]« (NDd, 93). 625 ND, 452. Dt.: »behaarte und – wie bei einem abendlichen Schatten – lange Arme« (NDd, 92). 626 Vgl. ND, 456. 627 ND, 453. Dt.: »Finsternis brach herein, wich vor Murs krampfhaft angestrengten Augen zurück und rückte erneut an […]« (NDd, 94). 628 ND, 453. Dt.: »Schließlich hatte sich die Finsternis durchgesetzt« (NDd, 94). 629 ND, 453. Dt.: »verräterische Leere der Finsternis« (NDd, 94). 630 ND, 453. Dt.: »[…] er war nun in der Gewalt der Angst und ihr untertan.« (NDd, 94). 631 ND, 454. Dt.: »[…] bei dem Gedanken, daß auf der mondbeschienenen Waldwiese niemand einen Mordanschlag wagen werde, lächelte Mur dankbar der nächtlichen Sonne zu […]« (NDd, 95).

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ряды теней […]«.632 Unter den Schatten befinden sich, wie in den erwähnten Schreckensvisionen Murs ausgemalt, auch belebte: »Одна из лунных теней передвинулась за кустами, растаяла и появилась опять, ближе.«633 Entpuppt sich dieser Schatten noch als Murs Helfer Ren, handelt es sich bei dem nächsten tatsächlich um den geheimnisvollen Angreifer. Dunkelheit und Schatten weisen also von Beginn der Erzählung an auf dessen Auftreten voraus. Eng mit der bedrohlichen Dunkelheit verbunden ist eine zweite Eigenschaft der Nacht: Stille (»тишин[a] диких сумерек«).634 Die Stille ist bedingt durch das der Norm entsprechende Ruhen fast aller Aktivitäten von Mensch und Tier, d. h. derjenigen, die dem Tag zugehörig sind. Analog zur Nacht bzw. Dunkelheit kann auch die Stille als semiotischer Anti-Raum gefasst werden, der im Gegensatz zum Raum des Geräuschs und vor allem der Sprache bzw. Kommunikation steht. Wie Helligkeit bzw. Visibilität sind Geräusch bzw. Sprache Träger von Informationen und damit Mittel gegen eine Fremdheit im Sinne von Unvertrautheit, während ihre jeweiligen Gegenstücke, Dunkelheit bzw. Stille, genau diese Fremdheit erzeugen und aufrechterhalten. Die Nacht nimmt den Protagonisten also ihre beiden wichtigsten Sinne, Sehen und Hören, fast vollständig, wodurch alles sie Umgebende zwangsläufig fremd wird. Bereits im ersten Dialog der Erzählung, bei der Wachablösung, äußert Lid auf die Frage Murs, ob er etwas gehört habe: »›Не видел ничего и не слышал. […]‹«.635 Diese Worte haben eine doppelte Bedeutung. Nicht nur sieht und hört der Soldat nichts von dem äußerst geschickten Angreifer; er sieht und hört auch generell nichts, weil es Nacht ist, welche sich grundsätzlich durch Dunkelheit und Stille auszeichnet. Die Nacht wird dadurch implizit als ›Verbündete‹ der Fremden konzipiert – wie zuvor bereits der Wald. In Übereinstimmung damit sind auch später in der Erzählung alle visuellen und auditiven Anstrengungen Murs umsonst, als er versucht, die verborgene Gefahr in seiner Nähe auszumachen (»вслушивался и смотрел он подобно зверю, вышедшему к опасным местам […].«).636 Im weiteren Dialog während der Wachablösung findet zudem eine explizite Verknüpfung von Stille und Bedrohung statt.637 Lid bekennt: »›[…] Здесь 632 ND, 454. Dt.: »Der Mondmorgen erhellte das Grün der duftenden Gewölbe, nachdem er die schwarzen Reihen der Schatten ausgelegt hatte […]« (NDd, 95). 633 ND, 454. Dt.: »Einer der Mondschatten bewegte sich hinter den Büschen, löste sich auf und erschien von neuem, nun ganz nahe.« (NDd, 96). 634 ND, 451. Dt.: »Stille der unheimlichen Dämmerung« (NDd, 91). 635 ND, 451. Dt.: »›Ich habe nichts gesehen und nichts gehört. […]‹« (NDd, 90). 636 ND, 453. Dt.: »[er] lauschte und spähte […] wie ein scheues Tier, das es an […] [einen] gefährlichen Ort […] verschlagen hat.« (NDd, 93). 637 Auch in der Erzählung »Slučaj« geht eine ominöse »жутк[ая], сонн[ая] тишин[а] лесного покоя« (SČ , 79. Dt.: »schreckliche, schläfrige Stille der Waldesruhe«) der Ermordung des Protagonisten durch die Kosaken im nächtlichen Wald voraus.

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очень страшно, Мур, у этого сказочного ручья.‹ ›Почему?‹ Лид подумал и заявил: ›Очень тихо.‹«638 Der Grund hierfür erschließt sich aus der an späterer Stelle genannten, ursprünglichen Verknüpfung von Geräuschlosigkeit und Gefahr, nämlich die unter den Soldaten verbreitete Vermutung, dass das rätselhafte, spurlose Verschwinden ihrer Kameraden einem ›Wilden‹ zuzuschreiben ist, der »неожиданно и бесшумно«639 zuschlägt. Auch hier kommt das im Zusammenhang mit dem von Lid angesprochenen märchenhaften Charakter des Waldes eingeführte Moment des Übernatürlichen zum Tragen, da der Einheimische keinerlei Spuren hinterlässt und Feindesnähe zudem durch Spähtrupps eigentlich ausgeschlossen ist,640 sodass sein jeder rationalen Logik widersprechendes Erscheinen dem Angreifer etwas Geisterhaftes verleiht. Auf die tödliche Dimension dieser in der Stille lauernden Bedrohung weist der Vergleich in der Beschreibung voraus, »за предел[ами] опушки […] было тихо, как в склепе, […] и мрачно«,641 in der überdies alle entscheidenden raumzeitlichen Elemente  – Wald, Dunkelheit, Stille  – direkt miteinander kombiniert werden. Die ominöse Stille birgt dabei nicht nur in sich eine Bedrohung, sondern hat darüber hinaus auch noch den Effekt, dass jedes sie durchbrechende Geräusch umso erschreckender wirkt. Das wird anhand von Murs Reaktion deutlich, als ein Zweig unter seinen Füßen knackt: »[…] резкий в звонкой тишине звук этот приковал Мура к месту. Шум сердца оцепенил его; отчаянный дикий страх ударил по задрожавшим ногам тяжкой как удушье внезапной слабостью.«642 Das den Schrecken auslösende Geräusch hallt im Klopfen seines Herzens wider und steigert sich dabei sogar von zvuk (dt.: Laut) zu šum (dt.: Lärm). Da also sowohl Stille als auch ihr Gegenteil Gefahr bedeuten, entsteht durch ihre Komplementarität ein allumfassender (auditiver) Raum der Bedrohung ohne Ausweg. Wie bereits zuvor die zunächst nur in der Vorstellung der Soldaten bestehende Verknüpfung von Dunkelheit (Schatten) und Angreifer durch dessen, von seinem Schatten präfiguriertes, reales Erscheinen bestätigt wird, erweist sich zusätzlich auch noch die a priori vorgenommene Verknüpfung von Stille und Angreifer als den Tatsachen entsprechend. Nachdem der lautlose Schatten 638 ND, 451; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »›Mur, hier ist es unheimlich, an diesem Zauberfluß.‹ ›Wieso?‹ Lid dachte nach und sagte: ›Es ist so still.‹« (NDd, 90; Hervorhebungen von A. B.). 639 ND, 452. Dt.: »unverhofft und lautlos« (NDd, 92). 640 Vgl. ND, 452. 641 ND, 453. Dt.: »[jenseits der] Grenzen des Waldsaums, […] [war] es still […] wie in einem Grabgewölbe, […] und finster« (NDd, 93). 642 ND, 453. Dt.: »[…] der in der klingenden Stille scharfe Laut nagelte […] [Mur] am Boden fest. Das Wummern seines Herzens benahm ihm den Atem; verzweifelte wilde Angst schlug die zitternden Beine mit plötzlicher bleischwerer Schwäche.« (NDd, 94).

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sich von hinten ins Blickfeld des im Gebüsch versteckten Soldaten Ren geschoben hat, versucht dieser, um seine eigene Anwesenheit nicht durch ein Drehen des Kopfes zu verraten, nur mit seinem Gehör das Vorgehen des Unbekannten herauszufinden. Jedoch: »Как ни прислушивался он к тому, что делалось позади его, даже малейший звук за время метаморфозы с тенью не был схвачен тяжким напряжением слуха […]«.643 Sowohl die Dunkelheit und die Stille der Nacht als auch der dichte, undurchdringliche Wald schaffen nicht nur ihrerseits eine Atmosphäre der Bedrohung durch das strukturell Fremde, sondern verstärken darüber hinaus auch noch wesentlich den dritten in diesem Zusammenhang wirksamen Parameter: die Unbestimmtheit. Unbestimmtheit: Form des Fremden In Zusammenhang mit der Unbestimmtheit zieht sich ein Grundsatz durch die gesamte Erzählung: Nicht das präsente Fremde, d. h. nicht das, was man sieht oder hört und dadurch nicht nur lokalisieren, sondern auch hinsichtlich seiner Gefährlichkeit einschätzen kann, wird als besonders bedrohlich empfunden, sondern das unbekannte Fremde. Denn, wie Lovecraft formuliert: »The oldest and strongest emotion of mankind is fear, and the oldest and strongest kind of fear is fear of the unknown.«644 Als beispielsweise der Soldat Mur glaubt, den Angreifer hinter sich gehört zu haben, erweist sich nicht die direkte Konfrontation selbst als der schlimmste Moment, sondern die Phase der Ungewissheit über das Bevorstehende, die dieser unmittelbar vorausgeht: »Тяжкое ожидание ужаса изнурило Мура«.645 Dieses Prinzip wird bereits früh in der Erzählung deutlich, als der Soldat Mur, allein auf der Waldlichtung Wache haltend, voller Angst vor seinem eigenen möglichen Los über seine verschollenen Kameraden nachdenkt, bei denen weder die Ursache ihres Verschwindens, noch ihr genaues Schicksal bekannt ist. Die einzige konkret geäußerte Vermutung, dass sie von einem ›Wilden‹ angegriffen worden seien,646 ist nicht viel mehr als eine Spekulation, die überdies im Widerspruch zu den wenigen bekannten Fakten – keinerlei Spuren, keine Entdeckung von Feinden durch die Spähtrupps –647 steht. Auch die Ermordung der Verschwundenen ist keineswegs gewiss. Das spiegelt sich implizit in der zweideutigen Formulierung Murs wider, als er über die fünf

643 ND, 456; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Wie sehr er auch darauf lauschte, was hinter ihm vorging – sein angespanntes Gehör fing während der Metamorphose des Schattens nicht das leiseste Geräusch auf […]« (NDd, 99; Hervorhebungen von A. B.). 644 Lovecraft, Howard P.: Supernatural Horror in Literature. New York 1973, 12. 645 ND, 454. Dt.: »Das qualvolle Warten auf das Entsetzliche zermürbte [Mur]« (NDd, 96). 646 Vgl. ND, 452. 647 Vgl. ND, 452.

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verschwundenen Kameraden, welche »›[…] стояли тут, как стою я […]‹«,648 sagt: »›[…] Тех нет. […]‹«.649 Sie kann sowohl schlicht die Tatsache benennen, dass sie nicht mehr an dem bezeichneten Ort sind, als auch andeuten, dass sie nicht länger unter den Lebenden weilen. Durch die weitgehende Beschränkung der figuralen Erzählperspektive auf die Perzeption der Protagonisten weiß der abstrakte Leser dabei auch nichts Genaueres als diese. Im Gegenteil, die Erzählung bietet ihm darüber hinaus implizit noch weitere mögliche Erklärungen für das Verschwinden der Männer an, erstens durch die Information, dass einige der Soldaten angesichts der Schrecken des Feldzugs Selbstmord begangen haben,650 sowie zweitens durch die Schilderung eines fast unbezwingbaren Impulses, einfach davonzulaufen, der Mur – und somit möglicherweise auch die verschwundenen Soldaten – während der Wache überfällt.651 Der Zustand einer epistemischen Fremdheit in Form der völligen Ungewissheit sowohl über das bereits Geschehene als auch das noch Kommende, in dem sich die Protagonisten befinden, wird durch diese narrative Technik auf den Leser übertragen. Dies fügt sich ein in die bereits von Beginn der Erzählung an vorhandenen narrativen Leerstellen – etwa aufgrund fehlender Informationen über die Verortung des Schauplatzes, die Herkunft sowohl der Soldaten als auch der Einheimischen oder den Grund des Feldzugs. Murs Gedanken an die auf rätselhafte Weise verschwundenen Kameraden gipfeln schließlich in der Frage: »›[…] Может быть, ждет и меня то же… Чтó то же?‹«,652 in der die Unbestimmtheit der Gefahr durch das Fremde bzw. die Fremden auf den Punkt gebracht wird. Deren entscheidender Effekt besteht darin, dass sie sehr viel Raum für die Phantasie lässt, welche die bestehenden Leerstellen mit eigenen Vorstellungen ausfüllt. Dieser Mechanismus trägt dem Bedürfnis Rechnung, die Fremdheit im Sinne einer Unvertrautheit zu verringern, indem das Wissen über das Fremde – und sei es auch nur ein vermeintliches, da der eigenen Gedankenwelt entspringendes – vergrößert wird, was es dem Betroffenen ermöglicht, sich besser darauf einzustellen, und somit die Angst davor grundsätzlich verringert. Jedoch kommt es in »Noč’ju i dnëm« paradoxerweise zu einer gerade gegenteiligen Wirkung, weil die Vorstellungskraft der Protagonisten, allen voran die des Soldaten Mur, die »невидимую опасность«,653 oder vielmehr den subjektiv empfundenen Grad derselben,

648 ND, 452. Dt.: »›[…] haben hier gestanden, wo ich jetzt stehe […]‹« (NDd, 91). 649 ND, 452. Dt.: »›[…] Sie alle sind nicht mehr [(da)]. […]‹« (NDd, 92). 650 Vgl. ND, 452. 651 Vgl. ND, 453 f. 652 ND, 452; Betonung im Original. Dt.: »›[…] Vielleicht erwartet mich das gleiche. Aber was?‹« (NDd, 92). 653 ND, 452. Dt.: »unsichtbare Gefahr« (NDd, 91).

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erhöht, indem sie ihren Schrecken und ihre Grausamkeit in einer Dimension ausmalt, die die Wirklichkeit potentiell sogar noch übertrifft: Некоторое время Мур думал обо всем этом, затем соответственно настроенный ум его, рискуя впасть в суеверие, стал рисовать кошмарные сцены тайных исчезновений, без удержа мчась дорогой больного страха к обрывам фантазии.654

Mur sieht vor seinem inneren Auge durchgeschnittene Hälse, Leichen am Grund des Flusses, nach Soldaten greifende haarige Arme, angsterfüllte Gesichter, Fallen und Giftpfeile,655 was seine Furcht nur noch mehr vergrößert. Das in »Noč’ju i dnëm« auftretende unbestimmte strukturell Fremde in seiner nicht nur angsteinflößenden, sondern sogar -steigernden Wirkung stellt somit das genaue Gegenteil der ersehnten inspirierenden neizvestnost’ (dt.: Ungewissheit, Unbekanntheit) aus »Put’«, »Dalëkij put’« und »Ostrov Reno« dar, was die in Kapitel 3.1 postulierte grundsätzliche Ambivalenz des Fremden zeigt. Zum Sinnbild dieses, in seiner Bedrohlichkeit durch die Phantasie zusätzlich verstärkten, Unbekannten wird für die Protagonisten der Raum hinter ihnen – gleichsam eine Unbestimmtheitsstelle im doppelten Wortsinn. Eine Erklärung dafür findet sich sogar explizit in einem, dank des Erzählertypus möglichen, Einblick in die Gedanken Murs: Главное, над чем работало теперь его пылающее воображение – было пространство сзади его. Оно не могло исчезнуть. Как бы часто ни поворачивался он, – всегда за его спиной оставалась недосягаемая зрению, предательская пустота мрака. У него не было глаз на затылке для борьбы с этим. Сзади было везде, как везде было спереди для существа, имеющего одно лицо и одну спину. За спиной была смерть.656

In diesem Zitat werden die entscheidenden Faktoren direkt benannt: Der Raum im Rücken ist deswegen so stark angstbesetzt, weil er sich, in Zusammenspiel mit der bereits angesprochenen Dunkelheit, dem Blick des Protagonisten und somit auch jeglicher Einschätzung entzieht, also im epistemischen 654 ND, 452; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Mur dachte eine Weile darüber nach, dann malte ihm sein derart eingestimmter Geist, immer mehr dem Aberglauben nachgebend, grauenhafte Szenen des geheimnisvollen Verschwindens und jagte auf dem Weg krankhafter Angst ohne Halt den Abgründen der Phantasie entgegen.« (NDd, 92; Hervorhebungen von A. B.). 655 Vgl. ND, 452. 656 ND, 453; Hervorhebungen im Original. Dt.: »Das Wesentliche, das seine lodernde Phantasie jetzt beschäftigte, war der Raum hinter ihm. Der konnte nicht verschwinden. Wie oft sich der Soldat auch umdrehte, immer blieb hinter seinem Rücken die dem Blick verschlossene verräterische Leere der Finsternis. [Er hatte keine Augen am Hinterkopf, um das zu bekämpfen.] Hinten war überall, wie auch überall vorn war für ein Wesen, das nur ein Gesicht und einen Rücken hatte. Hinter ihm lauerte der Tod.« (NDd, 94; Hervorhebungen im Original).

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Sinne vollkommen fremd bleibt.657 Er verkörpert damit eben jene Leerstelle (hier: pustota; dt.: Leere), die durch die Phantasie (hier: voobraženie; dt.: Einbildungskraft) ausgefüllt und dabei mit möglicherweise größeren Gefahren assoziiert wird, als eigentlich bestehen – in diesem Fall sogar mit der größtmöglichen Gefahr, dem Tod. Nicht weniger wichtig ist die völlige Unmöglichkeit, dem Raum hinter sich zu entkommen, da er sich gleichsam mit den Pro­ tagonisten mitbewegt und damit omnipräsent ist. Er bildet damit ein visuelles Äquivalent zu dem oben beschriebenen Phänomen, dass sowohl Stille als auch Geräusche mit Gefahr verknüpft sind und gemeinsam einen ebenso unausweichlichen, da allumfassenden, auditiven Raum der Bedrohung erzeugen. Lids Mahnung an Mur während der Wachablösung, »›Смотри в оба!‹«,658 kann damit rückblickend nicht nur als Phraseologismus mit der Empfehlung, auf der Hut zu sein, verstanden werden, sondern auch wörtlich als – unerfüllbare  – Aufforderung, in beide Richtungen und damit auch hinter sich zu schauen, also den Raum im Rücken und den Raum vor sich simultan im Blick zu behalten. Wie in einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung vernimmt Mur wenige Minuten später einen »вздох, раздавшийся невдалеке сзади него«,659 in dem sich visueller und auditiver Raum der Bedrohung – in Form eines die Stille plötzlich durchbrechenden Geräuschs von hinten – vereinen. In derselben Passage kommt es darüber hinaus zu einer weiteren Verknüpfung, nämlich des »пространство сзади«660 und des aus ihm heraus ausgeführten Angriffs. Dies geschieht implizit über die Wiederholung des Personalpronomens im Neutrum Singular, das Mur zuvor zur Bezeichnung des Raums hinter sich verwendet hat (»Оно не могло исчезнуть.«)661 und nun in angsterfüllter Erwartung der Attacke und ihrer schrecklichen Folgen gebraucht: »›Вот оно, вот, вот!..‹«.662 Angesichts dieser sich logisch ineinanderfügenden Elemente ist es nicht verwunderlich, dass Mur, als er das Geräusch hört, glaubt, nun tatsächlich den Mörder seiner Kameraden hinter sich zu haben. Selbst als die Person sich als sein Kamerad Ren zu erkennen gibt, durchfährt ihn der Gedanke, »›Рен 657 Eine sehr ähnliche Bewertung des Raums im Rücken – ebenfalls im nächtlichen Wald – findet sich auch in »Okno v lesu«: »[…] живые невидимые ветви […] бешено выли за спиной, охваченной страхом.« (OL , 236. Dt.: »[…] lebendige unsichtbare Zweige […] heulten wütend hinter seinem Rücken, den die Furcht gepackt hatte.«). 658 ND, 451. Dt.: »›Halt die Augen offen!‹« (NDd, 91); wörtl.: »›Schau in beide (Richtungen)!‹«. 659 ND, 454. Dt.: »Seufzer, dicht hinter ihm ausgestoßen« (NDd, 95). 660 ND, 453; Hervorhebung im Original. Dt.: »Raum[s] hinter ihm« (NDd, 94; Hervorhebung im Original). 661 ND, 453; Hervorhebung von A. B. Dt.: »Der konnte nicht verschwinden.« (NDd, 94; Hervorhebung von A. B.); wörtl.: »Es konnte nicht verschwinden.«. 662 ND, 454; Hervorhebung von A. B. Dt.: »Gleich ist es soweit, gleich!« (NDd, 95; Hervorhebung von A. B.); wörtl.: »Da ist es, da, da!«.

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убийца, он, он, он убивает!‹«,663 woraufhin er droht, ihn zu erschießen. Die dreifache Nennung des Lexems on (dt.: er) bildet dabei eine strukturelle Äquivalenz zur ebenfalls dreimaligen Wiederholung des Wortes vot (dt.: da ist) zuvor, was die in Murs Vorstellung vollzogene Identifikation Rens mit der Gefahr zusätzlich bekräftigt. Wie bereits zuvor bei den Spekulationen über den wahren Grund für das Verschwinden der Soldaten erhält der abstrakte Leser an dieser Stelle keinerlei zusätzliche, d. h. über das Wissen der Protagonisten hinausgehende, Informationen von Seiten des Erzählers dahingehend, dass Murs Verdacht falsch ist. Im Gegenteil, es finden sich sogar gleich mehrere implizite Hinweise darauf, dass Ren wirklich der unbekannte Angreifer ist, die sich erst später als irreführend herausstellen. Erstens handelt es sich bei der soeben genannten dreifachen Wiederholung, gerade vor dem Hintergrund der oben erwähnten märchenhaften Elemente der Erzählung, um ein Element des magischen Sprechens, bei dem das Aussprechen als performative Handlung die Realisierung des Ausgesprochenen zur Folge hat. Im vorliegenden Fall würde das also bedeuten, dass der Seufzer hinter Mur tatsächlich den bevorstehenden Angriff ankündigt und Ren wirklich der Mörder ist. Verstärkt wird eine solche Deutung durch eine weitere dreifache, hier klimaktische, Reihung, die ebenfalls von Mur ausgesprochen wird – »›я боюсь, боюсь вас, боюсь всего. […]‹« –664 und die unzweifelhaft der Realität entspricht. Zweitens legt die Beschreibung Rens durch den Erzähler, allerdings aus der Perspektive Murs, einen solchen Schluss nahe. Darin heißt es: »Обыкновенное полное лицо Рена казалось при свете луны загадочным и лукавым. Ярко блестели зубы, серебрились усы, тень козырька падала на искры зрачков, вспыхивающих, как у рыси.«665 Nicht nur die Adjektive ›rätselhaft‹ und ›verschlagen‹, sondern vor allem die Zuordnung Rens zu den strukturell fremden und als gefährlich identifizierten Räumen der Nacht und des Waldes durch die Erwähnung des Mondlichts und des Schattens sowie den Vergleich mit einem Luchs, also einem nachtaktiven Waldtier, machen Ren höchst verdächtig. Da die figurale Perspektivierung der Erzählerbeschreibung jedoch nicht explizit als solche markiert wird, ist dabei nicht auszuschließen, ob der Erzähler in dieser Passage nicht doch einen narratorialen Standpunkt einnimmt, ob es sich also um eine subjektive Wahrnehmung einer handelnden Figur oder eine objektive und damit für den abstrakten Leser glaubwürdige Tatsache handelt. 663 ND, 455. Dt.: »[›]Ren ist der Mörder, er, er, er tötet alle![‹]« (NDd, 96). 664 ND, 455. Dt.: »›ich habe Angst, Angst vor Ihnen, Angst vor allem. […]‹« (NDd, 97). 665 ND, 454 f. Dt.: »Rens rundes Durchschnittsgesicht sah im Mondlicht rätselhaft und verschlagen aus. Die Zähne blitzten, der Schnurrbart schimmerte silbern, der Schatten des Mützenschirms fiel auf die Augen, die wie bei einem Luchs glühten.« (NDd, 96).

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Drittens schließlich erhält der Leser noch eine weitere Information, die Mur nicht bekannt ist. Um seinen panischen Kameraden zu beruhigen, wirft Ren Mur seinen Revolver zu – ein scheinbarer Beweis für seine Ungefährlichkeit. Doch kurz darauf erfährt man, dass er »ощупал, будучи запасливым человеком, второй, карманный револьвер и скрылся среди деревьев«,666 wobei neben dem Hinweis auf ein geschicktes Täuschungsmanöver auch die ein weiteres Mal hergestellte Verbindung zwischen Ren und dem Wald ein Hinweis auf die Täterschaft ist. Selbst als Ren den (tatsächlichen) Angreifer besiegt hat, kommt es noch einmal zu einer kurzen Szene, in der sich beim abstrakten Leser erneut Zweifel an der Unschuld Rens einschleichen, da Ren droht, seinen Kameraden Mur mit besagter zweiter Waffe zu erschießen, sollte dieser sich umdrehen.667 Erst später erfolgt die Auflösung, dass dies nur zu Murs eigenem Schutz geschieht. Andererseits aber finden sich auch zahlreiche Aussagen im Text, die im Widerspruch zu einer solchen Annahme stehen. So beteuert Ren nicht nur nachdrücklich, nicht der Angreifer zu sein, er rechnet auch damit, möglicherweise gemeinsam mit Mur in dieser Nacht zu sterben.668 Schließlich erfährt der abstrakte Leser, dass Ren sich mit der Absicht im Gebüsch versteckt, den Angriff des Unbekannten abzuwarten und dann einzugreifen, um ihn zu besiegen, womit er, sofern das der Wahrheit entspricht, als Soldatenmörder logischerweise ausscheiden würde.669 Durch derartige Andeutungen und Widersprüche ist das Moment der Unbestimmtheit, mit dem die Soldaten konfrontiert sind, auch auf der narrativen Ebene und somit für den abstrakten Leser äußerst wirksam. Erst gegen Ende von »Noč’ju i dnëm« wird Murs Annahme zweifelsfrei widerlegt, als sich der wirkliche Angreifer seinem Kameraden Ren nähert. Die sich nun entwickelnde Situation weist in mehrerlei Hinsicht klare Parallelen zu derjenigen auf, als Mur Rens Anwesenheit bemerkt. In beiden Fällen nähert sich der (vermeintliche respektive tatsächliche) Mörder von hinten, d. h. aus dem oben beschriebenen Raum des Unbekannten heraus. War bei Mur die Verbindung zwischen seiner Angst vor der Attacke und dem vermuteten Angreifer selbst über die strukturelle Äquivalenz der dreifachen Wiederholungen hergestellt worden, so geschieht dies hier über die Formulierung »Ужас подвигался к нему.«,670 in der die Angst gleichsam dieselbe Bewegung vollzieht wie der sie hervorrufende Angreifer. Die Verknüpfung wird einige Sätze später sogar noch verstärkt, indem das hier in Bezug auf den Schrecken 666 ND, 456. Dt.: »[a]ls vorsorglicher Mensch […] seinen zweiten Revolver [ertastete] und […] zwischen den Bäumen [verschwand]« (NDd, 98). 667 Vgl. ND, 458. 668 Vgl. ND, 455. 669 Vgl. ND, 456. 670 ND, 456. Dt.: »Angst packte ihn.« (NDd, 99); wörtl.: »Das Grauen rückte an ihn heran.«.

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verwendete Verb dvigat’sja (dt.: sich bewegen) auch zur Beschreibung der unbekannten Person gebraucht wird: »[…] за его спиной […] прошел некто, и некто этот двигался идеально бесшумно.«671 Ebenfalls wie bei Mur erweist sich auch für Ren gerade die Ungewissheit über das Bevorstehende als besonders schrecklich. Er verbringt die Zeit zwischen dem Entdecken des Angreifers und der Attacke »[в] мучительном ожидании неведомого«672 und der lautlos schleichende Schatten, der sich also erneut sowohl einer visuellen als auch einer auditiven Einschätzung entzieht, ist für ihn »[…] видим[ое] воплощение[…] страха, лишенно[е] тела и тяжести.«673 Bereits zuvor findet sich die Formulierung »таинственн[ая] смерт[ь]«,674 in der der unbekannte Mörder metonymisch durch den von ihm herbeigeführten Tod ersetzt wird. Eine weitere Parallele zu der korrespondierenden Szene mit Mur besteht darin, dass auch Ren seinerseits eine Ahnung hat, wer der Mörder sein könnte. Deren Wahrheitsgehalt wird für den abstrakten Leser, wie zuvor die Verdächtigung Rens durch Mur, lange in der Schwebe gelassen. Hinzu kommt hier als weitere Unbestimmtheitsstelle, dass der Verdächtige diesmal nicht benannt wird. Es wird lediglich die Andeutung gemacht, dass dieser Ahnung ein besonderer Schrecken innewohnt, ohne zu erklären, warum das so ist: Трудность задачи усиливалась смутной догадкой Рена – одной из тех навязчивых темных мыслей, что делают одержимого ими яростным маньяком. Когда Рен пробовал допустить бесповоротную истинность этой догадки, или, вернее, предположения, его тошнило от ужаса; надеясь, что ошибется, он предоставил наконец событиям решить тайну леса […].675

Erst am Ende der Erzählung lüftet sich dieses ›Geheimnis des Waldes‹, als der Unbekannte den noch immer auf der Lichtung stehenden Mur überfällt und zu erwürgen versucht, woraufhin Ren eingreift, ihn nach einem erbitterten Kampf besiegt, schließlich sein Gesicht sieht und den Mörder erkennt. Für den Leser allerdings wird die Auflösung sogar noch ein wenig länger hinausgezögert, denn in der Beschreibung des Kampfes wird der Angreifer weiterhin un671 ND, 456; Hervorhebung im Original. Dt.: »irgendwer [war] hinter [ihm] […] weitergegangen, und dieser Irgendwer bewegte sich ideal lautlos.« (NDd, 99; Hervorhebung im Original). 672 ND, 456. Dt.: »[i]n qualvoller Erwartung des Unbekannten« (NDd, 99). 673 ND, 456. Dt.: »[…] die sichtbare Inkarnation der Angst, des Körpers und der Schwere enthoben.« (NDd, 99). 674 ND, 456. Dt.: »geheimnisvolle[r] Tod« (NDd, 98). 675 ND, 456. Dt.: »Die Aufgabe wurde noch erschwert durch eine trübe Ahnung Rens – einen jener aufdringlichen dunklen Gedanken, die zur Manie werden können. Als Ren versuchte, in dieser Ahnung, genauer, Vermutung, eine unwiderrufliche Wahrheit zu sehen, wurde ihm übel vor Entsetzen; in der Hoffnung, sich zu irren, überließ er es schließlich den Ereignissen, das Geheimnis des Waldes zu lüften […].« (NDd, 98).

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spezifisch als »человек[…]«, »нападающ[ий]«, »убийца«, »противник[…]«676 sowie, wie zuvor, »некто«677 bezeichnet. Auch als Ren ihn besiegt und identifiziert hat, ist zunächst noch die Rede von ihm als »связанн[ый]«678 und »поверженн[ый]«.679 Erst nachdem Ren ihn als »›Капитан Чербель‹«680 angesprochen hat, nennt auch der Erzähler den Angreifer bei seinem Namen und bestätigt damit implizit die Korrektheit der Anrede. Mur hingegen erfährt, ebenso wie alle anderen Soldaten der Gruppe, niemals die wahre Identität des Mörders. Dafür sorgt Ren aktiv, indem er Mur unter der Androhung, ihn zu erschießen, zwingt, wegzugehen ohne sich umzublicken. Der Grund dafür ist Rens Wunsch, den anderen die schreckliche Wahrheit zu ersparen, die er selbst kaum ertragen kann und bis zuletzt gegen besseres Wissen versucht zu leugnen. »Он боялся заговорить, звук голоса отнял бы всякую надежду на то, что происходящее – сон, призрак или, на худой конец  – больной бред.«681 Erneut greift hier das Prinzip, dass das Aussprechen eines Sachverhalts als performative Handlung diesen als Wirklichkeit manifestiert. Schließlich muss sich Ren jedoch der furchtbaren Wahrheit stellen, dass die tödlichen Attacken auf seine Kameraden keineswegs durch einen der Einheimischen, sondern durch den eigenen Hauptmann ausgeführt wurden. Die äußerst starke Opposition zwischen strukturell Eigenem und Fremdem, v. a. zwischen der Eigengruppe der Soldaten und der Fremdgruppe der ›Wilden‹, die die gesamte Erzählung über konstruiert und wieder und wieder bestätigt wird, löst sich mit dieser Enthüllung einfach auf. Möglich wird die lange Irreführung des abstrakten Lesers durch die figurale Erzählperspektive, die die subjektiven Fremdsetzungen durch die Soldaten durch Einnahme ihres Standpunkts wiedergibt, allerdings nie objektiv, als allwissende Erzählinstanz, bestätigt. Während die Identifizierung des Angreifers als Čerbel’ für den Leser lediglich eine irritierende, aber auch unterhaltsame Wendung darstellt, bedeutet sie für die Soldaten das Wegbrechen eines Orientierung gebenden und Identität schaffenden Ordnungsmusters, das auf einer klaren Trennung zwischen Eigenem und Fremdem, ›Weißen‹ und ›Wilden‹, Freund und Feind beruht. Die Auflösung der Grenzen zwischen den beiden Gruppen führt zu einer erschüt676 ND, 457. Dt.: »Mensch[…]«, »Angreifer[…]«, »Mörder«, »Gegner« (NDd, 100). 677 ND, 457; Hervorhebung im Original. Dt.: »der Mann« (NDd, 100; Hervorhebung von A. B.); wörtl.: »der Jemand«. 678 ND, 458. Dt.: »[G]efesselte[r]« (NDd, 101). 679 ND, 458. Dt.: »Bewußtlose[r]« (NDd, 102); wörtl.: »Besiegter«. 680 ND, 458. Dt.: »›Hauptmann Tscherbel‹« (NDd, 102). 681 ND, 458. Dt.: »Er scheute sich zu sprechen, denn der Laut der Stimme würde jede Hoffnung zunichte machen, daß das Vorgefallene ein Traum, eine Vision oder schlimmstenfalls eine Fieberphantasie war.« (NDd, 102).

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ternden, existentiellen Verunsicherung in Bezug auf Zugehörigkeiten und, im hier vorliegenden Kontext eines Feldzugs in feindlichem Gebiet, damit ganz wesentlich auch auf Sicherheit für Leib und Leben, da auch die Eigengruppe nun keinen Schutz mehr bietet. Die hier vorliegende Dynamik der Fremdheit ist also eine extreme Steigerung, gerade weil eine stark ausgeprägte Vertrautheitserwartung plötzlich und in gravierender Weise enttäuscht wird. Die zuvor bestehenden, angsteinflößenden Unbestimmtheitsstellen in Bezug auf das Fremde werden durch die Identifizierung des Mörders als Mitglied der eigenen Gruppen damit keineswegs aufgehoben, sondern vielmehr abgelöst durch eine noch umfassendere Unbestimmtheit bzw. Unbestimmbarkeit von Eigenem und Fremdem an sich. Die elaborierte Darstellung der Auflösung von Grenzen in der Erzählung soll im Folgenden noch genauere Betrachtung finden. Auflösung von Grenzen: Das unheimliche Fremde als verdrängtes Eigenes Als Ren in dem vermeintlichen ›Wilden‹ den Hauptmann seines eigenen Trupps erkennt, wird die die gesamte Erzählung über aufgebaute Gleichsetzung von Fremdem mit Gefahr sowie von Eigenem mit Sicherheit chiastisch umgekehrt. Nur einen Moment später verliert jedoch auch diese Zuschreibung bereits wieder ihre Gültigkeit, als nun auch noch die Zuordnung des Eigenen zum Eigenen in Frage gestellt wird. Denn der soeben von Ren als Mitglied der Eigengruppe identifizierte Hauptmann Čerbel’ behauptet nun, Häuptling Banu-Skap682 vom Stamm der Roddo zu sein, d. h. das exakte Pendant dessen, der zu sein er leugnet: ebenfalls der Anführer einer Gruppe, nur eben der fremden.683 ›Называйте Чербелем того, кто привел вас с вашими ружьями в эти леса. Мы вас не звали. Повинуясь жадности, которая у вас, белых, в крови, пришли вы отнять у бедных дикарей все. Наши деревни сожжены, наши отцы и братья гниют в болотах, пробитые пулями; женщины изнурены постоянными переходами и болеют. Вы преследуете нас. За что? Разве в ваших владениях мало полей, зверя, рыбы и дерева? Вы спугиваете нашу дичь; олени и лисицы бегут на север, где воздух свободен от вашего запаха. Вы жжете леса, как дети играя пожарами, воруете наш хлеб, скот, траву, топчете посевы. Уходите или будете истреблены все. Я вождь племени Роддо – Бану-Скап, знаю, что говорю. Вам не перехитрить нас. Мы – лес, из-за каждого дерева которого подкарауливает вас гибель.‹684 682 Vgl. dazu den ähnlich klingenden Ortsnamen Achuan-Skap (s. Kap. 4.1.2.1). In »Vperëd i nazad« (1918) weist er in der Beschreibung »дикие места Ахуан-­Скапа« (VN, 144. Dt.: »wilde Orte Achuan-Skaps«) ähnliche Eigenschaften auf wie der Häuptling Banu-Skap. 683 Wie in »Dalëkij put’« geht der Eintritt in die Fremdgruppe hier mit der Annahme eines neuen Namens einher. 684 ND, 459; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »›Reden Sie den mit Tscherbel an, der Sie und Ihre Männer [mit Ihren Waffen] in diese Wälder geführt hat. Wir haben euch nicht gerufen. Der Gier gehorchend, die euch Weißen im Blut liegt, seid ihr hergekommen, um

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Die strukturelle Fremdheit verbindet sich hier mit einer intrasubjektiven radikalen Fremdheit, die ihren Ausdruck in der Spaltung der Persönlichkeit findet. In seiner wütenden Ansprache an Ren konstruiert der Angreifer eine ebenso klare Opposition zwischen Eigen- und Fremdgruppe (my – vy; dt.: wir – ihr, naš – vaš; dt.: unser – euer, belye – dikari; dt.: Weiße – Wilde) wie zuvor die Soldaten, nur eben aus umgekehrter Perspektive. Obwohl seine Aussage auf den ersten Blick wie eine erneute Bekräftigung der zuvor aufgehobenen Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem erscheint, beweist sie bei genauerer Betrachtung gerade deren Durchlässigkeit. Denn der offenbar vollständig vollzogene Identitätswechsel zeigt die Veränderbarkeit von Zugehörigkeiten und damit die Möglichkeit von Überschreitungen selbst dieser scheinbar vollkommen undurchlässigen Grenze. Verstärkt wird dies durch zwei weitere Umkehrungen: Zum Ersten übernimmt der Angreifer die konkrete, von den Soldaten gehegte Befürchtung eines tödlichen Überfalls durch die ›Wilden‹ aus der Deckung der Bäume heraus, die sein Alter Ego Čerbel’ sogar selbst ausspricht, und verkehrt sie als Banu-Skap in eine Drohung. Zum Zweiten wird der Wechsel der Zugehörigkeit durch die frappierende Übereinstimmung der Bewertung verstärkt – wieder sind es die Fremden, die Gefahr (Zerstörung, Krankheit, Tod) mit sich bringen –, die sich lediglich in der Referenz unterscheidet: ›fremd‹ sind nun die Soldaten. Die grundsätzliche Durchlässigkeit der Grenze zwischen strukturell Eigenem und Fremdem, die anhand der Wandlung von Čerbel’ zu Banu-Skap deutlich wird, steigert sich schließlich, in Gestalt desselbigen, zu einer Aufhebung dieser Grenze. Denn als mit dem ersten Sonnenstrahl aus dem Häuptling der ›Wilden‹ wieder der Hauptmann der ›Weißen‹ wird,685 sich also die Koppelung der jeweiligen Identität an die Nacht bzw. den Tag sowohl für Ren als auch für den abstrakten Leser erschließt, wird klar, dass es sich nicht um eine einmalige Grenzüberschreitung handelt, sondern dass der Mann beide Identitäten zugleich – jeweils die eine latent, die andere manifest – in sich trägt. Eigenes und Fremdes bleiben damit einerseits weiterhin voneinander getrennt, vereinigen sich in ihm aber andererseits zu einem komplementären Ganzen, das die Grenzen zwischen ihnen auflöst. Die Integration der Gegensätze in den armen Wilden alles zu nehmen. Unsere Dörfer sind niedergebrannt, unsere Väter und Brüder verfaulen, von Kugeln durchlöchert, in den Sümpfen; die Frauen sind von den ständigen Märschen entkräftet und krank. Ihr verfolgt uns. Weshalb? Gibt es bei euch nicht genug Felder, Tiere, Fische und Bäume? Ihr verschreckt unser Wild; Füchse und Hirsche gehen nach Norden, wo die Luft frei von eurem Geruch ist. Ihr brennt Wälder ab, spielt wie Kinder mit dem Feuer, ihr stehlt unser Brot, Vieh und Gras und zertrampelt unsere Saat. Verschwindet, oder ihr werdet alle vernichtet. Ich bin Banu-Skap, der Häuptling des Roddo-Stammes, und ich weiß, was ich sage. Ihr könnt uns nicht überlisten. Wir sind der Wald, und hinter jedem Baum lauert euer Untergang.‹« (NDd, 103; Hervorhebungen von A. B.). 685 Vgl. ND, 460.

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der Person des Anführers steckt bereits in seinem (ursprünglichen) Namen: Čerbel’ verbindet čër-nyj (dt.: schwarz) und bel-yj (dt.: weiß), Nacht und Tag, strukturell Fremdes und Eigenes.686 Die Figur von Čerbel’/Banu-Skap stellt aber nur die Kulmination einer ganzen Reihe von Grenzauflösungen verschiedenster Art dar, die sich durch die gesamte Erzählung ziehen und deren Höhepunkt und zugleich Abschluss präfigurieren. Gleich mehrere von ihnen finden sich in Zusammenhang mit dem Ort der Handlung. Neben bereits erwähnten Momenten, wie der Verschmelzung von Stille und Geräusch zu einem umfassenden Raum der Bedrohung, der Vereinigung von auditivem und visuellem Raum des Fremden sowie des fremden Raums und der von ihm ausgehenden Bedrohung, betrifft dies zahlreiche weitere Details des Schauplatzes. Im selben Abschnitt der Erzählung, in dem sich herausstellt, dass der vermeintlich fremde Angreifer ein Mitglied der Eigengruppe ist, wird auch der – wie oben beschrieben, ohnehin nur aufgrund einiger weniger Attribute als strukturell fremd einzuordnende – Handlungsschauplatz ent-exotisiert. Plötzlich ist die Rede von Feldern und Brot, Hirschen und Füchsen,687 d. h. aus der Perspektive der vermutlich europäischen Soldaten keineswegs fremden Merkmalen, sodass auch hier Eigenes und Fremdes zunehmend verschwimmen. Selbiges gilt für den als fremd und gefährlich charakterisierten Raum hinter den Soldaten, denn, wie oben schon zitiert: »Сзади было везде, как 686 Aufgrund der mit dem Thema der strukturellen Fremdheit verknüpften Ich-Spaltung hätte »Noč’ju i dnëm« auch in Kapitel 4.4 zur intrasubjektiven Fremdheit behandelt werden können. Allerdings liegt der Fokus der Erzählung auf dem Spiel mit strukturell Eigenem und Fremdem, die Aufspaltung einer der handelnden Personen in ein Mitglied der Eigen- und der Fremdgruppe ist nur eine Ausprägung davon, wenn auch die wichtigste. Der zweite entscheidende Grund für die hier getroffene Einordnung in Kapitel 4.2 ist die spezifische Perspektive des Erzählers, der zwar die Gedanken und Gefühle der beiden Protagonisten Mur und Ren kennt und wiedergibt, den abstrakten Leser aber nur an drei kurzen Stellen in Čerbel’ bzw. Banu-Skap ›hineinblicken‹ lässt. Diese sind: »Мысль, что над ним смеются, привела его в бешенство.« (ND, 458 f. Dt.: »Der Gedanke, […] [man] könnte sich über ihn lustig machen, brachte ihn zur Raserei.« (NDd, 102 f.)); »Теперь он ясно видел, что над ним издеваются. Он сел к подножию ствола, твердо решив молчать и ждать смерти.« (ND, 459. Dt.: »Jetzt zweifelte er nicht mehr, daß er verhöhnt wurde. Er setzte sich am Baumstamm nieder, fest entschlossen, schweigend den Tod zu empfangen.« (NDd, 103)); »Темный отголосок действительности на одно страшное и короткое мгновение заставил его вздрогнуть […].« (ND, 461. Dt.: »Ein dunkler Widerhall der Wirklichkeit ließ ihn für einen kurzen, schauerlichen Moment zusammenzucken […].« (NDd, 106)) Die inneren Vorgänge, die zu der Selbstentfremdung des Hauptmanns führen, werden dementsprechend auch nicht thematisiert; die Gründe dafür lassen sich nur aus Anspielungen rekonstruieren. Für das Kapitel zur intrasubjektiven radikalen Fremdheit wurden dementsprechend Texte ausgewählt, in denen der diegetische Erzähler zugleich der von der Ich-Spaltung Betroffene ist, sodass dieses Thema im Zentrum der Erzählungen steht. 687 Vgl. ND, 459.

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везде было спереди для существа, имеющего одно лицо и одну спину.«688 Selbst das bloße Umdrehen des Körpers bewirkt schon eine Umkehrung der Zuschreibungen, Eigenes wird zu Fremdem und Fremdes zu Eigenem. Über das Umdrehen (russ.: oboračivat’sja) wird nicht nur implizit eine Ver­bindung zur Wahrnehmung des Waldes durch die Soldaten als Ort der »гномов и оборотней«689 mit Baumstämmen wie »великан[ы]-оборотн[и]«690 hergestellt, sondern auch zu dem vom Eigenen zum Fremden verwandelten Banu-Skap, der sich Ren als »тень-оборотень«691 nähert. In diesem Sinne kann auch die Aufforderung Rens an Mur, »›Встань и уходи в заросли, не оборачиваясь. […]‹«,692 neu gedeutet werden: Nicht nur als Aufforderung, sich nicht umzudrehen, um den schrecklichen Anblick des zum fremden Häuptling gewordenen eigenen Hauptmanns nicht zu sehen, sondern auch als implizite Warnung, nicht ebenfalls die Seiten zu wechseln. Darüber hinaus spielen bei der Überschreitung wie auch Auflösung von Grenzen die beiden den Chronotopos des Fremden hauptsächlich konstituierenden Elemente, Wald und Nacht, eine entscheidende Rolle. Zunächst einmal beginnt die Erzählung mit der Abenddämmerung und endet mit der Morgendämmerung,693 ist also eingerahmt von Phasen des Übergangs, Momenten auf der Schwelle zwischen Tag und Nacht. Die dazwischen liegende Zeit der Nacht geht durch ihre Dunkelheit grundsätzlich mit der Auflösung von Konturen und damit von Grenzen zwischen Entitäten einher, so z. B. im Fall der »стволы […] [, которые] таяли, становясь мраком«.694 Der Mond vereinigt in sich die prinzipiellen Gegensätze Nacht und Licht. Der Mondaufgang wird dementsprechend als »[л]унное утро«695 beschrieben, der Mond selbst als »ночно[е] солнц[е]«696. Passend dazu wird der eigene Fremde Banu-Skap als »бледен, как свет луны«697 beschrieben.

688 ND, 453; Hervorhebungen im Original. Dt.: »Hinten war überall, wie auch überall vorn war für ein Wesen, das nur ein Gesicht und einen Rücken hatte.« (NDd, 94; Hervorhebungen im Original). 689 ND, 451. Dt.: »Kobolde und Zauberwesen« (NDd, 91). 690 ND, 451. Dt.: »verwunschene[…] Riesen« (NDd, 91). 691 ND, 456. Dt.: »Geisterschatten« (NDd, 99). 692 ND, 458. Dt.: »›Steh auf und geh zu dem Gestrüpp, ohne dich umzusehen. […]‹« (NDd, 101). 693 Vgl. ND, 451 u. 460. 694 ND, 451. Dt.: »Baumstämme […] [, die] sich auf[lösten], […] zu Finsternis [wurden]« (NDd, 91). 695 ND, 454. Dt.: »Mondmorgen« (NDd, 95). 696 ND, 454. Dt.: »nächtliche[…] Sonne« (NDd, 95). Vgl. dazu auch Lotmans Hinweis auf die Bezeichnung des Mondes als Sonne des Räubers; vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 266. 697 ND, 459. Dt.: »bleich wie das Licht des Mondes« (NDd, 104).

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Zudem findet sich eine besonders elaborierte Darstellung der Auflösung von Grenzen im Kontext der »лунных теней«.698 Analog dazu, wie sich in der Dunkelheit die Konturen der Dinge (und Menschen) auflösen, weisen die mit der Dunkelheit eng verwandten Schatten dieser Dinge (und Menschen) selbst die Eigenschaft auf, sich miteinander zu verbinden, ineinander überzugehen und somit Grenzen verschwinden zu lassen. Eben dies geschieht mit dem Schatten des Soldaten Ren und dem des unbekannten Angreifers: Кусты, где засел Рен, расположенные кольцом, образовали нечто, похожее на колодец. Неподвижная тень Рена пересекала его. Думая, что, вытянув затекшую ногу, он сам изменил этим очертания тени, Рен в следующее мгновение установил кое-что поразительное: тень его заметно перемещалась справа налево. Она как бы жила самостоятельно, вне воли Рена. […] В мучительном ожидании неведомого пристально следил Рен за игрой тени, ставшей теперь вдвое длиннее: это была тень-оборотень, потерявшая всякое подобие Рена – оригинала. Вскоре у нее стало три руки и две головы, она медленно раздвоилась, и та, что была выше – тень тени, – исчезла в кустарнике, освободив черное неподвижное отражение Рена, сидевшего без дыхания.699

Das Spiel der Schatten bildet dabei die Entwicklung dessen ab, der sich hinter dem beweglichen  – wandelbaren  – der beiden Schatten verbirgt. Was Ren für seinen eigenen Schatten hält, entpuppt sich als Mischung aus eigenem und fremdem Schatten, wobei sich der fremde schließlich herauslöst und verschwindet, sodass nur noch der eigene zurückbleibt. Ebenso wird Čerbel’ für ein Mitglied der Eigengruppe gehalten, dann jedoch zeigt sich seine doppelte Identität; der fremde Teil (Banu-Skap) verschwindet mit Tagesanbruch ebenfalls, zurück bleibt der eigene Teil (Čerbel’). Die Beschreibung der »метаморфозы с тенью«700 betont nicht nur das Moment der Verdoppelung (»вдвое длиннее«, »две головы«, »раздвоилась«),701 sondern zugleich auch die  – explizit betonte  – Schrecklichkeit eines solchen Doppelwesens, 698 ND, 454. Dt.: »Mondschatten« (NDd, 96). 699 ND, 456. Dt.: »Die Büsche, in denen Ren saß, standen im Kreis und bildeten so etwas wie einen Brunnen. Rens unbeweglicher Schatten durchschnitt ihn. Als er das eingeschlafene Bein ausstreckte, fiel ihm auf, daß er damit die Konturen des Schattens veränderte, aber gleich darauf stellte er etwas Verblüffendes fest: sein Schatten bewegte sich deutlich von rechts nach links und schien selbständig zu leben, unabhängig von Rens Willen. […] In qualvoller Erwartung des Unbekannten verfolgte er aufmerksam das Spiel des Schattens, der jetzt doppelt so lang geworden war; es war ein sich wandelnder Geisterschatten, der jede Ähnlichkeit mit Ren, dem Original, verloren hatte. Bald hatte er drei Arme und zwei Köpfe und spaltete sich langsam, der längere Schatten – der Schatten des Schattens – löste sich vom reglosen schwarzen Abbild Rens, der den Atem anhielt, und verschwand im Gebüsch.« (NDd, 99). 700 ND, 456. Dt.: »Metamorphose des Schattens« (NDd, 99). 701 ND, 456. Dt.: »zweimal so lang«, »zwei Köpfe«, »spaltete sich« (NDd, 99).

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das Eigenes und Fremdes vermischt, indem der Schatten die Gestalt eines Monsters mit zwei Köpfen und drei Armen annimmt. Ebenfalls eine Überlagerung von Eigenem und Fremdem zeigt sich im Gesicht des Angreifers. Diese »изменяло и как бы преображало его, – среди породистых, резких черт выступали иные, разрушающие для пристального взгляда прежнее выражение этого страшного, как маска, лица.«702 Die sprichwörtlichen ›zwei Gesichter‹ einer Person verschmelzen dabei zu einem, das ebenfalls als schrecklich beschrieben wird. Die Auflösung der Grenze zwischen Eigenem und Fremdem kündigt sich allerdings sogar bereits vor dem Auftritt des Angreifers bzw. seines Schattens an, und zwar im Zusammenhang mit Ren. Als Mur Ren auf der dunklen Lichtung begegnet und von ihm namentlich angesprochen wird, zweifelt er an der Vertrautheit der Stimme: »Смутно знакомый тон его мог быть ошибкой слуха.«703 Auch Rens eigentlich vertrautes Gesicht erscheint nun »загадочным и лукавым«.704 Erneut sind es also visuelle und auditive Sinneswahrnehmungen, die ihre Zuverlässigkeit verloren haben. Eine eindeutige Einschätzung, ob das Gegenüber Teil der Eigen- oder der Fremdgruppe ist, ist schon hier nicht mehr möglich. Mit dem kurz darauf von Mur geäußerten Verdacht, dass Ren der Mörder ist, wird auch die Axiologie ›eigen gleich gut, fremd gleich böse‹ erstmals angezweifelt, welche dann bei Čerbel’ gänzlich ihre Gültigkeit verliert. Und auch die daraufhin in Gestalt Čerbel’s bzw. Banu-Skaps folgende Infragestellung des Eigenen als Eigenes hat einen Vorläufer in Ren. Als Ren nach seinem Sieg über den Angreifer auf die Morgendämmerung wartet, ist er sich plötzlich selbst seines eigenen Körpers, und, damit einhergehend, auch seiner Seele nicht mehr sicher: »Он тщательно осмотрел свои руки, тело, с новым к ним любопытством, как бы неуверенный в том, что тело это его, Рена, с его вечной, неизменной душой, не знающей колебаний и двойственности.«705 Die Distanzierung zum eigenen Körper kommt dabei auch anhand des Wechsels von svoj (dt.: sein eigener [reflexivisch]) zu ego (dt.: sein) innerhalb desselben Satzes zum Ausdruck. In Zusammenhang mit der Seele wird durch die unterschwellige Infragestellung ihrer Unverän702 ND, 457. Dt.: »[veränderte und verwandelte ihn gleichsam] – [d]ie rassigen, markanten Züge dieses Gesichts wurden von anderen, groben überlagert, so daß es den früheren Ausdruck eingebüßt hatte und einer gespenstischen Maske glich.« (NDd, 101). 703 ND, 454. Dt.: »Daß sie ihm bekannt vorkam, konnte eine Täuschung des Gehörs sein.« (NDd, 96). 704 ND, 454. Dt.: »rätselhaft und verschlagen« (NDd, 96). 705 ND, 460; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Aufmerksam betrachtete er seine Hände, seinen Körper [mit Neugier], als zweifle er, daß es sein, Rens, Körper sei, mitsamt der ewigen, unwandelbaren Seele, die kein Schwanken und Heucheln [wörtl.: keine Doppelzüngigkeit] kannte.« (NDd, 104; Hervorhebungen von A. B.).

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derlichkeit sowie durch die Verwendung des doppeldeutig interpretierbaren Begriffs dvojstvennost’ (dt.: Doppelzüngigkeit, Zwiespältigkeit) auf die Gefahr einer Aufspaltung in zwei Seelen, wie sie bei Čerbel’ bzw. Banu-Skap vorliegt, angespielt. Im Moment dieser Ahnung einer Differenz des bzw. im eigenen Ich entfaltet der nächtliche Wald – d. h. der bereits über die gesamte Erzählung hinweg wirksame Chronotopos des strukturell Fremden – eine Wirkung auf Ren, die auch ihn in ein mordendes Mitglied der Fremdgruppe zu verwandeln droht: Он был в лесу, полном беззвучного шепота,706 зовущего красться, прятаться, подслушивать и таиться, ступать бесшумно, подстерегать и губить. Он исполнился странным недоверием к себе, допуская с легким замиранием сердца, что нет ничего удивительного в том, если ему в следующий момент захочется понестись с диким криком в сонную глушь, бить кулаками деревья, размахивать дубиной, выть и плясать. Тысячелетия просыпались в нем. Он ясно представил это и испугался.707

Anders als der Hauptmann kommt Ren aus diesem Zustand rechtzeitig wieder zu sich und verhindert so, dass die ›klare Vorstellung‹ von sich selbst als wildem, animalischem, mordendem Waldbewohner sich in der Wirklichkeit manifestiert. Dies gelingt, indem Ren sich seinen Revolver gegen die Schläfe presst – also gerade die Waffe der ›Weißen‹ gegen die ›Wilden‹, die nun, auf anderer Ebene, auch gegen den ›Wilden‹ in Ren selbst wirkt. Die von Čerbel’ vollzogene und sich bei Ren anbahnende Verwandlung kann auf psychische Ursachen zurückgeführt werden, auf die unten noch näher eingegangen wird. Zugleich legen die Beschreibung des Einflusses des Waldes auf Ren und die zuvor in die Erzählung eingeführten Märchenelemente, die ebenfalls eng mit dem Wald, dem »[п]роклятое место«,708 verknüpft sind, als weitere mögliche Erklärung einen Fluch nahe, der jede Nacht wirksam ist und der nur durch den Tod des Verfluchten aufgehoben werden 706 Das Gegenstück zu dem Oxymoron »беззвучн[ый] шепот[…]« (Dt.: »lautloses Wispern«; NDd, 104) findet sich in Grins Erzählung »Tajna lesa« (1910), in der die besondere, geräuschvolle Stille des nächtlichen Waldes ebenfalls unter Verwendung eines Oxymorons als »разнообразный шепот леса, микроскопические звуки тишины, сонные голоса ночи« (TL , 381; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »vielfältiges Geflüster des Waldes, mikroskopische Geräusche der Stille, schläfrige Stimmen der Nacht«) beschrieben wird. 707 ND, 460. Dt.: »Er war im Wald, in dem lautloses Wispern ihn aufrief, zu schleichen und sich zu verstecken, zu lauschen und zu lauern, geräuschlos aufzutreten und zu töten. Er war erfüllt von seltsamem Mißtrauen gegen sich selbst und gestand sich stockenden Herzens ein, daß es durchaus nicht verwunderlich wäre, wenn er im nächsten Moment Lust verspürte, sich mit wildem Schrei ins schläfrige Dickicht zu stürzen, mit den Fäusten auf die Bäume einzuschlagen, einen Knüppel zu schwenken, zu heulen und zu tanzen. Jahrtausende erwachten in ihm. Das wurde ihm mit Schrecken bewußt.« (NDd, 104 f.). 708 ND, 451. Dt.: »verfluchte[n] Ort« (NDd, 91).

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kann.709 Auch in dieser Hinsicht löst die Erzählung also eine Grenze auf, hier zwischen rationaler und übernatürlicher Erklärung. Eng damit verbunden ist ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Traum bzw. (Fieber-)Phantasie und Realität. Bereits Mur hat auf der Waldlichtung, überwältigt von Horrorvorstellungen über das Bevorstehende, das Gefühl, »что он умер, спит или бредит.«710 Auch der Wortwechsel zwischen Ren und Mur, als Letzterer Ersteren beschuldigt, der Mörder zu sein, ist »[с]трашен как кошмар«.711 Als Ren schließlich Čerbel’ als Angreifer identifiziert hat, hofft er, »что происходящее – сон, призрак или, на худой конец – больной бред.«712 Besonders deutlich wird das Verschwimmen der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit im Zusammenhang mit dem Mann mit den zwei Identitäten. Als mit der Morgendämmerung Banu-Skap verschwindet und Čerbel’, gefesselt und verwirrt, erwacht, versucht Ren ihn zu beruhigen: »›Это сон, Чербель, […] это сон, да, не более. […]‹«.713 Auf Rens anschließende Frage, was er geträumt habe, antwortet der Hauptmann allerdings mit einer Beschreibung von Ereignissen, die sich in der Realität zugetragen haben: »›Один и тот же сон снится мне подряд несколько дней […]. Я вижу, что выхожу из лагеря и убиваю часовых… да, я душу их…‹«.714 Ein weiteres Mal kommt hier das magische Prinzip der Allmacht der Gedanken zum Tragen; in diesem Fall sind es im Traum vollzogene Handlungen, die Realität werden. Čerbel’ selbst erahnt diesen Übergang des Geträumten in die Wirklichkeit, denn »[т]емный отголосок действительности на одно страшное и короткое мгновение заставил его вздрогнуть«.715 Ren räumt daraufhin jeden Zweifel aus: »›[…] это не сон, Чербель. Я схватил вас в тот миг, когда вы душили Мура. Да, – две души. […]‹«.716 Das Wortspiel duša (dt.: Seele) – dušit’ (dt.: würgen) verweist dabei darauf, dass es sich bei der einen der beiden Seelen717 709 Vgl. zu in der Nacht bzw. in bestimmten Nächten wirksamen Flüchen z. B. die in »Noč’ju i dnëm« sogar mehrfach genannten Werwölfe (russ.: oborotni). 710 ND, 453. Dt.: »er sei tot oder schlafe oder phantasiere« (NDd, 94). 711 ND, 455. Dt.: »[b]eklemmend wie ein Alptraum« (NDd, 97). 712 ND, 458. Dt.: »daß das Vorgefallene ein Traum, eine Vision oder schlimmstenfalls eine Fieberphantasie war.« (NDd, 102). 713 ND, 460. Dt.: »›Das ist ein Traum, Tscherbel, […] ein Traum, nichts weiter. […]‹« (NDd, 105). 714 ND, 461. Dt.: »›Seit Tagen träume ich immer dasselbe. […] Ich sehe mich aus dem Lager gehen und Wachposten töten… ja, ich erwürge sie.‹« (NDd, 106). 715 ND, 461. Dt.: »[e]in dunkler Widerhall der Wirklichkeit ließ ihn für einen kurzen, schauerlichen Moment zusammenzucken« (NDd, 106). 716 ND, 461. Dt.: »›[…] das alles haben Sie nicht geträumt [, Tscherbel]. Ich habe Sie in dem Moment gefaßt, als Sie Mur würgten. Ja – zwei Seelen. […]‹« (NDd, 106). 717 Das romantische Konzept der zwei Seelen findet sich ein zweites Mal im abschließenden Satz der Erzählung, also an herausgehobener Stelle, wenn Ren ausruft: »›[…] О боже, и с

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um den verdrängten, dunklen (im doppelten Sinne: nächtlichen und bösen) Teil der Persönlichkeit handelt, der nun im Traum – dem Ort des Ausdrucks des Unterbewussten – zurück an die Oberfläche gelangt, jedoch von Čerbel’ dissoziiert wird und daher eine, im wahrsten Sinne des Wortes, Verkörperung in Gestalt des Häuptlings Banu-Skap findet.718 Zu derselben Einschätzung kommt auch Rossel’s in seiner kurzen Darstellung der Erzählung: »Угрызения совести, которые он отстраняет от себя днем, ночью питают его ›вторую душу‹«.719 Die von Banu-Skap begangenen furchtbaren Taten sind damit wirklich passiert und trotzdem für Čerbel’ nicht real. Auf die unheimliche und damit Angst auslösende Wirkung der Wiederkehr solch verdrängter Bestandteile des eigenen Ich weist Freud in seinem in Kapitel 3.2 bereits kurz vorgestellten Aufsatz »Das Unheimliche« (1919) hin. Darin heißt es: Das »Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.«720 Freud identifiziert zwei Quellen des Unheimlichen: »Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wiederbelebt werden, oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen.«721 Im Falle von »Noč’ju i dnëm« liegt die zweitgenannte Ursache vor. Die hier wirksamen Überzeugungen sind der Weltauffassung des Animismus zuzuordnen,722 mit ihrem Glauben an magische Wesen, die in der Wahrnehmung der Soldaten den Wald bevölkern, sowie an Magie, bestimmt durch das Prinzip der Allmacht der Gedanken, das sich in der Realisierung des Gedachten (bzw. Geträumten) oder Ausgesprochenen manifestiert. Bei beiden Elementen des Animismus handelt es sich um vermeintlich durch die

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одной душой тяжело человеку!‹« (ND, 461. Dt.: »›[…] Mein Gott, schon mit einer Seele hat es der Mensch schwer genug [!]‹« (NDd, 107)). Dies stellt eine deutliche Parallele zu Robert Louis Stevensons »Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde« (1886) dar (vgl. Stevenson, Robert Louis: Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. In: Ders.: Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. An authoritative text. Backgrounds and contexts. Performance Adaptions. Criticism. Edited by Katherine Linehan. New York, London 2003, 1–62). Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 385. Dt.: »Die Gewissensbisse, die er tagsüber verdrängt, nähren nachts seine ›zweite Seele‹«. Vgl. hierzu auch Kovskij: Romantičeskij mir, 152. Varlamov führt eine andere Begründung für das Handeln des Hauptmanns an, indem er von einem »загипнотизированный туземцами офицер« (Varlamov: Aleksandr Grin, 244. Dt.: »von Eingeborenen hypnotisierten Offizier«) spricht. Für eine solche Behauptung gibt es im Text allerdings keinerlei Anhaltspunkte. (Zudem gibt Varlamov den Titel der Erzählung ebendort fälschlicherweise als »Днем и ночью« (ebd. Dt.: »Am Tage und in der Nacht«) an.). Freud: Das Unheimliche, 70. Ebd., 80. Vgl. ebd., 69 u. 81; Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Frankfurt a. M. 1972, 86–112, v. a. 86 u. 97 f.

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Kultur (Zivilisation) überwundene, aber dennoch im Unterbewusstsein erhalten gebliebene Ideen. Freud konzeptualisiert dieses Unbewusste als »beunruhigenden, ambivalenten und widersprüchlich kodierten Zwischenraum«723 innerhalb der menschlichen Psyche. In einem breiteren Verständnis betrifft das verdrängte, ursprünglich Eigene in »Noč’ju i dnëm« auch die Wildheit, Unzivilisiertheit, die sogar animalischen Züge der Waldbewohner, die nicht nur von den Soldaten als dikari (dt.: Wilde) bezeichnet werden, sondern diesen Ausdruck auch zur Selbstbezeichnung verwenden, die sich mit dem Wald identifizieren (»Мы – лес«),724 und die selbst zu Tieren werden (»В его лице не было ничего человеческого […]«),725 welche im Hinterhalt lauern und ihre Opfer töten. All diese archaischen Merkmale, die durch den zivilisatorischen Fortschritt überwunden zu sein scheinen, brechen in Čerbel’ wieder hervor und verwandeln den zivilisierten (und christianisierten) Menschen in einen Wilden par excellence. Dieselbe Negation der Zivilisation droht sich auch bei Ren zu vollziehen, und die Beschreibung seines plötzlichen Drangs zu schleichen und zu morden endet mit Worten, die auf eine auch zeitlich markierte Rückkehr in ›primitive‹ Verhaltensweisen verweisen: »Тысячелетия просыпались в нем.«726 Die ursprüngliche Zuschreibung der animistischen wie animalischen Eigenschaften zur Fremdgruppe und ihrem Raum entspricht in »Noč’ju i dnëm« der von Freud genannten Verdrängung ins Unterbewusstsein; die Entdeckung derselben in Mitgliedern der Eigengruppe entspricht ihrer Wiederkehr an die Oberfläche des Bewusstseins. Aus der unausweichlichen Konfrontation des Subjekts mit »seine[r] eigene[n] interne[n] Differenz«727 erklärt sich die besondere Qualität der Unheimlichkeit und des Schreckens, die die Soldaten im Wald erleben, insbesondere nach der Identifikation des Angreifers als Hauptmann Čerbel’. Dies betrifft auch und in besonderem Maße Čerbel’ selbst, der von Ren nach der Aufdeckung des Geheimnisses mit der Erklärung: »›[…] Я не оставлю вас долго во власти воистину дьявольского открытия; оно может свести с ума.‹«728 erschossen wird. Mit einem Blick auf den getöteten Hauptmann bekräftigt Ren seine Entscheidung: »›Так лучше, пожалуй, […] он умер, чувствуя себя Чербелем. Иное ›я‹ потрясло бы

723 Bronfen, Elisabeth: Vorwort. In: Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, IX–XIV, hier X . 724 ND, 459. Dt.: »Wir sind der Wald« (NDd, 103). 725 ND, 457. Dt.: »Sein Gesicht hatte nichts Menschliches […]« (NDd, 100). 726 ND, 460. Dt.: »Jahrtausende erwachten in ihm.« (NDd, 105). 727 Bronfen: Vorwort, 10. 728 ND, 461. Dt.: »›[…] Ich will Sie nicht lange der Macht dieser wahrhaft teuflischen Entdeckung überlassen; sie kann einen um den Verstand bringen.‹« (NDd, 106).

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его. […]‹«.729 Als einzige mögliche Strategie des Umgangs mit dem eigenen Fremden bleibt hier also dessen Vernichtung. Die Struktur von »Noč’ju i dnëm« bildet eine Steigerung von Grenzüberschreitungen und -aufhebungen, beginnend mit Abstrakta (z. B.  Tag und Nacht, Stille und Geräusch) über konkrete Dinge (z. B. Bäume in der Dunkelheit) bis hin zu den Schatten zweier Menschen und schließlich zwischen zwei Identitäten. Da letztere an die eigene respektive die fremde Gruppe geknüpft sind, lösen sich mit ihnen auch die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem auf. Teilweise, nicht zuletzt bei Čerbel’/Banu-Skap, entstehen daraus hybride Phänomene, die ein Drittes zwischen Eigenem und Fremdem bilden. Wie in »Dalëkij put’« geht die hier stattfindende Grenzüberschreitung mit einer Schwellenexistenz einher, d. h. der Zustand eines Sowohl-als-auch ist nicht nur auf den kurzen Moment des Übergangs beschränkt, sondern besteht, zumindest latent, dauerhaft fort und wird erst durch die Tötung des Betroffenen beendet. In diesem Sinne lässt sich die auffällige Wiederholung der Zahl Drei in der Erzählung nicht nur als märchenhaftes Element lesen, sondern zugleich als Symbol für das Aufbrechen der vermeintlich unauflösbaren Binarität, die die Erzählung bis zu ihrem Höhe- und Wendepunkt strukturiert. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Entstehung von »Noč’ju i dnëm« während der Zeit des Ersten Weltkriegs730 besitzt diese die Infragestellung der Ein729 ND, 461. Dt.: »›Das ist gewiß das beste für ihn […] [,] er ist als Tscherbel gestorben. Das andere ›Ich‹ hätte ihn zerschmettert. […]‹« (NDd, 107). 730 In mehreren Erzählungen Grins aus der Zeit des Ersten Weltkriegs findet sich das Muster einer Abspaltung eines Teils des Ich als extreme Form der Verdrängung im Kontext von ebenso extremer Gewalt. Ein Beispiel dafür ist die aus demselben Jahr wie »Noč’ju i dnëm« stammende Kurzerzählung »Boj na štykach« (1915; dt.: »Der Bajonettkampf«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Boj na štykach. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 299–300. Kürzel: BŠ), die in einem nicht näher benannten Krieg spielt, von dem allerdings bekannt ist, dass die Deutschen als Feinde auftreten. Mitten im Gefecht spaltet einer der Soldaten sich für einen »психологический миг« (BŠ, 299. Dt.: »psychologischen Moment«) in einen kämpfenden, tötenden und einen den Kampf von außen beobachtenden Teil auf. In der ebenso aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammenden Erzählung »Zabytoe« (1914; dt.: »Vergessenes«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Zabytoe. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 244–250. Kürzel: ZB) findet sich gleichsam eine Vorstufe der körperlichen Abspaltung in Form von Gedächtnisverlust. Die Erzählung handelt von dem französischen Kameramann Tabaren, der zum Filmen an die Front eines ebenfalls nicht explizit benannten Kriegs fährt, in dem Preußen gegen Franzosen kämpfen. Nach einer Verwundung zeigen sich bei ihm Erinnerungslücken hinsichtlich der Ereignisse auf dem Schlachtfeld. Als Tabaren die Filmaufnahmen der vergessenen Situation anschaut, erblickt er zu seiner Überraschung sich selbst (»›Это я! я!‹«; ZB , 250. Dt.: »›Das bin ich! ich!‹«), wie er mehrere Deutsche erschießt. Der Blick von außen auf das tötende Ich, zu dem es auch in »Boj na štykach« kommt,

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deutigkeit einer Trennung in Eigen- und Fremdgruppe, in Freund und Feind, eine besondere Schlagkraft. Auch die drei im Folgenden noch kurz vorgestellten Erzählungen be- und verhandeln das Verhältnis zwischen strukturell Eigenem und Fremdem, den Aspekt von Grenzziehungen und Grenzaufhebungen sowie die mit Eigenem und Fremdem verknüpften Axiologien. 4.2.3.4 Variationen: »Vozdušnyj korabl’«, »Zoloto i šachtëry«, »D’javol Oranževych Vod«

»Vozdušnyj korabl’« Die im Zusammenhang mit »Dalëkij put’« ausgeführte kontrastive Gegenüberstellung von Norden und Süden spielt bereits in einem der frühen Werke Grins, »Vozdušnyj korabl’« (1909), eine zentrale Rolle. Der Schauplatz der Handlung wird zwar an keiner Stelle explizit in Russland lokalisiert, allerdings lassen die Namen der Personen – Stepanov, Lidija, Antonova – sowie die Deklamation des titelgebenden Gedichts von Lermontov, bei dem es sich um eine freie Übersetzung des »Geisterschiffs« (1832) des österreichischen Dichters von Zedlitz handelt, darauf schließen. Ausgangssituation der von einem nichtdiegetischen Erzähler dargestellten Handlung ist eine gesellschaftliche Zusammenkunft findet hier über den Umweg des technischen Hilfsmittels Film, also eines Mediums im zweifachen Sinne, statt. Generell befasst sich Grin in vielen seiner Erzählungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs mit den psychischen Auswirkungen extremer Gewalterfahrungen (vgl. Luker: Alexander Grin, 65–67). »Ataka« (1915; dt.: »Der Angriff«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Ataka. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 3. Alye parusa: Feerija. Blistajuščij mir: Roman. Rasskazy 1914–1916. Moskva 2008, 331–332. Kürzel: AT) begleitet einen russischen Soldaten während eines Angriffs auf deutsche Stellungen. Die psychische Belastung des Angriffs führt dazu, dass der Soldat die Feinde noch immer in seiner Nähe wähnt und verzweifelt bekämpft, als sie längst in die Flucht geschlagen wurden (vgl. AT, 332). Die bereits erwähnte Erzählung »Sinij volčok« legt den Fokus auf die Gefühle und Gedanken eines russischen Kriegsgefangenen in den Momenten kurz vor dem Stillstand des titelgebenden Kreisels, an dessen Bewegung die deutschen Soldaten sein Leben knüpfen. Eine komplett gegensätzliche Rolle kommt dem Spielzeug in einer weiteren Kriegserzählung Grins zu, die sogar tragikomische Züge aufweist. »Igruški« (1915; dt.: »Spielzeuge«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Igruški. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 4. Moskva 1980, 450–451. Kürzel: IG) spielt in einer von der preußischen Armee besetzten Stadt. Die geplante Erschießung von dreißig französischen Geiseln wird nicht durchgeführt, weil der preußische Hauptmann Pupenson auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung auf einen mit Spielzeugsoldaten spielenden Franzosen namens Al’važ trifft, der ihn einlädt mitzumachen, woraufhin er – ausgerechnet – beim Kriegsspiel mit dem Feind die Zeit vergisst. Die Erzählung endet lakonisch mit dem Satz: »Отличные игрушки старика Альважа следовало бы завести всем воинственно настроенным людям.« (IG , 451. Dt.: »Die hervorragenden Spielzeuge des Alten Al’važ sollte man allen angriffslustig gestimmten Menschen anschaffen.«).

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von Personen desselben Schlags wie die Bewohner der Stadt in »Dalëkij put’«, was gleich in den ersten Sätzen des Textes deutlich wird: Маленькое общество сидело в сумеречном углу на креслах и пуфах. Разговаривать не хотелось. Великий организатор  – скука  – собрала шесть разных людей, утомленных жизнью, опротивевших самим себе, […] непредприимчивых и ленивых.731

Einen der Gäste, Stepanov,732 überkommt angesichts dieser Situation ein ähnlicher Wunsch zu fliehen wie Šil’derov in »Dalëkij put’«: »Не уйти ли? Чего ждет он и все эти люди, спаянные бессонной, тоскливой скукой?«733 Die anderen Gäste allerdings empfinden die überwältigende Langeweile offenbar keineswegs als unangenehm, was besonders in einem kurzen Gespräch zwischen Stepanov und dem ›Belletristen‹ deutlich wird. Auf Stepanovs Frage »›Что же теперь делать?‹«734, antwortet dieser: »›Да ничего. Поскучаем. Этот момент красив. […] Красива эта холодная скука […]‹«.735 Die Entfremdung der Menschen von sich selbst, voneinander und vom Leben wird sogar explizit benannt: »[…] они сидели, перебрасываясь редкими фразами, тайно обнажающими ленивый сон мысли, усталость и отчужденность.«736 Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Stimmungslage, die Castaing unter dem Schlagwort »l’insatisfaction des ›enfants du siècle‹«737 zusammenfasst,738 ergreift der Belletrist das Wort und entwirft ein dichotomisches Bild von Norden und Süden, wobei diese durch die Formulierungen »на другой половине земного шара«739 und »здесь«740 als fremder respektive eigener Raum markiert werden. Zunächst scheint es, als ob der Süden als Ideal

731 VK , 208; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Die kleine Gesellschaft saß in einer dämmrigen Ecke auf Sesseln und Sitzhockern. Niemand wollte sich unterhalten. Der große Organisator – die Langeweile – versammelte sechs unterschiedliche Menschen, ermüdet vom Leben, sich selbst zuwider geworden, […] nicht unternehmungslustig und faul.«. 732 Der Name Stepanov wird zeitweise von Grin als Pseudonym verwendet (vgl. Losev / Jalovaja: Aleksandr Grin, 6). 733 VK , 208. Dt.: »Sollte er nicht gehen? Worauf warten er und all diese Leute, die durch eine schlaflose, schwermütige Langeweile verbunden sind?«. 734 VK , 208. Dt.: »›Was sollen wir denn jetzt tun?‹«. 735 VK , 208. Dt.: »›Na, nichts. Wir langweilen uns. Dieser Moment ist schön. […] Schön ist diese kalte Langeweile […]‹«. 736 VK , 210. Dt.: »[…] sie saßen da und warfen sich spärliche Phrasen zu, die heimlich den trägen Schlaf des Gedankens, die Müdigkeit und Entfremdung entblößten«. 737 Castaing: L’évolution littéraire, 92. 738 Die Grin zeitgenössische Kritikerin Koltonovskaja sieht in den Figuren aus »Vozdušnyj korabl’« wie auch aus »Raj« Züge der »модернистской богемы« (zit. nach Revjakina: Primečanija. Sobranie sočinenij. Tom pervyj, 685. Dt.: »modernistischen Bohème«). 739 VK , 210. Dt.: »auf der anderen Hälfte des Erdballs«. 740 VK , 210. Dt.: »hier«.

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konstruiert würde: Seine Helligkeit und Wärme  – dort »начался день«,741 »[т]ропическое солнце стоит в зените«,742 es wachsen »[п]альмы, араукарии, бананы«743  – werden der Dunkelheit der »полуночной страны«744 gegenübergestellt. Den zweiten korrespondierenden Aspekt, die Kälte, erwähnt der Belletrist nicht selbst, allerdings ist sie, im übertragenen Sinne einer sozialen und emotionalen Kälte, das auffälligste Charakteristikum der Beschreibung der Abendgesellschaft durch den Erzähler und somit dem abstrakten Leser trotzdem als Teil eines Gegensatzpaars präsent. Neben der bereits zitierten ›kalten Langeweile‹ ist dort die Rede von einer auf die gestörte Kommunikation der Anwesenden hinweisenden »холодн[ая] тишин[а] зала«.745 Vor allem aber einer der Gäste, Lidija Zauėr, zeichnet sich durch dieses Merkmal aus: Zweimal erwähnt der Erzähler ihr »холодное лицо«,746 ein weiteres Mal leuchtet ihr Gesicht »холодно, странно, чуждо«,747 hinzu kommen ihr »холодны[й] взгляд[…]«748 sowie »[г]лаза [, которые] оставались […] холодными«.749 Die am Handlungsschauplatz vorherrschende figurative Kälte wird schließlich mit der Kälte im wörtlichen Sinne, die der Wärme des Südens gegenübersteht, verbunden, indem dasselbe Lexem, cholodnyj (dt.: kalt), später noch zweimal in Bezug auf das (russische) Klima gebraucht wird. Das geschieht passenderweise gerade durch die ›kalte‹ Lidija, welche das der Erzählung ihren Titel gebende Gedicht Lermontovs »Vozdušnyj korabl’« (1840; »Das Geisterschiff« bzw. »Das Luftschiff«) – allerdings nicht ganz originalgetreu – mit der Zeile »Под снегом холодной России«750 vorträgt. Auch eine weitere Kontrastierung von Norden und Süden durch den Belletristen erscheint als Hinweis auf eine positive Bewertung des letztgenannten Raums, da dieser als Projektionsfläche für im Norden nicht realisierbare Wünsche konzeptualisiert wird: »То, что здесь – стремление, т. е. краски, стихийная сила жизни, бред знойной страсти  – там, под волшебным

741 742 743 744 745 746 747 748 749 750

VK , 210. Dt.: »begann der Tag«. VK , 210. Dt.: »die tropische Sonne steht im Zenit«. VK , 210. Dt.: »Palmen, Araukarien, Bananen«. VK , 210. Dt.: »des mitternächtlichen Landes«. VK , 208. Dt.: »kalten Stille des Saals«. VK , 208 u. 212. Dt.: »kaltes Gesicht«. VK , 211. Dt.: »kalt, merkwürdig, fremd«. VK , 208. Dt.: »kalter Blick«. VK , 213. Dt.: »Augen, [die] kalt […] blieben«. VK , 212 bzw. Lermontov, M.  Ju.: Vozdušnyj korabl’. In: Ders.: Izbrannye proizvede-

nija v dvuch tomach. Tom vtoroj (1835–1841). Podgotovka teksta B. M. Ėjchenbauma. Primečanija Ė. Ė. Najdiča. Moskva, Leningrad 1964, 53–55, hier 55. Dt.: »In Rußlands Schneegestiebe« (Lermontow, Michail: Das Geisterschiff. In: Ders.: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Bd. I. Gedichte und Poeme. Herausgegeben von Roland Opitz. Berlin 1987, 155–157, hier 156); wörtl.: »Unter dem Schnee des kalten Russland«.

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кругом экватора, и есть сама жизнь, действительность…«.751 Dann allerdings nimmt die Gegenüberstellung eine jähe Wendung, denn in seiner nächsten Aussage erklärt der Belletrist die Menschen des Südens zur Bedrohung für Leib, Seele und Moral der Menschen des Nordens: »Наоборот – желания тех смуглых людей юга – наша смерть, духовное уничтожение и, может быть, – скотство.«752 Die Axiologie entspricht also entgegen der anfänglich erzeugten Erwartung schließlich doch dem häufigeren Muster des Eigenen als des Guten und des Fremden als des Schlechten. Den an Rousseaus Konzept des ›Edlen Wilden‹ erinnernden Hinweis von Stepanov auf die »органическую цельность здоровой психики и красоту примитива«753 ignorierend, führt der Belletrist in der Folge das positive Bild der Eigengruppe weiter aus: ›[…] мы, северяне, люди крыльев, крылатых слов и порывов, крылатого мозга и крылатых сердец. Мы – прообраз грядущего. Мы бесконечно сильны, сильны сверхъестественной чуткостью наших организаций, творческим, коллективным пожаром целой страны…‹.754

Hatte der Belletrist bereits zuvor das auch von Kireevskij in »O charaktere prosveščenija Evropy i o ego otnošenii k prosveščeniju Rossii« verwendete Wortpaar »там«755 und »здесь«756 benutzt, dessen binärem Muster auch die Gegenüberstellung von Norden und Süden in »Dalëkij put’« folgt, so führt er hier nun auch noch das von Kireevskij als ein zentrales Merkmal der Überlegenheit genannte kollektive Wesen der russischen Kultur an. Allerdings besteht der eigentliche Kontrast weniger zwischen Norden und Süden als vielmehr auf einer impliziten Ebene zwischen den Aussagen des Belletristen über die ›geflügelten‹ Menschen des Nordens und deren tatsächlichem Wesen, welches den Beschreibungen des nichtdiegetischen Erzählers zu entnehmen ist und jegliche Behauptung von Inspiration, Kreativität oder Entwicklung Lügen straft. Tatsächlich ähneln diese angeblichen »люди крыльев« in ihrer gelangweilten Passivität, Lethargie und Entfremdung stark den Stadtbewohnern aus »Dalëkij put’« – und eben nicht der in derselben Er751 VK , 210; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Jenes, was hier Sehnsucht ist, d. h. Farben, die Elementargewalt des Lebens, der Fieberwahn glühend heißer Leidenschaft  – ist dort, unter dem magischen Kreis des Äquators, das Leben selbst, Wirklichkeit…«. 752 VK , 210. Dt.: »Umgekehrt sind die Wünsche jener dunkelhäutigen Menschen des Südens – unser Tod, geistige Vernichtung und, vielleicht, Bestialität.«. 753 VK , 210. Dt.: »organische Ganzheit der gesunden Psyche und Schönheit des Primitiven«. 754 VK , 211. Dt.: »›[…] wir, die Nordländer, sind Menschen der Flügel, der geflügelten Worte und Impulse, eines geflügelten Gehirns und geflügelter Herzen. Wir sind das Urbild des Kommenden. Wir sind unendlich stark, stark durch das übernatürliche Feingefühl unserer Organisationen, durch das schöpferische, kollektive Feuer des ganzen Landes…‹«. 755 VK , 210. Dt.: »dort«. 756 VK , 210. Dt.: »hier«.

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zählung genannten »орлиной расе«757 der Menschen, die nicht nur überall zu Hause sind, sondern denen auch alles möglich ist. Dies kommt sogar in einer zweifachen lexikalischen Wiederholung zum Ausdruck: Die Menschen aus »Vozdušnyj korabl’« streben »к плоской равнине жизни«758  – die aus »Dalëkij put’« leben in der »глухой русской равнин[е]«759 mit ihren »рек[ами] в плоских […] берегах«.760 Stepanov und die ›Künstlerin‹ sind die einzigen, die den Widerspruch zwischen dem Selbstbild und dem tatsächlichen Wesen der ›Menschen des Nordens‹ bemerken, wodurch sie von der Gruppe der übrigen Gäste abgegrenzt werden. Deren degeneriertes Inneres spiegelt sich in der Wahrnehmung der beiden nun auch in ihrem Äußeren wider: Степанов смотрел на студента и беллетриста и точно теперь только увидел их впалые лбы, неврастенически сдавленные виски, испитые лица, провалившиеся глаза и редкие волосы. […] Артистка невинно переводила глаза с одного лица на другое, делая вид, что все ей понятно и что сама она тоже принадлежит к крылатой северной породе людей.761

Kovskij und Castaing zufolge kündigt sich in der Referenz auf Lermontovs »Vozdušnyj korabl’« mittels der im Zentrum des Gedichts stehenden, wenn auch nicht namentlich genannten, romantischen sil’naja ličnost’ (dt.: starken Persönlichkeit) Napoleon indirekt ein neuer, starker Heldentypus in Grins Werk an, der, anders als die Abendgesellschaft aus der gleichnamigen Erzählung Grins, nicht in einem Zustand passiver Sehnsucht verweilt.762 Dieser tritt noch im selben Jahr in Gestalt von Tart aus »Ostrov Reno« (1909)763 in Grins Werk in Erscheinung764 und bildet von da an einen wichtigen – allerdings kei757 758 759 760 761

DP, 152. Dt.: »Adler-Rasse«. VK , 213; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »zur flachen Ebene des Lebens«. DP, 145; Hervorhebung von A. B. Dt.: »öden russischen Ebene«. DP, 145; Hervorhebung von A. B. Dt.: »Flüssen zwischen flachen […] Ufern«. VK , 211. Dt.: »Stepanov blickte auf den Studenten und den Belletristen und sah genau

jetzt erst ihre eingefallenen Stirnen, neurasthenisch gestauchten Schläfen, abgezehrten Gesichter, eingefallenen Augen und spärlichen Haare. […] Die Artistin lies ihre Augen unschuldig von einem Gesicht zum anderen gleiten und gab sich den Anschein, als ob sie alles verstehe und sie selbst ebenfalls zu der geflügelten nördlichen Menschengattung gehöre.«. 762 Vgl. Kovskij: Romantičeskij mir, 46; Castaing: L’évolution littéraire, 92 f. 763 Auch »Ostrov Reno« enthält eine Kontrastierung von Norden und Süden. Tart, der als »северян[ин]« (dt.: »Nordländer«) bezeichnet wird, ist fasziniert von dem dichten tropischen Urwald auf der Insel Reno und gibt ihm klar den Vorzug vor den heimischen Wäldern des Nordens: »Буковые леса его родины по сравнению с островом казались головой лысого перед черными женскими кудрями.« (OR , 219. Dt.: »Die Buchenwälder seiner Heimat schienen im Vergleich mit der Insel wie der Kopf eines Kahlen vor schwarzen Frauenlocken.«). 764 Vgl. Luker: Grinlandia in Embryo, 196.

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neswegs den einzigen, wie im Kontext der in Kapitel 2.2.5 vorgestellten Klassifikation Grins als Romantiker nicht selten behauptet wird –765 Helden­t ypus seiner Erzählungen und Romane. Auch der Protagonist aus »Dalëkij put’« lässt sich in diese Gruppe einordnen, da er den Aufbruch in den ersehnten Süden tatsächlich realisiert. Dem Bild der »люди крыльев«766 aus »Vozdušnyj korabl’« entsprechend – allerdings der wirklichen, nicht der fälschlicherweise selbsternannten  – beschreibt Šil’derov seinen Weggang aus der russischen Stadt mit den Worten: »было в нем нечто окрыляющее«.767 Hinzu kommt eine weitere Verbindung zwischen »Vozdušnyj korabl’« und »Dalëkij put’«: Die Synthese von strukturell Eigenem und Fremdem, von nördlicher ursprünglicher und südlicher neuer Heimat und Identität, die sich in der Figur Šil’derov-Dias vollzieht, findet sich in ähnlicher Weise in Lermontovs Gedicht. Auch darin treten Norden und Süden zunächst als Gegensätze auf –

765 Dass gerade in den frühen Werken Grins der aktive, ›romantische‹ Held, der seine Träume verwirklicht, eine Seltenheit darstellt, lässt sich einer Rezension des zeitgenössischen Kritikers Arkadij Gornfel’d entnehmen. Ein Zitat aus »Vozdušnyj korabl’« (vgl. VK , 213) zur Beschreibung des sich passiv sehnenden Figurentyps verwendend, konstatiert er: »›Лицо маленькой твари, сожженной бесплодной мечтой о силѣ и красотѣ‹ – это […] лицо большинства героевъ Грина« (Gornfel’d: A. S. Grin. FLMMG , n / v 7444, l. 10. Dt.: »›Das Gesicht des kleinen Geschöpfs, verbrannt von dem fruchtlosen Traum von Kraft und Schönheit‹ – das […] ist das Gesicht der Mehrheit der Helden Grins«). Als Beispiel zitiert er das Ende der Erzählung »Raj« über einen kollektiven Selbstmord durch Gift, in dem die diegetische Erzählerin resigniert feststellt: »Тот хрустальный город, где жили бы в будущем, обнесен высокими, молчаливыми стенами. Мне не переступить их. Чего хочу я? Какой-то сжигающей, вечной радости, света от розы-солнца, которой нет нигде и не будет. Перед ней меркнет все, и я стою в темноте, гордая своим желанием. Я умру, зная, что не переставала хотеть.« (RA , 175; von Gornfel’d in alter Rechtschreibung zitiert: Gornfel’d: A. S. Grin. FLMMG , n / v 7444, l. 10ob. Dt.: »Jene kristallene Stadt, wo sie in der Zukunft wohnen würden, ist von hohen, schweigenden Mauern umgeben. Ich kann sie nicht überschreiten. Was will ich? Eine Art brennende, ewige Freude, das Licht der Rosen-Sonne, die es nirgendwo gibt und auch nicht geben wird. Vor ihr verblasst alles, und ich stehe in der Dunkelheit, stolz auf meinen Wunsch. Ich werde in dem Wissen sterben, dass ich nicht aufgehört habe zu wollen.«). Charčev deutet die zum Konzept erhobene Formulierung des »Лицо маленькой твари, сожженной бесплодной мечтой о силе и красоте« (VK , 213. Dt.: »Gesichts des kleinen Geschöpfs, verbrannt von dem fruchtlosen Traum von Kraft und Schönheit«) als Ausdruck des Grins vorrevolutionäres Werk bestimmenden Themas der Unmöglichkeit der Realisierung von Träumen, während diese in seinen nachrevolutionären Werken oft in Erfüllung gehen (vgl. Charčev: Chudožestvennye principy, 23 f.). Allerdings finden sich sowohl in Grins Texten von vor 1917 Protagonisten, die das Gewünschte erreichen – als auch in den Werken von nach 1917 gescheiterte Helden, Charčevs Behauptung ist also als ideologisch motiviert einzuordnen. 766 VK , 211. Dt.: »Menschen der Flügel«. 767 DP, 149. Dt.: »es war darin etwas Beflügelndes«.

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»Под снегом холодной России, / Под знойным песком пирамид«768 – und vereinigen sich gegen Ende des Gedichts im Bild des »холодный песок«.769 An dieser Stelle liegt ein Bezug zu einem dritten Text Grins vor, nämlich der bereits kurz erwähnten Erzählung »Fandango«, in der der Übergang von der eigenen, nördlichen Welt des kalten Petrograd in ein südliches, warmes Land – und wieder zurück – vollzogen wird, indem der Protagonist Aleksandr Kaur in ein Gemälde hineingeht, das den jeweils anderen Schauplatz zeigt. In diesem Werk findet auch ein gänzlich gewöhnlicher Wechsel von einem Raum zum anderen statt: Im Dom učënych der KUBU in Petrograd wird eine ausländische Delegation empfangen, die meist als spanisch,770 teils aber auch als kubanisch bezeichnet wird771 und sich damit, wie so oft bei Grin, einer eindeutigen Verortung entzieht. Der Empfang wird zu einem gewaltigen Spektakel, in dem Lebensmittel und andere Geschenke in gewaltigen Mengen an die Verwaltung der KUBU übergeben werden: »Юг, смеясь, кивнул Северу. Он дотянулся своей жаркой рукой до отмороженных пальцев.«772 Die Verbindung von strukturell Eigenem und Fremden vollzieht sich, wie in »Vozdušnyj korabl’«, auch in dieser Erzählung zusätzlich durch die Rezitation eines Gedichts. Denn der Leiter der Delegation, Bam-Gran, flüstert dem Protagonisten das Gedicht »Ein Fichtenbaum steht einsam« (1827) von Heinrich Heine ins Ohr, dessen bekannteste Übersetzung ins Russische ebenfalls von Lermontov stammt773 (hier allerdings in einer eigenen Bearbeitung von Grin): »›На севере диком, над морем, / Стоит одиноко сосна. / И дремлет, / ​ И снегом сыпучим / Засыпана, стонет она. // Ей снится: в равнине, / ​ 768 Lermontov: Vozdušnyj korabl’, 55. Dt.: »In Rußlands Schneegestiebe / Und Afrikas sengendem Sand.« (Lermontow: Das Geisterschiff, 156); wörtl.: »Unter dem Schnee des kalten Russland, / unter dem glühenden Sand der Pyramiden«. 769 Lermontov: Vozdušnyj korabl’, 55. Dt.: »kalten Sand[s]« (Lermontow: Das Geisterschiff, 157). 770 Vgl. FA , 511, 513, 515–522, 524, 526 u. 534. 771 Vgl. FA , 513, 517 u. 522. 772 FA , 523. Dt.: »Der Süden nickte lachend dem Norden zu. Froststarren Fingern reichte er seine heiße Hand.« (Grin, Alexander: Fandango. Übersetzt von Heinz Kübart. In: Ders.: Der Rattenfänger. Phantastische Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Lola Debüser. Frankfurt a. M. 1986, 152–209, hier 180. Kürzel: FAd). 773 Die Version von Lermontov (1841) lautet: »На севере диком стоит одиноко / На голой вершине сосна / И дремлет, качаясь, и снегом сыпучим / Одета, как ризой, она. // ​ И снится ей все, что в пустыне далекой, / В том крае, где солнца восход, / Одна и грустна на утесе горючем / Прекрасная пальма растет.« (vgl. Lermontov, M. Ju.: Na severe dikom stoit odinoko…. In: Ders.: Izbrannye proizvedenija v dvuch tomach. Tom vtoroj (1835–1841). Podgotovka teksta B. M.  Ėjchenbauma. Primečanija Ė. Ė.  Najdiča. Moskva, Leningrad 1964, 73). Dt. wörtl.: »Im wilden Norden steht einsam / Auf kahlem Gipfel eine Kiefer / Und sich wiegend, und mit Pulverschnee / Bekleidet, wie mit einem Messgewand, schlummert sie. // Und sie träumt immerzu, dass in der fernen Wüste, / In jenem Land, wo der Sonnenaufgang ist, / Allein und traurig auf einem heißen Felsen / ​ eine wunderschöne Palme wächst.«

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В стране вечной весны, / Зеленая пальма… Отныне / Нет снов иных у сосны…‹«.774 Wenig später gelangt Aleksandr durch das Medium des Gemäldes selbst in ein südliches Land, in dem er Bam-Gran antrifft. Nach seiner Rückkehr ist ebenso unklar, ob er eine halbe Stunde oder zwei Jahre lang abwesend war, wie, ob die Reise nur in seiner Phantasie oder real stattgefunden hat.775 Die Gleichwertigkeit und gleichzeitige Gültigkeit beider Varianten drückt der Protagonist in einer Abwandlung des Heine-Gedichts aus, in dem es zu einer Verschmelzung der beiden Räume und Bäume kommt: »›В равнине над морем зыбучим, / Снегом и зноем полна, / Во сне и в движенье текучем / Склоняется пальма-сосна.‹«776 Dabei bedient sich Grin mit der Zeile »Снегом и зноем полна«777 eben der Wortwahl zur Darstellung von Kälte und Hitze, die sich auch in Lermontovs »Vozdušnyj korabl’« findet – »Под снегом холодной России, / Под знойным песком пирамид« –,778 und führt sie zu einer ähnlichen Synthese wie Lermontov gegen Ende seines Napoleon-Gedichts. Das Verhältnis von Realem und Imaginärem in »Fandango« wird im Zusammenhang mit dem Phantastischen als Erscheinungsform des radikal Fremden noch genauer in den Blick genommen (s. Kap. 4.3.2.3). »Zoloto i šachtëry« Über die Kombination von Hitze, Sand, Palmen und Pyramiden lässt sich eine Verbindung zu einem weiteren Grin-Text herstellen: zu der im Zusammenhang mit Grins Leben bereits kurz erwähnten, teilweise autobiographischen Erzählung »Zoloto i šachtëry« (1925). Diese beleuchtet das Thema des strukturell Fremden im Allgemeinen sowie im Besonderen das der Diskrepanz zwischen Vorstellung und Realität in Bezug auf dieses Fremde, in knapper, aber eindrücklicher Form. Letzteres klingt auch in den hier ausführlich analysierten 774 FA , 518. Dt.: »›Ein Fichtenbaum steht einsam / Im Norden auf kahler Höh. / Ihn schläfert; mit weißer Decke / Umhüllen ihn Eis und Schnee. // Er träumt von einer Palme, / Die, fern im Morgenland, / Einsam und schweigend trauert / Auf brennender Felsenwand.‹« (FAd, 175). In der hier zitierten deutschen Übersetzung von »Fandango« wird das Gedicht in der Originalfassung Heines wiedergegeben, sodass die (auch inhaltliche) Bearbeitung der deutschen Vorlage Heines bzw. der russischen Vorlage Lermontovs durch Grin nicht erkennbar ist. Die wörtliche Übersetzung der Version Grins lautet: »›Im wilden Norden, über dem Meer, / Steht einsam eine Kiefer. / Und schlummert, / Und von Pulverschnee / zugeweht ächzt sie. // Sie träumt: in der Ebene / Im Land des ewigen Frühlings, /  Eine grüne Palme… Von nun an / hat die Kiefer keine anderen Träume mehr …‹«. 775 Vgl. FA , 548–550. 776 FA , 550. Dt.: »›Im Morgenland am Meeressaum, / Umhüllt von Glut und Schnee, / Wiegt sich ein Palmenfichtenbaum / Im Traum auf steiler Höh.‹« (FAd, 209). 777 FA , 550. Dt.: »Umhüllt von Glut und Schnee«. 778 Lermontov: Vozdušnyj korabl’, 55; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »In Rußlands Schneegestiebe / Und Afrikas sengendem Sand.« (Lermontow: Das Geisterschiff, 156; Hervorhebungen von A. B.); wörtl.: »Unter dem Schnee des kalten Russland, / unter dem glühenden Sand der Pyramiden«.

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Erzählungen an: Während in »Put’« vollkommen offenbleibt, ob sich Ėlis Hoffnungen, die er in das rätselhafte Land hinter den Bergen setzt, erfüllen, wird der Erzähler aus »Dalëkij put’« von der Anwesenheit eines russischen Landsmanns in der (als gänzlich fremd erwarteten) Fremde überrascht; und in »Noč’ju i dnëm« spielt das Thema in der enttäuschten Erwartung der ›Wilden‹ als Angreifer eine zentrale Rolle. Im ersten Teil der Erzählung »Zoloto i šachtëry« fährt der diegetische Erzähler als Matrose nach Ägypten und erwartet dort, gleichsam direkt nach dem Landgang hinter der Stadtgrenze von Alexandria, die Sahara und Löwen zu sehen.779 Die Realität, die er dort vorfindet, entspricht allerdings keines­ wegs seinen Erwartungen an das fremde Land, die durch zuvor Gelesenes und Gehörtes entstanden sind. Hauptquelle seiner stereotypischen Vorstellung ist ausgerechnet die Figur Tartarin de Tarascon des französischen Schriftstellers Alphonse Daudet,780 die in einem Zyklus parodistischer Abenteuerromane (»Aventures prodigieuses de Tartarin de Tarascon«, 1872; »Tartarin sur les Alpes«, 1885; »Port-Tarascon. Dernières Aventures de l’illustre Tartarin«, 1890) eine Reihe vermeintlicher Heldentaten vollbringt  – denn viele dieser Abenteuer sind lediglich der Phantasie des Protagonisten entsprungen. Im ersten der drei Romane fährt der Aufschneider Tartarin als Resultat entsprechender Gerüchte zu seiner eigenen Überraschung schließlich tatsächlich nach Afrika (Algerien) auf Löwenjagd, gibt dabei durchgängig ein erbärmliches Bild ab, erschießt schließlich ›heldenhaft‹ einen ihm vorgeführten alten, blinden, zahmen Löwen – und wird zu Hause, nach entsprechender ›Anpassung‹ des Sachverhalts in den ihm vorauseilenden Berichten, als mutiger Löwenjäger gefeiert: »›Vive Tartarin! vive le tueur des lions!‹«781 Bereits durch die Nennung von Tartarin als Informationsquelle wird also indirekt, für den abstrakten Leser mit entsprechendem Hintergrundwissen, angekündigt, dass die Erwartungen des Protagonisten aus »Zoloto i šachtëry« an sein Reiseziel höchstwahrscheinlich enttäuscht werden, da sich Abenteuerbericht und Realität bei Daudet auf bisweilen absurde Weise voneinander unterscheiden. Tatsächlich trifft der Protagonist in Alexandria dann nicht auf Löwen und Wüste, sondern auf Wasser, Gärten, Pflanzungen und Palmen, also auf kultivierte, quasi gezähmte Natur und Überfluss – »но пустыни тут не было«.782 Jedoch gibt er sich keineswegs damit zufrieden, die nunmehr durch die Wirklichkeit widerlegte Vorstellung in seinen Berichten gegenüber den anderen Matrosen zu korrigieren. Stattdessen schmückt er das bestehende stereotype Bild weiter aus, indem er seinen Mitreisenden gegenüber behauptet, in der Wüste von einem Beduinen angegriffen worden zu sein und 779 Vgl. ZS , 403. 780 Vgl. ZS , 403. 781 Daudet, Alphonse: Aventures prodigieuses de Tartarin de Tarascon. Paris 1886, 258. 782 ZS , 403. Dt.: »aber eine Wüste gab es hier nicht«.

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die – selbst gekaufte – Blume von einer schönen Araberin geschenkt bekommen zu haben.783 Hierin bestätigt er gleich zwei Stereotype über den Orient zugleich: den des gefährlichen Wilden wie auch den der exotischen (oft auch erotischen) Schönheit. Grin thematisiert somit in »Zoloto i šachtëry« das in vielen Reisetexten, seien es (vermeintlich) faktographische Reiseberichte oder fiktionale Reiseromane oder -erzählungen, anzutreffende Muster, dass bereits vorhandene Stereotypen in den Texten fortgeschrieben werden, um Leser- bzw. Zuhörererwartungen zu erfüllen oder die eigene ursprüngliche Vorstellung aller gegenteiligen Evidenz zum Trotz zu bewahren. Ebenfalls in diesem kurzen Textausschnitt enthalten sind die beiden in einem solchen Fall möglichen Verhältnisse des Berichts des Reisenden zur ›objektiven‹ Realität: Entweder besteht keinerlei reale Grundlage für die Behauptung, diese speist sich ausschließlich aus mitgebrachten Vorstellungen – wie im Beispiel des Beduinenangriffs; oder die Darstellung hat einen realen Kern, wird aber den vorhandenen Stereotypen gemäß verändert – so im Falle der Blume, die der Protagonist selbst kauft, während er später behauptet, sie von einer orientalischen Schönheit erhalten zu haben. In derselben Erzählung findet sich ein zweites Beispiel für den Umgang mit enttäuschten Erwartungen in Bezug auf einen unbekannten Raum, wobei es sich diesmal um einen innerhalb des eigenen Raums gelegenen handelt: den Ural, der die Grenze zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil Russlands bildet und damit ebenfalls ein Element des Fremden in sich trägt. Dieses zweite Beispiel ist weitgehend analog zum ersten aufgebaut: Der Protagonist unternimmt erneut eine Reise und kehrt mit einem weitgehend ausgedachten Bericht von ihr zurück. Diesmal erzählt er seinem Vater, er habe sich im Ural einer Bande von Räubern (russ.: razbojniki) angeschlossen, womit er ebenfalls bestehende, an Abenteuerromane erinnernde Erwartungen bedient. Wie im Falle der Blume aus Alexandria hat auch diese Geschichte eine deutlich unspektakulärere reale Basis, die im weiteren Verlauf von »Zoloto i šachtëry« gleichsam nebenbei enthüllt wird, als der Protagonist die Bedeutung des zu razbojnik teilweise synonymen Begriffs chiščnik (dt.: Raubtier, Räuber) im Kontext der Goldfelder, auf denen er sich in Wirklichkeit aufgehalten hat, erklärt: »Такое имя носят люди, добывающие золото на свой риск и страх в частных и казенных владениях. Их ловят, а иногда убивают на месте; о битвах и перестрелках хищников с стражниками я наслышался всласть.«784 Die Verschiebung von der Wirklichkeit zur Phantasie basiert hier also auf der Polysemie des Lexems chiščnik, dessen ursprüngliche Bedeutung, 783 Vgl. ZS , 403. 784 ZS , 408. Dt.: »Diesen Namen tragen Leute, die auf eigene Faust Gold in privaten und staatlichen Besitzungen abbauen. Sie werden gefangen und manchmal an Ort und Stelle getötet; von den Kämpfen und Schusswechseln der chiščniki [Räuber] mit den Wachmännern habe ich zur Genüge gehört.«.

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›Räuber‹, in den vorliegenden Kontext übernommen und phantasievoll ausgeschmückt wird. Der fremde Raum wird auf diese Weise einerseits angeeignet und in seiner Alienität abgemildert, indem er in bestehende Interpretationsmuster eingefügt wird (es erfolgt also eine Versicherung der dem Selbst gesetzten (Wissens-) Grenzen) – notfalls auch durch Veränderung der realen Tatsachen –, bleibt andererseits aber auch gerade dadurch fremd (unvertraut), weil durch eine a priori vorhandene Perspektivierung ein unvoreingenommener Blick auf ihn, d. h. auch auf diejenigen Aspekte, die die bestehenden Erwartungen nicht erfüllen, be- oder sogar gänzlich verhindert wird. »D’ javol Oranževych Vod« Der Aspekt der (vermeintlich) vom Fremden ausgehenden Gefahr, der in »Zoloto i šachtëry« sowohl in der stereotypen Erwartung (Löwen, Wüste als lebensfeindliche Natur) als auch in der Erfindung (Beduinenangriff, Räuberbande) enthalten ist und in »Noč’ju i dnëm« als zentrales Thema verhandelt wird, spielt auch in der Erzählung »D’javol Oranževych Vod« (1913; dt.: »Der Teufel der Orangefarbenen Wasser«)785 eine wichtige Rolle. Bereits in der Rahmenhandlung werden hier strukturell Eigenes und Fremdes als Gegensätze markiert, wobei dem gefährlichen Fremden, wohlgemerkt aus der Distanz, in Bezug auf seine Attraktivität deutlicher Vorrang vor dem Eigenen als Gewöhnlichem eingeräumt wird. Die genaue Verortung dieses Eigenen bleibt zwar offen, bei den zwei Protagonisten der Rahmenhandlung scheint es sich aber um Europäer zu handeln, wobei der Name des einen, Bangok, durch die lautliche Ähnlichkeit mit ›van Gogh‹ (russ.: Van Gog) möglicherweise einen Hinweis auf die Niederlande als Herkunftsort der beiden liefert.786 Bangok, der spätere diegetische Erzähler der Binnenhandlung, bietet darin dem krank im Bett liegenden Inger verschiedene Themen an, von denen er ihm zur Unterhaltung berichten könne: z. B.  Baumaßnahmen, Gesetzesänderungen oder andere politische Entscheidungen, was Inger jedoch gelangweilt ablehnt. Die Auflistung wenig attraktiver Themen treibt Bangok wie folgt auf die Spitze: »›Ну‹, посмеиваясь, продолжал Бангок, ›что-нибудь о народном быте?‹«,787 beispielsweise »,[…] o […] вареном картофеле? […]‹«788 Darauf785 Vgl. Grin, Aleksandr S.: D’javol Oranževych Vod. In: Ders.: Sobranie sočinenij v šesti tomach. Tom 1. Moskva 1980, 385–406. Kürzel: DO. 786 Varlamov bezeichnet Bangok als Engländer; allerdings ist diese Information an keiner Stelle der Erzählung enthalten (vgl. Varlamov: Aleksandr Grin, 107). 787 DO, 387; Hervorhebung im Original. Dt.: »›Na‹, fuhr Bangok lachend fort, ›etwas über den volkstümlichen Alltag?‹«. 788 DO, 387. Dt.: »›[…] über […] eine gekochte Kartoffel? […]‹«. In »Fandango« nimmt Grin das Motiv der Kartoffel als Symbol für das Eigene und im Vergleich mit fremden (südlichen) Ländern wenig Attraktive wieder auf: Das Geschenk kubanischer Mädchen an die Bevölkerung des kalten, unterversorgten nachrevolutionären Petrograd füge der

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hin fordert Inger ihn dazu auf, von seinen Reisen zu erzählen, also von strukturell fremden Räumen, und vor allem von ihren Gefahren: »›О пропастях, пещерах, вулканах, циклонах, каннибалах… […]‹«.789 Der Schauplatz der daraufhin von Bangok geschilderten Geschichte »о дьяволе Оранжевых Вод«,790 die die Binnenerzählung bildet, liegt zwischen den beiden fiktiven Orten Port-Mel’ und San-Riol’ irgendwo auf der Schiffsroute von Australien nach China. Im erstgenannten Hafen werden die beiden als blinde Passagiere reisenden Protagonisten der Binnenerzählung, Bangok selbst und ein Russe namens Ivan Baranov,791 nach ihrer Entdeckung durch den Kapitän ihres Schiffs abgesetzt. Noch vor der Ankunft in Port-Mel’ überkommt den Russen Baranov ein starkes Fremdheitsgefühl, das er explizit thematisiert, um seine große nervliche Anspannung zu erklären: »Вы плывете куда-то на большом, чужом пароходе, по чужому морю, кругом ночь, тишина, звезды, все спят. Понимаете? Человек трагически одинок.«792 Diese Fremdheit, die sich als Gefühl der Verlorenheit aufgrund einer allgemeinen Nichtzugehörigkeit in der Grenzenlosigkeit des Meeres beschreiben lässt, wird nach der Ankunft im Hafen durch eine spezifischere, kulturell bedingte Nichtzugehörigkeit abgelöst. Bereits dort begegnen den beiden Protagonisten eine »кучка туземцев и человек пять европейцев«.793 Dass auch die ver-

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»повесть о картофеле и холодных квартирах« (FA , 523. Dt.: »Erzählung von Kartoffeln und kalten Wohnungen« (FAd, 180)) etwas Helles und Exotisches hinzu. DO, 387. Dt.: »›Über Abgründe, Höhlen, Vulkane, Zyklone, Kannibalen… […]‹«. DO, 387. Dt.: »über den Teufel der Orangefarbenen Wasser«. Der Russe wird von Grin nicht ohne (Selbst-)Ironie als gescheiterter politischer Aktivist dargestellt: »›[…] Я, позвольте представиться, русский, Иван Баранов, эмигрант политический.‹« (DO, 389. Dt.: »›[…] Ich, wenn Sie erlauben mich vorzustellen, bin Russe, Ivan Baranov, politischer Emigrant.‹«). Seinem Gegenüber Bangok sind seine offensichtlich durch marxistische Lehren beeinflussten Gedanken, die er ausführlich darlegt, vollkommen fremd: »Я слушал, совершенно не понимая, что нужно от меня этому человеку. Он же продолжал говорить, закуривая все новые и новые папиросы, – о человечестве, борьбе классов, идеализме, духе и материи, о религии и машинах […]« (DO, 390. Dt.: »Ich hörte zu, ohne im Geringsten zu verstehen, was dieser Mensch von mir will. Er aber redete weiter, immer neue Zigaretten rauchend – über die Menschheit, den Klassenkampf, Idealismus, Geist und Materie, über Religion und Maschinen […]«). Später hält Baranov noch eine leidenschaftliche, aber pessimistische Rede über die Möglichkeiten des Proletariats und die Bedeutung des Geldes (vgl. DO, 393). Dass Grin Baranov autobiographische Züge verleiht, verrät die beiläufige Beschreibung seines Äußeren als »долговяз[ая] его фигур[а]« (DO, 391. Dt.: »seine baumlange Figur«), denn Grins eigener Spitzname bei den Sozialrevolutionären lautet, wie weiter oben erwähnt, ›Dolgovjazyj‹ (dt.: ›der Baumlange‹) oder ›Dlinnovjazyj‹ (dt.: ›der Lange‹, vgl. AP, 133; Sandler: Vokrug Aleksandra Grina, 432 u. 434). DO, 389. Dt.: »Sie fahren irgendwohin auf einem großen, fremden Dampfer, über ein fremdes Meer, ringsherum Nacht, Stille, Sterne, alle schlafen. Verstehen Sie? Der Mensch ist auf tragische Weise allein.«. DO, 390. Dt.: »Häuflein Eingeborener und fünf Europäer«.

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meintlichen Mitglieder der Eigengruppe, d. h. die Europäer, fremd sind, wird wenig später deutlich, als einer von ihnen nicht nur als äußerlich eigen-fremd, als »черный по-европейски, т. е. цвета жидкого кофе«794 beschrieben, sondern einige Sätze später ebenfalls als »тузем[е]ц[…]«795 bezeichnet wird. Nun befällt auch Bangok ein Gefühl der Fremdheit, das er ebenfalls explizit so benennt: »Я чувствовал себя […] чужим всему, что окружало меня.«796 Es handelt sich also um eine aktive, d. h. bei sich selbst festgestellte Fremdheit, die von einer komplementären passiven, den Menschen in Port-Mel’ und Umgebung zugeschriebenen Alienität begleitet wird. Gemeinsam mit Baranov, mit dem er nun eine unfreiwillige Schicksals­ gemeinschaft bildet, ist Bangok gezwungen, eine Möglichkeit zur Weiterreise zu finden, wobei die vielversprechendste Option darin besteht, fünfzig Werst bis zum nächsten Hafen nach San-Riol’ zu gehen und dort ein Schiff nach Shanghai zu besteigen.797 Der Weg dorthin führt durch den tropischen Wald und birgt eine Reihe von Gefahren, z. B. durch Schlangen,798 giftige Beeren799 und das ungewohnte, heiße Klima,800 vor allem aber von Seiten der Einheimischen. Deren Angriff mit Gewehren hat jedoch nichts damit zu tun, dass Bangok und Baranov Fremde sind, sondern einzig und allein damit, dass sie eine Draisine stehlen, um mit ihr auf den Gleisen ein Stück des Weges von Port-Mel’ nach San-Riol’ zurückzulegen. Als ihnen eine Lokomotive auf demselben Gleis entgegenkommt und ihr Diebstahl damit entdeckt wird, flüchten die beiden Männer, »[о]чень хорошо понимая, что […] [им] грозит в случае поимки«,801 in den dichten Wald. Zunächst scheint es, als würde sich die Natur mit den Verfolgern verbünden oder sogar mit ihnen verschmelzen: Сырые, дикие заросли, сумрак и раскидистые кроны деревьев теснили нас; мой бег походил на драку в толпе, – невидимые враги били меня по лицу, рукам и всему телу мясистыми, зелеными узлами растительных канатов, острыми, как сабли, листьями и твердыми сучьями. С насыпи донесся заглушенный лесом хор восклицаний; тотчас же, прибавив ногам бодрости, хлопнули выстрелы магазинок, и пули, резко визжа, просекли над головой листву.802 794 795 796 797

DO, 391. Dt.: »schwarz auf europäische Art, d. h. mit der Farbe von dünnem Kaffee«. DO, 392. Dt.: »Eingeborener«. DO, 391. Dt.: »Ich fühlte mich […] allem fremd, was mich umgab.«.

Varlamov behauptet fälschlicherweise, Bangok äußere den Plan, sich zu Fuß nach Shanghai durchzuschlagen (vgl. Varlamov: Aleksandr Grin, 107). 798 Vgl. DO, 397. 799 Vgl. DO, 400. 800 Vgl. DO, 391 f. u. 395. 801 DO, 396. Dt.: »sehr gut verstehend, was ihnen im Falle einer Ergreifung droht«. 802 DO, 396. Dt.: »Das feuchte, wilde Dickicht, die Dunkelheit und die weitverzweigten Baumkronen bedrängten uns; mein Lauf glich einem Handgemenge in einer Menschenmasse – unsichtbare Feinde schlugen mir mit fleischigen, grünen Knoten der Pflanzenseile, mit Blättern, scharf wie Säbel, und harten Ästen ins Gesicht, auf die Hände und

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Letztlich ist es aber gerade der Wald, der Bangok und Baranov Deckung bietet, sodass sie entkommen und ihren Weg zum nächsten Hafen fortsetzen können. Diese Umkehrung der Erwartung in Bezug auf die Bedrohlichkeit des fremden Raums wird später noch einmal aufgenommen, und zwar ebenfalls im Zusammenhang mit Schusswaffen, wenn die beiden Europäer aus Hunger einen Affen erschießen und essen. Nicht die exotische Natur wird also ihnen gefährlich, sondern sie der exotischen Natur. Der Tausch der Rollen und damit die (zumindest vorübergehende) Aufhebung der Grenzen werden in dieser Szene noch anhand von drei weiteren Details deutlich. Erstens töten die beiden Männer ausgerechnet einen Affen, also ein Tier mit großer Ähnlichkeit zum Menschen,803 während sie selbst wie Tiere über ihre Jagdbeute herfallen: Sie verschlingen gierig das noch rohe und warme Fleisch, Bangok isst den halbzerkauten Brei aus Nüssen, der sich noch im Mund des Tieres befindet.804 Zweitens verwechselt Bangok während dieses regelrechten Fressrausches den Körper des Tieres mit seinem eigenen: »я укусил себе палец«.805 Drittens schließlich unterhalten sich Bangok und Baranov nach dem Verzehr des Affen über ihre Lieblingsspeisen, wobei es zu folgendem Dialog kommt: »›Вы любите бифштекс по-татарски?‹, спросил, ковыряя в зубах, Баранов. ›Что это такое?‹ ›А… то, что мы сейчас ели. Сырое мясо.‹«806 Das heimische Lieblingsessen des Europäers (bzw. Russen) unterscheidet sich also nicht von dem animalisch-unkontrollierten Verschlingen des Affen im tropischen Urwald, womit sowohl die vermeintlich klare Grenze zwischen Mensch und Tier als auch die zwischen kulturell Eigenem und Fremden in Frage gestellt wird. Die genannten Aspekte bilden den Hintergrund für die zentrale Verkehrung der Erwartungen in Bezug auf die Verknüpfung von (struktureller) Fremdheit und Gefahr. Denn die eigentliche Bedrohung geht von dem im Titel genannten ›Teufel der Orangefarbenen Wasser‹ aus. Aufgrund seines außergewöhnlichen Namens ist zu erwarten, dass es sich dabei um eine Art Dämon – real existierend oder der Mythologie der Einheimischen entnommen – handelt, der in der exotischen Natur des Handlungsschauplatzes der Binnenerzählung lebt und auf den die Reisenden treffen. Diese Vermutung teilt offenbar auch der den ganzen Körper. Vom Fahrdamm erklang ein durch den Wald gedämpfter Chor von Rufen; sofort – den Beinen neue Kraft gebend – knallten die Schüsse der Magazine und die Kugeln, gellend kreischend, durchschlugen das Blätterwerk über meinem Kopf.«. 803 Zur bisweilen unheimlichen Ähnlichkeit zwischen Mensch und Affe vgl. Grins Erzählung »Obez’jana-sopun«, in der eine Gruppe Affen Menschen bei der Probe eines Theaterstücks beobachtet und die Szene selbst verblüffend genau nachspielt, wenn auch ohne den Spielcharakter der Handlungen zu begreifen. 804 Vgl. DO, 402. 805 DO, 402. Dt.: »ich biss mir in den Finger«. 806 DO, 403. Dt.: »›Mögen Sie Steak Tatar?‹, fragte, in den Zähnen stochernd, Baranov. ›Was ist das?‹ ›Ah… das, was wir jetzt gegessen haben. Rohes Fleisch.‹«.

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Protagonist aus der Rahmenhandlung, Inger, denn auf Bangoks Behauptung hin, dass es sich um eine wahre Begebenheit handelt, fragt er ungläubig: »›А дьявол?‹«807 Im Verlauf der Binnenerzählung beginnt der abstrakte Leser jedoch allmählich zu ahnen, dass dieser vermeintlich fremde Teufel – ähnlich wie in »Noč’ju i dnëm« – in Wirklichkeit ein Mitglied der Eigengruppe ist. Obwohl an keiner Stelle der Erzählung eine explizite Identifikation Baranovs als ›Teufel der Orangefarbenen Wasser‹ erfolgt, ist bereits die erste Szene, in denen sich die beiden blinden Passagiere auf dem Schiff erstmals begegnen, mit »Vstreča s d’javolom« (dt.: »Eine Begegnung mit dem Teufel«) überschrieben.808 Weitere drei Kapitel, die von Bangoks und Baranovs gemeinsamen Erlebnissen handeln, kündigen in ihren Titeln eine erste, zweite und dritte Versuchung durch den Teufel an.809 Eine indirekte Verbindung des Russen zum Teufel wird darüber hinaus über das Motiv des Horns hergestellt, erstens durch seinen Namen, Baranov (von russ. baran; dt.: Hammel, Widder), zweitens durch eine Beschreibung seines Verhaltens auf der Draisine: »[…] русский, схватившись за вторую ручку, лицом ко мне, наклонил, как бык, голову и начал работать«.810 Am Ende der Erzählung wird schließlich auch der rätselhafte, bis zu diesem Zeitpunkt innerhalb der Binnenerzählung nicht erwähnte hintere Bestandteil des Namens »Дьявол Оранжевых Вод«811 implizit aufgelöst und mit Baranov verknüpft, als die beiden Männer an einem Lagerfeuer am Fluss sitzen: »›Смотрите‹, сказал русский, ›обратите внимание на воду.‹ Костер […], далеко освещая реку, пылал, как горящий амбар. Красная, оранжевого цвета, вода окружала берег […]«.812

807 DO, 387. Dt.: »›Und der Teufel?‹«. 808 Vgl. DO, 388. Auch Varlamov und Rossel’s deuten Baranov als den ›Teufel der Orangefarbenen Wasser‹ (vgl. Varlamov: Aleksandr Grin, 108; Rossel’s: A. Grin. Iz neizdannogo i zabytogo, 642). Varlamovs Interpretation deckt sich weitgehend mit der hier vorgestellten, da auch er die Passivität und Willensschwäche des russischen Protagonisten betont (vgl. Varlamov: Aleksandr Grin, 108). Rossel’s dagegen legt in seiner Interpretation den Fokus auf die Eigenschaft des Egozentrismus, den er durch Baranov verkörpert sieht und von dem sich Grin mit Baranovs Erschießung durch Bangok in seinem Gesamtwerk verabschiedet habe (vgl. Rossel’s: A. Grin. Iz neizdannogo i zabytogo, 642). Eine solche Lesart entspricht der gängigen Darstellung einer Entwicklung von Grins Heldentypus vom egozentrischen Einzelgänger zum altruistischen positiven Helden (insbesondere nach der Revolution; siehe Kap. 2.2.5), trifft aber in der behaupteten Absolutheit nicht zu. 809 Vgl. DO, 392, 395 u. 402. 810 DO, 395. Dt.: »[…] der Russe, nachdem er den zweiten Griff gepackt hatte, mit dem Gesicht zu mir, neigte, wie ein Stier, den Kopf und begann zu arbeiten«. 811 DO, 385. Dt.: »Teufel der Orangefarbenen Wasser«. 812 DO, 405. Dt.: »›Schauen Sie‹, sagte der Russe, ›achten Sie auf das Wasser.‹ Das Lagerfeuer […], den Fluss weithin erhellend, loderte wie eine brennende Scheune. Rotes Wasser, orangefarben, umgab das Ufer […]«.

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Die drei genannten Versuchungen sind eigentlich Variationen immer derselben Versuchung: aufzugeben und zu sterben. Die passiv-schicksalsergebene Einstellung Baranovs steht von Beginn an in scharfem Gegensatz zur aktiven Haltung Bangoks. Schon direkt nach der Ankunft in Port-Mel’ schlägt Baranov, zu Bangoks großer Irritation, vor, nach dem Muster der Hungerstreiks in russischen Gefängnissen vorzugehen und sich, als Protest gegen die Ungerechtigkeiten des Lebens, einfach hinzulegen und auf den Tod zu warten.813 Bei der zweiten Versuchung kehrt Bangok von einem erfolglosen Jagdversuch auf Vögel zurück zu dem untätig wartenden Baranov, der auf die schlechte Nachricht, die die Männer näher an den Hungertod bringt, seltsam erfreut reagiert: »В его лице появилось странное выражение удовлетворения […]«.814 Dabei wird implizit sein Vorschlag aus der ersten Versuchung wieder aufgenommen: »Баранов лег, закрыв глаза; […] человек, лежавший передо мною, напоминал труп.«815 Als Bangok und Baranov schließlich ihr Ziel, die Stadt San-Riol’, erreichen, will Letzterer sich schließlich erschießen, besitzt aber selbst dafür nicht ausreichend Tatkraft, sodass Bangok diese Handlung für ihn übernimmt, da er erkennt, dass dies das Beste für seinen Gefährten ist; der Leichnam des ›Teufels‹ stürzt daraufhin in das vom Lagerfeuerschein gefärbte Wasser. Damit ist die größte Gefahr, die anders als erwartet nicht vom strukturell Fremden ausgeht, gebannt und Bangok setzt seine Reise nach Shanghai erfolgreich fort. Wie die Analysen der Konzeptionen des strukturell Fremden bei Grin zeigen, bildet den Kern ihrer Darstellung das Moment der Grenzüberschreitungen und -aufhebungen, die zwischen eigenem und fremdem Raum ebenso wie zwischen eigener und fremder Gruppe stattfinden, aber auch zwischen Realität und Imagination. Im Zuge dessen verschwimmen auch Identitäten, sowie, ganz wesentlich, axiologische Zuschreibungen. Das kulturell und / oder geographisch Fremde tritt sowohl als Faszinosum und positiver Impuls als auch als Auslöser von Furcht auf, wobei gerade die Spielart des Eigen-Fremden auf der Schwelle ein besonders stark ausgeprägtes Potential zur Verunsicherung aufweist. Die Umgangsstrategien gegenüber dem strukturell Fremden umfassen dementsprechend verschiedenste Abstufungen von seiner Aneignung bis hin zu seiner (physischen) Vernichtung. Die stark beunruhigende Wirkung des nicht genau verortbaren strukturell (Eigen-)Fremden kommt im Falle des im Folgenden betrachteten radikal Fremden, das sich durch seine Zuordnung zur Atopie grundsätzlich einer Verortung entzieht, noch stärker zum Ausdruck. 813 Vgl. DO, 393 f. 814 DO, 400. Dt.: »Auf seinem Gesicht erschien ein merkwürdiger Ausdruck von Zufriedenheit […]«. 815 DO, 400. Dt.: »Baranov legte sich hin und schloss die Augen; […] der Mann, der vor mir lag, erinnerte an einen Leichnam.«.

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Erscheinungsformen des radikal Fremden bei Grin – Überblick

Zu den Phänomenen des radikal Fremden, die »den jeweiligen Welthorizont [sprengen], weil sie alles in ein neues Licht oder in einen neuen Schatten rücken«,816 zählen in Grins Werk vor allem Übernatürliches (Magisches), Rausch und Traum (auch Fieber- und Wachtraum) sowie Tod und Eros. Die beiden Bewusstseinszustände Traum und Rausch werden unter anderem in den Werken »Fandango« und »Rasskaz Birka« (1910; dt.: »Birks Erzählung«),817 die später noch genauer vorgestellt werden, behandelt, weshalb sie an dieser Stelle keine genauere Betrachtung finden sollen. Der Eros, im Sinne der antiken Philosophie verstanden als sehr starkes, oft irrationales Begehren und bisweilen übermenschliche Macht, tritt bei Grin fast ausschließlich als ›keusche‹, asexuelle Liebe in Erscheinung.818 Ungeachtet dessen besitzt er nicht selten einen entscheidenden Einfluss auf das Denken und Handeln der Protagonisten, wie z. B. in der bereits kurz vorgestellten Erzählung »Ogon’ i voda«. In der ebenfalls schon erwähnten Erzählung »Pozornyj stolb« entführt Goan Gnor gewaltsam Dėzi,819 und wird dabei vom Eros wie von einer unsichtbaren Macht geleitet. Schon nach seinem ersten Gespräch mit dem Mädchen einige Tage zuvor steht er von seinen Emotionen überwältigt vor ihm, »с жалким лицом, бледный и не в себе«.820 Das Wirken der fremden Macht des Eros erklärt auch die Entführung, die eigentlich nicht seinem Wesen entspricht: »[…] никто не ожидал от этого человека такого бешеного поступка.«821 Als der Entführer nach seiner Bestrafung am Schandpfahl den Ort für immer 816 Waldenfels: Topographie des Fremden, 64. 817 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Rasskaz Birka. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 337–351. Kürzel: RB. 818 Vgl. hierzu Nina Grins Bemerkung zu Grins »[и]скание не тела женщины, а души ее« (Grin, N.: Vospominanija ob Aleksandre Grine. Memuarnye očerki, 89. Dt.: »Suche nicht nach dem Körper einer Frau, sondern ihrer Seele«). Vgl. hierzu auch Belogorskaja, Ljudmila: Nina Grin i Vera Kalickaja v sud’be Aleksandra Grina. Po knigam vospominanij. In: Nenada, Alla (Hg.): Aleksandr Grin: Tvorčeskaja biografija. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2014, 11–20, hier 17. 819 In Grins Roman »Beguščaja po volnam« tritt erneut ein Mädchen namens Dėzi als Angebetete eines Protagonisten auf. 820 PO, 495. Dt.: »mit erbarmungswürdigem Gesicht […], bleich und wie von Sinnen« (Grin, Alexander: Der Schandpfahl. Aus dem Russischen von Renate Landa. In: Ders.: Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1989, 26–35, hier 28. Kürzel: POd). 821 PO, 495. Dt.: »Niemand hatte von diesem Mann solch eine Wahnsinnstat erwartet.« (POd, 27).

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verlässt, geht Dėzi überraschend – und nunmehr freiwillig – mit ihm fort. Die Erzählung schließt mit der Märchenformel: »Они жили долго и умерли в один день.«822 Oftmals aber enden die Geschichten von großer Liebe und machtvollem Verlangen bei Grin weit weniger glücklich. In »›Ona‹« beispielsweise verzehrt sich der Protagonist vor Sehnsucht nach seiner verlorenen Geliebten und widmet sein Leben der Suche nach ihr. Die bei Grin fast immer vorliegende Trennung von Eros und Sexualität wird hier besonders deutlich, da der Protagonist sich immer wieder für körperliche Intimität mit einer anderen Frau, vermutlich einer Prostituierten, trifft, was ihn aber nicht von seinem übermächtigen, sein ganzes Leben bestimmenden Verlangen nach ›ihr‹ ablenken kann.823 Als der Protagonist die verlorene Geliebte schließlich wiederfindet, ist er davon so überwältigt, dass er stirbt.824 In einer Reihe weiterer Erzählungen gehen ebenfalls mit Eros und Tod zwei Erscheinungsformen des radikal Fremden miteinander einher, und zwar in Form eines Mordes an einem Nebenbuhler. Die Erzählung »Ciklon v Ravnine Doždej« (1909; dt.: »Der Zyklon in der Regenebene«)825 handelt von der Konkurrenz der Brüder Žip und Riol’ um das Mädchen Meri, das die Partnerin des Zweitgenannten ist. Die emotionale Aufgewühltheit Žips angesichts dieser Situation wird von einem heraufziehenden heftigen Unwetter widergespiegelt, das sinnbildlich für die unkontrollierbare, gleichsam kosmische Macht des Eros steht: »Его горе, мучившее его бессонницей и тяжелыми ночными слезами, казалось, нашло себе выход в притаившемся неистовстве атмосферы.«826 Mit dem Hereinbrechen des im Titel genannten Zyklons entlädt sich auch die Anspannung des enttäuschten Liebenden und er erschießt in einem Anfall von eifersüchtiger Raserei, während dem er keine Kontrolle mehr über sich selbst hat, seinen Bruder. Sobald der Schuss abgegeben ist, beruhigt sich das Unwetter – »И вдруг […] упал вихрь.«827 – und Žip wird sich seiner Tat bewusst. Ebenfalls auf einer Dreiecksgeschichte basiert die Erzählung »Žizn’ Gnora« (1912), diesmal zwischen Gnor – ob es sich dabei um denselben handelt wie in »Pozornyj stolb«, ist unklar  –, Ėnniok und Karmen. Nachdem sie zwei 822 PO, 498. Dt.: »Sie lebten lange und starben am selben Tag.« (POd, 35). 823 Vgl. ON, 280 f. 824 Vgl. ON, 284 f. 825 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Ciklon v Ravnine Doždej. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Rasskazy 1906–1912. Moskva 1991, 268–273. Kürzel: CR . 826 CR , 269. Dt.: »Sein Kummer, der ihn mit Schlaflosigkeit und schweren nächtlichen Tränen gequält hatte, schien in der schwelenden Raserei der Atmosphäre einen Ausweg zu finden.« (Grin, Alexander: Der Zyklon in der Regenebene. Aus dem Russischen von Renate Landa. In: Ders.: Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1989, 15–25, hier 17. Kürzel: CRd). 827 CR , 273. Dt.: »Da brach […] der Sturm zusammen.« (CRd, 25).

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Monate lang zu dritt zusammengelebt haben und Karmen Ėnniok abgewiesen hat, sorgt dieser schließlich dafür, dass sein Nebenbuhler Gnor mit ihm auf seiner Jacht mitfährt. Unter dem Vorwand, Gnor einen Mann vorstellen zu wollen, der angeblich wie Robinson Crusoe isoliert auf einer einsamen Insel lebt, lockt Ėnniok seinen Konkurrenten auf besagte Insel und lässt ihn dort zurück, um ihn aus dem Weg zu schaffen. Der Mann auf der Insel, von dem Ėnniok zuvor erzählt hat, ist bzw. wird also Gnor, was sich bereits in Ėnnioks Aussagen über den Inselbewohner vor der Umsetzung seines Plans andeutet: »›[…] Он среднего роста, сильно похож на вас.‹«,828 »›Я сам состряпал его. Это мое детище.‹«829 oder »›Я, видите ли, прихожусь ему духовным отцом. Все объяснится.‹«830 Als Gnor nach acht Jahren von der Insel gerettet wird, konfrontiert er seinen Konkurrenten, der sein Handeln mit der unkontrollierbaren Macht der Leidenschaft erklärt: »›Мы, Гнор, любим одну женщину. Она предпочла вас; а моя страсть поэтому выросла до чудовищных размеров. И это, может быть, мое оправдание. […]‹«.831 Nach einem verlorenen Kartenspiel, bei dem der Einsatz das eigene Leben ist, ist Ėnniok schließlich verpflichtet, sich selbst zu töten, denn Gnor betont noch einmal: »›Вдвоем нам не жить на свете. […]‹«.832 Auch in der Erzählung »Četyrnadcat’ futov« (1925; dt.: »Vierzehn Fuß«)833 endet eine Dreiecksverbindung mit dem Tod eines der Kontrahenten. Dieses Mal aber kommt, neben dem Eros und dem Tod, noch eine dritte Erscheinungsform des radikal Fremden ins Spiel: das Unbewusste. Nachdem die beiden Freunde Rod und Kist von ihrer Angebeteten Kėt beide abgewiesen wurden, verlassen sie gemeinsam die Stadt. Auf ihrem Weg müssen sie eine vierzehn Fuß breite Schlucht überwinden und beschließen, darüber zu springen. Während Rod bei Kists Sprung unwillkürlich seine eigenen Muskeln mit anspannt, um ihm gleichsam zu helfen, stellt sich Kist bei Rods Sprung vor, wie dieser in die Schlucht stürzt und stirbt, ohne diesen Gedanken kontrollieren zu können: »Это была подлая мысль – одна из тех, над которыми человек не властен.«834 Tatsächlich prallt Rod daraufhin gegen den Rand 828 ŽI, 616. Dt.: »›[…] Er ist von mittelgroßem Wuchs, Ihnen sehr ähnlich.‹«. 829 ŽI, 616. Dt.: »›Ich selbst habe ihn ausgetüftelt. Das ist mein Kind.‹«. 830 ŽI, 616. Dt.: »›Ich, sehen Sie, bin als geistiger Vater mit ihm verwandt. Alles wird sich aufklären.‹«. 831 ŽI, 635. Dt.: »›Wir, Gnor, lieben dieselbe Frau. Sie hat Sie vorgezogen; und meine Leidenschaft ist deshalb zu monströsen Ausmaßen herangewachsen. Und das ist vielleicht meine Rechtfertigung. […]‹«. 832 ŽI, 637. Dt.: »›Zu zweit können wir nicht auf der Welt leben. […]‹«. 833 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Četyrnadcat’ futov. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 399–403. Kürzel: ČF. 834 ČF, 402. Dt.: »Das war ein niederer Gedanke – einer von denen, über die der Mensch keine Macht hat.«.

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der Schlucht und droht abzustürzen. Als Kist versucht, ihn festzuhalten, stößt Rod ihm sein Messer in die Hand, sodass dieser loslässt und Rod in den Tod stürzt. Rods Gründe für diese Entscheidung sind ebenso ambivalent wie das Verhältnis der beiden Protagonisten: Er will damit einerseits verhindern, dass sein Freund Kist mit ihm gemeinsam in die Tiefe fällt und stirbt, gibt aber andererseits seinem Nebenbuhler Kist eine schwere Last mit auf den Weg, indem er ihn in seinen letzten Worten an das Dreiecksverhältnis erinnert und damit andeutet, dass Kist durch die Gedanken während des Sprungs für seinen Tod verantwortlich ist.835 Der Tod selbst wird ebenfalls in zahlreichen Werken Grins thematisiert und steht in einigen davon sogar im Mittelpunkt der Handlung, z. B. in der in Kapitel 4.4.1 vorgestellten Erzählung »Zagadka predvidennoj smerti«. In der bereits kurz erwähnten, während des Ersten Weltkriegs entstandenen Erzählung »Povest’, okončennaja blagodarja pule« sucht ein Schriftsteller nach den Gründen der Protagonistin seiner im Entstehen befindlichen Erzählung, einen Selbstmordanschlag nicht zu realisieren, also sowohl sich selbst als auch die Anschlagsopfer vor dem sicheren Tod durch eine Bombe zu bewahren. Allerdings scheitert sein Versuch, sich in das Bewusstsein der Heldin im Angesicht des Todes hineinzuversetzen – notwendigerweise, da der Tod sich einem rationalen Verstehen und Aneignen entzieht. Erst als der Autor als Kriegsberichterstatter an die Front geht und dort schwer verwundet wird, hilft ihm sein eigener drohender Tod, die Entscheidung seiner Protagonistin zu verstehen. Dabei stellt er fest, dass seine bisherigen, theoretischen Vorstellungen von den Gefühlen eines Sterbenden – »испуг, тоск[а], отчаяние, гнев на судьбу и т. д.«,836 für deren Beschreibung er Dutzende von Seiten aufwendet, der Realität keineswegs entsprechen. Der Tod zeigt sich ihm nun vielmehr in seiner Essenz, nämlich als das radikal Fremde, Unbekannte: »Первая мысль была о смерти, то есть о неизвестном, и была поэтому собственно мыслью о предстоящей, быть может, в скором времени потере сознания, на что сознание ответило возмущением и недоумением.«837 Ebenfalls um die Unmöglichkeit eines Begreifens des Todes durch einen Lebenden geht es in der Erzählung »Mat v tri choda«. Deren Protagonist sucht einen Psychiater auf, da er wie besessen nach Erkenntnissen über das Universum, die Ewigkeit und den Tod strebt, also nach dem, was »уму непостижимо«,838 radikal fremd ist. Da er jedoch befürchtet zu sterben, sollte 835 Vgl. ČF, 402. 836 PP, 266. Dt.: »Schreck, Schwermut, Verzweiflung, Wut auf das Schicksal usw.«. 837 PP, 267. Dt.: »Der erste Gedanke war einer über den Tod, das heißt über das Unbekannte, und es war deshalb eigentlich ein Gedanke über den vielleicht bald bevorstehenden Verlust des Bewusstseins, worauf das Bewusstsein mit Entrüstung und Befremden antwortete.«. 838 MV, 174. Dt.: »für den Verstand unbegreiflich«.

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er die unfassbaren Antworten finden, bittet er den Arzt, ihn durch die Worte »мат в три хода«839 im letzten Moment aus seinem Denkprozess zu reißen. Der Arzt vergisst jedoch in seiner Verwirrung angesichts des ungewöhnlich stark aufgewühlten Patienten, der durch seine Reflexion tatsächlich Wissen über das nicht zu Wissende erlangt hat, die vereinbarten Worte, sodass der Protagonist stirbt, wie er es selbst erwartet hatte. Das ebenfalls der Kategorie des radikal Fremden zuzuordnende Übernatürliche schließlich spielt bei Grin eine überaus wichtige Rolle. In einer ganzen Reihe von Grin-Texten finden sich Ereignisse, die im Widerspruch zu den Naturgesetzen stehen. Zum Teil handelt es sich dabei um Werke, in denen das Übernatürliche einen integralen Bestandteil der Diegese darstellt, sodass in ihr andere Gesetze als in der außerliterarischen Welt gelten. Oftmals rufen die übernatürlichen Ereignisse zwar Verwunderung oder Ungläubigkeit bei einigen handelnden Figuren hervor, dennoch erfolgt die Darstellung des Übernatürlichen auf eine Weise, die beim abstrakten Leser keinen Zweifel aufkommen lässt, dass dieses innerhalb der Diegese wirklich existiert. Ein solcher Fall liegt beispielsweise bei dem bereits erwähnten Roman »Blistajuščij mir« vor, in dessen Zentrum ein fliegender Mensch steht. In der Erzählung »Putešestvennik Uy-F’ju-Ėoj« (1923; »Der Reisende Uy-Fju-Eoj«)840 tritt der Wind als anthropomorphe Allegorie in Erscheinung. Der Protagonist, ein weitgereister Mann, der dennoch unzufrieden ist, weil er nur einen Bruchteil der Welt gesehen hat, trifft ihn eines Tages auf der Straße: Пока я протирал глаза, было слышно, как возле меня сопит и свистит, временами тяжело отдуваясь, некий человек в грязном и лохматом плаще. Плащ был из парусины, такой штопаной и грязной, что, надо думать, побыла она довольно на мачте. Его мутная борода торчала вперед, как клок сена, удерживаемая в таком положении, вероятно, ветром, который вдруг стал порывист и силен. […] Как поднялась пыль, то я не мог толком рассмотреть его лицо… Черты эти перебегали, как струи; я припомнил лишь огромные дыры хлопающих, волосатых ноздрей и что-то чрезвычайно ветреное во всем складе пренеприятной, хотя добродушной, физиономии. […] я никогда не слышал, чтобы у человека так завлекательно свистело в носу.841 839 MV, 173. Dt.: »Matt in drei Zügen«. 840 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Putešestvennik Uy-F’ju-Ėoj. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 241–244. Kürzel: UF. 841 UF, 242; Hervorhebung im Original. Dt.: »Während ich mir die Augen rieb, konnte ich hören, wie neben mir ein gewisser Mann in einem schmutzigen und zerzausten Regenmantel schnaufte und pfiff und dabei bisweilen schwer atmete. Der Regenmantel war aus Segeltuch, welches so oft geflickt und dreckig war, dass man denken musste, dass es reichlich Zeit am Mast verbracht hatte. Sein matter Bart ragte vorwärts, wie ein Büschel Heu, und wurde in dieser Position wahrscheinlich durch den Wind gehalten, der

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Der Wind, dessen onomatopoetischer Name Uy-F’ju-Ėoj den sein Sprechen begleitenden Geräuschen entspricht,842 erklärt dem Reisenden, dass nur er allein die ganze Welt gesehen habe – und verschwindet dann wieder, einen windstillen Ort zurücklassend. Deutliche Züge eines Märchens enthält die Erzählung »Gatt, Vitt i ­Redott«. Die drei Titelhelden, die sich in Afrika auf Diamantensuche befinden, erhalten darin von einem geheimnisvollen, in der Nacht am Lagerfeuer erscheinenden Hindu jeweils ein Weizenkorn aus dem Grab von Ramses I., das demjenigen, der es isst, enorme physische Kraft verleiht.843 Sie gelangen also, mit Propp gesprochen, in den Besitz eines Zaubermittels (russ.: volšebnoe sredstvo).844 Die – wie so oft im Märchen – drei Protagonisten, die auch über die übereinstimmenden Endungen ihrer Namen miteinander verbunden sind, gehen – ebenfalls einem im Märchen häufigen Muster entsprechend – mit dem Zaubermittel in unterschiedlicher Weise um. Gatt schluckt das ganze Korn und hat nun enorme Kräfte, die er jedoch nicht zu beherrschen weiß, sodass er von einem selbsterzeugten Mahlstrom aus Wasser und Erde mitgerissen wird und stirbt.845 Vitt isst sein Weizenkorn nur zur Hälfte und ist nun in der Lage, Elefanten mit bloßen Händen zu fangen und ihnen die Stoßzähne auszureißen, findet im Zuge dessen Gefallen am Quälen verschiedener Tiere, die er beispielsweise zwischen seinen Fingern zerdrücken kann, und wird schließlich von einer Giftschlange getötet.846 Redott isst nur eine winzige Menge des Korns und kontrolliert und verbirgt seine Kräfte, um sie dann sinnvoll einzusetzen, wenn er sie wirklich benötigt. Als eines Tages eine Diamantenmine einstürzt, gelingt es Redott, die Eingeschlossenen zu retten, indem er eine ganze Seite des Berges verschiebt; jedoch stirbt er dabei selbst infolge der Anstrengung.847 Ebenfalls ein Zaubermittel von einer rätselhaften Person erhält der Protagonist Jung aus der Erzählung »Klubnyj arap« (1918), die im Herbst 1917 in Petrograd spielt. Dem Spieler, der sein gesamtes Vermögen verloren hat, hochverschuldet ist und an Suizid denkt, erscheint eines Tages eine Frau – sie plötzlich böig und stark wurde. […] Da Staub aufwirbelte, konnte ich sein Gesicht nicht vernünftig betrachten… Diese Züge liefen vorbei wie Strahlen; ich erinnerte mich nur an die gewaltigen Löcher der zuklappenden, haarigen Nasenlöcher und an etwas außerordentlich Windiges im ganzen Aussehen der äußerst unangenehmen, wenn auch gutmütigen, Physiognomie. […] ich habe nie gehört, dass es einem Menschen so hinreißend in der Nase pfiff.«. 842 Vgl. UF, 243. 843 Vgl. GV, 383. 844 Vgl. Propp: Morfologija skazki, 53. 845 Vgl. GV, 385 f. 846 Vgl. GV, 385–387. 847 Vgl. GV, 385 u. 387–390.

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wird sogar als »дарительница«848 bezeichnet –,849 die ihm ein magisches Kartenspiel überreicht, mit dessen Hilfe er in der Zeit reisen kann.850 Allerdings bleibt dessen Wirkung an seine Fähigkeiten als Spieler gebunden: Jung kann bzw. muss dabei eine beliebige Anzahl an Jahren, Monaten, Tagen, Stunden oder Minuten einsetzen. Gewinnt er, reist er in die Vergangenheit; verliert er, findet er sich entsprechend weit in der Zukunft wieder. Jung spielt um fünf Jahre und zwei Monate, um in die glückliche Vergangenheit mit seiner verstorbenen Frau zurückzukehren, verliert jedoch und findet sich ebenso weit in der Zukunft wieder; als er ein zweites Mal spielt, dieses Mal um die für die Erfüllung seines Wunsches jetzt notwendigen zehn Jahre und vier Monate, verliert er erneut und hat damit seine Lebenszeit aufgebraucht: Die Erzählung endet unvermittelt mit den Worten: »Все кончилось.«851 Auch hier gehen mit Tod und Magie also zwei Formen des radikal Fremden miteinander einher. Neben diesen Werken, in denen das Übernatürliche eindeutig Bestandteil der dargestellten Welt ist, existieren jedoch auch solche, in denen seine Existenz nicht zweifelsfrei bewiesen oder widerlegt werden kann. In diesem Fall liegt eine weitere, bislang nicht genannte Erscheinungsform des radikal Fremden vor, nämlich das Phantastische. Dieses spielt eine besonders herausragende Rolle sowohl im Kontext der Literatur im Allgemeinen als auch bei Grin im Besonderen. Aus diesem Grund wurden für die detaillierten Textanalysen in diesem Kapitel zwei Werke Grins exemplarisch ausgewählt, die das Phantastische be- und verhandeln. 4.3.2

Das Fremde und das Phantastische

Bevor dies geschieht, ist zunächst das besondere Verhältnis zwischen Fremdem und Phantastischem einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Das Phantastische ist nicht nur selbst radikal fremd, da es sich einer Eingliederung in die – bzw. überhaupt eine – Ordnung verweigert, sondern es enthält darüber 848 KL , 114. Dt.: »Schenkerin«. 849 Zur Figur des daritel’ vgl. Propp: Morfologija skazki, 49. Dt.: Schenker; vgl. Propp: Morphologie des Märchens, 79. 850 Vgl. an dieser Stelle die Parallelen zu Puškins »Pikovaja dama« (1834; dt.: »Pique-Dame«): u. a. das verlockende, doch am Ende Unglück bringende Kartenspiel, das Auftreten einer Frau mit (vermeintlich) übernatürlichen Kräften bzw. übernatürlichem Wissen in Bezug auf dieses Spiel, Sankt Petersburg als Schauplatz sowie die jungen, männlichen Protagonisten mit deutschen Namen (Jung bzw. Germann) (vgl. Puškin, Aleksandr S.: Pikovaja dama. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij v desjati tomach. Tom šestoj. Chudožestvennaja proza. Leningrad 1978, 210–237). 851 KL , 117. Dt.: »Alles war zu Ende.«.

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hinaus auch noch eine weitere Form des radikal Fremden, nämlich das Übernatürliche, das eines seiner beiden Pole, auf die im Folgenden eingegangen wird, darstellt. Noch bedeutender als diese doppelte radikale Fremdheit ist allerdings, dass sich in den Eigenschaften des Phantastischen eine Reihe von grundlegenden Charakteristika des Fremden, die im Theorieteil dieser Studie vorgestellt wurden, mit geradezu frappierender Deutlichkeit zeigt. Die wichtigste Grundlage für die folgenden Überlegungen ist die Studie »Introduction à la littérature fantastique« (1970) von Tzvetan Todorov. Darin findet sich folgender Ausgangspunkt für eine Definition des Phantastischen: »Dans un monde qui est bien le nôtre, celui que nous connaissons, sans diables, sylphides, ni vampires, se produit un événement qui ne peut s’expliquer par les lois de ce même monde familier.«852 Diese Bestimmung deckt sich mit der Definition von Roger Caillois, auf den Todorov in seinem Buch auch explizit Bezug nimmt: »[…] le fantastique est rupture de l’ordre reconnu, irruption de l’inadmissible au sein de l’inaltérable légalité quotidienne […]«.853 Der Referent des radikal Fremden ist im Falle des Phantastischen also grundsätzlich ein Abstraktum: eine Situation, mit der der Interpret des Fremden konfrontiert ist. Diese kann allerdings herbeigeführt werden in Gestalt einer Person bzw. Gruppe (personales Fremdes) oder einer Sache, aber auch durch ein Ereignis, also wiederum durch ein Abstraktum (nichtpersonales Fremdes). Wie aus beiden Zitaten abzuleiten ist, steht das Phantastische in einem dialektischen Verhältnis zum Ordnungsgemäßen, das seine Existenz erst ermöglicht –854 ebenso wie das Fremde zum Eigenen im Allgemeinen. Da das deiktische Zentrum, von dem aus die Welt wahrgenommen und diese Abgrenzung vorgenommen wird, grundsätzlich innerhalb der eigenen Ordnung verortet ist, erfolgt die Bestimmung des Phantastischen (wie des Fremden an sich) prinzipiell ex negativo, wie sich auch in Todorovs und Caillois’ Aussagen zeigt: Das Phantastische ist das, was nicht (in gewohnter Weise) erklärbar und nicht zulässig ist. In dem angeführten Zitat von Caillois klingt darüber hinaus an, dass das Phantastische, ebenfalls wie das unausweichlich als »Provokation«855 wirkende 852 Todorov, Tzvetan: Introduction à la littérature fantastique. Paris 1970, 29. 853 Caillois, Roger: Au cœur du fantastique. Paris 1965, 161; vgl. auch Caillois, Roger: De la féerie à la science-fiction. In: Ders.: Anthologie du fantastique. Tome 1. Angleterre, Irlande, Amérique du Nord, Allemagne, Flandres. Paris 1966, 7–24, hier 8 f. Vgl. dazu auch die sehr ähnliche Definition des Phantastischen als »l’irruption de l’étrange dans le réel quotidien« (Margotton, Jean-Charles: Le fantastique comme forme de l’étrange dans la littérature narrative. À propos de Thomas Glavinic: Le Travail de la nuit. In: Chapuis, Blandine / Chassagne, Jean-Pierre (Hg.): Étrangeté des formes, formes de l’étrangeté. Fremdheit der Formen, Formen der Fremdheit. Saint-Étienne 2013, 175–188, hier 175). 854 Vgl. Caillois: De la féerie, 9; Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 22. 855 Waldenfels: Topographie des Fremden, 51.

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Fremde im Allgemeinen, eine Herausforderung der existierenden rationalen Ordnung darstellt, »ein Skandalon für den auf logische Erklärungen versessenen Verstand«.856 Damit besitzt es grundsätzlich ein hohes subversives Potential, da es bestehende Ordnungsmuster unterminiert, und darüber hinaus sogar auf die Möglichkeit einer Kontingenz857 jeglicher Ordnung verweist.858 Auf diese fast schon paradoxe Beziehung des Phantastischen zur Ordnung weist Caillois an anderer Stelle explizit hin: »Le fantastique suppose la solidité du monde réel, mais pour mieux la ravager. Le moment venu, […] vacillent les certitudes les mieux assises […]«.859 Für den literarischen Text bedeutet dies, dass das Phantastische nur unter der Bedingung entstehen kann, dass der Leser den Text nicht allegorisch oder poetisch liest, sondern anfänglich davon ausgeht, dass in der Diegese dieselben (Natur-)Gesetze gelten wie in der außerliterarischen Welt –860 damit eben diese Überzeugung im Verlauf der Handlung infrage gestellt werden kann. Dementsprechend findet sich das Phantastische also z. B. nicht in Märchen oder Fabeln. Die Notwendigkeit einer Reaktion auf die Erschütterung durch das Phantastische betont Todorov in seinen weiteren Ausführungen zu dem genannten unerklärlichen Ereignis: Celui qui perçoit l’événement doit opter pour l’une des deux solutions possibles: ou bien il s’agit d’une illusion des sens, d’un produit de l’imagination et les lois du monde restent alors ce qu’elles sont; ou bien l’événement a véritablement eu lieu, il est partie intégrante de la réalité, mais alors cette réalité est régie par des lois inconnues de nous.861

Der Zeuge des Phantastischen sieht sich also mit einem grundsätzlichen Widerspruch konfrontiert: Es kann nur entweder das unerklärliche Phänomen als real oder die rationale Ordnung der Dinge als gültig anerkannt werden, nicht aber beides zugleich. Somit provoziert das Phantastische, wie das Fremde an sich, eine Entscheidung zwischen den zwei grundsätzlichen Möglichkeiten der Versicherung oder der Verhandlung in Reaktion auf die Verunsicherung. Die bis dahin bestehenden Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem, Ordentlichem und Außerordentlichem sind entweder in ihrer bestehenden Form zu bestätigen, indem das Phänomen als Sinnestäuschung oder Produkt 856 Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 22. 857 Zur Kontingenz bei Grin vgl. Bachmaier, Annelie: Zwischen Sinn, Wahnsinn und Nichtsinn. Intra- und extratextuelle Wirkungen von Kontingenz am Beispiel dreier Erzählungen A. Grins. In: Weigl, Anna / Nübler, Norbert / Naumann, Kristina / Völkel-Bill, Miriam / ​ Grahl, Susanne / Lis, Tomasz (Hg.): Junge Slavistik im Dialog VI . Beiträge zur XI . Internationalen Slavistischen Konferenz. Hamburg 2017, 21–33. 858 Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 30. 859 Caillois: De la féerie, 10 f. 860 Vgl. Todorov: Introduction à la littérature, 37. 861 Ebd., 29.

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der Einbildungskraft erklärt wird,862 oder (vorübergehend) aufzuheben und neu zu bestimmen, indem die reale Existenz eines Übernatürlichen anerkannt wird. Die entscheidende Instanz in Bezug auf diese Unschlüssigkeit ist der ­abstrakte Leser. Meist weist der Text auch mindestens eine handelnde Person auf, die ebenfalls vor der Entscheidung zwischen einer rationalen und einer irrationalen Erklärung der Ereignisse steht und mit der sich der Leser identifizieren kann. Dies stellt jedoch keine notwendige Bedingung für das Phan­ tastische dar.863 Dadurch nimmt das Phantastische eine Sonderstellung unter den mannigfaltigen Spielarten des literarisch verarbeiteten Fremden dar, da in der Regel die handelnden Figuren die Interpreten im Prozess der Fremdsetzung sind, während diese Rolle im Fall des Phantastischen notwendigerweise der Instanz des abstrakten Lesers zukommt. Das Phantastische löst sich in dem Moment auf, in dem die Entscheidung für eine der beiden Lösungen fällt: »Le fantastique occupe le temps de cette incertitude; dès qu’on choisit l’une ou l’autre réponse, on quitte le fantastique pour entrer dans un genre voisin, l’étrange ou le merveilleux.«864 Es existiert somit ausschließlich in einem Zustand der Suspension und Liminalität.865 Ein 862 Todorov unterscheidet hier zwei Arten der Unschlüssigkeit. Die Unschlüssigkeit zwischen Realem (frz.: le réel) und Illusorischem (frz.: l’illusoire) dreht sich um die Frage, ob es sich bei dem rätselhaften Phänomen um einen Betrug bzw. eine Sinnestäuschung handelt oder nicht; die Unschlüssigkeit zwischen Realem und Imaginärem (frz.: l’imaginaire) bezieht sich auf die Frage, ob eine Bestimmung der Erscheinung als Produkt der Einbildungskraft zutreffend ist oder nicht (vgl. ebd., 41). 863 Vgl. Todorov: Introduction à la littérature, 37 f. 864 Ebd., 29. Vgl. zum Übergang des Phantastischen ins Unheimliche die von Freud betonte Tatsache, dass es »oft und leicht unheimlich wirkt, wenn die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischt wird« (Freud: Das Unheimliche, 74). 865 Renate Lachmann trifft in ihrer Studie »Erzählte Phantastik« eine hiervon abweichende Aussage. Während nach Todorovs Definition das Phantastische verschwindet, sobald es eindeutig als Sinnestäuschung oder Phantasieprodukt identifiziert ist, bezeichnet Lachmann Erscheinungen dieser Art mit dem Begriff des »subjektiv Phantastische[n]« (Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt a. M. 2002, 22). Dazu zählen unter anderem Phantasmen, die auf Sinnestäuschungen, Träume, Halluzinationen, Angstobsessionen oder Fieberwahn zurückzuführen sind (vgl. ebd.). Ihnen gegenüber steht das »objektiv Phantastische« (ebd.), das zweifelsfrei als wunderbar oder übernatürlich identifizierte Phänomene enthält. Nach Todorov löst sich jedoch auch in diesem Fall das Phantastische mit dem Moment der eindeutigen Identifikation auf. Trotz dieser stark unterschiedlichen Annahmen über das Wesen bzw. die Existenzbedingungen des Phantastischen findet sich dennoch eine Übereinstimmung beider Ansätze. Was Lachmann als subjektive und objektive Phantasmen beschreibt, entspricht Todorovs Unterscheidung des Unheimlichen (frz.: l’étrange; Todorov verwendet diesen Begriff explizit als Übersetzung des Begriffs des Unheimlichen von Freud; vgl. Todorov: Introduction à la littérature, 52) nach der Identifikation des rätselhaften Phänomens als

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analoges Prinzip gilt auch für das Fremde an sich, das sich »zeigt […], indem es sich entzieht«866 und verschwindet, sobald es entweder vollständig angeeignet wird oder sich so weit entfernt, dass es, wie Simmels Bewohner des Sirius,867 in keiner Beziehung zum Eigenen mehr steht. Das Phantastische vereint in sich die Figuren der Schwelle, d. h. des ›Dazwischen‹, von dem aus der Übergang auf eine der beiden Seiten potentiell möglich ist, und der Atopie, da es sich während der Dauer seiner Existenz als ›Weder-Noch‹ einer Verortung prinzipiell verweigert. Schließlich zeigt sich anhand des Phantastischen auch die Ambivalenz des Fremden – zwischen Furcht und Faszination – mit besonderer Deutlichkeit. Diese basiert auf ihrem oben genannten subversiven Potential in Bezug auf die Gültigkeit einer bestimmten oder jeglicher Ordnungsvorstellung, oder, um die oben zitierte Metapher von Caillois zu bemühen, auf dem Riss (frz.: rupture) in der Ordnung. Der Zwischenraum, der sich dadurch auftut, kann sich einerseits als bedrohlicher Abgrund entpuppen, der alle bislang gültigen Überzeugungen und Sicherheiten zu verschlingen droht, andererseits aber auch als Möglichkeitsraum, aus dem etwas Neues, Unerwartetes, Faszinierendes ›hervorblitzt‹. Wenn Whitehead in ihrer Studie zum Phantastischen über dieses schreibt, es sei »[…] predicated on uncertainty, on an undermining of accepted knowledge about the world and on a destabilization of the values which both reader and fictional characters hold dear«,868 klingt darin bereits die negative Seite des Phänomens an: Die mit dem Phantastischen unweigerlich einhergehende Unsicherheit kann zu Orientierungslosigkeit, Angst oder gar Wahnsinn führen. Weit deutlicher wird Lovecraft, wenn er nicht nur die auch von Whitehead betonte Unsicherheit mit Gefahr verknüpft  – »uncertainty and danger are always closely allied« –,869 sondern die Verunsicherung durch das Phantastische darüber hinaus sogar als Grundlage der Horrorgeschichte (bei Lovecraft: »weird tale«)870 identifiziert.

Sinnestäuschung oder Produkt der Imagination, und des Wunderbaren (frz.: le merveilleux) nach der Identifikation der Erscheinung als wahrhaft übernatürlich, zwischen denen das Phantastische in einem liminalen Zustand existiert und in die es im Verlauf der Handlung übergehen kann; vgl. dazu die von Todorov definierten Untergattungen des Phantastisch-Unheimlichen (frz.: le fantastique-étrange; vgl. ebd., 49) und des Phantastisch-Wunderbaren (frz.: le fantastique-merveilleux; vgl. ebd.). 866 Waldenfels: Der Anspruch des Fremden, 45. 867 Vgl. Simmel: Gesamtausgabe. Soziologie, 765. 868 Whitehead, Claire: The Fantastic in France and Russia in the Nineteenth Century. In Pursuit of Hesitation. Leeds 2006, 1. 869 Lovecraft: Supernatural Horror, 14. 870 Ebd., passim.

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The true weird tale has something more than secret murder, bloody bones, or  a sheeted form clanking chains according to rule. […] there must be a hint […] of that most terrible conception of the human brain – a malign and particular suspension or defeat of those fixed laws of Nature which are our only safeguard against the assaults of chaos […].871

Im (literarischen) Horror findet die negative Seite des Phantastischen ihre wohl eindrücklichste Ausprägung – allen voran bei E. A. Poe872 und E. T. A. Hoffmann, aber beispielsweise auch bei Gogol’ (z. B. »Vij«, 1835), die allesamt von Aleksandr Grin sehr geschätzt werden. Dem gegenüber steht das positive Potential des Phantastischen, das gerade durch die möglicherweise bedrohlich wirkende Suspension oder gar Auf­ hebung gegebener Ordnungsmuster auch neue Denkweisen und Perspektiven ermöglicht und so eine enorme Faszination ausübt. Gerade in Bezug auf kulturelle Systeme kommt dem Phantastischen eine höchst bedeutende Rolle zu. Ausgehend von der Annahme, dass das Fremde »die Kehrseite einer Kultur, ihr Anderes, Verleugnetes, Verbotenes, Begehrtes ist« –873 in der in dieser Studie verwendeten Terminologie ist damit konkret das strukturell und vor allem das radikal Fremde gemeint, das in den Raum außerhalb der Grenzen der Semiosphäre einer Kultur verbannt wird –, stellt Lachmann fest: Es scheint, als sei es allein die phantastische Literatur, die sich mit dem Anderen […] beschäftigt und etwas in die Kultur zurückholt und manifest macht, was den Ausgrenzungen zum Opfer gefallen ist. Sie nimmt sich dessen an, was eine gegebene Kultur von dem abgrenzt, was sie als Gegenkultur oder Unkultur betrachtet. […] Das Fremde ist Bedrohung des Eigenen, aber auch Verheißung von Alterität. […] Die Phantastik wird hier geradezu zum Gradmesser für die in der geltenden Kultur herrschenden Beschränkungen.874

Diese Beschränkungen werden durch das Phantastische nicht nur aufgezeigt, sondern sogar, zumindest partiell, aufgehoben, indem sie parallel zur herrschenden Ordnung eine »Unordnung oder Gegenordnung«875 etablieren. Lachmann weist auf die breiten semantischen Möglichkeiten des Phantastischen hin, die neben der Kompensation der aus dem Vergessen oder Verdrängen resultierenden Defizite einer Kultur auch »Entwürfe ohne Präzedenz, Inversionen des Bestehenden, wie sie in utopischen, idyllischen, komischen und karnevalesken Diskursen und Diskursen der Paradoxie und des alter871 872 873 874 875

Ebd., 15; Hervorhebungen von A. B. Vgl. dazu ebd., 52–59. Lachmann: Erzählte Phantastik, 9. Ebd., 9 f. Ebd., 9.

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nativen Wissens zur Geltung kommen«,876 umfassen. Das schließt auch die Möglichkeit eines Aufbrechens von und Sprechens über Tabus mit ein, wie ein Blick auf eine Reihe von häufig vorkommenden Themen der Phantastik zeigt – z. B. Tod (vgl. etwa das Motiv der Wiederkehr der Toten in der gothic novel), Mord und Gewalt, Perversion und Sexualität.877 Während das Thema Sexualität aus Grins Gesamtwerk fast gänzlich ausgeklammert bleibt,878 spielen Tod, Mord und Gewalt in vielen seiner Texte eine zentrale Rolle – und zwar bei Weitem nicht nur in Form des wortwörtlichen oder metaphorischen Kampfs des positiven, romantischen Helden gegen seine bösen Widersacher. In den phantastischen Erzählungen, die diese Themen behandeln, wird der Einfluss Poes auf Grin am deutlichsten. Dies stellt bereits Gornfel’d in seiner Rezension von 1917 fest. Darin schreibt er: По первому впечатлѣнію разсказъ г. Александра Грина легко принять за разсказъ Эдгара По. […] такъ же, какъ у По, подлиннымъ героемъ Грина неизмѣнно является міръ внѣсознательнаго, міръ темныхъ предчувствій и разительныхъ совпаденій, міръ эмоціональныхъ тяготѣній и роковыхъ силъ […]. Кровь, убійство, преступленіе и ужасы бесчеловѣчнаго насилія человѣка надъ человѣками такъ же обычны у Грина, какъ у По, и такъ же, какъ у По, они не служатъ само­

876 Ebd., 11. 877 Sexualität wird von Todorov in seiner Unterscheidung zwischen Ich-Themen (frz.: ­thèmes du je) und Du-Themen (frz.: thèmes du tu) innerhalb der Phantastik als zentrales Thema der letztgenannten Gruppe behandelt (vgl. Todorov: Introduction à la littérature, 131–147). 878 Die fast vollständige Exklusion des Themas Sexualität aus Grins Werken steht in Zusammenhang mit seinem Bild der idealen, asexuellen, in geistiger Reinheit geliebten Frau (vgl. dazu auch Voronova: Poėzija mečty, 146; zum Zusammenhang mit Bloks Prekrasnaja dama (dt.: Schönen Dame) vgl. Oryshchuk: Oficial’naja reprezentacija, 13). In etwa einem Dutzend Werke wird das Thema Sexualität, wenn auch meist am Rande, angesprochen, allerdings nicht in Bezug auf eine weibliche Protagonistin, sondern in der Regel auf eine Prostituierte. In »Nasledstvo Pik-Mika« (1915) entfaltet sich im Kapitel »Nočnaja progulka« (dt.: »Ein nächtlicher Spaziergang«) ein Gespräch zwischen dem diegetischen Erzähler, seinem Begleiter und einer Prostituierten (vgl. NP, 328 f.), auch im Kapitel »Sobytie« (dt.: »Ein Ereignis«) ist von Prostituierten die Rede, in deren Milieu sich das wahre Wesen des Menschen viel deutlicher offenbare als in der Gesellschaft sogenannter kultivierter Menschen (vgl. NP, 337). Darüber hinaus finden Prostituierte beiläufige Erwähnung in »Doroga nikuda« (vgl. DN, 70 u. 146), ebenso in »›Ona‹« (vgl. ON, 275), »Malen’kij zagovor« (vgl. MZ , 190) und »Raj« (vgl. RA , 167). In »Barchatnaja port’era« schickt ein Matrose einen anderen in ein angebliches Bordell am Hafen (vgl. BP, 621 f.). In »Avtobiografičeskaja povest’« werden die Themen Sexualität und Prostitution ebenfalls beiläufig angesprochen (vgl. AP, 75 u. 83). Sexuelle Ausschweifungen werden in »Imenie Chonsa« – »произошло […] невероятный содом« (IC , 389. Dt.: »es geschah ein unerhörtes Sodom«), »следовало уничтожить следы Гоморры« (IC , 389. Dt.: »man musste die Spuren von Gomorrha vernichten«) – und »Gladiatory« (vgl. GL , 246) benannt bzw. angedeutet.

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цѣлью и даже средствомъ въ изображеніи характеровъ, но являются необходимой атмосферой, въ которой рождаются и находятъ естественное развитіе самыя роковыя загадки духа и жизни.879

Da dies dem ab 1956 vorherrschenden Bild Grins als Autor des Schönen und Guten widerspricht, werden die betreffenden Texte jedoch bis heute kaum rezipiert. Aus diesem Grund wurden aus der großen Gruppe der phantastischen Erzählungen Grins für die detaillierte Textanalyse zwei Werke ausgewählt, die die von Gornfel’d genannten Themen im Kontext des Phantastischen behandeln. Um der oben angeführten Bestimmung des Phantastischen als Schwellenphänomen zwischen dem Wunderbaren und dem Unheimlichen Rechnung zu tragen, weist der erste gewählte Text, »Proisšestvie v ulice Psa« (1909) eine Tendenz zum Wunderbaren auf, während der zweite, »Ubijstvo v rybnoj lavke« (1914; dt.: »Der Mord im Fischladen«)880 dem Unheimlichen näher ist. Da jedoch in beiden Fällen bis zum Ende des Textes keine Auflösung erfolgt, die eine eindeutige Zuordnung zum Wunderbaren bzw. zum Unheimlichen gestattet, bleibt das Phantastische bis zum Schluss wirksam. 4.3.2.1

Das Phantastische mit Tendenz zum Wunderbaren: »Proisšestvie v ulice Psa«

Die Erzählung »Proisšestvie v ulice Psa« stammt aus dem Jahr 1909 881 und gehört damit zu Grins frühen Werken.882 Bei dem im Titel der Erzählung genannten ›Vorfall‹ handelt es sich um eine Serie unerklärlicher Ereignisse in Zusammenhang mit dem Protagonisten Gol’c. Diese werden durch einen nicht879 Gornfel’d: Iskatel’ priključenij, 279. FLMMG , n / v 4711, l. 1. Dt.: »Auf den ersten Blick kann man eine Erzählung Hrn. Aleksandr Grins leicht für eine Erzählung Edgar [Allan] Poes halten. […] wie auch bei Poe ist der wahre Held Grins unveränderlich die Welt des Unbewussten, die Welt der dunklen Vorahnungen und frappierenden Zufälle, die Welt der emotionalen Neigungen und schicksalhaften Kräfte […]. Blut, Mord, Verbrechen und Grauen der unmenschlichen Gewalt des Menschen an anderen Menschen sind ebenso gewöhnlich bei Grin, wie bei Poe, und ebenso wie bei Poe dienen sie nicht einem Selbstzweck oder sogar als Mittel bei der Darstellung der Charaktere, sondern stellen die unerlässliche Atmosphäre dar, in der die schicksalhaftesten Rätsel des Geistes und des Lebens geboren werden und eine natürliche Entwicklung finden.«. 880 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Ubijstvo v rybnoj lavke. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 305–311. Kürzel: UR . 881 Der Erstdruck erfolgt in der Zeitung »Slovo« (dt.: »Das Wort«) vom 21. Juni 1909. In Band 1 von Grins »Sobranie sočinenij« von 1913 geht die Erzählung unter dem leicht veränderten Titel »Proisšestvie na ulice Psa« (dt.: »Der Vorfall auf der Köterstraße«) ein (vgl. Revjakina: Primečanija. Sobranie sočinenij. Tom pervyj, 689). 882 Vichrov weist darauf hin, dass Grin diesen Titel in Anlehnung an Poes »The Murders in the Rue Morgue« (1841; russ. Titel u. a.: »Prestuplenie v ulice Morg«; dt. wörtl.: »Das Verbrechen in der Rue Morgue«) gewählt hat (vgl. Vichrov: Rycar’ mečty, 94).

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diegetischen Erzähler aus narratorialer Perspektive geschildert. Im Folgenden sollen insbesondere die inhaltliche und narrative Erzeugung des Schwebe­ zustands des Phantastischen zwischen Wunderbarem und Unheimlichem sowie die Ambivalenz des Phantastischen in den Blick genommen werden. Ausgangspunkt: alltägliche und intrasubjektive radikale Fremdheit und ein gewöhnlicher Schauplatz als Vorbereitung des Phantastischen Der Schauplatz der Handlung lässt sich geographisch und kulturell nicht genau verorten. In der gesamten Erzählung finden sich nur wenige kulturbezogene Hinweise, die zudem uneindeutig und sogar widersprüchlich sind. Erstens ruft der Protagonist den Kellner in einer Kneipe mit dem Wort »›Гарсон!‹«,883 sodass ein französischsprachiger Kontext aufgerufen wird. Bei eben diesem garçon bestellt Gol’c allerdings eine Flasche Wodka,884 was Assoziationen mit Russland hervorruft. In dieselbe Richtung deutet die Erwähnung eines balagan, einer russischen Schaubude.885 Ein weiterer mehrdeutiger Hinweis, der somit ebenfalls wenig Aufschluss über den Ort des Geschehens gibt, ist der (als einziger in der Erzählung genannte) Name des Protagonisten selbst: Aleksandr Gol’c. Der Vorname, den der Held mit seinem Schöpfer Grin teilt, kann nicht nur russisch, sondern z. B. auch englisch, deutsch oder französisch sein; der Nachname, der, mit einem gemeinsamen Anfangsbuchstaben und auch aus einer Silbe bestehend, ebenfalls an Grin erinnert, könnte eine russifizierte Version des deutschen Lexems ›Holz‹ oder die russische Schreibweise des deutschen Nachnamens Golz / Goltz sein. Die einzigen beiden genannten Toponyme, ulica Psa (dt.: Köterstraße)  und pereulok Slepych (dt.: Blinden­ gasse),886 enthalten nicht einmal widersprüchliche, sondern gar keine Hinweise darauf, wo die Handlung stattfindet. Der Unverortbarkeit des Schauplatzes, die in vielen Werken Grins vorliegt, kommt in »Proisšestvie v ulice Psa« eine besondere Funktion zu. Denn sie stützt die Darstellung der Stadt, in der die rätselhaften Ereignisse stattfinden, als eine gänzlich normale, wie sie beinahe überall zu finden sein könnte – mit einer Bäckerei, einem Restaurant, einer Kneipe und Händlern auf der Straße. Zudem bleiben exotische Elemente, z. B. in Bezug auf Flora und Fauna, das Klima oder kulturelle Artefakte, die bei Grin häufig vorkommen, ausgeklammert, sodass das ›Überall und Nirgendwo‹ des Schauplatzes aus Sicht des russischen unterstellten Adressaten ein ›Hier‹ miteinschließt, der Ort der 883 PV, 245 u. 246. Dt.: »›Garçon!‹« (Grin, Alexander: Der Vorfall in der Köterstraße. Aus dem Russischen von Renate Landa. In: Ders.: Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1989, 5–14, hier 7. Kürzel: PVd). 884 Vgl. PV, 245. 885 Vgl. PV, 244. 886 Vgl. PV, 244 u. 247.

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Handlung also trotz seiner Unbestimmtheit vertraut erscheint. Es handelt sich somit um eben jenen »monde familier«,887 in den der Definition Todorovs zufolge das Phantastische unvermittelt einbricht. Auch die Handlung beginnt mit einer vollkommen gewöhnlichen, mit alltäglichen Details ausgeschmückten Straßenszene. Diese weist eine Reihe frappierender Übereinstimmungen mit dem Schauplatz aus Aleksandr Bloks nur drei Jahre zuvor erschienenem Gedicht »Neznakomka« (1906; dt.: »Die Un­bekannte«) auf, sowohl in Bezug auf ihre allgemeine Atmosphäre, die von Schmutz und Banalität gekennzeichnet ist, als auch auf konkrete Details. Die erste Strophe von »Neznakomka« lautet: »По вечерам над ресторанами / ​ Горячий воздух дик и глух, / И правит окриками пьяными / Весенний и тлетворный дух.«888 Bei Grin in »Proisšestvie v ulice Psa« heißt es im ersten Kapitel: Наступил вечер; […] из грязных окон струился кухонный чад, разнося в воздухе запах пригорелого кушанья и сырого белья. По мостовой бродили зеленщики и тряпичники, заявляя о себе хриплыми криками. Из дверей пивной то и дело вываливались медлительные в движениях люди; выйдя, они сперва искали точку опоры […].889

Die zweite Strophe des Blok-Gedichts enthält die Zeilen: »Вдали над пылью переулочной, / […] Чуть золотится крендель булочной«;890 bei Grin finden sich die Beschreibungen »[…] улица Пса туманилась золотой пылью«891 sowie »Булочная наполнилась покупателями […]«.892 Auch ein Restaurant 887 Todorov: Introduction à la littérature, 29.  888 Blok, Aleksandr A.: Neznakomka [Stichotvorenie]. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij v dvadcati tomach. Tom vtoroj. Stichotvorenija. Kniga vtoraja (1904–1908). Moskva 1997, 122–123, hier 122; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Am Abend sind über den Restaurants / Die heißen Lüfte wild und taub, / Und die betrunkenen Rufe lenkt an Land / Ein frühlingshafter fauler Hauch.« (Block, Alexander: Die Unbekannte [Gedicht]. Aus dem Russischen übertragen von Rainer Kirsch. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 1. Gedichte und Poeme. Berlin 1978, 106–107, hier 106; Hervorhebungen von A. B.). 889 PV, 244; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Der Abend brach an; […] aus schmutzigen Fenstern quoll Küchenwrasen und teilte der Luft einen Geruch von angebranntem Essen und nasser Wäsche mit. Übers Straßenpflaster trotteten Gemüsehändler und Lumpensammler und gaben mit heiseren Rufen von sich Kunde. Aus der Bierkneipe torkelten immer wieder Menschen mit verlangsamten Bewegungen; draußen suchten sie zuerst nach einem Halt […].« (PVd, 5 f.; Hervorhebungen von A. B.). 890 Blok: Neznakomka [Stichotvorenie], 122; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Weit in der Ferne, überm Staub der Gassen / […] Glänzt gold der Kringel eines Bäckerladens« (Block: Die Unbekannte [Gedicht], 106; Hervorhebungen von A. B.). 891 PV, 244; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »[…] die Köterstraße […] hüllte sich in goldflimmernden Staub« (PVd, 5; Hervorhebungen von A. B.). 892 PV, 247; Hervorhebung von A. B. Dt.: »Die Bäckerei füllte sich mit Kunden […]« (PVd, 12; Hervorhebung von A. B.).

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wie in der ersten Zeile von »Neznakomka« ist in Grins Erzählung vertreten, hier in der ersten Zeile des zweiten Kapitels.893 Auf der oben beschriebenen Straße treffen sich der Protagonist Gol’c und seine Partnerin zu einem kurzen Gespräch. Diese namenlose Frau hat deutliche Ähnlichkeiten mit der Unbekannten aus Bloks Gedicht. Letztere besitzt unter anderem folgende Attribute: »И шляпа с траурными перьями, / И в кольцах узкая рука.«894 Die Frau aus Grins Erzählung reicht Gol’c ihre »тонкую […] руку«;895 als sie ihn verlässt, bleibt als letzter visueller Eindruck »[к]усочек шляпы.«896 Dass das Treffen mit der endgültigen Trennung des Paares endet, stellt eine weitere Parallele dar: Beide Texte handeln von dem Abschied von einer Frauenfigur. Bloks Gedicht deutet den allmählichen Abschied seines Verfassers von dem Ideal der Prekrasnaja dama (dt.: Schönen Dame) an,897 das auf der Idee der Sophia, des Ewig-Weiblichen, der weiblichen Seite des Göttlichen von Solov’ëv beruht. Es entsteht vor dem biographischen Hintergrund von Bloks Ehekrise mit seiner als Prekrasnaja dama idealisierten Frau Ljubov’ angesichts ihrer Untreue mit Bloks Freund und Rivale Andrej Belyj.898 Dieser Abschied wird in dem gleichnamigen Drama »Neznakomka« aus demselben Jahr endgültig vollzogen, in dem es zur ultimativen Profanisierung der vom Himmel herabgestiegenen, reinen Unbekannten durch ihre Wandlung zur Prostituierten kommt.899 Dass Grin in »Proisšestvie v ulice Psa« das Ende einer Liebe unter Verwendung zahlreicher intertextueller Referenzen auf Bloks Gedicht thematisiert, stützt die Intensität der Darstellung des Schmerzes des Protagonisten zusätzlich. Das Fremde tritt hier also noch nicht in Gestalt des Phantastischen auf, sondern zunächst als Entfremdung zwischen zwei zuvor vertrauten Personen, d. h. als Form der alltäglichen Fremdheit. Die Fremdheit ist bidirektional – die Frau ist dem Mann fremd geworden, der Mann der Frau –, aber unterschiedlich stark ausgeprägt. Während Gol’c hofft, das Beziehungsende noch 893 Vgl. PV, 245. 894 Blok: Neznakomka [Stichotvorenie], 123. Dt.: »Der schwarze Hut mit Trauerfedern / Und die beringte schmale Hand.« (Block: Die Unbekannte [Gedicht], 107). 895 PV, 245. Dt.: »feingliedrige […] Hand« (PVd, 6). 896 PV, 245. Dt.: »[e]in Stückchen Hut« (PVd, 7). 897 Vgl. Bloks Gedichtzyklus »Stichi o prekrasnoj dame« (1901–1902; dt.: »Verse von der Schönen Dame«): Blok, Aleksandr A.: Stichi o prekrasnoj dame. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij v dvadcati tomach. Tom pervyj. Stichotvorenija. Kniga pervaja (1898–1904). Moskva 1997, 45–132. Vgl. hierzu Meyer-Fraatz, Andrea: Aleksandr Blok: Neznakomka. In: Zelinsky, Bodo / Herlth, Jens (Hg.): Die russische Lyrik. Köln, Weimar 2002, 176–182, hier 182. 898 Vgl. Meyer-Fraatz: Aleksandr Blok, 177. 899 Vgl. Blok, Aleksandr A.: Neznakomka [Drama]. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij v dvadcati tomach. Tom šestoj. Dramatičeskie proizvedenija (1906–1908). Moskva 2014, 61–90.

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abwenden zu können, hat die Frau bereits damit abgeschlossen. Dies wird auf drei Ebenen deutlich: auf der expliziten verbalen, der impliziten verbalen sowie der impliziten nonverbalen. Zum Ersten formuliert Gol’c das Ende der Beziehung mit einer Frage, während die Frau es mit einem Aussagesatz bestätigt: »›Итак, между нами все кончено?‹ ›Все кончено,‹ как эхо, отозвалась женщина.«900 Zum Zweiten versucht Gol’c, zumindest ein Wiedersehen mit Hilfe eines Vorwands zu arrangieren, worauf die Frau ihm eine klare Absage erteilt: »›У меня остался ваш зонтик.‹ ›Я купила себе другой. Прощайте.‹«901 Zum Dritten wird das asymmetrische Verhältnis deutlich, als die Frau ihn – im doppelten Sinne – verlässt: »Он пристально смотрел в затылок ушедшей девушке, но она ни разу не обернулась.«902 Ihre dreifache, unmissverständliche Abweisung einerseits, die keinen Raum für Hoffnung mehr lässt, und seine noch immer bestehende Bindung an die Frau andererseits, die nun tiefes Leid für ihn bedeutet, bilden den Ausgangspunkt und die Vorbedingung für den weiteren Verlauf der Erzählung, in der Gol’c ebenfalls drei phantastische Handlungen vollzieht. Gol’c’ Leid, das auch explizit benannt wird (»Голова его кружилась от горя.«),903 führt darüber hinaus zu einer zweiten Form von Alienität, nämlich zu einer, wenn auch schwach ausgeprägten, intrasubjektiven radikalen Fremdheit. Indem er den Abschied ausspricht – »›Прощайте‹, выдавил он тяжелое, как гора, слово.« –904 realisiert er ihn in doppeltem Wortsinn, was ihm, wie das implizite Wortspiel mit gore (dt.: Leid) und gora (dt.: Berg) unterstreicht, äußerst schwerfällt. Ab diesem Moment scheint er die Trennungsszene gleichsam von außen zu verfolgen: »Теперь кто-то другой говорил за него, а он слушал, парализованный мучительным кошмаром.«905 Die Entfremdung von der Frau, die er liebt, geht also einher mit der Entfremdung von sich selbst. Dies stellt eine weitere Vorbedingung für die später von Gol’c vollzogenen phantastischen Taten dar, während derer er gleichsam auch nicht er selbst, nämlich ein ganz gewöhnlicher Mann, ist. In dieser ersten, völlig alltäglichen Szene der Erzählung wird das später hereinbrechende radikal Fremde jedoch nicht nur inhaltlich vorbereitet, sondern auch implizit angekündigt. Bereits im ersten Satz des ersten Kapitels 900 PV, 245. Dt.: »›Also ist zwischen uns alles aus?‹ ›Alles aus‹, erklang wie ein Echo die Antwort der Frau.« (PVd, 6). 901 PV, 245. Dt.: »›Ihr Schirm ist noch bei mir.‹ ›Ich habe mir einen neuen gekauft. Adieu.‹« (PVd, 7). 902 PV, 245. Dt.: »[Er] starrte [angespannt] auf den Hinterkopf der davongehenden Frau, aber sie blickte nicht [ein einziges Mal] zurück.« (PVd, 7). 903 PV, 245. Dt.: »Ihm schwindelte vor Leid.« (PVd, 6). 904 PV, 245. Dt.: »›Adieu‹, preßte er hervor, und das Wort war schwer wie ein Fels.« (PVd, 6). 905 PV, 245. Dt.: »Jetzt sprach ein anderer für ihn, und er hörte zu, gelähmt von einem qualvollen Alptraum.« (PVd, 7).

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erfährt der abstrakte Leser, dass der Protagonist vor dem Treffen mit der Frau aus einem balagan906 kommt,907 also einer Schaubude, d. h. einem Ort zwischen Realem und Irrealem, Wirklichkeit und Täuschung. Während der Unterhaltung mit der Frau zieht er außerdem einen Plakatfetzen aus seiner Tasche.908 Dieser zweifache implizite Hinweis auf das Phantastische durch das Theater wird wieder aufgenommen, als es tatsächlich eingetreten ist, denn im Zusammenhang mit dem dritten rätselhaften Vorfall heißt es: »Это было редкое зрелище.«909 Während der Protagonist auf die Frau wartet, befindet er sich zudem in einem zur Existenzbedingung des Phantastischen analogen Zustand der Suspension, hier zwischen Hoffen und Bangen: »Ждал он тоскливо и страстно, с темной уверенностью в конце. А иногда, улыбаясь прошлому, думал, что, может быть, все обойдется как нельзя лучше.«910 Der Moment, in dem sowohl ein negativer als auch ein positiver Ausgang des bevorstehenden Gesprächs möglich ist, was durch die Formulierung »тоскливо и страстно«911 betont wird, ist notwendigerweise zeitlich begrenzt. Er besteht eine halbe Stunde lang – denn um so viel zu früh ist Gol’c am Treffpunkt –,912 doch endet im Moment der Ablösung des »может быть«913 durch das Eintreten eines der beiden Szenarien – ebenso, wie das Phantastische mit der Entscheidung für das Wunderbare oder das Unheimliche verschwindet. Dieser liminale Zwischenzustand, der sich gegenseitig Ausschließendes vorübergehend vereint, kommt im obenstehenden Zitat in der kontrastiven Konjunktion a (dt.: und) zum Ausdruck, welche gleichzeitig verbindet und trennt. Als ebenso flüchtig wird die Frau selbst beschrieben, die der Auslöser für alles Folgende und damit auch die phantastischen Handlungen von Gol’c ist: »Она стояла перед ним в небрежной позе, точно остановилась мимоходом, на секунду, и тотчас

906 Auch dies kann als implizite intertextuelle Referenz auf Blok gelesen werden, denn der Dichter verarbeitet die Annäherung zwischen seiner Frau Ljubov’ und seinem Freund Belyj, die den Hintergrund zu »Neznakomka« bildet, bereits zuvor in seinem Stück »Balagančik« (1905; dt.: »Die Schaubude«; vgl. Blok, Aleksandr A.: Balagančik. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij v dvadcati tomach. Tom šestoj. Dramatičeskie proizvedenija (1906–1908). Moskva 2014, 5–22; vgl. dazu Turkov, Andrej M.: Aleksandr Blok. Moskva 1981, 84–87). 907 Vgl. PV, 244. 908 Vgl. PV, 245. 909 PV, 248. Dt.: »Es war ein einzigartiges Schauspiel.« (PVd, 13). 910 PV, 244. Dt.: »Er wartete traurig und leidenschaftlich, in der dunklen Gewißheit, daß es zu Ende war. Aber hin und wieder, wenn er dem Vergangenen nachlächelte, dachte er, daß sich vielleicht doch noch alles zum Besten wenden werde.« (PVd, 5). 911 PV, 244. Dt.: »traurig und leidenschaftlich« (PVd, 5). 912 Vgl. PV, 244. 913 PV, 244. Dt.: »vielleicht« (PVd, 5).

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уйдет.«914 Somit ist festzuhalten, dass der Einbruch des Phantastischen nur für die handelnden Figuren unvermittelt geschieht, für den abstrakten Leser hingegen implizit im Verlauf der gänzlich alltäglichen ersten Szene der Erzählung angekündigt wird. Kern der Handlung: Drei phantastische Ereignisse Das Phantastische setzt mit dem Ende des auf dem ungewissen Ausgang des Gesprächs basierenden Schwebezustands ein, löst ihn also gewissermaßen ab. Es tritt in Gestalt von drei unerklärlichen Ereignissen in Erscheinung, die alle von Gol’c herbeigeführt und von einer wachsenden Menge Umstehender, die zusätzlich zum abstrakten Leser als das deiktische Zentrum zur Bestimmung des Fremden fungieren, beobachtet werden. Alle drei finden in der im Titel der Erzählung genannten ulica Psa statt, die als »узенькая, как щель«915 beschrieben wird und damit dem ›Riss‹ ähnelt, den das Hereinbrechen des Phantastischen verursacht. Die Zeugen dieses Phantastischen werden über den Vergleich »как ста[я] собак«916 mit dem speziellen Schauplatz verbunden. Der Einbruch des Phantastischen als Skandalon Nachdem die Frau hinter einer Straßenecke verschwunden ist, betritt Gol’c ein Restaurant und bestellt eine Flasche Wodka, trinkt davon und behauptet dann, stattdessen Wasser serviert bekommen zu haben. Der phantastische Charakter dieses Ereignisses erschließt sich weder dem abstrakten Leser noch den anderen Figuren sofort. Für den Leser ist es angesichts der unmittelbar vorausgehenden Trennung durchaus plausibel, dass Gol’c schlichtweg eine falsche Anschuldigung vorbringt, um seiner Frustration Luft zu machen. Dazu passt auch seine Aggressivität gegenüber dem Kellner: »›Гарсон!‹, заорал Гольц, ›я требовал не воды, черт возьми! Возьмите эту жидкость, которой много в любой водосточной кадке, и дайте мне водки! Живо!‹«917 Auch die Zeugen des Vorfalls halten es für notwendig, die Rechtmäßigkeit des Vorwurfs selbst zu prüfen, was geschieht, indem alle den Inhalt der Flasche probieren.918 Auch als dank dieser Maßnahme unzweifelhaft bestätigt ist, dass die Flasche tatsächlich anstelle des Wodkas Wasser enthält, besteht immer noch die Möglichkeit, dass es sich um einen (einmaligen) Irrtum oder Scherz beim Befüllen

914 PV, 244. Dt.: »Sie stand in lässiger Haltung vor ihm, als wäre sie nur flüchtig, für einen Moment, stehengeblieben, um sogleich weiterzugehen.« (PVd, 6). 915 PV, 244. Dt.: »schmal wie eine Ritze« (PVd, 5). 916 PV, 247. Dt.: »wie eine Hundemeute« (PVd, 12). 917 PV, 246. Dt.: »›Garçon!‹ brüllte […] [Gol’c], ›ich habe kein Wasser verlangt, verdammt nochmal! Nehmen Sie diese Flüssigkeit, von der jede Regentonne ausreichend enthält, und bringen Sie mir Wodka! Aber fix!‹« (PVd, 8). 918 Vgl. PV, 246.

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der Flasche handelt. Diese Erklärung scheint auch der Kellner zu vertreten, denn sofort wird vom Wirt persönlich eine zweite, versiegelte Flasche gebracht. Erst als auch der Inhalt der neuen Wodkaflasche als Wasser identifiziert ist, wird aus einem unbedeutenden Zwischenfall ein phantastisches Ereignis, das die Beobachter wie auch den abstrakten Leser vor die Wahl stellt, es entweder als Trick bzw. (Sinnes-)Täuschung zu entlarven oder als übernatürlich anzuerkennen. In eben diese zwei Lager spaltet sich die Gruppe der Augenzeugen auf. Die einen suchen eine rationale Erklärung, indem sie entweder den Wirt als »жулик«919 bezeichnen, ihm also Betrug vorwerfen, oder Gol’c mit der synonymen Bezeichnung »мошенник«920 belegen. In beiden Fällen wird implizit eine Manipulation der Flaschen unterstellt, die ihren unerwarteten Inhalt logisch erklärbar macht. Die gegensätzlichen Reaktionen der beiden Beschuldigten – das Gesicht des Wirts ist »[в]осковое от страха«,921 während »Гольц развеселился«922 – deuten dabei auf Letzteren als Verantwortlichen hin. Andere Augenzeugen hingegen führen einen übernatürlichen Grund an: »Некоторые набожно вспоминали черта; маленькие мозги их, запуганные всей жизнью, отказывались дать объяснение, не связанное с преисподней.«923 Dass die teuflischen Kräfte nicht auf Seiten des Wirts, sondern des Protagonisten wirken, wird sowohl über die Beschreibung seiner nonverbalen Reaktion auf das Wasser – »Глаза его метали гневные искры […]«924 – als auch über seinen verbalen Angriff auf den Kellner angedeutet: »›я требовал не воды, черт возьми!‹«925 Zu der Gruppe der Personen, die eine übernatürliche Ursache vermuten, ist auch der Wirt zu zählen, der, gleichsam als Gegenmaßnahme zu dem teuflischen Treiben in seinem Restaurant, himmlischen Beistand sucht: »›[…] Пресвятая матерь божия! […]‹«.926 Überirdische Kräfte suggeriert auch die Art des unerklärlichen Ereignisses, denn die Verwandlung von Wodka in Wasser, die im Russischen lediglich der Entfernung eines Buchstabens bedarf (russ.: vodka – voda), ruft in einem intertextuellen Bezug das neutestamentarische Wunder der Hochzeit von Kanaa auf, bei der Jesus Wasser in Wein verwandelt.927 Die wundersame Handlung 919 PV, 246. Dt.: »Gauner« (PVd, 8). 920 PV, 246. Dt.: »Spitzbube« (PVd, 8). 921 PV, 246. Dt.: »vor Entsetzen wachsbleich[…]« (PVd, 8). 922 PV, 246. Dt.: »[Gol’c sich] amüsierte« (PVd, 8). 923 PV, 246. Dt.: »Manche brachten gottesfürchtig den Teufel ins Gespräch; ihre kleinen Hirne, vom Leben eingeschüchtert, wiesen eine Erklärung zurück, die nicht mit der Hölle verknüpft war.« (PVd, 8). 924 PV, 245. Dt.: »Seine Augen sprühten zornige Funken […]« (PVd, 7). 925 PV, 246. Dt.: »›ich habe kein Wasser verlangt, verdammt nochmal [wörtlicher: zum Teu­ fel]!‹« (PVd, 8). 926 PV, 246. Dt.: »›[…] Heilige Muttergottes! […]‹« (PVd, 8). 927 Vgl. Joh 2,1–11; Das Neue Testament. Übersetzt und kommentiert von Ulrich Wilckens. Hamburg u. a. 1970.

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in »Proisšestvie v ulice Psa« verkehrt den Prätext allerdings in doppelter Hinsicht – die Umwandlung erfolgt nicht aus, sondern in Wasser, und ist auch nicht durch Nächstenliebe motiviert, sondern durch den rein ichbezogenen Wunsch, sich auf Kosten anderer zu amüsieren, was im Zusammenhang mit dem zweiten Ereignis explizit formuliert wird: »Пусть ломают головы – это его последняя, причудливая забава.«928 Wie schon den reichen, gelangweilten Protagonisten, die in Kapitel 4.1 im Fokus standen, dient also auch Gol’c ein egozentrisches Vergnügen, für das er andere Menschen benutzt, als Möglichkeit des wenigstens temporären geistigen uchod aus einer unerträglichen Situation. Zudem erhält das biblische Wunder durch das Ersetzen des Weins durch Wodka eine geradezu groteske, russifizierte Form. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Parallelen zwischen Bloks »Neznakomka« und Grins »Proisšestvie v ulice Psa« erhält der Einbruch des Phantastischen in Gestalt des verwandelten Wodkas, der über die Bibelreferenz mit dem Wein verbunden ist, zusätzliches Gewicht. Wie auch bei Blok in den Zeilen »И пьяницы с глазами кроликов / ›In vino veritas!‹ кричат.«929 sowie im Schluss des Gedichts, »Ты право, пьяное чудовище! / Я знаю: истина в вине.«930 die Frage nach der Übereinstimmung von Wahrnehmung und Wahrheit aufgeworfen wird, so stehen nun auch hier der abstrakte Leser ebenso wie die Augenzeugen vor der Entscheidung, wie der seltsame Vorfall einzuordnen ist. Zwar besitzt der Leser etwas mehr Informationen als die Menschen im Restaurant, da er die Vorgeschichte der Trennung kennt und somit weiß, dass Gol’c sich in einem emotionalen Ausnahmezustand befindet, was sein merkwürdiges Verhalten begründet und den Wirt als Schuldigen quasi ausschließt. Auch die Tatsache, dass die übernatürliche Erklärung des Ereignisses im Text stärker elaboriert wird, erzeugt beim Leser eine Tendenz dazu, sie der rationalen Begründung vorzuziehen. Dennoch kann auch der Leser nicht zweifelsfrei entscheiden, ob es sich bei der Verwandlung des Wodkas lediglich um einen verblüffenden (Zauber-)Trick handelt, oder ob der Prota­ gonist tatsächlich magische Kräfte besitzt. Gol’c selbst bringt kurz vor dem Verlassen des Restaurants noch eine zugleich wissenschaftlich-rationale und irrationale Erklärung vor, wenn er behauptet, die Wodkaflaschen seien wohl aus Tüll, sodass der Alkohol verdunstet sei.931 Die Deutungsversuche sind als Reaktion auf die Konfrontation mit einem radikal Fremden zu betrachten. Indem eine mit den Gesetzen der Logik kon928 PV, 247. Dt.: »Sollen sie sich den Kopf zerbrechen – das ist [s]ein letztes wunderliches Vergnügen.« (PVd, 12). 929 Blok: Neznakomka [Stichotvorenie], 123. Dt.: »Und Trinker mit den Augen von Kaninchen / Grölen: ›In vino veritas!‹« (Block: Die Unbekannte [Gedicht], 106). 930 Blok: Neznakomka [Stichotvorenie], 123. Dt.: »Ja, du hast recht, betrunknes Ungeheuer! / Ich weiß: die Wahrheit liegt im Wein.« (Block: Die Unbekannte [Gedicht], 107). 931 Vgl. PV, 246.

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forme Erklärung gefunden wird, wird das Ereignis als nur vermeintlich radikal fremd entlarvt und somit weitgehend ent-fremdet, also seiner Fremdheit beraubt, und die Grenzen der eigenen Ordnung bleiben unangetastet. Wird dagegen die Existenz übernatürlicher Kräfte anerkannt, werden diese ebenfalls angeeignet, d. h. in die eigene Ordnung integriert – nun allerdings, indem ihre Grenzen verschoben werden. In beiden Fällen erfolgt somit eine Ein-Ordnung des Außer-Ordentlichen, eine Verortung des zuvor Atopischen, womit eine starke Abnahme der Intensität des Fremden einhergeht. Eben diesem Versuch der Depotenzierung verweigert sich das Phantastische jedoch, indem es in einem Zustand der Liminalität und Suspension verbleibt. Denn gerade dadurch, dass es gleichzeitig zwei Erklärungsmöglichkeiten auf der theoretischen Ebene zulässt, kann keine der beiden tatsächlich zur Anwendung kommen. Solange das Phantastische besteht, behält es also notwendigerweise seinen Status als radikal Fremdes; wird dieser durch die eindeutige Entscheidung für eine der beiden aneignenden Erklärungen zu einem strukturell oder gar alltäglichen Fremden abgeschwächt, verschwindet zugleich auch das Phantastische. Gerade diese Unmöglichkeit eines Umgangs mit dem Phantastischen, solange es besteht, macht es zu dem in den einleitenden theoretischen Überlegungen zum Phantastischen genannten Skandalon. Passenderweise tritt das Skandalon in »Proisšestvie v ulice Psa« selbst als Skandal in Erscheinung, sogar bei Annahme einer der beiden rationalen Erklärungen: Entweder verkauft der Wirt Wasser wissentlich als Wodka – einige Leute deuten auf Gol’c, »оскандалившего трактирщика« –932 oder Gol’c ist selbst der Schuldige und verdächtigt den Wirt öffentlich zu Unrecht. Der skandalöse Charakter des Ereignisses spiegelt sich in der Reaktion der Augenzeugen wider, denn der Vorfall zieht sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich: »Все, даже самые флегматичные, повскакали с мест и кольцом окружили Гольца«,933 und die aufgeregt vorgebrachten Vermutungen erzeugen einen »неимоверный шум«.934 Als Gol’c schließlich das Restaurant verlässt, folgen ihm »изумленные, раскрытые рты«.935 Herrscht bei diesem ersten Vorfall also vor allem Erstaunen und Aufregung, aber auch eine gewisse Beun­ ruhigung, zeigen sich die ambivalenten Reaktionen der Umstehenden im Zusammenhang mit dem zweiten phantastischen Ereignis noch wesentlich deutlicher.

932 PV, 247. Dt.: »der den Schankwirt in Verruf gebracht hatte« (PVd, 11 f.). 933 PV, 246. Dt.: »Alle, selbst die Phlegmatischsten, sprangen auf und umringten [Gol’c]« (PVd, 8). 934 PV, 246. Dt.: »unvorstellbare[s] Spektakel [wörtl.: Lärm]« (PVd, 8). 935 PV, 246. Dt.: »staunend aufgesperrte Münder« (PVd, 11).

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Wörtliche und metaphorische Kippfiguren des Phantastischen Dieses trägt sich in einer Bäckerei zu, in der Gol’c ein Pfund Zwieback bestellt. Beim Abwiegen bleibt die Waagschale mit dem Zwieback oben, obwohl sie übervoll davon ist. Nicht einmal als die Verkäuferin die Schale mit der Hand nach unten zu ziehen versucht, bewegt sich der Zwieback nach unten bzw. das Pfundgewicht nach oben. Auch hier liegt eine Bibelreferenz vor, nämlich auf die wundersame Brotvermehrung Jesu am See Genezareth, als 5000 Männer von fünf Broten und zwei Fischen satt werden,936 welche ebenfalls verkehrt wird: An die Stelle des Brots, das eine ganze Menschenmenge zu sättigen vermag, tritt der Zwieback, der jegliches Gewicht verloren zu haben scheint. Die Kippfigur, die durch die Waage in die Erzählung eingeführt wird, spielt in der Folge auf der metaphorischen Ebene noch mehrfach eine Rolle. Bei diesem zweiten Ereignis werden keine rationalen oder irrationalen Erklärungen des Geschehenen mehr angeführt, stattdessen konzentriert sich die Beschreibung auf die Reaktionen der Leute, die zwischen Furcht und Faszination schwanken. Schon als Gol’c die Bäckerei betritt, folgt ihm eine große Menschenmenge, angezogen durch »[и]стерическое любопытство, разбавленное темным испугом непонимания«.937 Die beiden Reaktionen korrespondieren mit den beiden oben genannten Erklärungsansätzen: Die Neugier basiert (eher) auf der Annahme, dass es sich um einen geschickten Trick handelt, die Angst auf der düsteren Ahnung, dass der Vorfall auf der Ebene des Rationalen nicht zu begreifen ist. Doch gerade weil keine eindeutige Entscheidung für eine der beiden Möglichkeiten getroffen werden kann, vermischen sich auch die Emotionen, sodass nicht nur die Menschenmenge, sondern sogar jedes Individuum beides zugleich empfinden kann. Erst nach dem zweiten unerklärlichen Vorfall im Zusammenhang mit Gol’c endet das labile Gleichgewicht zwischen den beiden Gefühlen: Die Waage kippt trotz des auf einer ihrer Schalen aufgehäuften Zwiebacks nicht – die Stimmung dagegen schon. Ausschlaggebend dafür ist Gol’c’ Verhalten. Der quantitativen Steigerung auf Seiten der passiven Beobachter, von einer Gruppe zufälliger Augenzeugen im Restaurant hin zu einer Gol’c gezielt in die Bäckerei folgenden Menschenmenge, steht eine qualitative Steigerung auf Seiten des Akteurs gegenüber. Hatte Gol’c im Restaurant auf den ersten unerklärlichen Vorfall noch »тихо посмеиваясь«938 reagiert, beobachten die Augenzeugen nun, wie er vor dem Wiegen des Zwiebacks »расхохотался«939

936 Vgl. z. B. Mk 6,35–44; Das Neue Testament. 937 PV, 247. Dt.: »[h]ysterische Neugier, verwässert vom dunklen Schrecken der Ignoranz [wörtl.: des Unverständnisses]« (PVd, 12). 938 PV, 246. Dt.: »leise lachend« (PVd, 8). 939 PV, 247. Dt.: »[schallend] lachte« (PVd, 12).

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und danach »рассмеялся«.940 Dieses gesteigerte Lachen bewirkt, dass unter den Zuschauern die Furcht die Oberhand gewinnt. Das Bild des Hinzufügens, das im Falle des Zwiebacks keinen Effekt auf die Waage hatte, wird hier in Bezug auf das Lachen mit dem Bild des das Fass zum Überlaufen bringenden Tropfens erneut aufgenommen – und in diesem Fall wird dadurch tatsächlich eine Kippbewegung ausgelöst: »[…] смех его бросил последнюю каплю в чашу страха, овладевшего свидетелями. Толкаясь и вскрикивая, бросились они прочь. Мальчишки, стиснутые в дверях, кричали, как зарезанные.«941 Obwohl die Panik der Augenzeugen auf eine übernatürliche Ursache der Ereignisse hindeutet, wird eine rationale Erklärung nicht ausgeschlossen, sodass der Schwebezustand erhalten bleibt, wenn auch nunmehr mit deutlicher Schlagseite. Karnevalistisches Lachen und vermeintliche Umkehrung der Machtverhältnisse Das Lachen wird im Zusammenhang mit dem dritten wunderlichen und grotesken Vorfall wieder aufgenommen, der sich auf der ulica Psa ereignet. Gol’c greift sich dort von einer alten Händlerin ein rohes Ei, schlägt es auf und entnimmt ihm eine Goldmünze. Eine Referenz auf das Neue Testament in modifizierter Form ist auch diesmal wieder vorhanden: Mit einer Goldmünze aus einem Fisch soll Petrus im Auftrag Jesu die Tempelsteuer in Kapernaum bezahlen.942 Auch die beiden Steigerungen aus der Bäckereiszene finden sich hier wieder. Die Menschenmenge aus dem Laden ist mittlerweile zu einer »толп[a], запрудивш[ая] улицу«943 angewachsen, und auch das Lachen erfährt eine neuerliche Steigerung. Dieses Mal allerdings lacht nicht mehr Gol’c, sondern die Augenzeugen. Anfangs sind die Reaktionen, wie schon in der Bäckerei, ambivalent und schwanken zwischen Amüsiertheit und Schrecken: »Публика, окружившая старуху, вопила, захлебываясь кто смехом, кто бессмысленными ругательствами.«944 Die durch die Goldmünze geweckte Gier der Umstehenden jedoch führt zu einer grotesken Komik, welche das bedrohliche Potential der Szene unterminiert: Дряхлые, жадные руки с безумной торопливостью били яйцо за яйцом; содержимое их текло на мостовую и свертывалось в пыли скользкими пятнами. 940 PV, 247. Dt.: »lachte« (PVd, 12). 941 PV, 247. Dt.: »[…] sein Lachen […] war der letzte Tropfen, der die Schale der Angst [, die die Augenzeugen ergriffen hatte,] zum Überlaufen brachte. Schubsend und schreiend stürzten die Zuschauer hinaus. Die Kinder, von der Menge an der Tür eingequetscht, brüllten wie am Spieß.« (PVd, 12). 942 Vgl. Mt 17,24–27; Das Neue Testament. 943 PV, 247. Dt.: »Menge, die die Straße überschwemmte« (PVd, 13). 944 PV, 248. Dt.: »Die Leute umdrängten die alte Frau [und schrien]; die einen wollten sich schier kaputtlachen, die andern stießen sinnlose Flüche aus.« (PVd, 13).

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Но не было больше ни в одном яйце золота, и плаксиво шамкал беззубый рот, изрыгая старческие проклятия; кругом же, хватаясь за животы, стонали от смеха люди.945

Das Lachen vermag das Phantastische zwar nicht aufzuheben – denn dafür wäre eine zweifelsfreie Bestimmung der Vorfälle entweder als Trick oder als wahre Magie notwendig –, doch bewirkt es seine vorübergehende Depotenzierung. In seinen theoretischen Überlegungen zum (mittelalterlichen bzw. karnevalistischen) Lachen führt Bachtin diesen befreienden Effekt des Lachens angesichts von Autorität und Macht aus: »Особенно остро ощущал средневековый человек в смехе именно победу над страхом.«946 Dieser Sieg bezieht sich auf die Angst […] перед властью божеской и человеческой, перед авторитарными заповедями и запретами, перед смертью и загробными воздаяниями, перед адом, перед всем, что страшнее земли. Побеждая этот страх, смех прояснял сознание человека и раскрывал для него мир по-новому.947

Dieselbe Ausrichtung auf das Höchste weist Bachtin zufolge auch das karnevalistische Lachen auf: Es ist »направлен на высшее«.948 Wie bereits im Zusammenhang mit dem ersten unerklärlichen Ereignis deutlich wird, vermuten

945 PV, 248. Dt.: »Tattrige, gierige Hände schlugen mit unsinniger Hast Ei um Ei auf; ihr Inhalt klatschte aufs Pflaster und gerann im Staub zu glibbrigen Flecken. Doch in keinem Ei war mehr ein Goldstück, und weinerlich mümmelte der zahnlose Mund und stieß greisenhafte Verwünschungen aus; die Leute ringsum hielten sich den Bauch und stöhnten vor Lachen.« (PVd, 13). 946 Bachtin, M. M.: Tvorčestvo Fransua Rable i narodnaja kul’tura srednevekov’ja i renessansa (1965 g.). In: Ders.: Sobranie sočinenij v semi tomach. T. 4 (2). Tvorčestvo Fransua Rable i narodnaja kul’tura srednevekov’ja i renessansa (1965 g.). Rable i Gogol’ (Iskusstvo slova i narodnaja smechovaja kul’tura) (1940, 1970 gg.). Kommentarii i priloženie. Ukazateli. Moskva 2010, 7–508, hier 103; Hervorhebung im Original. Dt.: »Es war der Sieg über die Angst, den der Mensch des Mittelalters am Lachen besonders deutlich fühlte […].« (Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übersetzt von Gabriele Leupold. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt a. M. 1995, 140; Hervorhebung im Original). 947 Bachtin: Tvorčestvo Fransua Rable, 103 f.; Hervorhebung im Original. Dt.: »[…] vor göttlicher und menschlicher Macht, vor Geboten und Verboten, vor dem Tod und der Sühne nach dem Tod, vor der Hölle, vor allem, was furchterregender ist als die Erde […]. Dadurch klärte das Lachen das menschliche Bewußtsein und entdeckte ihm die Welt auf neue Art.« (Bachtin: Rabelais und seine Welt, 140; Hervorhebung im Original). 948 Bachtin, M. M.: Problemy poėtiki Dostoevskogo. In: Ders.: Sobranie sočinenij v semi tomach. T. 6. ›Problemy poėtiki Dostoevskogo‹, 1963. Raboty 1960-ch  – 1970-ch gg. Moskva 2002, 5–300, hier 143. Dt.: »auf das Höchste gerichtet« (Bachtin, Michail: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russischen von Adelheid Schramm. München 1971, 142).

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die Augenzeugen teuflische Kräfte hinter den Handlungen von Gol’c, über die Bibelreferenzen werden aber ebenso göttliche Kräfte ins Spiel gebracht. Es handelt sich also in jedem Fall, wie bei Bachtin beschrieben, um etwas Furchterregenderes als das Irdische. Durch den Sieg über die Angst kehrt das karnevalistische Lachen die Machtverhältnisse um und führt zu einer Profanisierung des Heiligen (bzw. des Teuflischen): »Все грозное становится смешным.«949 Das gilt auch in »Proisšestvie v ulice Psa«: War es anfangs der lachende Gol’c, der, allein gegen alle anderen, die Oberhand über die Situation gewinnt, kommt es nun erneut zu einer Kippbewegung, diesmal zugunsten der Menschenmenge, der es durch das Lachen gelingt, ihre Furcht vor Gol’c und seinen Handlungen für kurze Zeit zu vergessen. Damit wird implizit zur letzten Szene der Erzählung übergeleitet, in der die Augenzeugen des Phantastischen ihre (vermeintliche) Überlegenheit über Gol’c zelebrieren. Nach seiner dritten und letzten phantastischen Handlung verlässt Gol’c den Schauplatz, denkt an die Frau, die ihn verlassen hat, und erschießt sich mit seinem Revolver.950 Der Tod bietet dem Protagonisten somit die Möglichkeit eines uchod – in seiner radikalsten Form – aus einer als ausweglos empfundenen Lage. In dem letzten Gedanken des Protagonisten vor seinem Suizid taucht der Hut mit Federn der Frau wieder auf: »Светлое перо шляпки, скрывшейся за углом, преследовало его.«951 – ebenso wie die Federn bei Blok in den Gedanken des lyrischen Ich ein zweites Mal vorkommen: »И перья страуса склоненные / В моем качаются мозгу«.952 Die Wiederholung des Motivs des Damenhuts impliziert eine kausale Verknüpfung zwischen der Trennung am Beginn und dem Suizid am Ende der Erzählung. Es evoziert die Frau mit dem Barett aus Čechovs »Dama s sobačkoj«,953 allerdings geht hier der Anblick des Hutes dem Beginn einer Liebesgeschichte voraus, während er in »Proisšestvie v ulice Psa« das Ende einer solchen symbolisiert. Dieses Ende ist bereits in der ersten Szene der Erzählung angelegt. Während sich Gol’c’ Frage »›Итак, между нами все кончено?‹«954 noch eindeutig auf das romantische Verhältnis bezieht, kann die Antwort der Frau, »›Все кончено‹«,955 auch im weiteren Sinne verstanden 949 Bachtin: Tvorčestvo Fransua Rable, 104. Dt.: »Alles Drohende wird lächerlich.« (Bachtin: Rabelais und seine Welt, 141). 950 Vgl. PV, 248. 951 Vgl. PV, 248. Dt.: »D[ie] helle Hut[feder] der Frau, längst hinter der Ecke verschwunden, ließ ihn nicht los.« (PVd, 13). 952 Blok: Neznakomka [Stichotvorenie], 123. Dt.: »Und die geneigten schwarzen Straußenfedern / Wippen und schaukeln im Gehirn« (Block: Die Unbekannte [Gedicht], 107). 953 Vgl. Čechov: Dama s sobačkoj, 128 f. 954 PV, 245. Dt.: »›Also ist zwischen uns alles aus?‹« (PVd, 6). 955 PV, 245. Dt.: »›Alles aus‹« (PVd, 6).

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werden, d. h. zusätzlich als Ende des Lebens des Protagonisten. Die Bestätigung der Trennung durch die Frau besiegelt also indirekt auch Gol’c’ Tod aus Liebeskummer. Darüber hinaus verknüpft das Hutmotiv aber auch die Trennung und die drei phantastischen Taten des Protagonisten miteinander. Denn Gol’c trägt ebenfalls eine »шляпу с пером«956 und auch sein Hut wird im Verlauf der Erzählung mehrmals erwähnt: Der Protagonist fasst ihn während des Trennungsgesprächs an, als er um Worte ringt; nach dem ersten Vorfall setzt er ihn beim Verlassen des Restaurants auf, nach dem zweiten, »с шляпой, сдвинутой на ухо, он производил впечатление помешанного«.957 Nicht nur der Federhut verbindet das ehemalige Paar: Auch als Gol’c am Ende der ersten phantastischen Begebenheit das Restaurant verlässt – »И он вышел, не оборачиваясь«958 – spiegelt er dabei die Frau, die sich von ihm entfernt und dabei »ни разу не обернулась«.959 Diese Details, die die Trennungsszene implizit mit den phantastischen Ereignissen verbinden, können als Hinweise darauf gelesen werden, dass Gol’c seine magischen Kräfte durch den übermenschlichen Schmerz der Trennung verliehen bekommt.960 Das radikal Fremde des Phantastischen wird also eingerahmt durch Eros und Tod, die ebenfalls Erscheinungsformen des radikal Fremden darstellen. Abschluss: Der gescheiterte Versuch einer Aufhebung des Phantastischen Die Haltung der herbeieilenden Passanten gegenüber Gol’c verändert sich mit seinem Tod augenblicklich: »От живого держались на почтительном расстоянии, к мертвому бежали, сломя голову. Так это человек просто? 956 PV, 245. Dt.: »Hut mit der Feder« (PVd, 6). 957 PV, 247. Dt.: »der Hut aufs Ohr gerutscht –, machte er den Eindruck eines Geisteskranken.« (PVd, 13). Jahre später dient Grin der Hut mit Feder erneut als Attribut eines Verrückten, wenn er in »Kanat« (1922; dt.: »Das Seil«; vgl. Grin, Aleksandr S.: Kanat. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichot­vorenija. Poėma. Moskva 1991, 198–213. Kürzel: KA) Teil des Kostüms eines prototypischen Größenwahnsinnigen wird: »высокая шляпа, утыканная петушьими и гусиными перьями« (KA , 198. Dt.: »ein hoher Hut, bestückt mit Hahnen- und Gänsefedern« (Grin, Alexander: Das Seil. Übersetzt von Bogdan Kovtyk. In: Ders.: Der Fandango. Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Karlheinz Kasper. Leipzig, Weimar 1984, 5–24, hier 5. Kürzel: KAd)). 958 PV, 246. Dt.: »Er ging hinaus, ohne einen Blick zurückzuwerfen« (PVd, 11). 959 PV, 245. Dt.: »nicht [ein einziges Mal] zurück[blickte]« (PVd, 7). 960 In der bereits erwähnten Erzählung »Ogon’ i voda« findet sich eben dieses Muster des Erhalts übermenschlicher Kräfte durch einen unerträglichen, in Zusammenhang mit der Liebe stehenden Schmerz: Der Protagonist dieser Erzählung erfährt, dass seine Kinder bei einem Hausbrand ums Leben gekommen sind und seine Frau im Krankenhaus im Sterben liegt. Halb wahnsinnig vor Schmerz, läuft er zu Fuß zum Krankenhaus und erreicht es nach so kurzer Zeit, dass dies eigentlich schlichtweg nicht möglich ist. Auch hier wird jedoch eine alternative, rationale Begründung angeführt: Die Uhren seien falsch gegangen und der Protagonist eigentlich später angekommen (vgl. OV, 442).

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Так он действительно умер?«961 Aus dem wunderbar-unheimlichen Urheber rätselhafter Ereignisse ist ein ganz gewöhnlicher Mensch geworden. Das Geschehen scheint damit wieder auf die Ebene des Logisch-Rationalen zurückgekehrt zu sein und auch rückwirkend als solches eingeordnet werden zu können. Dafür spricht auch die Verlagerung des Schauplatzes aus der spaltartigen und damit dem Riss des Phantastischen ähnlichen ulica Psa auf einen Platz.962 Hatte nach dem zweiten Vorfall also eine Tendenz zu einer Bestimmung der Ereignisse als magisch, d. h. wunderbar, bestanden, kippt diese nun ebenfalls hin zu einer rationalen Begründung, d. h. einer Einordnung als unheimlich. Gerade die Reaktion der Menschenmenge auf den toten Gol’c beweist jedoch indirekt, dass die Erschütterung durch das hereingebrochene radikal Fremde keineswegs überwunden ist. Zum einen betont die Tatsache, dass die Passanten keinerlei Berührungsängste gegenüber dem Toten aufweisen und seinen Tod als Erleichterung empfinden, noch einmal die Intensität der Verunsicherung, die seine Taten zu Lebzeiten hervorgerufen haben  – denn der Tod selbst ist ebenfalls eine Erscheinungsform des radikal Fremden, die allerdings dem Phantastischen offensichtlich um Längen vorgezogen wird. Vor allem aber sind die Fragen der Passanten aufschlussreich: Indem sie sich demonstrativ dessen versichern, dass Gol’c ein ganz normaler Mensch ist, der einfach so sterben kann, wird versucht, die Verunsicherung des Schwebezustands beiseite zu schieben. Gol’c’ gänzlich irdisch-banaler Tod wird als Beweis dafür betrachtet, dass hinter den Geschehnissen nichts weiter als geschickt ausgeführte Tricks stecken. Was zunächst nur implizit in der Beschreibung enthalten ist, kommt in den ›Grabreden‹, die vielmehr einer Abrechnung durch die Geschädigten gleichen und direkt über seinem auf der Straße liegenden Leichnam gehalten werden, explizit zum Ausdruck: »[…] старух[а] […], радостно взвизгивая, кричала: ›Шарлатан!‹ Ресторатор же злобно и сладко бросил: ›Так!‹«963 Durch diese Festlegung auf die rationale Erklärung einer (Sinnes-)Täuschung scheint das Phantastische aufgehoben zu sein, da die Ereignisse sich in die bestehende Ordnung der Dinge einfügen lassen. Die von den Passanten gewählte Strategie des Umgangs mit dem hier vorliegenden radikal Fremden scheitert jedoch notwendigerweise an dem besonderen Wesen des Phantastischen, das solange bestehen bleibt, bis es eindeutig als Unheimliches oder Wunderbares bestimmt ist – und genau das ist nicht möglich, auch nicht durch den Tod des Protagonisten. Unterschwellig kommt 961 PV, 248; Hervorhebungen im Original. Dt.: »Zu dem Lebenden hatten die Leute respektvollen Abstand gehalten, zu dem Toten stürmten sie Hals über Kopf. Also war das einfach ein Mensch gewesen? Also war er wirklich gestorben?« (PVd, 13; Hervorhebungen im Original). 962 Vgl. PV, 248. 963 PV, 248. Dt.: »[…] [die] alte[…] Frau […] kreischte freudig auf und zeterte: ›Ein Scharlatan!‹ Der Wirt fiel giftig und genüßlich ein: ›Jawohl!‹« (PVd, 14).

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diese Unsicherheit sogar im Moment der vermeintlichen Versicherung zum Ausdruck, denn die Feststellungen sowohl der Gewöhnlichkeit des Protagonisten als auch seines Todes sind eigentlich Fragen: »Так это человек просто? Так он действительно умер?«964 Aufgrund seiner vorangegangenen Handlungen ist Gol’c den Umstehenden so allumfassend fremd, dass ihm selbst die allgemeinsten Eigenschaften der Eigengruppe, Menschsein und Sterblichkeit, nicht zweifelsfrei zugeschrieben werden können. Die Unsicherheit durchzieht unterschwellig auch die demonstrative Erniedrigung des Toten, die durch eine Kontrastierung mit seiner Macht zu Lebzeiten verstärkt wird und erneut mit dem Element des Lachens, nun in der Variante des Auslachens, einhergeht: Гул вопросов и восклицаний стоял в воздухе. Записка, найденная в кармане Гольца, тщательно комментировалась. Из-за юбки? Тьфу! Человек, встревоживший целую улицу, человек, бросивший одних в наивный восторг, других – в яростное негодование, […] – этот человек умер из-за одной юбки?! Ха-ха! Чему же еще удивляться?!965

Der letzte Satz dieses Zitats kann einerseits schlicht als Floskel in Gestalt einer rhetorischen Frage gelesen werden, andererseits aber auch als weiterer Versuch der Versicherung: Nun, da die Gewöhnlichkeit des Toten durch die Entdeckung des trivialen Motivs für seinen Suizid zusätzlich bestätigt zu sein scheint, gibt es keinen Grund mehr, sich zu wundern. Doch auch hier ist der Zweifel innerhalb der Aussage unterschwellig präsent, denn der Satz endet sowohl mit einem Ausrufezeichen als auch einem Fragezeichen, ebenso wie sich in der Menschenmenge insgesamt Fragen und Ausrufe mischen. An der Identifikation des Protagonisten als gewöhnlicher Mensch bleiben somit unauslöschliche Zweifel, die jedoch keiner der Passanten zugeben kann – denn dies wäre gleichbedeutend mit dem Fortbestehen des Phantastischen. Eben deshalb birgt jedoch auch Gol’c’ Anerkennung als Teil der Eigengruppe noch nach seinem Tod ein zu großes Potential der Beunruhigung. Das Residuum des radikal Fremden macht daher eine Strategie erforderlich, die eine Exklusion des Protagonisten aus anderen, d. h. vorgeschobenen, Gründen ermöglicht. Die Lösung dafür findet sich in dem ohnehin bereits spöttisch

964 PV, 248; Hervorhebungen im Original. Dt.: »Also war das einfach ein Mensch gewesen? Also war er wirklich gestorben?« (PVd, 13; Hervorhebungen im Original). 965 PV, 248. Dt.: »Ein Gewirr von Fragen und Ausrufen stand in der Luft. Ein Zettel, in der Tasche des Toten gefunden, wurde ausgiebig kommentiert. Wegen eines Weiberrocks? Pah! Der Mann, der eine ganze Straße in Aufruhr versetzt, der Mann, der die einen in naive Begeisterung, die andern in rasende Empörung gestürzt […] hatte, […] dieser Mann war wegen eines Weiberrocks gestorben? Ha-ha! Dann war ja alles klar [wörtlicher: Worüber soll man sich denn da noch wundern] [?]!« (PVd, 13 f.).

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kommentierten Grund für Gol’c’ Suizid, weil er der Menschenmenge ein gemeinsames Merkmal bietet, das den Verstorbenen ausschließt: Обыватели расходились под ручку с женами и любовницами.966 Редкий из них не любил в этот момент свою подругу и не стискивал крепче ее руки. У них было то, чего не было у умершего, – своя талия. В глазах их он был бессилен и жалок – черт ли в том, что он наделен какими-то особыми качествами; ведь он был же несчастен все-таки, – как это приятно, как это приятно, как это невыразимо приятно!967

Die Exklusion des Protagonisten geschieht am Ende also durch die Kon­ struktion einer alltäglichen Fremdheit in Form der Nichtzugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Die Erniedrigung des als fremd Ausgegrenzten durch Lachen und die Bezeichnung als »бессилен и жалок«968 geht dabei einher mit der Selbsterhöhung der Gruppenmitglieder, die als Gegenreaktion zu der zuvor eingenommenen Machtposition Gol’c’ betrachtet werden kann. Gerade deshalb wird sein tiefer Fall auch als so außerordentlich angenehm empfunden. Vorbereitet und begleitet wird die Ausgrenzung durch eine zweite Erscheinungsform alltäglicher Fremdheit, nämlich soziale Kälte: Die Passanten zeigen vom ersten Moment an keinerlei Mitgefühl mit dem Toten, durchwühlen seine Taschen, lassen den Leichnam am Ende auf dem Platz zurück und empfinden sogar Freude über sein Unglück, weil es das eigene Glück deutlich macht und gleichzeitig seine speziellen Fähigkeiten (ob übernatürlich oder nicht) relativiert. Damit bildet die alltägliche Fremdheit, die auch im ersten Abschnitt der Erzählung zwischen Gol’c und der Frau vorliegt, eine Klammer um das radikal Fremde im Mittelteil. Dass das Phantastische dadurch keineswegs aufgehoben, sondern lediglich verdrängt ist, wird dabei nicht thematisiert. Es erschließt sich nur indirekt aus der Erfüllung der Existenzbedingung des Phantastischen nach Todorov, da eine übernatürliche Ursache der Ereignisse von den Passanten bis zum Schluss weder eindeutig identifiziert noch ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus ist es implizit in der Schlusspassage der Erzählung enthalten. Darin 966 Auch hier liegt eine intertextuelle Referenz auf Bloks Gedicht »Neznakomka« vor, in dem es heißt: »Среди канав гуляют с дамами / Испытанные остряки.« (Blok: Neznakomka [Stichotvorenie], 122. Dt.: »Inmitten von Kanälen [flanieren] mit den Damen / Die altbewährten Bonmotisten.« (Block: Die Unbekannte [Gedicht], 106)). 967 PV, 248. Dt.: »Die Einwohner gingen auseinander, Arm in Arm mit der Ehefrau oder Geliebten. Da war kaum einer, der in diesem Moment nicht seine Freundin geliebt, ihr nicht kräftig die Hand gedrückt hätte. Sie besaßen, was der Verstorbene nicht besessen hatte – ein Weib [wörtl.: eine Taille]. In ihren Augen war er schwach und kläglich – was half ’s, dass er über besondere Eigenschaften verfügt hatte; unglücklich war er trotzdem gewesen – wie angenehm, wie angenehm, wie unsagbar angenehm!« (PVd, 14). 968 PV, 248. Dt.: »schwach und kläglich« (PVd, 14).

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heißt es über die sich zerstreuende Menschenmenge: »Не сомневайтесь – все были рады. И подобно тому, как в деревянном строении затаптывают тлеющую спичку, гасили в себе мысль: ›А может быть… может быть – ему было нужно что-нибудь еще?‹«969 Das undefinierte ›Etwas‹, das der Protagonist zusätzlich zu seinen besonderen Fähigkeiten benötigt hätte, um weniger unglücklich zu sein, ist als Hinweis auf seine alltägliche Fremdheit zu lesen, also vor allem auf die Frau, die ihn verlassen hat, aber durchaus auch auf die Menschen auf der Straße, die ihm mit Furcht oder Gelächter, in jedem Fall aber mit Distanz begegnen und seinen Selbstmord nicht verhindern. Demnach bezieht sich das sogar wiederholte ›vielleicht‹ auf sich einschleichende Zweifel an der vorgenommenen sozialen Ausgrenzung. Gleichzeitig ruft eben dieses zweifache ›vielleicht‹ erneut die Präsenz des Phantastischen auf, das seine Beobachter vor die Entscheidung stellt, »может быть«970 die rationale, »может быть« die übernatürliche Erklärung zu wählen. Die durch drei Punkte gekennzeichnete Auslassung kann als diese nicht ausgesprochene, auf die drei phantastischen Ereignisse bezogene zweite Bedeutungsebene interpretiert werden, und das Fragezeichen, mit dem die Erzählung endet, als die Unmöglichkeit, eine eindeutige Wahl zwischen natürlicher und übernatürlicher Ordnung zu treffen. Wie also bereits zuvor die Zuschreibung einer alltäglichen Fremdheit die Exklusion des Protagonisten ermöglicht, obwohl der eigentliche Grund in seiner radikalen Fremdheit liegt, ersetzen auch hier die Zweifel hinsichtlich der alltäglichen Fremdheit in Bezug auf den sozialen Ausschluss Gol’c’ die tieferliegenden Zweifel in Bezug auf die radikale Fremdheit in Gestalt des Phantastischen. Diese Struktur ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich, da sie zum einen zeigt, dass das Sprechen und Denken des radikal Fremden im Grunde nur über den Umweg einer Äquivalenz auf der Ebene eines geringeren Fremdheitsgrads möglich ist, da es ansonsten nicht fassbar und zudem (gerade deshalb) zu bedrohlich ist – wie das Streichholz im Holzhaus, das ausgetreten wird, bevor es völlige Zerstörung anrichtet. Mit dieser Metapher für das Beiseiteschieben des Gedankens an das alltägliche Fremde, aber damit implizit auch an das radikal Fremde, schließt sich der Kreis: Das Phantastische, das nach Lachmann das Verdrängte einer Kultur darstellt, bleibt bis zum Ende der Erzählung wirksam und hochgradig beunruhigend – und wird daher erneut aus dem Bewusstsein verdrängt.

969 PV, 248; Hervorhebung im Original. Dt.: »Zweifeln Sie nicht – alle waren froh. Und wie in einem Holzhaus ein glimmendes Streichholz ausgetreten wird, so löschten sie in sich den Gedanken: [›]Vielleicht… vielleicht – hatte er noch etwas anderes gebraucht?[‹]« (PVd, 14; Hervorhebung im Original). 970 PV, 248. Dt.: »vielleicht« (PVd, 14).

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Narrative Gestaltung: Widerspiegelung des liminalen Zustands des Phantastischen Die Ansprache des fiktiven Lesers durch den Erzähler, »Не сомневайтесь […]«,971 mit der die abschließende Passage von »Proisšestvie v ulice Psa« beginnt, ist vor dem Hintergrund ihrer Doppelschichtigkeit, in der das radikal Fremde präsent ist, ohne genannt zu werden, hochgradig ironisch. Denn mag die Aufforderung, nicht zu zweifeln, in Bezug auf die gehobene Stimmung der Passanten zumindest auf der Oberfläche zutreffend sein, so kann das hinsichtlich des Phantastischen keineswegs behauptet werden. Wie bereits angesprochen wurde, erhält der abstrakte Leser durch den Erzähler kaum Informationen, die über das Wissen der handelnden Figuren hinausgehen, sodass er sich in demselben Schwebezustand zwischen den zwei möglichen Erklärungen der rätselhaften Ereignisse befindet wie sie. Verstärkt wird diese Unsicherheit durch den Erzähler selbst, der gleich aus mehreren Gründen als unzuverlässig einzuordnen ist. Dadurch stellt der Erzähler in »Proisšestvie v ulice Psa« keine autoritative, Orientierung bietende Instanz dar, der der abstrakte Leser uneingeschränkt Glauben schenken und deren Urteil er sich anschließen kann. Erstens ist der Erzähler nicht selbst Augenzeuge der Ereignisse, sondern gibt lediglich Berichte von zwei der Anwesenden, einem Historiker und einem Metzger, wieder. Diesen Umstand teilt er dem Leser zudem erst mit einiger Verspätung mit, nämlich zu Beginn des dritten, d. h. letzten Kapitels der Erzählung,972 wodurch er in gewisser Weise Verrat am Leser begeht und so zusätzlich an Glaubwürdigkeit verliert. Die beiden Zeugen, auf die sich die Darstellung aus zweiter Hand stützt, sind ihrerseits nicht allzu vertrauenswürdig. Denn der Historiker bittet, wie der Erzähler anmerkt, darum, nicht namentlich genannt zu werden,973 und den ebenfalls namenlos bleibenden Metzger diskreditiert der Erzähler sogar selbst, sodass Letzterer als unglaubwürdiger – oder vielmehr als noch unglaubwürdiger – eingeschätzt wird als Ersterer: »Историк, […] лицо, во всяком случае, более почтенное, чем какой-то мясник […]«.974 Noch gravierender für die Glaubwürdigkeit sowohl der Zeugen als auch des Erzählers ist allerdings der Umstand, dass sich die beiden Augenzeugenberichte widersprechen, worauf der Erzähler explizit eingeht. Dabei handelt es sich nicht um Abweichungen in kleineren Details, die in einer so chaotischen Situation wie der geschilderten nicht verwunderlich gewesen wären, sondern 971 PV, 248. Dt.: »Zweifeln Sie nicht […]« (PVd, 14). 972 Vgl. PV, 246. 973 Vgl. PV, 246. 974 PV, 246. Dt.: »Der Historiker […], immerhin eine weitaus respektablere Person als [irgend]ein Fleischer […]« (PVd, 11).

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der Historiker »сильно противоречит«975 dem Metzger. Dies geschieht in einem Ausmaß, dass sie von zwei völlig verschiedenen Situationen berichten, nämlich dem zweiten und dem dritten rätselhaften Vorfall mit dem Zwieback respektive der Goldmünze im Ei: »Мясник утверждал, что странный молодой человек направился в хлебопекарню и спросил фунт сухарей. Историк […] божится, что он стал торговать яйца у старухи на углу улицы Пса и переулка Слепых.«976 Es scheint also, als habe entweder das eine oder das andere Ereignis stattgefunden. Darauf weist auch der Kommentar des Erzählers zu diesem Widerspruch hin, da er beiden Berichten einen ähnlichen Sinn zuschreibt, sodass der Widerspruch zu vernachlässigen sei: »Противоречие это, однако, не вносит существенного изменения в смысл происшедшего, и потому я останавливаюсь на хлебопекарне.«977 An dieser Stelle scheint es, als werde der Erzähler im Folgenden ent­weder nur von dem Ereignis in der Bäckerei (stellvertretend für beide äquivalente Zeugenaussagen) berichten oder die beiden Ereignisse als alternative Ausschmückungen der im Grunde selben Handlung darstellen. Nach der Schilderung der Geschehnisse mit dem Zwieback jedoch wird aus der Alternative plötzlich eine zeitliche Abfolge, denn der Erzähler beschreibt, wie der Protagonist die Bäckerei verlässt und auf der Straße die Eierhändlerin trifft: »Опять Гольц вышел, хлопнув дверьми так, что зазвенели стекла. Ему хотелось сломать что-нибудь, раздавить, ударить первого встречного. […] Для старухи было бы лучше не попадаться ему на глаза.«978 Die beiden Schauplätze und damit auch Ereignisse werden durch den Gang des Protagonisten nicht nur im räumlichen Sinne, sondern auch als zeitliche Abfolge miteinander verbunden. Dieselbe logische Verknüpfung findet sich am Übergang zwischen dem Bericht über den Goldmünzenfund und der Suizidszene – »Гольц тотчас же отошел […]«,979 »Подойдя к площади […]«980 –, ebenso wie zuvor zwischen dem Restaurant – »И он вышел […]«981 – und

975 PV, 246. Dt.: »widerspricht [heftig]« (PVd, 11). 976 PV, 246 f. Dt.: »Der Fleischer behauptet[e], der seltsame junge Mann habe sich in die Bäckerei begeben und ein Pfund Zwieback verlangt. Der Historiker […] schwört bei Gott, […] [er] habe einer alten Frau in der Köterstraße Ecke Blindengasse Eier abhandeln wollen.« (PVd, 11). 977 PV, 247. Dt.: »Dieser Widerspruch ändert jedoch nichts am Wesen des Vorgefallenen, darum verweile ich […] bei der Bäckerei.« (PVd, 11). 978 PV, 247. Dt.: »Wieder ging […] [Gol’c] hinaus und schlug die Tür[en] zu, daß die Scheiben klirrten. Er hatte Lust, etwas zu zerbrechen, zu zermalmen, den erstbesten, der ihm in den Weg lief, zu schlagen. […] Die alte Frau hätte besser daran getan, ihm nicht unter die Augen zu kommen.« (PVd, 12 f.). 979 PV, 247. Dt.: »[Gol’c] ging rasch weiter […]« (PVd, 13). 980 PV, 248. Dt.: »[…] war indessen auf einen Platz gekommen […]« (PVd, 13). 981 PV, 246. Dt.: »[Und] er ging hinaus […]« (PVd, 11).

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der Bäckerei – »Открывая ее дверь […]«.982 Von den starken Abweichungen zwischen den Berichten des Historikers und des Metzgers ist hier keine Rede mehr, die Darstellung enthält keinerlei Hinweis darauf, dass es sich, wie zuvor behauptet, bei den Vorfällen in der Bäckerei und auf der Straße, wenn schon nicht um konfligierende, so doch zumindest um alternative Darstellungen der Ereignisse handelt. Der abstrakte Leser ist somit nicht nur derselben Unsicherheit wie die handelnden Figuren hinsichtlich der Bewertung der rätselhaften Ereignisse ausgesetzt, sondern er besitzt aufgrund dieses Widerspruchs in der Narration nicht einmal Gewissheit darüber, ob es nun zwei oder drei Vorfälle gegeben hat. Ein letztes Indiz für die Unzuverlässigkeit des Erzählers stellt schließlich die von ihm eingenommene Erzählperspektive bzw. der Erzählertypus dar. Da der Erzähler explizit darauf hinweist, dass es sich bei seiner Schilderung um einen Bericht aus zweiter Hand handelt, gebietet es die Logik, dass er die figurale Perspektive seiner Augenzeugen einnimmt, die die Ereignisse als Außenstehende beobachtet haben. Tatsächlich beschränkt der Erzähler sich weitestgehend auf Beschreibungen der Schauplätze sowie von Handlungen, Aussagen, Gesten oder Mimik der Beteiligten. Die Außenperspektive auf den geheimnisvollen Protagonisten zeigt sich z. B. an Stellen wie dieser: »Гольц тотчас же отошел, шаря в кармане. Что он искал там?«,983 die Innenperspektive, z. B. in Bezug auf die Empfindungen der Menschenmenge, ist durch die Zugehörigkeit der Augenzeugen zu eben dieser Menge logisch begründet. Allerdings ist die Erzählperspektive nicht ganz konsistent. Zum einen erscheint es unwahrscheinlich, dass der Erzähler auch detaillierte Kenntnis über die Trennungsszene, d. h. die Phase, bevor die Aufmerksamkeit der Leute sich auf Gol’c richtet, sowie den Moment zwischen seinem Weggang aus der ulica Psa und seinem Suizid auf dem Platz, d. h. den Zeitraum, in dem die Leute mit dem Aufschlagen der Eier beschäftigt sind, besitzt. Dennoch ist es nicht völlig unmöglich, zieht die Glaubwürdigkeit der Darstellung also nicht ernsthaft in Zweifel. Ganz anders verhält es sich dagegen in den Momenten, in denen der Erzähler plötzlich eine Introspektion in das Innere von Gol’c vornimmt, von seinen Gedanken und Gefühlen berichtet. Dies stellt einen klaren Bruch in der Logik der Narration dar. Beispiele dafür finden sich sowohl vor dem Einbruch des Phantastischen (z. B. »Ждал он тоскливо и страстно, с темной уверенностью в конце. А иногда, улыбаясь прошлому, думал, что, может быть, все обойдется как нельзя лучше.«),984 als auch währenddessen (»Гольц 982 PV, 247. Dt.: »öffnete […] [ihre] Tür […]« (PVd, 11). 983 PV, 247. Dt.: »[Gol’c] ging rasch weiter und kramte in seiner Tasche. Was suchte er dort?« (PVd, 13). 984 PV, 244. Dt.: »Er wartete traurig und leidenschaftlich, in der dunklen Gewißheit, daß es zu Ende war. Aber hin und wieder, wenn er dem Vergangenen nachlächelte, dachte er, daß sich vielleicht doch noch alles zum Besten wenden werde.« (PVd, 5).

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сморщился и пожал плечами, но тотчас расхохотался. Пусть ломают головы – это его последняя, причудливая забава.«985 oder »Ему хотелось сломать что-нибудь, раздавить, ударить первого встречного.«986) und danach (»Светлое перо шляпки, скрывшейся за углом, преследовало его.«).987 Wie das Phantastische sich bereits am Beginn der Erzählung ankündigt und bis zum Schluss wirksam bleibt, stellen auch diese stets sehr kurzen Passagen gleichsam einen immer wieder aufbrechenden Riss in der logischen Struktur des Erzählens dar, der sich durch die ganze Erzählung zieht und für den abstrakten Leser die Frage aufwirft, ob es sich wirklich um einen Tat­ sachenbericht handelt oder ob die Darstellung der realen Ereignisse durch die Phantasie des Erzählers nicht vielmehr ausgeschmückt und damit verändert wurde. Der Leser ist somit nicht nur mit derselben Unsicherheit wie die handelnden Figuren in Bezug auf die phantastischen Ereignisse konfrontiert – als real, d. h. übernatürlich, oder nicht real, d. h. Sinnestäuschung  – sondern zusätzlich mit einer analogen Unsicherheit hinsichtlich der Einordnung der Handlung insgesamt – als real, d. h. Tatsachenbericht, oder nicht real, d. h. fiktional oder fiktionalisiert. Die narrative Struktur der Erzählung spiegelt auf diese Weise deren Inhalt. Insgesamt weist die Erzählung eine leichte Tendenz zu einer übernatürlichen Erklärung auf, die auf der Annahme basiert, dass Gol’c tatsächlich magische Kräfte besitzt (und diese möglicherweise durch den unerträglichen Schmerz der Trennung verliehen bekommt); eine eindeutige Entscheidung ist aber, wie gezeigt wurde, nicht möglich. Dasselbe gilt für die nachfolgend analysierte Erzählung, bei der die – ebenfalls nur leichte – Tendenz in die andere Richtung geht. 4.3.2.2 Das Phantastische mit Tendenz zum Unheimlichen: »Ubijstvo v rybnoj lavke«

Die Erzählung »Ubijstvo v rybnoj lavke« aus dem Jahr 1915988 handelt von den rätselhaften Umständen des im Titel genannten Mordes. Protagonist und zugleich diegetischer Erzähler mit narratorialer Perspektive ist Pik-Mik, der noch in zwei weiteren Werken Grins auftritt, darunter in der Erzählung 985 PV, 247. Dt.: »[Gol’c] runzelte die Stirn und zuckte die Achseln, aber gleich darauf lachte er schallend: Sollen sie sich den Kopf zerbrechen – das ist [s]ein letztes wunderliches Vergnügen.« (PVd, 12). 986 PV, 247. Dt.: »Er hatte Lust, etwas zu zerbrechen, zu zermalmen, den erstbesten, der ihm in den Weg lief, zu schlagen.« (PVd, 12). 987 PV, 248. Dt.: »D[ie] helle Hut[feder] der Frau, längst hinter der Ecke verschwunden, ließ ihn nicht los.« (PVd, 13). 988 Die Erzählung erscheint erstmals in der Zeitschrift Argus, Nr. 4, 1915 (vgl. Revjakina: Primečanija. Sobranie sočinenij. Tom vtoroj, 646).

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»Nasledstvo Pik-Mika« (ebenfalls 1915).989 Sein Name erinnert nicht nur an das in die russische Sprache übernommene, fremdartig klingende Wort Picknick (russ.: piknik), sondern auch an die Figur des Sonderlings Samuel Pickwick aus Charles Dickens’ Roman »The Posthumous Papers of the Pickwick Club« (1836–1837),990 den Grin kennt und für seine Ungewöhnlichkeit schätzt.991 Dieser Bezug wird durch die Tatsache untermauert, dass sich Grin in »Nasledstvo Pik-Mika« der Struktur aus »The Posthumous Papers of the Pickwick Club« bedient: Wenige Tage nach Pik-Miks Tod treffen sich seine Freunde, um gemeinsam seine nachgelassenen Schriften (»[з]аписки мои«)992 zu lesen – es handelt sich also gleichsam nicht um, wie der Titel der russischen Übersetzung lautet, ›Posmertnye zapiski Pikviksogo kluba‹,993 sondern um ›Posmertnye zapiski Pik-Mika‹.994 Diese enthalten, wie in Dickens’ Roman, episodenhafte Schilderungen der Erlebnisse ihres Verfassers.995 Diesem bereits durch seinen Namen als fremd gekennzeichneten Pik-Mik widerfährt in »Ubijstvo v rybnoj lavke« ein rätselhaftes Erlebnis, das dem Bereich des Phantastischen zuzuordnen ist: Er hört ein Gespräch von Passanten über einen Mord, begibt sich an den Ort des Geschehens, findet den angeblich Toten quicklebendig vor, erschlägt ihn im Streit und hört nach seiner Rückkehr nach Hause erneut die Unterhaltung über den Mord. Schauplatz der Handlung ist das am Meer gelegene Zurbagan, eine der fiktiven Städte Grinlandijas im engsten Begriffsverständnis. Die folgende Analyse geht vor allem der Frage nach, wie das Phantastische in der Erzählung hervorgebracht und aufrechterhalten wird und welche Rolle der Narration dabei zukommt. Dabei werden explizite und implizite Deutungsvarianten des Geschehens, die auf eine rationale oder übernatürliche Erklärung hinweisen, herausgearbeitet. Eine wichtige Rolle für die Klassifizierung von »Ubijstvo v rybnoj lavke« als Phantastik spielen die Worte, die der Erzählung vorangestellt sind: 989 Pik-Mik tritt außerdem in der bereits erwähnten Erzählung »Istorija Taurena« auf. 990 Vgl. Dickens, Charles: The Pickwick Papers. Introduction by G. K. Chesterton. London u. a. 1965. 991 Vgl. Veržbickij: Svetlaja duša. Naš sovremennik, 105. 992 NP, 326. Dt.: »meine Aufzeichnungen«. 993 Dt.: ›Die posthumen Aufzeichnungen des Pickwick Clubs‹. 994 Dt.: ›Die posthumen Aufzeichnungen des Pik-Mik‹. 995 Nicht auszuschließen ist auch eine Referenz auf das nur ein Jahr vor »Ubijstvo v rybnoj lavke« erschienene Gedicht »Mik (Afrikanskaja poėma)« (1914; dt.: »Mik (Afrikanisches Poem)«) von Nikolaj Gumilëv. Der Name des afrikanischen Häuptlingssohns ist nicht nur im Namen des Protagonisten von Grins Erzählungen enthalten; auch Pik-Miks Pudel aus »Nasledstvo Pik-Mika« heißt Mik (vgl. NP, 326). Zum Thema der Reise als verbindendem Element zwischen dem Schaffen Grins und Gumilëvs vgl. Raskina, Elena: Duchovnaja napolnennost’ putešestvii v tvorčestve A. S. Grina i N. S. Gumilëva. In: Nenada, Alla (Hg.): Aleksandr Grin: Tvorčeskaja biografija. Stat’i, očerki, issledovanija. Feodosija 2014, 143–150.

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»Действительное происшествие в городе Зурбагане, пережитое другом автора, учителем математики Пик-Миком. Изложено А. С. Грином.«996 Zum Ersten wird durch die Behauptung, dass es sich bei dem Inhalt der Erzählung um eine wahre Begebenheit handelt, gewährleistet, dass der abstrakte Leser den Text nicht allegorisch liest, was von Todorov, wie oben erwähnt, als unabdingbare Voraussetzung für das Phantastische definiert wird. Zum Zweiten spielt der konkrete Autor Grin hier mit einer Vermischung von Fakten und Fiktion, indem er als Verfasser des folgenden Berichts seinen eigenen Namen angibt, zugleich aber behauptet, dass dieser ›A. S. Grin‹ mit dem Protagonisten der Erzählung befreundet sei und sich die Handlung in einer der fiktiven, durch den konkreten Autor Grin erschaffenen Städte zutrage. Es liegt damit ein analoges Muster zu der Kombination von Realem und Irrealem im Phantastischen vor, das diesen Bericht durchzieht. Wie »Proisšestvie v ulice Psa« beginnt »Ubijstvo v rybnoj lavke« mit einer gänzlich alltäglichen Situation. Pik-Mik sitzt in seinem Zimmer und hilft seiner Vermieterin beim Aufwickeln von Wolle, als er eine Gruppe von Menschen auf der Straße vor seinem geöffneten Fenster aufgeregt darüber sprechen hört, dass der Fischhändler Kriss ermordet wurde.997 Sensationslust treibt ihn dazu, zu dem Laden zu gehen, dessen Adresse er zufällig aus der Unterhaltung der Passanten erfährt. Selbst als Pik-Mik dort auf den lebenden Fischhändler trifft, gibt es noch logische Erklärungen dafür: Der Protagonist könnte sich verhört haben oder es handelt sich schlichtweg um eine Falschmeldung. Auch der anschließende Mord Pik-Miks an dem Ladenbesitzer998 lässt sich noch rational aus dem Streit zwischen ihnen begründen. Dennoch kommen spätestens ab diesem Moment beim abstrakten Leser erste Zweifel an der Gültigkeit einer rationalen Ordnung der Dinge auf, da zwischen der Tat des Protagonisten im Fischladen und dem Inhalt des vorangegangenen Gesprächs der Passanten eine so auffällige Übereinstimmung besteht, dass ein bloßer Zufall wenig wahrscheinlich ist. Besteht aber tatsächlich eine Verknüpfung beider Ereignisse, so ist ihre Chronologie auf unerklärliche und unlogische Weise vertauscht; es liegt also eine zeitliche Fremdheit durch Störung der chronologischen Ordnung vor. Das Phantastische bricht endgültig herein, als der Protagonist nach seiner Rückkehr aus dem Laden wieder in seinem Zimmer

996 UR , 305; Hervorhebungen im Original. Dt.: »Eine wahre Begebenheit, geschehen in der Stadt Surbagan, erlebt von einem Freund des Autors, dem Mathematiklehrer Pik-Mik. Niedergeschrieben von A. S. Grin.« (Grin, Alexander: Der Mord im Fischladen. Aus dem Russischen von Renate Landa. In: Ders.: Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1989, 119–129, hier 119; Hervorhebungen im Original. Kürzel: URd). 997 Vgl. UR , 306 f. 998 Vgl. UR , 309.

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sitzt und sich das Gespräch über den Mord vor seinem Fenster wiederholt,999 sodass die Wahrscheinlichkeit einer bloßen Koinzidenz gegen Null geht. Der Protagonist wie auch der abstrakte Leser stehen damit vor dem scheinbar unauflösbaren Paradox, dass es einerseits kein Gespräch über den Mord gibt, ohne dass dieser bereits geschehen ist, aber andererseits auch keinen Mord, ohne dass Pik-Mik das Gespräch darüber gehört hat, das ihn dazu bringt, in den Laden zu gehen. Das Genre der Kriminalgeschichte, in der der Täter ermittelt werden muss, wird hier also modifiziert: Der Mörder ist bekannt, doch die Modalität des Mordes und die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Ereignissen sind (und bleiben größtenteils) unklar. Neben dem abstrakten Leser ist in »Ubijstvo v rybnoj lavke« nur Pik-Mik als einzige der handelnden Figuren der Irritation durch das Phantastische ausgesetzt, sodass eine polyphone Bewertung des unerklärlichen Vorfalls aus mehreren Perspektiven, wie sie in »Proisšestvie v ulice Psa« durch die Menschenmenge vorgenommen wird, wegfällt. Aufgrund von Pik-Miks Doppelfunktion als vom Phantastischen betroffene Hauptperson und diegetischer Erzähler kann der abstrakte Leser sich zudem auch nicht an der Einschätzung einer allwissenden oder zumindest unbeteiligten und damit (wenigstens vermeintlich) objektiven Erzählerinstanz orientieren. Somit ist der Leser bei seiner Entscheidung zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Ursache des rätselhaften Ereignisses auf die von Pik-Mik explizit ange­ führten Erklärungen sowie auf implizit im Erzählertext enthaltene Hinweise angewiesen. Das Unerklärliche des Vorgefallenen umfasst zum einen die alogische Chronologie des ersten Gesprächs über den Mord und der tatsächlichen Ermordung des Fischhändlers, zum zweiten die bis ins letzte Detail übereinstimmende Wiederholung jenes Gesprächs. Zur Aufhebung des Phantastischen durch die Bestätigung der Gültigkeit einer rationalen Ordnung bieten sich dementsprechend verschiedene Möglichkeiten an: Erstens kann das gesamte Erlebnis, von dem Moment an, in dem Pik-Mik erstmals von dem Mord erfährt, bis zu dem Zeitpunkt nach dem Ende des zweiten Passantengesprächs, als Produkt der Phantasie des Protagonisten betrachtet werden. Zweitens genügt es aber auch, einen der genannten konstituierenden Bestandteile des hier vorliegenden Phantastischen rational zu erklären, z. B. eines der beiden oder beide Gespräche als Missverständnisse oder Halluzinationen oder Pik-Miks Gang zum Fischladen inklusive des dort begangenen Mordes als Phantasieprodukt des Protagonisten zu identifizieren.

999 Vgl. UR , 310 f.

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Explizite Deutung durch den Erzähler: rationale und übernatürliche Erklärungen Der diegetische Erzähler selbst wählt beim Anblick des lebendigen Fischhändlers die rationale Erklärungsvariante der Sinnestäuschung für die zuvor mitgehörte Unterhaltung: »Решив, что разговор, слышанный мною под окном, был лишь интересной слуховой галлюцинацией, я, желая окончательно осветить положение, вошел в лавку.«1000 Dafür spricht auch, dass Pik-Mik die vor seinem Fenster sprechenden Passanten, wie er dem abstrakten Leser mitteilt, nicht gesehen hat,1001 sodass eine Bestätigung des realen Stattfindens einer solchen Unterhaltung durch den Sehsinn ausscheidet. Tatsächlich wäre die Bestimmung als auditive Halluzination bereits die komplette Aufklärung des Sachverhalts, wenn die Handlung an dieser Stelle enden würde, statt in die Realisierung des Mords (und die Wiederholung des Gesprächs) zu münden. In Übereinstimmung damit stellt Pik-Mik auf dem Rückweg nach Hause, nachdem er Kriss mit seinem Stock niedergeschlagen hat, seine vorige Erklärung selbst in Frage: […] мне пришло в голову, что теперь разговор под окном, который я слышал – или мне показалось, что слышал – час назад, – что подобный разговор теперь никак нельзя было бы принять за галлюцинацию. Почему я слышал именно такой разговор, когда Крисс был совершенно здоров и неопровержимо жив? Что если он лежит не оглушенный, а мертвый  – к какому порядку сверхъ­ естественного отнесу я в таком случае недавний мой слуховой бред?1002

Der Eindruck des Übernatürlichen, der aus der Übereinstimmung von Gehörtem und Getanem bei gleichzeitiger Umkehrung ihrer logischen Reihenfolge entsteht, wird durch den Protagonisten also explizit benannt. Im selben Satz führt Pik-Mik jedoch mit der Beschreibung seines Erlebnisses als bred (dt.: Fieberwahn) eine zweite rationale Erklärung ein, die der irrationalen gegenübersteht. Da die Erzählung keine weiteren ausdrücklichen Versuche der Bestimmung der Natur des unerklärlichen Ereignisses von Seiten des Erzählers enthält, verbleibt dieses auf der expliziten Ebene zwischen rationaler und übernatürlicher Ordnung – und ist damit als phantastisch zu bezeichnen. 1000 UR , 308. Dt.: »In der Annahme, das von mir belauschte Gespräch [unter dem Fenster] sei lediglich eine interessante Hörhalluzination gewesen, ging ich in den Laden, um die Situation endgültig aufzuklären.« (URd, 123). 1001 Vgl. UR , 306. 1002 UR , 309 f.; Hervorhebungen im Original. Dt.: »[…] mir [kam] der Gedanke, daß jetzt das Gespräch, das ich vor einer Stunde unter meinem Fenster gehört oder zu hören geglaubt hatte, daß dieses Gespräch jetzt nicht mehr als Halluzination gelten konnte. Warum hatte ich ausgerechnet solch ein Gespräch gehört, als Kriss noch kerngesund und unwiderlegbar lebendig war? Wenn er aber nicht bewußtlos, sondern tot ist, was dann, welcher Kategorie des Übernatürlichen ordne ich meine Gehörhalluzination [wörtl.: Gehörfieberwahn] zu?« (URd, 126; Hervorhebungen im Original).

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Implizite Deutung I: Rationale Erklärungen Implizit jedoch bietet der Text noch eine Reihe weiterer möglicher Auflösun­ gen an, die ebenfalls beide Ordnungen abdecken und damit insgesamt eine Verortung des Ereignisses auf der Schwelle zwischen beiden Ordnungen ermöglichen. Bereits in den ersten Sätzen der Erzählung informiert der Erzähler den abstrakten Leser darüber, dass er an einer Nervenkrankheit leide, die er als Neurasthenie benennt.1003 Die stellenweise etwas unklar be- und umschriebenen Symptome umfassen eine unmäßige Verausgabung seiner Kräfte, allzu starke nervliche Reizbarkeit, Ermüdung bis hin zur Lebens­müdigkeit und Apathie.1004 Tatsächlich passen diese Symptome zum klinischen Erscheinungsbild der Neurasthenie (gr.: neurastheneia, dt.: Nerven­schwäche), die im 19. Jahrhundert als Erkrankung mit Symptomen wie Müdigkeit, Schwäche, Antriebslosigkeit und Labilität definiert und um die Wende zum 20. Jahrhundert zur Modekrankheit der Oberschicht wird.1005 Der Protagonist befindet sich also in einem Zustand der Entfremdung von der Welt, der dem der Millionäre aus den in Kapitel 4.1 analysierten Werken Grins in einigen Zügen ähnelt. Diese Nervenkrankheit, aus der eine von der Norm abweichende Reaktion auf äußere Ereignisse abzuleiten ist, verringert die Glaubwürdigkeit Pik-Miks als Erzähler und damit auch die Zuverlässigkeit seiner Darstellung des Erlebten als real beträchtlich. In den einleitenden Beschreibungen des psychischen Zustands Pik-Miks finden sich zudem mehrere Hinweise darauf, dass es sich bei den geschilderten Erlebnissen des Protagonisten lediglich um ein Produkt seiner Einbildungskraft handelt. Darin heißt es: »Все существо мое пропиталось бесцветной томностью и бессодержательной задумчивостью. Я мог часами слушать разные пустяки, не проронив ни слова, или сидеть у окна с видом на море, зевая, как мельник в безветренный день.«1006 Der abstrakte Leser erhält in dieser Passage die Information, dass Pik-Mik infolge seiner Erkrankung nicht nur viel Zeit damit verbringt, seinen Gedanken nachzuhängen, sondern auch damit, untätig am Fenster zu sitzen. Die Kombination beider Aussagen findet sich ausgerechnet in den Worten, mit denen nach der ausführlichen Beschreibung von Pik-Miks Geisteszustand die eigentliche Handlung durch das Gespräch der Passanten beginnt: »Однажды в жаркий полдень я дремал у 1003 Vgl. UR , 305. 1004 Vgl. UR , 305. 1005 Vgl. VandenBos, Gary R. (Hg.): APA Dictionary of Psychology. Washington, DC 2007, 619; Tewes, Uwe / Wildgrube, Klaus (Hg.): Psychologie-Lexikon. München, Wien 1992, 232. 1006 UR , 305. Dt.: »Mein ganzes Wesen war ausgefüllt von trister Träumerei und inhaltsloser Grübelei. Ich konnte stundenlang irgendwelchen Nichtigkeiten zuhören, ohne ein Wort zu verlieren, oder am Fenster sitzen und aufs Meer blicken, gähnend wie ein Müller an einem windstillen Tag.« (URd, 120).

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окна […]«.1007 Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass Pik-Mik sein Abenteuer im Fischladen nur in Gedanken erlebt und dabei am Fenster sitzenbleibt, oder dass sogar das auslösende Gespräch auf der Straße nur in seiner Vorstellung stattfindet. Für Letzteres spricht, dass die Unterhaltung noch durch zwei weitere implizite Bezüge mit der Nervenkrankheit des Protagonisten verbunden ist. Zum Ersten geschieht das über die Metapher des Mahlens, die sich in der oben zitierten Beschreibung von Pik-Miks gelangweilt-apathischem Zustand findet – »зевая, как мельник в безветренный день«.1008 Die metaphorische Mühle kommt mit dem Gespräch der Passanten in Gang, in dessen Verlauf der Sohn des ermordeten Fischhändlers Kriss droht: »›Только попадись мне убийца! […] Я поступлю с ним, как жернов с мукой!‹«1009 Zum Zweiten äußert Pik-Mik eingangs in Bezug auf seine Apathie: »Однако желания не угасли и были (в силу бездействия) довольно разнообразны.«1010 Ein eben solcher Wunsch wird bei ihm durch das mitgehörte Gespräch geweckt: »Я с удовольствием ощутил нестерпимое желание поглазеть на труп Крисса […]«.1011 Dass die Untätigkeit, die ja gerade als Ursache für die Entwicklung seiner Wünsche benannt wird, auch in der Folge bestehen bleibt, dass also die rätselhaften Ereignisse nur in Pik-Miks Phantasie stattfinden, ist damit eine mögliche Lesart. Gestützt wird sie erstens durch die prominente Platzierung der Ausführungen über die Neurasthenie des Protagonisten gleich zu Beginn der Erzählung, zweitens durch die Ausführlichkeit, mit der der Erzähler auf sie eingeht, was eine Bedeutung für die kommende Handlung suggeriert. Drittens findet sich auch am Schluss der Erzählung, nachdem Pik-Mik das Gespräch der Passanten ein zweites Mal gehört hat, ein Hinweis, der in dieselbe Richtung geht: Der Protagonist »очну[лся] от сильного головокружения, близкого к обмороку«.1012 Diese Aussage stellt nicht nur einen Beweis für die übermäßige nervliche Reizbarkeit als Symptom der Neurasthenie dar, sondern stützt gleichzeitig auch indirekt die Vermutung, dass die unerklärlichen Erlebnisse nur imaginiert waren, da sie in dem Moment enden, in dem Pik-Mik wieder zu sich kommt. Viertens schließlich wird, ebenfalls am Ende der Erzählung, 1007 UR , 306. Dt.: »An einem heißen Mittag döste ich am Fenster […]« (URd, 120). 1008 UR , 305. Dt.: »gähnend wie ein Müller an einem windstillen Tag« (URd, 120). 1009 UR , 306. Dt.: »›Wenn ich den Mörder zu fassen kriege! […] Dann mach ich Knochenmehl aus ihm!‹« (URd, 121). 1010 UR , 305; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Die Wünsche hingegen erloschen nicht und waren (kraft der Untätigkeit) recht vielfältig.« (URd, 119; Hervorhebungen von A. B.). 1011 UR , 307; Hervorhebung von A. B. Dt.: »Ich verspürte mit Genuß den unwiderstehlichen Wunsch, die Leiche […] [von Kriss] zu begaffen […]« (URd, 122; Hervorhebung von A. B.). 1012 UR , 311. Dt.: »[kam] aus schwindelnder Benommenheit, nahe einer Ohnmacht, zu [sich]« (URd, 128).

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ein Zeitungsartikel zitiert, in dem ein Psychologe und sein Buch über Déjàvu-Erlebnisse angeführt werden. Die rationalen, psychologischen Erklärungen bilden somit eine Klammer um die phantastischen Ereignisse. Einen eindeutigen Beweis für diese rationale Erklärung gibt es jedoch nicht, es bleibt bei den genannten impliziten Hinweisen. Darüber hinaus bestreitet der diegetische Erzähler auch noch explizit und mit Nachdruck einen Einfluss seines Nervenleidens auf die Ereignisse, bevor er zur Schilderung des ersten Passantengesprächs übergeht: »[…] то что последовало немедленно не имело и не могло иметь никакого отношения к данному состоянию моего ума.«1013 Die Beschreibung der Situation im Fischladen jedoch weist wiederum auf eine solche kausale Beziehung zwischen der Krankheit und den Ereignissen hin: »Здесь со мной случился один из тех припадков рассеянности, благодаря которым я не раз попадал в странные положения.«1014 Aufgrund dieser Widersprüche und der lediglich vagen Hinweise bleibt das Phantastische wirksam und wird nicht durch das rational erklärbare Unheimliche abgelöst. Dennoch spricht darüber hinaus für eine Bestimmung des Unerklärlichen als Imaginäres, dass es den geschilderten Ereignissen bei genauerem Hinsehen auffällig an Zeugen mangelt. Bereits das Gespräch auf der Straße, mit dem alles seinen Anfang nimmt, findet ausgerechnet in dem Moment statt, als die Vermieterin Pik-Miks, der er gerade beim Aufwickeln von Wolle geholfen hatte, das Zimmer verlässt, um dem Kohlehändler die Tür zu öffnen.1015 Auch PikMiks folgendes Abenteuer außer Haus kann aufgrund ähnlicher ›Zufälle‹ von niemandem als reales Ereignis bestätigt werden. Bereits sein Weggang bleibt unbemerkt, da die Vermieterin und der Kohlehändler von ihrem Geschäft abgelenkt sind: »Ни тот, ни другая, кажется, не заметили моего ухода.«1016 Auf dem Weg zum Fischladen, der ein ganzes Stück entfernt vom Zimmer des Protagonisten gelegen ist, überlegt Pik-Mik kurz, eine Droschke zu nehmen, 1013 UR , 306. Dt.: »[…] was dann folgte, hatte keinerlei Beziehung zu meinem momentanen Geisteszustand [und konnte sie auch nicht haben].« (URd, 121). 1014 UR , 308; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Hier widerfuhr mir einer jener Anfälle von Zerstreutheit, die mich schon so manches Mal in mißliche Situationen gebracht hatten.« (URd, 124; Hervorhebungen von A. B.). 1015 Vgl. UR , 306. Das zweite Gespräch der Gruppe um den Sohn des Fischhändlers hört Pik-Mik in Gegenwart seiner Zimmervermieterin. Dass er sich an diesem Punkt bereits nicht mehr sicher ist, ob das Erlebte real oder irreal ist, zeigt die Formulierung seiner Frage an die alte Frau – nicht, ob sie ›das‹ gehört habe, sondern vielmehr: »›Вы слышали что-нибудь?‹« (UR , 311; Hervorhebung von A. B.  Dt.: »›Haben Sie was gehört?‹« (URd, 128; Hervorhebung von A. B.)). Anders als beim ersten Mal erhält er hier eine Bestätigung sowohl über das reale Stattfinden als auch über den Inhalt des Gesprächs durch die alte Frau. Auf die Bestimmung des ersten Gesprächs als real oder imaginär hat dies jedoch keinen Einfluss. 1016 UR , 307. Dt.: »Weder er noch sie schienen meinen Weggang zu bemerken.« (URd, 122).

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deren Fahrer seine dortige Ankunft hätte bestätigen können, doch er verwirft den Gedanken und geht zu Fuß.1017 Die Fischhandlung befindet sich sehr abgelegen an der Kreuzung Černogorskaja (dt.: Schwarzbergstraße) und ulica Višnëvogo sada (dt.: Kirschgartenstraße) – eine Anspielung auf Anton Čechovs Stück »Višnëvyj sad« (1903, Uraufführung 1904; dt.: »Der Kirschgarten«), das mit der Abholzung des Kirschgartens nach dem Verkauf des Anwesens endet.1018 Der Kirschgarten in »Ubijstvo v rybnoj lavke« hat offenbar dasselbe Schicksal erlitten, denn statt seiner findet der Betrachter trostloses Ödland vor, überwachsen von Unkraut: »[…] был действительно изрядно глухим местом, обретаясь среди пустырей, в самом конце гавани […]«.1019 Aus diesem Grund gibt es auch keine Augenzeugen dafür, dass Pik-Mik den Laden betritt: »На улице не было ни души.«1020 Im Geschäft selbst ist der Protagonist dann alleine mit dem Fischhändler, obwohl die Personengruppe, deren Gespräch über den Mord er vor seinem Fenster gehört hat, ja ebenfalls und mit Vorsprung auf dem Weg dorthin war, also logischerweise eigentlich bereits dort sein müsste. Auch die Ereignisse zwischen Pik-Mik und dem Fischhändler können somit, aufgrund des gewaltsamen Endes dieser Begegnung, von niemandem bezeugt werden. Nach seiner Tat versichert sich Pik-Mik selbst dessen, dass seine Anwesenheit im Laden von niemandem bemerkt wurde: »[…] я быстро выглянул на улицу, опасаясь свидетелей. Только вдали брела некая одинокая фигура, но и она шла не по направлению к лавке.«1021 Aus demselben Grund kehrt er »окольными переулками«1022 nach Hause zurück. Allerdings ist auch diese Indizienkette aus wie beiläufig durch den Erzähler eingestreuten Details, die darauf hinweist, dass Pik-Mik die unerklärlichen Ereignisse nur in seiner Vorstellung erlebt hat, nicht widerspruchsfrei. Zum Ersten bemerkt die Zimmervermieterin, die in diesem Fall als objektive Zeugin betrachtet werden kann, nach der Rückkehr Pik-Miks, dass der Pro­ tagonist tatsächlich außer Haus war.1023 Zum Zweiten thematisiert der Erzähler auf dem Rückweg aus dem Fischladen selbst die Frage nach dem realen 1017 Vgl. UR , 307. 1018 Vgl. Čechov, Anton P.: Višnëvyj sad. Komedija v 4-ch dejstvijach. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij i pisem v tridcati tomach. Sočinenija v vosemnadcati tomach. Sočinenija. Tom trinadcatyj. P’esy 1895–1904. Moskva 1978, 195–254, hier 254. 1019 UR , 307. Dt.: »[…] das war tatsächlich ein ausgesucht trostloser Platz, zwischen Ödflächen am äußersten Ende des Hafens gelegen […]« (URd, 122). 1020 UR , 307. Dt.: »Auf der Straße war kein Mensch [wörtlicher: keine Menschenseele].« (URd, 123). 1021 UR , 309. Dt.: »[…] ich [warf] einen raschen Blick auf die Straße, da ich Augenzeugen fürchtete. Nur in der Ferne strich eine einsame Figur umher, aber auch sie kam nicht auf den Laden zu.« (URd, 126). 1022 UR , 309. Dt.: »durch Seitengassen« (URd, 126). 1023 Vgl. UR , 310.

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Charakter des Erlebten, als ihm auffällt, dass der Knauf seines Stocks, der die Form einer Faust hat, beim Schlag gegen die Schläfe des Fischhändlers abgebrochen ist:1024 »Странно, что это обстоятельство, могущее послужить уликой, скорее обрадовало, чем испугало меня, белый излом палочного конца выглядел вестью из мира реальности, доказательством, что я не сплю и не болен.«1025 Traum oder physische / psychische Krankheit (d. h. ­(Fieber-)Wahn), als zwei mögliche rationale Erklärungen scheiden für ihn damit aus, es scheint, als ob die rätselhaften Ereignisse eindeutig der Realität zugeordnet werden können. Die erfreute Reaktion Pik-Miks auf diesen Umstand, obwohl eben der ihn als Mörder überführen könnte, zeigt deutlich, in welchem Ausmaß der mit dem Phantastischen einhergehende Zwischen­ zustand der Ungewissheit verunsichernd, sogar verstörend wirkt. Durch das handfeste Beweisstück des abgebrochenen Stocks, das die Realität des Erlebten scheinbar unwiderlegbar bestätigt, ist die Suspension jedoch nur vermeintlich aufgehoben. Denn unter der Annahme, dass die gesamte Passage außer Haus ohnehin lediglich in der Vorstellung Pik-Miks stattfindet, ändert die Versehrtheit eines – dann ebenfalls nur imaginären – Stocks gar nichts an der Seinsebene der Ereignisse. Hinzu kommt, dass Pik-Mik den kaputten Stock, weil er für ihn eben nicht nur die Realität des Mords, sondern auch seine Täterschaft beweist, auf dem Heimweg in einem Garten entsorgt. Damit ist der Stock für den weiteren Verlauf der Erzählung als Objekt, dessen reale Existenz von ›objektiven‹ Figuren wie der Vermieterin oder auch von Pik-Mik selbst im Zustand geistiger Klarheit bestätigt werden könnte, verloren. Am Ende der Erzählung jedoch scheint sich Pik-Miks Einschätzung der Beweiskraft des Stocks tatsächlich zu bestätigen. Der Erzähler gibt eine Zeitungsmeldung über den Mord an dem Fischhändler im Wortlaut wieder, in der explizit auf den abgebrochenen Knauf Bezug genommen wird: »›[…] Стремительный удар нанесен в висок, по-видимому, стальным набалдашником палки; набалдашник этот, имеющий форму сжатого кулака, поднят тут же, 1024 An dieser Stelle liegt eine deutliche intertextuelle Referenz auf Stevensons »Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde« vor: Auch hier ist die Mordwaffe ein Spazierstock, auch hier wird die eine Hälfte des Stocks vom Mörder mitgenommen, auch hier dient die neben der Leiche gefundene andere Hälfte als Hinweis auf den Täter, in diesem Fall Mr. Hyde: »The stick with which the deed had been done, although it was of some rare and very tough and heavy wood, had broken in the middle under the stress of this insensate cruelty; and one splintered half had rolled in the neighbouring gutter – the other, without doubt, had been carried away by the murderer.« (Stevenson: Strange Case, 22). 1025 UR , 310. Dt.: »Seltsam, daß dieser Umstand, der als Indiz dienen konnte, mich eher erfreute als ängstigte; die weiße Bruchstelle des Stockes war wie eine Botschaft aus der Welt der Realität, ein Beweis, daß ich nicht schlief und nicht phantasierte [wörtl.: krank war].« (URd, 126 f.).

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предполагают, что он сломался в момент удара.  […]‹«.1026 Obwohl die Glaubwürdigkeit der Zeitungsmeldung dadurch eingeschränkt ist, dass sie von einem unzuverlässigen Erzähler angeführt wird, scheint sie zu bestätigen, dass Pik-Miks Erlebnis im Fischladen real ist. Dass auch die beiden Passantengespräche, die es einrahmen, in Wirklichkeit stattgefunden haben, kann ebenfalls der Zeitungsmeldung entnommen werden, wenn auch etwas indirekter. Der Sohn des Fischhändlers, der sich in der Gruppe der Personen vor Pik-Miks Fenster befindet, berichtet, auf dem Weg zum Tatort das Gefühl eines Déjà-vu gehabt zu haben: ›[…] что, отправляясь с товарищами к месту печального происшествия, не в силах был отделаться от убеждения (впечатления), что некогда шел уже, в таком же состоянии духа, и с той же печальной целью по тем же самым улицам. […]‹.1027

Diese Aussage deckt sich damit, dass Pik-Mik das Gespräch des Fischhändlersohns mit seinen Begleitern zweimal hört. Das Déjà-vu des Sohns des Fischhändlers scheint also das Déjà-écouté des Protagonisten als reales Ereignis zu bestätigen. Andererseits aber wird das zweifache Erleben der Situation durch den Fischhändlersohn in dem Zeitungsartikel als »›[…] интересны[й] психически[й] эффект[…] […]‹«1028 bezeichnet; zudem erfolgt der Hinweis, dass derartige Phänomene durch den Arzt Dr. Paul’son in seinem Buch ›Reflexe des Bewusstseins‹ beschrieben wurden. Dies weist darauf hin, dass es sich bei dem Erlebnis des Sohns des Fischhändlers um eine psychisch bedingte Wahrnehmungsstörung handelt, was, durch die bestehende Parallele zu PikMiks Erfahrung, auch auf diesen übertragbar ist. Die Erzählung oszilliert also – selbst innerhalb ein und derselben Passage – zwischen Hinweisen, die die Ereignisse als real oder als imaginär erscheinen lassen. Ermöglicht die zweitgenannte Variante eine Eingliederung des Geschehens in die bestehende, rationale Ordnung, muss bei einer Betrachtung als reales Ereignis von einer übernatürlichen Begründung ausgegangen werden. Auch für diese Erklärungsvariante bietet der Text eine Reihe von (weiteren) Anhaltspunkten. 1026 UR , 311; Hervorhebung im Original. Dt.: »›[…] Der tödliche Schlag gegen die Schläfe erfolgte offensichtlich mit dem Stahlknauf eines Stocks; dieser Knauf – in Form einer geballten Faust – wurde sichergestellt, man nimmt an, daß er im Moment des Schlags abgebrochen ist. […]‹« (URd, 128; Hervorhebung im Original). 1027 UR , 311; Hervorhebung im Original. Dt.: »›[…] Als er mit seinen Kameraden dem Ort des traurigen Geschehens zustrebte, habe er sich nicht von der Überzeugung (dem Eindruck) frei machen können, daß er vor Zeiten schon einmal in derselben seelischen Verfassung und mit demselben traurigen Ziel durch dieselben Straßen gegangen sei. […]‹« (URd, 129; Hervorhebung von A. B.). 1028 UR , 311. Dt.: »›[…] interessantes psychisches Phänomen [wörtl.: Effekt] […]‹« (URd, 129).

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Implizite Deutung II: Übernatürliche Erklärungen Einen wichtigen Hinweis auf die Gültigkeit einer alternativen Ordnung stellt das Ersetzen der ›normalen‹ linearen durch eine mythologische zyklische Zeit dar. Der zyklische Aufbau der Erzählung betrifft nicht nur das Gespräch der Passantengruppe, das Pik-Mik wortwörtlich und sogar mit derselben Intonation ein zweites Mal hört,1029 sodass es den Eindruck »повторенн[ой] пластинк[и] граммофона«1030 macht. Auch die Umstände dieser akustischen Wiederholung gleichen sich, was narrativ dadurch verstärkt wird, dass der Erzähler die Situation auch zweimal fast gleich beschreibt, lediglich variiert durch den Gebrauch von Synonymen und die Veränderung der Wort­stellung. Beim ersten Mal heißt es: »Я услышал […] торопливый гул шагов группы людей […]«,1031 beim zweiten Mal: »Тогда […] услышал я […] гулкий, торопливый стук шагов кучки людей […].«1032 Zudem sitzt Pik-Mik in beiden Momenten auf einem Stuhl am geöffneten Fenster und wickelt – selbst eine kreisende Bewegung vollführend und so den zyklischen Charakter der Ereignisse unterstreichend  – die Wolle der Zimmerwirtin, die dazu passend als »бесконечн[ая] нитк[а]«1033 beschrieben wird. Durch die zyklische Zeit werden die die ›normale‹, lineare Zeit strukturierenden Kategorien ›vor‹ und ›nach‹ aufgehoben, sodass der logische Widerspruch in Bezug auf die Reihenfolge der (ersten) Nachricht über den Mord und des Mords selbst nicht länger Bestand hat, da beides zugleich Ursache und Folge des jeweils anderen ist. Eine Vorahnung der Wiederholung überfällt Pik-Mik beim Anblick eben dieses Stuhls, der nach seiner Rückkehr aus dem Fischladen noch am selben Fleck steht wie zuvor. »[…] я почувствовал большую усталость, но сесть на этот стул мне было противно: я опасался его. Мне казалось, что у окна должно произойти нечто еще более тягостное и необъяснимое, чем совершившееся.«1034 Seine Befürchtung bewahrheitet sich, sobald er sich auf besagten Stuhl setzt, also dieselbe Position wie beim ersten Mal einnimmt, sodass er die zweite Passantenunterhaltung »с ужасом и отвращением перед непостижимым«1035 hört. Die hochgradig unheimliche Wirkung des zweiten 1029 Vgl. UR , 306 f. u. 310 f. 1030 UR , 310. Dt.: »als werde eine Schallplatte zum zweitenmal abgespielt« (URd, 127). 1031 UR , 306. Dt.: »Ich hörte […] hastige Schritte von etlichen Leuten […]« (URd, 121). 1032 UR , 310. Dt.: »Und da […] hörte ich […] dumpfe hastige Schritte etlicher Menschen […]« (URd, 127). 1033 UR , 306. Dt.: »endlose[r] […] Faden[…]« (URd, 120). 1034 UR , 310; Hervorhebung im Original. Dt.: »Obwohl ich sehr erschöpft war, widerstrebte es mir, mich auf diesen Stuhl zu setzen: ich fürchtete ihn. Mich dünkte, am Fenster müsse sich etwas ereignen, was noch bedrückender und unverständlicher war als das bereits Geschehene.« (URd, 127; Hervorhebung im Original). 1035 UR , 310. Dt.: »voller Entsetzen und Grauen vor dem Unfaßlichen« (URd, 127).

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Gesprächs basiert auf der Wiederkehr des exakt Gleichen – ein Mechanismus, auf den Freud explizit hinweist.1036 Mit der übernatürlichen Ordnung wird, über die alternative Zeitstruktur hinaus, die Gültigkeit von Gesetzen angedeutet, die sich von den Natur­ gesetzen der rationalen Weltordnung unterscheiden. Durch sie lässt sich rückblickend der logische Widerspruch, dass Pik-Mik von einem Mord hört, noch bevor er stattgefunden hat, noch auf eine zweite Weise auflösen. Dabei wird auch die Lösung selbst implizit mit angeführt, und zwar in Form von Pik-Miks Vorahnung eines noch unerklärlicheren Ereignisses beim Anblick des Stuhls, die sich kurz darauf bewahrheitet: Dieses Ereignis kann mit dem magischen Prinzip der Allmacht der Gedanken erklärt werden, demzufolge Gedachtes (oder Ausgesprochenes) in Erfüllung geht. Das bei Pik-Miks Vorahnung vorliegende Muster der Realisierung eines Gedankens, die gleichsam durch dessen bloße Existenz unausweichlich vorgezeichnet ist (»должно произойти«),1037 lässt sich auch auf das vorangegangene Geschehen, den Mord, anwenden. Der Gedanke, dessen Inhalt Wirklichkeit wird, liegt dabei sogar in zweifacher Form vor: Der Mord wird erstens durch die Passanten ausgesprochen, womit das Schicksal des Fischhändlers gleichsam bereits besiegelt ist. Daraus erklärt sich der im ersten, vor der Durchführung des Mordes durch Pik-Mik stattfindenden Gespräch eigentlich unlogische Gebrauch der Vergangenheitsform (»помер он«),1038denn Kriss ist gleichsam in dem Moment, in dem die Worte gesprochen werden, bereits tot. Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch der Sinn der Information, dass Pik-Mik unmittelbar vor dieser ersten Unterhaltung in einem Buch über den Herkules Farnese liest.1039 Herkules erhält die scheinbar paradoxe Prophezeiung, dass er nicht durch einen Lebenden, sondern durch einen Toten sterben werde, welche durch das vergiftete Blut des lange zuvor durch Herkules’ Giftpfeil getöteten Zentauren Nessos auf seinem Gewand wahr wird.1040 Auch im Falle des Fischhändlers stellt das Gespräch der Passanten in dieser Lesart eine Prophezeiung dar, die aufgrund der verkehrten Chronologie ebenfalls paradox ist – und die ebenfalls dennoch eintritt. Zweitens entsteht in Pik-Mik nach dem Gespräch der Passanten »нестерпимое желание поглазеть на труп Крисса«.1041 Durch diesen Wunsch über-

1036 Vgl. Freud: Das Unheimliche, 62. 1037 UR , 310. Dt.: »müsse sich […] ereignen« (URd, 127). 1038 UR , 306. Dt.: »[den] Tod gefunden hat« (URd, 121); wörtl.: »gestorben ist«. 1039 Vgl. UR , 306. 1040 Vgl. Herakles. In: Brodersen, Kai / Zimmermann, Bernhard (Hg.): Metzler Lexikon Antike. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2006, 238–240, hier 239. 1041 UR , 307. Dt.: »de[r] unwiderstehliche[…] Wunsch, die Leiche […] [von Kriss] zu begaf­ fen« (URd, 122).

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nimmt er den von den Passanten ausgesprochenen Gedanken und wird so gewissermaßen zum ausführenden Instrument des unausweichlichen Ausgangs der Handlung. Dass dieser Wunsch von Pik-Mik als positiv empfunden wird, da derartige Regungen bei ihm aufgrund seiner Apathie nur noch selten vorkommen,1042 verstärkt den Mechanismus der Umsetzung der Idee zusätzlich. Als der Protagonist bei seiner Ankunft im Fischladen den vermeintlich toten Kriss bei bester Gesundheit erblickt, erfasst ihn aufgrund dieses Wunsches »[в]еликое разочарование«.1043 Im Folgenden führt eine logisch verknüpfte Ereigniskette zu dem tödlichen Schlag Pik-Miks gegen die Schläfe des Fischhändlers. Pik-Miks razočarovanie (dt.: Enttäuschung; wörtl.: Entzauberung) wird zunächst abgelöst durch očarovanie (dt.: Zauber), woraus jedoch ebenfalls eine negative Emotion gegenüber dem Fischhändler entsteht: »Очарованный лавкой, я почувствовал зависть к Криссу.«1044 Pik-Miks Faszination für die bunten, glitzernden Fischleiber und die Gerüche des Ladens führt zu geistiger Abwesenheit, was wiederum Argwohn und eine ungehaltene Reaktion auf Seiten des Fischhändlers auslöst. Der Versuch Pik-Miks, sein Verhalten zu erklären, reizt den Händler nur noch mehr, sodass er dem Protagonisten eine Ohrfeige verpasst, auf die dieser seinerseits mit dem tödlichen Schlag mit seinem Stock reagiert.1045 Obwohl die Abfolge der Ereignisse also logisch motiviert ist, ist sie – eben auf der Ebene der Logik – in dieser Form nicht unausweichlich. Sie scheint daher vielmehr einem durch die Macht der Gedanken des Protagonisten vorgezeichneten Plan zu folgen, der von der Enttäuschung des Wunsches, den toten Fischhändler zu sehen, zu dessen Erfüllung führt. In Übereinstimmung damit nennt der Erzähler wenig später explizit »разочарование при виде живого Крисса«1046 als ersten Grund für den Stockschlag, an dem der Fischhändler stirbt. Der ursprüngliche Gedanke, »поглазеть на труп Крисса«,1047 wird also letztlich doch realisiert. Auf die gleichsam unausweichliche Ermordung des Fischhändlers weisen darüber hinaus drei Details in der Beschreibung wie Omina voraus. Erstens wird Kriss bereits in dem Augenblick, in dem Pik-Mik ihn lebendig erblickt, mit dem Motiv des Todes verknüpft, denn er isst gerade Fischstücke aus einer Schüssel, die von Fliegen  – Symbole für Tod und Verwesung  – umschwirrt werden.1048 Zweitens betrachtet Pik-Mik im Laden anstelle des (noch) 1042 Vgl. UR , 307. 1043 UR , 307. Dt.: »[m]aßlose Enttäuschung« (URd, 123). 1044 UR , 308. Dt.: »Bezaubert von dem Laden, empfand ich Neid auf Kriss.« (URd, 124). 1045 Vgl. UR , 308 f. 1046 UR , 309; Hervorhebung im Original. Dt.: »[die] Enttäuschung angesichts des lebendigen Kriss« (URd, 125; Hervorhebung von A. B.). 1047 UR , 307. Dt.: »die Leiche […] [von Kriss] zu begaffen« (URd, 122). 1048 Vgl. UR , 308.

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nicht toten Kriss fasziniert die toten Fische, von denen einer gerade von Kriss verspeist wird, sodass auch darüber eine Verbindung mit dem Tod besteht.1049 Die Beschreibung des »застывший, выпученный глаз«1050 eines der toten Fische wird schließlich in dem Moment wieder aufgenommen, als Kriss von dem tödlichen Schlag mit dem Stock getroffen wird: »Крисс постоял с внезапно остановившимся взглядом […]«.1051 Drittens findet sich ein Vorbote des Kommenden bereits in dem Augenblick, in dem Pik-Mik sein Zimmer verlässt, um sich zum Fischladen zu begeben. Denn schon hier teilt der diegetische Erzähler dem Leser mit, dass sein Stock einen Knauf, »изображающи[й] кулак«,1052 hat, was eine von dem Objekt ausgehende Bedrohung impliziert und so darauf vorausweist, dass es sich dabei um die spätere Mordwaffe handelt. All diese Details suggerieren eine übernatürliche Erklärung: Das Aus­ sprechen des Mords an dem Fischhändler durch die Passanten und der dadurch ausgelöste Wunsch des Protagonisten, die Leiche des Fischhändlers zu sehen, besiegeln in einem magischen Weltbild durch die Allmacht der Gedanken die Realisierung dieses Mordes, sodass die Handlung gleichsam unausweichlich darauf zusteuert.1053 Suspension ohne Aufhebung Die Erzählung bietet dem abstrakten Leser also sowohl rationale Erklärungen an, die ihm erlauben, die Ereignisse als illusorisch (akustische Halluzinationen) bzw. imaginär (Produkte der Einbildungskraft des Protagonisten) zu bestimmen, als auch eine übernatürliche Erklärung, die die Ereignisse unter der Bedingung der Anerkennung alternativer Gesetze als real klassifizier­bar macht. Beide konkurrierende und einander widersprechende Seins- bzw. Deutungsebenen werden nicht nur durch den Erzähler selbst explizit angeführt, sondern sind auch auf der impliziten Ebene enthalten. Eine eindeutige Entscheidung des abstrakten Lesers (wie auch des Protagonisten) für eine der beiden Erklärungen und damit eine Einordnung der Ereignisse entweder in die Kategorie des Wunderbaren oder des Unheimlichen ist damit nicht möglich. Gestützt wird diese simultane Gültigkeit des Rationalen und des 1049 Vgl. UR , 308. 1050 UR , 308. Dt.: »erstarrte[n], herausgequollene[n] Auge[s]« (URd, 124). 1051 UR , 309. Dt.: »Kriss blieb mit plötzlich erstarrtem Blick […] stehen« (URd, 126). 1052 UR , 307; Hervorhebung im Original. Dt.: »in Form einer Faust« (URd, 122; Hervorhebung im Original). 1053 Häufig wird in der Sekundärliteratur zu Grin betont, dass der feste Glaube der grin’schen Helden an die Erfüllung ihrer Träume eben diese ermöglicht (vgl. Luker: Aleksandr Grin: The Forgotten Visionary, 52), z. B. im Falle von Assol’ aus »Alye parusa«. Dass dieses Prinzip auch bei zahlreichen Gewalttaten in Grins Werk zum Tragen kommt, wird jedoch nicht wahrgenommen.

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Magischen durch eine Reihe weiterer gemeinsam auftretender bzw. gleichzeitig existierender, gegensätzlicher oder einander sogar ausschließender Zustände, die die Erzählung durchziehen. So wird etwa die Vermieterin des Protagonisten als »полустарух[а], полудам[а]«1054 beschrieben und Pik-Mik nennt seinen Wunsch, den Leichnam des Fischhändlers zu sehen, »интерес[…] к человеческой жизни«,1055 obwohl es sich vielmehr um ein Interesse am Tod handelt. Unmittelbar vor der Beschreibung des Moments, in dem er Kriss erschlägt, bezeichnet der Protagonist sich noch als »человек смирный«;1056 und nach dem Stockschlag ist zunächst unklar, »жив Крисс, мертв или же, как говорится, полумертв«.1057 Insgesamt betrachtet scheint der Text eine Bestimmung der unerklärlichen Geschehnisse als bloße Imagination des Protagonisten und damit als Unheimliches leicht zu präferieren, da den Ausführungen über die Nervenkrankheit und deren Auswirkungen auf Pik-Miks Gedanken sowie der psychologischen Erklärung am Ende vergleichsweise viel Raum zukommt und diese die Ereignisse einrahmen. Dennoch kann von Eindeutigkeit nicht die Rede sein. Das im Zwischenraum angesiedelte Phantastische bleibt somit in »Ubijstvo v rybnoj lavke«, wie in »Proisšestvie v ulice Psa«, bis über das Ende der Erzählung hinaus bestehen. Dies gilt nicht nur für den abstrakten Leser, sondern auch für den Protagonisten, der den von Caillois zur Beschreibung des Phantastischen bemühten ›Riss in der Wirklichkeit‹ selbst intensiv empfindet: Als er nach seiner Rückkehr aus dem Fischladen in seinem Zimmer steht, befindet er sich »в состоянии полного упадка сил и странной оторванности от всего в мире, как бы рассматривая этот мир в потайную щель«.1058 Zum Abschluss dieses Kapitels zum Phantastischen sollen nun noch zwei Erzählungen vorgestellt werden, die Elemente aus den beiden bislang betrachteten aufweisen, diese aber variieren: eine Figur mit (vermutlich) übernatürlichen Kräften ähnlich wie in »Proisšestvie v ulice Psa«, die Frage nach dem Bewusstseinszustand dessen, der das Phantastische erlebt, wie in »Ubijstvo v rybnoj lavke«, sowie die ambivalente Axiologie des Phantastischen.

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UR , 306. Dt.: »halb greisenhafte[…] und halb damenhafte[…] Frau« (URd, 120). UR , 307. Dt.: »Interesse am menschlichen Leben« (URd, 122). UR , 309. Dt.: »ein friedlicher Mensch« (URd, 125). UR , 309. Dt.: »ob Kriss lebendig oder tot oder, wie es so schön heißt, halbtot war« (URd,

126). 1058 UR , 310; Hervorhebung von A. B. Dt.: »in einem Zustand totaler Schwäche und merkwürdiger Entrücktheit von allem auf der Welt, als sähe ich diese Welt durch eine geheime Ritze« (URd, 127; Hervorhebung von A. B.).

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4.3.2.3 Variationen: »Iva« und »Fandango«

Grin erschafft in zwei seiner Werke, »Iva« (1923) und »Fandango« (1927), eine Figur, die noch deutlich stärker ausgeprägte Züge eines Zauberers aufweist als Aleksandr Gol’c aus »Proisšestvie v ulice Psa«: Bam-Gran. Dieser erscheint in beiden Werken eines Tages in der gewöhnlichen Welt mit ihren vermeintlich bekannten Gesetzen und stellt eben diese in Frage. Solange dabei nicht abschließend geklärt werden kann, ob es sich bei seinen Handlungen tatsächlich um Magie handelt, liegt auch hier das Moment des Phantastischen vor. »Iva« Die Handlung von »Iva« spielt am 22. Februar 1923, also im Jahr der Erstveröffentlichung der Erzählung, in der ›grinländischen‹ Stadt Achuan-Skap und weist einen nichtdiegetischen Erzähler auf. Bereits mit dem ersten Satz von »Iva« wird Bam-Gran als außer-ordentliche Figur eingeführt: »Начало легенды о Бам-Гране относится к глубокой древности.«1059 Schon seine Herkunft ist dieser Legende nach ungewöhnlich: Die Mutter ist eine Hellseherin, der Vater ein Matrose, dem auf den Juan-Fernández-Inseln von dem Schatten Robinson Crusoes (bzw. dem Schatten von dessen realem Vorbild Alexander Selkirk) das Versteck eines Schatzes verraten wird und der so zu Reichtum kommt, aber alles verliert oder vertrinkt und seinen Nachkommen verflucht.1060 Bam-Grans Geburt ist verbunden mit dem Element der sich dem menschlichen Einfluss entziehenden Naturgewalt, denn er kommt während eines schweren Sturms zur Welt. Seinen Namen gibt er sich, den Klang der Glocken im Sturm (»Bam«) und die Worte des anwesenden Arztes beim Ausstellen eines Rezepts (»Gran«; eine Maßeinheit) wiederholend und zusammensetzend, selbst und erbringt so direkt nach seiner Geburt den Beweis für seine übernatürlichen Fähigkeiten.1061 Bei dem Motiv des Sprechens unmittelbar nach der Geburt (bzw. allgemein bei Fähigkeiten, die eigentlich viel später erworben werden), handelt es sich um ein häufig anzutreffendes Merkmal von mythischen Helden, Heiligen oder Märchenfiguren.1062 Das Moment des Fremden, des Außerordentlichen fortsetzend, kommt Bam-Gran in »Iva« ausgerechnet am Tag einer totalen Sonnenfinsternis nach Achuan-Skap, also im Kontext eines kosmischen Ereignisses, das die mit wenigen Ausnahmen allgemeingültige Norm der Helligkeit des Tages kurzzeitig 1059 IV, 288. Dt.: »Die Legende von Bam Gran nimmt ihren Anfang in uralter Vorzeit.« (IVd, 32). 1060 Vgl. IV, 289 f. 1061 Vgl. IV, 290. 1062 Vgl. Köhler, Ines: Erwachsen bei Geburt. In: Ranke, Kurt (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 4. Berlin, New York 1984, Sp. 307–315, hier 307.

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außer Kraft setzt. Da dieses Ereignis nicht nur selten ist, sondern zudem für viele Menschen gänzlich unerklärlich, also kognitiv fremd, erscheint und dadurch auch einerseits faszinierend, andererseits  – und vor allem  – aber auch bedrohlich wirkt, wird der Sonnenfinsternis oftmals eine mythische Bedeutung zugesprochen. Diese zwei die gewöhnliche Ordnung der Welt in Frage stellenden Phänomene, die Sonnenfinsternis und Bam-Gran, sind darüber hinaus dadurch verbunden, dass über beide in der Stadt geredet wird, noch bevor sie selbst in Erscheinung treten.1063 Zudem wird die Sonnenfinsternis zwar nicht explizit auf Bam-Gran zurückgeführt, aber in einem Gespräch von Stadtbewohnern findet sich eine entsprechende Andeutung: »›[…] А все это штуки Бам-Грана, которого давно уже не было в нашем городе.‹ ›Давно или недавно‹, сказал другой, ›а сдается, что начинается похожее на ветер с горы.‹«1064 Dieser ›Wind von den Bergen‹ führt einige Jahre zuvor zu Chaos in Achuan-Skap, indem er eine solche Schwermut verursacht, dass die Menschen aufhören zu arbeiten, ihre Familien verlassen, den Verstand verlieren oder Selbstmord begehen – und auch für ihn wird Bam-Gran, sogar mit den gleichen Worten, verantwortlich gemacht: »›[…] известно, что все это штуки Бам-Грана. […]‹«.1065 Implizit wird diese Verbindung Bam-Grans mit dem rätselhaften Wind auch durch den Sturm während seiner Geburt verstärkt. Weitere von den Stadtbewohnern über Bam-Gran erzählte Geschichten beinhalten seine Fähigkeit, mit Tieren zu sprechen, an jeden beliebigen Ort der Welt zu blicken oder Wünsche zu erfüllen, aber auch seine Vorliebe für Streiche: Wenn man ein gebratenes Schwein essen wolle, das plötzlich quicklebendig aus der Schüssel springt und anfängt zu sprechen – »[т]ак вот это и есть Бам-Гран«.1066 Hinzu kommt sein exzentrisches Aussehen, das das Bild von Bam-Gran als Zauberer zusätzlich verstärkt: Zylinder, grüner Gehrock, langer goldfarbener Bart und gezwirbelter Schnurrbart.1067 In »Fandango« trägt Bam-Gran ein an Bloks »Neznakomka« erinnerndes Barett mit Straußenfeder,1068 einen Samtumhang, einen roten Schnurrbart und ebenfalls einen goldfarbenen Bart.1069 Dennoch handelt es sich zunächst nur um Geschichten, die ebenso gut wahr wie erfunden sein können, sodass Bam-Grans Existenz nur möglicherweise, 1063 Vgl. IV, 292–294. 1064 IV, 293. Dt.: »›[…] Das alles sind Streiche von Bam Gran, der schon lange nicht mehr in unserer Stadt war.‹ ›Lange oder nicht lange‹, sagte ein anderer, ›jedenfalls sieht es so aus, als kommt etwas wie der Wind von den Bergen.‹« (IVd, 37). 1065 IV, 293. Dt.: »›[…] man weiß, daß dies die Streiche von Bam Gran sind. […]‹« (IVd, 38). 1066 IV, 294. Dt.: »[d]as also ist dann Bam Gran« (IVd, 38). 1067 Vgl. IV, 294 f. 1068 Vgl. Blok: Neznakomka [Stichotvorenie], 123. 1069 Vgl. FA , 510 u. 527.

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aber nicht zwingend im Widerspruch zu den bestehenden Naturgesetzen steht. Dieser Schwebezustand wird keineswegs aufgehoben, sondern fortgesetzt und zum liminalen Zustand des Phantastischen weiterentwickelt, als die rätselhafte Figur schließlich persönlich in Erscheinung tritt. Bam-Gran verkauft einer versammelten Menge mit Ruß gefärbte Glasstücke, bei denen es sich seiner marktschreierischen Anpreisung zufolge selbstredend nicht um gewöhnliche Objekte handelt: »Они выкопчены на свечке самоубийцы и выломаны из развалин древнего храма Атлантиды […]«.1070 Daher kann durch sie nicht nur die Sonnenfinsternis betrachtet werden, sondern sie zeigen auch alles andere »в самом неожиданном свете«.1071 Als ein Mädchen eines der verrußten Gläser kauft, erblickt es durch es hindurch ihren Verehrer als eine Art Affe mit Hundeschnauze, bekreuzigt sich und rät in Panik den Umstehenden davon ab, ein solches »бесовское«1072 Objekt zu erwerben. Während das Mädchen das Ereignis also für real hält und es auf eine übernatürliche Ursache zurückführt, ist es interessanterweise Bam-Gran selbst, der zusätzlich eine natürliche Begründung ins Spiel bringt, indem er das Gesehene als Illusion erklärt: Es sei wohl nur zufällig gerade ein Hund vorbeigelaufen und ein Affe habe gekreischt, sodass sich das einfältige Herz eines Mädchens davon habe täuschen lassen.1073 Aufgrund der Uneindeutigkeit der Erklärung des Geschehenen entzieht dieses sich einer abschließenden Bewertung, sodass seine Wirkung ambivalent ist. Der eigentliche Protagonist der Erzählung, Frangejt, der die Szene beobachtet »[…] не знал […], потешаться ли ему этой сценой или принять в ней какое-нибудь участие […]«.1074 Insgesamt überwiegt jedoch die Furcht vor Bam-Gran als Urheber des phantastischen Ereignisses, nicht nur bei dem Mädchen, sondern auch bei den Umstehenden. Einer der Passanten wählt daher die radikalste aller möglichen Umgangsstrategien, nämlich die der Vernichtung des Fremden, und versucht Bam-Gran zu erschießen. Dies jedoch führt keineswegs zur Aufhebung der unerklärlichen und dadurch bedrohlichen Situation, sondern verstärkt sie vielmehr, weil der Schuss ein zweites phantastisches Ereignis auslöst: Bam-Gran fängt die auf ihn abgefeuerte Kugel mit der Hand und wirft sie zurück in den Bart des Schützen. Auf den ersten Blick scheint dieses direkt beobachtbare zweite übernatürliche Ereignis die tatsächlich magische Natur von Bam-Grans Handlungen zu beweisen, was im Falle des ersten Ereignisses, das von den Beobachtern nur 1070 IV, 295. Dt.: »[Sie sind] angerußt über der Kerze eines Selbstmörders und gebrochen aus den Ruinen des alten Tempels von Atlantis […]« (IVd, 40). 1071 IV, 295. Dt.: »im unerwartetsten Licht« (IVd, 40). 1072 IV, 296. Dt.: »teuflische[s]« (IVd, 41). 1073 Vgl. IV, 296. 1074 IV, 297. Dt.: »[…] war sich […] nicht im klaren, ob er sich über diese Szene amüsieren oder anders an ihr Anteil nehmen sollte […]« (IVd, 42).

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mittelbar, über die Behauptung des Mädchens mit dem verrußten Glas, erlebt wird, noch nicht möglich war. An diesem Punkt der Erzählung scheint das Phantastische also vom Wunderbaren abgelöst zu werden. Jedoch wird auch hier noch eine eindeutige Auflösung verweigert: Erstens wird implizit mit dem Moment des Traumartigen erneut eine natürliche Erklärung ins Spiel gebracht, die gleichwertig neben der übernatürlichen steht: »Минутами казалось все сном, мгновениями – оглушительно ярким […]«.1075 Zweitens erfährt der abstrakte Leser beiläufig, dass die Sichtverhältnisse im Moment des Fangens der Gewehrkugel durch die beginnende Sonnenfinsternis bereits nicht mehr gut sind, sodass auch eine Sinnestäuschung möglich erscheint: »В это время дневной свет был уже неестественно дик и сумрачен.«1076 Der Schwebezustand des Phantastischen bleibt also vorerst noch bestehen. Erst im weiteren Verlauf der Erzählung, in der der Protagonist durch Bam-Gran in eine Situation gerät, in der ihm die – durch eines der verrußten Gläser Bam-Grans sichtbaren – Geister von Ertrunkenen den Weg zu seiner verlorenen Geliebten weisen, kippt der Text endgültig ins Genre des Wunderbaren. Gemäß der Terminologie Todorovs ist »Iva« somit dem Genre des Phantastisch-Wunderbaren (frz.: le fantastique-merveilleux) zuzuordnen.1077 »Fandango« In »Fandango«, der zweiten Erzählung Grins, in der die Figur Bam-Gran vorkommt, weist das Phantastische zwar eine deutliche Tendenz zum Wunderbaren auf, bleibt aber anders als in »Iva« aufgrund einer fehlenden endgültigen Auflösung bis zum Ende des Textes bestehen. Bam-Gran tritt hier, wie bereits in Kapitel 4.2.3 kurz erwähnt, als Leiter einer spanischen oder auch kubanischen Delegation im Dom učënych der KUBU in Petrograd auf. Wie in »Iva« ist er Gegenstand von Gesprächen der Stadtbewohner, die seine Merkwürdigkeit und Rätselhaftigkeit thematisieren: ›Этот испанский профессор – странный человек. Говорят, большой оригинал и с ужаснейшими причудами: ездит по городу на носилках, как в средние века!‹ ›Да профессор ли он? А знаете, что я слышал? Говорят, что эта личность не та, за кого себя выдает!‹ ›Вот те на!‹ ›А что прикажете думать?!‹1078 1075 IV, 297. Dt.: »Minutenlang schien alles ein Traum, dann wieder wirkte es für Momente betäubend deutlich […]« (IVd, 42). 1076 IV, 297. Dt.: »Zu dieser Zeit war das Tageslicht bereits unnatürlich grob und trübe.« (IVd, 42). 1077 Vgl. Todorov: Introduction à la littérature, 57–59. 1078 FA , 516. Dt.: »›Dieser spanische Professor ist ein seltsamer Mensch. Er soll ein großes Original sein und furchtbar schrullig. Durch die Stadt läßt er sich in einer Sänfte tragen – wie im Mittelalter!‹ ›Ist er überhaupt Professor? Wissen Sie, was ich gehört habe? Er ist gar nicht der, für den er sich ausgibt!‹ ›Da haben wir’s!‹ ›Aber was soll man nun glauben?‹« (FAd, 173).

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Das mit ihm verbundene Außerordentliche bleibt zwar zunächst im Rahmen des rational Erklärbaren, sprengt aber nichtsdestotrotz bereits die Grenzen der Vorstellungskraft einiger Anwesender: Während des Empfangs der Delegation übergibt die ausländische Gruppe um Bam-Gran an die Vertreter der KUBU Unmengen an Waren, darunter Tonnen von Lebensmitteln.1079 Allein schon die enorme Masse der herbeigetragenen Geschenke steht in starkem Kontrast zur Mangelversorgung im nachrevolutionären Petrograd. Die Versorgungssituation in der Stadt wird durch den Protagonisten Aleksandr Kaur, der zugleich die Rolle des diegetischen Erzählers einnimmt, anhand seiner eigenen Lage zu Beginn der Erzählung eindrücklich dargestellt: Er beschreibt sein ungeheiztes Zimmer, seine kaputte und für die herrschenden Temperaturen von minus 27 Grad Celsius völlig unzureichende Kleidung – einen Sommermantel und durchlöcherte Stiefel –1080 und den ständigen Hunger. Kaurs leere Töpfe »пахли голодом«,1081 seine Lebensmittelvorräte bestehen aus Salz, etwas Tee, Rinde und einer Kartoffelschale.1082 Der Hunger ist so stark, dass er die Menschen verändert und zu unmoralischem Handeln treibt: »Он – искажение человека.«1083 Von dieser Situation sind mit Ausnahme der Wohlhabenden beinahe alle Einwohner der Stadt betroffen, und sie bildet auch den Hintergrund der Handlung: Denn die (reale) KUBU selbst wird ja aufgrund eben dieser schlechten Versorgungslage gegründet und verteilt, wie auch in »Fandango« dargestellt wird, selbst Lebensmittel an berechtigte Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler.1084 Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass die Unmengen an Waren, die von der ausländischen Delegation an die Leitung der KUBU übergeben werden, geradezu unwirklich erscheinen. Neben der schieren Quantität der Gastgeschenke ist es auch ihre Qualität, die die Anwesenden frappieren. Denn in den herbeigetragenen Bündeln befindet sich keineswegs nur das Nötigste wie Grundnahrungsmittel oder warme Kleidung, sondern auch verschiedenste, von einigen der Umstehenden als vollkommen überflüssig wahrgenommene Gegenstände wie Räucherkerzen, feinste Spitze, Muscheln und kostbare Musikinstrumente sowie eine aufwändig bestickte Seidendecke von gewaltigen Ausmaßen.1085 Zum Sprachrohr derjenigen, die den Kontrast von Überfluss und äußerstem Mangel nicht ertragen können, wird Eršov, der in einem ebenso tragischen wie komischen hysterischen Anfall die Geschenke der ausländischen Delega1079 Vgl. FA , 517–523. 1080 Vgl. FA , 497. 1081 FA , 498. Dt.: »rochen nach Hunger« (FAd, 153). 1082 Vgl. FA , 498. 1083 FA , 498. Dt.: »Er ist ein Zerrbild des Menschen.« (FAd, 153). 1084 Vgl. FA , 511. 1085 Vgl. FA , 519–523.

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tion und im Zuge dessen auch die Mitglieder der Delegation selbst als bloße Illusion bezeichnet: ›[…] Я  – статистик Ершов! Я все слышал и видел! Это какое-то обалдение! Чушь, чепуха, возмутительное явление! Этого быть не может! Я не… верю, не верю ничему! Ничего этого нет, и ничего не было! Это фантомы, фантомы! […] Мы одержимы галлюцинацией или угорели от жаркой железной печки! Нет этих испанцев! Нет покрывала! Нет плащей и горностаев! Нет ничего, никаких фиглей-миглей! Вижу, но отрицаю! Слышу, но отвергаю! Опомнитесь! Ущипните себя, граждане! Я сам ущипнусь! Все равно, можете меня выгнать, проклинать, бить, […] или повесить,  – я говорю: ничего нет! Не реально! Не достоверно! Дым! […] я прихожу домой в шесть часов вечера. Я ломаю шкап, чтобы немного согреть свою конуру. Я пеку в буржуйке картошку, мою посуду и стираю белье! […]. Дети заиндевели от грязи. Они ревут. Масла мало, мяса нет, – вой! А вы мне говорите, что я должен получить раковину из океана и глазеть на испанские вышивки! Я в океан ваш плюю. Я из розы папироску сверну! Я вашим шелком законопачу оконные рамы! Я гитару продам, сапоги куплю! Я вас, заморские птицы, на вертел насажу и, не ощипав, испеку! Я…эх! Вас нет, так как я не позволю! Скройся, видение, и, аминь, рассыпься!‹1086

Für Eršov, der durch den Beruf des Statistikers ohnehin implizit als Vertreter des logisch-rationalen Denkens und Mensch ohne Phantasie markiert wird, sind gerade diejenigen Waren, die nicht der Erfüllung von Grundbedürfnissen dienen, so absurd, dass seine einzig mögliche Umgangsstrategie mit diesem Fremden darin besteht, die Existenz der ausländischen Delegation und ihrer Geschenke in ihrer Gesamtheit zu negieren, um die bisherigen Grenzen seiner 1086 FA , 523–525; Hervorhebungen im Original. Dt.: »›[…] Ich bin der Statistiker Jerschow. Ich habe alles gehört und gesehen[!] Das ist doch regelrechte Verdummung hier! Unsinn, Quatsch, empörender Schnickschnack! So was kann’s doch nicht geben! Ich glaube es einfach nicht, ich glaube gar nichts! So was gibt’s nicht und hat es nicht gegeben! Das sind Phantome, Phantome! […] Entweder sind wir von einer Halluzination besessen oder vom Kohlengas benebelt! Diese Spanier gibt’s überhaupt nicht! Ebensowenig wie die Decke, die Umhänge und die Hermelinpelze! Nichts gibt es, keinerlei Schnickschnack! Was ich sehe, negiere ich! Was ich höre, verwerfe ich! Kommen Sie zu sich! Zwicken Sie sich, Bürger! Ich zwicke mich auch! Gleichviel, ob Sie mich hinausjagen, verfluchen, schlagen […] oder hängen – ich sage: Nichts ist! Nichts ist real! Nichts ist echt! Rauch ist das! […] Um sechs Uhr abends kehre ich heim. Ich zerhacke einen Schrank, um meine Bude einigermaßen warm zu kriegen. Ich backe im Kanonenofen Kartoffeln, spüle Geschirr und wasche Wäsche! […] Die Kinder starren vor Schmutz und greinen. Butter ist wenig da, Fleisch gar nicht – so ein Elend! Und Sie sagen mir, ich soll eine Muschel aus dem Ozean bekommen und spanische Stickereien anstarren! Ich spucke auf euren Ozean! Aus den Rosen drehe ich mir eine Papirossa! Mit eurer Seide dichte ich die Fensterrahmen! Die Gitarre versetze ich und kaufe mir Stiefel! Und euch überseeische Vögel werde ich aufspießen und ungerupft braten! Ich… ach! Es gibt euch ja gar nicht, weil ich es nicht erlaube! Hebe dich hinweg, Erscheinung, verflüchtige dich, amen!‹« (FAd, 181 f.; Hervorhebungen von A. B.).

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(Wissens-)Ordnung aufrechterhalten zu können. Durch diese Infragestellung der Realität des visuell Wahrgenommenen wird im Kontext des strukturell Fremden der – ebenfalls unmittelbar mit Bam-Gran verknüpfte – Einbruch des radikal Fremden in Form des Phantastischen vorbereitet, das auf einem ebensolchen Spiel mit Realem und Imaginärem bzw. Illusorischem basiert. Den Gegenentwurf zu Eršov bildet der Protagonist der Erzählung, Kaur, dessen materielle Lage ebenso elend ist wie die des Statistikers und der dennoch gerade von der Widersprüchlichkeit und Unverständlichkeit der Geschehnisse während des Empfangs fasziniert ist und ihnen auf den Grund gehen, sie sich an-eignen, will: Er empfindet »удовольствие той самой бессвязности и необъяснимости, какие составляют горшую муку каждого Ершова, и, как в каждом сидит Ершов, хотя бы и цыкнутый, я был в этом смысле настроен весьма пытливо.«1087 Aus dieser Neugier heraus nimmt er auch Bam-Grans Angebot, ihn jederzeit aufzusuchen, an. Dieses macht Bam-Gran Kaur als Dank für seine Dienste als Übersetzer – ein impliziter Hinweis auf Kaurs Mittlerfunktion zwischen den beiden Welten und Präfiguration seines späteren auch physischen Überschreitens der Grenze zwischen ihnen –, unmittelbar vor dem Verschwinden der Delegation und ebenfalls im Rahmen einer Kontrastierung mit Eršov: »Оскорбление нанесено, и мы уходим, уходим, кабалерро Ершов, в страну, где вы не будете никогда! Вы же, сеньор Каур, в любой день, как пожелаете, явитесь ко мне […]«.1088 Um ihn zu finden, so Bam-Gran, solle Kaur die ›Zigeuner‹ fragen. Das erste in einer Reihe phantastischer Ereignisse, die sich daraufhin entfalten, erlebt Kaur selbst nicht mit, da er im losbrechenden Tumult einen Schlag gegen den Kopf abbekommt und das Bewusstsein verliert: Die Spanier verlassen den Saal im Dom učënych nach dem von Eršov ausgelösten Skandal durch die Wand und landen direkt auf dem Eis der Neva.1089 Kurz nachdem Kaur aus seiner Ohnmacht erwacht ist und von dem übernatürlichen Abgang der Delegation gehört hat, findet er in seiner Manteltasche ein Säckchen mit 200 goldenen Münzen.1090 Dass dieser überraschende Fund mit der ausländischen Delegation zusammenhängt, erschließt sich aus der Art des Geldes, denn es handelt sich um spanische Piaster.1091 Sie erweisen sich als notwendiges Hilfsmittel bei der Suche nach Bam-Gran, vor allem um die ›Zigeuner‹ 1087 FA , 527. Dt.: »Vergnügen an jener Zusammenhanglosigkeit und Unerklärlichkeit […], die für jeden Jerschow zur Qual werden, und insofern war ich, da ja in jedem ein wenig ein wenn auch beschimpfter Jerschow steckt, sehr wißbegierig gestimmt.« (FAd, 185). 1088 FA , 525. Dt.: »Die Beleidigung ist perfekt, und wir gehen, Caballero Jerschow, in ein Land, in dem Sie niemals sein werden[!] Sie aber, Señor Kaur, können mich, wann immer Sie wollen, aufsuchen […]« (FAd, 182). 1089 Vgl. FA , 526. 1090 Vgl. FA , 528. 1091 Vgl. FA , 528.

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für Informationen über Bam-Gran zu bezahlen, und verleihen der Erzählung damit Züge eines Zaubermärchens, in dem der Held ein solches Zaubermittel von einem Helfer erhält.1092 Das nächste phantastische Ereignis steht in unmittelbarem Zusammenhang mit diesen ›Zigeunern‹, die auf mehreren Ebenen mit der ausländischen Delegation und ihrem Leiter Bam-Gran verbunden sind. Zunächst einmal sind auch sie strukturell Fremde, und das sogar par excellence, denn sie sind fremd, wo immer sie hinziehen. Das gilt auch für ihr Äußeres: Dem Protagonisten Kaur fallen sie bereits vor dem Empfang der Delegation unter den anderen Passanten auf der Straße als »видом резко отличн[ая] от всех групп[а]«1093 auf, zudem sprechen sie »на своем диком наречии«.1094 Ihre ausführlich beschriebene farbenfrohe Kleidung besitzt ein Äquivalent in den bunten Textilien, die die Delegation den Gastgebern überreicht, und auch die Musikinstrumente, die die ›Zigeuner‹ bei sich tragen, sind in den Geschenken der Gruppe um Bam-Gran enthalten.1095 Darüber hinaus assoziiert Kaur die ›Zigeuner‹ ebenfalls mit Wärme und – genauso wie im Falle der Delegation nicht genau bestimmten – südlichen Ländern, als er nach der ersten Begegnung mit ihnen auf der Straße seinen Eindrücken nachhängt: »Еще довольно много я передумал об этом, пока мороз не выжал из меня юг, забежавший противу сезона в южный уголок души.«1096 Schließlich stellen die ›Zigeuner‹ auch in der Hinsicht eine parallele Erscheinung zu der »как духи или нечистая сила«1097 durch Wände gehenden Delegation um Bam-Gran dar, dass sich in ihnen ebenfalls strukturelle mit radikaler Fremdheit in Gestalt von Magie verbindet. Bereits zu Beginn der Erzählung, als der Protagonist Kaur die ungewöhnliche Gruppe auf der Straße sieht, deutet er eine solche Entwicklung an, wenn er sie als »бродяг[и] с магическими глазами«1098 beschreibt. Als Kaur nach seiner Begegnung mit Bam-Gran und auf der Suche nach ihm in einer Teestube nach den ›Zigeunern‹ fragt, äußert der Wirt als erstes die Vermutung, dass Kaur sich von ihnen wahrsagen lassen möchte;1099 und auch als die Gruppe der ›Zigeuner‹ den Raum betritt, lautet der erste Satz, den eines ihrer Mitglieder an Kaur richtet: »›Дай погадаю‹«.1100 1092 Vgl. Propp: Morfologija skazki, 53. 1093 FA , 501. Dt.: »Gruppe […], die sich […] in ihrem Äußeren kraß von der Menge unterschied« (FAd, 156). 1094 FA , 502. Dt.: »in ihrem seltsamen [wörtl.: wilden] Idiom« (FAd, 157). 1095 Vgl. FA , 501. 1096 FA , 502. Dt.: »Noch lange hing ich diesen Gedanken nach, bis der Frost mir den Süden ausgetrieben hatte, der der Saison zuwider in einen südlichen Winkel meiner Seele gedrungen war.« (FAd, 158). 1097 FA , 526. Dt.: »wie Gespenster oder der Leibhaftige« (FAd, 184). 1098 FA , 502. Dt.: »Vagabunden mit den magischen Augen« (FAd, 157). 1099 Vgl. FA , 531. 1100 FA , 532. Dt.: »›Laß dir wahrsagen‹« (FAd, 190).

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Durch diese Parallelen zur Gruppe um Bam-Gran werden die ›Zigeuner‹ als Vermittler sowohl zwischen dem kalten Petrograd und der warmen Heimat der Delegation als auch zwischen der Sphäre des Natürlichen und der des Übernatürlichen in die Erzählung eingeführt. Ihre Funktion ist die eines Helfers: Nach dem Aussprechen des Namens ›Bam-Gran‹, der wie ein Zauberwort wirkt und eine heftige Erregung bei den ›Zigeunern‹ auslöst,1101 erhält Kaur von ihnen im Austausch gegen Goldpiaster einen magischen Gegenstand in Form eines Metallkegels sowie die durch Kartenlegen ermittelte Anweisung, an einen Ort zurückzugehen, an dem er an diesem Tag bereits war und wo ›sein Herz berührt‹ wurde,1102 um zu Bam-Gran zu gelangen. Diesen Ort identifiziert Kaur als die Wohnung des Malers und Bilderhändlers Brok, den er einige Stunden zuvor aufgesucht hat, um ein Gemälde für einen Auftraggeber zu erwerben. Ähnlich wie im Falle der ›Zigeuner‹, deren besondere Rolle für den Handlungsverlauf durch verschiedene Parallelen zur Delegation um Bam-Gran schon bei ihrer ersten Erwähnung angedeutet wird, kündigt sich auch bei der ersten Szene in Broks Wohnung schon indirekt durch mehrere Details an, dass sich hier der Übergang in die südliche Welt Bam-Grans eröffnen wird. Erstens kommt es bereits an dieser Stelle zu einem ungewöhnlichen Ereignis, das die spätere phantastische Aufhebung von Grenzen zwischen verschiedenen Räumen vorwegnimmt: »В то время, как я сидел, я испытал, – может быть, миллионной дробью мгновения, – что одновременно во мне и вне меня мелькнуло пространство, в которое смотрел я перед собой.«1103 Dieser Eindruck fällt, wie sich aus dem Kontext erschließen lässt, zeitlich mit dem Moment zusammen, als Brok an der Haustüre ein Gemälde kauft. Zweitens handelt es sich bei eben diesem von Brok erworbenen Gemälde um die Darstellung eines hellen Zimmers in einer orientalischen Stadt, wodurch es – ähnlich wie die ›Zigeuner‹ und die Delegation um Bam-Gran zu den Bewohnern Petrograds – einen scharfen Gegensatz zu den anderen Bildern in der Wohnung bildet, die in dunklen Farben gehalten sind und nördliche, höchstwahrscheinlich russische Landschaften zeigen.1104 Die hervorgehobene Rolle des ›südlichen‹ Gemäldes gegenüber den anderen wird dadurch verstärkt, dass es Kaur unter allen Bildern in der Wohnung als einziges gefällt,1105 während 1101 Vgl. FA , 533. 1102 Vgl. FA , 535. 1103 FA , 505. Dt.: »In der Zeit, als ich so dasaß, spürte ich – vielleicht im millionsten Teil eines Augenblicks –, daß der Raum, in den ich blickte, zugleich in mir und außerhalb meiner war.« (FAd, 160). 1104 Vgl. FA , 503 u. 505. 1105 Wie Nina Grin berichtet, steht Grin der russischen Malerei generell eher ablehnend gegenüber. Als Maler, die Grin nicht gefallen, nennt sie konkret Repin und Bogaevskij (vgl. Grin, N.: Knigi A. S. Grina. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 187, l. 7).

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der Maler Brok – mit ähnlicher Rolle wie der des Statistikers Eršov – nicht nur selbst Bilder der ›nördlichen‹ Sorte produziert, sondern das Gemälde mit dem hellen Zimmer auch explizit als »›[…] Мазня, дурной вкус!‹«1106 bezeichnet. Kaur seinerseits beschreibt eines der Bilder mit den Worten: »Смутные очертания дороги и степи с неприятным пыльным колоритом […]«.1107 Den Höhepunkt dieser Abwertung der russischen Landschaftsmalerei bildet ein kleines Detail, dem eine enorme unterschwellige Komik innewohnt: Auf einem der Bilder sind zwei Krähen im Schnee zu sehen, womit Grin möglicherweise auf Aleksej Savrasovs berühmtes Gemälde »Grači prileteli« (1871; dt.: »Die Krähen sind gekommen«) anspielt, welches »die Poesie der alltäglichen Provinzszene«1108 illustriert. Als Kaur genauer hinsieht, erblickt er »две засохшие мухи, которых раньше я принимал за классическую ›пару ворон‹.«1109 Drittens schließlich wiederholt sich beim Anblick des ›südlichen‹ Gemäldes der Eindruck einer Grenzaufhebung zwischen zwei Räumen, der hier zu dem Gefühl eines Übergangs des Protagonisten in das auf dem Gemälde abgebildete Zimmer gesteigert wird: »Эффект этот был  – неожиданное похищение зрителя в глубину перспективы так, что я чувствовал себя стоящим в этой комнате. Я как бы зашел и увидел, что в ней нет никого, кроме меня.«1110 An dieser Stelle bleibt die Darstellung noch auf der Ebene des Rationalen, indem die Perspektive der Bildkomposition als Begründung für den Effekt angeführt und das Hineingehen in das Bild durch den Ausdruck »как бы«1111 als Illusion markiert wird. Dennoch findet sich schon in dieser Szene ein Moment, in dem ein Element der Welt des sonnendurchfluteten Gemäldes auf das Zimmer außerhalb des Bildes einwirkt, ohne dass dies durch modalisierende Ausdrücke o. Ä. als nicht real markiert wird: »[…] солнце горело на моей руке, когда, придерживая раму, смотрел я перед собой, силясь найти мазки«.1112

1106 FA , 505. Dt.: »›[…] Stümperei, schlechter Geschmack!‹«. 1107 FA , 505. Dt.: »Verschwommene Konturen eines Weges und Steppe von unangenehm staubigem Kolorit […]« (FAd, 161). 1108 Figes: Nataschas Tanz, 425. 1109 FA , 541. Dt.: »zwei vertrocknete Fliegen, die ich vorher als das ›klassische Krähenpaar‹ angesehen hatte.« (FAd, 200). 1110 FA , 507; Hervorhebung im Original. Dt.: »Dieser Effekt bestand darin, daß der Betrachter jählings in die Tiefe der Perspektive entführt wurde, so daß ich in diesem gemalten Raum zu stehen glaubte. Ich hatte ihn gleichsam betreten und sah, daß außer mir niemand zugegen war.« (FAd, 163; Hervorhebung im Original). 1111 Dt.: »gleichsam«. 1112 FA , 507; Hervorhebung im Original. Dt.: »[…] die Sonne brannte auf meiner Hand, die den Rahmen umspannte, als ich [vor mich blickte und] die Pinselstriche auszumachen suchte« (FAd, 163; Hervorhebung von A. B.).

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Das Motiv des aus dem Bild herausströmenden Sonnenlichts wird beim zweiten, auf Anraten der ›Zigeuner‹ stattfindenden Besuch des Protagonisten in Broks Wohnung wieder aufgenommen und verbindet sich mit dem Zauberkegel, wodurch auch das Gemälde selbst indirekt schon als magischer Gegenstand bestimmt wird, bevor es sich tatsächlich als solcher erweist. Die übernatürlichen Kräfte des Kegels werden deutlich, als Kaur ihn nach dem Verlassen der Teestube aus seiner Stoffhülle auswickelt: Ein aus einem Spalt im Kegel dringendes, grelles grünes Licht erhellt die ganze Stadt und versetzt die Bevölkerung in Panik.1113 Hier zeigt sich, wie schon beim Empfang der Delegation, ein weiteres Mal Kaurs Sonderstellung unter den Stadtbewohnern, da der fremde, unerklärliche Gegenstand in ihm nicht Furcht, sondern Faszination auslöst: »Увлеченный и очарованный, я смотрел на конус […].«1114 In Broks Wohnung kommt der Kegel ein zweites Mal zum Einsatz. Sein Licht wird, als Kaur den Kegel wieder mit einem Tuch abdeckt, abgelöst durch das Licht, das aus dem Gemälde dringt: Картина солнечной комнаты, приняв несравненно большие размеры, напоминала теперь открытую дверь. Из нее шел ясный дневной свет, в то время как окна броковского жилища были по-ночному черны. Я говорю ›Свет шел из нее‹, потому что он действительно шел с этой стороны, от открытых внутри картины высоких окон. Там был день, и этот день сообщал свое ясное озарение моей территории. Казалось, это и есть путь.1115

Damit wird das letzte phantastische Ereignis der Erzählung eingeleitet: Um seinen Verdacht zu überprüfen, wirft Kaur eine seiner Goldmünzen in das Gemälde und sieht sie in dem abgebildeten Zimmer über den Boden rollen. Daraufhin geht er selbst in das Gemälde hinein und findet sich in dem süd1113 Vgl. FA , 538. 1114 FA , 537. Dt.: »Ich starrte [hingerissen und] wie verzaubert auf den Kegel […].« (FAd, 195). 1115 FA , 542; Hervorhebung im Original. Dt.: »Das Bild des sonnigen Zimmers, nun von unvergleichlich großem Format, erinnerte an eine offene Tür. Helles Tageslicht fiel von ihm herein, während die Fenster der Brockschen Behausung nachtschwarz waren. Ich sage: Licht fiel herein, weil es tatsächlich aus jener Richtung kam, von den innerhalb des Bildes geöffneten hohen Fenstern. Dort war Tag, und dieser Tag teilte seine Helligkeit meinem Territorium mit. Dies schien tatsächlich der Weg zu sein.« (FAd, 200 f.; Hervorhebung von A. B.). Man’kovskij weist darauf hin, dass Grin die Idee des magischen, lichtdurchfluteten Gemäldes aus der Lektüre von Franz Werfels »Spiegelmensch« (1920, von Grin in der russischen Übersetzung von Zorgenfrej gelesen) gewinnt (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 25). Darin heißt es im letzten Teil in einer Regieanweisung: »Mächtige Zaubererschütterung. Mit einem Schlag hat sich der Spiegel in ein gigantisches Fenster verwandelt. Von allen Seiten strömt rasendes Tageslicht in die Halle.« (Werfel, Franz: Spiegelmensch. Magische Trilogie. München 1920, 222; Hervorhebung im Original).

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lichen Land wieder. Die Münze erfüllt also erneut, wie schon zuvor bei der Bezahlung der ›Zigeuner‹, die Funktion eines Hilfsmittels bei der Suche nach Bam-Gran. An der Wand des hellen Zimmers, in dem sich der Protagonist nun befindet, hängt ebenfalls ein Gemälde, das die dunkle Wohnung des Malers Brok zeigt, aus der Kaur gerade gekommen ist.1116 Der Übergang in die andere Welt durch das Medium des Bildes ist damit vollzogen und Kaur trifft in ihr, wie erhofft, Bam-Gran. Die Kombination von Goldmünzen und einem Gemälde mit übernatürlichen Eigenschaften weist auf Gogol’s Erzählung »Portret« (1835; dt.: »Das Porträt«) als Prätext von »Fandango« hin. Das im Zentrum von Gogol’s Werk stehende Gemälde eines alten Geldleihers erwacht eines Nachts im Zimmer des Malers Čartkov zum Leben, der Abgebildete steigt aus dem Rahmen und zieht aus seinem Gewand mehrere Rollen mit je tausend Goldmünzen, von denen Čartkov eine Rolle an sich nimmt. Zwar scheint die Realität dieses Ereignisses durch den wiederholt in die Beschreibung der Szene eingeschobenen Hinweis, dass Čartkov plötzlich erwacht,1117 fast vollständig widerlegt – und doch findet der Maler am nächsten Morgen tatsächlich eine Rolle mit Goldmünzen im Rahmen eben dieses Gemäldes. Zwischen Gogol’s und Grins Erzählung besteht darüber hinaus eine Reihe weiterer Parallelen. Bereits vor dem Entdecken des Geldes im Bilderrahmen spürt Čartkovs Hand, wie eine physische Erinnerung an die Ereignisse der Nacht, die »только что лежавшую в себе тяжесть«1118 der Münzen; Kaur entdeckt die Goldmünzen, als er mit seiner Hand in die Manteltasche fährt, und wundert sich, »что не заметил ранее этой оттягивающей карман тяжести«.1119 Sowohl das Bild des alten Mannes aus »Portret« als auch das des hellen Zimmers aus »Fandango« befindet sich in der Wohnung eines Malers, Čartkov respektive Brok. Beide Bilder zeichnen sich durch das Element des Südens, durch Helligkeit und Wärme aus: In »Fandango« erhellt und erhitzt die Sonne des Südens das abgebildete Zimmer (und sogar Kaurs Hand auf dem Bilderrahmen), womit das Gemälde sich deutlich von den Darstellungen nördlicher Landschaften auf den anderen Bildern in der Wohnung unterscheidet; in »Portret« hat der alte Geldleiher »черты лица [, которые] отзывались не северною силою. Пламенный полдень был запечатлен в

1116 Vgl. FA , 542. 1117 Vgl. Gogol’, Nikolaj V.: Portret. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Tom tretij. Povesti. Leningrad 1938, 77–137, hier 90–92. 1118 Ebd., 92. Dt.: »den schweren Gegenstand, den sie gehalten hatte« (Gogol, Nikolai: Das Porträt. Erzählung. Aus dem Russischen übersetzt von Arthur Luther. Berlin 1959, 33); wörtl.: »das eben noch in ihr liegende Gewicht«. 1119 FA , 528. Dt.: »daß ich dieses Gewicht, von dem die Tasche nach unten gezogen wurde, nicht eher bemerkt hatte« (FAd, 185).

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них.«1120 Hinzu kommen zwei umgekehrte Äquivalenzen: Bei Gogol’ fallen die Goldmünzen aus dem Rahmen des Gemäldes, bei Grin wirft der Protagonist die Münze in das Gemälde hinein; ebenso verlässt in »Portret« der alte Mann das Bild, während Kaur in »Fandango« in es hineingeht. Außerdem bleibt wie in »Portret« auch in »Fandango« offen, ob die Geschehnisse rund um das Gemälde tatsächlich real sind oder nur in der Vorstellung des Protagonisten passieren, womit die Voraussetzung für die Einordnung beider Texte als phantastisch gegeben ist. Bis kurz vor dem Ende von »Fandango« tendiert das Werk zwar stark zum Genre des Wunderbaren, es scheint also eine Gültigkeit alternativer, magischer Gesetze vorzuliegen; implizit aber finden sich Hinweise darauf, dass die übernatürlichen Ereignisse möglicherweise nur der Phantasie des diegetischen Erzählers entsprungen sind. Erstens setzt das Phantastische ausgerechnet unmittelbar nach Kaurs Erwachen aus einer Ohnmacht ein, in die er in Folge eines heftigen Schlags gegen den Kopf gefallen ist.1121 Damit wird die Möglichkeit angedeutet, dass ein solches Erwachen gar nicht wirklich stattgefunden hat und somit auch die weiteren Erlebnisse – der Fund der Goldmünzen, das Zusammentreffen mit den ›Zigeunern‹ und schließlich der Übergang durch das Gemälde in das südliche Land – nur Imaginationen sind. Verstärkt wird diese Deutungsweise über die Parallele zu Gogol’s »Portret«, wo der Leser zwar mehrfach kurz hintereinander die Information erhält, dass der Protagonist erwacht sei, das traumartige Erlebnis mit dem aus dem Gemälde entstiegenen Alten anschließend aber einfach weitergeht, ohne dass ein erneutes Einschlafen Erwähnung findet, wodurch das tatsächliche Stattfinden eines solchen Erwachens zweifelhaft wird. Zweitens besteht auch die Möglichkeit, dass Kaur wirklich aus seiner Ohnmacht wieder zu sich kommt, aber nicht bei Sinnen ist und die folgenden Geschehnisse daher nur halluziniert. Diese Lesart wird implizit gestützt durch beiläufig eingestreute Informationen über die Menge an Alkohol, die der Protagonist zu sich nimmt: Zur Linderung seines in Folge des Schlags auftretenden Kopfschmerzes trinkt er aus dem Schrank im Sanitätszimmer des Dom učënych »полную большую мензурку«1122 mit Wodka, und in der Teestube, in der er die ›Zigeuner‹ trifft, wird ihm eine ganze Kanne voll Schnaps gebracht, an der er sich sogleich bedient.1123 Damit besteht die Möglichkeit einer Deutung der Geschehnisse als bloße Illusion im Rausch. 1120 Gogol’: Portret, 82. Dt.: »Gesichtszüge [, aus denen] eine nicht nordische Kraft sprach […]: der flammende Süden [wörtl.: Mittag] prägte sich in ihnen aus.« (Gogol: Das Porträt, 12 f.). 1121 Vgl. FA , 525 f. 1122 FA , 526. Dt.: »ein großes Meßgefäß voll« (FAd, 183). 1123 Vgl. FA , 532.

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Konzeptionen des Fremden in der Prosa Aleksandr Grins: Textanalysen

Drittens geben die ersten – und damit durch ihre Position im Text hervorgehobenen – Sätze der Erzählung einen Hinweis darauf, dass der Übergang des Protagonisten aus dem eiskalten Petrograd in den warmen Süden eine bloße Wunschvorstellung und somit ein imaginäres Ereignis ist: Зимой, когда от холода тускнеет лицо и, засунув руки в рукава, дико бегает по комнате человек, взглядывая на холодную печь,  – хорошо думать о лете, потому что летом тепло. Мне представилось зажигательное стекло и солнце над головой. Допустим, это  – июль. […] Жара. Надо расстегнуть воротник, вытереть мокрую шею, лоб, выпить стакан воды. Однако далеко до весны, и тропический узор замороженного окна бессмысленно расстилает прозрачный пальмовый лист.1124

Da Kaur selbst als diegetischer Erzähler von den Ereignissen berichtet, gibt es zudem wie so oft bei Grin keine objektive Instanz, die dem abstrakten Leser bei der Entscheidung, ob die phantastischen Ereignisse real und damit übernatürlich oder imaginär bzw. illusorisch und damit natürlich sind, behilflich sein könnte. Der hier nur implizit erzeugte Zwischenzustand des Phantastischen wird am Ende der Erzählung im Zuge einer unerwarteten Wendung der Ereignisse explizit gemacht: Nach seiner Rückkehr aus dem südlichen Land nach Petrograd findet sich Kaur nicht, wie zu erwarten wäre, in Broks Wohnung mit dem magischen Gemälde wieder, sondern vor der Tür seines eigenen Zimmers. Doch nicht nur räumlich findet eine Verschiebung statt; vor allem ist, ähnlich wie in »Ubijstvo v rybnoj lavke«, die Chronologie der Ereignisse gestört. Von seiner in der Wohnung befindlichen Frau Liza erfährt Kaur, dass er vor etwa dreißig Minuten das Haus verlassen habe, um etwas zu erledigen, doch als er sich nach dem Datum erkundigt – es ist der 23. Mai 1923 –, stellt er fest: »›[…] Я вышел сегодня утром не из этой комнаты. Я вышел из той комнаты, в которой жил до встречи с тобой в январе тысяча девятьсот двадцать первого года.‹«1125

1124 FA , 497. Dt.: »Wenn im Winter das Gesicht vor Kälte alle Farbe verliert und der Mensch, die Hände in die Ärmel geschoben, im Zimmer umherstapft und den kalten Ofen anblickt, tut es gut, an den Sommer zu denken, weil es im Sommer warm ist. Mir schwebte ein Brennglas vor und Sonne über mir. Angenommen, es ist Juli. […] Hitze. Ich knöpfe den Kragen auf, trockne Hals und Stirn, und trinke ein Glas Wasser. Doch es war weit bis zum Frühling, und sinnlos spreizte sich das durchsichtige Palmenblatt im tropischen Muster des befrorenen Fensters.« (FAd, 152). 1125 FA , 548; Hervorhebung im Original. Dt.: »›[…] Ich bin heut morgen nicht aus diesem Zimmer fortgegangen. Ich bin aus dem Zimmer fortgegangen, das ich im Januar neunzehnhunderteinundzwanzig bewohnte, bevor ich dir begegnete.‹« (FAd, 207; Hervorhebung von A. B.).

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Dieser Umstand erzeugt durch seine auf der Ebene der Logik unauflösbare Widersprüchlichkeit Zweifel an der Realität der gesamten Geschichte um Bam-Gran – und doch wird diese sogleich erneut bestätigt, denn unmittelbar nach seinen Worten zieht Kaur zum Beweis den Beutel mit den Goldmünzen aus seinem Mantel – eine weitere Gemeinsamkeit mit Gogol’s »Portret«, wo die Goldmünzen im Bilderrahmen ebenfalls die Funktion eines Hinweises auf den realen Charakter der Ereignisse der Nacht erfüllen. Die enorm beunruhigende Wirkung dieser phantastischen Situation, die sich einem rationalen Verstehen entzieht, drückt Liza explizit aus: »›Ты бредишь! Ты пугаешь меня. И ты хочешь, чтобы я поверила? […] Если я ничего не пойму, я умру!‹«1126 Die unauflösbare Verflechtung der beiden parallel existierenden Varianten wird durch ihre Übereinstimmung in mehreren Details verstärkt: Laut Liza ist es Mai und Kaur war dreißig Minuten weg; nach Kaurs Übergang in das helle Zimmer auf dem Gemälde sagt Bam-Gran zu ihm: »›[…] Это – Зурбаган, Зурбаган в мае […]‹«1127 und kurz darauf: »›[…] вы можете пробыть здесь только тридцать минут. […]‹«.1128 Zudem pfeift Kaur am Tag des Empfangs der Delegation noch vor seiner Begegnung mit Bam-Gran und seinen Landsleuten einen Fandango,1129 ebenso spielen die Spanier auf ihren Instrumenten einen Fandango, bevor sie aus dem Gebäude der KUBU verschwinden.1130 Als Kaur Liza fragt, ob er beim Weggehen etwas gesagt habe, antwortet sie: »›[…] я слышала, как ты, уходя, насвистываешь ›Фанданго‹.‹«1131 Zusätzlich treten an dieser Stelle zwei unabhängige Zeugen auf, die jeweils eine der beiden einander logisch ausschließenden Varianten bestätigen: Nachdem aus Lizas Aussage deutlich wird, dass Kaur nur kurz fortgewesen ist und die Ereignisse um Bam-Gran vor zwei Jahren geschehen sein müssen, begibt sich der Protagonist in ein Lokal zu einem Bekannten, dem er am Tag des Empfangs der Delegation einen frischen Fisch zur Zubereitung gegeben hat. Lizas Behauptung auf die Probe stellend, sagt Kaur zu seinem Bekannten in Bezug auf den Fisch: »[…] ›вы сдержали, Терпугов, свое слово, которое дали мне два года назад!‹«,1132 woraufhin dieser antwortet: »›[…] Мы с вами вчера встретились […]!‹«1133 Durch Terpugovs Aussage sowie zusätzlich durch den frischen Fisch, der als hochgradig verderbliches Lebensmittel 1126 FA , 549. Dt.: »›Du phantasierst! Du machst mir Angst[.] Und das soll ich glauben? […] Wenn ich das nicht begreife, sterbe ich!‹« (FAd, 208). 1127 FA , 544. Dt.: »›[…] Dies ist Surbagan, Surbagan im Mai […]‹« (FAd, 203). 1128 FA , 544. Dt.: »›[…] Sie können hier nur dreißig Minuten verweilen. […]‹« (FAd, 203). 1129 Vgl. FA , 497 u. 499 f. 1130 Vgl. FA , 525. 1131 FA , 548. Dt.: »›[…] ich hörte, wie du im Weggehen einen ›Fandango‹ pfiffst.‹« (FAd, 207). 1132 FA , 550. Dt.: »[…] ›Sie haben Ihr Wort gehalten, Terpugow, das Sie mir vor zwei Jahren gaben!‹« (FAd, 209). 1133 FA , 550. Dt.: »›[…] Wir trafen uns gestern […]!‹« (FAd, 209).

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unmöglich zwei Jahre später serviert werden kann, entsteht ein gleichwertiges Gegengewicht zu Lizas Behauptung. Es erfolgt somit bis zum Ende der Geschichte keine Auflösung, weder für den abstrakten Leser noch für den Protagonisten selbst. Die fortbestehende Gültigkeit beider Varianten formuliert der Protagonist abschließend sogar explizit: »Он был прав. […] Но я был тоже прав […].«1134 Mit dem in Kapitel 4.2.3.4 bereits zitierten abgewandelten Heine-Gedicht, in dem sich Norden und Süden – und damit implizit auch beide sich eigentlich gegenseitig ausschließende Möglichkeiten – im Bild der »пальма-сосна«1135 vereinigen, endet die Erzählung unter Aufrechterhaltung des Phantastischen. Die hier vorgenommenen Analysen phantastischer Erzählungen zeigen Grins virtuoses literarisches Spiel mit den beiden Seins- und Deutungsebenen des Realen und des Illusorischen bzw. Imaginären, zwischen denen das Phantastische in einem Schwebezustand gehalten wird. Dies geschieht durch widersprüchliche Hinweise, die sich längst nicht in expliziten Aussagen erschöpfen, sondern auch als implizite Andeutungen auf der Inhaltsebene oder als Verknüpfungen über sprachliche und strukturelle Äquivalenzen auftreten. Eine entscheidende Rolle kommt dabei auch der Instanz des Erzählers zu, die oftmals als unzuverlässig markiert wird. Im Zuge dessen werden unterschiedliche Erklärungen für das phantastische Phänomen in die Erzählungen eingeführt, welche sich klassischerweise in Werken der phantastischen Literatur finden: Magie, überirdische Mächte, Halluzination oder Imagination, Traum oder Rausch. Das radikal Fremde des Phantastischen, das sich als Atopisches in keine Ordnung einfügt und sich als ›Riss‹ in der eigenen Ordnung manifestiert, welcher sich als Möglichkeitsraum, aber auch als bodenloser Abgrund erweisen kann, zeigt eine große Bandbreite an axiologischen Bewertungen. Ebenso wie es mal als sehr positiv, mal als sehr negativ, mal als etwas dazwischen erscheint, erstrecken sich auch seine Wirkungen von Faszination wie im Falle von Kaur aus »Fandango« über eine starke Beunruhigung wie in »Ubijstvo v rybnoj lavke« und im Falle von Eršov aus »Fandango« bis hin zu Furcht und blanker Panik wie in »Iva« oder »Proisšestvie v ulice Psa«. Analog dazu gestalten sich auch die unterschiedlichen Umgangsstrategien mit ihm: Aneignung bei Kaur, Leugnung bei Eršov, Verdrängung bei den Passanten in der ulica Psa und dem Mörder aus dem Fischladen. Das Thema der Verdrängung des anderweitig nicht zu Bewältigenden steht auch im Zentrum der Erzählungen, die im folgenden Kapitel betrachtet werden.

1134 FA , 550. Dt.: »Er hatte recht. […] Aber ich hatte ebenfalls recht […].« (FAd, 209). 1135 FA , 550. Dt.: »Palmenfichtenbaum« (FAd, 209).

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4.4

Das intrasubjektive radikal Fremde

4.4.1

Erscheinungsformen des intrasubjektiven radikal Fremden bei Grin – Überblick

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»Человек никогда не совпадает с самим собой. К нему нельзя применить формулу тождества: А есть А.« Michail Bachtin1136

Waren die bisher betrachteten drei Arten des Fremden, das (extrasubjektive)  alltägliche, strukturelle und radikal Fremde, außerhalb des Ich angesiedelt, so kommt es bei der vierten Art zu einem Einbruch des Fremden in den Kern des Eigenen. Das Ich wird damit gleichzeitig zum Interpreten und Referenten der Fremdsetzung. In der Ausprägung als intrasubjektives radikal Fremdes geht es mit dessen grundlegender Erschütterung einher – denn das Individuum, das im wörtlichen Sinne Unteilbare, erweist sich dadurch als durchaus teilbar, fragmentierbar, instabil. Die bereits in der Romantik intensiv in den Blick genommene Idee einer Ich-Fremdheit tritt Anfang des 20. Jahrhunderts mit Freuds psychoanalytischen Theorien zum Unbewussten erneut in den Fokus. Gerade in Russland wird seine Psychoanalyse besonders intensiv rezipiert.1137 Von den 1910er bis in die 1930er Jahre »психоанализ был одной из важных составляющих русской интеллектуальной жизни«.1138 Die Gründung des »Russkoe psichoanalitičeskoe obščestvo« (RPSAO; dt.: »Russische psychoanalytische Gesellschaft«) in Moskau Anfang der 1920er Jahre markiert den Beginn der auch formalen Rezeption von Freuds Ideen in Russland.1139 Nicht nur Wissenschaftler befassen sich mit Freud – darunter die russischen Psychoanalytiker Nikolaj Osipov, Moisej Vul’f, Tat’jana Rozental’, Michail Asatiani oder Leonid Droznes –, sondern auch eine große Zahl von Literaten und Literaturwissenschaftlern, unter ihnen Vasilij Rozanov und Andrej Belyj sowie, in besonderem Maße, Michail Bachtin.1140 Dies geschieht nicht zufällig: Die enge Beziehung zwischen Literatur und Psychologie betont Freud selbst, 1136 Bachtin: Problemy poėtiki, 70; Hervorhebung im Original. Dt.: »Der Mensch ist nie mit sich selbst identisch. Die Identitätsformel: A ist A, ist auf ihn nicht anwendbar.« (Bachtin: Probleme der Poetik, 67; Hervorhebung von A. B.). 1137 Vgl. McGuire, William (Hg.): The Freud / Jung letters. Princeton 1974, 495; zit. nach Wöll: Doppelgänger, 68. 1138 Ėtkind: Ėros nevozmožnogo, 9. Dt.: »war die Psychoanalyse eine der wichtigsten Komponenten des russischen intellektuellen Lebens«. 1139 Vgl. Young, Donald: Ermakov and Psychoanalytic Criticism in Russia. In: The Slavic and East European Journal 23/1 (Spring, 1979), 72–86, hier 72. 1140 Vgl. Ėtkind: Ėros nevozmožnogo, 10 f.

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wenn er schreibt: »Die Schilderung des menschlichen Seelenlebens ist ja […] [die] eigentlichste Domäne [des Dichters]; er war jederzeit der Vorläufer der Wissenschaft und so auch der wissenschaftlichen Psychologie.«1141 Diese Beeinflussung ist sogar eine wechselseitige: Einerseits erkunden Schriftsteller in ihren Werken psychologische Phänomene und Mechanismen lange vor der Etablierung von Psychologie oder gar Psychoanalyse als wissenschaftliche Disziplinen, sodass ihre Texte der späteren Forschung nicht selten als Anschauungsobjekte dienen. Freud selbst entwickelt beispielsweise seine Betrachtungen zum ›Unheimlichen‹ anhand von E. T. A. Hoffmanns »Der Sandmann« (1816)1142 und befasst sich auch intensiv mit Dostoevskij, etwa mit den Träumen Raskol’nikovs aus »Prestuplenie i nakazanie« (1866; dt.: »Verbrechen und Strafe« bzw. »Schuld und Sühne«) oder mit dem Roman »Brat’ja Karamazovy« (1880; dt.: »Die Brüder Karamazov«), zu dessen deutscher Ausgabe er 1928 das Vorwort »Dostojewski und die Vatertötung«1143 schreibt.1144 Dieses Vorgehen wird auch in Russland von Anhängern Freuds übernommen, die sich unter anderem mit der psychoanalytischen Deutung von Literatur (und Kunst) beschäftigen. Der erste Präsident des Russkoe psichoanalitičeskoe obščestvo, der Psychiater und Psychoanalytiker Ivan D.  Ermakov, verfasst selbst psychoanalytische Studien zu Gogol’.1145 Umgekehrt werden Schriftsteller und Dichter ihrerseits von Erkenntnissen aus der Psychologie und Psychoanalyse beeinflusst und verarbeiten diese literarisch. Auch bei Grin ist zum Teil von einer eigenständigen Entwicklung psychologischer Sujets auszugehen, zum Teil aber auch von einer Rezeption und literarischen Umsetzung psychologischer und psychoanalytischer Theorien. Obwohl dies nicht sicher ist, ist anzunehmen, dass Grin Freuds Ideen zumindest teilweise bekannt sind,1146 denn die Schriften des Psychoanalytikers werden 1141 Freud, Sigmund: Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹. In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Siebenter Band. Werke aus den Jahren 1906–1909. London 1955, 31–125, hier 70. 1142 Vgl. Freud: Das Unheimliche, 54–61. 1143 Vgl. Freud, Sigmund: Dostojewski und die Vatertötung. In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Vierzehnter Band. Werke aus den Jahren 1925–1931. London 1955, 397–418. 1144 Vgl. Ėtkind: Ėros nevozmožnogo, 107. 1145 Vgl. Young: Ermakov and Psychoanalytic Criticism, 72. 1146 Mit relativ hoher Sicherheit kann dagegen angenommen werden, dass Grin Schriften des französischen Philosophen und Psychologen Theodule Ribot kennt, da er selbst in der Erzählung »Otravlennyj ostrov« das Phänomen des kollektiven Selbstmords der Inselbewohner von einem Journalisten, »ссылаясь на […] Рибо« (OO, 583. Dt.: »auf […] Ribot Bezug nehmend«), als Massenhalluzination erklären lässt. Ribots Schriften sind in russischer Übersetzung erhältlich (vgl. Kovskij: Romantičeskij mir, 152); sein »Essai sur l’imagination créatrice« etwa erscheint bereits 1901, d. h. nur ein Jahr nach der französischen Erstveröffentlichung, unter dem Titel »Tvorčeskoe voobraženie« (dt.: »Schöpferische Vorstellungskraft«) in Sankt Petersburg.

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zwischen 1904 und 1930, also ziemlich genau während Grins Schaffenszeit, systematisch ins Russische übersetzt1147 und sind auch einer breiten Leserschaft bekannt, wie die Psychologen L. S. Vygotskij und A. R. Lurija 1925 betonen: »У нас в России фрейдизм пользуется исключительным вниманием не только в научных кругах, но и у широкого читателя. В настоящее время почти все работы Фрейда переведены на русский язык и вышли в свет.«1148 Gerade während seiner Petersburger Jahre ist es schwer vorstellbar, dass Grin ganz ohne Berührung mit dem frejdizm (dt.: Freudianismus), der zu dieser Zeit gerade auch in Literatenkreisen en vogue ist, bleibt.1149 Andererseits aber verfasst er viele seiner Werke, in denen er beispielsweise die Macht des Unbewussten auf vielfältige und intensive Weise literarisch erkundet, bereits Jahre bevor Freud oder andere Psychoanalytiker diese systematisch aus wissenschaftlicher Perspektive beschreiben.1150 Phänomene des Unbewussten finden sich bei Grin z. B. in der bereits vorgestellten Erzählung »Sila nepostižimogo«, in der der Protagonist eine vollendete Melodie in seinem Unterbewusstsein verwahrt, weshalb er nur im Traum und unter Hypnose Zugang zu ihr hat. In »Tainstvennaja plastinka« (1916; dt.: »Die geheimnisvolle Schallplatte«)1151 gelangen die verdrängten Schuldgefühle eines Sängers wegen eines Mordes an seinem Nebenbuhler eines Tages wieder an 1147 Vgl. Ėtkind: Ėros nevozmožnogo, 12. 1148 Vygotskij, L. S./Lurija, A. R.: Predislovie k russkomu perevodu raboty ›Po tu storonu principa udovol’stvija‹. In: Frejd, Zigmund: Psichologija bessoznatel’nogo. Moskva 1989, 29–36, hier 29; zit. nach Ėtkind: Ėros nevozmožnogo, 171 f. Dt.: »Bei uns in Russland erfreut sich der Freudianismus nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen außerordentlicher Aufmerksamkeit, sondern auch bei einer breiteren Leserschaft. Gegenwärtig sind fast alle Arbeiten Freuds ins Russische übersetzt und herausgegeben.«. 1149 Einer der wichtigsten Grin-Forscher, Kovskij, widerspricht der These einer Verbindung Grins zu Freud auf wenig überzeugende Weise: »Может показаться, что гриновский психологический анализ опасно близок к психоанализу во фрейдистском смысле. Но психоанализ рассматривает комплексы подсознательных движений психики как некий имманентный, не связанный ощутимо с действительностью процесс. Грин же лишь дробит духовную жизнь героя на множество мельчайших отрезков, тесно соотносимых, однако, с мельчайшими отрезками развивающегося действия.« (Kovskij: Romantičeskij mir, 156. Dt.: »Es kann scheinen, dass die Grin’sche psychologische Analyse gefährlich nah an der Psychoanalyse im freudianischen Sinne ist. Aber die Psychoanalyse untersucht Komplexe unterbewusster Bewegungen der Psyche als einen gewissen immanenten, mit der Wirklichkeit nicht merklich verbundenen Prozess. Grin dagegen unterteilt nur das geistige Leben des Helden in eine Vielzahl kleinster Stücke, die jedoch eng mit den kleinsten Stücken der sich entwickelnden Handlung korreliert sind.«) Dennoch räumt er ein, dass man ein Interesse Grins an Freuds Theorien nicht abstreiten könne (vgl. ebd., 152). 1150 Zu Grins Interesse an psychologischen Phänomenen im Allgemeinen vgl. Kovskij: Nastojaščaja, vnutrennjaja žizn’, passim, v. a. 271–273. 1151 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Tainstvennaja plastinka. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom vtoroj. Rasskazy 1913–1916. Moskva 1991, 517–521. Kürzel: TP.

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die Oberfläche und lassen ihn – und alle Anwesenden – auf einer neu aufgenommenen Schallplatte mit seinen eigenen Liedern ebenso unverkennbar wie unerklärlich die Stimme des Ermordeten hören. Die Macht des Unbewussten beschränkt sich damit nicht nur auf den eigentlich Betroffenen, sondern greift sogar auf Unbeteiligte über. Noch extremer gestaltet sich der Einfluss des Unbewussten auf die Außenwelt in der Erzählung »Zagadka predvidennoj smerti« (1914). In ihr erkundet Grin in eindrücklicher Weise die Gedanken und Gefühle eines zum Tode Verurteilten, Ėbergajl’, in den Stunden vor seiner Hinrichtung. Um seinem Entsetzen angesichts des Bevorstehenden Herr zu werden, stellt der Gefangene sich den Moment seiner Tötung durch die Guillotine immer wieder detailliert vor und erforscht jede kleinste körperliche Empfindung: »[…] он тщательно исследовал роковой момент, стараясь привыкнуть к нему и понять то, что в самый последний миг отойдет вместе с ним […]«.1152 Auf diese Weise gelingt es ihm, die panische Angst, die das radikal Fremde, Unbegreifliche des Todes in ihm auslöst, zu bezwingen, da er ihm einen Teil seiner Fremdheit durch die mentale Aneignung des eigenen Sterbens nimmt: »[…]  Эбергайль, несомненно, владел ужасом, зная, в чем он.«1153 Auch hier ist es also, wie in »Noč’ju i dnëm«, das unbekannte Fremde, das die größte Angst auslöst. Kurz vor der Hinrichtung erhält der Gefangene die Nachricht, dass er begnadigt wurde, die Exekutionszeremonie (mit Ausnahme der tatsächlichen Hinrichtung) aber zur Unterhaltung der um das Schafott versammelten Menschenmenge dennoch durchgeführt werde. Der Verurteilte versucht, sich diesen neuen Ablauf der Ereignisse vorzustellen, vermag es jedoch nun nicht mehr, sich von dem Gefühl zu befreien, wie die Klinge seinen Hals zerteilt: »[…] точное знание удара неудержимо озарило его.«1154 Als der Henker auf den Befehl zur Begnadigung hin das Beil sinken lässt, kommt es dennoch zu einer Realisierung der zuvor so intensiv vorgestellten Enthauptung: »[…] голова Эбергайля […] отделилась от туловища и громко стукнула о помост под хлынувшей на нее из обрубка шеи, фыркающей, как насос, кровью.«1155 Die Erzählung endet mit der Diskussion zweier Augenzeugen 1152 ZP, 227. Dt.: »[…] er erforschte sorgfältig den verhängnisvollen Moment, bemüht, sich an ihn zu gewöhnen und das zu begreifen, was im allerletzten Moment zusammen mit ihm davongehen würde […]« (Grin, Alexander: Das Rätsel des vorausgesehenen Todes. Aus dem Russischen von Renate Landa. In: Ders.: Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1989, 66–78, hier 66. Kürzel: ZPd). 1153 ZP, 228. Dt.: »[…] Ebergeil [beherrschte] zweifellos das Entsetzen, weil er wußte, worin es bestand.« (ZPd, 68). 1154 ZP, 232. Dt.: »[…] das genaue Wissen um den Schlag durchdrang ihn unaufhaltsam.« (ZPd, 76). 1155 ZP, 232. Dt.: »[…] der Kopf Ebergeils [löste sich] […] vom Rumpf und schlug laut polternd auf das Gerüst, überströmt von Blut, das aus dem Halsstumpf wie aus einer Pumpe niederschoß.« (ZPd, 77).

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darüber, ob der Henker das Beil tatsächlich einfach hat sinken lassen oder ob er nicht doch dabei den Hals Ėbergajl’s durchtrennt hat, sodass offenbleibt, ob es sich um ein psychologisches Phänomen mit extremen körperlichen Folgen oder einen gewöhnlichen Unfall handelt. Auf weniger krasse, aber ebenso eindrückliche Weise thematisiert Grin in »Brak Avgusta Ėsborna« (1926) den schleichenden Machtgewinn des Unbewussten, das das Handeln des im Titel genannten Protagonisten zunehmend kontrolliert. Avgust Ėsborn verlässt am Abend seiner Hochzeit »минут на десять«1156 das Haus, um, wie er seiner Braut sagt, seine Kopfschmerzen an der frischen Luft zu lindern. Bereits diese Handlung geschieht »по подмигивающему веселому приказанию беса невинной мистификации«.1157 Denn Ėsborns eigentlicher Beweggrund ist die Überlegung, dass nicht eine Ehe ohne einen einzigen Tag der Trennung, wie sie dem Brautpaar von einem Redner auf der Hochzeit gewünscht wurde, besonders große Freude bringt, sondern gerade das Wiedersehen nach einer Trennung. Daher beabsichtigt er, statt der angekündigten zehn Minuten eine ganze Stunde außer Hauses zu bleiben, um seiner Braut einen kleinen Schrecken einzujagen.1158 Bereits hier wird das Unbewusste, das Ėsborns Verhalten steuert, explizit als solches benannt: »Он не был ни жестоким, ни грубым человеком, но случалось, что им овладевала сила, которой он не мог противиться […]. Это была несознанная жажда страдания и раскаяния.«1159 Auch der Name des Protagonisten selbst verweist deutlich darauf; er setzt sich zusammen aus dem deutschen Personalpronomen ›es‹, das bei Freud in der Schreibweise ›Es‹ für eben dieses Unbewusste steht, und dem englischen Partizip ›born‹, lässt sich also deuten als ›Das Unbewusste wird geboren, kommt an die Oberfläche, beginnt ein (Eigen-)Leben‹. Genau das geschieht im weiteren Verlauf der Handlung immer mehr. Als Ėsborn feststellt, dass er bereits deutlich länger weggeblieben ist als beabsichtigt, kommt es zu einer ersten direkten Konfrontation zwischen dem bewussten und dem fremden, unbewussten Teil seines Ich, bei der der letztgenannte bereits die Oberhand gewinnt: »Он повернул и тотчас хотел вернуться, когда встретил это невидимое и неясное противодействие. Оно было в 1156 BA , 454. Dt.: »für zehn Minuten« (Grin, Alexander: Die Ehe des August Esborne. Aus dem Russischen von Renate Landa. In: Ders.: Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1989, 172–183, hier 173. Kürzel: BAd). 1157 BA , 455. Dt.: »auf das augenzwinkernde, fröhliche Geheiß eines harmlos foppenden Dämons« (BAd, 175). 1158 Vgl. BA , 455. 1159 BA , 455. Dt.: »Er war kein grausamer oder gefühlloser [wörtl.: grober] Mensch, aber mitunter beherrschte ihn eine Kraft, der er sich nicht widersetzen konnte […]. Es war der unbewußte Drang nach Leiden und Reue.« (BAd, 175).

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его душе.«1160 Dieses ›es‹ weckt in ihm den Gedanken, besser erst am nächsten Morgen nach Hause zurückzukehren, um einen nächtlichen Streit mit seiner Braut zu vermeiden; und obwohl ihm einerseits bewusst ist, dass diese Idee den Konflikt mit seiner Frau nur noch weiter verschärft, hat sich andererseits die rational vollkommen unbegründete, aus dem Unbewussten erwachsene Überzeugung durchgesetzt, dass »выхода не было«.1161 Mit diesem ersten Sieg des fremden Ich nimmt das Schicksal des Protagonisten seinen nicht mehr aufzuhaltenden Lauf: Nachdem er die Nacht unter falschem Namen in einem Hotel verbracht hat, erscheint Ėsborn am nächsten Tag die geplante Rückkehr zu seiner Braut »едва ли возможным«.1162 Sein bewusstes Ich hat den Kampf gegen das unbewusste, fremde Ich zwar noch nicht ganz aufgegeben  – »он возмутился против себя«1163  –, aber bereits weitestgehend verloren: »[…] все время повин[овался] этой достигшей теперь болезненной остроты тайной центробежной силе, отдалявшей какое-либо нормальное решение.«1164 Als Ėsborn noch am selben Tag in der Zeitung von seinem eigenen Verschwinden liest, ist die intrasubjektive radikale Fremdheit bereits so weit fortgeschritten, dass seine Identität selbst fraglich ist: »Эсборн […] отыскал с злым изумлением заметку о загадочном исчезновении А.  Эсборна при обстоятельствах, которые знал сам, но, читая, готов был усумниться, что Эсборн – это и есть он, читающий о себе.«1165 Daraufhin ändert der Protagonist tatsächlich seinen Namen, zieht in einen anderen Teil der Stadt und verfolgt aus der Ferne das Leben seiner Frau. Als er nach zwölf Jahren den Mut fasst, ihr »противу всех душевных запретов«1166 und als Ėsborn gegenüberzutreten, stirbt er zu ihren Füßen: »[…] умер, потому что умер уже давно.«1167 Obwohl in dieser Erzählung der Konflikt zwischen eigenem und fremdem Ich nicht zur Entstehung eines Doppelgängers im eigentlichen Sinne führt, weil der von sich selbst entfremdete Protagonist die ursprüngliche Identität

1160 BA , 456. Dt.: »Er drehte sich um und wollte sofort heimkehren, doch daran hinderte ihn eine unsichtbare und undefinierbare Gegenkraft in seinem Herzen [wörtl.: seiner Seele].« (BAd, 176). 1161 BA , 456. Dt.: »[es] keinen Ausweg [gab]« (BAd, 176). 1162 BA , 456. Dt.: »unmöglich« (BAd, 179); wörtl.: »kaum möglich«. 1163 BA , 456. Dt.: »[er] empörte […] sich gegen sich selbst« (BAd, 179). 1164 BA , 456. Dt.: »[…] [er] gehorchte […] die ganze Zeit der geheimen Fliehkraft, [die nun eine krankhafte Schärfe erreicht hatte und] die jede normale Entscheidung abblockte.« (BAd, 179). 1165 BA , 457. Dt.: »[Esborne fand] mit bösem Staunen die Notiz über das rätselhafte Verschwinden des A. Esborne, unter Umständen, die er selber kannte, aber während er las, war er bereit zu zweifeln, daß er Esborne war, der über sich las.« (BAd, 179). 1166 BA , 458. Dt.: »gegen alle seelischen Verbote« (BAd, 181). 1167 BA , 458. Dt.: »[…] [er] starb, weil er schon längst gestorben war.« (BAd, 183).

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bewusst ablegt und eine neue annimmt, sich also nicht verdoppelt, handelt es sich bei dieser Konstellation doch bereits um eine Vorstufe von Doppelgängertum. Dieses stellt eine sowohl in der Literatur im Allgemeinen als auch bei Grin im Besonderen häufige Erscheinungsform des intrasubjektiven radikal Fremden dar. Auch ihr liegt ein psychologischer Mechanismus zugrunde: Das Eindringen des Fremden ins Innerste der Eigensphäre, ins eigene Ich, bedroht die Identität im wörtlichen Sinne eines Mit-sich-selbst-identischSeins eines Individuums. Eine Anerkennung eines solchen intrasubjektiven radikal Fremden wird daher unwillkürlich verweigert und es erfolgt dessen Abspaltung durch Projektion in die Außenwelt, in der es sich als Doppelgänger manifestiert. 4.4.2

Der Doppelgänger als Ausdruck intrasubjektiver radikaler Fremdheit

Der Doppelgänger ist gemäß Freuds Studie »Das Unheimliche« (1919) als das an die Oberfläche getretene verdrängte Eigene zu interpretieren.1168 Bereits bei Jean Paul, der den Begriff des Doppelgängers in die Literatur einführt, ist die psychologische Lesart des Phänomens angelegt.1169 In seinem Roman »Siebenkäs« (1796) findet sich eine Definition des Doppelgängers: »So heißen Leute, die sich selber sehen.«1170 In dieser Bestimmung ist implizit ein für den psychologisch gedeuteten Doppelgänger fundamentales Kriterium enthalten: »[…] that inner readiness, the need for someone to recognize himself in his counterpart«.1171 Diese Notwendigkeit erwächst aus der bereits angesprochenen Erschütterung der Identität des Ich durch die Erkenntnis der eigenen radikalen Fremdheit, die auf diese Weise nach außen projiziert werden und abgespalten werden kann. Bei Jung heißt es zu diesem Mechanismus: »Das Projizierende ist bekanntlich nicht das bewußte Subjekt, sondern das Unbe-

1168 Vgl. Freud: Das Unheimliche, 64. Freud baut in seinen Ausführungen auf der wenige Jahre zuvor erschienenen Studie »Der Doppelgänger« (1914) von Rank (vgl. Rank, Otto: Der Doppelgänger. Psychoanalytische Studie. Leipzig u. a. 1925) auf (vgl. Freud: Das Unheimliche, 63). 1169 Schmid unterscheidet fünf mögliche Ansätze zur Interpretation des Doppelgängermotivs in der Literatur: den moralisch-allegorischen, den sozio-psychologischen, den psychoanalytischen, den psychiatrischen und den existentiell-philosophischen Ansatz (vgl. Schmid, Astrid: The Fear of the Other. Approaches to English Stories of the Double (1746–1910). Bern u. a. 1996, 49–79). 1170 Paul, Jean: Jean Paul’s sämmtliche Werke. Bd. XI . Dritte Lieferung. Erster Band. Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs. Erstes Bändchen. Berlin 1826, 66. 1171 Schmid: The Fear of the Other, 28; Hervorhebung im Original.

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wußte.«1172 Weiter führt er aus: »Der Erfolg der Projektionen ist eine Isolierung des Subjektes gegenüber der Umwelt, indem statt einer wirklichen Beziehung zu derselben nur eine illusionäre vorhanden ist. Die Projektionen verwandeln die Umwelt in das eigene, aber unbekannte Gesicht.«1173 Im Laufe der Zeit kommt es zu einer Verschiebung der Bedeutung des Begriffs ›Doppelgänger‹: Er bezeichnet heute nicht mehr in erster Linie den, der sich selbst sieht, sondern denjenigen, den er sieht und als Zweites Ich erkennt. Bestehen bleibt dagegen die vorherrschende Deutung des Doppelgängers als die verdrängte, entfremdete, oftmals dunkle Seite des Ich.1174 Seine Abspaltung und körperliche Manifestation, gewissermaßen also eine Art uchod weg von sich selbst, stellt den Höhepunkt der Identitätskrise des Individuums dar.1175 Eine Voraussetzung für das Auftreten eines Doppelgängers ist neben der psychischen Disposition des Ersten Ich auch dessen soziale Isolation, da so die objektive Realität des Zweiten Ich für das Erste Ich ungeklärt bleibt.1176 Im literarischen Text gestaltet sich diese Realität in Abhängigkeit von den (Natur-)Gesetzen, die innerhalb der Diegese gelten: Herrschen in ihr übernatürliche Gesetzmäßigkeiten, kann der Doppelgänger als objektiv existierende Person auftreten. Funktioniert die dargestellte Welt dagegen nach denselben Gesetzen wie die außerliterarische Wirklichkeit, handelt es sich bei dem Zweiten Ich entweder um eine  – eindeutig als solche bestimmbare  – bloße visuelle Halluzination des von der Identitätskrise betroffenen Ersten Ich,1177 sodass die Handlung in der Sphäre des Rationalen und Realistischen verbleibt, oder die Seinsqualität des Doppelgängers ist nicht eindeutig als natürlich oder übernatürlich bestimmbar, sodass seine Erscheinung einen Einbruch des Phantastischen bedeutet. Die letztgenannte Variante ist zugleich die häufigste, was kaum verwunderlich ist, bildet doch das per definitionem liminale, nicht eindeutig zuzuordnende Wesen des Phantastischen die eigen-fremde Natur 1172 Jung, C. G.: Gesammelte Werke. Neunter Band. Zweiter Halbband. Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. Olten, Freiburg i. Br. 1976, 18. 1173 Ebd.; Hervorhebung im Original. 1174 Vgl. Schmid: The Fear of the Other, 28, 30 u. 61. 1175 Vgl. ebd., 32. Fröhler führt als grundlegendste Frage der Kategorisierung des Doppelgängers die Entscheidung an, ob dabei eine Ich-Spaltung oder eine Ich-Verdoppelung vorliegt (vgl. Fröhler, Birgit: Seelenspiegel und Schatten-Ich. Doppelgängermotiv und Anthropologie in der Literatur der deutschen Romantik. Marburg 2004, 14). Im Falle der hier im Zentrum stehenden psychologischen Doppelgängererscheinungen handelt es sich um beides, da sowohl ein Teil der Persönlichkeit des Individuums abgespalten wird als auch Merkmale von ihm, z. B. sein Aussehen, verdoppelt werden. 1176 Vgl. Schmid: The Fear of the Other, 31. 1177 Tymms unterscheidet in seiner Doppelgängerstudie in Übereinstimmung damit zwischen einem »›allegorical‹ double«, das durch übernatürliche Kräfte erzeugt wird, und einem rational erklärbaren »›psychological‹ double« (Tymms, Ralph: Doubles in Literary Psychology. Cambridge 1949, 16).

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des intrasubjektiven radikal Fremden ideal ab. Die bloße Erscheinung des Doppelgängers bedeutet durch die ihm inhärente, unauflösbare Widersprüchlichkeit »un attacco plateale alla logica dominante con cui leggiamo il mondo, basata sui principi aristotelici di identità e non contraddizione«.1178 Eben deshalb erreicht die literarische Darstellung des Doppelgängermotivs, wie die der Ich-Fremdheit im Allgemeinen, ihren ersten Höhepunkt auch nicht zufällig in der Epoche der Romantik.1179 Die in dieser Zeit stattfindende Wiederentdeckung des antiken (u. a. in Ovids »Narziss« (ca. 1–8 n. Chr.) enthaltenen) Motivs stellt eine Reaktion auf die selbstbewusst verkündete »Ichaufwertung«1180 der Aufklärung dar, die von der Erkenntnis begleitet und überschattet wird, dass eben dieses Ich »selbst nur eine ungewisse Größe ist«.1181 Das Doppelgängermotiv dient der Erforschung des Unbewussten (u. a. in der romantischen Idee der zwei Seelen) und wird zum Ausdruck sowohl der Entfremdung des romantischen Schriftstellers von sich selbst und der Gesellschaft1182 als auch der allgemeinen existentiellen Problematik der »utter elusiveness of reality«1183 und der »discontinuity of our self«.1184 Eine zweite Blütezeit und logische Fortsetzung erlebt das Doppelgängermotiv in der Literatur in der Epoche des Fin de Siècle und des frühen 20. Jahrhunderts, in der es Teil einer »cultivation of uncertainty«1185 wird, welche den Existenzmodus des Menschen in der Moderne abbildet. Das Doppelgängermotiv findet sich in den verschiedensten Ausprägungen. Neben den Variationen der Manifestation vom rein imaginären über das an Schatten oder Spiegelung gebundene bis hin zum physisch-personalen Double betrifft dies vor allem die Unterscheidung zwischen einem wertfreien, 1178 Fusillo, Massimo: L’altro e lo stesso. Teoria e storia del doppio. Modena 2012, 27. Dt.: »eine offensichtliche Attacke auf die vorherrschende Logik, mit der wir die Welt lesen, basierend auf den aristotelischen Prinzipien der Identität und Widerspruchsfreiheit«. 1179 Vgl. Fröhler: Seelenspiegel und Schatten-Ich, 2. 1180 Forderer, Christof: Ich-Eklipsen. Doppelgänger in der Literatur seit 1800. Stuttgart, Weimar 1999, 28. 1181 Ebd. Eine wichtige Rolle für dieses Dilemma spielt Fichtes »Wissenschaftslehre« (1794), in der die gesamte Welt aus der Intelligenz des Ich abgeleitet wird. Aufgrund der Annahme, dass keine objektiv erkennbare Welt außerhalb des Ich existiert, bedeutet die Möglichkeit eines Zerbrechens dieses Ich unvermeidlich auch eine existentielle Bedrohung der Welt (vgl. Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 6., überarbeitete und ergänzte Auflage. Stuttgart 2008, 99). 1182 Vgl. Schmid: The Fear of the Other, 37; Fröhler: Seelenspiegel und Schatten-Ich, 2. 1183 Wellek, René: German and English Romanticism: A Confrontation. In: Ders.: Confrontations. Studies in the intellectual and literary relations between Germany, England, and the United States during the nineteenth century. Princeton / New Jersey 1965, 3–33, hier 24.  1184 Ebd. 1185 Miller, Karl: Doubles. Studies in Literary History. Oxford 1985, viii.

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rein psychologisch begründeten und einem allegorisch (und ggf. ebenfalls psychologisch) zu deutenden Doppelgängerpaar, das die Idee der Teilung der Persönlichkeit oder der Seele des Menschen in einen guten und einen schlechten Teil verkörpert.1186 Letzteres charakterisiert vor allem die Doppelgängerdarstellungen in der Romantik, mit besonders starker Ausprägung in der gothic novel.1187 In jedem Fall aber eröffnet die Doppelgängererscheinung ein Spannungsfeld zwischen dem Ersten und dem Zweiten Ich, die sich in der Regel in einer Konkurrenzsituation zueinander befinden. Nicht selten – wie etwa in Dostoevskijs »Dvojnik« (1846; dt.: »Der Doppelgänger«)1188 – resultiert daraus ein paranoider Verfolgungswahn des Ersten Ich, das eine Verdrängung durch sein Double befürchtet.1189 Die Konkurrenz des Ersten und Zweiten Ich um ein und denselben Platz in der Welt führt darüber hinaus meist zu dem Versuch der gegenseitigen Vernichtung, sodass die Situation häufig mit dem Tod eines der beiden oder beider Doppelgänger endet. Dies kommt bei Grin in der Erzählung »Zurbaganskij strelok« explizit zum Ausdruck: »›[…] Если бы я знал, что есть где-нибудь второй Астарот, полный двойник мой не только по наружности, но и по душе, я бы пришел к нему с предложением кинуть жребий – ему жить или мне? […]‹«.1190 Unter den unzähligen Beispielen für literarische Bearbeitungen des Doppelgängermotivs in seinen verschiedensten Ausprägungen sind aufgrund ihrer besonders intensiven Rezeption hervorzuheben: der bereits erwähnte Roman Jean Pauls »Siebenkäs« (1796), Chamissos »Peter Schlemihl« (1813) und »Die Erscheinung« (1828), E. T. A. Hoffmanns »Die Elixiere des Teufels« (1815/1816) und »Die Abenteuer der Silvesternacht« (1815), Poes »Ligeia« (1838), Stevensons »Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde« (1886) und Wildes »The Picture of Dorian Gray« (1891), sowie natürlich Gogol’s »Nos« (1836; dt.: »Die Nase«) und Dostoevskijs »Dvojnik« (1846).

1186 Vgl. Frenzel: Motive der Weltliteratur, 104. 1187 Vgl. Schmid: The Fear of the Other, 37. 1188 Vgl. Dostoevskij, Fëdor M.: Dvojnik. Peterburgskaja poėma. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Tom pervyj. Bednye ljudi. Povesti i rasskazy 1846–1847. Leningrad 1972, 109–229. 1189 Vgl. ebd., 64. Wellek erkennt hier eine dreistufige chronologische Entwicklung des Motivs: Steht bei Jean Paul noch die Bedrohung der homogenen Identität des Ich durch den Doppelgänger im Fokus, ist es bei E. T. A. Hoffmann bereits die Rolle des abgespaltenen, kriminellen Ich; bei Chamisso schließlich verdrängt das dunkle Zweite Ich das Erste Ich von seinem Platz (vgl. Wellek: German and English Romanticism, 23; zit. nach Fröhler: Seelenspiegel und Schatten-Ich, 19 f.). 1190 ZU, 238. Dt.: »›[…] Wenn ich wüsste, dass es irgendwo einen zweiten Astarot gibt, der nicht nur in Bezug auf das Äußere, sondern auch auf die Seele gänzlich mein Doppelgänger ist, würde ich mit dem Vorschlag zu ihm gehen, es auszulosen – darf er leben oder ich? […]‹«.

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In Russland besitzt das Muster der Verdoppelung eine lange geistes­ geschichtliche Tradition. Der heidnische Zwillingskult findet im frühen Mittelalter seine Fortsetzung in der Doppelung der Heiligenfiguren.1191 Ähnlich wie die psychologische Sichtweise auf das Doppelgängertum, die Erstes und Zweites Selbst als zwei oftmals gegensätzliche Teile einer ursprünglichen Einheit betrachtet, verstehen auch Lotman / Minc das Doppelgängerphänomen. In der Nachfolge des Mythenforschers Meletinskij1192 interpretieren sie die beiden Doppelgänger als mythologische Ureinheit, deren unterschiedliche Merkmale durch Personifikation schließlich zu eigenständigen Figuren wurden: »Появление персонажей-двойников – результат дробления мифологического образа, в ходе чего различные имена Единого становились разными лицами […].«1193 Im Folgenden werden zwei Erzählungen Grins, die das Phänomen des psychologisch begründeten Doppelgängertums literarisch erkunden, einer detaillierten Analyse unterzogen. 4.4.2.1

Das Ich als Balanceakt: »Kanat«

Das gängige Motiv der Auslöschung des einen Doppelgängers durch den anderen im Kampf um ein und denselben Platz in der Welt erfährt in Grins Erzählung »Kanat« (1922)1194 auf den ersten Blick eine Verschiebung von komplexen psychologischen hin zu banalen monetären Beweggründen. Das Geschehen wird von einem diegetischen Erzähler, Veniamin Foss, geschildert, der rückblickend aus seinem Leben erzählt. Seine Geschichte handelt davon, wie er auf seinen Doppelgänger in Gestalt des Seiltänzers Marč trifft. Der überredet ihn zu einem Rollentausch, da er auf einen tödlichen Sturz Foss’ vom Hochseil spekuliert, um seine eigene Lebensversicherung kassieren zu können.1195 Die hier vorliegende Auswirkung des Doppelgängers ist also ein finanzieller Vorteil1196 für Marč nach Herbeiführung des Todes seines Doubles, wobei das 1191 Vgl. Toporov, Vladimir N.: Ponjatie svjatosti v drevnej Rusi (Sv. Boris i Gleb). In: International Journal of Slavic Linguistics and Poetics 31–32 (1985), 451–472; zit. nach Wöll: Doppelgänger, 22. 1192 Vgl. Meletinskij, Eleazar M.: Poėtika mifa. Vtoroe izdanie. Moskva 1995, 270 u. 288 f. 1193 Lotman, Jurij M./Minc, Zara G.: Literatura i mifologija. In: Učënye zapiski ZGU. Struktura i semiotika chudožestvennogo teksta. TĖS -12. Tartu 1981, 35–55, hier 41. Dt.: »Das Auftreten von Doppelgängerfiguren ist das Resultat einer Aufspaltung des mythologischen Bildes, in deren Verlauf die verschiedenen Namen des Einen zu unterschiedlichen Personen wurden […].« Vgl. dazu Wöll: Doppelgänger, 32 f. 1194 Die Erstpublikation der Erzählung erfolgt 1922 in Grins Sammelband »Belyj ogon’« (dt.: »Weißes Feuer«; vgl. Revjakina / Pervova: Primečanija, 710). 1195 Vgl. KA , 213. 1196 Nach der Klassifikation von Wöll entspricht dies der Variante W2 der möglichen Auswirkungen des Doppelgängers: Sicherheit, Hilfe, Geld (vgl. Wöll: Doppelgänger, 58 f.).

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Motiv der Bedrohung der eigenen Identität durch den Anderen scheinbar keine Rolle spielt. Dementsprechend scheint auch die Übereinstimmung des Äußeren der beiden Doppelgänger nicht auf einer Projektion eines Teils des Ich auf eine andere Person, deren Aussehen infolgedessen als identisch mit dem eigenen wahrgenommen wird, zu basieren, sondern objektiv vorhanden zu sein. Hierauf weist die Tatsache hin, dass die frappierende Ähnlichkeit nicht nur von beiden Doppelgängern bemerkt,1197 sondern auch von unbeteiligten Dritten bestätigt wird.1198 Die Doppelgängerkonstellation in »Kanat« präsentiert sich also auf den ersten Blick als ein von psychologischen Hintergründen losgelöster bloßer Zufall, bei dem die Duellsituation aus rein finanziellem Interesse gezielt herbeigeführt wird. Allerdings findet in »Kanat« die Verdoppelung noch auf einer weiteren Ebene statt: als Ich-Spaltung des Protagonisten, was folglich durchaus eine psychologische Lesart nahelegt. Der Schilderung der Begegnung der Doppelgänger vorgeschaltet ist eine Beschreibung des Geisteszustands des Protagonisten Foss in der Zeit vor und während der Begegnung mit seinem Double, als er davon überzeugt ist, der unsterbliche und allmächtige antike Herrscher Amivelech zu sein. Der Doppelgängerbegegnung geht also eine Selbstentfremdung des Protagonisten voraus. Obwohl der Erzähler keine explizite kausale Verbindung zwischen der (rein mentalen) Identitätsspaltung und der anschließenden (physischen) Doppelgängersituation herstellt, legt der Text bei genauerer Betrachtung eine solche Lesart nahe.1199 In der folgenden Analyse soll zum Ersten aufgezeigt werden, wie dieser implizite logische Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen auf inhaltlicher, sprachlicher und struktureller Ebene hergestellt wird, und zum Zweiten, welche Funktion der Begegnung mit dem Doppelgänger in Bezug auf die Geisteskrankheit des Protagonisten zukommt. Zudem soll die spezifische Erzählperspektive einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, denn der Protagonist Foss ist nicht nur Betroffener einer Ich-Spaltung (in Foss und Amivelech) und einer Ich-Verdoppelung im Zuge der Doppelgängerbegegnung (von Amivelech und Marč), sondern nimmt überdies auch noch die Rolle des diegetischen Erzählers ein und wechselt als solcher zwischen der narratorialen Perspektive des rückblickenden, gesundeten Foss sowie den beiden figuralen Perspektiven des in der beschriebenen Situation agierenden, psychisch kranken und sich seiner Krankheit bewussten Foss sowie des sich seines Größenwahns nicht bewussten Amivelech. 1197 Vgl. KA , 202. 1198 Vgl. KA , 212. 1199 Arnol’di geht kurz auf »Kanat« ein und weist dabei auch auf den psychologischen Inhalt der Erzählung hin, erwähnt aber mit keinem Wort eine Doppelgängerkonstellation (vgl. Arnol’di: Belletrist Grin, 182).

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Ich-Spaltung durch Schizophrenie und Größenwahn Obwohl Foss’ geistiger Zustand lediglich mehrfach unspezifisch als »болезн[ь]«1200 bezeichnet wird, lässt er sich dank der Beschreibungen konkreter als Schizophrenie, einhergehend mit Größenwahn, identifizieren. Ein Hinweis auf Letzteren findet sich bereits im Namen ›Amivelech‹, dessen mittlere Silbe das russische Adjektiv velikij (dt.: groß; auch Beiname Peters I., des Großen (russ.: Pëtr Velikij)) evoziert. Zudem spricht der Erzähler den Größenwahn selbst mehrfach an, etwa wenn er die »злые дни ужасной и сладкой фантазии, закрепостившей мой мозг грандиозными образами человеческих мировых величин«1201 schildert. Bereits in der Beschreibung als ›schrecklich und süß‹ wird die ambivalente Wirkung der Phantasie, mittels derer sich Foss eine alternative (fremde)  Welt und eine alternative (fremde) Identität als Amivelech erschafft, deutlich. Sie bietet ihm einen verlockenden Fluchtraum aus der Wirklichkeit, jedoch um den Preis seines realen Lebens und seines ursprünglichen Selbst: Es kommt zu einer Verdrängung des eigen(tlich)en, Ersten Ich (Foss) durch das fremde, Zweite Ich (Amivelech). Rückblickend überwiegt für den Erzähler aus narratorialer Perspektive dieser Verlust gegenüber dem Gewinn, sodass die Bewertung seines Identitätswechsels klar negativ ausfällt  – anders als etwa in der Erzählung »Dalëkij put’« (s. Kap. 4.2.3.2), in der die Wandlung des Russen Šil’derov zum Südamerikaner Dias von diesem selbst als positiv empfunden wird. Gerade dieser direkte Vergleich der Identitätswechsel in »Kanat« und »Dalëkij put’« ermöglicht es, anhand der Unterschiede zwischen ihnen die Gründe für die negative Einschätzung des Identitätswechsels in der erstgenannten Erzählung herauszuarbeiten. Erstens handelt es sich in »Dalëkij put’« um eine bewusste Entscheidung für die Annahme einer neuen Identität, in »Kanat« dagegen um eine unkontrollierbare psychische Erkrankung, angesichts derer der Betroffene es sogar vorziehen würde, an »самой ужасной из всевозможных болезней физического порядка – оспой, холерой, чумой […]«1202 zu erkranken. Zweitens ist zwischen einer hybriden, komplementären und einer substituierenden Variante des Identitätswechsels zu differenzieren. In der Erzählung »Dalëkij put’« verliert der aus Russland ausgewanderte Protagonist seine ursprüngliche Identität nicht, als er zum Andenbewohner wird, vielmehr gewinnt er eine zweite hinzu. Zwar geht die Aneignung des neuen Ich auch 1200 KA , 199, 201 u. 213. Dt.: »Krankheit« (KAd, 5, 6, 8 u. 23). 1201 KA , 198; Hervorhebungen im Original. Dt.: »schlimmen Tage[…] der entsetzlichen und betörenden [wörtl.: süßen] Phantasie, die mein Gehirn mit den grandiosen Bildern universeller menschlicher Größe in ihren Bann schlug« (KAd, 5; Hervorhebungen im Original). 1202 KA , 198; Hervorhebung von A. B. Dt.: »der schrecklichsten aller organischen Krankheiten […] – den Blattern, der Cholera, der Pest […]« (KAd, 5; Hervorhebung von A. B.).

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in diesem Text durchaus mit einer Entfremdung von seinem alten Ich einher, denn es tritt in den Hintergrund, jedoch bleibt es erhalten und gewinnt wieder die Oberhand, als der Protagonist den russischen diegetischen Erzähler in seiner Muttersprache sprechen hört.1203 In »Kanat« dagegen sind die beiden Identitäten, ähnlich wie in »Noč’ju i dnëm«, an unterschiedliche Bewusstseinszustände geknüpft, in diesem Fall Wahnsinn respektive geistige Klarheit. Aus diesem Grund bedeutet der Identitätswechsel im Fall von Foss / Amivelech – anstelle der Entstehung eines hybriden Ich wie bei Šil’derov-Dias1204 – den vollständigen Verlust des ursprünglichen Ich während der langen Phasen des Wahnsinns. Entscheidend ist hierbei, dass nicht allein die Annahme einer neuen Identität um den Preis der alten an sich den Schrecken der Geisteskrankheit ausmacht: Der Protagonist aus »Kanat« führt als Amivelech ein rundum (selbst)zufriedenes imaginäres Leben. Entscheidend ist das von Zeit zu Zeit aufflackernde Bewusstsein der verlorenen ursprünglichen, eigenen Identität und (objektiven) Realität während der kurzen, seltenen Phasen geistiger Klarheit. Diesen Zusammenhang führt der diegetische Erzähler rückblickend selbst an: »Такой-то вот дикой и ужасной болезнью, ужасной потому, что – перевернем понятия – у меня бывали приступы просветления, я был болен […]«.1205 Drittens kommt hinzu, dass das Zweite Ich des Protagonisten aus »Dalëkij put’« vollständig ausgebildet und klar definiert ist, während die Zweitidentität ›Amivelech‹ aus »Kanat« unbestimmt und sogar widersprüchlich bleibt, wie beispielsweise aus folgender Selbstbeschreibung – aus der figuralen Perspektive Amivelechs – hervorgeht: »[…] я – владыка, император неизвестной страны, пророк или страшный тиран«.1206 Angesichts der aus dieser defizi­ tären neuen Identität resultierenden ontologischen Unsicherheit wiegt der zweite genannte Aspekt, das temporäre Bewusstsein des Verlusts des ursprünglichen, vollständigen Selbst, umso schwerer. Aus diesen Parametern des Identitätswechsels von ›Foss‹ zu ›Amivelech‹ lässt sich ein, über den rein temporalen hinausgehender, kausaler Zusammenhang zwischen der intrasubjektiven radikalen Fremdheit des Protagonisten und der Doppelgängerbegegnung ableiten. Denn die somit erstrebenswerte 1203 Vgl. DP, 142. 1204 Der Bindestrich soll hier das additive Sowohl-Als-Auch der beiden Identitäten markieren, der Schrägstrich das disjunktive Entweder-Oder. 1205 KA , 199; Hervorhebungen im Original. Dt.: »Eine solche wilde und furchtbare Krankheit, furchtbar deshalb, weil sie – kehren wir die Begriffe um – von Anfällen klarer Ernüchterung durchwoben war, hatte ich […]« (KAd, 6; Hervorhebungen im Original). 1206 KA , 200; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »[…] Ich bin der Herrscher, Imperator eines unbekannten Landes, Prophet oder furchtbarer Tyrann.« (KAd, 8; Hervorhebungen von A. B.).

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Wiedererlangung des originalen Ich, einhergehend mit der Rückkehr in die Realität, kann dem Protagonisten – wie so häufig in Doppelgängertexten – nur durch eine Konfrontation, ein Duell mit dem Zweiten Ich gelingen. Genau das scheint jedoch durch die Koppelung der beiden Identitäten an unterschiedliche Bewusstseinszustände unmöglich zu sein, weil ›Foss‹ während der langen Phasen des Wahnsinns für ›Amivelech‹ – ebenso wie der Häuptling Banu-Skap für den Hauptmann Čerbel’ in »Noč’ju i dnëm« – nicht bewusst existiert und ihm somit auch nicht gegenübertreten kann. Einen Ausweg jenseits der physischen Vernichtung durch einen Dritten wie in »Noč’ju i dnëm« bietet die Projektion des inneren Konflikts zwischen Erstem und Zweitem Ich, also Foss und Amivelech, nach außen, auf Amivelech und den Seiltänzer Marč, zwischen denen sich somit ein Stellvertreterkampf abspielt. Ich-Verdoppelung durch Projektion der Ich-Spaltung nach außen Die Voraussetzung für diese Übertragung des Konflikts von innen nach außen ist, dass das Verhältnis zwischen Amivelech und Marč die Ich-Spaltung des Protagonisten widerspiegeln muss, also die Doppelgänger als identisch und zugleich antagonistisch identifiziert werden. Dies geschieht durch die Konstruktion einer Reihe von Parallelen und Oppositionen zwischen den beiden Doubles. Bereits im ersten Moment seiner Begegnung mit Marč formuliert der Erzähler, der in dieser Phase der Erzählung die figurale Perspektive Amivelechs einnimmt, die gleichzeitige Identität und Nichtidentität zwischen sich und dem anderen. Diese paradoxe Beziehung, die jedes Doppelgängerpaar charakterisiert, wird dabei durch das Motiv des Spiegels ausgedrückt bzw. verstärkt (für genauere Ausführungen zum Spiegel siehe Kap. 4.4.2.2). Die erste Begegnung findet in einem Café statt: Низенькое длинное помещение это было отмечено посредине узкой, прилегающей бордюром к стенам и потолку аркой. Я принял ее за зеркало благодаря странному совпадению. Столик, за которым я сидел лицом к арке, одинаковый с другими столиками, помещался геометрически точно против столика, стоявшего за аркой. У того столика, на равном моему расстоянии от бордюра, так же уперев руки в лицо, сидел второй я. Беглый взгляд, каким я обменялся с воображаемым благодаря всему этому зеркалом, вскоре отразил, надо думать, сильнейшее мое изумление, так как мое предполагаемое отражение встало. Тогда я заметил то, чего не замечал раньше: что этот неизвестный – чудовищно похожий на меня человек – одет различно со мной. Иллюзия зеркала исчезла.1207

1207 KA , 201. Dt.: »Der niedrige weitläufige Raum war in der Mitte durch einen bordürenähnlich an Wänden und Decke anliegenden Bogen betont. Ich hielt ihn wegen einer wunderlichen Kongruenz für einen Spiegel. Das Tischchen, an dem ich mit dem Gesicht zum Bogen saß, glich den anderen Tischchen und stand geometrisch genau dem Tischchen gegenüber, das hinter dem Bogen stand. An diesem saß ebensoweit entfernt

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Der Spiegel tritt also nicht nur in seiner häufig anzutreffenden Funktion als Medium der Täuschung auf, das dem Hineinblickenden ein verzerrtes oder gar gänzlich illusorisches Bild zeigt, sondern erweist sich sogar selbst als reine Illusion. Dementsprechend lässt sich auch der letzte Satz des Zitats in doppelter Weise lesen: Er referiert sowohl auf die hier vorliegende Illusion des Vorhandenseins eines Spiegels als auch auf die generell durch jeden Spiegel erzeugte Illusion einer realen Verdoppelung. Durch diese Koppelung des Auftritts des Doppelgängers mit dem Trugbild eines nicht vorhandenen Spiegels wird vom ersten Moment der Doppelgängererscheinung implizit auf ihren grundsätzlich irrealen, der Phantasie des Protagonisten entspringenden Charakter verwiesen. Die mit dem ersten Erscheinen des Doppelgängers vorgenommene Disqualifikation des Blicks und damit alles Äußerlichen, Sichtbaren, Offensichtlichen stützt die psychologische Lesart einer Projektion des eigentlich inneren Konflikts des Protagonisten nach außen. Amivelechs »второй я«,1208 das er selbst  – bzw. der Erzähler aus seiner figuralen Perspektive – so benennt, wird bereits durch sein Äußeres als nur scheinbar mit ihm identisch markiert, da sich Aussehen und Haltung gleichen, die Kleidung aber nicht. Dabei ist es nur scheinbar ein Paradox, dass gerade die übereinstimmenden Merkmale Amivelech sein Gegenüber gleich darauf als seinen Antagonisten, ja sogar als seinen Feind bestimmen lassen: »Я знал, кто это с моим взглядом и моими щеками. Это был он, князь мира сего, вечный и ненавистный враг.«1209 Der Grund hierfür ist ein doppelter: Mit der zweifachen Betonung der eigenen Merkmale (moi; dt.: meine) im Aussehen des anderen, der diese gleichsam gestohlen hat, identifiziert er den Fremden nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Ähnlichkeit vom ersten Moment an als Konkurrenten und Bedrohung für sich selbst und seine eigene Identität. Eine weniger deutlich erkennbare, doch ebenso wichtige Rolle für die negative Bewertung spielt das von Freud identifizierte Moment des Unheimlichen, das auf einer »Wiederkehr des Gleichen«1210 basiert – hier in Form der Verdoppelung des eigenen Aussehens –, und das sich wenig später in einer ebenso unheimlichen, unerklärlichen geistigen Verbindung der Doppelgänger fortsetzt: von der Bordüre wie ich, das Gesicht [ebenso] auf die Hände gestützt, mein zweites Ich. Ich tauschte einen flüchtigen Blick mit dem aller Umstände wegen imaginären Spiegelbild, geriet jedoch kurz darauf in größte Bestürzung, da das vermeintliche Spiegelbild sich erhob. Da erst bemerkte ich, was mir vorher nicht aufgefallen war: der unbekannte, mir verdammt ähnlich sehende Mensch war anders gekleidet als ich. Die Illusion eines Spiegels verschwand.« (KAd, 9). 1208 KA , 201. Dt.: »zweites Ich« (KAd, 9). 1209 KA , 202; Hervorhebung im Original. Dt.: »Ich wußte, wer der mit meinem Blick und meinen Wangen war. Er war es, der Fürst dieser Welt, mein ewiger Todfeind.« (KAd, 9; Hervorhebung von A. B.). 1210 Freud: Das Unheimliche, 62.

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»Мы молча смотрели друг на друга. Нас соединял жуткий ток взаимного понимания.«1211 Darüber hinaus erfolgt in einer Reihe von Textstellen die Konstruktion Amivelechs und Marčs als quasi-identische Antagonisten in impliziter Form. Dies geschieht unter anderem durch die Assoziation sowohl Amivelechs (aus der narratorialen Perspektive des jetzigen, geheilten Foss) als auch Marčs (aus der figuralen Perspektive Amivelechs) – die Projektion von innen nach außen abbildend – mit dem Element des Dämonischen bzw. Teuflischen. In der bereits zitierten Beschreibung Marčs bedient sich der Erzähler, die Sichtweise Amivelechs einnehmend, zunächst einer Umschreibung aus dem Johannes­ evangelium,1212 wenn er feststellt: »Это был он, князь мира сего«.1213 Kurz darauf wird er deutlicher: Die Information, dass Marč Seiltänzer ist, kommentiert er ironisch: »Дьявол на земле должен иметь профессию!«,1214 und resümiert später: »вспомнил о нем, как о дьяволе«.1215 Eine Variante hierzu findet sich in der Beschreibung Marčs als »демон[…]«,1216 sowie als »Двуличны[й]«1217 – eine Bezeichnung, die, ohne die Assoziation mit dem Teufel gelesen, auch auf den Protagonisten selbst zutrifft, der mit Amivelech sein zweites Gesicht zeigt und somit auch auf diese Weise mit Marč verbunden wird. Bereits zuvor spricht der Erzähler aus der narratorialen Perspektive des Geheilten bei der rückblickenden Beschreibung seines damaligen Geistes­zustands von einem »демон[…] Черного Величия«,1218 der ihm jede Fähigkeit zur Selbstreflexion bzw. Introspektion (»способность к самонаблюдению«)1219 genommen habe  – und damit auch das Bewusstsein seines ursprünglichen Ich. Obwohl hierbei auf den ersten Blick die Rede von seinem Größenwahn zu sein scheint, kann die auch im russischen Original durch Großschreibung markierte Bezeichnung ›Schwarze Majestät‹ ebenso gut als Titel für dessen Produkt und Personifikation Amivelech verstanden werden. Ebenso doppeldeutig referiert die Aussage »Демон овладевал мною […]«1220 nicht nur auf 1211 KA , 205; Hervorhebung von A. B. Dt.: »Wir sahen uns eine Zeitlang schweigend an. Uns verband der unheimliche Strom gegenseitigen Versehens.« (KAd, 13; Hervorhebung von A. B.). 1212 Vgl. Joh 12:31, 14:30 u. 16:11; Das Neue Testament. 1213 KA , 202. Dt.: »Er war es, der Fürst dieser Welt« (KAd, 9). 1214 KA , 203. Dt.: »Der Teufel muß ja auf Erden einen Beruf haben!« (KAd, 11). 1215 KA , 205. Dt.: »Er erschien in meinem Geist als ein Teufel« (KAd, 14). 1216 KA , 206. Dt.: »Dämon« (KAd, 14). 1217 KA , 202. Dt.: »Zweigesichtige[r]« (KAd, 10). 1218 KA , 200. Dt.: »Dämon Ihrer Schwarzen Erhabenheit« (KAd, 7). 1219 KA , 200. Dt.: »Fähigkeit zur Selbstbeobachtung« (KAd, 7). 1220 KA , 200. Dt.: »Der Dämon bemächtigte sich meiner […]« (KAd, 7). Schmid weist in ihrer Studie zu literarischen Doppelgängern auf den traditionell ambivalenten Charakter des Dämons hin, der sowohl gut als auch schlecht sein kann (vgl. Schmid: The Fear of the Other, 52). Selbiges gilt, wie oben bereits angemerkt, auch für die ›schreckliche und süße Phantasie‹, die die Urheberin des hier vorliegenden Dämons ist.

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die Macht der Geisteskrankheit über die Identität des Betroffenen, sondern stellt über das Verb ovladevat’ (dt.: sich bemächtigen, beherrschen) auch eine Verbindung zu Amivelech als allmächtigem Herrscher her. Darüber hinaus verweist bereits die Etymologie des Begriffs ›Dämon‹ – abgeleitet von griechisch δαΐζειν (dt.: zerteilen, Passiv im übertragenen Sinne: im Herzen in zwei Teile geteilt sein) –1221 auf die Ich-Spaltung des Protagonisten und somit auch auf deren Ausdruck in Gestalt von Amivelech. Die schon in Verbindung mit dem »демон[…] Черного Величия«,1222 hier in Bezug auf Amivelech, aufgetretene Farbe Schwarz erfüllt eine analoge Funktion der Gleichsetzung von Amivelech und Marč. Eine Verknüpfung Marčs mit dem Teuflischen und der Farbe Schwarz findet sich in der Beschreibung von dessen Äußerem, wenn der Erzähler aus der Perspektive Amivelechs über seine Augen sagt: »[…] казалось, их черный блеск блистал рыжим огнем ада.«1223 Genau diese Augen jedoch hat Amivelech mit Marč gemein: »›Готово!‹  – воскликнул он, подняв с выражением необычайного изумления свои, такие же, как мои, черные глаза«.1224 Allerdings grenzt sich Amivelech, ebenfalls mithilfe der Farbmotivik, dezidiert von seinem Doppelgänger ab, wenn der Erzähler aus seiner Perspektive die Herausforderung Marčs, den Rollentausch zu vollziehen, folgendermaßen umschreibt: »Он становился железною пятой своего черного духа на белое крыло моего призвания […]«.1225 Die bereits zuvor hergestellte Assoziation der Farbe Schwarz mit dem Teufel wird hier um die analoge Verknüpfung der Farbe Weiß mit einem Engel, symbolisiert durch den Flügel, ergänzt und mit ihr kontrastiert. Diese zweifache, extreme Opposition ist jedoch – ebenso wie die zunächst angenommene vollständige Identität beim ersten Anblick im ›Spiegel‹ des Cafés – nur eine vermeintliche. Denn bei der Figur des Teufels (Satan) handelt es sich um einen aus dem Himmel verstoßenen, gefallenen Engel.1226 Auch diese Metapher verstärkt also die Konstruktion von Marč und Amivelech als einerseits antagonistische, zugleich aber (zumindest partiell) identische Personen – mit anderen Worten also als Doppelgänger im psychologischen Sinne, von denen einer den anderen in einem Duell um die Position 1221 Vgl. Gemoll, W./Vretska, K.: Gemoll. Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage. Wien 2006, 190. 1222 KA , 200. »Dämon Ihrer Schwarzen Erhabenheit« (KAd, 7). 1223 KA , 202. Dt.: »[…] es schien, als leuchtete ihr schwarzer Glanz in rotem Höllenfeuer.« (KAd, 10). 1224 KA , 204. Dt.: »›Schon gemacht!‹ rief er aus, und mit dem Ausdruck außerordentlicher Verwunderung hob er seine Augen, die schwarz waren wie meine, zur Decke auf.« (KAd, 12). 1225 KA , 204; Hervorhebung im Original. Dt.: »Er setzte die eherne Ferse seines schwarzen Geistes auf die weißen Schwingen meiner Berufung […]« (KAd, 13; Hervorhebung im Original). 1226 Vgl. Lk 10:18; Offb 12:3–9; Das Neue Testament.

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des ›Ersten‹, ›wahren‹ Ich vernichten muss. Diese Lesart wird auch durch den hebräischen Namen des Teufels, ‫( שטן‬dt.: Satan), der sich als ›Widersacher‹, oder ›Gegner‹ übersetzen lässt, gestützt. Aus Amivelechs Perspektive sprechend, formuliert der Erzähler diesen Sachverhalt selbst explizit: »Я знал, что уничтожу черного двойника.«1227 Die folgende Konfrontation zwischen den beiden Doppelgängern geht somit keineswegs nur von Marč aus, der aus finanziellem Interesse Amivelech vernichten will, sondern ebenso sehr von Foss, der sich in einer Situation extremer intrasubjektiver radikaler Fremdheit befindet, in der der endgültige Verlust seines eigentlichen Ich droht. Die aufgezeigte identisch-antagonistische Beziehung zwischen Amivelech und Marč, die das Verhältnis zwischen Foss und Amivelech widerspiegelt, legt eine Deutung des Duells zwischen Amivelech und Marč als in die Außenwelt projizierter Stellvertreterkampf des inneren Identitätskonflikts zwischen Erstem und Zweitem Ich nahe, der auf diese Weise trotz der unterschiedlichen Bewusstseinsebenen von Foss und Amivelech ausgetragen werden kann. Darauf weist auch die Art des Duells hin: Der Gang über das Seil steht metaphorisch für den labilen Zustand zwischen zwei Identitäten. Katharsis im Stellvertreterkampf: das Ende der labilen Balance der zwei Identitäten Dass es am Anfang der Szene der größenwahnsinnige Amivelech ist, der auf das Seil hinaufsteigt, und nicht der andere Teil des Ich des Protagonisten, der geistig klare Foss, wird unmissverständlich in den Beschreibungen der Situation deutlich, bei der der diegetische Erzähler die figurale Perspektive des Erstgenannten einnimmt. Denn er betont dabei noch einmal seine Unsterblichkeit, seine Macht über die Materie1228 und daraus resultierend die Mühelosigkeit, mit der er über das Seil läuft1229 und verrät außerdem seinen Plan, vom Seil aus durch die Luft zum Boden hinabzusteigen.1230 Zudem berichtet er von dem begeisterten Empfang durch die Menschenmenge1231 und davon, wie er, bevor er auf den Platz hinaustritt, über den das Seil gespannt ist, »взглянул в зеркало и подбоченился«.1232 Genau diese beiden Situationen finden sich in der einleitenden Passage über den Größenwahn wieder, in der der Erzähler 1227 KA , 205. Dt.: »Ich wußte, daß ich den schwarzen Doppelgänger vernichten würde.« (KAd, 13). 1228 Vgl. KA , 206. 1229 Vgl. KA , 208. 1230 Vgl. KA , 208. Der Held aus Grins Roman »Blistajuščij mir«, der tatsächlich die Fähigkeit zu fliegen besitzt, trägt, wie Foss, den Vornamen Veniamin (in seiner Zweitidentität Veniamin Kruks) (vgl. BM , 146). 1231 Vgl. KA , 206 u. 208. 1232 KA , 206. Dt.: »in den Spiegel [schaute] und […] die Brust heraus[drückte]« (KAd, 15).

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(ebenfalls aus der figuralen Sicht Amivelechs) seine Begeisterung und Ent­ zücken hervorrufende Wirkung auf andere Menschen hervorhebt1233 und (aus narratorialer Perspektive) ein für Amivelech typisches Verhalten beschreibt: »Я как бы вижу себя перед зеркалом в вычурно горделивой позе«.1234 An der fortwährenden Dominanz des größenwahnsinnigen Amivelech über den ins Unterbewusstsein verdrängten Foss scheint sich also bis zu diesem Punkt in der Erzählung nichts geändert zu haben. Dennoch findet sich gerade in der erstgenannten Situation mit dem Spiegel ein impliziter Hinweis darauf, dass die Frage nach dem ›wahren‹ Ich auf dem Seil gleich ein weiteres Mal verhandelt wird: Da auf den ersten Blick in den (vermeintlichen) Spiegel im Café die Begegnung und Auseinandersetzung Amivelechs mit dem Doppelgänger Marč folgt, kündigt der zweite Blick in den Spiegel indirekt die Konfrontation Amivelechs mit Foss an. Das allmähliche Erstarken Foss’ wird implizit daran deutlich, dass die Wahrnehmung der Situation aus der Sicht Amivelechs mehrfach durch ein Hereinbrechen der Perspektive Foss’ gestört wird. Schon beim Erklimmen der Leiter, die hinauf zum Seil führt, fühlt der Protagonist, wie er durch eine merkwürdige Spannung mit dem Publikum unter ihm verbunden ist, dank der er – ganz allmächtiger Größenwahnsinniger – ihre Gedanken lesen kann. Im selben Moment meldet sich jedoch zum ersten Mal der gesunde Teil seines Ich zu Wort: Я был патентованным сумасшедшим, но не настолько, чтобы в этом исключительном положении не отмечать некоторою, таившеюся захирело и глухо, здоровою частью души своеобразного действия, производимого всплывающим извне массовым тоном уверенности.1235

Bereits hier liegt eine Verknüpfung der Wirkung der Menschenmenge mit der verdrängten Identität, d. h. mit Foss, vor. Diese Verbindung wird verstärkt durch die, im Zusammenhang mit der Beschreibung der gleichsam telepathisch empfangenen Gedanken des Publikums angeführte, Beobachtung, »[…] что мы осуждены читать в собственной душе между строк на невероятно фантастическом диалекте.«1236 Das Dechiffrieren der Gedanken der Menschenmenge entspricht also dem Entschlüsseln der eigenen Seele. Dies ist als 1233 Vgl. KA , 200. 1234 KA , 200. Dt.: »Ich sehe mich förmlich vor dem Spiegel stehen in geziert stolzer Pose« (KAd, 7). 1235 KA , 207; Hervorhebung im Original. Dt.: »Ich war ein patentierter Wahnsinniger, aber nicht so verrückt, daß ich in dieser außerordentlichen Lage mit einem verkümmerten und im Dunkeln verborgenen gesunden Teil der Seele nicht diese eigenartige Wirkung bemerkt hätte, die durch eine von außen her einwirkende Massensprache der Überzeugung erzeugt wird.« (KAd, 16; Hervorhebung im Original). 1236 KA , 207. Dt.: »[…] daß wir dazu verurteilt sind, in der eigenen Seele in einem unglaublich phantastischen Dialekt zwischen den Zeilen zu lesen.« (KAd, 16).

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deutlicher Hinweis darauf zu lesen, dass das Duell zwischen Amivelech und Marč eigentlich eines zwischen Amivelech und Foss ist, vor allem in Anbetracht der weiteren Entwicklung der Handlung. Ein zusätzliches Indiz stellt der Vergleich des Erzählers dar, mit dem er sein Gefühl im Moment der ersten Regung des gesunden Teils des Ich beschreibt: Der Leser solle sich einen Gefesselten vorstellen, dessen Fesseln auf unbestimmte Zeit angelegt wurden und sich auf einmal lösen.1237 Auch diese Aussage kann auf Foss bezogen und damit als Hinweis auf dessen ›Befreiung‹ aus dem Unterbewusstsein gelesen werden. Noch aber ist der Protagonist in der Rolle des Amivelech und kann als dieser, in der festen Überzeugung seiner Macht über die Materie, ohne die geringste Schwierigkeit über das Seil laufen, da für ihn die Regeln der gewöhnlichen Menschen keine Gültigkeit besitzen: Нормально я должен был оцепенеть, потерять самообладание, зашататься, с отчаянием полететь вниз, не попытавшись, быть может, даже ухватиться за проволоку. Вне нормы я оказался  – необъяснимо и, главное, самоуверенно  – стойким, без тени головокружения и тревоги.1238

Dann jedoch verändert sich der von der Menschenmenge – und damit implizit von Foss  – ausgehende Strom der Gedanken, der Amivelech nun die Botschaft zuträgt, dass sein bloßes Gehen über das Seil, ohne akrobatische Einlagen, nicht spektakulär genug sei.1239 Diese Störung, die ja gerade eine der zuvor als Merkmale von Amivelechs Größe definierten Eigenschaften betrifft, nämlich die Fähigkeit, Begeisterung bei anderen Menschen auszulösen, irritiert den Protagonisten so sehr, dass er zumindest teilweise aus Amivelechs Weltwahrnehmung herausgerissen wird. Er bemerkt plötzlich die Banalität seiner Umgebung, den »[п]реглупый вид«1240 der Dächer, auf deren Höhe er sich befindet (ein Detail, das später, als der Protagonist endgültig aus seinem Größenwahn erwacht, wieder aufgenommen wird), und einen kläffenden kleinen Hund unten auf dem Platz. Das Hündchen, eigentlich ein völlig unbedeutendes Element der Amivelech umgebenden Szenerie, provoziert gerade dadurch, also durch seinen Kontrast zur Größe und Erhabenheit Amivelechs, die Notwendigkeit einer Versicherung der eigenen Identität, da sie durch es weiter ins Wanken gerät: »У меня тоже был фоксик, я о нем вспомнил

1237 Vgl. KA , 208. 1238 KA , 209; Hervorhebung im Original. Dt.: »Im Normalfall hätte ich erstarren, die Selbstbeherrschung verlieren, schwanken, voller Verzweiflung abstürzen müssen, vielleicht gar, ohne versucht zu haben, mich am Draht festzuhalten. Außerhalb des Normalen erwies ich mich als – unerklärlich und vor allem selbstbewußt – stabil, ohne eine Spur von Schwindelgefühl und Unruhe.« (KAd, 18; Hervorhebungen im Original). 1239 Vgl. KA , 210. 1240 KA , 210. Dt.: »idiotisch[e] [A]us[sehen]« (KAd, 20).

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теперь и удивился. Зачем, собственно, фоксик Амивелеху? Я – кто же такой? Я – Амивелех, да…«.1241 Als der Gedankenstrom des Publikums kurz darauf auch wieder positive Botschaften enthält, korrespondiert die dadurch erzeugte Gegensätzlichkeit der Äußerungen im »хор[…] своей души«1242 mit der psychischen Verwirrung des Protagonisten in Bezug auf das eigene Ich und verstärkt diese, da sie, wie zuvor, auch auf den Identitätskonflikt bezogen werden kann: Einen weiteren Hinweis auf die Verknüpfung des Publikums mit Foss liefert die Tatsache, dass der widersprüchliche Gedankenstrom Amivelechs zuvor mühelosen Gang über das Seil stört –1243 was bedeutet, dass Foss, der als gewöhnlicher Mensch nicht die Fähigkeit besitzt, über ein Hochseil zu gehen, im inneren Duell der Identitäten allmählich die Oberhand gewinnt. Noch ein letztes Mal gelingt es Amivelech allerdings, zur Überzeugung seiner Allmacht zurückzukehren, wenn er angesichts dieser Irritationen beschließt, nun tatsächlich durch die Luft hinabzusteigen, um seinen Triumph über Marč zu besiegeln.1244 Doch erneut kommt es zu einer Störung durch ein »банальное приключение«,1245 diesmal in Gestalt eines Diebs, der unten auf dem Platz gefasst wird – eine weitere Anspielung auf den Konflikt zwischen Foss und Amivelech, in dem Letzterer von Ersterem die Macht über das Ich gestohlen hat. Dies löst, ähnlich wie das Hündchen, eine Reihe vollkommen irdischer, alltäglicher Assoziationen bei dem Protagonisten aus, welche »разодралась с великими тайнами Амивелеха, прозаически погасила их […]«.1246 Damit kehrt der Protagonist in die Realität, und damit auch zu seinem eigentlichen Ich, zurück: »Видения, жалостно побледнев, взвились подобно волшебному пейзажу театрального занавеса, и за ними сам себе предстал я  – лунатик, разбуженный на карнизе крыши, я  – чиновник торговой палаты Вениамин Фосс […]«.1247 Die Ablösung des größenwahnsinnigen, allmächtigen Amivelech durch den kleinen Beamten Foss wird dabei verstärkt, indem sowohl der Satzbau als auch die zweifache Wiederholung des ja (dt.: ich) aus der vorangegangenen Versicherung der eigenen Identität 1241 KA , 210. Dt.: »Ich hatte auch einen kleinen Foxterrier, ich erinnerte mich jetzt an ihn und staunte. Wozu hat ein Amiwelech einen Foxterrier nötig? Wer bin ich eigentlich? Ich bin – Amiwelech, ja…« (KAd, 20). 1242 KA , 210. Dt.: »Chor [s]einer Seele« (KAd, 20). 1243 Vgl. KA , 210. 1244 Vgl. KA , 211. 1245 KA , 211. Dt.: »banale[s] Ereignis« (KAd, 21). 1246 KA , 211. Dt.: »in Streit mit den großen Geheimnissen des Amiwelech [gerieten], […] sie prosaisch aus[löschten]« (KAd, 21). 1247 KA , 211. Dt.: »Die Phantasiebilder verblaßten gnadenlos, rollten sich wie die zauberhaften Landschaften auf Theatervorhängen ein, und hinter ihnen begegnete ich mir selbst – einem Mondsüchtigen, der auf einem Dachsims geweckt wurde, ich – der Beamter der Handelskammer, Weniamin Voss […]« (KAd, 21).

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(»Я – кто же такой? Я – Амивелех, да…«)1248 erneut aufgenommen, deren Inhalt aber zugleich verändert wird. Mit dem Zurückdrängen Amivelechs durch Foss verliert der Protagonist auch die Fähigkeit, sich mühelos über das Seil zu bewegen. Als er »с головокружением и отчаянием«1249 auf dem Seil steht, weist er damit genau diejenigen Merkmale auf, die er zuvor, wie oben erwähnt, als Amivelech angeführt hatte, um seine Position außerhalb der Norm zu bekräftigen: Normalerweise müsse er »с отчаянием«1250 vom Seil stürzen, doch er sei »без тени головокружения«.1251 Er ist also in diesem Moment bereits fast vollständig wieder zu dem gewöhnlichen Menschen Foss geworden, aber eben nur fast, denn noch steht er auf dem Seil und liest die Gedanken des Publikums, weist also noch Eigenschaften des allmächtigen Amivelech auf. Dieser Gedankenstrom, der das gesamte Duell zwischen Foss und Amivelech begleitet bzw. abgebildet hat, übermittelt dem Protagonisten nun den abschließenden Wunsch, er solle vom Seil fallen, woraufhin er prompt das Gleichgewicht verliert.1252 Aufgrund der oben erwähnten Verknüpfung der Gedanken der Menschenmenge mit den Regungen der eigenen Seele ist dies letztlich so zu lesen, dass indirekt Foss seinen Widersacher Amivelech vom Seil stürzt. Darauf, dass der Protagonist in diesem Augenblick aber eben noch nicht vollständig Foss ist, weist auch die Tatsache hin, dass Amivelech in derselben Passage wie der soeben zitierten als weitere Eigenschaft einer normalen Person auf dem Seil nennt, dass sie hinunterfalle, »не попытавшись, быть может, даже ухватиться за проволоку«;1253 als der Protagonist aber das Gleichgewicht verliert, tut er genau das: »ухватился руками за канат«.1254 Der Augenblick der größten physischen Labilität auf dem Seil, Sekunden vor dem Absturz, ist damit auch der Moment der größten psychischen Labilität zwischen den zwei Identitäten, bevor das Ich des Protagonisten endgültig in Richtung Foss kippt und Amivelech mit dem Sturz in die Tiefe, den der Prota­ gonist nur dank eines von Helfern gespannten Netzes überlebt, verschwindet: »болезн[ь] […] навсегда остави[ла] меня после каната. Я не испытывал даже легчайших приступов. Идея величия безвозвратно померкла.«1255 1248 KA , 210. Dt.: »Wer bin ich eigentlich? Ich bin – Amiwelech, ja…« (KAd, 20). 1249 KA , 211. Dt.: »mit Schwindelgefühl und voller Verzweiflung« (KAd, 21). 1250 KA , 209. Dt.: »voller Verzweiflung« (KAd, 18). 1251 KA , 209. Dt.: »ohne eine Spur von Schwindelgefühl« (KAd, 18). 1252 Vgl. KA , 212. 1253 KA , 209. Dt.: »vielleicht gar, ohne versucht zu haben, mich am Draht festzuhalten« (KAd, 18). 1254 KA , 212. Dt.: »[fasste] das Seil mit den Händen« (KAd, 22). 1255 KA , 213. Dt.: »meine[…] Krankheit […], von der ich nach dem Seil endgültig geheilt war. Ich litt nicht einmal mehr an den leichtesten Anfällen. Die Idee von der Größe schwand unwiederbringlich dahin.« (KAd, 23).

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Das Stellvertreterduell zwischen Amivelech und Marč, das in doppeltem Sinne mit dem Fall des Größenwahnsinnigen endet, erfüllt somit eine kathartische Funktion für den Protagonisten, der auf diese Weise sein eigenes, Erstes Ich zurückgewinnt. Am Ende der Erzählung findet sich ein letzter Hinweis darauf, dass die äußere Doppelgängerkonstellation aus der Projektion des inneren Identitätskonflikts resultiert, der anderweitig nicht gelöst werden kann. Der diegetische Erzähler bekennt rückblickend (aus narratorialer Perspektive)  in Bezug auf Marč nicht nur: »Я с благодарностью вспоминаю этого человека«,1256 sondern merkt  – im letzten Satz der Erzählung und somit an hervorgehobener Position  – auch noch an: »В нем нет ничего дьявольского.«1257 Damit wird die Doppelgängersituation implizit als unterbewusste, d. h. von dem verdrängten Ersten Ich ausgehende, Konstruktion des Protagonisten selbst aufgelöst. Besonderheit der Erzählperspektive Wie bereits in den vorangegangenen Ausführungen deutlich wurde, gestaltet Grin das komplexe Verhältnis zwischen der Figur Foss und seinem größenwahnsinnigen Alter Ego Amivelech nicht allein über die inhaltlichen Informationen, die er seinen Erzähler direkt vermitteln lässt, sondern auch wesentlich durch die Erzählsituation sowie die Sprache. Eine entscheidende Besonderheit hinsichtlich der Narration ergibt sich, wie oben angesprochen, daraus, dass »Kanat« von Grin als Rückblick des die­getischen Erzählers Foss auf dessen Identitätskrise und Doppelgängerbegegnung zwei Jahre zuvor gestaltet wird. Dadurch sind nicht nur zwei der handelnden Personen der Erzählung, die Figur des geisteskranken Foss und dessen Zweitidentität Amivelech, sondern auch die Instanz des Erzählers, der geheilte Foss, identisch – d. h. ein und dieselbe physische Person –, zugleich aber psychisch nichtidentisch. Aufgrund der diegetischen Erzählperspektive werden alle drei ›Varianten‹ des Protagonisten mit dem Personalpronomen ja bezeichnet. Die Wechsel der Erzählperspektive (von der narratorialen zu einer der beiden figuralen und umgekehrt), die zwar derselben Person, aber gleichsam drei unterschiedlichen Persönlichkeiten zuzuordnen sind, übertragen die komplexe Struktur des Ich des Protagonisten auf die narrative Ebene. So bezieht sich das ja im folgenden Beispiel im ersten Satz auf das größenwahnsinnige Alter Ego des Protagonisten Amivelech, im zweiten Satz hingegen auf den auf die Geschehnisse zurückblickenden Erzähler, ohne dass dies markiert wird:

1256 KA , 213. Dt.: »Mit Dankbarkeit erinnere ich mich an diesen Menschen.« (KAd, 24). 1257 KA , 213. Dt.: »Er hat nichts Teuflisches an sich.« (KAd, 24).

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Я мог, в том же или ином любом темпе, совершить лестничное путешествие на луну, дыша по окончании его ни чаще, ни медленнее. Только исключительной остротой безумия могу я объяснить такое состояние и то, что произошло дальше.1258

Dies weist auf die Untrennbarkeit des einen Ich vom anderen Ich, trotz der großen Unterschiede zwischen ihnen, hin: Auch der (ent)fremde(te) Teil des Ich gehört zum Ich, selbst wenn er von diesem abgespalten wird. Darüber hinaus wird auch die Handlung der Erzählung – die Geschichte der Erkrankung, Krankheit und Gesundung des Protagonisten – auf der narrativen Ebene abgebildet. Die Darstellung der Selbstentfremdung und Wiedererlangung der Identität spiegelt sich in der vom Erzähler eingenommenen Perspektive wider, d. h. in der jeweiligen Referenz des ja in den verschiedenen Abschnitten der Erzählung. Das erste Kapitel sowie das Ende des letzten, fünften Kapitels bilden einen Rahmen um die Binnenerzählung über die Doppelgängerbegegnung, in dem die Ereignisse eingeführt und rückblickend eingeordnet werden. Die am Anfang und am Ende vorliegende narratoriale Erzählperspektive entspricht dem Zustand des Protagonisten vor und nach der Erkrankung, da der Erzähler die geistig gesunde, zur Selbstreflexion fähige ›Variante‹ des Protagonisten repräsentiert. In den übrigen Teilen der Erzählung nimmt der Erzähler überwiegend, nur gelegentlich unterbrochen von kurzen narratorialen Passagen, eine figurale Perspektive ein, die sich – ebenfalls analog zur Persönlichkeit des Protagonisten – verändert. Während sie im zweiten Kapitel noch auf den kranken Foss bezogen ist, der die Veränderungen seines Wesens anfangs noch selbst bemerkt und reflektiert,1259 wird sie bald fast vollständig durch die Perspektive Amivelechs abgelöst. Dies spiegelt die fortschreitende Verdrängung des Ersten Ich (Foss) ins Unterbewusstsein durch das zunehmend dominante Zweite Ich (Amivelech) wider. Erst am Ende, als Foss schrittweise immer mehr Macht über den auf dem Seil stehenden Amivelech gewinnt, nimmt der Erzähler auch seine Perspektive wieder ein. Die hochkomplexe narrative Struktur spiegelt also durch die oftmals unmarkierten Wechsel der Perspektive auf das Geschehen den Inhalt des Sujets wider. Zusätzlich stellt diese implizite Darstellung der Zusammenhänge den Leser vor eine ähnliche Aufgabe ihrer Dechiffrierung wie diejenige, der sich der Protagonist  – von sich selbst entfremdet, mit den Bruchstücken seiner Identität konfrontiert, zwischen Wahnsinn und klarem Verstand oszillierend – gegenübersieht. 1258 KA , 207. Dt.: »Ich hätte im gleichen oder ähnlichen Tempo eine Leiter bis zum Mond hinaufklettern können, ohne danach schneller oder langsamer zu atmen. Ich kann mir diesen Zustand und die späteren Ereignisse nur mit der außergewöhnlichen Heftigkeit des Wahnsinns erklären.« (KAd, 15). 1259 Vgl. KA , 200.

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Hinzu kommt eine weitere enge Verknüpfung zwischen Inhalt und Narration: Der lange Kampf gegen den inneren Dämon Amivelech, dessen Ende mit seinem Sturz vom Seil eingeläutet wird, wird erst mit dem Prozess des Erzählens bzw. Aufschreibens der Ereignisse endgültig abgeschlossen. Die intrasubjektive radikale Fremdheit des Protagonisten bildet somit nicht nur den Kern der (Binnen-)Erzählung, sondern stellt überhaupt erst den Auslöser für den Akt des Erzählens an sich dar. Der diegetische Erzähler erklärt selbst am Anfang seines Berichts: »[…] необходимо мне рассказать потому, что в процессе писания я […] ставлю между ним и собой то решительное расстояние зрителя«.1260 Hier erfolgt eine explizite Abgrenzung eines ›Er‹ von einem ›Ich‹ (»между ним и собой«),1261 wobei Letzteres als das von seiner Krankheit genesene Erzähler-Ich Foss, d. h. sein ›wahres‹ Ich zu lesen ist, Ersteres dagegen als die Personifikation dieser selbstentfremdenden Krankheit, Amivelech. Aber nicht nur zwischen Ich und Anderem Ich (Alter Ego) stellt der Erzähler eine Distanz her, sondern auch zwischen seinem früheren, kranken (und damit ebenfalls fremden) Ich und seinem jetzigen, gesunden: »Теперь […] я опишу события на фоне припадка болезни, временами взглядывая на себя со стороны. Это необходимо.«1262 Dabei weist der Erzähler erneut auf den Zusammenhang zwischen dem Akt des Beschreibens und der Gewinnung eines Abstands zu sich selbst durch den Blick von außen bzw. durch die oben genannte ›entscheidende Distanz des Zuschauers‹ hin und bezeichnet den Vorgang, wie schon in der ersten Textstelle, als »необходимо«.1263 Diese Distanz kommt zum einen durch eine explizite Abgrenzung von seinem damaligen Ich zum Ausdruck, z. B. »Я никогда не мог впоследствии, не могу и теперь восстановить то крайне медлительное наплывание возбужденного самочувствия, в котором постепенно, но ярко меняется оценка впечатления, производимого собой на других.«1264 oder: »Я не могу точно рассказать всего.«1265 Zum anderen wird auch implizit eine Distanz durch das Medium der Komik geschaffen, die vor allem durch stilistische Kontraste erzeugt wird. Indem die Geschichte seines Größenwahns von dem nunmehr geheilten diegetischen Erzähler rückblickend geschildert wird, ergibt sich durch das Nebeneinander der nüchternen Sprache des Berichts mit den 1260 KA , 200. Dt.: »ich [muss] deshalb erzählen, weil ich im Prozeß des Schreibens […] zwischen mir und ihm jene entscheidende Distanz eines Zuschauers schaffe« (KAd, 7). 1261 KA , 200. Dt.: »zwischen mir und ihm« (KAd, 7). 1262 KA , 201. Dt.: »Nun […] werde ich die Ereignisse vor dem Hintergrund der Krankheitseindrücke beschreiben und mich von Zeit zu Zeit aus der Distanz betrachten. Das ist notwendig.« (KAd, 8). 1263 KA , 201. Dt.: »notwendig« (KAd, 8). 1264 KA , 199. Dt.: »In der Folgezeit und selbst heute kann ich jenes äußerst langsame Anwachsen des aufgestachelten Selbstgefühls noch nicht nachvollziehen, bei dem sich die Einschätzung des eignen Eindrucks auf andere stetig und sehr rasch ändert.« (KAd, 6). 1265 KA , 200. Dt.: »Ich kann das alles nicht genau nacherzählen.« (KAd, 7).

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wiedergegebenen Gedanken des Verrückten oftmals eine starke unterschwellige Komik. Besonders deutlich wird dies an den Stellen, an denen der Erzähler die Perspektive ohne explizite Markierung wechselt, was im folgenden Beispiel durch die anaphorischen Satzanfänge, ausgerechnet mit dem zentralen Personalpronomen ja (dt.: ich), noch zusätzlich verstärkt wird. Я родился в Сирии три тысячи лет тому назад; я бессмертен и всеобъемлющ; не умирал и не умру; мое имя  – Амивелех; мое откровение  – благостное злодейство; я обладаю способностью превращений и летаю, если того требуют обстоятельства. Я захотел есть и вошел в кафе.1266

Damit wiederholt der Erzähler genau den Mechanismus, dessen er sich bereits als (erkrankter) Protagonist bedient hat, nämlich den der Herstellung einer Distanz zu sich selbst. In der Binnenerzählung geschieht dies durch die Projektion des inneren Konflikts nach außen, in der Rahmenerzählung durch die Einnahme der distanzierten Position eines äußeren Beobachters. Auch in dieser Hinsicht spiegelt die narrative Ebene der Erzählung also die inhaltliche wider. Ein weiterer Text Grins, der das Thema der psychologisch bedingten Doppelgängerbegegnung auf noch komplexere Weise als in »Kanat« erforscht, wird im Folgenden analysiert. 4.4.2.2 Nicht Herr in seinem eigenen Haus: »Rasskaz Birka«

Das Motiv des Doppelgängers hält mit der Erzählung »Rasskaz Birka« bereits 1910 Einzug in Grins Werk.1267 So intensiv wie kein anderer seiner Texte setzt sie sich – teils explizit, vielfach aber auch implizit – mit den Ursachen und Folgen einer Ich-Verdoppelung des Protagonisten auseinander. Die hier vorgenommene Analyse folgt in ihrer Struktur weitgehend der chronologischen Entwicklung der Handlung, um die Vorbereitung der Doppelgängervision, die auf verschiedenen Ebenen erfolgt, nachzuzeichnen, wobei aber durch Querverweise den zahlreichen Verwebungen der einzelnen Textschichten und -elemente Rechnung getragen wird. 1266 KA , 201. Dt.: »Ich wurde vor dreitausend Jahren in Syrien geboren; ich bin unsterblich und allumfassend; ich bin nie gestorben und werde niemals sterben; mein Name ist Amiwelech; meine Offenbarung – ein wohlgefälliges Verbrechen; ich besitze die Fähigkeit der Verwandlungen und kann schweben, wenn die Umstände es erforderlich machen. Ich verspürte Hunger und ging in ein Café.« (KAd, 8 f.). 1267 Die Erzählung wird erstmals 1910 unter dem Titel »Rasskaz Birka o svoëm priključenii« (dt.: »Birks Erzählung von seinem Abenteuer«) in der Zeitschrift »Mir« (dt.: »Die Welt«), Nr. 4 veröffentlicht (vgl. Revjakina: Primečanija. Sobranie sočinenij. Tom pervyj, 692). Aus einem Brief Grins an Kuprin vom 14. [27.] August 1909 geht allerdings hervor, dass der Autor die Arbeit an »Rasskaz Birka« bereits im Vorjahr beendet hat (vgl. Grin: A. I. Kuprinu, 10).

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Dabei soll aufgezeigt werden, wie auf der inhaltlichen Ebene eine durch soziale Entfremdung und Selbstentfremdung ausgelöste Identitätskrise als psychologische Ursache für die Doppelgängervision entwickelt wird, während der Text parallel dazu auch auf der strukturellen Ebene das Erscheinen des Doppelgängers vorbereitet. Dies geschieht erstens durch die Verdoppelung zahlreicher weiterer Elemente der Erzählung, sowie zweitens durch die Auflösung von Grenzen und die Herstellung von Kontingenzsituationen, die auch die möglichen Interpretationen des Textes unmittelbar beeinflussen. Dabei wird auch auf die spezifischen Chronotopoi des Textes mit ihrer jeweiligen Zeit- bzw. Raumsemantik und deren Funktion für das Sujet eingegangen. Schließlich wird die Ebene der Narration, die von Inhalt und Struktur des Textes nicht abzukoppeln ist und daher bereits zuvor mit einfließt, noch einer gesonderten Analyse unterzogen, in der die Wirkung der Erzähltechnik auf den abstrakten Leser Beachtung findet. Ziel der Analyse ist es, die hochkomplexe, vielschichtige Verhandlung der intrasubjektiven radikalen Fremdheit des Protagonisten in »Rasskaz Birka« unter Bezugnahme auf unterschiedliche psychologische, psychoanalytische und literaturwissenschaftliche Modelle zu dechiffrieren, mit denen die Erzählung frappierende Übereinstimmungen aufweist. Die titelgebende Erzählung des Protagonisten und diegetischen sekundären Erzählers Birk ist eingebettet in eine knapp gehaltene Rahmenhandlung, in der ein ebenfalls diegetischer primärer Erzähler die Situation – das Erzählen Birks vor einem Publikum von mehreren Personen in nicht näher definierter Umgebung – beschreibt. Der Umstand, dass die Ereignisse der Binnenerzählung aus der Sicht dessen beschrieben werden, der sie selbst erlebt hat, ist für die Bewertung der Handlung durch den abstrakten Leser, wie später noch zu zeigen sein wird, höchst bedeutsam. Das Erlebnis, von dem Birk nach längerer Vorrede berichtet, ist folgendes: Als er eines Nachts, während einer schweren Lebens- und Identitätskrise, durch die Stadt läuft, überrascht der Protagonist zwei Einbrecher auf frischer Tat. Von dem Wunsch nach einem Abenteuer erfasst, dringt Birk in das von den Dieben aufgebrochene Haus ein und betritt eine der Wohnungen. Dabei beschleicht ihn zunehmend das Gefühl, die Räumlichkeiten zu kennen, bis er schließlich realisiert, dass er sich in seiner eigenen Wohnung befindet. Birk sieht sich somit gleichsam wortwörtlich mit der Fremdheitserfahrung konfrontiert, die Freud als Metapher für die Erkenntnis des Unbewussten infolge des Auftauchens unkontrollierbarer Gedanken oder Impulse, »fremde[r] Gäste«1268 im eigenen Inneren, dient: »daß das Ich nicht Herr sei in seinem

1268 Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V/1 (1917), 1–7, hier 5.

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eigenen Haus.«1269 Seine Wohnung, die den Kernraum des Eigenen darstellt, ist Birk so fremd, dass er sie erst mit Verzögerung erkennt. Die hier bereits deutlich werdende hochgradige Entfremdung vom Eigenen erfährt unmittelbar darauf jedoch eine ultimative Steigerung, als Birk in einem der Zimmer einen schlafenden Menschen entdeckt und erkennt, dass dieser Mensch er selbst ist.1270 Das Auftreten des Doppelgängers erfolgt sowohl für den abstrakten Leser als auch für die Zuhörer aus der Rahmenerzählung auf den ersten Blick vollkommen unerwartet, da Birks Geschichte bis zum Moment des Betretens der Wohnung keinerlei übernatürliche Elemente enthält. Bei genauerer Betrachtung wird die Ich-Spaltung aber, wie erwähnt, im Verlauf der gesamten Binnenerzählung vorbereitet und angekündigt. Auf welche Weise dies geschieht, soll im Folgenden gezeigt werden. Umfassende Entfremdung als Vorbedingung der Doppelgängerbegegnung Inhaltlich erfolgt die Wegbereitung für das Erscheinen des Doppelgängers in Form der Thematisierung von Birks psychischem Zustand, der die drei eng miteinander verknüpften Aspekte der exzessiven Beschäftigung mit dem eigenen Seelenleben, der Entfremdung von sich selbst und seiner Umwelt sowie der starken nervlichen Anspannung umfasst. Den größten Teil der Binnenerzählung nimmt, ähnlich wie in »Kanat«, Birks ausführliche Schilderung seines seelischen Zustandes und seiner Reflexionen darüber ein. Allerdings geschieht dies meist nicht rückblickend aus narratorialer Perspektive, sondern durch die figural perspektivierte Wiedergabe der Gedanken des – in der beschriebenen Situation befindlichen – Protagonisten. Dieser diagnostiziert beispielsweise »мое болезненное состояние«,1271 sucht den Grund »моего угнетенного состояния«,1272 stellt Überlegungen zu seinem »состояние духа«1273 an und versucht, die »полусознательные пути моего духа«1274 rational begreiflich zu machen. Solche und andere Formulierungen durchziehen den ersten Abschnitt der Erzählung und vermitteln bereits durch ihre Quantität einen Eindruck von der obsessiven Qualität der 1269 Ebd., 7; Hervorhebung im Original. Das »eigene[…] Haus« spezifiziert Freud wenige Absätze vorher als »Seele« (ebd., 5). Die Metapher findet sich in abgewandelter Form und auch mit anderer Bedeutung in Georg Simmels »Philosophie des Geldes« (1900) in der im Zusammenhang mit dem Verhältnis des Individuums zur es umgebenden Kultur gestellten Frage, »ob die Seele sozusagen Herr im eigenen Hause ist« (Simmel, Georg: Gesamtausgabe. Bd. 6. Philosophie des Geldes. Herausgegeben von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke. Frankfurt a. M. 1989, 649). 1270 Vgl. RB , 349. 1271 RB , 339. Dt.: »meinen krankhaften Zustand«. 1272 RB , 341. Dt.: »für meinen niedergeschlagenen Zustand«. 1273 RB , 340. Dt.: »Stimmungslage«. 1274 RB , 340. Dt.: »halbbewussten Wege meines Geistes«.

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Selbstreflexionen des Protagonisten. Während in dem russischen Doppelgängertext schlechthin, Dostoevskijs »Dvojnik«, der Protagonist Goljadkin im Vorfeld seiner Doppelgängervision von der Sorge darüber, was sein Umfeld über ihn denkt, besessen ist,1275 kreisen im Gegensatz dazu Birks Gedanken unter Ausblendung seiner Umgebung ausschließlich um sich selbst. Letztlich führt dies jedoch zum selben Ergebnis wie bei Goljadkin, nämlich seiner Selbstentfremdung und schließlich der Konfrontation mit dem eigenen Doppelgänger. Denn jedes Ich ist, wie im Theoriekapitel ausgeführt wurde, zur Konstituierung und Bewahrung seiner Identität auf die Interaktion mit anderen Menschen angewiesen. Fehlt diese, kommt es notwendigerweise zu Kompensationsversuchen. Birk reagiert auf das aus dem Rückzug auf sich selbst resultierende Fehlen eines Anderen, indem er sich selbst als Fremder gegenübertritt, was im Verlauf der Binnenerzählung in verschiedenen, zunehmend konkreten Formen geschieht, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird. Hier zeigt sich, dass stark ausgeprägte alltägliche (aktive, d. h. sich selbst zugeschriebene soziale Nichtzugehörigkeit und Unvertrautheit) und intra­ subjektive radikale Fremdheit nicht immer voneinander zu trennen sind, sondern, wie im vorliegenden Fall, Letztere von Ersterer verstärkt werden kann. Das Bedürfnis (russ.: nužda)1276 des Individuums nach dem Anderen thematisiert auch Bachtin in seinem Modell des Ich, in dem die Suche nach Intersubjektivität eine zentrale Rolle spielt.1277 Er geht darin von einer grundlegenden Unterscheidung zwischen dem Bewusstsein des ›Ich‹ (russ.: ja) und dem 1275 Vgl. z. B. Dostoevskij: Dvojnik, 113 u. 133 f. 1276 Vgl. Bachtin: Avtor i geroj, 115 u. 129. 1277 Vgl. Pirog, Gerald: Bakhtin and Freud on the ego. In: Rancour-Laferriere, Daniel (Hg.): Russian Literature and Psychoanalysis. Amsterdam, Philadelphia 1989, 401–415, hier 401. Damit unterscheidet sich Bachtins phänomenologischer Ansatz stark von dem physiologischen Freuds, der den Anderen im Wesentlichen als Instrument zur Befriedigung der eigenen Triebe betrachtet, da diese ihm zufolge jede soziale Erfahrung strukturieren. Während für Bachtin die Beziehung zu anderen Menschen von Gegenseitigkeit geprägt ist, beruht sie für Freud also vor allem auf Eigeninteresse. Eine explizit gegen diese Grundannahme gerichtete Kritik an Freuds Konzeption des Ich wird in der 1927 von bzw. unter dem Namen Valentin Vološinov publizierten Abhandlung »Frejdizm: Kritičeskij očerk« (dt.: »Freudianismus. Eine kritische Skizze«) formuliert (vgl. Vološinov, V. N. [Bachtin, M. M.]: Frejdizm. Moskva 1993; vgl. dazu Pirog: Bakhtin and Freud, 401 u. 405). Die Autorschaft dieser Schrift wird zwar kontrovers diskutiert; manche halten Bachtin selbst für den Verfasser (vgl. z. B. ebd., 401; die Ausgabe von 1993 erscheint in der Reihe »Bachtin pod maskoj« (dt.: »Bachtin unter der Maske«), Bachtin wird bei den bibliographischen Angaben als Autor in Klammern genannt; vgl. Vološinov [Bachtin]: Frejdizm, 2), andere seinen Freund und Schüler Vološinov (zur Diskussion der Autorschaft von »Frejdizm« vgl. Ėtkind: Ėros nevozmožnogo, 311 f.). Auch wenn Letzteres zutreffen sollte, kann aber davon ausgegangen werden, dass der Text in jedem Fall wesentliche Gedanken Bachtins enthält, da er seine Theorien stets in intensivem Austausch mit seinem Umfeld entwickelt (vgl. ebd., 310).

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Bewusstsein des ›Anderen‹ (russ.: drugoj)1278 aus,1279 wobei Ersteres in wesentlichem Maße der Wechselwirkung mit Letzterem bedarf: »[…] важнейшие акты, конституирующие самосознание, определяются отношением к другому сознанию (к ›ты‹).«1280 Der Grund für diese Notwendigkeit des Anderen liegt laut Bachtin in der konkreten raumzeitlichen Verortung des Individuums, der »единственност[ь] места в бытии«,1281 die sich immer und unaufhebbar von der des Anderen unterscheidet, weshalb die Horizonte beider niemals deckungsgleich sein können.1282 Bachtin betont dabei als einer der ersten Kulturwissenschaftler diese Untrennbarkeit des Bewusstseins des Ich von seinem Körper und dessen Verortung: »Der Mensch erscheint bei Bachtin immer in seiner Korporealität.«1283 Die Körperlichkeit des Ich bedingt wiederum eine spezifische Wahrnehmung der Welt, die somit als Korpo-realität bezeichnet werden kann, als eine durch die Grenzen des eigenen Körpers und seine raumzeitliche Position bestimmte Wirklichkeit. Denn infolge seiner Position der vnenachodimost’, der Außerhalbbefindlichkeit des Anderen, weist seine Perspektive stets einen spezifischen ›Überschuss‹, »избыток […] ви´дения,1284 знания, обладания«1285 gegenüber dem 1278 Bachtins Begriff des ›Anderen‹ (russ.: drugoj) deckt sich mit der in Kapitel 3.1 eingeführten Definition des Anderen als des alltäglichen Fremden, dessen Fremdheit nicht explizit als solche empfunden wird, der aber dennoch dem Ich gegenübersteht. 1279 Vgl. Ėtkind: Ėros nevozmožnogo, 319. 1280 Bachtin, M. M.: K pererabotke knigi o Dostoevskom. In: Ders.: Problemy tvorčestva Dostoevskogo. Problemy poėtiki Dostoevskogo. Kiev 1994, 181–201, hier 186. Dt.: »[…] die wichtigsten Akte, die ein Selbst-Bewusstsein konstituieren, werden durch die Beziehung zu einem anderen Bewusstsein (zum ›Du‹) bestimmt.« Die Entdeckung dieser Abhängigkeit des eigenen vom fremden Bewusstsein schreibt Bachtin Dostoevskij zu, in dessen Poetik »[р]аскрылась роль другого, в свете которого только и может строиться всякое слово о себе самом« (ebd., 188; dt.: »die Rolle des Anderen aufgedeckt wurde, in dessen Licht allein jegliches Wort über sich selbst errichtet werden kann«; vgl. dazu Ėtkind: Ėros nevozmožnogo, 319). Mit diesem Ansatz unterscheidet sich Bachtin von Freud, aber auch von anderen philosophischen und wissenschaftlichen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die von einem monadischen und in sich abgeschlossenen Bewusstsein ausgehen, sodass Individuen einander nicht, wie in Bachtins Verständnis, als komplementäre, einander benötigende Subjekte gegenüberstehen, sondern als durch eine unüberbrückbare Kluft getrennte Objekte (vgl. Pirog: Bakhtin and Freud, 409). 1281 Bachtin: Avtor i geroj, 105. Dt.: »Singularität des Ortes im Sein« (Bachtin: Autor und Held, 78). 1282 Vgl. Bachtin: Avtor i geroj, 104. 1283 Schmid, Ulrich: Der philosophische Kontext von Bachtins Frühwerk. In: Bachtin, Michail M.: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit. Herausgegeben von Rainer Grübel, Edward Kowalski und Ulrich Schmid. Frankfurt a. M. 2008, 7–32, hier 12. 1284 Vgl. hierzu auch Bhabhas Wortspiel »eye / I« (Bhabha: The Location of Culture, 47), das auf die enge Verbindung zwischen dem Blick (des Ich und auf das Ich) und seiner Identität verweist. 1285 Bachtin: Avtor i geroj, 104; Hervorhebung im Original. Dt.: »Überschuss […] [des] Sehens, Wissens und Vermögens« (Bachtin: Autor und Held, 77; Hervorhebung im Original).

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Ich auf – und umgekehrt.1286 Ohne die Interaktion mit dem Anderen bleibt das Ich daher zwangsläufig unvollständig.1287 В этом смысле можно говорить об абсолютной эстетической нужде человека в другом, в видящей, помнящей, собирающей и объединяющей активности другого, которая одна может создать его внешне законченную личность, этой личности не будет, если другой ее не создаст […].1288

Dass Bachtin diese Situation des grundsätzlichen Nichtübereinstimmens mit sich selbst an anderer Stelle als Wahnsinn (russ.: bezumie) bezeichnet,1289 zeigt bereits deutlich ihr psychopathologisches Potential. Birks ständige Versuche, ein Bewusstsein seiner selbst und seines, wie oben zitiert, bislang nur ›halbbewussten‹ seelischen Zustands zu erlangen, scheitern in Bachtins Verständnis zwangsläufig am fehlenden Dialog mit dem fremden Bewusstsein, der auch durch intensivste Reflexion nicht ersetzt werden kann. Der russische Begriff für das Bewusstsein, soznanie, kann daher auch als Mit(einander)-Wissen, so-znanie gelesen werden, d. h. als ein nur im Dialog mit einem Anderen erworbenes Wissen, das dem isolierten Ich nicht zugänglich ist. Die exzessive Introspektion des Protagonisten stellt in diesem Sinne 1286 In seiner Skizze »K filosofskim osnovam gumanitarnych nauk« (dt.: »Zu den philosophischen Grundlagen der Geisteswissenschaften«) betont Bachtin ebenfalls die unumgängliche Notwendigkeit des Anderen für die Selbsterkenntnis des Ich: »Взаимодействие […] кругозора познающего и кругозора познаваемого. Элементы выражения (тело, не как мертвая вещность, лицо, глаза, и т. п.), в них скрещиваются и сочетаются два сознания (я и другого), здесь я существую для другого и с помощью другого. История конкретного самосознания и роль в ней другого […]« (Bachtin, M. M.: K filosofskim osnovam gumanitarnych nauk. In: Ders.: Sobranie sočinenij v semi tomach. T. 5. Raboty 1940-ch – načala 1960-ch godov. Moskva 1996, 7–10, hier 7 f.; Hervorhebung im Original. Dt.: »Die Wechselwirkung […] des Horizonts des Erkennenden und des Horizonts des zu Erkennenden. Die Elemente des Ausdrucks (der Körper, nicht als tote Dinglichkeit, das Gesicht, die Augen u. dgl.), in ihnen kreuzen und verbinden sich zwei Bewusstseine (des Ich und des Anderen), hier existiere ich für den Anderen und mithilfe des Anderen. Die Geschichte des konkreten Selbst-Bewusstseins und die Rolle des Anderen in ihr […]«). 1287 Hinsichtlich der Betonung des distanzierten Blicks des Anderen auf das Ich bzw. das Eigene besitzt dieser ›Andere‹ (russ.: drugoj) bei Bachtin einen Vorgänger in der im Theoriekapitel vorgestellten Figur des ›Fremden‹ aus Simmels »Exkurs über den Fremden« aus seiner »Soziologie« (1908; vgl. Simmel: Gesamtausgabe. Soziologie, 767; vgl. dazu Schmid: Der philosophische Kontext, 25). Allerdings spitzt Bachtin diesen Gedanken deutlich stärker zu als Simmel, wenn er aus ihm die Unvollständigkeit des Ich ohne den Anderen ableitet. 1288 Bachtin: Avtor i geroj, 115. Dt.: »In diesem Sinne kann man sagen, dass der Mensch des Anderen ästhetisch unbedingt bedarf, nämlich der sehenden, sich erinnernden, sammelnden und vereinenden Aktivität des Anderen, die allein in der Lage ist, seine äußerlich abgeschlossene Persönlichkeit zu erschaffen. Diese Persönlichkeit gibt es nicht, wenn der Andere sie nicht erschafft.« (Bachtin: Autor und Held, 90). 1289 Vgl. Bachtin: Avtor i geroj, 197.

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einen ersten, wenn auch noch gänzlich alltäglichen, Schritt auf dem Weg zu seiner Ich-Spaltung dar, da hier versucht wird, den fehlenden Blick von außen durch einen eigenen Blick im Inneren und ins Innere des Protagonisten zu ersetzen. Dabei kommt es, wie bei jeder Selbstreflexion, zur Aufteilung in ein Subjekt, das betrachtende, und ein Objekt, das betrachtete Ich.1290 Den unvermeidlichen Mechanismus der Selbstentfremdung durch die Selbstreflexion betont auch Bachtin: »[…] смотря внутрь себя, он смотрит в глаза другому или глазами другого.«1291 Das Ich besitzt keinen unmittelbaren Zugang zu sich selbst, weil jede Reflexion – nicht umsonst eine ›Spiegelung‹ bezeichnend –1292 eine Verdoppelung in einer Position des Außerhalb erzeugt. »[E]ben in dieser Bedingtheit des Selbst-Seins und Bei-sich-Seins durch Reflexion liegt die Wurzel der Selbstentfremdung. Unvermittelt ist das Ich nie bei sich; als Vermitteltes jedoch ist es nie bedingungslos bei sich.«1293 Verstärkt durch beständige Wiederholung (ebenfalls eine Form der Verdoppelung), die der Erzähler selbst betont  – z. B. »Разумеется, я много размышлял о себе […]«,1294 »Продолжая углубляться в себя […]«1295 – resultiert die selbstentfremdende Introspektion letztendlich, in einer gegenläufigen Bewegung zur Verlagerung des fremden Blicks ins Eigene, in der Manifestation des inneren Fremden in der Außenwelt, als Vision des Doppelgängers. Wie diese Überlegungen bereits zeigen, lässt sich aus Birks ausführlicher Schilderung seiner obsessiven Beschäftigung mit dem eigenen Inneren der zweite inhaltliche Aspekt, der das Erscheinen des Doppelgängers vorbereitet und ermöglicht, ableiten: die Entfremdung des Protagonisten, die auf mehre1290 Auch der Begriff der Selbstanalyse enthält die Vorstellung einer Trennung verschiedener Elemente im Prozess der Reflexion über das eigene Ich, d. h. dessen Aufspaltung. 1291 Bachtin: K pererabotke, 187; Hervorhebung im Original. Dt.: »[…] beim Blick in sich selbst hinein blickt er in die Augen des Anderen oder mit den Augen des Anderen.« 1292 Vgl. dazu auch Asche: »Der Spiegel und das Ich sind untrennbar […]. Die intellektuelle Tätigkeit des Ich wird mit dem gleichen Begriff bezeichnet wie die Wirkung des Spiegels: Reflexion.« (Asche, Susanne: Die Liebe, der Tod und das Ich im Spiegel der Kunst. Die Funktion des Weiblichen in Schriften der Frühromantik und im erzählerischen Werk E. T. A. Hoffmanns. Königstein 1985, 5). 1293 Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 219; Hervorhebung im Original. SchmitzEmans führt in diesem Zusammenhang den Hinweis an, dass mit dieser Erkenntnis die Provokation durch das Fremde im eigenen Ich eine neue Dimension erreicht. War das innere Fremde bis zu diesem Zeitpunkt das Unbewusste, erweist es sich nun als das Bewusstsein selbst. Beide Teile des Ich, Bewusstsein und Unterbewusstsein, treten damit in ein spiegelverkehrtes Verhältnis, in dem keine Differenzierung zwischen Urbild und Abbild mehr möglich ist (vgl. ebd.). Diese Beziehung bilden Doppelgängertexte häufig ab, indem sie es (dem Betroffenen und / oder dem abstrakten Leser) unmöglich machen zu entscheiden, bei welchem der beiden es sich um das Original handelt, bei welchem um die ›Kopie‹. 1294 RB , 340. Dt.: »Selbstredend dachte ich viel über mich selbst nach […]«. 1295 RB , 341. Dt.: »Mich weiterhin in mich selbst vertiefend […]«.

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ren Ebenen stattfindet. Dass es sich dabei um einen sich steigernden Prozess der Entfremdung, nicht um einen von Anfang an gegebenen Zustand der Fremdheit, also um eine zunehmende Dynamik, handelt, geht aus verschiedenen Formulierungen Birks hervor, z. B.: »Со временем это превратилось в настоящую болезнь […]«.1296 Im Verlauf der Erzählung zeigt sich, dass es hierbei zu einer umfassenden Entfremdung kommt, die sich allmählich auf alle Bereiche seines Lebens erstreckt. Erstens betrifft dies Birks Entfremdung von seinem eigenen Ich. Bereits die einleitenden Worte des sekundären diegetischen Erzählers benennen als Ausgangssituation der Geschichte seine damaligen psychischen Probleme.1297 Obwohl sein Zustand an keiner Stelle direkt als Identitätskrise benannt wird, ist er jedoch deutlich als solche zu erkennen. Schon als Jugendlicher – d. h. nach Erikson in der wichtigsten Phase der Herausbildung der Ich-Identität –1298 entwickelt Birk (genau wie Šil’derov aus »Dalëkij put’«) eine starke Abneigung gegen jede Form der Gleichförmigkeit und Monotonie (russ.: odnoobrazie), die mit der Zeit krankhafte Züge annimmt. Sie gewinnt zunehmend an Einfluss, »сделалась преобладающим содержанием моего ›я‹ […]«.1299 Schon hier findet sich also ein erster Hinweis auf ein Fremdes im Inneren des eigenen Ich. Damit liegt eine prototypische Voraussetzung für Doppelgängervisionen vor, denn der Auftritt des Zweiten Ich ist keineswegs die Ursache der IchSpaltung, sondern deren Folge,1300 d. h. lediglich die Materialisierung dessen, was bereits zuvor im Inneren des Subjekts vorhanden war, außerhalb von ihm. Zugleich gibt Birk einen Hinweis auf die Beteiligung einer doppelt fremden, da nicht zu seinem Ich gehörigen und zudem unbekannten, Macht an der Entwicklung der Ereignisse: »И было такое время, когда я перенес сложную психологическую операцию. Мой хирург (если продолжать сравнения) остался мне неизвестным. Но он пришел, во всяком случае, не из жизни.«1301 Von Anfang an wird damit der Rahmen für die Doppelgängererscheinung gesetzt, die grundsätzlich zwischen rationaler Erklärbarkeit – v. a. durch psychologische Ansätze – und völliger Irrationalität oszilliert. Auch verweist bereits die Metapher der ›Operation‹ auf das Moment der Körperlichkeit von Birks Seelenkrise. Diese wird allerdings durch das Attribut 1296 RB , 338; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Mit der Zeit verwandelte sich das in eine richtige Krankheit […]«. 1297 Vgl. RB , 337. 1298 Vgl. Erikson: Kindheit und Gesellschaft, 256. 1299 RB , 338. Dt.: »sie wurde zum dominanten Inhalt meines ›Ich‹ […]«. 1300 Vgl. Derjanecz, Agnes: Das Motiv des Doppelgängers in der deutschen Romantik und im russischen Realismus. E. T. A. Hoffmann, Chamisso, Dostojewskij. Marburg 2003, 12. 1301 RB , 337. Dt.: »Und es gab eine solche Zeit, in der ich eine schwere psychologische Operation überstand. Mein Chirurg (wenn man die Vergleiche fortsetzen will) blieb mir unbekannt. Aber er kam in jedem Fall nicht aus dem Leben.«.

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›psychologisch‹ im selben Moment wieder aufgehoben, sodass schon hier auf die den Doppelgänger charakterisierende Möglichkeit eines physisch-psychischen Zwischenzustands vorausgewiesen wird. Die Auswirkungen dieses inneren Fremden richten sich frappierend genau gegen die Aspekte der Konstituierung und Bewahrung von Identität, die in Kapitel 3.1 vorgestellt wurden. Birk verliert sowohl die Fähigkeit zu einer Orientierung gebenden Verortung seines Ich in Zeit und Raum, als auch diejenige zur Konstruktion einer Kontinuität und Kohärenz des Selbst mithilfe des Gedächtnisses: Ein Mensch in seinem Zustand »живет вне времени и пространства, […] доходит до анекдотической рассеянности и, в редких случаях, даже теряет память.«1302 Ein weiteres von Birk beschriebenes Symp­ tom kann als Folge hieraus gelesen werden: Es kommt zur Störung einer der Hauptfunktionen der Ich-Identität, nämlich der Einordnung des eigenen Handelns und Denkens in übergreifende Sinnzusammenhänge, sodass »все окружающее совершенно теряет смысл.«1303 Die daraus resultierende Orientierungslosigkeit begünstigt die Erscheinung des Doppelgängers zusätzlich. Hieraus erklärt sich auch Birks »стремлени[e] к одиночеству«1304 und seine »полусознательн[ая] враждебность ко всему«,1305 die als größtmögliche Reduktion des von Sinnverlust gekennzeichneten Umgebenden zu lesen ist. Jedoch erweist sich dieser Rückzug auf und in sich selbst aus den oben ausgeführten Gründen am Ende der Erzählung als trügerischer, letztlich von Anfang an zum Scheitern verurteilter Versuch des Helden, seine erschütterte Identität zu retten. Die ›halbbewusste Feindseligkeit‹ vereint gleichsam Ursache und Folge in sich, denn die feindselige Ablehnung jedes Anderen verunmöglicht die Erlangung eines vollständigen Ich-Bewusstseins – unter anderem eines Bewusstseins über den Grund seiner feindseligen Stimmung. Nicht zufällig erlangt Birk erstmals in der Binnenerzählung klares Bewusstsein über seinen Zustand in einem Moment, in dem er sich unter Menschen befindet, wenn auch von wirklicher Interaktion mit ihnen kaum die Rede sein kann. Als vor seinen Augen ein Mädchen von einem Pferdefuhrwerk überfahren wird, stellt der Protagonist fest, dass er weder Mitleid empfindet, noch die Aufregung der umstehenden Menschenmenge teilt. Dies wird auch in seinen Formulierungen deutlich, wenn er zum einen die schweren Verletzungen des Unfallopfers vollkommen emotionslos beschreibt1306 und sich zum anderen durch die Verwendung der dritten Person klar von der Menschenmenge distanziert, obwohl er sich faktisch inmitten von ihr befindet, z. B.: »Как 1302 RB , 339. Dt.: »lebt außerhalb von Zeit und Raum, […] gelangt zu anekdotischer Zerstreutheit und verliert, in seltenen Fällen, sogar das Gedächtnis.«. 1303 RB , 339. Dt.: »alles Umgebende vollkommen den Sinn verliert.«. 1304 RB , 338. Dt.: »Sehnsucht nach Einsamkeit«. 1305 RB , 339. Dt.: »halbbewusste Feindseligkeit allem gegenüber«. 1306 Vgl. RB , 339.

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говорили в толпе […]«1307 oder »Толпа страшно шумела […]«.1308 Diese Trennlinie wird von Beginn der Situation an gezogen, denn anders als die Menge geht Birk nicht aus Neugier zum Ort des Unfalls, sondern nur, weil sein Weg durch die Stadt zufällig daran vorbeiführt; zudem bleibt er nur wenige Sekunden stehen und setzt dann seinen Weg fort.1309 Birks Ich ist somit nicht Teil eines Wir – wobei die Menschenmenge auf dem Platz als pars pro toto für Birks gesamtes Umfeld zu verstehen ist –, sondern steht immer außerhalb davon. Dabei gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass Birk von den anderen als fremd empfunden wird. Er nimmt sich selbst so wahr, schreibt sich aktiv die Rolle des Fremden zu. Die Trennung Ich vs. die Anderen beruht dabei auf dem Gegensatz zwischen der Emotionalität der umstehenden Passanten und der vollständigen und unaufhebbaren Emotionslosigkeit Birks, die er selbst betont: »Повторяю: я все это видел и слышал, но мои нервы остались совершенно покойны. Я не чувствовал этих людей, как живых, страдающих, потрясенных, рассерженных […].«1310 Dieses vollständige Fehlen eigener Gefühle und Empathie gegenüber anderen kennzeichnet auch eine der bedeutendsten Verkörperungen des Fremden der europäischen Literatur – Camus’ Meursault aus »L’étranger« (1942).1311 Wie bei Zuschreibungen von Alienität üblich, erfolgt diese auch bei Birk ex negativo, d. h. in Bezug auf Eigenschaften, die er im Unterschied zu anderen nicht aufweist. Die hier vorliegende Fremdheit ist sowohl eine Unvertrautheit, denn die Emotionen der Anderen sind dem Protagonisten gänzlich unbegreiflich, als auch eine Nichtzugehörigkeit zu ihrer Gruppe, die aus der Unvertrautheit resultiert. Dabei liegt, zumindest bis zu diesem Moment, eine alltägliche Fremdheit vor, da die Emotionen des Anderen dem Subjekt nie vollständig zugänglich sind  – allerdings in der stark gesteigerten Form der Fremdheit gegenüber seinem gesamten sozialen Umfeld. In seiner oben zitierten Abgrenzung von der Menschenmenge stellt Birk deren Fähigkeit, Gefühle zu empfinden, in eine Reihe mit der Eigenschaft ›lebendig‹. Birks Entfremdung bezieht sich also nicht nur auf die Gesellschaft, sondern sogar auf das Leben selbst. Hinweise darauf finden sich bereits an früherer Stelle der Erzählung. Die sein gesamtes Ich dominierende Abneigung gegen jede Gleichförmigkeit löst seine Bindung an das Leben nicht nur, sondern tötet sie sogar: »[…] убила во мне всякую привязанность к жизни.«1312 1307 RB , 339. Dt.: »Wie sie in der Menge sagten […]«. 1308 RB , 339. Dt.: »Die Menge lärmte schrecklich […]«. 1309 Vgl. RB , 339. 1310 RB , 339. Dt.: »Ich wiederhole: ich sah und hörte all das, aber meine Nerven blieben vollkommen ruhig. Ich empfand diese Menschen nicht als lebendig, leidend, erschüttert, aufgebracht […].«. 1311 Vgl. Camus, Albert: L’étranger. Herausgegeben von Brigitte Sahner. Stuttgart 2012. 1312 RB , 338. Dt.: »[…] sie tötete in mir jegliche Bindung an das Leben.«.

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Der Unfall des Mädchens und Birks (Nicht-)Reaktion darauf überzeugen ihn schließlich davon, »что я достиг […] состояния трупа.«1313 Auf diese Weise vermischt sich die alltägliche Fremdheit Birks gegenüber seinen Mitmenschen mit dem radikal Fremden schlechthin  – dem Tod, der den Lebenden per definitionem unzugänglich ist. In einen analogen Zustand gerät Goljadkin aus Dostoevskijs »Dvojnik« kurz vor der ersten Begegnung mit seinem Doppelgänger: »Господин Голядкин был убит, – убит вполне, в полном смысле слова […]«.1314 Die Grenzen zwischen Tod und Leben verschwimmen hier also ebenso wie, im Verlauf der Erzählung, diejenigen zwischen Fremdem und Eigenem an sich. Die Verbindung von Totem und Lebendigem findet eine Verkörperung unter anderem in Gestalt der Maschine bzw. des Automaten. Auch Birk assoziiert seine Emotionslosigkeit mit dem Moment des Maschinellen, NichtMenschlichen, als er seinen Zustand »холодной мертвой прострации, когда человек живет машинально, как автомат, без радостей и страданий, смеха и слез, любопытства и сожаления«1315 beschreibt. Zudem weist eine Reihe von Handlungen Birks im Vorfeld der Doppelgängervision diese Qualität auf: »машинально остановился«,1316 »механически перелистывая книгу истекшего дня«,1317 »[м]ашинально я потянул ручку«,1318 »машинально прошептал эти слова«.1319 Somit wird Birk gleichsam selbst zu einem Automaten, der nach Lacan1320 als Doppelgängervariante zu werten ist und somit ebenfalls die spätere Duplikation des Protagonisten ankündigt. Die Isolation des Protagonisten von seinem Umfeld, die sich bis zu einer umfassenden Fremdheit gegenüber allem Menschlichen und sogar Lebendigen entwickelt, stellt zudem eine weitere essentielle Vorbedingung für das Auftreten des Doppelgängers dar.1321 Denn die vollständige Abkapselung des 1313 RB , 339. Dt.: »dass ich […] den Zustand eines Leichnams erreicht hatte.«. 1314 Dostoevskij: Dvojnik, 138. Dt.: »In Herrn Goljadkin war gar kein Leben mehr, im vollen Sinne des Wortes kein Leben mehr […]« (Dostojewski, Fjodor M.: Der Doppelgänger. Ein Petersburger Poem. Aus dem Russischen von Herrmann Röhl. Frankfurt a. M., Leipzig 2003, 59). 1315 RB , 339. Dt.: »kalter toter Abgeschlagenheit, wenn der Mensch mechanisch lebt, wie ein Automat, ohne Freuden und Leiden, Lachen und Tränen, Neugier und Bedauern«. 1316 RB , 339. Dt.: »ich blieb mechanisch stehen«. 1317 RB , 340. Dt.: »mechanisch das Buch des vergangenen Tages durchblätternd«. 1318 RB , 346. Dt.: »ich zog mechanisch am Türgriff«. 1319 RB , 347. Dt.: »ich flüsterte mechanisch diese Worte«. 1320 Lacan zufolge ist die »Gestalt« des Menschen »[…] grosse encore des correspondances qui unissent le je à la statue où l’homme se projette comme aux fantômes qui le do­ minent, à l’automate enfin où dans un rapport ambigu tend à s’achever le monde de sa fabrication.« (Lacan, Jacques: Le stade du miroir comme formateur de la fonction du je, telle qu’elle nous est révélée dans l’expérience psychanalytique. In: Revue française de psychanalyse 13/4 (1949), 449–455, hier 451; Hervorhebung von A. B.). 1321 Vgl. Schmid: The Fear of the Other, 31.

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Protagonisten verhindert eine Überprüfung seiner Wahrnehmung der Welt durch den Abgleich mit der anderer Menschen. Die Folge hieraus ist ein fortschreitender Verlust der Fähigkeit, Reales von Imaginärem zu unterscheiden, der seinen Höhepunkt in der Doppelgängervision findet.1322 Das Thema des Realitätsverlustes ist in der russischen Literatur unauflöslich mit der Stadt Sankt Petersburg verknüpft und stellt ein wiederkehrendes Thema des Peterburgskij tekst (dt.: Petersburger Text)1323 dar: Von Puškins »Mednyj vsadnik« (1833; dt.: »Der Eherne Reiter«) über Gogol’s »Nos« (1836) und Dostoevskijs »Dvojnik« (1846) bis Belyjs »Peterburg« (1913) verwischt die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum, Halluzination oder Wahnvorstellung. Für eine Begegnung mit dem eigenen Doppelgänger ist Petersburg noch aus einem weiteren Grund gleichsam prädestiniert. Als europäische Stadt, in einem Sumpfgebiet an der russischen Peripherie erbaut, erscheint Petersburg selbst als unwirklicher Doppelgänger.1324 Auch einige Texte Grins, in denen der Protagonist in einen Zustand zwischen Realität und Wahn gerät, lassen sich aufgrund von topographischen Bezeichnungen in Petersburg verorten  – darunter »Zemlja i voda« (1914), »Klubnyj arap« (1918), »Krysolov« (1924) und »Fandango« (1927).1325 In der Erzählung »Rasskaz Birka« wird Petersburg zwar an keiner Stelle explizit als

1322 Vgl. hierzu auch Dostoevskijs Überlegungen zur Halluzinationen begünstigenden Wirkung eines Rückzugs ins eigene Innere in einem Brief an seinen Bruder Michail aus dem Jahr 1847: »Вне должно быть уравновешено с внутренним. Иначе, с отсутствием внешних явлений, внутреннее возьмет слишком опасный верх. Нервы и фантазия займут очень много места в существе. Всякое внешнее явление с непривычки кажется колоссальным и пугает как-то. Начинаешь бояться жизни.« (Dostoevskij, Fëdor M.: Pis’mo 31. M. M. Dostoevskomu. Janvar’ – fevral’ 1847. Peterburg. In: Ders.: Sobranie sočinenij v 15 tomach. Tom 15. Pis’ma 1834–1881. Sankt Peterburg 1996, 69–72, hier 70; Hervorhebung im Original. Dt.: »Das Äußere muß mit dem Inneren im Gleichgewicht sein. Anderfalls gewinnt bei fehlenden Einwirkungen von außen das Innere auf gefährliche Weise die Oberhand. Empfindungen [wörtl.: Nerven] und Phantasie beherrschen den Menschen dann in großem Maße. Jede äußere Einwirkung erscheint einem gewaltig, wenn man sie nicht gewöhnt ist, und irgendwie erschreckend. Man beginnt sich vor dem Leben zu fürchten.« (Dostojewski, Fjodor M.: An M. M. Dostojewski. Petersburg, Januar / Februar 1847. Aus dem Russischen übersetzt von Waltraud und Wolfram Schroeder. In: Ders.: Briefe. Leipzig 1981, 78–82, hier 79; Hervorhebung im Original). 1323 Vgl. Toporov, V. N.: Peterburgskij tekst russkoj literatury. Izbrannye trudy. Sankt-Peterburg 2003. 1324 Vgl. ebd., 493 f.; Lamberz: Raum und Subversion, 48. 1325 Zu den ›Petersburger Texten‹ Grins vgl. Bachmaier, Annelie: Aleksandr Grins ›Petersburger Texte‹. Variationen und Aktualisierungen des Metatexts in Zemlja i voda, Krysolov und Fandango. In: Bauer, Iris / Drosihn, Yvonne / Kowollik, Eva / Matijević, Tijana / Sulikowska-Fajfer, Joanna (Hg.): Close Reading – Distant Reading. Spannungsfelder der slavistischen Literatur- und Kulturwissenschaften. Halle 2021, 35–48.

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Schauplatz benannt – anders als in seinem Prätext »Dvojnik«, wo der Leser diese Information gleich am Anfang erhält –, allerdings gibt es einige indirekte topographische Hinweise darauf, unter anderem die Erwähnung eines Kathedralenplatzes,1326 einer Brücke1327 und eines Flusses1328 sowie von Kopfsteinpflaster1329 bei Birks nächtlichem Spaziergang.1330 Auch die mit Petersburg aufgrund seiner Lage in einer sumpfigen Flussmündung assoziierte Feuchtigkeit findet eine Erwähnung: »Воздух немного влажен […]«.1331 Die Bedeutung des Ortes für seinen Zustand und damit letztlich für die Ereignisse der Erzählung reflektiert der Protagonist selbst. Dabei diagnostiziert er einen scharfen Gegensatz zwischen Stadt und Natur, welcher auch in Grins bereits vorgestellter Erzählung »Put’« zum Ausdruck kommt. Während er Letztere mit krummen, organischen Formen assoziiert, betont Birk bei Ersterer ein von geometrischen Formen geprägtes Erscheinungsbild: »Прямые линии, горизонтальные плоскости, кубы, прямоугольные пирамиды, прямые углы«.1332 Die Betonung der geraden Linien und rechten Winkel referiert ebenfalls auf Petersburg als eine geometrisch aufgebaute, am Reißbrett entworfene Stadt, im Gegensatz zum natürlich gewachsenen Moskau, und erinnert an die Darstellung der Stadt in Belyjs wenig später entstandenem Roman »Peterburg«. Ebenso weist die Erwähnung der Horizontalität auf Sankt Petersburg, das dem vertikal orientierten Moskau entgegensteht, als Handlungsschauplatz hin.1333 Obwohl der diegetische Erzähler dies nicht ausspricht, ist die Stadt der Inbegriff der ihm so unerträglichen Gleichförmigkeit und damit auch einer der Gründe für seine psychische Krise. Damit knüpft »Rasskaz Birka« an das Motiv der (Groß-)Stadtneurose in der europäischen Literatur der Moderne an.1334 Auch Birks Gegenüberstellung der Farben der beiden Räume fügt sich in das duale Schema ein: Diejenigen der Stadt sind monoton, »темные, однотонные, лишенные оттенков цвета«,1335 während die Natur »тона светлые и яркие, с бесчисленными оттенками и 1326 Vgl. RB , 345. 1327 Vgl. RB , 343. 1328 Vgl. RB , 345. 1329 Vgl. RB , 343. 1330 Das einzige Toponym in »Rasskaz Birka« ist der wenig spezifische Name einer Brücke, Novyj most (dt.: Neue Brücke; vgl. RB , 343). 1331 RB , 346. Dt.: »Die Luft ist ein wenig feucht […]«. 1332 RB , 340. Dt.: »Gerade Linien, horizontale Ebenen, Kuben, rechtwinklige Pyramiden, rechte Winkel«. 1333 Vgl. Toporov: Peterburgskij tekst, 29; allgemein zur Gegensätzlichkeit Moskau / Petersburg vgl. ebd., 7–22. 1334 Die Großstädte bringen einen neuen Menschentyp hervor, der sich durch Nervosität und Exzentrik auszeichnet und nicht selten an Halluzinationen oder Wahnvorstellungen leidet (vgl. Wöll: Doppelgänger, 150). 1335 RB , 341; Hervorhebung von A. B. Dt.: »dunkel, einfarbig, ohne Farbschattierungen«.

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движением красок«1336 aufweist. Auf die Bewertung dieser Gegensatzpaare wird weiter unten noch eingegangen. Birks Entfremdung betrifft jedoch nicht nur den städtischen Raum. Zwar erweisen sich seine Spaziergänge außerhalb der Stadt als wohltuend,1337 da sie eine Abwechslung zur sogar doppelten Monotonie der Stadt – ihrem Wesen nach und zudem als Ort seines Alltags und der Gewohnheit, »так как в городе я проводил большую часть времени«1338 – darstellt. Jedoch impliziert Letzteres zugleich auch, dass Birk die Natur durch sein Leben in der Stadt fremd geworden ist.1339 Der Verlust dieser Verbindung ist indirekt auch im Namen des Protagonisten enthalten, der sich vom deutschen Lexem ›Birke‹1340 ableitet, jedoch im russischen Kontext und ohne dieses Wissen nicht auf die Natur referiert, sondern lediglich eine fremdklingende Lautfolge ohne Bedeutung, letztlich also eine Form ohne Inhalt darstellt. Analog hierzu beschränkt sich Birks Wahrnehmung der Natur ebenfalls auf ihre äußerlichen, krummen Formen, sodass die Fremdheit der Stadt in der Natur also eine Verdoppelung erfährt, lediglich unter umgekehrten Vorzeichen. Grundsätzlich dominiert

1336 RB , 341. Dt.: »helle und leuchtende Töne, mit unzähligen Schattierungen und Bewegung der Farben«. 1337 Vgl. hierzu auch das Gespräch zwischen Goljadkin und einem Kutscher in »Dvojnik«: »›Нешто [sic!] за город ехать изволите?‹ ›Да, мой друг, может, и за город. Я еще сам наверно не знаю […]‹« (Dostoevskij: Dvojnik, 214). Dt.: »›Wollen Sie vielleicht aus der Stadt fahren?‹ ›Ja, mein Freund, vielleicht auch aus der Stadt. Ich weiß es selbst noch nicht sicher […]‹« (Dostojewski: Der Doppelgänger, 191 f.). 1338 RB , 341. Dt.: »da ich in der Stadt den größten Teil der Zeit verbrachte«. 1339 In seiner Dissertationsschrift zu Grins philosophischen Ansichten zählt Martowicz eine Reihe von Werken auf, in denen »the harmful effects of city life« (Martowicz: The Work of Aleksandr Grin, 34) deutlich zum Ausdruck kommen; neben »Rasskaz Birka« sind dies »›Ona‹« (1908), »Zurbaganskij strelok« (1913), »Novyj cirk« (1913; dt.: »Der neue Zirkus«), »Vesëlaja babočka« (1916; dt.: »Der fröhliche Schmetterling«), »Iva« (1923), »Seryj avtomobil’« (1925), »Krysolov« (1924) sowie der Roman »Blistajuščij mir« (1923). Obwohl Martowiczs Einschätzung von Grins Haltung gegenüber dem städtischen Raum nicht auf alle Texte des Autors zutrifft – er ist, beispielsweise in »Doroga nikuda«, auch Ort der (Hoch-)Kultur –, ist ihr grundsätzlich zuzustimmen: »The urban environment is for Grin a sphere where man has succeeded in removing nature from his life […]. Man exists surrounded by nothing but walls, streets and cars, which represent the opposite of the wonderful vividness of the forest.« (Martowicz: The Work of Aleksandr Grin, 34). 1340 Da die Birke auch ein Symbol der russischen Natur, der russischen Seele, ja sogar Russlands selbst darstellt (etwa in Čechovs »Tri sëstry« (dt.: »Drei Schwestern«) oder in der russischen Landschaftsmalerei, unter anderem bei Vasilij Polenov (z. B. »Berëzy i paporotniki« (dt.: »Birken und Farne«), 1873 oder »Berëzovaja alleja v Abramcevo« (dt.: »Birkenallee in Abramcevo«), 1880) oder bei Ivan Šiškin (z. B. »Berëzovyj les« (dt.: »Birkenwald«), 1871, »Berëza i rjabinki« (dt.: »Birke und Ebereschen«), 1878 oder »Ručej v berëzovom lesu« (dt.: »Bach im Birkenwald«), 1883)), eröffnet der Name des Protagonisten ein weiteres Spannungsfeld zwischen Eigenem und Fremdem.

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in Birks Wahrnehmung das Visuelle, was der Protagonist sogar selbst betont: »[…] с самого детства зрительные ощущения являлись для меня преобладающими«;1341 auch dies kann als Prädisposition für die spätere Doppelgängervision gewertet werden. In Übereinstimmung hierzu nimmt der Protagonist seine Mitmenschen ebenfalls nur als visuelle (und auditive) Eindrücke wahr, sodass ihr Inneres, ihre Emotionen ihm unzugänglich bleiben. Dies wird besonders deutlich, als Birk die Aufregung der Menge nach dem Unfall des Mädchens folgendermaßen beschreibt: […] я видел одни формы людей, колеблющиеся, размахивающие руками; черты лиц, меняющие выражение; слышал то громкие, то тихие восклицания; шумные вздохи прибежавших издалека; но это были только звуки и линии, формы и краски, неспособные дать мне малейшее представление о чувствах, волновавших толпу.1342

Wie bei der Beschreibung der Stadt sind es Formen und Farben, d. h. ausschließlich äußere Merkmale, die Birk wahrnimmt. Seine Entfremdung erstreckt sich somit also letztlich auf alle Bereiche seines Lebens: auf seine nähere (Stadt) und weitere Umgebung (Natur), auf deren Bewohner, auf das Leben und sich selbst. Damit treffen auf Birk alle klassischen Dimensionen der Entfremdung zu, die in der romantischen gothic novel der von seinem Doppelgänger heimgesuchte Protagonist, »estranged from nature, from his fellow humans, and from himself«,1343 aufweist.1344 Die inneren Voraussetzungen für die phy1341 RB , 340. Dt.: »[…] von Kindheit an waren die visuellen Sinneseindrücke für mich die dominanten«. 1342 RB , 339 f.; Hervorhebung im Original. Dt.: »[…] ich sah einzig die Formen der Menschen, schwankend, mit den Armen fuchtelnd; die Gesichtszüge, ihren Ausdruck verändernd; ich hörte mal laute, mal leise Ausrufe; geräuschvolle Seufzer der aus der Ferne Heraneilenden; aber das waren nur Geräusche und Linien, Formen und Farben, die mir nicht die kleinste Vorstellung von den Gefühlen geben konnten, die die Menschenmenge aufwühlten.« In auffällig ähnlicher Weise wird in der Erzählung »›Ona‹« das Gefühl der sozialen Fremdheit des namenlosen Protagonisten ausgedrückt: »Миллионы людей шли мимо, и миллионы эти были не нужны ему. Он был чужой для них, они были для него – звук, число, название, пустое место.« (ON, 274 f. Dt.: »Millionen von Menschen gingen vorüber, und diese Millionen brauchte er nicht. Er war für sie fremd, und sie waren für ihn – ein Klang, eine Zahl, ein Name, ein leerer Ort.«). 1343 Evans, Stephen C.: Existentialism. The Philosophy of Despair and The Quest of Hope. Dallas 1984, 31; zit. nach Schmid: The Fear of the Other, 69. 1344 Laing argumentiert in seiner kritisch gegenüber Erkenntnissen und Praktiken der Psychiatrie und Psychoanalyse eingestellten Studie »The Divided Self« (1959), die deutliche existentialistische Einflüsse, v. a. Kierkegaards, aufweist, in sehr ähnlicher Weise. Er betont den Zustand der »despairing aloneness and isolation« (Laing, R. D.: The Divided Self. An Existential Study in Sanity and Madness. Harmondsworth 1965, 17) des gespaltenen – in Laings Terminologie: schizoiden – Subjekts. Die Spaltung betrifft dabei,

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sische Ich-Spaltung sind damit gegeben. Diese realisiert sich anschließend in mehreren Schritten, die im folgenden Teil genauer vorgestellt werden. Doppelgänger-Vorgänger: Schatten und Spiegelbild Während die Vorbereitung der Doppelgängererscheinung auf der Ebene des Textinhalts durch die Darstellung der zunehmenden Entfremdung des Prota­ gonisten erfolgt, beruht diese, wie eingangs erwähnt, strukturell in wesentlichem Maße auf dem Prinzip der Verdoppelung an zahlreichen weiteren Stellen des Textes sowie der Überschreitung bzw. Aufhebung von Grenzen. Dabei dominiert die erste der beiden Strategien den Anfang der Binnenerzählung, die zweite wird vor allem, aber nicht ausschließlich, im zweiten Teil entwickelt. Das Muster der Verdoppelung beginnt mit dem ersten Ereignis – im Lotman’schen Verständnis der Versetzung des Helden über eine semantische Grenze  – der Binnenerzählung, die bis zu diesem Punkt ausschließlich aus (nicht ereignishaften) Reflexionen des Protagonisten über den eigenen Zustand besteht: Eines Nachts zieht Birk die Konsequenz aus seiner allumfassenden Fremdheit und beschließt, Suizid zu begehen.1345 Das Sujet der Erzählung setzt also mit der größten denkbaren Grenzüberschreitung, derjenigen zwischen Leben und Tod, ein. Obwohl dieser Übergang in der von Birk geplanten Form nicht gelingt, kommt es trotzdem zu einer Transgression, nämlich der Grenzen des Körpers des Protagonisten. Birks leibliche Verdoppelung beginnt an einem entscheidenden Moment sowohl von Birks Existenz als auch der Erzählung, was ihr zusätzliches Gewicht verleiht. Genau in dem Moment, als der Protagonist den Finger an den Abzug der Pistole legt, um sich das Leben zu nehmen, erblickt er seinen Schatten an der Wand.1346 Diese erste Doppelung vollzieht sich also noch in einer gänzlich alltäglichen Art und Weise. Der Schatten ist der letzte Sinneseindruck, bevor Birk, mit der Hand am Abzug des Revolvers, ohnmächtig wird. Damit endet der Suizidversuch paradox, da er zu einer Verdoppelung des Ich anstelle seiner intendierten vollständigen Vernichtung führt. Das Motiv des Schattens taucht bereits zuvor als »[в]печатление тени«1347 in Verbindung mit der Beschreibung der Stadt auf, fügt sich also in die Reihe der bereits zuvor identifizierten Gegensatzpaare Stadt / Natur, dunkel / hell

wie in »Rasskaz Birka«, sowohl den Bruch in der Beziehung des Ich zur Welt als auch den im Verhältnis des Ich zu sich selbst (vgl. ebd. 17 f.; vgl. dazu Schmid: The Fear of the Other, 70 u. 72). 1345 Vom diegetischen Erzähler selbst wird diese Entscheidung nicht unmittelbar auf seine umfassende Fremdheit, sondern auf einen ihrer Auslöser, das Gefühl des übermächtigen und allgegenwärtigen odnoobrazie, zurückgeführt (vgl. RB , 341). 1346 Vgl. RB , 342. 1347 RB , 341; Hervorhebung im Original. Dt.: »Impression eines Schattens«.

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und monoton / abwechslungsreich ein  – und zwar auf Seiten des verhassten odnoobrazie. Allerdings zeigt gerade das Paar Schatten / Licht die Untrennbarkeit der vermeintlichen Gegensätze, da die Existenz des Schattens an die des Lichts gebunden ist  – wie auch die des Doppelgängers an die des Originals. Die Verwebung von Eigenem und Fremdem, von Protagonist und Schatten-Doppelgänger wird dabei durch den primären Erzähler der Rahmenhandlung implizit verstärkt, wenn er bereits in seiner ersten Beschreibung von Birks ­Äußerem feststellt, dass »от тени лицо этого человека казалось смуглым«.1348 Eine psychoanalytische Interpretation des Schattens, der per se eine Verdoppelung darstellt, als personifizierter Doppelgänger des Ich findet sich bereits bei C. G. Jung. Dort verkörpert er »die dunklen Aspekte der Persönlichkeit«,1349 d. h. die fremde (unvertraute), unbewusste, verdrängte Seite des Ich. Die Konfrontation mit dem eigenen Fremden stellt Jung zufolge einen unabdingbaren Schritt im Prozess der Selbsterkenntnis dar. Wird dieser Schatten jedoch nicht als Teil des Ich anerkannt und verdrängt, kommt es schließlich zu seiner Projektion in die Außenwelt,1350 wo er dem Individuum als eine Art Double gegenübertritt und es nicht selten sogar verfolgt. »Der Doppelgänger […] kann also dem Schattenwesen der Persönlichkeit gleichgesetzt werden, all den Eigenschaften und Wünschen, die das Ich versäumt hat zu realisieren.«1351 Jungs Ansatz stimmt in seinem Verständnis des Schatten-Doppelgängers als ursprünglich eigene, aber verdrängte und schließlich an die Oberfläche zurückgekehrte Seite des Ich mit der Doppelgängertheorie Freuds in seinem Aufsatz »Das Unheimliche« (1919) überein. Birks Schatten an der Wand des Zimmers stellt allerdings erst eine Vorstufe zu einem autonomen Doppelgänger dar, da er noch nicht selbst agiert, sondern lediglich die Bewegungen des Protagonisten abbildet. Dennoch unterscheidet er sich in zweifacher Hinsicht vom Original: zum einen bezüglich seiner Position im Raum, die sich durch die Bachtin’sche vnenachodimost’ gegenüber dem Ersten Ich auszeichnet; zum anderen sind die Umrisse eines Schattens, abhängig von der Position des Lichts, fast unvermeidlich mehr oder weniger stark verzerrt. Insofern ist auch der nichteigenständige Schatten bereits ein Fremder, wenn er auch noch eng an das originale Ich gebunden ist. Zwar stellt der diegetische Erzähler keine explizite kausale Verbindung zwischen dem Anblick des Schattens und der Ohnmacht her, allerdings wird sie durch das unmittelbare zeitliche Aufeinanderfolgen suggeriert. Dafür

1348 1349 1350 1351

RB , 337. Dt.: »durch den Schatten schien das Gesicht dieses Mannes dunkel«.

Jung: Gesammelte Werke. Neunter Band, 16. Vgl. ebd., 17 f. Derjanecz: Das Motiv des Doppelgängers, 12.

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bietet die genannte Interpretation des Schattens nach Jung als Ausdruck der Unvollständigkeit des Ich-Bewusstseins infolge der Negation des eigenen Unbewussten einen Erklärungsansatz. Sein inneres Fremdes tritt dem Protagonisten nun erstmals außerhalb seiner selbst gegenüber und macht ihm seine Selbstentfremdung bewusst. Verstärkt wird die Erkenntnis über die intrasubjektive radikale Fremdheit des Protagonisten durch denselben Gegensatz, der auch schon seine Fremdheit gegenüber seinen Mitmenschen begründet hat – die Todesnähe des bewussten, rationalen Teils des Ich vs. der Lebenswille des unbewussten Teils: »Меня удивлял пароксизм ужаса перед моментом спуска курка. Инстинкт, не подвластный логике, цеплялся за жизнь, которая от общих своих основ и до самых последних мелочей была мне противна […].«1352 Der bewusste Anteil des Ich wird vom Erzähler dabei als das eigen(tlich)e Ich gefasst, wie an seiner Verwendung des Pronomens mne (dt.: mir) deutlich wird, während der unbewusste Anteil in der dritten Person (wie Freuds ›Es‹) auftritt, als Instinkt, der wie eine fremde Entität dem Willen des eigentlichen Ich entgegensteht. Der fremde Lebenswille regt sich in dem Augenblick, als der Held dem Tod näherkommt, als er ihm ohnehin schon ist – und das auch visuell. Denn jedes Schattenbild birgt das Moment einer Auflösung der Grenzen zwischen den Dingen, da in ihm die Umrisse verschiedener Entitäten miteinander verschmelzen können (wie in »Noč’ju i dnëm« von Grin eindrücklich dargestellt) – hier von lebendiger Hand und todbringendem Revolver. Der Moment des Zuckens von Birks Finger am Abzug schließlich ist so überwältigend fremd, liegt außerhalb des mit Worten Fassbaren – »я испытал нечто, не поддающееся описанию« –,1353 dass das Bewusstsein kapituliert und, ähnlich wie bei Robert aus »Propavšee solnce«, eine erlösende Bewusstlosigkeit einsetzt. Trotz des einschneidenden nächtlichen Erlebnisses ist Birk am nächsten Morgen, als er wieder zu Bewusstsein kommt, noch immer unfähig, dieser Unvollständigkeit und Entfremdung seiner selbst durch den Dialog mit einem Anderen aktiv entgegenzuwirken, und vertieft sich daher erneut in die monologische Beschäftigung mit sich selbst. An dieser Stelle erwähnt der sekundäre diegetische Erzähler erstmals seine außerordentlich starke nervliche Anspannung, die auf inhaltlicher Ebene ebenfalls die Doppelgängervision vorbereitet, da sie die psychische Instabilität des Protagonisten verdeutlicht und eine Halluzination wahrscheinlicher macht: »Последовавший затем период отчаяния достиг такой напряженности, что я шесть дней не выходил из 1352 RB , 342; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Mich erstaunte der Anfall von Grauen vor dem Moment des Abdrückens des Abzugs. Der Instinkt, der der Logik nicht untersteht, klammerte sich an das Leben, das mir von seinen allgemeinen Grundlagen bis hin zu den allerletzten Kleinigkeiten zuwider war […].«. 1353 RB , 342. Dt.: »ich empfand etwas, das sich nicht beschreiben lässt«.

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дома.«1354 Auch während seines nächtlichen Streifzugs durch die Stadt und schließlich durch das (eigen-fremde)  Haus befindet er sich noch in diesem Zustand: »Нервы мои были так напряжены, что я чувствовал движение времени […]«.1355 Bereits hier zeigt sich, dass Birks Sinneswahrnehmung ihre gewöhnlichen Grenzen überschreitet  – wie auch später bei der Vision seines Doubles. Im Haus verschwindet seine Anspannung vorübergehend, als er vor einer verschlossenen Türe steht, befällt ihn jedoch kurz darauf erneut.1356 Selbst mit zeitlichem Abstand zu den Ereignissen versetzt die Erinnerung daran Birk immer noch in einen Zustand so starker Anspannung, dass auch der primäre Erzähler der Rahmenhandlung dies explizit hervorhebt: »[…] я почувствовал сильнейшее нервное напряжение Бирка.«1357 Die Tage nach seinem gescheiterten Selbstmordversuch verbringt Birk nicht nur hochgradig angespannt, sondern zudem in einem Weinrausch, während dem er »громко рассуждал сам с собой«1358 und vom Klang seiner eigenen Stimme fasziniert ist.1359 Der bislang die Erzählung dominierende innere Monolog des Protagonisten entwickelt sich hier also zu einem laut ausge­ sprochenen Dialog mit sich selbst – ein weiteres Voranschreiten der Ich-Spaltung Birks. Am Ende dieser knappen Woche kommt es schließlich zur zweiten Verdoppelung des Helden in Form seines Spiegelbilds. Wie der Schatten dient auch das Spiegelbild in der Psychologie und Psychoanalyse, aber auch in der Literatur als Metapher für die unausweichliche immanente Fremdheit des eigenen Ich. Trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze zeigen sich in einer Reihe von Studien frappierende Übereinstimmungen, auf die im Folgenden eingegangen wird. Im Spiegelbild verbinden sich noch deutlicher als im Schatten zwei miteinander verknüpfte Aspekte des Fremden: das Äußere des Ich, d. h. sein Leib, als Gegenstück zum Inneren (also je nach Interpretation dem Geist, der Seele, der Psyche, dem Unterbewusstsein), sowie der äußere, fremde Blick im Gegensatz zum inneren, eigenen. Bereits Otto Rank konstatiert eine »Gleichwertigkeit des Spiegel- und des Schattenbildes, die beide als selbständig gewordene Ebenbilder dem Ich entgegentreten«.1360 Auch Jungs Verständnis des Schattens als Verkörperung der nichtanerkannten fremden Seiten des Ich kann auf das Spiegelbild übertragen werden, welches, als objektive Reflexion des Gegebenen, symbolisch ebenfalls 1354 RB , 342. Dt.: »Die danach folgende Periode der Verzweiflung erreichte eine solche Intensität, dass ich sechs Tage nicht aus dem Haus ging.«. 1355 RB , 343. Dt.: »Meine Nerven waren so angespannt, dass ich die Bewegung der Zeit fühlte […]«. 1356 Vgl. RB , 347. 1357 RB , 338. Dt.: »[…] ich fühlte die äußerst starke nervliche Anspannung Birks.«. 1358 RB , 342. Dt.: »laut mit sich selbst sprach«. 1359 Vgl. RB , 342. 1360 Rank: Der Doppelgänger, 16.

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eben jene verdrängten, verborgenen Ich-Anteile aufzeigt, die dem subjektiven Blick des Ich alleine nicht zugänglich sind.1361 In »Rasskaz Birka« tritt das Spiegelbild allerdings noch nicht als selbstständige, vom Original unabhängige Entität auf, sondern hat wie der Schatten die Funktion eines DoppelgängerVorgängers. Ein analoges Muster findet sich unter anderem auch in Dosto­ evskijs »Dvojnik«1362 und in Gogol’s »Nos«, wo jeweils der Blick des Protagonisten in den Spiegel den Doppelgängerwahn auslöst.1363 Darüber hinaus kann der Schatten seinerseits als Vorgänger des Spiegelbilds gewertet werden, sodass sich ein Muster der kontinuierlichen Steigerung von Schatten über Spiegelung bis hin zum eigentlichen Doppelgänger sowohl hinsichtlich ihrer jeweiligen Autonomie gegenüber dem Original als auch ihrer Konkretheit – als Umriss, Abbild und leibliche Person – ergibt. In der sechsten Nacht seines Alkoholrausches erwacht Birk »дрожа от беспричинного страха«.1364 Den vermeintlich unbekannten Grund für seine intensiv empfundene Angst suggeriert die Erwähnung seines Spiegelbilds im unmittelbar darauffolgenden Satz, was wiederum dessen Assoziation mit dem unheimlichen Doppelgänger nahelegt. Die Tatsache, dass die Angst durch Birk bereits vor dem Blick in den Spiegel empfunden wird, weist auf die oben erwähnte, notwendige innere Disposition des Protagonisten als Voraussetzung für eine spätere Doppelgängervision hin. Diese zweite Verdoppelung Birks erfolgt ebenfalls in einem prinzipiell natürlich-rationalen Rahmen. Allerdings ist sie schon nicht mehr vollkommen alltäglich, denn Birk sieht sich selbst im Spiegel, erkennt sich aber nicht sofort.1365 Einerseits ist sich der diegetische Erzähler bewusst, dass es sich bei 1361 Vgl. Derjanecz: Das Motiv des Doppelgängers, 48. An dieser Stelle liegt ein Unterschied zwischen Freud und Jung vor: Für Freud ist es nicht das Unbewusste, also das Es, das sich im Spiegel zeigt, sondern das Über-Ich (vgl. Wöll: Doppelgänger, 232). Die vorliegende Studie folgt der Interpretation Jungs. 1362 Vgl. Dostoevskij: Dvojnik, 109 f. 1363 Vgl. Rosenthal, Richard J.: Dostoevsky’s experiment with projective mechanisms and the theft of identity in The Double. In: Rancour-Laferriere, Daniel (Hg.): Russian Literature and Psychoanalysis. Amsterdam, Philadelphia 1989, 59–88, hier 66; Wöll: Doppelgänger, 133. Zum Zusammenhang von Spiegel und Wahnsinn vgl. auch Brjusovs Erzählung »V zerkale. Iz archiva psichiatra« (1903; dt.: »Im Spiegel. Aus dem Archiv eines Psy­ chiaters«; vgl. Brjusov, Valerij Ja.: V zerkale. Iz archiva psichiatra. In: Ders.: Rasskazy i povesti. Nachdruck der Ausgaben von 1907, 1913 und 1934, vermehrt um weitere Texte und mit einer Einleitung von Dmitrij Tschižewskij. München 1970, 117–128). 1364 RB , 343. Dt.: »zitternd vor grundloser Angst«. 1365 Das Moment des Nichterkennens seiner selbst liegt auch dem Doppelgänger Goljadkins zugrunde. Anders als bei Birk, der sich, wie ausgeführt, aus der Gesellschaft zurückzieht und daher ihrem Urteil über ihn keine Relevanz zumisst, erscheint in »Dvojnik« der Doppelgänger in dem Moment, »wo die Kluft zwischen dem realen, gedemütigten Goljädkin [sic!] und seinem idealen Ich so unerträglich geworden ist, daß er sich buchstäblich selbst nicht wiedererkennt.« (Hildenbrock, Aglaja: Das andere Ich. Künstlicher

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der Spiegelung nicht um eine andere Person handelt: »Кроме меня, в комнате никого не было […]. Это было мое лицо.«1366 Birk reagiert durch die Verunsicherung durch ein manifest gewordenes intrasubjektives radikal Fremdes also mit dem Versuch einer Versicherung des Eigenen. Andererseits blickt ihn ein fremdes Gesicht aus dem Spiegel an, »лицо, воспаленное пьянством, страшное и жалкое«,1367 der Akt der Versicherung schlägt also fehl. Die Ich-Spaltung in Form einer beginnenden Bewusstwerdung der Nichtübereinstimmung zwischen betrachtender Person (russ.: ličnost’) und betrachtetem Gesicht (russ.: lico) hat sich hier noch nicht vollständig vollzogen. Jedoch gewinnt der Doppelgänger zunehmend an Eigenständigkeit, denn das Spiegelbild blickt nicht nur ebenso aktiv wie das Original, sondern sein Blick geht diesem sogar voraus: »[…] из большого туалетного зеркала смотрело лицо, […] я смотрел на него […]«.1368 Wöll verweist auf den Spiegel als Ort des Kampfes der Blicke darum, wer von beiden Subjekt, d. h. Erstes Selbst, und wer Objekt, d. h. Zweites Selbst ist.1369 Dieses Duell entscheidet in »Rasskaz Birka« der Protagonist vor dem Spiegel für sich, da er insgesamt die primäre, aktivere Instanz darstellt. Nichtsdestotrotz wird hier der Zwischenzustand des Spiegel-Ich zwischen Eigenem und Fremdem besonders deutlich, denn der Blick des Protagonisten in den Spiegel richtet sich »на него, не узнавая себя«.1370 In welchem Maße »Selbsterkennung und Selbstverkennung«,1371 wie Birk sie erfährt, von frühester Kindheit an miteinander einhergehen, führt Jacques Lacan in seiner Theorie des »Spiegelstadiums« (frz.: le stade du miroir) aus. Ausgehend von der Beobachtung, dass Säuglinge ab dem Alter von etwa einem halben Jahr ihr eigenes Spiegelbild freudig als solches erkennen, interpretiert Lacan das Spiegelstadium als Moment der Konstitution des Selbst als »une identification au sens plein que l’analyse donne à ce terme: à savoir la transformation produite chez le sujet, quand il assume une image […]«.1372 Mensch und Doppelgänger in der deutsch- und englischsprachigen Literatur. Tübingen 1986, 163; zit. nach Derjanecz: Das Motiv des Doppelgängers, 78). 1366 RB , 343. Dt.: »Außer mir war niemand im Zimmer […]. Das war mein Gesicht.«. 1367 RB , 343. Dt.: »ein Gesicht, durch den Suff entzündet, schrecklich und erbärmlich«. 1368 RB , 343. Dt.: »[…] aus dem großen Toilettenspiegel blickte ein Gesicht, […] und ich blickte auf es […]«. 1369 Vgl. Wöll: Doppelgänger, 234. 1370 RB , 343; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »auf ihn, ohne sich zu erkennen«. Zum Erkennen und doch Nichterkennen des eigenen Spiegelbilds vgl. auch die Überlegungen von Waldenfels, der aus der Feststellung, dass »Sehender und Gesehener nie zusammenfallen« (Waldenfels: Topographie des Fremden, 30) das Erschrecken vor dem eigenen Spiegelbild, das bis zum Suizid führen kann, ableitet (vgl. ebd., 30 f.). 1371 Waldenfels: Der Anspruch des Fremden, 43. Waldenfels macht das nicht deutlich, referiert hier aber vermutlich auf den Begriff der »Verkennungsfunktion« bei Lacan, im Original: »fonction de méconnaissance« (Lacan: Le stade du miroir, 455). 1372 Ebd., 450.

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Auch hinsichtlich ihrer entwicklungspsychologischen Bedeutung weist die Konfrontation mit dem Spiegelbild damit deutliche Parallelen zur das Ich vervollständigenden Begegnung mit dem eigenen Schatten nach C. G. Jung auf.1373 Jedoch handelt es sich bei dieser im Spiegelstadium erlangten Identität aufgrund einer sogar zweifachen »discordance d’avec sa propre réalité«1374 lediglich um eine Illusion. Zum Ersten steht die vor-gespiegelte Einheit des Ich, die durch die Reflexion des eigenen Körpers als Ganzer im Spiegel erstmals erfahren wird, einem von dem Säugling motorisch und mental noch als zerstückelt wahrgenommenen Körper entgegen, sodass diese antizipierte Einheit lediglich »un mirage«1375 darstellt. Zum Zweiten zeigt die Spiegelung ein verfremdetes Ich, da wir es »mit fremden Augen sehen«1376 – weshalb Lacans Spiegel auch als Metapher für den Blick von außen, d. h. des Anderen, auf das Individuum, fungiert. Der Spiegel zeigt das abgebildete Ich aus einer fremden, da äußerlichen Perspektive, spiegelverkehrt,1377 und zudem, worauf Foucault hinweist, an einem anderen Ort als dem, wo sich das Ich befindet.1378 Der ambivalente, real-fiktive Charakter des im Spiegelstadium erzeugten Ich als Einheit kommt auch in dem von Lacan, neben dem deutschen Begriff »Gestalt«,1379 verwendeten antiken Begriff der Imago zum Ausdruck, der sowohl das Abbild als auch das Trugbild (auch: Traumbild, Vorspiegelung) bezeichnet.1380 Diese Doppeldeutigkeit der Spiegelung wird zusätzlich durch die etymologische Nähe von miroir (dt.: Spiegel) und mirage (dt.: Illusion, Trugbild) gestützt. Die im Prozess der Identifikation verdrängte Diskrepanz zwischen Original und nur scheinbar identischem Spiegelbild bedeutet eine Aufnahme des Fremden ins eigene Selbst und damit letztlich eine Selbstentfremdung im Moment der Selbstkonstitution, eine »destination aliénante«.1381 In diesem Sinne erweist sich ausgerechnet das am Ursprung der Identität Stehende und somit vermeintlich Ureigene als das Uneigene, sodass das Ich notwendigerweise 1373 Die Verknüpfung von Identität und eigenem Spiegelbild wird auch in der Literatur immer wieder zum Thema, vgl. beispielsweise E. T. A. Hoffmann: »Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde« (1814). 1374 Lacan: Le stade du miroir, 450. 1375 Ebd. 1376 Waldenfels: Phänomenologie des Eigenen, 71. 1377 Vgl. Lacan: Le stade du miroir, 450. 1378 Vgl. Foucault: Des espaces autres, 756. Der Spiegel ist nach Foucault zugleich Utopie und Heterotopie, denn er zeigt einen nicht real existierenden und zugleich einen real existierenden Ort (vgl. ebd.). 1379 Lacan: Le stade du miroir, 450 f. 1380 Vgl. ebd.; Langenscheidt: Handwörterbuch Lateinisch-Deutsch. Berlin u. a. 1983, 297. Der Begriff Imago geht im Kontext der Psychoanalyse auf Jung zurück (vgl. z. B. Jung, C. G.: Gesammelte Werke. Fünfter Band. Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie. Olten, Freiburg i. Br. 1973, 65). 1381 Lacan: Le stade du miroir, 451.

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stets in einem Spannungsfeld zwischen Eigenem und Fremdem agiert. Auf der Verdrängung dieser Tatsache beruht auch die von Freud untersuchte Unheimlichkeit des Doppelgängers; hierauf wird weiter unten noch eingegangen. Auch Bachtin widmet dem Spiegel als Medium der illusorischen Vervollständigung des Ich eine Reihe von Überlegungen. Aus seiner oben vorgestellten, grundlegenden Unterscheidung zwischen eigenem und fremdem Bewusstsein leitet er eine Dichotomie zwischen dem inneren, privaten Kern des Ich und seinem Äußeren ab. Die eigene äußere Gestalt verwehrt sich prinzipiell dem Sehen des Ja-dlja-sebja,1382 da dieses seinen Leib nur von innen und damit »лишь в виде разрозненных обрывков, фрагментов«1383 erlebt. Einige Körperteile, z. B. das Gesicht, sowie der Körper als Ganzes sind für das Ich allein sogar vollständig unzugänglich. Dieses Phänomen eines über das eigene Bewusstsein Hinausgehenden bezeichnet Bachtin als transgredientnost’1384 des eigenen Äußeren bzw. von Teilen der eigenen Existenz an sich, welche einen Blick von außen – das Bestehen eines Ja-dlja-drugogo –1385 für die Selbstkonstituierung unabdingbar macht.1386 Zum selben 1382 Dt.: Ich-für-mich-selbst (Bachtin: Probleme der Poetik, 231; im Original ohne Bindestriche). Bachtin definiert in »Problemy poėtiki Dostoevskogo« das Ja-dlja-sebja (hier in der Schreibweise ja dlja sebja) als »[с]ознание себя самого«, das Ja-dlja-drugogo (ja dlja drugogo) als »сознани[е] о нем другого« (Bachtin: Problemy poėtiki, 231. Dt.: »ich für mich selbst«; »Bewußtsein seiner selbst«; »ich für den anderen«; »Bewußtsein[…] […], das ein anderer von ihm hat« (Bachtin: Probleme der Poetik, 231)). 1383 Bachtin: Avtor i geroj, 108. Dt.: »[n]ur bruchstückhaft, fragmentarisch« (Bachtin: Autor und Held, 82). 1384 Vgl. Bachtin: Avtor i geroj, 203. Dt.: »Transgredienz« (Bachtin: Autor und Held, 197). 1385 Dt.: Ich-für-den-anderen (Bachtin: Probleme der Poetik, 231; im Original ohne Bindestriche). 1386 Vgl. dazu Bachtins Übertragung der Tätigkeit des Autors auf die des Subjekts an sich: »Согласно прямому отношению, автор должен стать вне себя, пережить себя не в том плане, в котором мы действительно переживаем свою жизнь; только при этом условии он может восполнить себя до целого трансгредиентными жизни из себя, завершающими ее ценностями, он должен стать другим по отношению к себе самому, взглянуть на себя глазами другого; правда, и в жизни мы это делаем на каждом шагу, оцениваем себя с точки зрения других, через другого стараемся понять и учесть трансгредиентные собственному сознанию моменты: так, мы учитываем ценность нашей наружности с точки зрения ее возможного впечатления на другого – для нас самих непосредственно эта ценность не существует (для действительного и чистого самосознания), – учитываем фон за нашей спиной, т. е. все то окружающее нас, чего мы непосредственно не видим и не знаем и что не имеет для нас прямого ценностного значения, но что видимо, значимо и знаемо другими, что является как бы тем фоном, на котором ценностно воспринимают нас другие, на котором мы выступаем для них […]« (Bachtin: Avtor i geroj, 97 f. Dt.: »Bei einer direkten Beziehung muss der Autor aus sich heraustreten, sich nicht in jener Ebene erleben, in der man sein Leben wirklich erlebt. Nur unter dieser Bedingung gelingt es ihm, sich durch dem Leben an sich transgrediente, es abschließende Werte zu einem Ganzen zu formen. Er muss in Bezug auf sich selbst zu einem Anderen werden,

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Ergebnis kommt auch Waldenfels, wenn er schreibt: »Ich begegne mir im Blick der Anderen.«1387 Bachtins Ansatz weist diesbezüglich also deutliche Parallelen zu Lacans auf, auch wenn Letzterer diese ›zerstückelte‹ Situation nicht als dauerhaften Zustand, sondern als vorübergehende Phase in den ersten Lebensjahren des Kindes beschreibt. Allerdings beginnt für Bachtin die persönlichkeitsformierende Interaktion zwischen Ich und Anderem ebenfalls im frühesten Kindesalter. Die Annahme und Anerkennung seiner selbst und seines Körpers geschieht anfangs durch die ihm nächsten Menschen, v. a. die Mutter, später dann durch den Anderen.1388 Die stets unabdingbare Instanz der Exteriorität durchläuft bei Bachtin also mit der Zeit eine Ausweitung von mother zu other.1389 Der Gedanke eines durch das gegenseitige Bedürfnis nach dem Blick des Anderen erzeugte »chiasma de deux ›destinés‹«1390 kommt auch in Paul Valérys »Tel Quel« (1941) zum Ausdruck: »Tu prends mon image, mon appaauf sich mit den Augen eines Anderen blicken. Freilich tut man das auch im Leben auf Schritt und Tritt. Man bewertet sich aus der Sicht der Anderen, durch den Anderen sucht man, dem eigenen Bewusstsein transgrediente Momente zu begreifen und zu berücksichtigen: So berücksichtigen wir den Wert unseres Äußeren vom Standpunkt seines möglichen Eindrucks auf den Anderen – für uns selbst (für das tatsächliche und reine Selbstbewusstsein) existiert dieser Wert unmittelbar gar nicht –, wir berücksichtigen den Hintergrund hinter unserem Rücken, d. h. all das, was uns umgibt, was wir unmittelbar nicht sehen und wissen und was für uns keine direkte werthafte Bedeutung hat, was allerdings für die Anderen sichtbar, bedeutsam ist und wovon sie Kenntnis haben, gleichsam jenen Hintergrund, vor dem uns die Anderen wertend zur Kenntnis nehmen, vor dem wir für die Anderen agieren« (Bachtin: Autor und Held, 69 f.)). 1387 Waldenfels: Topographie des Fremden, 31. Derselbe Gedanke kommt bereits in Karamzins »Pis’ma russkogo putešestvennika« (1790) zur Sprache. In einem Gespräch mit einem Prager Studenten auf dem Weg nach Meißen liest Karamzin eine Stelle aus einem Brief von Lavater vor: »›Глаз, по своему образованию, не может смотреть на себя без зеркала. Мы созерцаемся только в других предметах. Чувство бытия, личность, душа  – все сие существуeт единственно по тому, что вне нас существует,  – по феноменам или явлениям, которыя до нас касаются.‹« (Karamzin, Nikolaj M.: Pis’ma russkogo putešestvennika, 57. Dt.: »›Das Auge ist so organisiert, daß es sich nicht selbst beschauen kann ohne Spiegel. Auch unser Ich sieht sich nur im Du [wörtl.: Wir sehen uns nur in anderen Gegenständen]. Das Gefühl der Existenz, die Persönlichkeit, die Seele – all dies ist nur durch das da, was außer[halb von] uns da ist, durch die Phänomene oder Erscheinungen, die sich uns zeigen.‹« (Karamsin, Briefe eines russischen Reisenden, 123). 1388 Vgl. Bachtin: Avtor i geroj, 129. 1389 Vgl. Pirog: Bakhtin and Freud, 408. 1390 Valéry, Paul: Choses tues. In: Ders.: Tel quel. T. 1. Paris 1941, 9–82, hier 41. Vgl. hierzu auch Waldenfels: »Die Aneignung des Blicks, die darin zum Ausdruck kommt, dass wir etwas ›mit eigenen Augen‹ zu sehen beanspruchen, beginnt nicht im Eigenen; sie beginnt in einer Zone des ›Synkretismus‹, wo Eigenes sich mit Fremdem chiasmatisch verschränkt.« (Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 3. Frankfurt a. M. 1998, 128).

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rence, je prends la tienne. Tu n’es pas moi, puisque tu me vois et que je ne me vois pas. Ce qui me manque c’est ce moi que tu vois. Et à toi, ce qui manque, c’est toi que je vois«.1391 Die Gegenseitigkeit des Bedürfnisses nach dem Anderen lässt auch Bachtin auf das trügerische Phänomen des eigenen Spiegelbilds eingehen: По-видимому, здесь мы видим себя непосредственно. Но это не так: мы остаемся в себе самих и видим только свое отражение, которое не может стать непосредственным моментом нашего видения и переживания мира: мы видим отражение своей наружности, но не себя в своей наружности, наружность не обнимает меня всего, я – перед зеркалом, а не в нем […].1392

Diese Nichtübereinstimmung wird von Grin nicht nur in »Rasskaz Birka« thematisiert, sondern auch in einer anderen Kurzgeschichte, »Lošadinaja golova« (1923; dt.: »Der Pferdekopf«), deren Protagonist Ficroj in einen Spiegel blickt und von der Diskrepanz zwischen seinem reflektierten Äußeren und seiner Innenwelt irritiert ist: »Даже видя лицо, ему было трудно поместить внутренний мир свой в черты зеркального двойника […].«1393 Das Lexem »поместить«1394 verweist dabei auch auf die doppelte räumliche Verschiebung zwischen dem Ort vor und im Spiegel wie auch zwischen Innerem und Äußerem. Bezeichnenderweise stellt Ficroj daraufhin mit beinahe exakt denselben Worten wie Birk und ebenfalls in einem versuchten Akt der Selbstversicherung fest: »›Это мое лицо.‹«1395 Original und Spiegelung divergieren für Bachtin jedoch nicht nur in ihrer räumlichen Verortung, auch die Genuinität des jeweiligen Blicks auf sie unterscheidet sich. Hierbei nimmt Bachtin seine einige Absätze zuvor entwickelte These wieder auf, der zufolge der Blick auf sich selbst prinzipiell nur von innen heraus erfolgen kann und daher für den Zugang zum äußeren Ich der bereits vorgestellte »избыток […] ви´дения«1396 des außerhalb befindlichen Anderen unverzichtbar ist. In der Interaktion mit dem realen Anderen erfolgt 1391 Valéry: Choses tues, 41 f. 1392 Bachtin: Avtor i geroj, 112. Dt.: »Scheinbar erblickt man sich hier unmittelbar selbst. Aber dem ist nicht so, wir verbleiben doch in uns […] [selbst] und sehen lediglich unsere Widerspiegelung, die nicht zum unmittelbaren Moment unseres Sehens und unseres Erlebens der Welt werden kann. Wir sehen die Spiegelung unseres Äußeren, nicht aber uns selbst in unserem Äußeren. Das Äußere umfasst mich nicht ganz, ich bin vor dem Spiegel und nicht in ihm […].« (Bachtin: Autor und Held, 87). 1393 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Lošadinaja golova. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 272–285, hier 274. Kürzel: LG . Dt.: »Sogar als er sein Gesicht sah, war es schwierig für ihn, seine innere Welt in den Zügen des Spiegeldoppelgängers unterzubringen […].«. 1394 LG , 274. Dt.: »unterbringen«, »hineinlegen«. 1395 LG , 275. Dt.: »›Das ist mein Gesicht.‹«. 1396 Bachtin: Avtor i geroj, 104; Hervorhebung im Original. Dt.: »Überschuss […] [des] Sehens« (Bachtin: Autor und Held, 77; Hervorhebung im Original).

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die Ergänzung des eigenen Horizonts durch den fremden Blick gleichsam automatisch. Steht eine Person hingegen allein vor dem Spiegel, kommt es notwendigerweise zur Konstruktion dieses fehlenden Anderen: »В самом деле, наше положение перед зеркалом всегда несколько фальшиво: так как у нас нет подхода к себе самому извне, то мы и здесь вживаемся в какого-то неопределенного возможного другого […]«.1397 Dieser lediglich »фиктивн[ый] друго[й]«1398 eröffnet, da es sich nicht um einen bestimmten, konkreten Menschen handelt, nur einen verfälschten bzw. verfälschenden Blick auf das Ich. Der Mensch vor dem Spiegel erblickt daher nicht »своего истинного лика, но лишь свою личину«.1399 Hierdurch erklärt sich für Bachtin der seltsame unnatürliche Gesichtsausdruck im Spiegel,1400 mit dem auch Birk konfrontiert ist. Der Spiegel bildet nach Bachtin somit weder den inneren Blick des Ich auf sich selbst ab, der ja weniger Blick als Empfindung (Ein-Fühlung) ist, noch den genuin äußeren Blick des Anderen, sondern stellt eine künstliche, verzerrte Mischform aus Innen- und Außenperspektive dar, die keiner der beiden Möglichkeiten gerecht wird. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Bachtins Ansatz wesentlich von Lacans, für den der eigene Blick in den Spiegel eine gleichwertige Variante zum Blick des Anderen darstellt. Bachtin lehnt daher im Gegensatz zu Lacan den Spiegel als ein lediglich illusorisches Mittel der Ich-Konstitution explizit ab. Während Selbsterkenntnis für Lacan das (Wieder-)Erkennen der Reflexion als Ich, d. h. die Gleichsetzung (Identifizierung) dieses Spiegel-Ich mit dem ›wahren‹ Ich trotz ihrer Nichtidentität, bedeutet, besteht sie für Bachtin gerade in einem Erkennen des gespiegelten Ich als bloße Projektion, also in der Auflösung dieser trügerischen Identifizierung und der Hinwendung zum realen Anderen. Nichtsdestoweniger enthalten beide Ansätze prinzipiell beide Möglichkeiten des Umgangs mit dem 1397 Bachtin: Avtor i geroj, 112. Dt.: »In Wirklichkeit hat unsere Stellung vor dem Spiegel immer etwas Falsches an sich: Da wir keinen Zugang zu uns selbst von außen haben, leben wir uns auch hier in einen unbestimmten, möglichen Anderen ein […]« (Bachtin: Autor und Held, 87). 1398 Bachtin: Avtor i geroj, 112. Dt.: »fiktive[…] Andere[…]« (Bachtin: Autor und Held, 86). 1399 Bachtin: Avtor i geroj, 112. Dt.: »sein wahres Antlitz […], sondern nur seine Larve« (Bachtin: Autor und Held, 86). 1400 Vgl. Bachtin: Avtor i geroj, 112. Die Gedanken zum Spiegelbild dienen Bachtin als Vorüberlegungen für seine Betrachtungen zur Situation des Künstlers, der vor der Aufgabe steht, sein Selbstporträt zu schaffen. Er muss sich hierfür der verfälschten »экспрессии отраженного лица« (ebd., 113; Hervorhebung im Original. Dt.: »Ausdruck[s] der widergespiegelten Person« (Bachtin: Autor und Held, 88; Hervorhebung im Original)) entledigen, indem er eine autoritative, tatsächlich außerhalb seiner selbst gelegene Position findet (vgl. Bachtin: Avtor i geroj, 113). Der Schriftsteller dagegen kann das eigene Äußere in einer autobiographischen Darstellung nie ganzheitlich wiedergeben, da dieses mit anderen Aspekten des Ich zu eng verflochten ist (vgl. ebd., 114).

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eigenen Spiegelbild und damit beide Sichtweisen auf den Spiegel: als Medium der Herstellung einer (vermeintlichen) Ei(ge)nheit wie auch der Ermöglichung einer Erkenntnis der eigenen Fremdheit. Denn auch Lacan verweist auf »le rôle de l’appareil du miroir dans les apparitions du double où se manifestent des réalités psychiques, d’ailleurs hétérogènes.«1401 Der Spiegel verkehrt sich damit auch bei Lacan potentiell vom Hilfsmittel der Ich-Vervollständigung zum Auslöser der Ich-Spaltung, letztlich also vom Medium der Identitätskonstruktion hin zum Medium der Identitätsdestruktion. Eben dieses letztere Potential eines gleichsam ›umgekehrten Spiegelstadiums‹ der Bewusstwerdung eines Nicht-Identisch-Seins mit sich selbst realisiert sich bei Birk in der oben beschriebenen Szene, in der ihm das eigene Gesicht im Spiegel wie das eines Fremden erscheint. Der im Zusammenhang mit Birks Reflexion angesprochene, durch die Entfremdung von seinen Mitmenschen notwendig gewordene Versuch einer Verlagerung des fremden Blicks ins Innere des Protagonisten, die bereits einen ersten Schritt zur Ich-Spaltung darstellt, wird an dieser Stelle wieder aufgenommen. Ihm entspricht, in Bachtins Lesart, der konstruierte, vermeintlich äußere Blick des fiktiven Anderen beim Blick in den Spiegel, der in einem verzerrten Bild des Ich resultiert.1402 Dieses Fehlen eines Anderen kommt in Birks scheinbar rein situationsbezogener Bemerkung »Кроме меня, в комнате никого не было […]«1403 zum Ausdruck, die zugleich eine allgemeine Beschreibung seiner sozial isolierten Lebenssituation und des Fehlens eines unabdingbaren Anderen darstellt. Auf die erste, innere Form der Reflexion, Birks Nachdenken über sich selbst, folgt hier also die zweite, äußerliche in Gestalt des reflektierten Spiegelbilds, das zugleich sichtbarer Ausdruck und Medium der Erkenntnis der eigenen Fremdheit ist – nämlich, wenn Birk feststellt: »Это было мое лицо.«1404 1401 Lacan: Le stade du miroir, 451. 1402 Ein Hinweis auf Birks Bewusstsein einer Diskrepanz zwischen der sinnlichen Wahrnehmung seines Ich und dessen wirklichem Wesen, die Lacan als »Discorde primordiale« (ebd., 452) zwischen dem Organismus und seiner Realität beschreibt, findet sich bereits in Birks Gedanken am Morgen nach seinem Suizidversuch: »Я был не я, а то, что давали мне в продолжение тридцати лет глаз, ухо и осязание.« (RB , 342. Dt.: »Ich war nicht ich, sondern jenes, was mir im Verlauf von dreißig Jahren das Auge, das Ohr und der Tastsinn gegeben hatten.«). 1403 RB , 343. Dt.: »Außer mir war niemand im Zimmer […]«. 1404 RB , 343; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Das war mein Gesicht.« Zur Kreuzung von eigenem und fremdem Blick im Spiegel vgl. Bachtin: »Раскрылась сложность простого феномена смотрения на себя в зеркало: своими и чужими глазами одновременно, встреча и взаимодействие чужих и своих глаз, пересечение кругозоров (своего и чужого), пересечение двух сознаний.« (Bachtin: K pererabotke knigi, 188. Dt.: »Die Komplexität des einfachen Phänomens, sich selbst im Spiegel anzusehen, wurde aufgedeckt: mit den eigenen und fremden Augen zugleich, die Begegnung und Wechselwirkung der fremden und der eigenen Augen, die Kreuzung der Horizonte (des eigenen und des fremden), die Kreuzung zweier Bewusstseine.«).

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Diese enge Verbindung zwischen Ich und Spiegel-Ich wird im weiteren Verlauf der Erzählung durch das mehrfach auftretende Motiv der Fragmentierung immer wieder aktualisiert. Bei seinem ziellosen Streifzug durch die Stadt etwa konstatiert der diegetische Erzähler: »Я не существовал, как целое«,1405 und bezieht diesen eigentlich psychischen Zustand auf »разбитое и собранное вновь тысячами частиц тело мое«.1406 Damit wird der Mechanismus einer Projektion von der Psyche auf den Leib, auf der letzten Endes auch die Existenz des materiellen Doppelgängers beruht, wirksam. Indem Birks Körper als zerschlagen, wie die Scherben eines Spiegels, beschrieben wird, nimmt er zudem gleichsam die Eigenschaften seines Spiegel-Ich an. Das Motiv der Zersplitterung wiederholt sich etwas später, als Birk sein Zögern vor dem Betreten der vermeintlich fremden Wohnung damit begründet, dass er »почувствовал себя таким разбитым и ослабевшим«.1407 Das Bild des aus einzelnen Fragmenten zusammengesetzten Körpers findet sich nicht nur in der zerstückelten Wahrnehmung des Körpers durch den Säugling vor seiner Identitätskonstitution nach Lacan wieder, sondern verweist auch auf die unzähligen Blicke der Mitmenschen (sowie des eigenen, verfremdeten Blicks in den Spiegel) mit einer je eigenen Perspektive auf das Individuum, die die Grundlage der Identitätskonstitution bilden. Diese ursprüngliche Fragmentierung des Ich erweist sich als unaufhebbar: »Eine Identität, die sich in Spiegelungen, letzten Endes im Spiegel des fremden Blicks herstellt, wird stets eine gebrochene Identität bleiben«.1408 Auch Lacan weist auf die Möglichkeit einer noch nach dem Durchlaufen des Spiegelstadiums fortdauernden Erfahrung der Fragmentierung des Körpers hin, die in Träumen und Halluzinationen von losgelösten Gliedern und eigenständig handelnden Organen zum Ausdruck kommt.1409 1405 RB , 343. Dt.: »Ich existierte nicht als Ganzes«. 1406 RB , 343. Dt.: »meinen zerschlagenen und erneut aus Tausenden von Stücken zusammengesammelten Körper«. Ein sehr ähnliches Gefühl erfasst den über den Verlust seiner Geliebten verzweifelten Helden der bereits erwähnten Erzählung »›Ona‹«: »А его тело становилось чужим, и казалось ему, что голова живет отдельно от тела, бросая тупые крохи сознания в бледную полумглу.« (ON, 278. Dt.: »Und sein Körper wurde fremd, und ihm schien, dass der Kopf abgesondert vom Körper lebt und dumpfe Brosamen des Bewusstseins in das fahle Halbdunkel wirft.«). 1407 RB , 348. Dt.: »sich so zerschlagen und geschwächt fühlte«. Das wohl bekannteste Beispiel aus der russischen Literatur für die Fragmentierung des Körpers stellt Gogol’s Povest’ »Nos« dar, in der sich die Nase von ihrem Besitzer abspaltet und ein Eigenleben entwickelt. 1408 Waldenfels: Topographie des Fremden, 147; Hervorhebung von A. B. 1409 Vgl. Lacan: Le stade du miroir, 453. Lacan selbst verweist hier auf die Bilder von Hieronymus Bosch (vgl. ebd.). Neben der Romantik zeichnet sich auch die Epoche an der Wende zum 20. Jahrhundert durch eine besondere Faszination für die Fragmentarisierung des Individuums aus (vgl. Wöll: Doppelgänger, 245), sodass »Rasskaz Birka« diesem geistesgeschichtlichen Kontext zugerechnet werden kann.

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Der Prozess der Dissoziation der fremden Anteile des Ich vollzieht sich bei Birk somit in vier Schritten, welche eine Bewegung von innen nach außen markieren und deren Ausdrucksformen, wie bereits angesprochen, eine zunehmende Eigenständigkeit wie auch Konkretheit aufweisen. Zunächst liegt eine obsessive Beschäftigung mit dem eigenen Innenleben vor, die zur Erkenntnis der umfassenden Fremdheit des Selbst führt – d. h. eine rein mentale Auf­spaltung durch Reflexion. Es folgt eine zunächst partielle, aber bereits konkrete, räumlich-visuelle Dissoziation in Form des Schattenumrisses an der Wand und anschließend in Gestalt des fremden eigenen Gesichts, wenn auch nur als Spiegelbild. Diese stellen die Vorstufen der vollständigen Materialisierung von Birks ganzer Gestalt in der Außenwelt in Form seines Doppelgängers dar, dessen Position im Raum und Verhalten von der seines Originals unabhängig ist. Der vierstufige Prozess kehrt somit die Aufhebung der Fragmentierung und die Verinnerlichung und zunehmende Untrennbarkeit des Fremden vom Eigenen im Lacan’schen Spiegelstadium durch vollständige, auch physische Dissoziation um. Stellt der stade du miroir die Voraussetzung für die Entwicklung der Ich-Identität dar, bedeutet das reverse Spiegelstadium, das Birk durchläuft, also zunächst einmal eine Zerstörung dieser Ich-Identität. Paradoxerweise enthält eben diese Abspaltung der fremden Ich-Anteile aber zugleich die Möglichkeit zur Überwindung der Identitätskrise, in der sich Birk seit Beginn der Binnenerzählung befindet. Denn erst die Konfrontation mit dem inneren Fremden, die durch dessen körperliche Gestalt nicht nur möglich (wie in »Kanat«), sondern auch unvermeidlich wird, ermöglicht  – ähnlich wie Lacans Spiegel – das Wieder-Erkennen und schließlich An-Erkennen des fremden Ich als Ich. Der nächste Schritt auf diesem Weg zur Begegnung mit dem leiblichen Doppelgänger ist dabei ein Schritt im wörtlichen Sinne: Birk verlässt seine Wohnung, in der er zuvor fast eine Woche lang getrunken hat. Auf dem Weg zu sich selbst: Außenraum, Nacht und Dialog Nach sechs Tagen im Alkoholrausch liefert Birks nächtliche Konfrontation – im wörtlichen Sinne eines Gegenüberstehens Stirn an Stirn  – mit seinem Spiegelbild schließlich den ausschlaggebenden Impuls für den Protagonisten, seine Situation zu verändern. Dies geht nicht zufällig mit dem Verlassen der Wohnung einher. Mit Bachtin ist dieser Entschluss damit zu erklären, dass Birk angesichts seines verzerrten Abbilds im Spiegel, dessen Nichtidentität mit seinem Ich er in diesem Moment zum ersten Mal begreift, unbewusst sein verdrängtes Bedürfnis nach dem genuinen Blick des realen Anderen erkennt und daher die Isolation seines Zimmers verlässt. Denn ein Zugang zu den transgredienten Aspekten seines Äußeren setzt Birks Übergang von einem Raum zum anderen, vom Innenraum seines Zimmers in den äußeren, öffentlichen Raum der Stadt voraus (der zuvor bereits als Schauplatz für Birks Erkenntnis

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seiner Entfremdung angesichts des überfahrenen Mädchens fungiert hat). Mit dieser geradezu klassischen Grenzüberschreitung, dem Übertreten der Türschwelle, gewinnt auch das Sujet an Dynamik im doppelten Sinne: die weitgehend statische, da reflexive innere Reise des Protagonisten wird von seinem Streifzug durch die Straßen der Stadt abgelöst, welcher seinerseits den Höhepunkt der Erzählung einleitet. Allerdings verharrt der Protagonist zunächst weiterhin in seiner zurückgezogenen, misanthropischen Grundhaltung, wie anhand einer nur flüchtigen und an sich belanglosen Begegnung mit einem anderen Menschen deutlich wird. Denn obwohl Birk eigentlich ohne Ziel durch die Stadt streift, löst sogar die nichtige Tatsache, dass ein Passant durch seinen in Zickzacklinien verlaufenden Gang Birks schnellen Schritt hemmt, heftige Wut in ihm aus.1410 Auch als er zwei weitere Personen trifft, vermeidet der Held anfangs jegliche Interaktion, verbirgt sich vor ihnen in der Dunkelheit und beobachtet sie. Erst als er sie als Einbrecher identifiziert, d. h. als gesellschaftliche Außenseiter wie er selbst, geht Birk entgegen seiner Gewohnheit aktiv auf sie zu und spricht sie an. Wie schon im Zusammenhang mit der Erzählung »Noč’ju i dnëm« angesprochen, nennt Jurij Lotman in seinen Betrachtungen zur Semiosphäre den Räuber – dessen urbane, moderne Version der Einbrecher ist –, als prototypischen Vertreter des semiotischen Außenraums in räumlicher und vor allem zeitlicher Hinsicht. Er ist ein Bewohner der Nacht, welche außerhalb der zeitlichen Grenzen des ›normalen‹ Raums liegt und eine Anti-Welt zur Welt des Tages bildet. Sie ist die Sphäre derjenigen, die mit den Normen des Zentrums in Konflikt oder sogar in völligem Widerspruch stehen. Der Räuber ist charakterisiert durch ein Anti-Benehmen, bedient sich einer Anti-Sprache und verrichtet seine (Anti-)Arbeit im Schein des Mondes.1411 Auch die Einbrecher in »Rasskaz Birka« sprechen eine Sprache, die sich von der Norm stark unterscheidet und für diejenigen, die ihren Code nicht beherrschen, unverständlich ist – »с лексиконом, подобным тарабарскому языку«1412 und »как будто бессмысленными, ничего не говорящими фразами«.1413 Zudem ereignet sich nicht nur Birks Begegnung mit den Einbrechern in der Nacht, er ordnet sie ihr in einer aufschlussreichen Passage sogar explizit und in einer Weise zu, die mit Lotmans Überlegungen frappierend genau übereinstimmt. Dort heißt es: Ночь, с ее кошками, скрытым от глаз пространством, ворами, бродягами, приближающими в темноте странно блестящие глаза к вашему ожидающему лицу

1410 Vgl. RB , 343. 1411 Vgl. Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 266. 1412 RB , 344. Dt.: »mit einem Wortschatz, der einer Kauderwelsch-Sprache ähnlich war«. 1413 RB , 344. Dt.: »gleichsam sinnlosen, nichtssagenden Phrasen«.

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[…] – таинственна потому, что в недрах ее у бодрствующих начинает оживать все, убитое законами дня.1414

Auch hier wird die Nacht als Anti-Raum zum Tag bestimmt, gekennzeichnet von Dunkelheit und bewohnt von zwielichtigen Gestalten. Ihr geheimnisvolles Wesen führt Birk darauf zurück, dass die Nacht all das auferweckt, was die Normen des Tags, des semiotischen Zentrums, nicht nur verbieten, sondern sogar (ab)getötet haben. Hierzu ist auch aus dem Bewusstsein Ausgegrenztes und ins Unterbewusstsein (des Individuums, aber auch der Kultur) Verdrängtes zu zählen – das dann nicht zufällig oftmals im Traum seinen Ausdruck findet.1415 Wenn Birk also zu Anfang der Erzählung, unter Verwendung desselben Verbs (ubit’; dt.: töten), konstatiert, seine Abneigung gegen die Gleichförmigkeit (russ.: odnoobrazie)  – auch im Sinne von Normalität, Normiertheit – seines Lebens »убила во мне всякую привязанность к жизни«,1416 so bietet ihm nun also die Nacht einen Raum zur Überwindung dieses Zustands. Nicht zufällig treten bereits die das Verdrängte verkörpernden DoppelgängerVorgänger Birks, sein Schatten und sein Spiegelbild, ebenfalls in der Nacht auf: in der fremden Zeit und Zeit des Fremden. Dass Birk sich gegenüber den Einbrechern im Anschluss selbst als der Nacht zugehörig charakterisiert und sich auch so fühlt – »›[…] Я […] ночной шатун […]‹«,1417 »чувствовал себя глазом ночи«1418  –, erleichtert die Aufnahme eines Dialogs mit den Einbrechern. Nach dem Vorfall mit dem überfahrenen Mädchen sowie Birks zweimaliger Konfrontation mit seinem Schatten- bzw. Spiegeldouble nimmt damit das vierte entscheidende Ereignis der Binnenerzählung seinen Anfang. Dass alle vier an die Interaktion des Protagonisten mit einem Anderen, und sei es auch in Form des entfremdeten eigenen Ich, geknüpft sind, unterstreicht zum einen indirekt den wechselseitigen Zusammenhang zwischen der Monotonie – im Sinne von Ereignislosigkeit – in Birks Leben und seiner selbstgewählten Isolation. Zum anderen deckt sich dieser Umstand mit Bachtins Verständnis des Ereignisses  – sobytie  – als so-bytie, d. h. Mit-Sein: »So lässt sich die Ereignisphilosophie Bachtins bereits terminologisch als eine Philosophie der Teilnahme, des Partizipierens, des Dialo1414 RB , 344; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Die Nacht, mit ihren Katzen, dem vor den ­Augen verborgenen Raum, den Dieben, Herumtreibern, die in der Dunkelheit merkwürdig glänzende Augen Ihrem wartenden Gesicht nähern […] – sie ist deshalb geheimnisvoll, weil in ihrem Inneren bei denen, die wach sind, alles aufzuleben beginnt, was durch die Gesetze des Tages getötet wurde.«. 1415 In der romantischen Literatur finden sich häufig die Doppelmetaphern Licht / Schatten oder Tag / Nacht für die Beziehung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem (vgl. Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen, 104 f.). 1416 RB , 338. Dt.: »tötete in mir jegliche Bindung an das Leben«. 1417 RB , 346. Dt.: »›[…] Ich […] bin ein nächtlicher Herumtreiber […]‹«. 1418 RB , 344. Dt.: »ich fühlte mich als das Auge der Nacht«.

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gischen lesen, die sich nur zwischen Ich und anderem abspielen kann.«1419 Mit den Dieben findet nun, nach unzähligen inneren Monologen sowie Birks Selbstgesprächen im Alkoholrausch, der erste durch den sekundären Erzähler wiedergegebene Dialog der Binnenerzählung statt. Der Dialog stellt  – anders als etwa der Spiegel  – für Bachtin das wahre Medium der Vermittlung zwischen Ich und Anderem dar.1420 Der Austausch beschränkt sich im Falle des Dialogs zwischen Birk und den beiden Dieben nicht allein auf die verbale Ebene, sondern geht mit einem Austausch ihrer Rollen einher. Schon als der Protagonist beobachtet, wie die beiden Männer die Eingangstür eines Hauses aufbrechen, verspürt er das Verlangen, »стать вором на час, красться, таиться […]«.1421 Der die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem weiter verwischende Rollenwechsel zwischen Birk und den Einbrechern vollzieht sich noch vor Beginn ihres Dialogs bereits in ihrem Verhalten. Denn während Birk sich anfangs vor den beiden Männern versteckt und ihnen heimlich folgt, sich also selbst wie jemand benimmt, der etwas zu verbergen hat, verwandeln sich die Einbrecher, sobald sie Birk erblicken, in unbescholtene Bürger: »И тотчас же увидел мирных прохожих […]«.1422 Nach dem Ende des Dialogs tauschen die Figuren schließlich vollständig die Rollen, denn die entlarvten Einbrecher gehen ohne Eile, wie gewöhnliche Passanten, ihres Weges,1423 während Birk in das Haus, dessen Türschloss die Diebe zuvor aufgebrochen haben, eindringt: »[…] я был уже вором […]«.1424 Dieser Austausch zwischen Birk und den Einbrechern erstreckt sich bis hin zu den Zweierstrukturen, die im Verlauf des Dialogs von Letzteren auf Ersteren übergehen. Denn zunächst begegnet der allein agierende Protagonist zwei Einbrechern, denen gegenüber er, trotz der vorangegangenen Erlebnisse mit seinem Schatten und seinem Spiegelbild, gleichsam beiläufig seine Einheit betont: »›Вас двое‹, сказал я, ›против одного, значит, бояться нечего […]‹«.1425 Im Zuge des wenig später vollzogenen Rollenwechsels zwischen Birk und dem Einbrecherpaar geht indirekt auch deren Zweiheit auf ihn über, die sich in der Wohnung schließlich als Doppelgänger materialisiert. Bereits zuvor, bei der ersten Beschreibung der Diebe, tritt das Moment der Verdoppelung auf, und zwar erneut in Gestalt des Schattenmotivs: »Фонарик 1419 Sasse, Sylvia: Vorwort. In: Bachtin, Michail, M.: Zur Philosophie der Handlung. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Herausgegeben, mit Anmerkungen versehen und mit einem Vorwort von Sylvia Sasse. Berlin 2011, 5–31, hier 24; Hervorhebung im Original. 1420 Vgl. Ėtkind: Ėros nevozmožnogo, 320. 1421 RB , 345. Dt.: »für eine Stunde ein Dieb zu werden, zu schleichen, sich zu verstecken […]«. 1422 RB , 345. Dt.: »Und sofort sah ich friedliche Passanten […]«. 1423 Vgl. RB , 346. 1424 RB , 346; Hervorhebung im Original. Dt.: »[…] ich war bereits ein Dieb […]«. 1425 RB , 346. Dt.: »›Sie sind zu zweit‹, sagte ich, ›gegen einen, das bedeutet, es gibt keinen Grund sich zu fürchten […]‹«.

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он [один из воров] судорожно сжимал левой рукой, и тень от его большого пальца, опущенного на стекло, падала огромным пятном в освещенный угол земли.«1426 Der mit dem Schatten meist einhergehende Aspekt der Verzerrung wird hier durch das Wortspiel betont, dass der Daumen – auf Russisch wörtlich ›großer Finger‹ – einen ›riesigen‹ Schatten wirft. Das auf diese Weise deutlich als nicht-identische Verdoppelung gekennzeichnete Motiv des Schattens greift der Protagonist während der folgenden Unterhaltung erneut auf und überträgt es auf sich selbst, als er den Männern mitteilt, dass er ihre Einbruchspläne kennt und sie dabei gerne begleiten würde: »Я войду с вами, как тень от вашего фонаря.«1427 Durch den Gebrauch eines direkten Vergleichs wird die enge Beziehung zwischen Ich und Schatten aus der Selbstmordszene aufgegriffen und zu einer Gleichsetzung beider gesteigert. Analog dazu nimmt Birk bereits zu Beginn der Binnenerzählung eine Identifikation seiner selbst mit einer Spiegelung vor, wenn er sich als jemand beschreibt, der das um ihn herum stattfindende Leben »лишь […] отражал«.1428 Der Gebrauch der Partikel »лишь«1429 weist dabei, wie der verzerrte Schatten, ebenfalls zugleich deutlich auf eine Diskrepanz zwischen Original und Abbild hin. Sowohl der Schatten- als auch der Spiegelvergleich verweisen somit auf eine gleichsam nichtidentische Identität zwischen Birk und seinem Double. Da beide Motive als Vorläufer der Doppelgängererscheinung zu lesen sind, charakterisieren diese sie somit a priori als in einem Schwebezustand zwischen Eigenem und Fremdem befindlich. Einen ähnlichen Zwischenzustand in mehrfacher Hinsicht – unter anderem zwischen Innen und Außen, Eigenem und Fremdem, Realität und Wahnvorstellung – weisen auch die beiden Räume des aufgebrochenen Hauses auf, das Birk nach dem Verschwinden der Einbrecher betritt, und in denen sich die entscheidenden Szenen der Erzählung abspielen: die Treppe und die Wohnung. Birks Einbruch in das Haus zieht, wie noch zu zeigen sein wird, den Einbruch des Phantastischen in die Handlung nach sich. Kontingenzraum I: Auf der Schwelle Wie schon zuvor im Falle der Wohnung als isoliertem Innenraum sowie der Straße als öffentlichem Raum des Dialogs korrespondieren auch im Folgenden die Ereignisse mit der Raumsemantik des Handlungsorts. Das Treppenhaus stellt dabei einen Zwischenraum zwischen dem Eigenen und dem Fremden im mehrfachen Sinne dar: Es ist zugleich Innen- und Außenraum, privat und 1426 RB , 344. Dt.: »Das Lämpchen presste er [einer der Diebe] krampfhaft mit der linken Hand zusammen, und der Schatten seines Daumens, der auf das Glas gesenkt war, fiel als riesiger Fleck auf den beleuchteten Winkel des Bodens.«. 1427 RB , 346. Dt.: »Ich gehe mit Ihnen hinein, wie der Schatten Ihrer Laterne.«. 1428 RB , 340. Dt.: »bloß […] reflektierte«. 1429 RB , 340. Dt.: »bloß«.

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öffentlich, eine Verbindung zwischen Oben und Unten, und gehört zudem in diesem speziellen Fall – wie der abstrakte Leser allerdings erst etwas später zu ahnen beginnt – je nach Interpretation der Erzählung entweder zu Birks Haus oder zu einem fremden Gebäude. Den Grenz- oder vielmehr Schwellenstatus dieses Raums betont auch Lotman: »Если же центром ›нормального‹ жилья делается квартира, то пограничным пространством между домом и внедома становится лестница, подъезд.«1430 Dieses ›Dazwischen‹ erweist sich dabei als Möglichkeitsraum, welcher jedoch nicht nur die Variante des durchaus Möglichen im Sinne eines tatsächlich Realisierbaren, sondern auch die Variante des nur Potentiellen, also im Stadium des Irrealen Verbleibenden, enthält. Somit handelt es sich hierbei um einen Raum des Kontingenten, welcher der Definition von Thomas von Aquin aus seiner »Summa theologica« (dt.: »Die theologische Summa«) – »[…] contingens est quod potest esse et non esse.«1431 – quasi wortwörtlich entspricht. Das modale, gleichzeitige Sein-und-Nichtsein-Können des Kontingenten bildet grundsätzlich eine Vorstufe zu einem späteren faktischen Sein oder Nichtsein und ist stets auf dieses bezogen. Mit dem räumlichen Zwischen der Treppe korrespondiert somit auch ein semantischer Zwischenraum, in dessen Spannungsfeld Birk gerät, als er auf eine geschlossene Wohnungstüre trifft. Lässt sich die Türe nicht öffnen, reduziert sich Birks Absicht, in die Wohnung einzudringen, zu einem in der Wirklichkeit nicht umsetzbaren Wunsch; ist sie dagegen unverschlossen, (er)öffnet sich zusammen mit der Türe die Möglichkeit des Übergangs vom Realisierbaren ins Reale.1432

1430 Lotman: Vnutri mysljaščich mirov, 266; Hervorhebung im Original. Dt.: »Wenn dagegen die Wohnung zum Zentrum des ›normalen‹ Lebens wird, dann ist die Grenzregion zwischen dem Haus und dem, was außerhalb des Hauses liegt, die Treppe, der Hausflur.« (Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 187; Hervorhebung im Original). 1431 Prima Pars. Quaestio LXXXVI, Art. 3; Aquin, Thomas von: Sancti Thomae Aquinatis Doctoris Angelici summa theologica. Ad optimarum editionum fidem accurate recognita. Volumen III . Parmae 1853, 67. Dt.: »Denn zufällig ist, was sein kann oder auch nicht sein kann […]« (Aquin, Thomas von: Die katholische Wahrheit oder die theologische Summa des Thomas von Aquin deutsch wiedergegeben durch Ceslaus Maria Schneider. 12 Bände. Regensburg 1886–1892 [PDF], 1026, URL : https://bkv.unifr.ch/ works/8/versions/18). 1432 Das Motiv der verschlossenen Türe spielt auch im Romanentwurf »Zerkalo i almaz« (dt.: »Spiegel und Diamant«) eine wichtige Rolle. Der Schriftsteller Trengan kann – nicht zufällig ebenfalls nachts – der Versuchung nicht länger widerstehen, die von Rėčidel, dem verschollenen früheren Bewohner des Hauses, verschlossene Türe zu öffnen und, wie Birk, das dahinter verborgene Geheimnis zu erkunden. »Иное обстоятельство, если оно неразгадано, хотя бы и не имело к нам отношения, может в течение дня оставаться непотревоженным, но с наступлением ночи мысли о нем приобретают значительный и тревожный характер. Так – и дверь, перед которой стоял Тренган. Его предположения и фантазии коснулись всего, что знал он о Рэчиделе от

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Der im Kontingenzraum der Treppe herrschende Schwebezustand beider gleich wahrscheinlicher Möglichkeiten wird dabei länger als notwendig aufrechterhalten. Paradoxerweise geschieht dies durch Ausschluss einer der beiden Varianten, also durch eine vermeintliche Beendigung der Kontingenz – jedoch nur aus der subjektiven Perspektive des Protagonisten. Denn Birk ist bereits beim ersten Anblick der Türe davon überzeugt, dass er sich einem unüberwindbaren Hindernis gegenübersieht, da er weder das Werkzeug noch die Fähigkeiten besitzt, sie aufzubrechen.1433 Diese Erkenntnis löst eine tiefe Enttäuschung und Resignation in ihm aus. Grund für seine Betroffenheit ist seine Interpretation der scheinbar zufälligen Vorkommnisse während seines nächtlichen Spaziergangs als eine auf ein hochgradig bedeutsames Ziel hinführende Ereigniskette, die nun ergebnislos im Sande zu verlaufen droht. Birk resümiert: И, значит, все, что произошло ночью, было бесцельно; весь ряд случайностей, связанных одна с другой, – рынок, разговор двух, взлом двери и то, что я вошел сюда, в спящий дом, – все это произошло только затем, чтобы я мог уйти снова, бесшумно и незаметно.1434

An dieser Stelle wird Birk der starke Widerspruch zwischen seinem »предчувствие[м] […] логического конца«1435 und der nun drohenden Sinnlosigkeit alles bisher Geschehenen bewusst: »Мысль эта показалась мне настолько абсурдной, что я громко расхохотался.«1436 Erst dieses Lachen verschafft Birk, ähnlich wie den Passanten in »Proisšestvie v ulice Psa«, schließlich eine gewisse Distanz zu seiner eigenen Situation, sodass er in der Lage ist, Ресвика. И, чем больше думал он о содержимом зарпертой комнаты, тем более овладевал им дух открытия […].« (Grin, Aleksandr: »Zerkalo i almaz« = »Sëstry Klermon« = [»Džessi i Morgiana«]. Roman. Plany. Varianty glav I–XII . »Igrok«. Roman. »Venera i Džokonda«. Rasskaz. Nabroski. [seredina 1920-ch]. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 23, l. 4ob. u. 5. Dt.: »Ein anderer Umstand, wenn er unergründet ist, auch wenn er keinen Bezug zu uns hat, kann im Verlauf des Tages unbehelligt bleiben, aber mit dem Hereinbrechen der Nacht nehmen die Gedanken an ihn einen bedeutsamen und beunruhigenden Charakter an. So war es auch mit der Tür, vor der Trengan stand. Seine Vermutungen und Fantasien betrafen alles, was er von Resvik über Rėčidel wusste. Und je mehr er über den Inhalt des verschlossenen Zimmers nachdachte, desto mehr bemächtigte sich seiner der Geist der Entdeckung […].«). 1433 Vgl. RB , 347. 1434 RB , 347. Dt.: »Und das bedeutet, dass alles, was nachts geschah, ziellos war; die ganze Reihe von Zufälligkeiten, eine mit der anderen verbunden – der Marktplatz, das Gespräch der beiden, das Aufbrechen der Tür und dass ich hier hineinging, in das schlafende Haus – all das geschah nur, damit ich wieder hinausgehen kann, geräuschlos und unbemerkt.«. 1435 RB , 347. Dt.: »Vorahnung eines logischen Endes«. 1436 RB , 347. Dt.: »Dieser Gedanke erschien mir so absurd, dass ich in lautes Gelächter ausbrach.«.

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etwas eigentlich völlig Naheliegendes zu erkennen: »В самом деле, я еще не пробовал открыть дверь!«1437 Als der Held den Versuch schließlich nachholt, erweist sich die Tür zu seiner großen Enttäuschung als tatsächlich verschlossen. War die Variante des Realisierbaren anfangs nur aus der subjektiven Perspektive des Protagonisten ausgeschlossen, objektiv dagegen weiterhin wirksam, trifft nun das Gegenteil zu. Denn in dem Moment, als auch aus objektiver Sicht der labile Schwebezustand beider Möglichkeiten in Richtung des Nichtumsetzbaren kippt, beginnt Birk erneut darüber nachzudenken, was ihn hinter der Schwelle der geöffneten Türe erwarten würde. Diese Schwelle  – mit der Tür räumlich wie auch semantisch eng verbunden – erweist sich als entscheidendes Element der Szene. Sie bildet den Zwi­schenraum zwischen innen und außen, zwischen eigen und fremd par excellence, von deren (Nicht-)Überschreitung alles Weitere abhängt. Die Schwelle wird durch den sekundären Erzähler explizit als Ort des Zu- und Übergangs zum Unbekannten, Fremden markiert. Bereits nach dem Eintritt in das Haus hält Birk inne, »испытывая страх, нетерпение и острую жажду неизвестного, лежащего за каждым порогом.«1438 Zeigt sich das Unbekannte hier noch in seiner üblichen Ambivalenz zwischen Bedrohung und Verlockung, überwiegt für Birk bei seinen Überlegungen auf dem Treppenabsatz bereits Letzteres: »я шел, увлекаемый тайной, предчувствием неизвестного, порогом чужой жизни […]«.1439 Bei der dritten expliziten Nennung der Schwelle schließlich wird das mittels ihrer Überschreitung erreichbare Unbekannte als das Wunderbare identifiziert und als Ziel der bisherigen teleologischen Ereigniskette benannt: »Есть неизвестное. […] Я стоял на пороге чуда. Я стоял перед всем и перед ничем. Я стоял перед смыслом […] взломанной двери, коробки спичек и своего присутствия.«1440 Der Raum der Schwelle wird an dieser Stelle auf den Treppenabsatz ausgeweitet, denn der diegetische Erzähler, der sich vor der konkreten Türschwelle befindet, beschreibt sich hier metaphorisch als »на пороге«1441 stehend. Damit wird die oben angesprochene Eigenschaft der Treppe als ebenfalls semantischer Zwischenraum nun auch durch den Erzähler markiert. Der Grund, weshalb der Protagonist der Schwelle eine so außerordentlich große Bedeutung 1437 RB , 347. Dt.: »Tatsächlich hatte ich noch gar nicht versucht, die Tür zu öffnen!«. 1438 RB , 346. Dt.: »Angst, Ungeduld und einen heftigen Drang nach dem Unbekannten verspürend, das hinter jeder Schwelle lag.«. 1439 RB , 347. Dt.: »ich ging, angezogen von dem Geheimnis, der Vorahnung des Unbekannten, der Schwelle des fremden Lebens […]«. 1440 RB , 348. Dt.: »Es gibt das Unbekannte. […] Ich stand auf der Schwelle des Wunders. Ich stand vor allem und vor nichts. Ich stand vor dem Sinn […] der aufgebrochenen Türe, der Streichholzschachtel und meiner Vorahnung.«. 1441 RB , 348. Dt.: »auf der Schwelle«.

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zumisst, geht nur indirekt aus dem soeben zitierten Textausschnitt hervor. Die Anapher des dreifachen »Я«1442 verweist auf die zentrale Figur der Geschehnisse dieser Nacht. Das ja (dt.: ich) ist dabei nicht nur als gewöhnliches Personalpronomen des diegetischen Erzählers zu lesen, sondern auch und vor allem als Substantiv: Es ist ›das Ich‹ (welches bereits zuvor durch Selbstreflexion und Suizidversuch als psychisch wie auch physisch hochgradig gefährdet identifiziert wurde), das nun an der sowohl metaphorischen als auch konkreten Schwelle zwischen Allem und Nichts, zwischen Leben und Tod steht. Muss der Protagonist vor der verschlossenen Türe unverrichteter Dinge umkehren, verbleibt sein ›Ich‹ in seinem bisherigen (selbst-)entfremdeten Zustand, den Birk zuvor als »состояни[е] трупа«1443 identifiziert hatte. Zurück ins Leben bringen ihn dagegen nur die Überschreitung der Schwelle und das hinter ihr verborgene Wunder. Die vollkommene Kontingenz der Situation, die beide potentielle Varianten zur selben Zeit und – jedenfalls in Birks Wahrnehmung  – mit gleicher Wahrscheinlichkeit enthält, wird dabei durch den Gebrauch der unscheinbaren Konjunktion ›und‹ ausgedrückt: Tatsächlich steht der Held nicht vor Allem oder Nichts, sondern »перед всем и перед ничем«.1444 Diese im Möglichkeitsraum der Schwelle herrschende Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen, des sich sogar logisch Ausschließenden, stellt dabei eine weitere Präfiguration des Doppelgängers dar – denn dieser ist, wie auch die Wohnung, ebenfalls zugleich eigen und fremd. Die das Phänomen des Doppelgängers kennzeichnende Aufhebung von Grenzen und damit auch Dichotomien vollzieht sich somit bereits an dieser Stelle. Nur einen Augenblick später erfasst die Kontingenz auch die Ebene der Narration. Der Protagonist, der aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz noch immer von dem starken Wunsch erfüllt ist, die Wohnung zu betreten, wird plötzlich von seiner eigenen Vorstellungskraft überwältigt. In eine Art Trance aus Farben und Musik versunken, in der sich Linien und Formen auflösen1445 – also genau das, was seine bisherige Wahrnehmung der Stadt und der Menschen in seinem Umfeld bestimmt hat –, gewinnt Birks Unterbewusstsein, das am Beginn der Binnenerzählung noch durch die beständige Selbstreflexion kontrolliert wird, in der Schatten- und vor allem der Spiegelszene aber bereits 1442 RB , 348. Dt.: »Ich«. 1443 RB , 339. Dt.: »Zustand eines Leichnams«. 1444 RB , 348; Hervorhebung von A. B. Dt.: »vor allem und vor nichts«. Dass der Instanz der Grenze in diesem Text primär eine verbindende, keine trennende Wirkung zukommt, wird an anderer Stelle deutlich, als der Protagonist seinen Zustand am Morgen nach seinem Selbstmordversuch beschreibt: »И вне и внутри меня, соединенный через тоненькую преграду – человеческий разум, клубился океан сил […]« (RB , 342. Dt.: »Sowohl außerhalb von mir als auch in mir, verbunden durch eine sehr dünne Scheidewand – den menschlichen Verstand –, tobte der Ozean der Kräfte […]«). 1445 Vgl. RB , 348.

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sichtbar an Macht gewinnt, nun endgültig die Oberhand. »И бессознательно, как хозяин, вынул из бокового кармана ключ.«1446 Die narrative Kontingenz setzt in dem Moment ein, als Birk, entgegen aller Logik, die verschlossene Wohnungstüre mit einem Schlüssel aufsperrt, der explizit als nicht zur Tür gehörig identifiziert wird: Ключ был в моих руках, маленький, медный ключ не от этой двери, но я уже знал, что войду. Уверенность моя была так велика, что я даже не удивился, когда, вложив его в скважину, услышал, как замок щелкнул мягким, странно знакомым звуком.1447

Hierbei handelt es sich nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinne um eine Schlüsselszene (auch auf Russisch: ključevaja scena). Bis zu diesem Moment erscheint »Rasskaz Birka« als realistische Erzählung, deren Handlungselemente  – selbst die unmittelbar mit dem Doppelgänger verknüpften Schatten- und Spiegelerlebnisse –, allesamt rational erklärbar sind. Mit dem unerklärlichen Aufschließen der Türe aber beginnt eine Reihe von Ereignissen, welche sich nicht nur den Regeln der Logik widersetzen und damit einen Einbruch des Irrationalen in die Diegese bedeuten, sondern dabei durch widersprüchliche Hinweise zudem Raum für mehrere alternative, gleichzeitig gültige Interpretationen eröffnen. Kontingenzraum II: In der fremd-eigenen Wohnung Die Überschreitung der Schwelle zur Wohnung markiert den Übergang in einen neuen Kontingenzraum, der sich durch eine andere Art von Kontingenz auszeichnet. Handelt es sich bei der Kontingenz des (erweiterten) Schwellenraums, d. h. des Treppenabsatzes, noch um ein Sein-und-Nichtsein-Können (des Zugangs zur Wohnung), welches unmittelbar auf seine spätere Auflösung zugunsten eines Seins oder Nichtseins in der Wirklichkeit bezogen ist, spielt die diachrone Ebene im Falle der zweiten Variante von Kontingenz keine Rolle. Dementsprechend wird die Eindeutigkeit, die bei der ersten Kontingenzform nach der Realisierung einer ihrer Möglichkeiten vorliegt, in der zweiten, synchronen Form durch Polysemie ersetzt. Diese wird dabei nicht nur vom Protagonisten erlebt, sondern auch mittels der ab diesem Moment ihrerseits als kontingent beschreibbaren Narration an den Leser weitergegeben: Sie erzeugt einen Schwebezustand mehrerer gleichzeitig gültiger Lesarten, der – und dies 1446 RB , 348. Dt.: »Und unbewusst, wie ein Hausherr, zog ich aus der Seitentasche den Schlüssel.«. 1447 RB , 348 f.; Hervorhebungen im Original. Dt.: »Der Schlüssel war in meinen Händen, ein kleiner, kupferner Schlüssel nicht zu dieser Tür, aber ich wusste bereits, dass ich hineingehen würde. Meine Zuversicht war so groß, dass ich mich nicht einmal wunderte, als ich ihn in das Loch steckte und hörte, wie das Schloss mit einem weichen, merkwürdig vertrauten Geräusch klickte.«.

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ist entscheidend, da mit einer eindeutigen Auflösung erneut die erste Form der Kontingenz vorliegen würde – über das Ende von »Rasskaz Birka« hinaus bestehen bleibt. In dieser zweiten Form der Kontingenz erweist sich deren modales Sein-und-Nichtsein-Können somit als faktisches Sein-und-Nichtsein, d. h. als gleichzeitige Gültigkeit einander eigentlich ausschließender Alternativen – welche an verschiedene, parallel existierende ›interpretative Wirklichkeiten‹ gebunden sind. Die auf dem Treppenabsatz herrschende erste Form der Kontingenz lässt sich in diesem Sinne als diachron-monoseme Kontingenz bezeichnen, diejenige in der Wohnung dagegen als synchron-polyseme. Während bis zum logisch nicht erklärbaren Aufschließen der Wohnungstüre eine rationale, genauer gesagt, psychologische Begründung für Birks Zustand und seine Handlungen nicht nur suggeriert, sondern sogar durch den sekundären diegetischen Erzähler selbst vertreten wird, enthält der zweite Kontingenzraum eine Vielzahl parallel gültiger Interpretationen für das Geschehen in der Wohnung, die im Folgenden herausgearbeitet werden sollen. Diese werden zum Teil durch die Instanz des sekundären Erzählers explizit eingeführt, vielfach aber nur angedeutet und darüber hinaus nicht kommentiert, in Beziehung zueinander gesetzt oder anderweitig kontextualisiert. Daher bleibt es dem abstrakten Leser bzw. dem Zuhörer aus der Rahmenerzählung selbst überlassen, die oftmals widersprüchlichen Indizien zu einer kohärenten Interpretation zusammenzufügen. Er gerät damit in gewisser Weise in eine ähnlich orientierungslose Situation wie der Protagonist selbst. Die verschiedenen hier gleichzeitig wirksamen Deutungsmuster lassen sich grundsätzlich in natürliche und übernatürliche Erklärungen unterteilen. Während die rationalen Interpretationsansätze letztlich alle auf der Annahme einer wie auch immer gearteten Sinnestäuschung oder Halluzination beruhen, geht die irrationale Deutung davon aus, dass die Ereignisse, so unwahrscheinlich sie auch sein mögen, tatsächlich geschehen. Damit ist die zweite Form der Kontingenz gleichbedeutend mit dem Einbruch des Phantastischen in die Erzählung. Denn der in Kapitel 4.3.2 eingeführten Definition Todorovs zufolge zeichnet sich das Phantastische gerade dadurch aus, dass in einer Welt, die den Gesetzen der außerliterarischen Wirklichkeit zu folgen scheint – eben dies suggeriert der erste Teil der Binnenerzählung von »Rasskaz Birka« – etwas passiert, das im Widerspruch zu diesen Regeln steht. Der abstrakte Leser steht dann vor der Entscheidung, das Ereignis entweder als Sinnestäuschung zu deuten und so die Gültigkeit der vertrauten, rationalen Gesetze unangetastet zu lassen; oder es als tatsächliches Geschehen zu begreifen und damit die Existenz übernatürlicher Gesetzmäßigkeiten jenseits der vertrauten Gesetze anzuerkennen.1448 Das Phantastische existiert dabei ausschließlich unter der labilen Bedingung der, hier vorliegen1448 Vgl. Todorov: Introduction à la littérature, 28 f.

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den, synchron-polysemen Kontingenz, denn, so Todorov, »[…] l’hésitation qui le caractérise ne peut, de toute évidence, se situer qu’au présent.«1449 Für die rationalen wie irrationalen Lesarten spielt eine entscheidende Rolle, ob die Wohnung als eigen oder fremd oder gar beides zugleich, und ob der Schlafende im Bett als Einbildung, als andere Person oder als tatsächlicher Doppelgänger des Protagonisten verstanden wird. Die synchron-polyseme Kontingenz basiert darauf, dass sich diese Fragen bis zum Schluss nicht eindeutig beantworten lassen. Zunächst scheint es sich bei dem Haus, in das Birk nach Vorarbeit der Einbrecher eindringt, zweifellos um ein fremdes zu handeln, denn der Protagonist gelangt auf seinem Spaziergang durch die nächtliche Stadt – aus seiner Wohnung kommend – zufällig dorthin. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass er dabei unbewusst im Kreis läuft, allerdings enthält auch die Beschreibung des Hauses keinerlei Hinweis darauf, dass Birk es wiedererkennt. Einzig die Aussage, die Eingangstüre öffne sich »свободно, как днем«1450 kann statt als allgemeiner Vergleich als Indiz dafür gelesen werden, dass der Protagonist die Türe bereits tagsüber benutzt hat. Als Birk jedoch die Wohnungstür mit seinem eigenen Schlüssel aufschließt, erlaubt eine Aufrechterhaltung der bisherigen rationalen Lesart der Geschichte – anders als die irrationale, auf die weiter unten zurückzukommen sein wird – nur den Schluss, dass es sich doch um das Zuhause des Protagonisten handelt, das von ihm anfangs aus irgendeinem Grunde nicht erkannt wird. Eine Bestätigung hierfür scheint die bereits zitierte Formulierung, Birk ziehe den Schlüssel »как хозяин«1451 aus seiner Tasche, zu sein. Andererseits beruht ein Vergleich jedoch immer auf der Nichtidentität der beiden in Beziehung gesetzten Elemente, was wiederum auf das Gegenteil hinweist. Dieser Widerspruch erhält hier allerdings keinen Raum zur Entfaltung, denn im nächsten Moment dreht sich der Schlüssel im Schloss »странно знакомым звуком«1452 und öffnet entgegen jeder Erwartung die Türe. Im Inneren der Wohnung bewegt sich der Protagonist dann durch die Dunkelheit, als wären ihm die Räumlichkeiten bestens vertraut, er erkennt Einrichtungsgegenstände wieder und konstatiert schließlich, was der abstrakte Leser bzw. der Zuhörer der Rahmenhandlung inzwischen längst ahnt: »Я был у себя.«1453 Hierfür spricht auch, dass Birk den Pförtner, den er nach der Begegnung mit seinem Doppelgänger holt, um sich dessen Existenz objektiv bestätigen zu lassen, als ›bekannt‹ beschreibt.1454 Allerdings wird dem abstrakten Leser die endgültige Aufklärung, um wessen Wohnung es sich tatsächlich handelt, verweigert. Dies geschieht in 1449 Ebd., 47. 1450 RB , 346. Dt.: »leicht, wie tagsüber«. 1451 RB , 348. Dt.: »wie ein Hausherr«. 1452 RB , 349. Dt.: »mit einem merkwürdig vertrauten Geräusch«. 1453 RB , 349. Dt.: »Ich war bei mir.«. 1454 Vgl. RB , 350.

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einem kurzen, beiläufigen Dialog am Ende von Birks Bericht mit einem der Zuhörer aus der Rahmenhandlung, der den sekundären Erzähler der Binnenerzählung fragt: »›Потом вы вернулись к себе?‹ ›Нет‹, протянул он [Бирк], полузакрывая глаза, ›я ночевал в гостинице. Впрочем, это не имеет значения.‹«1455 Aufgrund dieses vom sekundären diegetischen Erzähler als unbedeutend klassifizierten, für die Narration aber umso bedeutsameren Details bleibt unaufgeklärt, ob jenes »›[…] вы вернулись к себе?‹«1456 eine Rückkehr Birks aus der Pförtnerloge, wo er nach der Doppelgängervision Hilfe gesucht hat, an den Ort des Geschehens, oder durch die Stadt in die anderswo befindliche Wohnung bedeutet hätte. Stattdessen wird – neben der verdoppelten Wohnung – mit dem Hotel ein dritter, neutraler Ort eingeführt, der die Aufrechterhaltung des Zustands der synchron-polysemen Kontingenz, des zugleich Eigen-und-Fremd-Seins der Wohnung, über das Ende von Birks Erzählung hinaus ermöglicht. Diese Kontingenz wird durch eine Reihe weiterer, teils widersprüchlicher Hinweise verstärkt, die nicht nur jeweils für die eine oder die andere Variante sprechen, sondern sogar meist beide Interpretationen gleichzeitig stützen. Zum Ersten ermöglicht der Umstand, dass sich die ungewöhnlichen Geschehnisse in der Wohnung mitten in der Nacht und damit bei Dunkelheit abspielen, eine relativ banale Erklärung. Dass Birk, anders als in seinem Wunsch, Dieb zu werden, beschrieben – »[…] заглядывать в лица спящих светлой щелью фонарика« –1457 zur Orientierung in der Wohnung lediglich zweimal ein Streichholz anzündet und seine Umgebung ansonsten nur im Dunkeln erahnen kann, stützt die Annahme, dass schlicht eine Verwechslung von Räumlichkeiten und Schlafendem, hervorgerufen durch mangelnde Beleuchtung, vorliegt. Doch selbst diese vermeintlich simple Lesart enthält bei näherer Betrachtung mehrere Interpretationsvarianten: Erstens, Birk verwechselt eine fremde Wohnung mit zufälligerweise identischem Schnitt und deren Bewohner mit seinem eigenen Zuhause bzw. sich selbst – wobei hier allerdings die Frage offenbleibt, warum sein Schlüssel in das fremde Schloss passt. Zweitens, es handelt sich zwar um die eigene Wohnung, jedoch um ein fremdes Zimmer und dessen Bewohner (die genauen Lebensumstände Birks sind unbekannt). Drittens schließlich wäre aus rationaler Sicht auch denkbar, dass Birk bei sich zu Hause ist, in sein Zimmer geht und eine dort aus irgendeinem Grund schlafende andere Person mit sich selbst verwechselt. Da grundsätzlich alle drei Varianten möglich, aber auch mehr oder weniger un1455 RB , 350. Dt.: »›Danach sind Sie zu sich zurückgekehrt?‹ ›Nein‹, sagte er [Birk] gedehnt, die Augen halb schließend, ›ich übernachtete im Hotel. Im Übrigen hat das keine Bedeutung.‹«. 1456 RB , 350. Dt.: »›[…] sind Sie zu sich zurückgekehrt?‹«. 1457 RB , 345. Dt.: »[…] mit der hellen Öffnung der Laterne in die Gesichter der Schlafenden zu blicken«.

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wahrscheinlich sind, kann hier von einer eindeutigen Lesart nicht die Rede sein. Die tatsächlichen Verhältnisse werden – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – im Dunkeln gelassen. Zum Zweiten gibt es eine Reihe von Indizien, die auf eine Sinnestäuschung nicht aufgrund äußerer Umstände wie Dunkelheit, sondern aufgrund des körperlichen und v. a. des psychischen Zustands des Protagonisten hindeuten. Diese liefern allerdings ebenfalls keine eindeutige Information über das Wesen von Wohnung und schlafender Person. Dem Zuhörer bzw. dem abstrakten Leser ist, wie erwähnt, bekannt, dass Birk gerade einen einwöchigen Alkoholexzess hinter sich hat, dessen Nachwirkungen seine geistige Klarheit möglicherweise beeinflussen. Zudem zeigt sich bereits bei der Beschreibung seines Rauschzustands die phantasieanregende Wirkung des Alkohols auf den Protagonisten, dessen Ich in seiner Vorstellung daraufhin die verschiedensten Formen annimmt: »Я был всем, что может представить человеческое сознание,  – птицей и королем, нищим на паперти и таинственным лилипутом […].«1458 Dabei werden nicht nur die Grenzen seiner realen leiblichen Gestalt überschritten, sondern sogar die der Gattung Mensch. Die Vision des verdoppelten eigenen Ich mit seinem normalen Aussehen erscheint demgegenüber vergleichsweise gewöhnlich – besitzt allerdings aufgrund ihrer nun erlangten Materialität eine gänzlich neue Qualität. Als Grund für diese Steigerung kann der unterschiedliche Ursprung der beiden Ich-Vorstellungen betrachtet werden: Erstere resultiert explizit aus dem Bewusstsein des Protagonisten, letztere aus seinem Unterbewusstsein. Dies jedenfalls suggeriert die oben angesprochene Trance mit Halluzinationen, in die Birk – »против моей воли«1459 – bereits vor der Wohnungstüre verfällt. Eine weitere, mit Rausch und Trance eng verwandte rationale Erklärung bietet der traumartige Zustand, den der diegetische Erzähler selbst als solchen benennt: »Я двигался […] как во снe«.1460 Bereits auf der Straße erscheinen Birk die Diebe weniger als Menschen aus Fleisch und Blut denn als flüchtige Traumgestalten und Produkte geistiger Verwirrung, die ebenso unvermittelt verschwinden, wie sie aufgetaucht sind: Оба они, появившиеся так внезапно и тихо, казались видениями яркого сна, навязчивыми образами, преследующими расстроенный мозг. Я, кажется, ожидал их исчезновения; по крайней мере ничуть бы не удивился, расплывись они в воздухе клубом дыма.1461 1458 RB , 343; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Ich war alles, was das menschliche Bewusstsein darstellen kann – Vogel und König, Bettler am Kircheneingang und geheimnisvoller Liliputaner […].«. 1459 RB , 348. Dt.: »gegen meinen Willen«. 1460 RB , 349. Dt.: »Ich bewegte mich […] wie im Traum«. 1461 RB , 344. Dt.: »Die beiden, die so plötzlich und leise aufgetaucht waren, erschienen wie Visionen eines hellen Traums, aufdringliche Bilder, die das verwirrte Gehirn verfolg-

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Der Umstand, dass die Ereignisse in der Nacht stattfinden, legt auch die Annahme nahe, dass der Held sie nicht nur wie im Traum, sondern vollständig im Traum erlebt. Letzteres würde alle bestehenden Widersprüche aufheben, da Träume nach einer ganz eigenen, die Gesetze der Realität aufhebenden Logik funktionieren. Die in diesem Verständnis imaginäre Wohnung kann dann die Eigenschaften eines eigenen und eines fremden Raums widerspruchslos in sich vereinen. Sogar eine Begegnung mit sich selbst verletzt keine der in einer Traumwelt gültigen Regeln. Durch das Element des Traums reiht sich »Rasskaz Birka« in die lange Reihe der abendländischen Traumliteratur ein, die schon seit Calderón de la Barcas »La vida es sueño« (1636; dt.: »Das Leben ein Traum«) die Frage nach dem Verhältnis zwischen Realität und Traum stellt. Gerade die russische Literatur weist dabei laut Wöll eine starke Tendenz auf, den Traum als die eigentliche Realität zu setzen.1462 Dass sich auch und gerade Texte über Doppelgängerei häufig dieses Musters bedienen, ist nicht weiter verwunderlich, da es genau dem Mechanismus der Doppelgängererscheinung selbst entspricht: etwas eigentlich Imaginäres tritt – zumindest für den von der Verdoppelung Betroffenen – als Realität auf. In »Rasskaz Birka« wird diese Verkehrung der Verhältnisse umso plausibler, da der Protagonist auch umgekehrt Reales für Imaginäres hält. So wird er von einem seiner Zuhörer zu Beginn der Rahmenhandlung gefragt: »›[…] Надеюсь, вы не считаете нас призраками?‹«1463 Interpretiert man die Binnenerzählung also als nächtliches Traumerlebnis des Protagonisten, wird die Vermischung von Imaginärem mit Realem durch die raumzeitlichen Umstände der Doppelgängererscheinung auf die Spitze getrieben: In dieser Lesart entsteht eine zirkuläre Struktur, die eine Differenzierung zwischen Erstem und Zweitem Ich unmöglich macht – denn der schlafend im Bett liegende Birk sieht in seinem Traum Birk, der Birk schlafend im Bett liegen sieht. Mit den bislang dargelegten rationalen Lesarten von »Rasskaz Birka«, die von einer Sinnestäuschung bzw. Halluzination oder Imagination – begründet durch Dunkelheit, Trance, Rausch und Traum – ausgehen, ist die Bandbreite implizit angebotener Erklärungen für die Ereignisse in der Wohnung jedoch noch immer nicht ausgeschöpft. Die drei letztgenannten Interpretationsansätze suggerieren darüber hinaus, wie oben bereits angesprochen, einen Einfluss des Unterbewusstseins auf Birks Wahrnehmung, der durch die Schwächung des Bewusstseins ermöglicht wird. Damit wird die im ersten Teil der Binnenerzählung alleingültige psychologische Auslegung der Ereignisse, die auf Birks (halb-)wahnsinnigem Zustand basiert, aufgegriffen und fortgeführt. ten. Ich, so schien es, erwartete ihr Verschwinden; zumindest hätte ich mich nicht im Geringsten gewundert, wenn sie als Rauchschwaden in der Luft zerflossen wären.«. 1462 Vgl. Wöll: Doppelgänger, 36. 1463 RB , 337. Dt.: »›[…] Ich hoffe, Sie halten uns nicht für Trugbilder?‹«.

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Wöll weist in seiner Doppelgänger-Studie auf die besondere Eignung von Träumen und Wahnsinnszuständen für die literarische Thematisierung von Zwischenwelten hin.1464 Selbiges trifft auch für die beiden anderen bei Birk festzustellenden Zustände – Rausch und Trance – zu. Jeder einzelne davon versetzt den Helden in einen Zwischenzustand von Bewusstsein und Unterbewusstsein, der wiederum in dessen Unfähigkeit, die Wohnung zweifelsfrei als eigen oder fremd zu bestimmen, resultiert, sodass in seiner Wahrnehmung ein räumliches Dazwischen analog zum psychischen erzeugt wird. Auch in Dostoevskijs »Dvojnik«, dem Doppelgängertext der russischen Literatur schlechthin, besitzt der psychische Grenzzustand des Protagonisten eine Entsprechung im Schauplatz der Handlung. Im Petersburg des Romans gerät Goljadkin in einen »неясный и загадочный туман«,1465 welcher nicht nur die Konturen der realen Welt verschwimmen lässt, sondern auch »[d]ie Verwischung der Grenze zwischen Wirklichkeit und Wahnsinn symbolisiert«.1466 Nicht zufällig ist es dann auch – wie in »Rasskaz Birka« – Nacht, und zwar eine »ужасная, ноябрьская, – мокрая, туманная […]«,1467 in der eine klare Sicht auf die Dinge im wörtlichen wie im übertragenen Sinne unmöglich ist, als Goljadkin erstmals auf seinen Doppelgänger trifft. In »Ras­ skaz Birka« tritt der Nebel als Metapher im Zusammenhang mit dem Rausch des Protagonisten auf, den er als »пестрый танец в тумане«1468 beschreibt, und der ebenfalls der Doppelgängerbegegnung vorausgeht. Über die Farben wird eine Verbindung zu Birks späterer Trance hergestellt, die ihn »образы, цвета воспаленной мысли«1469 und eine »симфони[ю] красок«1470 erblicken lässt. Das in »Rasskaz Birka« auftretende Motiv des Traums spielt in »Dvojnik« ebenfalls eine entscheidende Rolle für die Narration. Der Held Goljadkin befindet sich oft in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, wodurch es für den abstrakten Leser, ähnlich wie in »Rasskaz Birka«, unmöglich wird zu entscheiden, ob die Ereignisse real sind oder vom Protagonisten nur im Traum erlebt werden. Am Morgen nach seiner ersten nächtlichen Doppelgängerbegegnung etwa kommentiert der Erzähler: »[…] господин Голядкин даже сам готов был признать все это несбыточным бредом, мгновенным

1464 Vgl. Wöll: Doppelgänger, 229. 1465 Dostoevskij: Dvojnik, 182. Dt.: »trüben, rätselhaften Nebel« (Dostojewski: Der Doppelgänger, 137). 1466 Derjanecz: Das Motiv des Doppelgängers, 81. 1467 Dostoevskij: Dvojnik, 138. Dt.: »schreckliche Nacht, eine richtige Novembernacht, feucht, neblig […]« (Dostojewski: Der Doppelgänger, 59). 1468 RB , 342. Dt.: »bunten Tanz im Nebel«. 1469 RB , 348. Dt.: »Bilder von der Farbe eines entzündeten Gedankens«. 1470 RB , 348. Dt.: »Symphonie von Farben«.

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расстройством воображения, отемнением ума […]«;1471 später grübelt Goljadkin darüber nach: »›Что же это, сон или нет […]? […] Сплю ли я, грежу ли я?‹«1472 Während dieser Zwischenzustand in »Dvojnik« aber im Verlauf des Romans »a […] nightmarish […] quality«1473 annimmt, bleibt das Moment des Bedrohlichen in »Rasskaz Birka« lange Zeit im Hintergrund, worauf weiter unten noch einzugehen sein wird. Die psychologische Interpretation der Ereignisse in Grins Erzählung ist – das Verständnis weiter erschwerend – ihrerseits mehrdeutig, da sie zwischen rationaler und irrationaler, übernatürlicher Perspektive oszilliert. Als psychologische Lesart, die oben ausgeführt wurde, begreift sie die Ereignisse, allen voran das Erscheinen des Doppelgängers, als durch den seelischen Zustand des Betroffenen erzeugte bloße Halluzination, d. h. als wissenschaftlich-rational erklärbares Phänomen. Als im Folgenden vorgestellte psychologische Lesart dagegen überschreitet sie die Grenze zum Fantastischen, indem sie dessen spezifische, oftmals übernatürliche Logik, welche unter anderem die unmittelbare Macht von Gedanken und Worten auf die Welt einschließt, übernimmt. Sie vereint damit die beiden einander eigentlich ausschließenden Referenzmodelle des Rationalen und des Irrationalen in sich. Das Moment des Irrationalen oder Übernatürlichen äußert sich in »Ras­ skaz Birka« vor allem in der unmittelbaren, performativen Beeinflussung der Außenwelt durch die Gedanken des Protagonisten (wie z. B. auch in »Zagadka predvidennoj smerti«), deren Höhepunkt die körperliche Abspaltung des von sich selbst entfremdeten Ich darstellt. Schon als der Protagonist beobachtet, wie die beiden Männer die Eingangstür des Hauses aufbrechen, verspürt er das Verlangen, selbst zum Einbrecher zu werden, »ходить на цыпочках в незнакомой квартире […] и бережно заглядывать в лица спящих […]«.1474 Sein Wunsch kann rückblickend als eine sich – durch die bloße Formu­lierung des Gedankens – selbsterfüllende Prophezeiung gelesen werden. Diesen Mechanismus der mentalen Steuerung äußerer Gegebenheiten spricht der diegetische Erzähler selbst explizit an. Bereits nach dem erfolgreichen Öffnen der Eingangstüre des Hauses stellt er überrascht fest: »Я мог теперь […], если соображение и находчивость придут на помощь, войти в любую

1471 Dostoevskij: Dvojnik, 144. Dt.: »[…] Herr Goljadkin neigte sogar selbst dazu [wörtl.: war sogar selbst bereit], dies alles für einen wesenlosen Fiebertraum, für eine augenblickliche Verwirrung der Einbildungskraft, für eine Verdunkelung des Verstandes zu halten […]« (Dostojewski: Der Doppelgänger, 69). 1472 Dostoevskij: Dvojnik, 147. Dt.: »›Was ist das nun? Ist es ein Traum oder nicht? […] Schlafe ich? Träume ich?‹« (Dostojewski: Der Doppelgänger, 75). 1473 Rosenthal: Dostoevsky’s experiment, 65. 1474 RB , 345. Dt.: »auf Zehenspitzen in einer unbekannten Wohnung herumzulaufen […] und behutsam in die Gesichter der Schlafenden zu blicken […]«.

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квартиру.«1475 Die Zuschreibung einer unmittelbaren Wirkung der eigenen Gedanken auf die materielle Umwelt wird hier allerdings durch die Kombination mit dem Begriff der ›Findigkeit‹, der eindeutig dem Bereich des Rationalen zuzuordnen ist, kaschiert. Vor der verschlossenen Wohnungstüre stehend, ist der Protagonist aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz davon überzeugt, dass die ungewöhnliche Ereigniskette, die mit der Begegnung mit den Einbrechern ihren Anfang genommen hat, ein logisches Ende finden muss: »Если конец должен быть, дверь откроется«.1476 Eben diese Öffnung der Tür und den ihm dadurch zugänglichen Raum beschwört der Protagonist anschließend in Gedanken herauf: Я представил себе, что дверь открыта, и я блуждаю по темным комнатам. Передняя, гостиная, зал, кабинет, спальня и кухня – вот пространство, которое я мог обойти и увидеть то, что знакомо, – обстановку средней руки; самое большее, лица спящих.1477

An dieser Stelle kommt es zu einer kaum merklichen, aber entscheidenden Variation zu der kurz vorher getroffenen Aussage (»ходить на цыпочках в незнакомой квартире […] и бережно заглядывать в лица спящих […]«):1478 Wie schon zuvor treten in seiner Vorstellung die Gesichter schlafender Personen auf; aber anders als in der vorangegangenen Imagination der ›unbekannten‹ (unvertrauten) Wohnung wird diese, zusammen mit allem in der Wohnung Befindlichen, nun als ›bekannt‹ (vertraut) klassifiziert. Während seiner Trance erblickt Birk das Verborgene schließlich sogar, ohne es bewusst und aktiv in seiner Vorstellungskraft erzeugt zu haben: »[…] скрытое стало приобретать зрительные образы«.1479 Die Koppelung dieser Vision an das Moment des Unbewussten durch die Trance suggeriert dabei, dass das hinter der Tür Verborgene (darunter auch der Doppelgänger) zugleich das jenseits der Grenze des Bewusstseins Liegende, Verdrängte, Eigen-Fremde ist. Der von Birk hinter der Türe erwartete »логическ[ий] кон[е]ц[…]«1480 folgt in diesem Sinne somit der individuellen Psychologik des Protagonisten. 1475 RB , 346. Dt.: »Ich konnte nun […], wenn der Verstand und die Findigkeit zu Hilfe kommen, in jede beliebige Wohnung hineingehen.«. 1476 RB , 347; Hervorhebung im Original. Dt.: »Wenn es ein Ende geben soll, wird die Tür aufgehen«. 1477 RB , 347. Dt.: »Ich stellte mir vor, dass die Tür geöffnet ist und ich durch dunkle Zimmer wandere. Das Vorzimmer, das Wohnzimmer, der Salon, das Arbeitszimmer, das Schlafzimmer und die Küche – hier war der Raum, durch den ich gehen und wo ich das sehen konnte, was vertraut war – eine Einrichtung mittlerer Güte; bestenfalls die Gesichter der Schlafenden.«. 1478 RB , 345. Dt.: »auf Zehenspitzen in einer unbekannten Wohnung herumzulaufen […] und behutsam in die Gesichter der Schlafenden zu blicken […]«. 1479 RB , 348. Dt.: »[…] das Verborgene begann visuelle Formen anzunehmen«. 1480 RB , 347. Dt.: »logische Ende«.

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Obwohl sich also keiner der möglichen Erklärungsansätze der Ereignisse im Kontingenzraum der Wohnung eindeutig gegenüber den anderen durchsetzt und diese ungültig macht, ist die psychologische Lesart der Erzählung letztlich aus mehreren Gründen gegenüber den anderen vorzuziehen. Erstens wird sie durch den sekundären Erzähler selbst sowohl in seiner Vorrede in der Rahmenerzählung als auch im ersten Teil der Binnenerzählung angeführt; zweitens legen die Topoi des Schattens, des Spiegelbilds und schließlich des autonomen Doppelgängers eine psychologische Interpretation nahe. Drittens lassen sich alle anderen Begründungen für die Verdoppelung der Wohnung und des Ich  – Sinnestäuschung in der Dunkelheit, Halluzination aufgrund von Traum, Rausch oder Trance, Wirken übernatürlicher Kräfte  – in sie integrieren. Aus diesem Grund steht sie, viertens, gleichsam stellvertretend für die in der Wohnung herrschende synchron-polyseme Kontingenz, in der ebenfalls verschiedene rationale und irrationale Interpretationsmuster gleichzeitig wirksam sind. Der Doppelgänger in der Wohnung: (Un-)heimlichkeit und fremd-eigenes Ich Die Rolle des Chronotopos der Doppelgängererscheinung soll im Folgenden noch etwas genauer betrachtet werden, da ihm eine zentrale Rolle zukommt. In mehrfacher Hinsicht ist dabei das hybride, eigen-fremde Wesen der Wohnung (das dem des Doppelgängers entspricht und diesen präfiguriert) entscheidend. Der fremd-eigene Charakter der Wohnung, zu der Birks Weg durch die Stadt führt, erhält seine außerordentliche Bedeutung bereits zu Beginn der Binnenerzählung durch ein einzelnes Lexem. Wenn Birk dort berichtet, dass »мое болезненное состояние выражалось в неопределенной и, повидимому, беспричинной тоске«,1481 bedient Grin sich dabei, wie auch schon in »Put’«, eines der Schlüsselkonzepte der russischen Kultur, um den Zustand seines Helden zu beschreiben. Wie bereits im Zusammenhang mit »Put’« dargestellt, wird diese als spezifisch für die russische Mentalität geltende Nostalgie für gewöhnlich auf die schier unendliche Weite des russischen Raums zurückgeführt und kann in zwei Richtungen wirken: als toska nach eben dieser Weite, oder als gegenläufiges Sehnen nach dem Schutz kleiner, abgeschlossener Räume angesichts der auch bedrohlichen Unbegrenztheit der russischen Ebenen. Auch die von Birk empfundene, von ihm sogar dreifach erwähnte toska1482 verbindet implizit die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus der gewohnten, vom verhassten odnoobrazie gekennzeichneten Umgebung mit dem Wunsch nach 1481 RB , 339; Hervorhebung von A. B. Dt.: »mein krankhafter Zustand drückte sich in einer unbestimmten und, offensichtlich, grundlosen Sehnsucht aus«. 1482 Vgl. auch RB , 340 u. 342.

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einem Zuhause, der in seiner Feststellung »Я не находил себе места […].«1483 zum Ausdruck kommt.1484 Dass ihn diese Sehnsucht, die sowohl Fernweh als auch Heimweh enthält, am Ende seiner ›Reise‹ durch die Stadt in die eigene und doch fremde, fremde und doch eigene Wohnung führt, ist dabei nicht nur logisch, sondern auch von höchster Bedeutung, denn der hybride Charakter des Raums ist dabei entscheidend für Birks Schicksal. Wäre die Wohnung eindeutig Birks eigenes Zuhause, würde die somit zirkuläre Struktur dieser Reise eine grausame Ironie bedeuten, die jede Hoffnung auf einen Ausweg Birks aus seiner Situation zunichtemacht; bereits zuvor scheitert mit seinem Suizidversuch ja sogar ein Ausbruch der radikalstmöglichen Art. Wäre die Wohnung dagegen eindeutig fremd, bliebe damit wiederum Birks Sehnsucht nach einem ›Ort für sich‹ unerfüllt. Auch die zweite mögliche Perspektive, die der Diskrepanz zwischen Birks Wahrnehmung und den tatsächlichen Umständen Rechnung trägt, führt zum selben Ergebnis: Würde Birks Spaziergang in einer eindeutig fremden Wohnung enden, in der er trotzdem nur Eigenes sieht, wäre der Ausbruch unmöglich, obwohl er in räumlicher Hinsicht gelänge. Ebenso erfolglos wäre das Streben nach einem Heim, wenn ihm selbst seine eigene Wohnung so fremd erscheint, dass er sie nicht erkennt. Die einzig mögliche Lösung dieses scheinbar ausweglosen Dilemmas besteht also in der kontingenten Doppelung der Wohnung als eigen und fremd, in ihrer Eigenschaft als Möglichkeitsraum des Sowohl-als-auch. Denn damit qualifiziert sich die Wohnung nicht nur als räumliches und qualitatives Ziel der toska, sondern bietet dank der strukturellen Übereinstimmung mit ihr – in Form der Hybridität – auch den idealen Schauplatz zu ihrer Überwindung. Die Reise ist in diesem Sinne also einerseits durchaus zirkulär, da sie den Protagonisten zu sich selbst  – im doppelten Verständnis des Zuhauses und des Ich – führt, andererseits geht mit ihr (wie letztlich mit jeder Reise) auch ein Perspektivwechsel einher, der den Protagonisten das fremde Eigene oder eigene Fremde nicht nur als Eigenes erkennen, sondern auch anerkennen lässt. Indem er die fremde, abgespaltene Seite seines Ich nicht als Nicht-Ich, sondern als Auch-Ich erkennt – »Человек этот был – я.« –1485 überwindet der Held seine umfassende Entfremdung. Die in seiner Vorrede angekündigte »сложн[ая] психологическ[ая] операци[я]«1486 ist damit gelungen. Die Voraussetzung dafür besteht aber in der Überwindung dessen, was gleich zu

1483 RB , 340. Dt.: »Ich fand keinen Platz für mich […].«. 1484 Und dies, obwohl es sich bei ihm um einen »богатый землевладелец« (RB , 351. Dt.: »reichen Grundbesitzer«) handelt, dem es an eigenem Raum, eigenem Boden nicht mangelt. Hierbei wird jedoch die im Theoriekapitel dargestellte Diskrepanz zwischen ›eigen‹ in Bezug auf Besitz und ›eigen‹ in Bezug auf Zugehörigkeit und Vertrautheit deutlich. 1485 RB , 349; Hervorhebung im Original. Dt.: »Dieser Mensch war – ich.«. 1486 RB , 337. Dt.: »schwere psychologische Operation«.

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Beginn der Erzählung als Hauptursache für die allumfassende Entfremdung identifiziert wurde: des odnoobrazie. Das geschieht, wie zu zeigen sein wird, auf zwei Ebenen, die den zwei Bedeutungen des Lexems entsprechen. Denn geht man in der Analyse des toska-Motivs noch einen Schritt zurück, lässt sich erkennen, dass beide Formen der toska letztlich auf die verhasste Monotonie (odnoobrazie) zurückzuführen sind, da diese einerseits den Wunsch nach einem Ausbruch aus ihr, d. h. Fernweh, hervorruft, andererseits aber, als Ursache der psychischen Krise und Entfremdung des Protagonisten, auch Heimweh. Die Überwindung des in Fernweh resultierenden odnoobrazie erfolgt dabei zunächst durch eine Ortsveränderung, durch die bereits angesprochene Überschreitung der Schwelle des Innenraums seines Zuhauses in den Außenraum der Straße. Die ersehnte Abwechslung, das Abenteuer – den Einbrechern auf der Straße stellt sich Birk sogar explizit als »человек, любящий приключения«1487 vor – entwickelt sich aber bezeichnenderweise nicht vor dem Hintergrund einer Reise in die Ferne, sondern infolge eines Stadtspaziergangs, d. h. einer auf ein Minimum reduzierten Reise, die keineswegs an einen vollkommen fremden Ort führt. Das Abenteuer besteht hier in der Konfrontation mit dem Fremden in sich selbst.1488 Diese löst beim Pro­ tagonisten eine Welle verschiedenster, intensiver Gefühle aus: »В несколько секунд я пережил столкновение сомнений и несомненности, иронии и экстаза, страха и ожидания […]«.1489 Durch das Lexem perežit’ (dt.: erleben) wird dabei eine Verbindung zu einer vorangehenden Passage der Erzählung hergestellt, in der Birk vor seinem Selbstmord über sein Gefühl des odnoobrazie reflektiert: »[…] я был поражен скудостью человеческих переживаний; все они не выходили за границы маленького, однообразного, несовершенного тела, двух-трех десятков основных чувств […].«1490 Eben diese Einförmigkeit der Empfindungen wird durch die Erlebnisse in der Wohnung 1487 RB , 346. Dt.: »Mensch, der Abenteuer liebt«. 1488 In Milan Kunderas »Kniha smíchu a zapomnění« (dt.: »Das Buch vom Lachen und Vergessen«) stellt der Philosophieprofessor fest: »Už od Jamesa Joyce víme, […] že největší dobrodružství našeho života je absence dobrodružství. […] Homérova Odyssea se přestěhovala dovnitř. Zniternila se.« (Kundera, Milan: Kniha smíchu  a zapomnění. Toronto 1987, 100. Dt.: »Spätestens seit James Joyce wissen wir [,] […] daß das größte Abenteuer unseres Lebens das Fehlen von Abenteuern ist. Homers Odyssee hat sich nach innen verlagert. Sich verinnerlicht.« (Kundera, Milan: Das Buch vom Lachen und Vergessen. Roman. Aus dem Tschechischen von Susanna Roth. München, Wien 1992, 125). 1489 RB , 348. Dt.: »Innerhalb einiger Sekunden durchlebte ich eine Kollision von Zweifeln und Zweifellosigkeit, Ironie und Ekstase, Angst und Erwartung […]«. 1490 RB , 341; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »ich war bestürzt über die Armseligkeit der menschlichen Gemütsbewegungen; sie alle gingen nicht über die Grenzen des kleinen, einförmigen, unvollendeten Körpers hinaus, von zwei, drei Dutzend grundlegenden Empfindungen […].«.

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beendet, was die Aufhebung der Entfremdung bedeutet und somit der anderen Ausprägung der toska, dem Heimweh Birks, Rechnung trägt. Die eigentliche und entscheidende Überwindung des odnoobrazie und damit der umfassenden Entfremdung Birks erfolgt jedoch durch die direkte Begegnung mit dem Zweiten Ich. Dabei wird nicht nur durch den Schock der Doppelgängervision die Monotonie des Daseins durchbrochen: Der Begriff lässt sich auch etymologisch, im visuellen Verständnis, als odno-obraz-ie, d. h. als ›Ein-Bild-heit‹ dechiffrieren. Diese wird im Verlauf der Handlung durch die hinsichtlich Konkretheit und Materialität kontinuierlich gesteigerte Reihe der Verdoppelungen, von Reflexion über Schattengestalt und Spiegelbild bis hin zum Doppelgänger selbst, letztlich also durch die Herstellung eines ›dvoe-obraz-ie‹, einer ›Zwei-Bild-heit‹, aufgehoben. Das in dem soeben angeführten Zitat beklagte odnoobrazie der Empfindungen, welche »не выходили за границы маленького, однообразного, несовершенного тела«,1491 gehen nun, im wahrsten Sinne des Wortes, über die Grenzen des Körpers, der damit auch nicht länger die Qualität odnoobraznoe (dt.: gleichförmig) aufweist, hinaus. Denn Birks innere Befindlichkeit, seine Ich-Spaltung, erhält damit eine direkte Entsprechung in seinem äußeren, duplizierten Erscheinungsbild. Dabei ist es letztlich unerheblich, ob die ›Zweibildheit‹ nur Einbildung (voobraženie) des Protagonisten ist oder sich durch Projektion aus dem Inneren tatsächlich in der Realität herausbildet. Entscheidend ist die nach erfolgloser innerer Selbstreflexion durch die Reise gewonnene neue Perspektive Birks auf sich selbst – mit Bachtin gesprochen, der normalerweise durch die Grenzen des eigenen Körpers verhinderte Blick von außen auf das Ich, der es erst vervollständigt und die (Wieder-)Herstellung einer Identität ermöglicht. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Doppelgängerphänomen in »Ras­ skaz Birka«, das, wie gezeigt wurde, mit den Motiven des Schattens, des Spiegels, des Traums, der Identitätskrise etc. zahlreiche Übereinstimmungen mit anderen literarischen Doppelgängern aufweist, frappierend von diesen. Denn während die Auswirkungen der Verdoppelung, wie erwähnt, klassischerweise darin bestehen, dass das Erste Selbst dem Wahnsinn anheimfällt und / oder die unerträgliche Konkurrenzsituation durch den eigenen Tod oder den des Zweiten Ich beendet,1492 stellt »Rasskaz Birka« dieses Schema gleichsam auf den Kopf. Die Phase des Wahnsinns und der Suizidversuch gehen hier der Doppelgängerbegegnung voraus; statt eine schwere psychische Krise zu verstärken, wirkt das Zusammentreffen mit dem Zweiten Ich kathartisch und ermöglicht seine psychische Genesung.

1491 RB , 341. Dt.: »nicht über die Grenzen des kleinen, einförmigen, unvollendeten Körpers hinausgingen«. 1492 Vgl. Wöll: Doppelgänger, 58 f.

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Die Aufhebung der Ich-Spaltung und Wiedererlangung der erschütterten Identität wird dabei auch performativ erreicht, in Übereinstimmung mit dem magischen Prinzip der Beeinflussung der Realität durch Worte, denn der sekundäre diegetische Erzähler formuliert die Tatsache der Identität des Ersten und des Zweiten Ich in dem bereits angeführten Zitat: »Человек этот был – я.«1493 Der Satz erhält dabei nicht nur durch die graphische Hervorhebung besonderes Gewicht, sondern auch durch seine inhaltliche Explizitheit und Prägnanz, die in deutlichem Kontrast zu den zahlreichen impliziten Aussagen und Anspielungen der Binnenerzählung stehen. Auf diese Weise erfolgt eine Feststellung des zuvor in einem kontingenten Schwebezustand befindlichen Sachverhalts. Im Zuge der verbalen Herstellung einer Verbindung zwischen Erstem und Zweitem Ich wird durch den Gedankenstrich jedoch im selben Moment auch eine Trennung zwischen ihnen graphisch markiert. Die Identifikation des Protagonisten mit der Person im Bett, d. h. das (An-)Erkennen sowohl des bewussten als auch des unbewussten, fremden Anteils des Ich als Ich, wird hierdurch vollzogen und zugleich negiert. Das intrasubjektive radikal Fremde wird somit nicht aufgehoben – kann nie gänzlich aufgehoben werden –, sondern als integraler Bestandteil des Ich anerkannt. Es ist sowohl Ich als auch Nicht-Ich, letztlich also, wie im Theorieteil ausgeführt, Auch-Ich. Diese Erkenntnis geht jedoch mit einem kurzen Moment der Unheimlichkeit einher, die sowohl die Verdoppelung der Wohnung als auch des Protagonisten betrifft. Auf deren Verhältnis sowie die Entstehung des Unheimlichen soll im nächsten Abschnitt eingegangen werden. Der Raum der Wohnung spielt auf mehreren Ebenen eine entscheidende Rolle für das Sujet der Erzählung. Zunächst einmal stellt sie den zentralen Schauplatz von »Rasskaz Birka« dar: Dort befindet sich der Mittelpunkt des monotonen, durch Selbstreflexionen in Frage gestellten Lebens des Protagonisten, dort unternimmt er den Versuch einer Auslöschung des selbigen, und dort vollziehen sich – gleichsam als Rahmen vor und nach dem Selbstmordversuch – die ersten beiden sichtbaren Verdoppelungen Birks mittels Schatten und Spiegel. Schließlich ist es erneut die (nunmehr eigen-fremde) Wohnung, in der die Geschichte ihren Höhepunkt und zugleich Abschluss findet. Wie schon im Falle der Treppe und der Schwelle als Zwischenraum spielt auch bei der Wohnung die Raumsemantik eine entscheidende Rolle. Die zu Beginn dieser Analyse erwähnte metaphorische Umschreibung der intrasubjektiven Fremdheit durch Freud als Nicht-Herr-im-eigenen-Haus-Sein setzt das Haus oder Heim, das den geographisch-räumlichen Kern der Sphäre des Eigenen darstellt, als Symbol für das Ich. Dieses Bild greift Kristeva auf, wenn sie in ihrer Studie »Étrangers à nous-mêmes« gleich zu Beginn kon1493 RB , 349; Hervorhebung im Original. Dt.: »Dieser Mensch war – ich.«.

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statiert: »Étrangement, l’étranger nous habite: il est la face cachée de notre identité, l’espace qui ruine notre demeure […]«.1494 Indem sich dieses Heim, die Wohnung in »Rasskaz Birka«, sowohl für den Protagonisten selbst als auch für den Leser letztlich als eigen-fremd darstellt, wird es zu einer noch deutlich präziseren Metapher für das gespaltene Ich des Protagonisten. Dessen fremde, verdrängte Seite tritt nicht zufällig ausgerechnet an genau diesem Ort an die Oberfläche: Der Held wird von seinem Doppelgänger im wahrsten Sinne des Wortes heimgesucht. Sein Auftreten stellt den Höhepunkt einer kurzen, wenige Minuten erzählter Zeit umfassenden, aber für die Handlung entscheidenden Phase der Erzählung dar, in der das Moment des Unheimlichen kontinuierlich an Intensität gewinnt. Auf die auch in »Rasskaz Birka« deutlich werdende Verbindung zwischen Heim und Unheimlichkeit weist Freud in seinem, im Theorieteil bereits kurz vorgestellten, Aufsatz »Das Unheimliche« hin.1495 Dabei lässt sich eine deutliche Übereinstimmung der Eigenschaften des von Grin für die Doppelgängervision gewählten Schauplatzes mit den Betrachtungen Freuds beobachten, die dieser – neun Jahre nach dem Erscheinen von »Rasskaz Birka« – vornimmt. Freud stellt, ausgehend von verschiedenen Wörterbucheinträgen zum Begriff ›heimlich‹,1496 eine Ambivalenz dieses Lexems zwischen zwei sehr unter1494 Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, 9. 1495 Der Gedanke wird später von Heidegger aufgegriffen, wenn dieser die Unheimlichkeit als ein »Un-zuhause« (Heidegger: Sein und Zeit, 189; Hervorhebung im Original) umschreibt, das durch Angst erzeugt wird. Heideggers Verständnis des Unheimlichen unterscheidet sich allerdings von Freuds dahingehend, dass für Freud das Unheimliche nicht die Folge der Angst im Allgemeinen ist, sondern eine Unterart der Angst bzw. des ›Ängstlichen‹: »[…] wenn die psychoanalytische Theorie in der Behauptung recht hat, daß jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleichgültig von welcher Art, durch die Verdrängung in Angst verwandelt wird, so muß es unter den Fällen des Ängstlichen eine Gruppe geben, in der sich zeigen läßt, daß dies Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist. Diese Art des Ängstlichen wäre eben das Unheimliche […]« (Freud: Das Unheimliche, 70). Homi Bhabha bedient sich in seiner Studie »The Location of Culture« mit expliziter Referenz auf Freud des durch eine Lehnübersetzung aus dem Deutschen gebildeten Begriffs der »unhomeliness« im Kontext kolonialer Beziehungen und Begegnungen (vgl. Bhabha: The Location of Culture, 9–18). 1496 Freud zitiert zunächst die Einträge zum Stichwort ›heimlich‹ aus Daniel Sanders’ »Wörterbuch zur deutschen Sprache« von 1860, dessen erste Bedeutung mit »heimelig, zum Hause gehörig, nicht fremd, vertraut […]« umschrieben wird, die zweite mit »versteckt, verborgen gehalten, so daß man Andre nicht davon oder darum wissen lassen, es ihnen verbergen will, vgl. Geheim […]« (Sanders, Daniel: Wörterbuch der deutschen Sprache. Mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart. Bd. I. A – K. Leipzig 1860, 729; zit. nach Freud: Das Unheimliche, 48 u. 50). Anschließend (vgl. ebd., 52 f.) belegt er seine These mit Zitaten aus Grimms »Deutschem Wörterbuch« (1877): »[…] aus dem heimatlichen, häuslichen entwickelt sich weiter der begriff des fremden augen entzogenen, verborgenen, geheimen, eben auch in mehrfacher beziehung ausgebildet […]« (Grimm, Jacob / Grimm,

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schiedlichen, aber trotzdem verwandten Bedeutungen fest, von denen die eine das Heimische, Heimelige, Vertraute bezeichnet, die andere das Geheime, Versteckte, Verborgengehaltene.1497 In dieser zweiten Bedeutung fällt das ›Heimliche‹ unter der Bedingung seiner Wiederkehr letztlich mit seinem Gegenteil, dem ›Unheimlichen‹ zusammen,1498 wobei das Präfix un- »die Marke der Verdrängung«1499 darstellt. Dementsprechend definiert Freud: »Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.«1500 Auch im kontingenten Doppelraum der Wohnung aus »Rasskaz Birka« verbindet sich das Heimische des eigenen Zuhauses mit dem Heimlichen des Einbruchs in eine fremde Wohnung, bis die Stimmung immer deutlicher ins Unheimliche kippt. Entscheidend hierfür ist, wie auch von Freud identifiziert, das »Moment der Wiederholung des Gleichartigen«.1501 Bereits auf der Treppe erlebt der Protagonist ein erstes, flüchtiges Déjà-vu in Gestalt des Gefühls, »что все это было, и я уже когда-то стоял так же на лестнице«.1502 Kurz darauf überfällt Birk unerwartet eine Vorahnung, die das hinter der Tür Verborgene und zuvor noch Ersehnte plötzlich bedrohlich wirken und ihn »с страстным желанием войти и убедиться, что ничего нет«1503 an die Tür herantreten lässt. Seine Hoffnung wird jedoch sogleich von einem unerklärlichen Wissen um das Kommende zunichte gemacht, das an den von Freud angeführten Mechanismus bei Zwangsneurotikern erinnert, dass ihre Gedanken und Worte sich oftmals realisieren.1504 Diesen führt Freud auf einen Glauben an die »Allmacht der Gedanken«1505 zurück, der dem Bereich des ins Unterbewusstsein verdrängten Animismus zuzurechnen ist.1506 Er entspricht dem weiter oben in Verbindung mit der übernatürlichen Lesart der Erzählung genannten magischen Prinzip der Beeinflussung der Außenwelt durch die Gedanken des Protagonisten, die die Öffnung des Türschlosses Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Vierten Bandes zweite Abtheilung. Leipzig 1877, Sp. 875; Hervorhebung und Orthographie im Original); »die bedeutung des versteckten, gefährlichen […] entwickelt sich noch weiter, so dasz heimlich den sinn empfängt, den sonst unheimlich […] hat« (ebd., Sp. 879; Hervorhebung und Orthographie im Original). 1497 Vgl. Freud: Das Unheimliche, 48–53. 1498 Vgl. ebd., 53. 1499 Ebd., 75. 1500 Ebd., 51. 1501 Ebd., 65. 1502 RB , 348. Dt.: »dass all das schon einmal war, und ich irgendwann schon genauso auf der Treppe gestanden war«. 1503 RB , 348; Hervorhebungen im Original. Dt.: »mit dem leidenschaftlichen Wunsch hi­ neinzugehen und mich davon zu überzeugen, dass (dort) nichts ist.«. 1504 Vgl. Freud: Das Unheimliche, 68. 1505 Ebd., 69. 1506 Vgl. ebd. Zum Animismus als wiederkehrendem Verdrängtem vgl. ebd., 69 f.

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ermöglicht. Auch in dieser Hinsicht fügt sich also die übernatürliche Interpretation in die psychologische ein. Birks auf den Wunsch, »что ничего нет«,1507 gleichsam antwortende Feststellung »Я – знал, что будет.«1508 enthält durch die Polysemie des Lexems čto dabei nicht nur die Aussage, dass hinter der Tür, anders als erhofft, etwas sein wird, sondern auch, was. Rückblickend, mit dem Wissen, dass es sich dabei um das eigene Ich handelt, dem Birk kurz darauf gegenübersteht, ist dann auch hier das Personalpronomen ja (dt.: ich), abgesetzt durch den Gedankenstrich, als Substantiv, d. h. als ›das Ich‹ zu interpretieren. Durch den so möglichen grammatikalischen Bezug des budet (dt.: wird (sein)) auf das ja (dt.: ich) wird aus Birks wenig konkreter Aussage die selbsterfüllende Prophezeiung ›Das Ich wusste, dass es [in der Wohnung] sein wird‹. Referenz des ›Ich‹ ist allerdings auch hier nicht der bewusste Teil Birks, sondern sein unbewusster, fremder, verdrängter Teil, wie Birks Präzisierung dessen, was sich in der Wohnung befindet, zeigt: »Есть неизвестное.«1509 Dieses unbewusste Ich weiß nicht nur um das (in Freuds Terminologie) Geheime hinter der Türe (mit dem es identisch ist), sondern kennt – zur größten Irritation des bewussten Teils des Ich – auch mit absoluter Sicherheit den Weg durch die vollkommen dunkle Wohnung: »Я двигался […] как во сне, не зажигая спички, руководимый инстинктом, и, когда сделал десять шагов, понял, что надо остановиться. Почему? Я сам не знал этого.«1510 An dieser Stelle wird die zuvor nur erahnbare Spaltung des Ich bereits deutlicher: Das erste ja (dt.: ich) lässt sich dank der Elemente ›Traum‹ und ›Instinkt‹ der Sphäre des Unbewussten zuordnen, das zweite der des Bewusstseins, des Wissens. Als »Я сам«1511 wird Letzteres dabei als primäres, eigentliches Ich qualifiziert, mit dem das erstgenannte als fremd kontrastiert wird. Dieser bewusste Teil des Ich wird daraufhin von einem zweiten, ebenso flüchtigen Déjà-vu erfasst – »неуловимо, как тень от выстрела, скользнуло воспоминание, что этот момент был« –,1512 bevor er schließlich die vollständige Übereinstimmung des Raums, in dem er sich befindet, mit seinem eigenen Zimmer erkennt. Der eigen-fremde Charakter der Wohnung wird an dieser Stelle erneut auf indirekte Weise betont und dabei sogar als Äquivalent des eigenen Ich konzipiert, wenn Birk die Einrichtung des Zimmers als 1507 1508 1509 1510

RB , 348; Hervorhebungen im Original. Dt.: »dass nichts ist«. RB , 348; Hervorhebungen im Original. Dt.: »Ich – wusste, was sein wird.«. RB , 348. Dt.: »Dort ist das Unbekannte«. RB , 349; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Ich bewegte mich […] wie im Traum, ohne

Streichhölzer anzuzünden, vom Instinkt geleitet, und als ich zehn Schritte gemacht hatte, verstand ich, dass ich stehenbleiben musste. Warum? Ich wusste es selbst nicht.«. 1511 RB , 349. Dt.: »Ich selbst«. 1512 RB , 349. Dt.: »nicht zu fassen, wie der Schatten eines Schusses, huschte die Erinnerung vorbei, dass dieser Moment schon einmal da war«.

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»известно мне более, чем свое собственное лицо«1513 beschreibt – nachdem ihm eben dieses eigene Gesicht wenig vorher im Spiegel wie das eines Fremden erschienen ist. In diesem Moment nimmt das Gefühl des Unheimlichen aufgrund der »unbeabsichtigten Wiederholung«1514 in Form der Verdoppelung der Wohnung endgültig überhand: »Отчаянный страх парализовал мои члены. Ясно, всем существом своим я чувствовал, что сейчас произойдет чтото невообразимое, абсурдное, невозможное.«1515 Der Protagonist sucht vergeblich nach etwas, das durch eine Abweichung die unheimliche Wiederholung aufhebt: Это была моя комната; все, начиная с мебели и кончая безделушками на камине, – было мое […]. С тяжестью в сердце, беспомощный сообразить чтонибудь, я обошел все углы, и каждый предмет, который встречали глаза, был мой. Ни одной вещи, способной опрокинуть кошмар чудовищного сходства, не было. Я был у себя.1516

Das von Freud in diesem Zusammenhang angeführte Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber den scheinbar unentrinnbaren, verhängnisvollen Ereignissen, wie es in manchen Traumzuständen auftritt,1517 wird hier durch die Lexeme bespomoščnyj (dt.: hilflos) und košmar (dt.: Alptraum) verdeutlicht. Mit der Wiederkehr des fremd-eigenen Ich in Gestalt des Doppelgängers erreicht die Unheimlichkeit ihren Höhepunkt: Das vermeintlich fremde Ich, das aber nach Freud wie jedes »Unheimliche […] wirklich nichts Neues oder Fremdes [ist], sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist«,1518 gelangt an die Oberfläche und drängt in Birks Bewusstsein. Anders als in den meisten literarischen Darstellungen des Doppelgängertums – allen voran Dostoevskijs »Dvojnik«, der von seinem Doppelgänger über mehrere Kapitel hinweg verfolgt wird –, handelt es sich bei dem Zweiten Ich in »Rasskaz Birka« allerdings um eine einmalige Erscheinung, sodass auch der 1513 RB , 349. Dt.: »mir besser bekannt als mein eigenes Gesicht«. 1514 Freud: Das Unheimliche, 72. 1515 RB , 349. Dt.: »Eine verzweifelte Angst lähmte meine Glieder. Ich fühlte klar, mit meinem ganzen Wesen, dass jetzt etwas Unvorstellbares, Absurdes, Unmögliches geschehen wird.«. 1516 RB , 349; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Das war mein Zimmer; alles, angefangen mit den Möbeln, bis hin zu dem Nippes auf dem Kamin – war meins […]. Mit Schwere im Herzen, hilflos etwas zu begreifen, ging ich alle Ecken ab, und jeder Gegenstand, auf den meine Augen trafen, war meiner. Es gab nicht eine einzige Sache, die den Alptraum der ungeheuerlichen Ähnlichkeit umstürzen konnte. Ich war bei mir.«. 1517 Vgl. Freud: Das Unheimliche, 65 f. 1518 Ebd., 70.

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Moment des Unheimlichen in seiner akuten Form nur von kurzer Dauer ist. Der Protagonist verlässt die verdoppelte Wohnung mit dem verdoppelten Ich fast unmittelbar nach seiner Vision, nur wenige Sätze später endet die Binnenerzählung beinahe abrupt, und kurz darauf auch die Rahmenerzählung, sodass der abstrakte Leser keine weitere Information über die Nachwirkungen der unheimlichen Begegnung erhält. Die Vorrede Birks zu Beginn der Erzählung zeigt zudem, dass die Unheimlichkeit aus seiner Sicht zusammen mit dem Doppelgänger gänzlich verschwindet, sodass er selbst seine Erlebnisse wie folgt bewerten kann: »Нет, это не страшное. Это то, что живет в душе многих людей.«1519 Dabei weist er durch das Lexem žit’ (dt.: leben) nicht nur auf die für seine folgende Erzählung zentrale Metapher des Wohnens und der Fremdheit ›im eigenen Haus‹ voraus, sondern tilgt durch die hier zum Ausdruck kommende Akzeptanz dieses an die Oberfläche getretenen, einst verdrängten Fremden als Teil des Eigenen rückblickend, aus narratorialer Perspektive, dessen Unheimlichkeit. Auf diese Weise qualifiziert er nicht nur seine Selbstentfremdung als überwunden, sondern die Eingliederung seiner selbst in eine Gruppe – »многих людей«1520 – zeigt, dass auch seine soziale Entfremdung aufgehoben ist. Dies beweist auch die Erzählsituation an sich, denn Birk befindet sich unter Leuten und führt eine Unterhaltung, einen Dialog mit ihnen. Dass das Unheimliche in »Rasskaz Birka« nur wenig Raum erhält, lässt sich nicht nur aus der Position der Doppelgängervision ganz am Ende der Erzählung erklären, sondern auch aus Todorovs Definition des Phantastischen »comme ligne de partage entre l’étrange et le merveilleux«.1521 Sobald eine eindeutige Entscheidung zwischen den beiden Optionen möglich ist, verschwindet das Phantastische zugunsten des Unheimlichen bzw. des Wunderbaren. Im Umkehrschluss kann somit das Unheimliche erst in dem Moment seine Macht entfalten, wenn die Existenz übernatürlicher Kräfte kategorisch ausgeschlossen wird. Selbiges betont auch Freud,1522 wenn er anmerkt, dass in einer literarischen Welt wie der des Märchens, die »den Boden der Realität von 1519 RB , 338; Hervorhebung im Original. Dt.: »Nein, das ist nichts Schreckliches. Es ist das, was in der Seele vieler Menschen lebt.«. 1520 RB , 338. Dt.: »vieler Menschen«. 1521 Todorov: Introduction à la littérature, 31. 1522 Todorovs Begriff des ›Unheimlichen‹ stimmt nicht vollständig mit demjenigen Freuds überein, worauf er selbst hinweist (vgl. ebd., 52). Obwohl Todorov keine Definition nennt, lässt sich aus seinen Ausführungen erkennen, dass sein Verständnis des Unheimlichen breiter gefasst ist als Freuds und sich v. a. durch die Reaktionen auszeichnet, die es hervorruft, zumeist also Angst. Da sich das Gefühl der Unheimlichkeit aber auch in diesem breiteren Verständnis letztlich wiederum auf die Überschreitung von Tabus zurückführen lässt, erkennt Todorov Freuds Theorie zum Ursprung des Unheimlichen an und übernimmt auch den Begriff von ihm (vgl. ebd., 52–54).

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vornherein verlassen und sich offen zur Annahme der animistischen Überzeugungen bekannt«1523 hat, keine unheimliche Wirkung auftreten kann.1524 Diese Voraussetzung erklärt das nur flüchtige Gefühl von Unheimlichkeit in »Rasskaz Birka«. Lediglich für einen kurzen Moment kippt die Erzählung in den Bereich des Unheimlichen, als der Protagonist – und mit ihm der durch seine Augen wahrnehmende abstrakte Leser – versucht, die Existenz übernatürlicher Kräfte zu leugnen. Dies geschieht einmal in Form seiner (letztlich vergeblichen) Weigerung, die völlige Übereinstimmung der Einrichtung mit der seiner Wohnung anzuerkennen und ein zweites Mal durch das Hinzuholen des Hauswarts als Bestätigung dafür, dass das Bett mit dem von ihm gesehenen Doppelgänger in Wirklichkeit leer ist, das Zweite Ich also nur eine rational erklärbare Sinnestäuschung war. Abgesehen von diesen kurzen Augenblicken wird durch die synchron-polyseme Kontingenz am Schauplatz der Wohnung die Unschlüssigkeit (frz.: l’hésitation)1525 des abstrakten Lesers wie auch des Protagonisten und damit das labile Gleichgewicht des Phantastischen durchgängig aufrechterhalten und somit das Unheimliche in Schach gehalten. Dies geschieht mit Hilfe einer Reihe narrativer Mittel, die abschließend noch Betrachtung finden sollen. Verdoppelung des Sujets in der Narration Entscheidend für die verschiedenen parallel existierenden Interpretationsmöglichkeiten, die eine eindeutige Lesart der Binnenerzählung von »Rasskaz Birka« unmöglich machen und die synchron-polyseme Kontingenz erzeugen, ist die Gestaltung der Narration des Werks. Das gesamte Geschehen der Binnenerzählung wird von einem diegetischen Erzähler aus teils narratorialer, teils figuraler Perspektive berichtet, d. h. aus der Perspektive des ›jetzigen‹, erzählenden, und des damaligen, erlebenden Ich. Eine objektive, glaubwürdige Darstellung der Ereignisse, die dem Leser eine klare Orientierung bietet, ist damit aus zwei Gründen nicht gegeben. Zum einen ist die Narration durch 1523 Freud: Das Unheimliche, 81. 1524 Nach Freud ist – sehr ähnlich wie bei Todorov in seinen Überlegungen zum Phantastischen (vgl. Todorov: Introduction à la littérature, 37) – für die Entstehung oder Nichtentstehung von Unheimlichkeit in der Literatur entscheidend, ob die vom Autor erschaffene Diegese denselben Gesetzmäßigkeiten wie die außerliterarische Wirklichkeit unterliegt oder nach eigenen Regeln funktioniert, die z. B. auch fantastische Phänomene einschließen und damit als ›normal‹ qualifizieren. Unter der letztgenannten Voraussetzung verlieren Wesen wie Dämonen oder Geister Verstorbener ihr unheimliches Potential und fügen sich bruchlos in die Diegese ein. Übernimmt der Schriftsteller für sein Werk dagegen die Regeln der außerliterarischen Welt – oder gibt zumindest vor, dies zu tun –, unterliegt es auch denselben Bedingungen für die Entstehung von Unheimlichkeit. Dabei bietet die literarische Welt dem Autor sogar die Möglichkeit zur Steigerung des Unheimlichen weit über das in der Realität anzutreffende Maß hinaus (vgl. Freud: Das Unheimliche, 81 f.). 1525 Todorov: Introduction à la littérature, 29.

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fehlende Distanz gekennzeichnet, die aus der subjektiven Darstellung der Ereignisse und dabei vor allem aus der Doppelrolle Birks als Erzähler und erlebende Figur resultiert. Nicht zufällig tritt das Pronomen ja (dt.: ich) mit Referenz auf Birk (in den beiden genannten Rollen) im nur 15 Seiten umfassenden Text 165 Mal auf – und verweist dabei, wie oben erwähnt, auch auf das Objekt der Binnenerzählung, das über ihren gesamten Verlauf hinweg verhandelt, in Frage gestellt und schließlich wiedererlangt wird – das Ich des Helden. Neben dem Fehlen einer persönlichen Distanz trägt zum anderen das Vorhandensein von zeitlicher Distanz zu einer verminderten Objektivität der Darstellung bei, denn Birks Erzählung erfolgt rückblickend und nach einer gewissen Zeit, was eine bewusste oder unbewusste Verzerrung des Erlebten in der Erinnerung, auch bei Einnahme einer figuralen Perspektive, wahrscheinlich macht. Hinzu kommt die – noch weit schwerwiegendere – Tatsache, dass Birk sich selbst in mehrfacher Hinsicht als unzuverlässiger Erzähler qualifiziert. Dies geschieht sowohl aktiv, durch die ausführliche Beschreibung seines psychischen Befindens zu Beginn der Binnenerzählung und die Erwähnung nicht nur eines, sondern gleich vier verschiedener bewusstseinstrübender Zustände, als auch passiv, durch die Nennung oder Andeutung mehrerer, widersprüchlicher Erklärungsmuster. Darüber hinaus wird eine objektive(re)  Instanz, die das Geschehen aus einer distanzierten Perspektive bewerten und dadurch eine eindeutige Lesart ermöglichen könnte, konsequent verweigert, da Birk ab dem entscheidenden Moment, d. h. mit dem Betreten des Kontingenzraums der Wohnung, (mit sich selbst) allein ist. Der später hinzugeholte Pförtner, der die reale Existenz des Doppelgängers eindeutig be- oder widerlegen könnte, findet zwar nur ein leeres Bett vor – sieht aber andererseits die Einbruchsspuren an der Eingangstür1526 und erhält durch diese partielle Bestätigung der von Birk selbst als untrennbar verbunden klassifizierten Ereigniskette die Kontingenz weiterhin aufrecht. Die aus der hier dargelegten Erzählsituation resultierende verunsichernde Wirkung betrifft dabei nicht nur den abstrakten Leser, sondern auch Birks Publikum  – darunter den namenlosen diegetischen Erzähler der Rahmenhandlung  –, das dadurch für den abstrakten Leser ebenfalls als Orientierung gebende Instanz ausscheidet.1527 Die Rahmenhandlung bringt zudem noch eine letzte Deutungsvariante ins Spiel, nämlich die Einordnung der berichteten Ereignisse als insgesamt nicht real, sondern (willentlich erzeugtes) Phantasieprodukt Birks. Das Schwanken zwischen den beiden Möglichkeiten kommt vor allem im Postskriptum des primären diegetischen Erzählers zum 1526 Vgl. RB , 350. 1527 Auch hier liegt also eine Verdoppelung vor: Es gibt zwei Erzähler (der Rahmen- und der Binnenerzählung) und zwei Adressaten: die Zuhörer aus der Rahmenerzählung und den abstrakten Leser.

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Ausdruck, der sich bis dahin im Wesentlichen auf die reine Wiedergabe des von ihm Gesehenen und Gehörten beschränkt und erst ganz am Ende selbst Stellung zu Birks Geschichte nimmt. Aufgrund seiner fortbestehenden Unschlüssigkeit bezüglich des Wahrheitsgehalts der Erzählung und der persönlichen Perspektive des primären Erzählers – »я пришел к убеждению«,1528 »по-моему«1529 – eignet sich das Postskriptum jedoch weder als objektives, noch als endgültiges Fazit, dem sich der abstrakte Leser anschließen könnte. Birk selbst nimmt die Zweifel seiner Zuhörer vorweg, als er einführend ankündigt, auch er würde die folgende Geschichte nicht glauben, würde sie ihm jemand erzählen.1530 Jedoch versucht er ihren Wahrheitsgehalt in seiner Vorrede dadurch zu beweisen, dass er sich selbst als »человек, абсолютно лишенный так называемого ›воображения‹«1531 bezeichnet, weshalb er gar nicht in der Lage sei, etwas Erfundenes als etwas tatsächlich Geschehenes darzustellen. Allerdings bestätigt den Eindruck des abstrakten Lesers, dass Birk seine Behauptung durch die anschließend erzählte Geschichte selbst widerlegt, auch der namenlose Erzähler der Rahmenhandlung in seinem Postskriptum: »[…] по-моему, то место в его рассказе, где он грезит перед запертой дверью, доказывает противное.«1532 Vor allem aber ist es Birks folgende Definition von ›Vorstellungskraft‹ (russ.: voobraženie), die seine Behauptung Lügen straft, denn die Doppelgängervision stellt – im zweifachen Wortsinn – die Verkörperung der von Birk geleugneten »способност[ь] интеллекта переживать и представлять мыслимое не абстрактными понятиями, а образами«1533 dar. Zudem entlarvt Birk in seinen weiteren Ausführungen darüber, dass die Glaubwürdigkeit einer Geschichte auf ihrer Ausschmückung mit Details beruhe, implizit seine eigene Erzählstrategie: В газетном сообщении об убийстве мы можем прочесть так: ›Сегодня утром неизвестным преступником убит господин N‹. Подобное сообщение может быть ложным и достоверным в одинаковой степени. Но заметка, ко всему остальному гласящая следующее: ›Кровать сдвинута, у бюро испорчен замок‹, не только убеждает нас в действительности убийства, но и дает некоторый материал для картинного представления о самом факте.1534 1528 RB , 351; Hervorhebung von A. B. Dt.: »ich kam zu der Überzeugung«. 1529 RB , 351. Dt.: »meiner Meinung nach«. 1530 Vgl. RB , 337. 1531 RB , 337. Dt.: »Mensch vollkommen ohne so genannte ›Vorstellungskraft‹«. 1532 RB , 351. Dt.: »[…] meiner Meinung nach beweist die Stelle in seiner Erzählung, wo er vor der verschlossenen Tür fantasiert, das Gegenteil.«. 1533 RB , 337. Dt.: »Fähigkeit des Intellekts, das Gedachte nicht in abstrakten Begriffen, sondern in Bildern zu erleben und darzustellen«. 1534 RB , 338. Dt.: »In einer Zeitungsmeldung über einen Mord können wir so etwas lesen: ›Heute Morgen wurde Herr N von einem unbekannten Verbrecher ermordet.‹ Eine sol-

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In frappierender Übereinstimmung mit der Zeitungnotiz schmückt Birk seine Erzählung selbst mit zahlreichen Details aus, unter anderem ebenfalls mit einer  – eigentlich nichtssagenden, da sehr allgemein gehaltenen, und doch scheinbar anschaulichen – Beschreibung des Zimmers (»картины, оконные занавески, книги, посуда, пол, потолок, обои, письменные принадлежности«),1535 und nicht zuletzt mit einer zweifachen Beschreibung des zerstörten Schlosses der Eingangstüre.1536 Das scheinbar zufällig gewählte Beispiel in Birks Vorrede dient damit als eine Art Metakommentar für seine eigene Erzählung. Obwohl Birks vorgeschaltete Ausführungen seiner eigenen Aussage zufolge seine Geschichte als wahr ausweisen und damit Eindeutigkeit hinsichtlich ihrer Interpretation erzeugen sollen, bewirken sie gerade das Gegenteil: Die Binnenerzählung gerät damit in denselben (erneut kontingenten) Schwebezustand wie die von Birk zitierte Zeitungsnotiz, welche »может быть ложным и достоверным«.1537 Diese Ambivalenz ist bereits im doppeldeutigen Titel von Grins Erzählung  – »Rasskaz Birka«  – angelegt, der sowohl auf die Erzählung im Sinne einer Gattung des Fiktionalen als auch auf den Vorgang des Erzählens im Sinne einer Wiedergabe realer Ereignisse referiert. Auf den zweiten Blick, den der primäre Erzähler der Rahmenhandlung durch seine Wiederholung der folgenden, entscheidenden Passage erleichtert,1538 erweist sich die Zweideutigkeit allerdings durchaus als von Birk intendiert, da das durch sie entstehende Moment des Zweifelns seitens der Zuhörer für ihn keineswegs negativ konnotiert ist. Wie beiläufig  – und im Widerspruch zu seinen übrigen Ausführungen – erwähnt Birk in seiner Vorrede, dass in dem Augenblick, in dem das Publikum seinen Bekenntnissen glaubt, »самый факт необычайного, […] который, по-видимому, более всего вас интересует, потеряет […] в ваших глазах всякое обаяние.«1539 Das Oszillieren zwischen Interpretationsvarianten, die Unsicherheit, die Befremdung sind somit eine notwendige Voraussetzung für die Faszination des Erzählten, weil das Ungewöhnliche, sobald es sich eindeutig in die bekannten Regeln und Strukturen einordnen lässt, zum Gewöhnlichen wird. che Mitteilung kann in gleichem Maße falsch und wahr sein. Aber eine Notiz, die zu allem Übrigen das Folgende vermeldet: ›Das Bett wurde verschoben, am Büro wurde das Schloss zerstört‹, überzeugt uns nicht nur von der Realität des Mordes, sondern gibt uns auch ein gewisses Material für die bildliche Vorstellung der Tatsache selbst.«. 1535 RB , 349. Dt.: »Bilder, Fenstergardinen, Bücher, Geschirr, Boden, Decke, Tapete, Schreibzubehör«. 1536 Vgl. RB , 345 u. 350. 1537 RB , 338; Hervorhebung von A. B. Dt.: »falsch und wahr sein kann«. 1538 Vgl. RB , 351. 1539 RB , 338. Dt.: »die Tatsache des Ungewöhnlichen selbst, die Sie offensichtlich am meisten interessiert, wird in Ihren Augen jegliche Faszination verlieren.«.

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Die eigentliche Bedeutung des über den gesamten letzten Teil der Binnenerzählung hinweg und darüber hinaus bestehenden Zustands der (Interpretations-)Unsicherheit ist jedoch eine andere. Die Funktion des deutungsoffenen Erzählens besteht in der Versetzung des abstrakten Lesers bzw. Zuhörers in eine Lage, die zur Situation des Protagonisten Birk in mehrerlei Hinsicht analog ist. Dies wird durch die parallele Gültigkeit verschiedener Interpretationsmöglichkeiten des Erzählten erreicht, wodurch der Leser eine ähnliche Orientierungslosigkeit wie der Protagonist erfährt, der seinerseits seine Sinneserfahrungen nicht mehr eindeutig einzuordnen vermag. Somit wird durch die narrative Kontingenz die situative Kontingenz, in der sich Birk im Treppenhaus und in der Wohnung befindet, reproduziert. Dies zeigt sich auch im semantisch-syntaktischen Bereich, etwa, wenn das »и«1540 der Binnenhandlung, als Birk vor der Türe »перед всем и перед ничем«1541 steht, das »и« der soeben zitierten Aussage aus der Rahmenhandlung, »может быть ложным и достоверным«,1542 wieder aufgreift, die beide jeweils eine Situation des Sein-und-Nichtsein-Könnens beschreiben. Die zweite Situation ist dabei bezogen auf die Entwicklung der Situation und des Schicksals der Protagonisten, die erste auf die Deutung der Ereignisse – so wie auch insgesamt betrachtet der Zustand der epistemischen Ambiguität auf Seiten des Protagonisten eine Analogie im Zustand der interpretatorischen Ambiguität auf Seiten des Lesers findet.1543 Darüber hinaus entspricht die hierin implizite Vereinigung diametraler Gegensätze ihrerseits dem Wesen des Doppelgängers. Damit jedoch nicht genug  – die Gegensätze stimmen sogar exakt miteinander überein. Denn entscheidend für die Interpretationsvarianten sind, wie gezeigt wurde, zwei Aspekte: erstens, ob es sich bei der Wohnung um Birks eigene oder eine fremde 1540 1541 1542 1543

RB , 348. Dt.: »und«. RB , 348. Dt.: »vor allem und vor nichts«. RB , 338. Dt.: »kann falsch und wahr sein«.

Auch hinsichtlich der Verunsicherung des abstrakten Lesers weist »Rasskaz Birka« eine deutliche Parallele zu Dostoevskijs »Dvojnik« auf. In »Dvojnik« ist über weite Teile des Textes für den abstrakten Leser nicht erkennbar, ob es sich bei der Verfolgung Goljadkins durch seinen Doppelgänger um ein reales Geschehen oder eine Halluzination handelt. Zwar gibt die Erwähnung der Irrenanstalt am Ende der zweiten Fassung – in der ersten Fassung bleiben die Anzeichen für Goljadkins Geisteskrankheit wesentlich vager – dem Leser einen Hinweis für die Ausrichtung seiner Interpretation, trotzdem ist die Grenze zwischen Wirklichkeit und Wahn fließend (vgl. Derjanecz: Das Motiv des Doppelgängers, 72). Während dieser Umstand bei Dostoevskij große Verwirrung und Diskussionen unter seinen Rezipienten auslöst (vgl. ebd.), wurde und wird »Rasskaz Birka« in der Grin-Rezeption fast vollständig ignoriert. Wenn überhaupt, findet sich in der Sekundärliteratur zu Grin meist nur eine reine Nennung des Titels (z. B. bei Michajlova: Aleksandr Grin, 41) – und auch dies selten genug. Immerhin einen kurzen Absatz über die negativen Effekte der Stadt in »Rasskaz Birka« enthält die Dissertationsschrift von Martowicz (vgl. Martowicz: The Work of Aleksandr Grin, 35).

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handelt und ob die schlafende Person der Protagonist selbst ist oder ein Fremder; zweitens, ob Wohnung und vor allem Schlafender real existieren oder lediglich ein Produkt von Birks Vorstellungskraft sind. Gerade diese beiden Dichotomien – eigen / fremd und real / imaginär – sowie ihre Aufhebung durch einen Schwebezustand zwischen den beiden Polen kennzeichnen auch das Phänomen des Doppelgängers. Durch die auf inhaltlicher wie auch narrativer Ebene herrschende synchron-polyseme Kontingenz werden die Wohnung und die schlafende Person im Bett somit nicht nur von Birk selbst, sondern auch vom abstrakten Leser als eigen-fremd und real-imaginär wahrgenommen. Das Doppelgänger-Motiv der Erzählung durchdringt mittels dieser strukturellen wie auch inhaltlichen Übereinstimmungen somit auch die narrative Ebene. Und noch in einem weiteren Punkt wird mittels der Narration eine Übereinstimmung zwischen dem Protagonisten und dem abstrakten Leser der Erzählung geschaffen. Die von Grin angewandte Methode der Erschwerung oder sogar Verunmöglichung des Verständnisses für den Leser durch die Kontingenz der Interpretationen weist Parallelen zum in Kapitel 3.1 angesprochenen formalistischen Verfahren des ostranenie (dt.: Verfremdung) auf. Ziel dieses Verfahrens ist eine neue, ästhetische Art der Wahrnehmung der Welt, »чтобы вернуть ощущение жизни«.1544 Auch in dieser Hinsicht bildet in »Rasskaz Birka« die Wirkung des Textes auf den abstrakten Leser die Wirkung der nächtlichen Ereignisse auf den Protagonisten frappierend genau ab. Denn der Doppelgänger fungiert, analog zur Kunst auf der Ebene des Lesers, für den Protagonisten als Medium zu einer ebensolchen Wiedererlangung des »ощущение жизни«,1545 dem er sich so weit entfremdet hat, dass er, gänzlich ohne Empfindungen, »достиг […] состояния трупа.«1546 Die schockierende Doppelgängererscheinung, die als Verfremdung (russ.: ostranenie) der zuvor in gewohnter, fast schon routinierter Weise exzessiv betriebenen Selbstreflexionen betrachtet werden kann, ermöglicht dem Protagonisten eine neue Wahrnehmung seiner (Selbst-)Entfremdung (russ.: otčuždenie). Die Verschiebung (russ.: sdvig) gestaltet sich dabei nicht nur als eine semantisch-psychische, sondern auch als eine räumlich-physische – als ein vom ursprünglichen Ort des Ich Wegrücken (russ.: s-dvigat’sja)  und dadurch Neben-sich-selbst-Befinden, das im doppelten Sinne einen gänzlich erneuerten Blick Birks auf sich selbst erlaubt. Die hierdurch bewirkte Entautomatisierung der Wahrnehmung resultiert dabei letztlich in der Entautomatisierung des Protagonisten selbst. Denn Birk, der bis zu diesem Moment nur mehr »живет машинально, как 1544 Šklovskij: Iskusstvo kak priëm, 13. Dt.: »[u]m […] die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen« (Šklovskij: Theorie der Prosa, 13). 1545 Šklovskij: Iskusstvo kak priëm, 13. Dt.: »Wahrnehmung des Lebens« (Šklovskij: Theorie der Prosa, 13). 1546 RB , 339. Dt.: »den Zustand eines Leichnams […] erreicht hat«.

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автомат«,1547 überwindet durch dieses Erlebnis seine allumfassende Fremdheit gegenüber sich selbst, seinen Mitmenschen und dem Leben, was es ihm ermöglicht, die Geschichte seiner abgeschlossenen Lebenskrise für das Pu­ blikum aus der Rahmenhandlung zu erzählen. Wie die vorgenommene Analyse zeigt, verhandelt Grins frühe Erzählung »Rasskaz Birka« das Thema des intrasubjektiven Fremden auf enorm vielschichtige und komplexe Weise. Die Doppelgängervision des Protagonisten, die auf den ersten Blick wie ein unerwarteter Einbruch des Irrationalen in eine bis kurz zuvor vermeintlich rationalen Gesetzen gehorchenden Welt erscheint, kündigt sich bei näherer Betrachtung auf mehreren Ebenen an, die sich z. T. gegenseitig verstärken oder anderweitig beeinflussen. Einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Sujets haben dabei die spezifischen Chronotopoi der Binnenerzählung. Die Nacht als Zeit des Fremden und Unbewussten, die den Hintergrund für alle Ereignisse der Erzählung bildet, die Straße als öffentlicher Raum des Dialogs mit dem Anderen, die Treppe als Zwischenraum sowie vor allem die Wohnung, die am Anfang der Binnenerzählung als Raum des Eigenen, aber auch der Isolation, und am Ende, ebenso verdoppelt wie der Protagonist, als Metapher für das fremde eigene Ich auftritt, unterstützen oder ermöglichen gar erst die Realisierung bestimmter Ereignisse. Die Handlung der Erzählung wird dabei durch Grenzüberschreitungen im wörtlichen Sinne strukturiert, die einen Wechsel von innen nach außen und umgekehrt markieren: durch Birks Verlassen seiner Wohnung, das Eindringen in das von den Einbrechern aufgebrochene Haus sowie schließlich das Betreten der eigen-fremden Wohnung. Als noch wichtiger erweist sich aber eine metaphorische Grenzüberschreitung bzw. sogar -aufhebung: Mittels der subjektiven und unzuverlässigen Narration (bei gleichzeitiger Abwesenheit einer übergeordneten, objektiven Instanz), die verschiedene rationale und irrationale Deutungsvarianten der Geschehnisse im Inneren der Wohnung parallel anbietet, wird ein Kontingenzzustand des Sowohl-als-auch erzeugt. Dieser versetzt nicht nur den abstrakten Leser in eine Situation der Orientierungslosigkeit, die zu der des Protagonisten analog ist, sondern entspricht zudem dem ebenfalls auf der Aufhebung von Grenzen basierenden Wesen des Doppelgängers zwischen Eigenem und Fremdem, Wirklichkeit und Wahn, Leib und Psyche. Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem findet letztlich auch seine Entsprechung in der Struktur der Erzählung, deren verschiedene Elemente und Motive auf komplexe Weise ineinanderspielen, wieder aufgenommen, weiterentwickelt und miteinander verwoben werden – wie auch das intrasubjektive Fremde mit dem intrasubjektiven Eigenen letztlich untrennbar verbunden ist, selbst noch im Falle einer materialisierten Abspaltung. 1547 RB , 339. Dt.: »mechanisch lebt, wie ein Automat«.

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4.4.2.3 Variationen: »Beguščaja po volnam«, »Ėlda i Angotėja«, »Ėrna«, »Beznogij«

Das Motiv des Doppelgängers tritt, neben den beiden ausführlich analysierten Erzählungen, noch in einer ganzen Reihe weiterer Werke Grins auf und stellt in vielen von ihnen sogar ebenfalls das zentrale Thema dar. Interessanterweise finden sich in der Grin-Forschung kaum Hinweise hierauf, von tiefergehenden Analysen ganz zu schweigen. Einzig die Doppelgängerszene aus Grins Roman »Beguščaja po volnam«, der zu den bekanntesten Texten des Autors gehört,1548 sowie die Erzählung »Ėlda i Angotėja« finden teilweise Erwähnung.1549 Unter den weiteren Doppelgängertexten Grins ist eine Unterscheidung zwischen solchen zu treffen, bei denen die Verdoppelung wie in »Kanat« und »Rasskaz Birka« aus einer Ich-Fremdheit resultiert, und solchen, bei denen die Übereinstimmung im Aussehen auf andere Gründe, wie Zufall oder gezielte Angleichung, zurückgeht. Obwohl Werke aus der zweitgenannten Gruppe nicht im eigentlichen Sinne Gegenstand der Betrachtung sind, sollen sie dennoch mit einbezogen werden, da sich in ihnen Muster wiederfinden, die auch die psychologisch begründeten Doppelgängerphänomene kennzeichnen, und deren Funktionsweise so verdeutlichen. Als Beispiele für diese zweite Gruppe werden die beiden soeben erwähnten Texte gewählt, um das in der Sekundärliteratur oft nur nebenbei oder sogar nur implizit erwähnte Doppelgängertum stärker herauszuarbeiten. »Beguščaja po volnam« Die Doppelgängererscheinung aus »Beguščaja po volnam« beruht auf einer identischen Maskierung zweier von Beginn des Romans an eigenständiger Figuren. Es handelt sich dabei um Dėzi und Biče, zwei Frauen, zwischen denen der Held und diegetische Erzähler Garvej sich lange nicht entscheiden kann. In einer der Szenen in der zweiten Hälfte des Romans, während des Karnevals in der Stadt Gel’-G’ju, erscheinen sie im gleichen Kostüm auf einem Maskenball: Из противоположных дверей навстречу мне шли двое: высокий морской офицер с любезным крупным лицом, которого держала под руку только что ушедшая Дэзи. По крайней мере это была ее фигура, ее желтое с бахромой платье.1550 1548 Z. B. bei Rossel’s: A. S. Grin. Istorija russkoj sovetskoj literatury, 381; hier allerdings ohne explizite Benennung eines Doppelgängertums. 1549 Z. B. bei Kovskij: Romantičeskij mir, 126–129. 1550 Wie so oft lassen sich auch hier autobiographische Bezüge finden. Das reale Vorbild für das Kostüm der Doppelgängerinnen ist ein gelbes Atlaskleid, getragen von einer Frau mit einer Rose im Haar, das Grin während seiner Reise auf die Krim mit Nina Nikolaevna ins Auge fällt und das einen dauerhaften Eindruck bei ihm hinterlässt (vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 126 f.).

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Меня как бы охватило ветром, и перевернутые вдруг чувства остановились. Вздрогнув, я пошел им навстречу. Сомнения не было: маскарадный двойник Дэзи была Биче Сениэль, и я это знал теперь так же верно, как если бы прямо видел ее лицо.1551

Der Maskenball als Schauplatz lässt an Belyjs Roman »Peterburg« (1916) denken, in dem der Protagonist Nikolaj Apollonovič Ableuchov seiner Angebeteten Sofija, verborgen unter der Maske seines roten Domino-Kostüms, gegenübertritt und von ihr einen Brief mit der Anweisung, seinen Vater mit einer Bombe zu töten, erhält.1552 »Beguščaja po volnam« verkehrt diese Szene bei Belyj in zweifacher Hinsicht: Bei Grin sind die Rollen in Hinsicht auf die Geschlechter vertauscht, vor allem aber ist der folgende Unterschied von Bedeutung: Während in »Peterburg« in der Maske die Verdoppelung Nikolajs als verwöhnter Sohn und potentieller Vatermörder enthalten ist,1553 die Maske also die gegensätzlichen Wesenszüge unter sich verbirgt, kommt ihr in »Beguščaja po volnam« die umgekehrte Funktion zu, die konträren Charaktereigenschaften, hier der beiden Frauen, zu enthüllen. Bei dem Maskenball handelt es sich daher um eine der Schlüsselszenen des Romans, weil in ihr die diametrale Gegensätzlichkeit der Charaktere der beiden Frauen vor dem Hintergrund der vollkommenen äußerlichen Übereinstimmung der Kostüme im wahrsten Sinne des Wortes in Szene gesetzt wird.1554 Entscheidend für die Opposition der beiden Protagonistinnen ist 1551 BV, 117. Dt.: »Aus der gegenüberliegenden Ecke [wörtl.: Türe] kam mir ein Paar entgegen […]. Ein Marineoffizier mit einem freundlichen, männlichen Gesicht hatte sich bei der eben weggelaufenen Desi untergehakt. Jedenfalls war es ihre Figur und das […]gelbe Kleid mit […] Fransen. Plötzlich wurde ich [wie] von einem eigenartigen Wirbel […] erfaßt, der das Blut [wörtl.: die plötzlich aufgewühlten Gefühle] in mir stocken ließ. Ich zuckte zusammen und ging den beiden entgegen. Es gab nun für mich keinen Zweifel mehr. Desis Maskerade-Doppelgänger war Bice Seniel. Ich wußte es [nun] ganz genau, [als würde ich ihr Gesicht direkt sehen].« (BVd, 151). 1552 Vgl. Belyj: Sobranie sočinenij. Peterburg, 164. 1553 Vgl. Wöll: Doppelgänger, 273. 1554 Michael Charol (russ. Schreibweise: Šarol’; eigentlich Michail Pravdin), der Ende der 1920er Jahre eine Reihe von Grins Werken auf Deutsch übersetzt und in Zeitschriften veröffentlicht, schreibt Grin in einem Brief vom 18. August 1928 aus Berlin über »Beguščaja po volnam«: »Что касается Вашей ›Бегущей‹, то я не могу решиться ее без сокращенiя [sic!] перевести. Ее здесь никакое издательство не выпустит [sic! ohne Komma] потому что она здешнеe психе [sic!] не соответствует.« (Šarol’, Michael [= Charol, Michael, = Pravdin, Michail]: [Pis’mo M. Šarolja A. S. Grinu, Berlin, 18 avgusta 1928]. In: Pis’ma Šarolja M.  Na nemeckom i na russkom jazykach. S pojasnen. N. N. Grin. 16 ijulja 1928 – 25 dekabrja 1930. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 160, l. 2–2ob., hier 2ob. Dt.: »Was Ihre ›Beguščaja‹ [›Beguščaja po volnam‹] betrifft, kann ich mich nicht dazu entschließen, sie ohne Kürzungen zu übersetzen. Sie wird hier kein Verlag herausgeben, weil sie der hiesigen Psyche nicht entspricht.«). Als Begründung

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Dėzis Glaube an übernatürliche Wesen und Kräfte bzw. Bičes Leugnung derselben, symbolisiert durch ihre jeweilige Haltung zur titelgebenden Figur der Beguščaja po volnam. Diese, auch bekannt unter dem Namen Frezi Grant, ist eine legendäre Frau, die über das Meer zu laufen vermag und Schiffbrüchige – darunter auch den Helden Garvej – aus Seenot rettet. Während Dėzi (deren Nähe zur Frezi bereits durch den Gleichklang ihrer Namen suggeriert wird) auf die Frage, ob sie an Frezi Grant glaube, antwortet: »›Это мне нравится! […] Я безусловно верю […].‹«,1555 folgt Biče, in sehr ähnlicher Weise wie der Statistiker Eršov aus »Fandango«, der rationalen Überzeugung: »›[…] Не понимаю – значит, не существует!‹«1556 Die zwei Protagonistinnen stehen also für gegensätzliche Eigenschaften – ähnlich wie in psychologisch begründeten Doppelgängererscheinungen, in denen häufig der ›dunkle‹, ›böse‹ oder aus anderen Ursachen verdrängte Teil des Ich von dem ›hellen‹, ›guten‹, ›akzeptierten‹ Ich abgespalten wird, so z. B. in Oscar Wildes »Picture of Dorian Gray« (1890/1891). Obwohl Dėzi und Biče dank ihrer Maskierung äußerlich identisch sind, ist Garvej in der Lage, die Doppelgängerinnen anhand innerer, d. h. charakterlicher Merkmale zu unterscheiden: Еще приближаясь, я уже отличил все ее внутреннее скрытое от внутреннего скрытого Дэзи, по впечатлению основной черты этой новой и уже знакомой фигуры. Но я отметил все же изумительное сходство роста, цвета волос, сложения, телодвижений и, пока это пробегало в уме, сказал, кланяясь: ›Биче Сениэль, это вы. Я вас узнал.‹ Она вздрогнула.1557

Garvej werden also erst vor dem Hintergrund äußerer Identität die umso stärker hervortretenden inneren Unterschiede der Doppelgängerinnen bewusst. fügt er in einer bemerkenswerten Fehlinterpretation der Karnevalszene, die einen der Schlüsselmomente des gesamten Romans enthält, hinzu: »Вы уделяете большую часть для описанiя [sic!] карневала. – [sic!] здесь это мало интересует.« (ebd. Dt.: »Sie widmen einen großen Teil der Beschreibung des Karnevals. – hier interessiert das wenig.«). 1555 BV, 92. Dt.: »›[Das gefällt mir!] […] Ich glaube ganz fest daran, unbedingt […]‹« (BVd, 120). 1556 BV, 185. Dt.: »›[…] Wenn ich etwas nicht begreife –, dann existiert es für mich nicht!‹« (BVd, 237). 1557 BV, 117; Hervorhebungen von A. B. Dt.: »Als ich näher kam, merkte ich, fühlte ich den Unterschied des inneren Wesens der beiden Mädchen. Aber die Gestalt kam mir trotzdem sofort vertraut vor [wörtl.: »Noch beim Näherkommen unterschied ich schon ihr inneres Verborgenes vom inneren Verborgenen Dėzis, durch den Eindruck des grundlegenden Zugs dieser neuen und bereits bekannten Gestalt]. Es war eine verblüffende Ähnlichkeit der Körpergröße, der Haarfarbe, der ganzen Gestalt und der Bewegungen, und während mir das alles durch den Kopf ging, verbeugte ich mich höflich: ›[…] Ich habe Sie erkannt. Sie sind Bice Seniel!‹ Sie zuckte zusammen.« (BVd, 151; Hervorhebung von A. B.).

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Nach dem Karneval entscheidet er sich gegen die anfangs bevorzugte, schillernde Persönlichkeit Biče und für die unscheinbarere, aber phantasievolle Dėzi, deren Plädoyer für einen vorbehaltlosen Glauben an das Wunderbare (Übernatürliche) den Kern des Romans darstellt. »Ėlda i Angotėja« Ebenfalls eine Verdoppelung ohne Ich-Spaltung liegt in der bereits kurz erwähnten, späten Erzählung »Ėlda i Angotėja« (1928) vor, in der der Protagonist Fergjus Fergjuson auf die Rückkehr seiner Ehefrau Angotėja wartet. Diese ist seiner Überzeugung nach in einen magischen Spiegel hineingegangen und nicht mehr zurückgekehrt, existiert jedoch schon zuvor nur in seiner Phantasie. In Fergjusons Vorstellung spielt sich das Verschwinden seiner Frau folgendermaßen ab: В день свадьбы Анготэя отправилась одна по тропе, на которой находится отверстие. Оно – в тонкой стене скалы, перегородившей тропу. Часть тропы, позади овала, так похожа на ту дорожку, которая подводит к нему, что в воображении Фергюсона овальное отверстие превратилось в таинственное зеркало. Он убежден, что Анготэя ушла в зеркало и заблудилась там.1558

Die Beschreibung dieses Spiegels weist eine frappierende Parallele zu der Szene im Café aus »Kanat« auf, in der sich die Doppelgänger Amivelech und Marč das erste Mal begegnen. In beiden Fällen wird der Eindruck eines Spiegels durch das identische Aussehen der beiden Räume diesseits und jenseits eines Bogens – einmal eines architektonischen Mauerbogens, einmal eines natürlichen Felsentors  – erzeugt, aber durch den Erzähler als Sinnestäuschung entlarvt. Für Fergjuson jedoch, für den auch Angotėja in der Realität existiert, ist dieser Spiegel echt. Mit dem Märchenmotiv des Zauberspiegels realisiert Grin in »Ėlda i Angotėja« eine Idee, die er bereits einige Jahre zuvor aus Franz Werfels schon im Zusammenhang mit »Fandango« erwähnter Verstrilogie »Spiegelmensch« gewonnen hat1559 – die eines (eigenständig handelnden) Menschen im Raum hinter dem Spiegel, der im Russischen sogar eine eigene Bezeichnung besitzt: zazerkal’e. Während bei Werfel dieser Mensch als Doppelgänger des Protagonisten Thamal aus dem Spiegel heraustritt, nachdem dieser auf sein

1558 ĖA , 556. Dt.: »An ihrem Hochzeitstag begab sich Angotėja alleine auf einen Pfad, auf dem sich ein Loch befand. Es war in der dünnen Wand eines Felsens, der den Pfad versperrte. Der Teil des Pfades hinter dem Oval war jenem Weg so ähnlich, der zu ihm hinführte, dass sich das ovale Loch in Fergjusons Fantasie in einen geheimnisvollen Spiegel verwandelte. Er ist überzeugt, dass Angotėja in den Spiegel hineingegangen ist und sich dort verirrt hat.«. 1559 Vgl. Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 25.

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eigenes Spiegelbild geschossen und so den Spiegel zerstört hat,1560 geht in »Ėlda i Angotėja« die Frau Fergjusons – jedenfalls in dessen Vorstellung – in diesen hinein und kehrt nicht mehr zurück.1561 Zwar ist in diesem Fall, anders als in »Kanat«, die Spiegelszene zeitlich abgekoppelt von dem Auftreten der Doppelgängerin, kündigt diese aufgrund des mit dem Motiv des Spiegels unauflöslich verbundenen Moments der Verdoppelung aber implizit an. Als Fergjuson im Sterben liegt, engagiert sein Bekannter die Schauspielerin Ėlda, die der Fotografie der vermeintlichen Ehefrau zum Verwechseln ähnlich sieht, damit sie in den letzten Lebensminuten Fergjusons deren Rolle einnimmt, um ihm einen glücklichen Tod im Glauben, diese sei endlich zurückgekehrt, zu ermöglichen. Das Verhältnis der beiden Frauen zur Wirklichkeit stellt in »Ėlda i Angotėja« das einer gewöhnlichen Doppelgängerkonstellation auf den Kopf und bestätigt es zugleich: Anders als normalerweise ist die Existenz des Originals (Angotėja) lediglich imaginär, die des Doubles (Ėlda) dagegen real. Aufgrund der Koppelung der von Fergjuson nur vorstellten Angotėja mit dem Motiv des Spiegels liegt aber andererseits ein normales Verhältnis vor, denn mit Angotėja kommt der Status des Imaginären wie üblich der Person im Spiegel zu. Die Axiologie der äußerlich identischen Frauen entspricht dagegen, obwohl keine Ich-Spaltung und somit auch keine Projektion verdrängter Aspekte der Persönlichkeit vorliegt, gänzlich der einer klassischen Doppelgängersituation: Das Original verkörpert das Positive, das Double das Negative. Kovskij interpretiert Angotėja, wie es in der Grin-Rezeption so häufig mit seinen Frauen­ figuren geschieht, als romantische Allegorie des Schönen und Guten:1562 »Это, в сущности, мечта умирающего о давно утраченном Прекрасном. […] актриса представляет антипод воплощаемого образа  – жадную и 1560 Vgl. Werfel: Spiegelmensch, 27. 1561 Auch in einem der Entwürfe zu Grins Roman »Džessi i Morgiana« mit dem Arbeitstitel »Zerkalo i almaz«, der im selben Zeitraum wie »Ėlda i Angotėja« entsteht, findet sich dieses Motiv. Darin entdeckt der Schriftsteller Trengan – der mit ›Fergjus‹ denselben Vornamen wie der Protagonist aus »Ėlda i Angotėja« trägt – einen magischen Spiegel. Als er in ihn hineinblickt, sieht er, »что в нем отражена […] совершенно другая комната« (vgl. Grin: Zerkalo i almaz. RGALI, f. 127, op. 1, ed. chr. 23, l. 7ob. Dt.: »dass in ihm […] ein vollkommen anderes Zimmer reflektiert wird«). In diesem Spiegel ist der verschollene frühere Besitzer des Hauses, Rėčidel, gefangen (vgl. hierzu auch Man’kovskij: Dvadcat’ let. Načalo. RGALI, f. 127, op. 5, ed. chr. 5, l. 27–31). Man’kovskij führt die begründete Vermutung an, dass Grin aufgrund der Publikationsprobleme bei »Fandango« und »Beguščaja po volnam« Ende der 1920er Jahre sowohl in der Endfassung des Romans, »Džessi i Morgiana«, das Motiv des Zauberspiegels herausstreicht, als auch in »Ėlda i Angotėja« den magischen Spiegel als bloße Einbildung einführt, sodass die Werke realistisch bleiben (vgl. ebd., l. 31 u. 62). 1562 Dies gilt z. B. auch für Dėzi aus »Beguščaja po volnam«, Molli aus »Zolotaja cep’«, und, allen voran, natürlich Assol’ aus »Alye parusa«.

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вульгарную женщину, помышляющую лишь о хорошем гонораре.«1563 Die Charakterisierung Angotėjas bezieht sich notwendigerweise auf eine innere, ethisch-moralische Schönheit, da ihr Äußeres mit dem der moralisch verdorbenen Schauspielerin identisch ist. Auch ohne allegorische Lesart ist der Kontrast der beiden Frauen hinsichtlich ihres Wesens, wie er auch in »Beguščaja po volnam« vorliegt, festzuhalten. Anders als dort werden die Gegensätze jedoch weit weniger explizit ausgeführt. Tatsächlich erhält der abstrakte Leser sogar keinerlei gesicherte Information über den Charakter der imaginären Ehefrau, da der nichtdiegetische Erzähler von den Ereignissen fast ausschließlich aus einer Außenperspektive (mit Ausnahme von Ėldas Gedanken) berichtet und damit auch das Wesen Angotėjas nicht kennt, da diese nur in der Vorstellung Fergjusons existiert. Der Kontrast zwischen Ėlda und Angotėja beruht damit allein auf der vom Text zwar suggerierten, aber nur an einer Stelle explizit bestätigten Prämisse, dass Letztere von Fergjuson als Idealbild geschaffen wurde. Er bleibt dadurch lange unterschwellig, manifestiert sich aber zunehmend durch die Wiederholung der auch von Kovskij als entscheidendes Merkmal identifizierten Geldgier Ėldas, das sie zu Angotėjas inversem Spiegelbild macht. Bereits bei ihrer ersten Beschreibung weist der Erzähler neben Ėldas Schönheit auch auf ihre scharf und »деловито«1564 blickenden Augen hin. Auch nachdem ihr der Vorschlag unterbreitet wurde, Angotėja zu verkörpern, spiegelt sich ihr Interesse am eigenen finanziellen Vorteil in ihren den möglichen Preis kalkulierenden Augen wider.1565 Als ihr schließlich die Summe von Zehntausend  – in einer unbekannten Währung, doch offensichtlich von hohem Wert – angeboten wird, berichtet der Erzähler ausnahmsweise auch von den Gedanken der Figur: »›На меньшее я бы и не согласилась‹, жалко и жадно добавила она, хотя думала лишь о десятой части этого гонорара.«1566 Auf dem Weg zu Fergjuson erkundigt sich Ėlda, »›[…] деньги будут уплачены немедленно?‹«1567 und motiviert sich schließlich durch die Aussicht auf das Geld, über die Unannehmlichkeiten ihres Auftrags hinwegzusehen, wobei der Erzähler einen zweiten Einblick in ihre Gedankenwelt gewährt: Элда отправилась переодеваться в кусты, гоня назойливых мух и проклиная траву, коловшую подошвы ее босых ног. Но деньги – такие деньги! – воодушевляли 1563 Kovskij: Romantičeskij mir, 127. Dt.: »Das ist im Grunde der Traum eines Sterbenden von dem vor langer Zeit verlorenen Schönen. […] die Schauspielerin stellt die Antipodin des verkörperten Bildes dar – eine gierige und vulgäre Frau, die nur an ein gutes Honorar denkt.«. 1564 ĖA , 555. Dt.: »geschäftig«. 1565 Vgl. ĖA , 557. 1566 ĖA , 557. Dt.: »›Weniger hätte ich auch nicht zugestimmt‹, fügte sie jammervoll und gierig hinzu, obwohl sie nur an ein Zehntel dieses Honorars gedacht hatte.«. 1567 ĖA , 558. Dt.: »›[…] das Geld wird unverzüglich ausgezahlt?‹«.

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ее. И тем не менее в этой дурной и черствой душе уже шла, где-то по каменистой тропе, легкая и милая Анготэя, и Элда наспех изучала ее.1568

An dieser Stelle wird der Gegensatz zwischen den beiden Frauen zum ersten und einzigen Mal explizit formuliert. Dabei kommt es zu einer Vermischung der figuralen und narratorialen Erzählperspektive, die offenlässt, ob Ėlda selbst den Kontrast zwischen ihrem Wesen und dem Angotėjas empfindet und der Erzähler davon lediglich berichtet, oder ob der Erzähler seine eigene Bewertung als Ėldas Gedanken und Empfindungen ausgibt. Diese Uneindeutigkeit, wem die Konstruktion einer Gegensätzlichkeit der Doppelgängerinnen zuzuschreiben ist, besteht in der gesamten Erzählung. Denn aus logischer Sicht gibt es keine Instanz, die das Wesen beider Frauen kennt und somit überhaupt in der Lage wäre, einen Vergleich zwischen ihnen anzustellen – weder Fergjuson noch Ėlda, der (nicht allwissende) Erzähler oder die beiden anderen handelnden Figuren, der Bekannte und ein Arzt. Dieser logische Widerspruch wird dadurch verdeckt, dass die gegensätzliche Charakterisierung der beiden Frauen, basierend auf der Vorstellung von Angotėja als Idealbild, von fast allen handelnden Personen (mit Ausnahme Fergjusons) wie auch dem Erzähler vertreten wird, sodass der abstrakte Leser sich dieser kollektiven Einschätzung unwillkürlich anschließt. Der Höhepunkt der impliziten Idealisierung Angotėjas wird durch die Beschreibung der mimisch-mimetischen Angleichung Ėldas an die imaginäre Ehefrau als »искусно сделанное Элдой преображение«1569 erreicht. Auf den ersten Blick betont der Erzähler damit sowohl durch das Adverb ›kunstvoll‹ als auch durch Verwendung des Verbs sdelat’ (dt.: machen) die profanen, beinahe handwerklichen schauspielerischen Fertigkeiten Ėldas. Allerdings erhält ihre Verwandlung darüber hinaus durch die Polysemie des Lexems preobraženie (dt.: Verwandlung), das auch die Verklärung Christi bezeichnet, sakrale Züge. Dadurch wird Angotėja gleichsam zu einem göttlichen Wesen erhoben, da die Annahme ihrer Identität mit Ėldas Transfiguration einhergeht. Auf diese Weise suggeriert der Erzähler die Bewertung der imaginären Ehefrau als ethisch-moralisches Ideal, aus der sich der Kontrast zu Ėlda speist – denn während die äußerliche Schönheit von beiden Frauen geteilt wird, besitzt nur Angotėja auch eine wahre, vollkommene innere Schönheit. Einzig Fergjuson nimmt den Kontrast nicht wahr, kann ihn nicht wahrnehmen, da dieser in dem Moment verschwindet, als Ėlda in die Rolle Angotėjas 1568 ĖA , 559. Dt.: »Ėlda ging los, um sich im Gebüsch umzuziehen, jagte dabei lästige Fliegen fort und verfluchte das Gras, das in die Sohlen ihrer nackten Füße stach. Aber das Geld – so viel Geld! – belebte sie. Und dennoch ging in dieser schlechten und lieblosen Seele, irgendwo auf dem steinigen Pfad, bereits die leichte und liebe Angotėja, und Ėlda studierte sie in aller Eile.«. 1569 ĖA , 561. Dt.: »meisterhaft von Ėlda ausgeführte Verwandlung«.

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schlüpft und dem Sterbenden gegenübertritt. Die Grenze zwischen den Doppelgängerinnen wird dabei für einige Minuten vollständig aufgehoben – nicht nur für den sterbenden Fergjuson, sondern auch für die Beobachter. Dies geschieht, obwohl oder gerade weil Ėlda ihren Auftrag rein professionell, als Schauspielerin erfüllt, was sich in mehreren Situationen deutlich zeigt. Auf ein Kompliment für ihre Fähigkeit, sich in die Rolle der Angotėja einzufühlen, erwidert sie im Vorfeld hochmütig: »Все-таки я шесть лет на сцене.«,1570 und ihren Auftritt als Angotėja gestaltet sie wie auf einer Theaterbühne, vor deren Betreten – hinaus ins (Scheinwerfer-)Licht – sie innerhalb von Sekunden ihre eigene Persönlichkeit ablegt und die fremde annimmt. ›Я боюсь‹, прошептала она, но тотчас же, начиная неуловимо изменяться, стала так близко на свете дверей, что ее лицо осветилось. Ее нога три раза шевельнула пальцами, и она мысленно сосчитала: раз, два, три. Затем, в слезах, ликуя и плача, Элда быстро подбежала к постели.1571

An dieser Stelle kommt die Funktion des Theaters als Ort zwischen Realität und Illusion, Leben und Inszenierung, an dem sich die Zuschreibungen auch umkehren können, voll zum Tragen. Denn während der Schauspielerin wie auch den Bekannten des Sterbenden die Inszeniertheit der Rückkehr der imaginären verschwundenen Ehefrau bekannt ist, stellt sie für den einzigen nicht Eingeweihten, den ›Zuschauer‹ und Adressaten Fergjuson, die  – einzige – Realität dar, in der er seit Jahren lebt und an der er nicht einen Moment zweifelt. Das Schauspiel entfaltet seine Wirkung auf den Sterbenden umso unmittelbarer, als es nur das Muster konsequent fortschreibt, auf dem die gesamte Existenz der Ehefrau basiert, d. h. das Betrachten von Nichtrealem als Reales. Durch seinen wenige Minuten später eintretenden Tod bleibt Fergju­ son das Ende der vorübergehenden Verschmelzung von Ėlda mit Angotėja und damit die für ihn schmerzliche Differenzierung von wirklichem Leben und Illusion erspart. Zwar sind sich die Zuschauer, mit Ausnahme Fergjusons, des theatralen Charakters der Doppelgängerszene und damit auch der innerlichen Gegensätzlichkeit der beiden Frauen die ganze Zeit über bewusst, allerdings erscheint die Verschmelzung Ėldas mit Angotėja für einen kurzen Moment so vollständig, dass sich der Bekannte, als alles vorbei ist, zu einer besonderen Maßnahme gezwungen sieht. Bei der Bezahlung Ėldas gibt er ihr absichtlich etwas zu wenig Geld, sodass sie zweimal nachzählt und durch die erneute Fokussierung 1570 ĖA , 560. Dt.: »Immerhin stehe ich seit sechs Jahren auf der Bühne.«. 1571 ĖA , 560. Dt.: »›Ich habe Angst‹, flüsterte sie, aber sofort stellte sie sich so nah an das Licht der Türen, dass ihr Gesicht erhellt wurde, und begann dabei, sich unmerklich zu verändern. Ihr Fuß wackelte dreimal mit den Zehen, und sie zählte in Gedanken: eins, zwei, drei. Dann, in Tränen aufgelöst, jauchzend und weinend, lief Ėlda schnell ans Bett.«.

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auf das Monetäre, den Inbegriff des Profanen, ihr wahres und der Sakralität Angotėjas diametral entgegengesetztes Wesen wieder zum Vorschein kommt. Hierdurch wird auch die Erklärung des Bekannten verständlich, mit der die Erzählung endet: »›[…] Я сделал так затем, чтобы окончательно отделить Элду от Анготэи…‹«.1572 Die Existenz der imaginären Ehefrau überschreitet damit in gewisser Weise auch jenseits ihrer theatralen Darstellung die Grenze zum Realen, da ihre Trennung von ihrer Antipodin auch nach dem Tod ihres Schöpfers Fergjuson für dessen Begleiter von Bedeutung ist. Obwohl in »Ėlda i Angotėja« keine psychologisch begründete, auf Ich-Spaltung basierende Doppelgängerei vorliegt, enthält die Erzählung zwei wichtige Momente dieser Variante: die axiologische Gegensätzlichkeit der Doppelgänger und das Wechselspiel von Realem und Imaginärem. Darüber hinaus weist der Text die darin ebenfalls oft anzutreffende Konstellation auf, dass der Platz einer Person durch ihr Double eingenommen wird. In deutlich stärker ausgeprägter Form als in der Erzählung »Ėlda i Angotėja«, in der Angotėja aufgrund ihrer nur imaginären Existenz diesen Platz eigentlich gar nicht besetzt, gestaltet Grin gut zehn Jahre zuvor dieses Motiv in »Ėrna«.1573 »Ėrna« Die Übernahme der Identität des Originals durch den Doppelgänger geht oftmals mit der Usurpation der (Macht-)Position des Ersten Ich durch das Zweite Ich einher. Der wohl bekannteste Usurpator (russ.: samozvanec) in der russischen Kultur ist die Person des Pseudodmitrij (auch Falscher Demetrius bzw. Dmitrij, russ.: Lžedmitrij I.), der sich während der Zeit der Wirren (russ.: smutnoe vremja, 1598–1613) als der vermutlich ermordete Carevič Dmitrij, Sohn Ivans IV., des Schrecklichen (russ.: Ivan Groznyj), ausgibt und so von 1605–1606 auf den russischen Zarenthron gelangt. Tatsächlich verbirgt sich hinter der falschen Identität vermutlich der Mönch Grigorij Otrep’ev.1574 Das auf dieser historischen Begebenheit basierende Drama Puškins »Boris Godunov« (1831) inszeniert das Duell um die Authentizität und damit die Macht, das sich hier allerdings nicht zwischen den beiden Doppelgängern, 1572 ĖA , 563. Dt.: »›[…] Ich habe es so gemacht, um Ėlda endgültig von Angotėja zu trennen…‹«. 1573 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Ėrna. In: Prostor 2 (1982), 183–185. Kürzel: ĖR . Die Erzählung erscheint erstmals Anfang des Jahres 1918 in der Zeitung »Vsevidjaščee oko« (dt.: »Das allsehende Auge«), Nr. 1. Bei Sandler wird als alternativer Titel fälschlicherweise »­Glavnyj vinovnik« (dt.: »Der Hauptschuldige«) genannt (vgl. Sandler: Vospominanija ob Aleksandre Grine, 573). Dabei handelt es sich allerdings um einen Text über Rasputin als Verführer eines Mädchens am russischen Zarenhof (vgl. Luker: Alexander Grin, 68), erschienen in Dvadcatyj vek 19 (1917), 7–8. 1574 Vgl. Anisimov, Evgenij: Istorija Rossii ot Rjurika do Putina. Ljudi. Sobytija. Daty. 2-e izdanie, dopolnennoe. Moskva u. a. 2010, 168.

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sondern zwischen zwei Thronprätendenten, dem Falschen Dmitrij und Boris Godunov, abspielt. Vor dem Hintergrund des in der russischen Kultur immer wieder auftretenden Phänomens des samozvanstvo (dt.: Usurpation) identifiziert Boris Uspenskij in seiner kultursemiotischen Studie dazu das Paar Zar – Usurpator als historisches Doppelgängerphänomen von Herrscher und Thronprätendent.1575 Eine Variation dieses Motivs findet sich auch bei Grin in seiner Erzählung »Ėrna« (1917). Dabei handelt es sich um eine seiner Erzählungen mit einem eindeutig in Russland verortbaren Schauplatz und deutlichen Bezügen zum politischen Zeitgeschehen. Die Handlung spielt einige Wochen nach einer der beiden Revolutionen von 19171576 – also gleichsam auch in einer Art ›Zeit der Wirren‹ – und handelt von einem Beamten, in dem der Wunsch erwacht, zu Zar Nikolaj  II. zu werden. Die Usurpation findet hier, anders als etwa in »Boris Godunov«, im privaten Raum statt und bleibt daher ohne die geringste gesellschaftliche Auswirkung, zumal die Institution des Zarentums infolge der Abdankung Nikolajs II. zum Zeitpunkt der Handlung bereits der Vergangenheit angehört. Dagegen sind die individuellen Folgen für den Betroffenen umso gravierender: Es kommt zum Verlust der eigenen durch die Annahme der fremden Identität, was, wie so oft in literarischen Doppelgängertexten, zum Wahnsinn des Protagonisten führt. Der Wunsch, den Platz des Zaren einzunehmen, wird dabei durch die titelgebende Hündin namens Ėrna ausgelöst, die der Protagonist, Nikolaj Aleksandrovič Ranov, über einen Soldaten aus Carskoe Selo erwirbt und die vor der Revolution zu den Lieblingshunden des letzten Zaren gehörte.1577 Durch den nichtdiegetischen Erzähler erfährt der Leser von Ranovs besonderem Blick auf Ėrna, der sie von Beginn an anthropomorphisiert und ihr Aussehen ebenso wie ihr Verhalten als das einer Adeligen bewertet.1578 Zugleich bemerkt Ranov aber, dass Ėrna ihn trotz seiner Bemühungen nicht als neuen Besitzer akzeptiert. Nach einigen Tagen überkommt Ranov der Gedanke:

1575 Uspenskij, Boris: Car’ i samozvanec. Samozvanstvo v Rossii kak kul’turno-istoričeskij fenomen. In: Ders.: Chudožestvennyj jazyk srednevekov’ja. Moskva 1982, 210–235; zit. nach Wöll: Doppelgänger, 30 f. 1576 Unklar ist, ob es sich bei der im Text explizit genannten ›Revolution‹ um die Februaroder die Oktoberrevolution handelt. Der Leser erfährt lediglich, dass die Abdankung des Zaren (im März 1917) zum Zeitpunkt der Handlung bereits in der Vergangenheit liegt (vgl. ĖR , 183). 1577 Der reale Zar Nikolaj II . besitzt mehrere Hunde, darunter seine beiden Lieblingshunde Voron und Iman (vgl. Devjatov, S. V./Zimin, I. V.: Dvor rossijskich imperatorov: Ėnciklopedija žizni i byta. V 2 tomach. T. 2. Moskva 2014, 415 f.). Der von Grin gewählte Name Ėrna erinnert vielmehr deutlich an den Terrier Ėjra, der Nikolajs Frau, Zarin Aleksandra Fëdorovna, gehört (vgl. ebd., 418). 1578 Vgl. ĖR , 183 f.

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»Я вижу эту собаку так же и такою же, какой видел ее царь.«1579 Hierin liegt der Beginn von Ranovs allmählicher Verwandlung in den Zaren – nachdem er sich hier bereits den Blick Nikolajs II. auf Ėrna angeeignet hat, wünscht er sich, von Ėrna ihrerseits als Nikolaj II. betrachtet zu werden, d. h. ein Spiegelverhältnis der Blicke herzustellen. Hierzu imaginiert er sich zunächst detailreich als Zar in seinem Palast, zusammen mit anderen, ebenfalls in der außerliterarischen Realität existierenden Personen wie Graf Vitte.1580 Seine besondere Verbindung zur Figur des Zaren wird schließlich auch durch die (magische) Macht der Worte bzw. Namen bekräftigt, als Nikolaj Aleksandrovič Ranov lächelnd seine beinahe vollständige Namensgleichheit mit Zar Nikolaj Aleksandrovič Romanov bemerkt.1581 Das Doppelgängertum der beiden Nikolajs wird darüber hinaus durch ein von Grin nicht ausgeführtes, aber implizites Wortspiel bestätigt. Während Zar Nikolaj der Zweite (russ.: Nikolaj Vtoroj) als Original, d. h. als erster Nikolaj auftritt, kommt Ranov die Rolle der Kopie, des zweiten Nikolaj (russ.: vtoroj Nikolaj) zu, wodurch eine (fast vollständige) Identität zwischen ihnen hergestellt wird. Nach einer Woche, in der Ranov zunehmend zerstreut und nervös zum Dienst erscheint1582  – durch diese beiläufige Information reiht Grin seinen Protagonisten in die Reihe der Petersburger Beamten der russischen Literatur ein, die allmählich dem Wahnsinn anheimfallen – findet er schließlich die Lösung, wie er auch außerhalb seiner Phantasie, d. h. für Ėrna, zu Nikolaj II. werden kann. Die Idee dazu hat Ranov bezeichnenderweise ebenfalls vor dem Spiegel als Medium der Verdoppelung, als er eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit seiner selbst mit dem Zaren bemerkt. Mit Hilfe von Schminke und Perücke sowie der Uniform seines Bruders verwandelt er sich schließlich in einen Doppelgänger Nikolajs II. Die Annahme der fremden Identität vollzieht sich also auch hier, wie in »Ėlda i Angotėja«, auf keineswegs übernatürliche Weise, sondern durch das bewusste Anlegen einer Maske. Das hierdurch evozierte Element des Theatralen wird kurz darauf sogar ausdrücklich genannt. In einer deutlichen Parallele zum Auftritt der Schauspielerin Ėlda vor Fergjuson überkommt Ranov nach dem Schminken das Gefühl, dass er »как бы вышел на сцену, в игру из-за кулис«.1583 1579 ĖR , 184. Dt.: »Ich sehe diesen Hund genau so, wie ihn der Zar gesehen hat.« (Grin, Ale­ xander: Erna. Aus dem Russischen von Renate Landa. In: Ders.: Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten. Herausgegeben von Lola Debüser. Berlin 1989, 152–161, hier 155. Kürzel: ĖRd). 1580 Vgl. ĖR , 184. Sergej Jul’evič Vitte verfasst das Oktobermanifest, das von Zar Nikolaj II . am 17. Oktober 1905 erlassen wird. 1581 Vgl. ĖR , 184. 1582 Vgl. ĖR , 185. 1583 ĖR , 185. Dt.: »gleichsam aus den Kulissen auf die Bühne [trat]« (ĖRd, 159).

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Zunächst besteht somit eine klare Trennung zwischen Original und Kopie. Allerdings verschwindet diese Grenze mit fortschreitender äußerlicher Angleichung, die mit einer geistigen Verschmelzung einhergeht, als Ranov beginnt, in der Ich-Form über den Anderen nachzudenken: »[…] мысл[и], говорящи[е] за того от первого лица.«1584 Anders als Ėlda, die die ganze Zeit über Schauspielerin bleibt und Angotėja lediglich als Rolle verkörpert, übernimmt Ranov schließlich die Identität des Zaren um den Preis des Verlusts seiner eigenen. Die Theatermaske – persona –1585 wird so zu seinem eigenen Gesicht, zum Ausdruck seiner neuen Persönlichkeit, während die alte verschwindet. Dies geschieht erneut über das Medium des Spiegels: »Из зеркала смотрел император. Но и его [Ранова] духовное лицо […] закрылось.«1586 Damit ist die Übernahme der neuen Identität jedoch noch nicht abgeschlossen. Ebenso wie generell die Konstituierung des Ich von der Interaktion, dem Dialog mit dem und dem Blick des Anderen abhängig ist (wie im Zusammenhang mit »Rasskaz Birka« ausgeführt), ist für die vollständige, erfolgreiche Usurpation die Anerkennung der Legitimität des Thronprätendenten unabdingbar. Für Ranov stellt der ehemalige Zarenhund Ėrna  – einziges anwesendes ›Mitglied‹ des Zarenhofes – hierfür die entscheidende Instanz dar: »На тот миг, когда Эрна меня узнает, я буду, действительно, царем.«1587 Als er der Hündin geschminkt, mit Perücke und in Uniform gegenübertritt, scheint diese ihn zunächst tatsächlich als Zar zu erkennen, bemerkt dann aber seinen fremden (»чужой«)1588 Geruch und knurrt ihn drohend an. Auch das beschwörende Aussprechen der neuen Identität – »›[…] Это я, я!‹«1589 gegenüber Ėrna, sowie später gegenüber seinen imaginierten Untertanen mit den Worten »›[…] Я, император и самодержец всероссийский […]‹«1590 – vermag daran nichts zu ändern. Die Magie der Worte, die bei Grin so oft eine machtvolle performative Wirkung besitzt, scheitert hier. 1584 ĖR , 185; Hervorhebung im Original. Dt.: »[…] Gedanken, die für jenen in der Ichform sprachen« (ĖRd, 159; Hervorhebung im Original). 1585 Vgl. Jung, C. G.: Die Beziehungen zwischen dem Ich und der Umwelt. In: Ders.: Gesammelte Werke. Siebenter Band. Zwei Schriften über analytische Psychologie. Zürich, Stuttgart 1964, 131–264, hier 172. Jung bezeichnet mit dem Begriff Persona einen Ausschnitt aus der bzw. eine Maske der Kollektivpsyche, »die Individualität vortäuscht« (ebd., 173; Hervorhebung im Original), obwohl es sich bei der Individualität im Grunde um eine Rolle des Kollektiven handelt. 1586 ĖR , 185. Dt.: »Aus dem Spiegel blickte der Imperator. Aber auch seine [Ranovs] geistige Individualität […] erlosch.« (ĖRd, 159 f.). 1587 ĖR , 185. Dt.: »In dem Moment, da Erna mich erkennt, werde ich wirklich der Zar sein.« (ĖRd, 160). 1588 ĖR , 185. 1589 ĖR , 185. Dt.: »›[…] Ich bin’s doch, ich!‹« (ĖRd, 160). 1590 ĖR , 185. Dt.: »›[…] Ich, der Imperator und Selbstherrscher von ganz Rußland […]‹« (ĖRd, 161).

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Im selben Moment, als die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung, gewünschter und von außen zugeschriebener Identität sich als unüberwindlich erweist, verfällt der Protagonist dem Wahnsinn, der als »безумие«1591 auch explizit benannt wird. Dieser Rückzug in eine isolierte Vorstellungswelt, in der er unbestritten Zar Nikolaj II. ist, stellt die einzige verbleibende Möglichkeit des Helden zur Überwindung des Zwischenzustands in der realen Welt dar, in der er weder die eine noch die andere Identität besitzt. Denn die Anerkennung der neuen Identität wird ihm von seiner Umgebung verweigert, eine Rückkehr zu seinem alten Ich scheidet durch den Verlust der eigenen Identität im Zuge der Annahme der fremden jedoch ebenfalls aus. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass die Erzählung »Ėrna« trotz ihres klaren aktuellen zeitpolitischen Bezugs Grin nicht in erster Linie als politische Stellungnahme zu den Ereignissen des Jahres 1917 dient. Zwar können die Darstellung des Allmachtsgebarens Ranovs in der Rolle Nikolajs  II., die Legitimation des Zaren durch einen Hund sowie schließlich Ranovs Wahnsinn durchaus als kritisch-satirische Kommentare zu einem etwaigen Versuch der Restitution des Zarentums gelesen werden, jedoch liegt der Fokus der Erzählung an anderer Stelle. Wie in den meisten seiner Werke konzentriert sich Grin auch in »Ėrna« auf das Individuum und seine nicht selten zum Scheitern verurteilten Versuche, sich in der Welt mit all ihren – politischen und sozialen, aber auch persönlichen – Umbrüchen zurechtzufinden. Während die Darstellung der Verknüpfung des kleinen Mannes (russ.: malen’kij čelovek) mit den Ereignissen der großen Politik, hier durch das Medium der Hündin Nikolajs II., eine sozialkritische Komponente nicht ausschließt, liegt der Fokus klar auf der Psychologie des Protagonisten. Hat die Doppelgängerei durch Ich-Spaltung in »Ėrna« für den Protagonisten am Ende äußerst negative Auswirkungen, steht im Mittelpunkt des letzten hier vorgestellten Doppelgängertexts noch einmal ein Doppelgänger mit positiver Wirkung, wie schon in »Rasskaz Birka« und »Kanat«. Anders als in den beiden letztgenannten Texten, in denen der Doppelgänger oder vielmehr die Konfrontation mit diesem letztlich die Wiedererlangung des eigenen Ich ermöglicht, hat das Double in »Beznogij« (1924; dt.: »Der Beinlose«)1592 allerdings nur so lange eine positive Funktion, wie der Protagonist sich nicht bewusst ist, dass es sich bei diesem um die Verkörperung eines abgespaltenen, verdrängten Teils seines Ich handelt.

1591 ĖR , 185. 1592 Vgl. Grin, Aleksandr S.: Beznogij. In: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom tretij. Rasskazy 1917–1930. Stichotvorenija. Poėma. Moskva 1991, 317–320. Kürzel: BE .

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»Beznogij« Anders als in klassischen Doppelgängertexten führt in der sehr kurzen Erzählung »Beznogij« nicht die Abspaltung verdrängter Wesensmerkmale, sondern körperlicher Eigenschaften zu einer Doppelgängersituation. Der zugrundeliegende psychische Mechanismus der Verdrängung des intrasubjektiven radikal Fremden und seiner Projektion nach außen bleibt dennoch derselbe. Wie in »Kanat« und »Rasskaz Birka« wird auch hier die Handlung von einem diegetischen Erzähler geschildert, der zugleich der von der Ich-Spaltung betroffene Protagonist ist, sodass der abstrakte Leser auf den ersten Blick von seiner teils irreführenden Darstellung abhängig ist. Durch eine Reihe von Anspielungen in Gestalt inhaltlicher Andeutungen ebenso wie struktureller Analogien wird die vermeintlich überraschende Wendung am Ende der Erzählung aber indirekt bereits vorweggenommen. Die Handlung von »Beznogij« spielt vermutlich in Moskau, was durch die Nennung einer an einem Hügel gelegenen Straße mit dem Namen Tverskaja ulica (dt.: Tverer Straße) nahegelegt wird.1593 Erneut (wie in »Kanat«, »Ras­ skaz Birka« oder auch »Ėlda i Angotėja«) tritt das Doppelgängerphänomen in Verbindung mit einem Spiegel auf. In diesem Fall geht die Verdoppelung im Spiegel aber nicht der späteren Begegnung mit einem als eigenständige physische Entität auftretenden Doubles voran, sondern stellt selbst die Doppelgängererscheinung dar: Der namenlose Protagonist sieht sich im Spiegel, glaubt aber zunächst, eine fremde Person zu sehen, erkennt allmählich deren Ähnlichkeit mit sich selbst und identifiziert sie schließlich als sein eigenes Spiegelbild. Wie »Ėrna« und »Ėlda i Angotėja« verbleibt die Handlung also durchgängig auf der Ebene des Rationalen, indem die Doppelgängervision als Täuschung aufgelöst wird. Bereits im zweiten Satz der Erzählung erklärt der diegetische Erzähler, keine Spiegel zu mögen: »Как правило, я не люблю зеркал.«1594 – und steht damit im direkten Gegensatz zur Protagonistin aus Brjusovs »V zerkale« (1903; dt.: »Im Spiegel«), die dort sogar im ersten Satz mitteilt: »Я зеркала полюбила съ самыхъ раннихъ лѣтъ.«1595 Als Grund dafür nennt er die Verzerrung des Abgebildeten, was im Falle von Spiegeln auf der Straße »[в] особенности жутко«1596 sei. Diese Verknüpfung des Unheimlichen mit dem Spiegel stellt bereits eine erste Anspielung auf das Kommende dar: das an die Oberfläche

1593 Vgl. BE , 319. 1594 BE , 317. Dt.: »Ich mag in der Regel keine Spiegel.«. 1595 Brjusov: V zerkale, 117. Dt.: »Ich liebe Spiegel, seit ich denken kann.« (Brjussow, Valeri: Im Spiegel. Aus dem Archiv eines Psychiaters. Deutsch von Margit Bräuer. In: Ders.: Nur der Morgen der Liebe ist schön. Erzählungen und zwei Dramen. Berlin 1987, 20–33, hier 20). 1596 BE , 317. Dt.: »besonders schrecklich / u nheimlich«.

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Treten von etwas Verdrängtem, das laut Freuds Aufsatz »Das Unheimliche« – ins Russische übersetzt unter dem Titel »Žutkoe« – eben diesen unheimlichen Effekt hat. Auch wird an dieser Stelle bereits angedeutet, dass es sich um die Verdrängung eines äußerlichen, körperlichen Aspekts des Ich handelt, denn der Erzähler führt daraufhin aus: »Мы обычно рассматриваем себя изнутри, не отделяя наружности, какой смутно помним ее, от мыслей и чувств […]«,1597 weshalb man beim Anblick seiner selbst im Spiegel grundsätzlich auf der Hut sei. Trotz seiner Aversion blickt der Protagonist in eben solch einen Spiegel auf der Straße und sieht darin einen zerlumpten, verkrüppelten Bettler ohne Beine. Bei seiner Beschreibung des Mannes findet sich der nächste implizite Hinweis auf den weiteren Verlauf der Geschichte: Der Erzähler stellt sich vor, dass der Bettler lediglich bis zur Hüfte in einem Abwassergraben stecke, verdrängt also die Tatsache, dass diesem wirklich die Beine fehlen.1598 Der Protagonist verweilt daraufhin in der Nähe des Bettlers, um sich in dessen Gedanken und Emotionen in Bezug auf seine Verkrüppelung einzufühlen. Dies geschieht mit demselben inneren Widerstand wie bei dem Blick in den Spiegel. Dass das Spiegelbild des Protagonisten und der beinlose Mann identisch sind, wird durch die analoge Satzstruktur der beiden diesbezüglich getroffenen Aussagen des Erzählers indirekt deutlich: Hieß es zu Beginn: »[…] я не люблю зеркал«,1599 so konstatiert er jetzt: »[…] я не люблю калек […]«.1600 Die erste äußerliche Gemeinsamkeit des Protagonisten und des Bettlers zeigt sich logischerweise ebenfalls im Spiegel: »[…] не желая смущать несчастного, изучал его в зеркале, замечая, что и он тоже упорно смотрит мне в глаза в стекле […]«.1601 Kurz darauf bemerkt der Protagonist die nächste Übereinstimmung zwischen sich und dem Mann im Spiegel: »Между тем я замечал, что, по впечатлительности или особой нервности, машинально двигаю руками, подражая калеке, когда он возился с деньгами […]«.1602 Der Anblick einer Frau, die er von früher kennt, lässt den Protagonisten schließlich an seine Vergangenheit denken, woraufhin ihn plötzlich die entsetzliche Erkenntnis überkommt, die von Beginn des Textes an implizit vorbereitet wurde: 1597 BE , 317. Dt.: »Wir betrachten uns gewöhnlich von innen, ohne das Äußere, so wie wir es vage in Erinnerung haben, von den Gedanken und Gefühlen zu trennen […]«. 1598 Vgl. BE , 318. 1599 BE , 317. Dt.: »[…] ich mag keine Spiegel«. 1600 BE , 318. Dt.: »[…] ich mag keine Krüppel […]«. 1601 BE , 318. Dt.: »[…] weil ich den Unglücklichen nicht in Verlegenheit bringen wollte, studierte ich ihn im Spiegel und bemerkte dabei, dass auch er mir im Glas hartnäckig in die Augen sieht […]«. 1602 BE , 319. Dt.: »Währenddessen bemerkte ich, dass ich, aus Sensibilität oder besonderer Nervosität, mechanisch die Hände bewege und dabei den Krüppel imitiere, als er mit dem Geld hantierte […]«.

Das intrasubjektive radikal Fremde 

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»Так! Это я смотрю на себя, я, забыв, что со мной; у меня нет ног […]«.1603 Es ist am Ende also ausgerechnet der Spiegel, dessen verfälschende, verzerrende Wirkung der Protagonist zu Beginn der Erzählung kritisiert, der ihm seine wahre körperliche Gestalt bewusst macht. Die Konfrontation mit dem fremden Ich, das in »Rasskaz Birka« die Heilung des Protagonisten ermöglicht, führt in »Beznogij« zu Wut und Verzweiflung: »С рыданием, с злым воем, не удерживаясь, а торжествуя и плача, я  – безнаказанный, безногий, погибший, я, в котором всегда два,  – беру свои палки. О проклятое зеркало! Бей его, я бью – раз!«1604 Dass der Protagonist sich auch nach dem Erkennen des fremden Ich durch den Blick im Spiegel weiterhin weigert, dieses auch als Ich anzuerkennen, kommt dabei in den Worten »я, в котором всегда два«1605 zum Ausdruck. Wie die Analysen des intrasubjektiven radikal Fremden bei Grin zeigen, ist das Moment der Auflösung von Grenzen, das bereits eine zentrale Rolle in der Darstellung des (extrasubjektiven) strukturell und radikal Fremden gespielt hat, bei diesem letzten Typus von Alienität notwendigerweise am stärksten ausgeprägt. Durch das Eindringen des Fremden in den Kern des Eigenen wird eine Unterscheidung des einen vom anderen unmöglich, was im wahrsten Sinne des Wortes seine Verkörperung in dem Phänomen des Doppelgängertums findet. Daraus resultiert eine tiefe Erschütterung der eigenen Identität und damit auch eine Orientierungs- und Sinnlosigkeit, die ihrerseits extreme Wirkungen hervorruft: von tiefer Verzweiflung wie in »Beznogij« über Wahnsinn wie in »Kanat« und »Ėrna« bis hin zum Selbstmordversuch wie in »Rasskaz Birka«. Grin bedient sich in der Darstellung der Ich-Fremdheit eines oftmals hochkomplexen und, wie deutlich wurde, nur mit viel Aufwand zu entwirrenden Geflechts aus inhaltlichen, sprachlichen, strukturellen und narrativen Elementen, mit denen Aussagen getroffen und widerlegt, Anspielungen gemacht und Interpretationsmöglichkeiten angeboten werden. Wie schon im Zusammenhang mit dem radikal Fremden in Gestalt des Phantastischen bleibt auch im Falle der Doppelgängerphänomene, die als Eigen-Fremdes und Real-Imaginäres ebenso wie das Phantastische der Denkfigur der Schwelle und als Äußerstes (radikal Fremdes) im Innersten (dem eigenen Ich) derjenigen der Atopie zuzuordnen sind, die Aussage uneindeutig und in der Schwebe. Damit

1603 BE , 320. Dt.: »So! Ich blickte da auf mich selbst, ich, der ich vergessen hatte, was mit mir ist; ich habe keine Beine […]«. 1604 BE , 320. Dt.: »Mit Gewimmer, mit zornigem Geheul, ohne mich zurückzuhalten, sondern triumphierend und weinend, nehme ich – der Straflose, der Beinlose, der Verunglückte, ich, in dem immer zwei sind – meine Gehstöcke. Oh verfluchter Spiegel! Schlag ihn, ich schlage – hier!«. 1605 BE , 320. Dt.: »ich, in dem immer zwei sind«.

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bildet die Form der Darstellung nicht nur das Wesen des Doppelgängerereignisses ab, sondern erzeugt im Zuge dessen auch noch eine Widerspiegelung – d. h. eine Verdoppelung – der Situation des von der intrasubjektiven radikalen Fremdheit betroffenen Protagonisten in der Situation des abstrakten Lesers, der sich in der komplexen Lektüre seinerseits mit dem Fragwürdigwerden von Sinn und Orientierung konfrontiert sieht.

5. Fazit

Grins Poetik des Fremden Die Ergebnisse der vorliegenden Studie lassen sich wie folgt zusammenfassen. Auf der Ebene der textimmanenten Analyse wird aus der Zusammenschau der neun ausführlich behandelten Erzählungen, aber auch der ergänzend hinzugezogenen Texte, eine Reihe von Merkmalen deutlich, die die spezifische Poetik des Fremden bei Aleksandr Grin ausmachen. Das Fremde bei Grin ist sowohl als das Nichtzugehörige als auch, und in besonderem Maße, als das Unvertraute präsent, steht oftmals im Zentrum der Handlung und erfüllt dabei meist auch eine sujetbildende Funktion, indem es dem Text das Merkmal von Ereignishaftigkeit verleiht. Es ist nicht nur dialektisch auf ein Eigenes rückbezogen, sondern weist besonders intensive Wechselwirkungen mit ihm auf. Denn der Schriftsteller erschafft eine Poetik der Grenzüberschreitungen, -verschiebungen und -auflösungen, die Dichotomien aufbricht und Kontingenzen von Ordnungen in den Fokus rückt. Das Fremde bei Grin zeichnet sich durch eine hohe Dynamik aus, die sich in der Entfremdung von ursprünglich Eigenem – bis hin zu dessen Kern, dem Ich, wie z. B. in »Rasskaz Birka« –, aber auch in der Ent-Fremdung, der An-Eignung von einst Fremdem – z. B. der fremden Kultur in »Dalëkij put’« – äußert. Das Spiel mit teils hochgradig instabilen Zuschreibungen von Zugehörigkeiten und / oder Vertrautheiten beeinflusst notwendigerweise auch die Axiologie von Fremdem und Eigenem und führt zu Umwertungen und Ambivalenzen, wie beispielsweise im Fall des Doppelgängers aus »Kanat«, der als Feind bekämpft, an den am Ende aber mit Dankbarkeit erinnert wird, da er dem Protagonisten die Wiedererlangung der verlorenen Identität ermöglicht. Immer wieder wird nicht nur die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem und zwischen Positivem und Negativem neu verhandelt oder gänzlich aufgelöst, sondern auch die zwischen Realem und Imaginärem bzw. Illusorischem, etwa in »Put’« oder »Proisšestvie v ulice Psa«. Grenzüberschreitungen und -aufhebungen stellen somit ein wesentliches Organisationsprinzip der Poetik des Fremden bei Grin dar. Damit einher geht die Existenz zweier weiterer entscheidender Elemente dieser Poetik des Fremden, nämlich von Schwellenphänomenen und Atopien, bei denen das Entweder-Oder der eindeutigen Zugehörigkeit zur Sphäre des Eigenen bzw. des Fremden abgelöst wird durch ein Sowohl-Als-Auch im ersten und ein Weder-Noch im zweiten Fall. Diese Übergangsräume und unverortbaren Orte werden innerhalb der Chronotopographie des Fremden  – vom

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alltäglichen Fremden über das strukturell und das radikal Fremde bis hin zum intrasubjektiven radikal Fremden – immer häufiger: Während in »Propavšee solnce« sowohl die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht und die daraus resultierende alltägliche Fremdheit als auch das entfremdende Ennui im Verlauf der Erzählung unverändert bleiben, kommt es in »Zelënaja lampa« zwar in beiden Fällen zu Grenzüberschreitungen, die Zuordnungen zur Sphäre des Eigenen oder des Fremden sind dabei dennoch stets eindeutig bestimmbar. Im Falle der strukturellen Fremdheit wird die Möglichkeit einer Zuordnung bereits in Frage gestellt, etwa wenn in »Put’« das Verhältnis des Stadtraums und der geheimnisvollen Landschaft zu den Kategorien des Eigenen und des Fremden temporär sowie zu denen des Realen und des Imaginären dauerhaft ungeklärt bleibt. Der Protagonist aus »Dalëkij put’« führt eine Existenz auf der Schwelle zwischen ursprünglicher und neuer Identität, bei der erstere lediglich in den Hintergrund tritt, während der Hauptmann / Häuptling aus »Noč’ju i dnëm« die als diametrale Gegensätze konstruierten Zugehörigkeiten in sich vereint, welche sich in Abhängigkeit von seinem Bewusstseinszustand manifestieren, und somit letztlich ebenfalls auf der Schwelle verbleibt. Das radikal Fremde in seiner Ausprägung als Phantastisches wie in »Proisšestvie v ulice Psa« und »Ubijstvo v rybnoj lavke« stellt per definitionem eine Atopie dar, da es sich der eindeutigen Zuordnung verweigert. Die intrasubjektive radikale Fremdheit z. B. aus »Kanat« und »Rasskaz Birka« schließlich oszilliert zwischen paradoxer Atopie, da das äußerste Fremde hier auf das innerste Eigenen trifft und sich somit einer Verortbarkeit entzieht, und Schwelle, auf der sich dieses Eigene und Fremde miteinander verbinden – und auf der Birk sich sogar im wörtlichen Sinne wiederfindet. Mit Grenzüberschreitungen und -verschiebungen, vor allem aber Grenzauflösungen, Schwellen und Atopien ist zwangsläufig ein Fraglichwerden von vermeintlichen Gewissheiten verbunden, das die per se mit dem Fremden einhergehende Wirkung der Verunsicherung zusätzlich verstärkt. Die dadurch ausgelösten Krisen, die ebenfalls wesentlicher Bestandteil von Grins Schreiben des Fremden sind, können meist, wie gezeigt, durch die beiden Umgangsstrategien der Versicherung und der Verhandlung bewältigt und damit als positive Impulse entweder zur Bestätigung des Bestehenden oder zu dessen Veränderung nutzbar gemacht werden. Dies wird jedoch umso schwieriger, je umfassender die Unsicherheit, je gravierender und grundlegender die Erschütterung des Eigenen ist. Da sich dieses Eigene aber gerade durch die Existenz von Orientierung bietenden Grenzen definiert, stellen Schwellen und Atopien Räume bzw. Orte der existentiellen Verunsicherung dar, die nicht nur die Allgemeingültigkeit oder auch nur die Gültigkeit der eigenen Ordnung in Frage stellen, sondern sogar die Möglichkeit von Ordnungen überhaupt – und damit auch von Deutungsmustern und Sinngebungen. In einigen Fällen dieser Art bleibt daher nur die dritte Möglichkeit des Umgangs mit dem Fremden:

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seine Vernichtung. Dies trifft z. B. auf die Schwellenexistenz des HauptmannHäuptlings aus »Noč’ju i dnëm« zu, die nicht nur die Orientierung in der Welt, sondern sogar das Leben der Mitglieder der Eigengruppe bedroht und nur durch seine Ermordung beendet werden kann; ebenso auf die Atopie der phantastischen Ereignisse aus »Proisšestvie v ulice Psa«, die erst mit dem mit Erleichterung aufgenommenen Tod ihres Urhebers ein Ende finden, sodass die ursprüngliche Ordnung (zumindest vermeintlich) wiederhergestellt werden kann; und auch auf das atopische fremde Ich aus »Kanat«, dessen notwendige Vernichtung durch eine Projektion nach außen auf einen Doppelgänger möglich wird. Die starke Präsenz dieses existentiell verunsichernden Fremden in Grins Werk macht ihn zu einem Autor der Moderne, welche sich gerade durch die umfassende Kontingenz von Ordnungen und die Allgegenwärtigkeit von Fremdheitserfahrungen auszeichnet. Dem Chronotopos kommt in Grins Alienitätspoetik nicht nur in der soeben betrachteten Chronotopographie des Fremden eine entscheidende Rolle zu. Raum und Zeit sind auch in vielen Fällen entscheidend für das Sujet und seine Entwicklung, beispielsweise die Chronotopoi der langen Dauer der Alienitätserfahrungen in isolierten Räumen in »Zelënaja lampa« und »Propavšee solnce«, die Raumzeit der nächtlichen Stadt sowie der fremd-eigenen Wohnung in »Rasskaz Birka« oder der Chronotopos des Waldes in der Nacht in »Noč’ju i dnëm«. Die Poetik des Fremden Aleksandr Grins zeichnet sich darüber hinaus ganz wesentlich durch eine Verhandlung des Fremden nicht nur auf der Ebene des Inhalts, sondern auch auf der Verfahrensebene aus. Dies geschieht ganz wesentlich durch die Gestaltung der Narration, wobei vor allem die Wahl des Erzählertypus und der Erzählperspektive eine entscheidende Rolle spielt. Auffällig oft handelt es sich um diegetische Erzähler mit begrenzten Kompetenzen: Sie sind nicht allwissend, sondern besitzen selbst nur unvollständiges Wissen über die geschilderte Situation und geben dieses subjektiv und bisweilen sogar spekulativ wieder. Die Erzähler aus »Put’« und »Proisšestvie v ulice Psa« beispielsweise erfahren von den Ereignissen rund um das Fremde nur aus zweiter Hand, sodass sich die Narration notwendigerweise durch zahlreiche semantische Leerstellen und, wie im Falle des zweiten Textes, auch durch eine stark ausgeprägte Unzuverlässigkeit des Erzählers auszeichnet. Der abstrakte Leser ist der Narration gleichsam ›ausgeliefert‹ und macht so seinerseits eine Fremdheitserfahrung. Zudem ist er gezwungen, die erhaltenen unvollständigen Informationen zu interpretieren, sodass das Phänomen des Fremden eine mehrfache Brechung (russ.: prelomlenie)1 von der Wahrnehmung durch die davon unmittelbar Betroffenen über die Instanz des fiktiven Erzählers hin 1 Vgl. Bachtin, M. M.: Slovo v romane. K voprosam stilistiki romana. In: Ders.: Sobranie sočinenij v semi tomach. T. 3. Teorija romana (1930–1961 gg.). Moskva 2012, 9–179, hier 31.

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zum abstrakten Leser erfährt, wodurch sich ein Raum für Bedeutungsverschiebungen eröffnet, die das Fremde zusätzlich verfremden. Den logischen Höhepunkt dieser Umsetzung des Inhalts auf der narrativen Ebene bilden die Erzählungen »Rasskaz Birka« und »Kanat«, in denen eine intrasubjektive radikale Fremdheit durch einen diegetischen Erzähler dargestellt wird, der teils aus narratorialer Perspektive auf seine Ich-Fremdheit zurückblickt, diese aber teils auch aus der figuralen Sicht des damaligen, gespaltenen Ich schildert. Die Darstellung des Fremden ist dabei notwendigerweise nicht objektiv überprüfbar, der Erzähler ist aufgrund seiner psychischen Erkrankung unzuverlässig und die Logik der Ereignisse durch das Fehlen einer für das Erfassen des Gesamtbildes notwendigen Distanz des Erzählers oftmals nur implizit rekonstruierbar. Letzteres Muster der impliziten Aussagen und Verknüpfungen charakterisiert Grins Poetik des Fremden insgesamt, denn sie findet sich ebenso in seiner literarischen Darstellung der (extrasubjektiven) alltäglichen, strukturellen und radikalen Fremdheit. Auch hier werden Zusammenhänge durch den Erzähler oftmals nicht explizit offengelegt, sondern der Text enthält nur mehr oder weniger verschlüsselte Andeutungen, die die Entwicklung der Handlung präfigurieren, und / oder Hinweise, aus denen sich Zusammenhänge im Rückblick erschließen lassen. Nicht selten haben diese die Gestalt inhaltlicher, sprachlicher und struktureller Korrelationen, Parallelen und Oppositionen, aus denen die Erzählung gleichsam gewoben wird. Die daraus resultierende, oftmals hochkomplexe Struktur der indirekten Thematisierung des Fremden entspricht dessen Wesen selbst, da es notwendigerweise in seiner Zugänglichkeit stets ein Residuum von Unzugänglichkeit bewahrt, das ein direktes Sprechen darüber erschwert oder sogar unmöglich macht. Auch hier spiegelt die Darstellung also das Dargestellte. Aus der impliziten, sich allmählich entwickelnden und nicht selten widersprüchlichen narrativen Entfaltung der Zusammenhänge im Kontext von Alienität ergibt sich eine weitere Entsprechung zwischen Inhalts- und Verfahrensebene: Das Muster des Aufbaus von (mehr oder weniger vagen) Lesererwartungen durch Andeutungen und deren anschließender Durchkreuzung durch neue Informationen bildet sowohl die Verunsicherung durch das Fremde der handelnden Figuren als auch die oben angesprochene Dynamik der Verhandlungen und Auflösungen von Grenzen, die immer wieder eine Neubewertung von Zuschreibungen notwendig machen, ab. Schließlich zeichnet sich Grins Poetik des Fremden auch durch die häufige Präsenz verschiedenster Ausprägungsformen von Alienität in ein und demselben Werk und die Darstellung von deren Wechselwirkungen miteinander aus. In »Propavšee solnce« und »Zelënaja lampa« etwa verbindet sich in den grausamen Spielen sozioökonomische Fremdheit mit dem Motiv des Ennui als Fremdheit (in) der Welt, in »Dalëkij put’« bewirkt die alltägliche Fremdheit in

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Gestalt der Entfremdung vom eigenen Leben eine Neubewertung von strukturell fremdem und eigenem Raum. Auch in anderen Texten gehen verschiedene Konzeptionen des Fremden ineinander über: In »Noč’ju i dnëm« führt die strukturelle Fremdheit der Umgebung zu einer intrasubjektiven radikalen Fremdheit des Hauptmanns bzw. Häuptlings; in »Proisšestvie v ulice Psa« geht der radikalen Fremdheit der phantastischen Handlungen des Protagonisten die alltägliche Fremdheit in Gestalt der Trennung von seiner Partnerin voraus und löst diese mutmaßlich aus; und in »Rasskaz Birka« bereitet eine umfassende alltägliche Fremdheit die intrasubjektive radikale Fremdheit des Protagonisten vor. Die Fremdheitsarten auf der Inhaltsebene verflechten sich dabei in ähnlicher Weise ineinander wie die Äquivalenzen und Oppositionen in der Struktur der Texte. Angesichts dieser enorm komplexen Erzählstrukturen ist Grins Präferenz für kurze Prosaformen wenig verwunderlich: Gerade kurze Erzählungen, von denen der Schriftsteller mehrere hundert verfasst, ermöglichen es ihm, sein hochartifizielles literarisches Spiel in einer so dichten und vielschichtigen Weise zu entwickeln, wie es längere Textsorten, insbesondere Romane, kaum zulassen würden. Auch hat die Verwendung semantischer Leerstellen als Umsetzung des Fremden auf der Verfahrensebene in kürzeren Texten den Effekt einer Stützung der Inhaltsebene, während sie – in der bei Grin vorliegenden Häufigkeit  – in längeren Werken einer nachvollziehbaren Darstellung der Handlung schlichtweg entgegenwirken würde. Grin als eigener Fremder und fremder Eigener in der russischen Kultur Die Herausarbeitung der Merkmale der Poetik des Fremden Aleksandr Grins stellt die Erschließung eines wesentlichen Charakteristikums des Schaffens des Schriftstellers dar. Aus diesem Grund lassen sich daraus Aussagen über Grins Position in der russischen Literatur und Kultur im Allgemeinen ableiten: Grins Schreiben des Fremden macht ihn aus mehreren Gründen selbst zu einem Fremden in der russischen Kultur. Zunächst einmal ist es die schiere Quantität des Fremden, welches in den verschiedensten Ausprägungsformen und oftmals mit zentraler Funktion für den Text in Werken aller Schaffensperioden des Schriftstellers auftritt, die Grins Sonderstellung begründet. Darüber hinaus ist aber auch die Qualität der Darstellung höchst außergewöhnlich. Dies betrifft erstens die Intensität der Bearbeitung, denn das Fremde durchdringt Grins Prosa nicht nur auf der Ebene des Inhalts, sondern spiegelt sich auch in der narrativen, strukturellen und sprachlichen Gestaltung der Werke wider, sodass ein dichtes Geflecht fremder Elemente von oftmals hochkomplexer Struktur entsteht, wie es in der russischen Literatur so wohl kein zweites Mal zu finden ist. Nicht weniger bedeutend für Grins Fremdheit in bzw. gegenüber der russischen Kultur ist – zweitens – die in seinen Werken konstruierte Axiologie des Fremden. In

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besonderem Maße betrifft dies die Bewertung von strukturell Eigenem und Fremdem, für den unterstellten Adressaten der Texte also von Russischem und Nichtrussischem. Wie im Zuge der Textanalysen deutlich wurde, unterlaufen Grins Werke nicht selten die übliche Axiologie des Eigenen als des Positiven und des Fremden als des Negativen. Das Muster der Umkehrung dieser Wertungen findet sich in ihnen in unterschiedlicher Ausprägung. Während etwa in »Put’« nur eine leichte Präferenz für den fremden gegenüber dem eigenen Raum vorliegt, so handelt es sich in »Dalëkij put’« um eine starke und unzweideutige Ablehnung und Abwertung der als eintönig charakterisierten russischen Ebene mitsamt ihren phlegmatischen Bewohnern. Eine sehr ähnliche Konstellation findet sich in »Vozdušnyj korabl’«. Damit nimmt Grin einen Topos der russischen Kultur auf  – den des Einflusses des weiten russischen Raums auf die russische Mentalität bzw. die russische Seele  –2 und hebt dessen negative Seiten hervor. Auch russische kulturelle Erzeugnisse im engeren Sinne erhalten bei Grin immer wieder negative Bewertungen: Ebenfalls in »Dalëkij put’« findet sich z. B. ein Seitenhieb gegen bytovye romany, die den russischen Alltag beschreiben, und in »Fandango« erfolgt (neben der allgemeinen Kontrastierung des eiskalten, unterversorgten Petrograd mit einem warmen, einladenden, durch Überfluss gekennzeichneten Süden) nicht nur eine explizite Ablehnung der als dunkel und trist beschriebenen russischen Landschaftsmalerei, sondern Grin macht sich zudem über das klassische Motiv der Krähen im Schnee lustig, indem er seinen Protagonisten die Vögel als vertrocknete tote Fliegen identifizieren lässt. Passagen wie diese disqualifizieren Grin gewissermaßen für eine Position als nationaler russischer Autor und machen ihn auch in diesem Sinne zu einem Fremden in der russischen Kultur. Ebenso wenig förderlich in dieser Hinsicht ist die oben betonte große Häufigkeit der Verschiebung oder gar Aufhebung von Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem in Grins Texten, wobei auch hier gerade die strukturelle Ausprägung von Bedeutung ist. Wenn sich beispielsweise in »Noč’ju i dnëm« die vermeintlichen Morde der ›Wilden‹ an den europäischen Soldaten als Angriffe eines Mitglieds der Eigengruppe entpuppen, das aber wiederum teilweise die Identität eines Mitglieds der Fremdgruppe angenommen hat, so liegt sogar eine doppelte Aufhebung der Trennung zwischen Eigenem und Fremdem vor. Auf einer klaren und (vermeintlich) unaufhebbaren Abgrenzung zum Fremden basiert jedoch die kollektive Identität jeder Gruppe – auch die der russischen Nation. Damit stellen Sujets wie das aus »Noč’ju i dnëm« zwar aufgrund ihrer nicht direkt auf Russland referierenden Aussage keinen unmittelbaren Angriff auf die nationale Identität dar, sind aber bei Herstellung eines entsprechenden Bezugs dennoch prinzipiell problematisch. Ist das Muster 2 Vgl. Ingold: Russische Wege, 7 f.

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der Grenzaufhebung nicht nur auf das Eigene im Allgemeinen, sondern auf Russland bezogen, wird umso deutlicher, warum Grin kaum als nationaler Schriftsteller figurieren kann, dessen Werk den Anspruch nationaler Identitätsstiftung zu erfüllen hat. Wenn der Schriftsteller z. B. in »Dalëkij put’« seinen Erzähler Überlegungen zum Konzept der Heimat (russ.: rodina) anstellen und ihn zu dem Ergebnis kommen lässt, dass manche Menschen – darunter der aus Russland emigrierte Protagonist – keine (geographische und nationale) Heimat benötigen, da sie überall auf der Welt zu Hause sind, läuft dies in offensichtlicher Weise dem russischen, unauflöslich mit dem russischen Raum, der russischen Erde verbundenen Heimatverständnis zuwider und macht ihn der russischen Kultur fremd. Auch die während des Stalinismus gegen Grin vorgebrachten Anschuldigungen des Kosmopolitismus können vor diesem Hintergrund nicht verwundern. Schließlich gründet Grins Fremdheit in der russischen Literatur und Kultur auch in seiner Weigerung, in seiner Prosa bestimmte kulturelle Diskurse oder Stereotypen fortzuschreiben. Beispielsweise entzieht er sich gleich in mehreren seiner Werke der vor allem im 19. Jahrhundert, aber auch darüber hinaus, diskursbestimmenden Frage nach der (geographischen wie kulturellen) Verortung Russlands in Bezug auf Europa und Asien und dem daraus resultierenden Gegensatz von Ost und West. In »Vozdušnyj korabl’«, »Fandango«, »Dalëkij put’« oder »Ostrov Reno« etwa entwirft Grin einen expliziten Gegensatz zwischen Norden und Süden statt zwischen Westen und Osten und vermeidet es auf diese Weise, sich in das bestehende Muster einer West-Ost-Dichotomie – mit all den unvermeidlich damit verknüpften Wertungen und Assoziationen – einzuschreiben. Mit der Erzählung »Noč’ju i dnëm«, in der Grin mit der Figur des von Angst gelähmten Mur einen Antihelden zu dem furchtlosen Recken Il’ja Muromec schafft, schreibt Grin gegen ein Stereotyp der russischen Kultur an, den russischen Heldenkult, der gerade in der Sowjetzeit einen Höhepunkt erlebt – und in den Grins Texte ironischerweise von der sowjetischen Literaturwissenschaft durch die Konzentration auf seine romantischen, Abenteuer bestehenden Heldenfiguren eingeordnet werden. Nicht zuletzt ist als Beleg für die Fremdheit Grins auch seine Nichtzugehörigkeit zu literarischen Strömungen oder Gruppierungen zu nennen, die die russische bzw. sowjetische Literatur während seiner Schaffenszeit von 1906 bis 1932 prägen – seien es Symbolisten, Akmeisten, Futuristen, Serapionsbrüder, Obėriuten oder Schriftsteller des Lef oder Proletkul’t. Obwohl Grin gute fünfzehn Jahre in den Schriftstellerkreisen Petersburgs verkehrt und mit einigen Vertretern der genannten Gruppierungen sogar persönlich bekannt ist, bleibt er in seinem Schaffen unabhängig, wenn auch gewisse eklektische Einflüsse oder zumindest Übereinstimmungen (wie in Bezug auf die Verbindung realistischer und fantastischer Elemente bei den Symbolisten oder die Auffassung von Kunst der Serapionovy brat’ ja) festzustellen sind.

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All diese Aspekte machen Grin zu einem Fremden in der eigenen Literatur und Kultur. Und dennoch ist das Bild nicht so eindeutig, wie es vielleicht scheinen mag, denn Grin schreibt keineswegs losgelöst von der russischen Kultur. Dies zeigt sich bereits in den oben genannten negativen Referenzen im zweifachen Sinne – erstens denjenigen, in denen Grin das Russische, Eigene als das Negative darstellt, und zweitens denjenigen, in denen er bestehende Diskurse und Stereotype der russischen Kultur beinahe demonstrativ nicht fortschreibt, worin ebenfalls seine Verwurzelung in ihr, wenn auch auf indirekte Weise, zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus weist Grins Werk aber auch zahlreiche positive Bezüge zur russischen Literatur und Kultur auf. Beispielsweise prägt das für die russische Kultur typische Muster des uchod, des Weggehens zur Vermeidung von Konflikten, nicht nur Grins Gesamtwerk durch sein Schreiben des Fremden statt des Eigenen, sondern auch die Handlungsweise vieler seiner Protagonisten. Im Unterschied zu einem Weggang innerhalb der Grenzen des eigenen Raums, der dies aufgrund seiner gewaltigen Ausdehnung erlaubt (v. a. nach Sibirien), findet bei Grin jedoch – wie so oft – eine Grenzüberschreitung ins Fremde statt. Ebenso spielt der Schriftsteller mit dem genuin russischen Konzept der toska, das die Sehnsucht nach Ferne und Heimat innerhalb des russischen Raums miteinander verbindet, und lässt seine Protagonisten, z. B. in »Put’« und »Dalëkij put’«, nach außen, in die Fremde aufbrechen, um dort eine zweite Heimat zu finden. Zudem schreibt Grin auf einer Metaebene den Topos der Krim als eigen-fremder Raum fort, indem er in seinen fiktiven Schauplätzen reale Eindrücke der dortigen Topographie mit exotischen Elementen kombiniert. Auch die heimische Literatur, die von Grin bereits in jungen Jahren intensiv rezipiert wird, hinterlässt ihre Spuren in seiner Prosa. Beispielsweise finden sich in »Ubijstvo v rybnoj lavke« intertextuelle Referenzen auf Čechov, in »Proisšestvie v ulice Psa« auf Čechov und Blok und in »Fandango« auf Gogol’; in »Avtobiografičeskaja povest’« identifiziert Grin sich aufgrund des von Čechov in »Moja žizn’« dargestellten Provinzelends mit diesem, in »Vozdušnyj korabl’« bezieht Grin sich explizit, bis hin zum Titel selbst, auf Lermontov. Mit Autoren wie Bulgakov oder Il’f und Petrov verbindet Grin das Element des Grotesken, das beispielsweise »Proisšestvie v ulice Psa« maßgeblich prägt. Das Motiv des russischen Beamten (in »Ėrna« oder »Dalëkij put’«) begegnet dem Leser bei Grin ebenso wie Referenzen auf den Petersburger Text mit seiner Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Traum oder Wahnsinn (in »Rasskaz Birka« und »Fandango«). Mit seinen Doppelgängertexten schließlich schreibt Grin unverkennbar in der Nachfolge Gogol’s und Dostoevskijs. Gerade mit Gogol’, aber auch mit Dostoevskij ist Grin generell über die starke Psychologisierung seiner Figuren eng verbunden, insbesondere durch die intensive literarische Erkundung psychologischer und psychiatrischer Phänomene, mit denen sich Anfang des 20. Jahrhunderts die auch in Russ-

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land stark rezipierte Psychoanalyse befasst. Sowohl bei Gogol’ (z. B. in »Nos« oder »Zapiski sumasšedšego«; dt.: »Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen«) als auch bei dem stark von ihm beeinflussten Dostoevskij (z. B. in »Dvojnik«, »Prestuplenie i nakazanie« oder »Idiot«; dt.: »Der Idiot«) kommt dem Un(ter)­ bewussten eine wichtige Rolle zu: Träume, Halluzinationen, Delirien, vergessene Erinnerungen, Vorahnungen und psychologische Erkrankungen durchziehen ihr Werk.3 Dasselbe lässt sich über Grin sagen. Nicht nur im Zusammenhang mit dem intrasubjektiven radikal Fremden, in dessen Zentrum das Unbewusste steht, sondern auch mit dem (extrasubjektiven) radikal und sogar dem strukturell Fremden begegnen dem Leser bei Grin diverse psychologische Phänomene: In »Put’« hat der Protagonist Visionen von einem fremden Land, in das er schließlich auch aufbricht, wobei die Frage nach der realen Existenz des Landes bis zum Ende offenbleibt; die überraschende Wendung am Ende von »Noč’ju i dnëm« basiert auf einer Figur mit Persönlichkeitsspaltung, bei der die dunkle, gewalttätige, ›wilde‹ und die helle, ›zivilisierte‹ Seite des Ich abwechselnd die Kontrolle über das Bewusstsein des Individuums erlangen. In »Ubijstvo v rybnoj lavke« ist bis zum Schluss unklar, ob die erzählten Ereignisse tatsächlich oder nur in der Vorstellung des psychisch kranken Protagonisten stattfinden. Das Sujet von »Tainstvennaja plastinka« basiert auf der gescheiterten Verdrängung einer schrecklichen Tat, die die Hauptfigur eines Tages wieder einholt. In »Zagadka predvidennoj smerti« erlangt das Unterbewusstsein eine so große Macht, dass die bloße, intensive Vorstellung des Moments, in dem die Guillotine den Kopf vom Rumpf des Protagonisten abtrennt, schließlich zum Abfallen des Kopfes selbst ohne äußerliche Einwirkung führt. »Kanat« weist einen halluzinierenden Protagonisten mit Größenwahn auf, und in »Rasskaz Birka« schließlich spaltet sich nicht nur das Ich in zwei eigenständige physische Entitäten auf, sondern es verschwimmen auch die Grenzen zwischen Traum und Realität. Grin führt damit die von zwei Klassikern der russischen Literatur, Gogol’ und Dostoevskij, begründete, der wissenschaftlichen Erforschung oftmals vorausgreifende, literarische Erkundung psychologischer Phänomene im 20. Jahrhundert fort. Letztendlich handelt es sich bei Grin also um einen eigenen Fremden und fremden Eigenen in der russischen Kultur – wie bereits die ersten Literaturkritiker in den 1910er Jahren, wenn auch in einem spezifischeren (auf Einflüsse aus der westlichen Literatur bezogenen) Verständnis, mit dem Beinamen ›Русский Эдгар По‹4 festhalten. Damit zeichnet der Schriftsteller sich durch dieselbe Hybridität aus, die auch seine wohl bekannteste Schöpfung, Grinlandija, charakterisiert: Auch sie vereint (strukturell) fremde und eigene 3 Vgl. Kent, Leonard J.: The Subconscious in Gogol’ and Dostoevskij, and its Antecedents. The Hague 1969, 9 u. passim. 4 Dt.: ›Russischer Edgar [Allan] Poe‹.

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Elemente in sich. Darüber hinaus lässt sich auch die zweite Art der Hybridität Grinlandijas, die Kombination realer und imaginärer Bestandteile, auf Grin selbst, oder vielmehr auf das verbreitete Bild Grins, übertragen. Denn in diesem vermischen sich tatsächliche Fakten mit Mythisierungen und einer stark selektiven, im Ursprung ideologisch vereinnahmenden Perspektive auf das schriftstellerische Werk. Grins Fremdheit in der Rezeption bis heute Eben diese sehr spezielle Rezeption ist der Grund, warum Grin noch in einer weiteren Hinsicht als fremd – nun im Sinne von unbekannt und unverstanden  – zu bezeichnen ist. Im Folgenden sind daher noch einige Ergebnisse dieser Studie festzuhalten, die eine kritische Neubewertung des bis heute vorherrschenden Grin-Bilds erlauben – oder vielmehr: erforderlich machen. Wie durch die Auswertung der Sekundärliteratur zu Grin gezeigt wurde, wird der Autor zwar von Anfang an als äußerst fremd empfunden, jedoch konzentriert sich die Wahrnehmung dieses Fremden im Wesentlichen auf die nichtrussischen (oft exotischen) fiktiven Schauplätze und die damit verbundenen fremdklingenden Personen- und Ortsnamen in seinen Werken. Dementsprechend war es im Zuge der ›Wiederentdeckung‹ des Schriftstellers ab 1956 notwendig, die Doppelstrategie der ›Sowjetisierung‹ und der ›politischen Depotenzierung‹ Grins anzuwenden, um sein Werk trotz dieser ›unpatriotischen‹ Merkmale als zugleich ideologisch konform und ideologisch harmlos zu konstruieren. Vor allem letztere Strategie, die sich auf die Romantisierung Grins und seine Konstruktion als Kinder- und Jugendbuchautor stützt, wirkt bis heute nach. Die Einseitigkeit und Selektivität dieses Grin-Bilds zeigt sich bereits darin, dass sich das Thema des Fremden in seinem Werk eben keineswegs auf das geographisch-kulturell Fremde beschränkt, sondern sich in ihm in unterschiedlichsten Ausprägungen findet. Die Bandbreite der Erscheinungsformen wird in den Überblickskapiteln im Analyseteil der Studie deutlich, die jeder der vier für diese Arbeit grundlegenden Fremdheitsarten vorangestellt sind und in denen zahlreiche Texte einbezogen werden, die nicht Teil des stark eingeschränkten ›romantischen‹ Kanons der Werke Grins sind. Die Textanalysen machen zudem deutlich, dass das Fremde nicht nur den Hintergrund der Handlung bildet, wie dies bei den ›unrussischen‹ Schauplätzen oft der Fall ist, sondern häufig im Zentrum der Handlung steht und / oder diese überhaupt erst in Gang setzt. Das Fremde durchzieht Grins Werk darüber hinaus nicht nur auf der Ebene des Inhalts, sondern auch ganz wesentlich der Narration, aber auch der Sprache und der Struktur. Eine Beschränkung des Blicks auf die fremden Schauplätze ist in Hinblick auf das Gesamtwerk des Schriftstellers somit in keiner Weise angemessen. Anhand der analysierten Erzählungen lässt sich eine Reihe weiterer ›GrinMythen‹ widerlegen. Wie gezeigt wurde, stehеn dem verbreiteten Bild zufolge

Fazit

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im Mittelpunkt der Prosa Grins idealе ›romantischе‹ Heldеn, die nach ethischen Grundsätzen handeln und positive Identifikationsfiguren für die (sowjetische) Jugend darstellen – mit den Worten des bereits zitierten Lexikoneintrags: »[и]деальные образы Любви, Красоты и Человечности, […] полны высокого гуманистич[еского] смысла«.5 Wie das Kapitel zum alltäglichen Fremden mit dem in zahlreichen Variationen verarbeiteten Motiv des grausamen Spiels mit anderen Menschen aus Langeweile und unter Zugrundelegung eines ethischen Nihilismus zeigt, findet sich dieser Heldentypus keineswegs in allen Werken Grins – und nicht einmal in allen, die in Grinlandija spielen. Auch die von Angst überwältigten Protagonisten aus »Noč’ju i dnëm«, der verzweifelte, sich vor seinem Selbstmord noch etwas amüsierende Protagonist aus »Proisšestvie v ulice Psa« oder die Mörder aus »Ubijstvo v rybnoj lavke« und »Meblirovannyj dom« widersprechen diesem Bild mehr als deutlich. Das Kapitel zum strukturell Fremden zeigt sowohl die grundsätzliche Problematik des als Inbegriff von Grins Werk geltenden Konzepts Grinlandija als auch die unzulässige Idealisierung der fiktiven Schauplätze bzw. Grinlandijas als »[…] самая мирная, самая прекрасная страна«6  – analog zu derjenigen der Helden. Beispielsweise finden die schrecklichen Ereignisse in »Noč’ju i dnëm« in eben dem tropisch-exotischen Umfeld statt, das, unter anderem in Bezug auf »Ostrov Reno«, zum romantischen Sehnsuchtsort und zum charakteristischen Merkmal Grinlandijas (im dritten, weitesten Sinne) erklärt wurde. Der Mord in der Erzählung »Ubijstvo v rybnoj lavke«, die im Zusammenhang mit dem radikal Fremden betrachtet wurde, geschieht sogar in Zurbagan, das zum Kern Grinlandijas (im ersten, engsten Sinne) gehört. In eben diesem Kapitel zum radikal Fremden wird deutlich, dass das Übernatürliche (Fantastische) bei Grin sich keineswegs auf romantisch-helle Bilder wie den fliegenden Menschen aus »Blistajuščij mir« oder die Retterin Schiffbrüchiger, die »Beguščaja po volnam« aus dem gleichnamigen Roman, beschränkt. Es tritt auch und sogar ganz wesentlich in Gestalt des hochgradig beunruhigenden, sogar verstörenden Phantastischen in Erscheinung. Die Betrachtungen zum intrasubjektiven radikal Fremden zeigen, dass die Romantik bei Grin bei Weitem nicht nur den Kampf des edlen Helden für das Schöne und Gute und gegen das Schlechte, in der Regel mit positivem Ausgang wie z. B. in »Alye parusa«, betrifft, sondern auch typische Merkmale einer ›dunklen‹ Romantik wie die Beschäftigung mit dem Unbewussten, die Seelenspaltung, den Wahnsinn sowie eine generelle Psychologisierung der Figuren in Hinblick auf ihre verdrängten Seiten. 5 Rusakova: Grin, 334 f. Dt.: »[…] die idealen Bilder der Liebe, Schönheit und Menschlichkeit […] voll von hoher humanist[ischer] Bedeutung«. 6 Gamzatov; zit. nach Gorjunov: Čelovek iz Zurbagana. Dt.: »das friedlichste, das allerschönste Land«.

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Fazit

Schließlich lässt sich aus der Zusammenschau der Ergebnisse dieser vier Kapitel auch noch die Einordnung Grins als Kinder- und Jugendbuchautor widerlegen: Viele Werke Grins sind thematisch keineswegs für diese Altersgruppe geeignet – man denke beispielsweise an das Blutbad aus »Gladiatory«, die im Zentrum von »Zagadka predvidennoj smerti« stehende Hinrichtung des Protagonisten oder die Intensität der Darstellung von Gewalt und Schrecken in »Noč’ju i dnëm«. Hinzu kommt, dass auch die oben angesprochene hochkomplexe Struktur vieler der Erzählungen der Zuordnung zu den Genres der Abenteuerliteratur oder des Märchens – wie die häufige Bezeichnung Grins als skazočnik (dt.: Märchenerzähler) zeigt – mit ihren in der Regel simplen, oft schematischen Sujets widerspricht. Es kann somit festgehalten werden, dass das ab Mitte der 1950er Jahre geschaffene, in wesentlichem Maße ideologisch motivierte und dennoch bis heute in der Regel nicht hinterfragte, weitverbreitete romantisierend-idealisierende (und bisweilen banalisierende) Bild Grins und seines Werks zwar, zumindest in manchen Aspekten, nicht per se unzutreffend, aber äußerst einseitig und selektiv und somit in seinem Anspruch auf Allgemeingültigkeit falsch ist. Das, was Grin mit Blick auf seinen Beinamen ›Русский Эдгар По‹7 über die ihm zeitgenössische Literaturkritik beklagt, nämlich, dass diese Bezeichnung unreflektiert immer wieder reproduziert wird, nachdem sie erst einmal von einem Kritiker in die Welt gesetzt worden ist,8 gilt in ähnlicher Weise auch für die Etiketten ›Romantiker‹ und ›Kinder- und Jugendbuchautor‹. Sie werden weder der Bandbreite von Grins Themen und deren intensiver, facettenreicher literarischer Bearbeitung noch der poetisch-ästhetischen Qualität seines Schaffens gerecht. Aus diesem Grund lässt sich zusammenfassend konstatieren, dass Grins Schreiben weniger in dem Sinne ein der russischen Literatur und Kultur fremdes, d. h. sowohl unvertrautes als auch nichtzugehöriges, Schreiben ist, dass die Handlungen vieler seiner Werke an fremden Orten spielen und viele seiner Protagonisten fremde Namen tragen, obwohl dies der vorherrschenden Auffassung entspricht. Vielmehr ist sein Schreiben ihr fremd im Sinne von unvertraut, da erstens aufgrund der stark selektiven Rezeption weite Teile seines umfangreichen Gesamtwerks nicht nur in der breiten Bevölkerung, sondern sogar innerhalb der russischen (und erst recht der westlichen) Literaturwissenschaft unbekannt sind und zweitens die bekannten Werke in der Regel aus einer stark romantisch-verklärenden Per­spek­ tive betrachtet werden. Die vorliegende Studie soll daher einen substantiellen Beitrag zur zweifellos gewinnbringenden – und überdies, mehr als dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, geradezu überfälligen – Neuerschließung Aleksandr Grins 7 Dt.: ›Russischer Edgar [Allan] Poe‹. 8 Grin, N.: Iz zapisok ob A. S. Grine, 398.

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und seines Werks leisten. Die in ihr vorgenommene intensive Textanalyse, die Grin als Schriftsteller des Fremden par excellence zeigt, verdeutlicht dessen hohe Aktualität und Relevanz für die Gegenwart mit ihren ubiquitären Fremdheitserfahrungen. Darüber hinaus bildet eben diese Analyse der Poetik des Fremden Grins, in Kombination mit der Einbeziehung von durch die Forschung weitestgehend ignorierten Werken sowie der Identifikation der bisher vorherrschenden Grin-Rezeption als Ergebnis ideologisch vereinnahmender sowjetischer Lektüren, die Grundlage für eine neue literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektive auf den Schriftsteller. Die Studie eröffnet einen, bislang durch die stark einseitige Sichtweise weitgehend versperrten, Blick auf einen ›neuen‹ Grin, der sich durch äußerst komplexe, ästhetisch hochwertige und thematisch vielfältige Werke auszeichnet – von denen auch diese Untersuchung, trotz ihres Umfangs, nur einen Teil behandeln konnte. Neben der philologischen Erschließung zahlreicher anderer, in der Forschungsliteratur wenig oder gar nicht berücksichtigter Werke des Schriftstellers bieten sich für die Zukunft weitere, in dieser Arbeit nur angeschnittene, Themen an, die in den Blick zu nehmen sich zweifellos lohnt: Gerade Grins intensive literarische Bearbeitung psychologischer Phänomene, aber auch die Einflüsse russischer wie auch westlicher Schriftsteller und nicht zuletzt Grins Position und Stellenwert in der russischen Literatur verdienen eine genauere Betrachtung. Sie versprechen interessante Erkenntnisse über einen faszinierenden, trotz oder gerade wegen seiner Popularität als romantischer Kinder- und Jugendbuchautor noch immer in weiten Teilen unbekannten und unverstandenen Schriftsteller und sein Werk. Hierfür soll die vorliegende Forschungsarbeit als Grundlage und Impuls dienen.

Abkürzungen

Für die Archive werden folgende Kürzel verwendet: FLMMG

GAKO RGALI

Fondovyj otdel Feodosijskogo literaturno-memorial’nogo muzeja A. S. Grina (dt.: Archivabteilung des Literatur- und Gedenkmuse­ ums A. S. Grin Feodosija), Feodosija Gosudarstvennyj archiv Kirovskoj oblasti (dt.: Staatliches Archiv der Oblast’ Kirov), Kirov Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva (dt.: Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst), Moskau

Die folgende Liste enthält sämtliche in diese Studie einbezogenen literarischen Werke Aleksandr Grins mit Ausnahme von Archivdokumenten. AL Alye parusa (1923) ALd Die purpurroten Segel AP Avtobiografičeskaja povest’ (1932) AS Apel’siny (1907) AT Ataka (1915) BA Brak Avgusta Ėsborna (1926) BAd Die Ehe des August Esborne BE Beznogij (1924) BM Blistajuščij mir (1923) BMd Die funkelnde Welt BN Brodjaga i načal’nik tjur’my (1924) BP Barchatnaja port’era (1929) BŠ Boj na štykach (1915) BV Beguščaja po volnam (1928) BVd Wogengleiter ČA Čërnyj almaz (1916) ČF Četyrnadcat’ futov (1925) CR Ciklon v Ravnine Doždej (1909) CRd Der Zyklon in der Regenebene ČV Čužaja vina (1926) DB Dača Bol’šogo ozera (1909) DM Džessi i Morgiana (1929) DN Doroga nikuda (1930) DNd Der silberne Talisman DO D’javol Oranževych Vod (1913) DP Dalëkij put’ (1913)

620 DV Dviženie (1919) ĖA Ėlda i Angotėja (1928) ĖR Ėrna (1918) ĖRd Erna FA Fandango (1927) FAd Fandango GL Gladiatory (1923) GV Gatt, Vitt i Redott (1924) IC Imenie Chonsa (1910) IG Igruški (1915) IS Istorija Taurena (1913) IT V Italiju (1906) IV Iva (1923) IVd Die Weide KA Kanat (1922) KAd Das Seil KD Kapitan Djuk (1915) KK Kolokola (1917) KL Klubnyj arap (1918) KM Kirpič i muzyka (1907) KN Karantin (1908) KO Kolonija Lanfier (1910) KR Krysolov (1924) KRd Der Rattenfänger KS Ksenija Turpanova (1912) KT Komendant porta (1929) KV Korabli v Lisse (1918) KVd Schiffe in Liss LB Luža borodatoj svin’i (1912) LD Lesnaja drama (1911) LF Legenda o Fergjusone (1927) LG Lošadinaja golova (1923) LI Li (1917) LU Lunnyj svet (1911) MD Majatnik duši (1917/1918) ME Meblirovannyj dom (1916) ML Melodija (1917) MT Marat (1907) MV Mat v tri choda (1908) MZ Malen’kij zagovor (1909) NA Nakazanie (1908) ND Noč’ju i dnëm (1915) NDd In der Nacht und am Tage NE Na dosuge (1907) NP Nasledstvo Pik-Mika (1915)

Abkürzungen

Abkürzungen

OB OC OL OM ON OO OR OS OV OVd PA PAd PD PE PG PK PL PM PO POd PP PR PS PU PUd PV PVd PZ RA RB RE RF RŽ SA SČ SD SE SI SK SL SM SN SO SP SPd

621 Na oblačnom beregu (1924) Ochota na chuligana (1915) Okno v lesu (1909) Ochota na Marbruna (1915) ›Ona‹ (1908) Otravlennyj ostrov (1916) Ostrov Reno (1909) Obez’jana-sopun (1924) Ogon’ i voda (1916) Feuer und Wasser Pari (1933) Die Wette Prochodnoj dvor (1912) Petrograd osen’ju 1917 goda (1917) Priključenija Ginča (1912) Pachučij kustarnik (1921) Proliv bur’ (1910) Podzemnoe (1907) Pozornyj stolb (1911) Der Schandpfahl Povest’, okončennaja blagodarja pule (1914) Peškom na revoljuciju (1917) Propavšee solnce (1923) Put’ (1915) Der Weg Proisšestvie v ulice Psa (1909) Der Vorfall in der Köterstraße Po zakonu (1924) Raj (1909) Rasskaz Birka (1910) Rene (1917) Redkij fotografičeskij apparat (1914) Ruka ženščiny (1915) Sozdanie Aspera (1917) Slučaj (1907) Slabost’ Daniėla Chortona (1927) Seryj avtomobil’ (1925) Sistema mnemoniki Atleja (1911) Sinij kaskad Telluri (1912) Slon i mos’ka (1906) Smert’ Romelinka (1910) Sila nepostižimogo (1918) Sostjazanie v Lisse (1921) Serdce pustyni (1923) Herz der Wildnis

Abkürzungen

622 ŠT SV TA TĖ TI TL TN TP TS TV UF UK UKd UR URd VA VČ VE VIa VIb VK VL VN VO VP VR VS VV ZB ZC ZCd ŽG ŽI ZL ZM ZP ZPd ZR ZS ZU

Šturman ›Četyrëch vetrov‹ (1909) Sto vërst po reke (1916) Tainstvennyj les (1913) Tretij ėtaž (1908) Tifoznyj punktir (1922) Tajna lesa (1910) Tajna lunnoj noči (1915) Tainstvennaja plastinka (1916) Tragedija ploskogor’ja Suan (1912) Tjažëlyj vozduch (1912) Putešestvennik Uy-F’ju-Ėoj (1923) Ubijstvo v Kunst-Fiše (1915) Der Mord im Vorort Kunstfisch Ubijstvo v rybnoj lavke (1915) Der Mord im Fischladen Vozvraščënnyj ad (1915) Vanja rasserdilsja na čelovečestvo (1918) Vosstanie (1917) Vstreči i zaključenija (1927) Vstreči i priključenija (1927) Vozdušnyj korabl’ (1909) Vor v lesu (1929) Vperëd i nazad (1918) Sinij volčok (1915) Vesëlyj poputčik (1924) Vragi (1917) Vokrug sveta (1916) Vozvraščenie (1917) Zabytoe (1914) Zolotaja cep’ (1925) Die goldene Kette Žëltyj gorod (1915) Žizn’ Gnora (1912) Zelënaja lampa (1930) Zmeja (1926) Zagadka predvidennoj smerti (1914) Das Rätsel des vorausgesehenen Todes Zasluga rjadovogo Panteleeva (1906) Zoloto i šachtëry (1925) Zurbaganskij strelok (1913)

Literaturverzeichnis

1.

Werke Aleksandr Grins

Die Auflistung erfolgt entsprechend der alphabetischen Reihenfolge der zugeordneten Siglen (siehe Abkürzungsverzeichnis). AL

ALd

AP AS AT

BA

BAd

BE

BM

BMd BN

BP



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BV

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Werke Aleksandr Grins 

GL

GV

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KM KN KO KR

KRd

KS

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3. Bildquellen Abbildung 1: Semiotik des Fremden. Eigene Grafik. Abbildung 2: Chronotopographie des Fremden. Eigene Grafik.

Register

Das Register enthält Personennamen und Stichworte (inklusive Übersetzungen). Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf Inhalte ausschließlich in den Fußnoten. Reine Literaturangaben wurden nicht indiziert. A. S. Grin-Museum, Staryj Krym, s. Dom-muzej A. S. Grina Abel (bibl.)  287 Abramova, Vera (s. a. Kalickaja, Vera; Grinevskaja, Vera)  24, 52, 63 Afanas’ev, Aleksandr  48 Aimard, Gustave  40, 48, 96, 103 Akmeismus; akmeistisch; Akmeist  43, 92, 611 Aleksandra Fëdorovna (Zarin)  71, 597 Allrussischer Verband Sowjetischer Schriftsteller, s. Vserossijskij sojuz Sovetskich pisatelej Allunionsvereinigung der Assoziationen proletarischer Schriftsteller, s. Vsesojuznoe ob’’edinenie Associacij proletarskich pisatelej Alonkina, Marija  77, 78 Andersen, Hans Christian  48 Anderson, Benedict (s. a. imagined communities) 199 Andreev, Leonid  61, 67, 96 Andruson, Leonid  61, 63 Aneignung; aneignen  88, 99, 152, 156, 194, 231, 236, 242, 246, 257, 266, 294, 337, 355, 357, 377, 426, 431, 435, 442, 454, 498, 502, 511, 548, 598 Animismus; animistisch  236 f., 413 f., 577, 581 antirevolutionär (s. a. Oktoberrevolution) ​57, 135, 142 Aquin, Thomas von  558 Arcybašev, Michail  61 Aristoteles; aristotelisch  235, 266, 507 Artek  181 f.

Asatiani, Michail  499 Aseev, Nikolaj  93, 118 Äsopische Sprache  174 Assimilation 231, 233, 235, 242, 357 Assmann, Aleida  198, 199, 224 Assmann, Jan  198 Atopie; atopisch  259, 264–267, 342, 431, 442, 454, 498, 603, 605–607 Augé, Marc (s. a. non-lieu) 256, 264 Augustinus, Aurelius; augustinisch  192 Außerhalbbefindlichkeit, s. vnenachodimost’ Averbach, Leopol’d  110 Babel’, Isaak  79 f., 116, 168 Bachtin, Michail (s. a. vnenachodimost’) ​ 19, 245, 332, 457 f., 499, 528–531, 541, 547–551, 553, 555 f., 574 Bagrickij, Ėduard  106, 118, 124, 168 Barancevič, Kazimir  68 Barbar; barbarisch  92, 214 f., 218, 220, 233, 239 Barthes, Roland  21 Baudelaire, Charles  280 Bauman, Zygmunt  203 Beauvoir, Simone de  271 Belyj, Andrej (Bugaev, Boris)  42, 51, 55, 75, 448, 450, 499, 536 f., 589 Benjamin, Walter  261, 264 Benua (Benois), Al’bert  75 Benua (Benois), Aleksandr  75 Bezymenskij, Aleksandr  180 Bhabha, Homi (s. a. Third Space; Hybri­ dität) 231, 247, 262, 263, 529, 576

670 Bibergal’, Ekaterina  52 Bierce, Ambrose  96, 98 Binarität; binär  262 f., 369, 415, 419 Blok, Aleksandr  42, 73, 75, 92, 145, 169, 274, 444, 447 f., 450, 453, 458, 462, 484, 612 Boevaja organizacija partii socialistovrevoljucionerov, s. Sozialrevolutionäre Kampforganisation Bogaevskij, Konstantin  491 Böhme, Hartmut  245 f. Bolschewiken; Bol’ševiki; Bolschewismus; bolschewistisch  56 f., 71–73, 131, 142 f., 144 Boreckaja, Lidija  39 Borisov, Leonid  26, 123, 126, 131–133 Bourgeoisie; bourgeois; Bourgeois  54, 70, 129, 131 f., 133, 135, 143, 149 f., 153, 179 Brjusov, Valerij  65, 544, 601 Brodskij, Savva G.  179 f. Bunin, Ivan  55 Bychovskij, Naum  57 Byron, Lord (Byron, George Gordon Noel) ​97 Čaadaev, Pëtr  278 Caillois, Roger  439 f., 442, 482 Calderón de la Barca, Pedro  567 Camus, Albert  534 Čapek, Karel  161 Čapygin, Aleksej  61 Čechov, Anton  44, 119, 337, 458, 475, 538, 612 Central’naja komissija po ulučšeniju byta učënych (CKUBU; Zentrale Kommission für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Wissenschaftlern)  75 f., 422, 486 f., 497 Cenzor, Dmitrij  73 Chamisso, Adelbert von  508 Charms, Daniil  174, 278 Charol, Michael (Šarol’, Michael; Pravdin, Michail)  589 Chodasevič, Vladislav  25

Register

Christentum; christlich; Christ  213 f., 239, 383 Christianisierung 414 Christus, s. Jesus Christus Chronotopographie  245, 247, 250, 259, 264 f., 267, 605, 607 Chronotopos; chronotopisch  245, 294 f., 311, 332–334, 393, 408, 411, 526, 571, 587, 607 CKUBU, s. Central’naja komissija po ulučšeniju byta učënych Conan Doyle, Arthur  96 Conrad, Joseph  41, 279, 312 Cooper, James Fenimore  41, 96, 103 Crusoe, Robinson  434, 483 Čukovskij, Kornej  73, 75 Dämonisierung; dämonisieren  230, 242, 239, 263 Daudet, Alphonse  424 Depotenzierung  454, 457 – politische Depotenzierung  139, 155 f., 170, 173, 175, 179, 188, 614 Dichotomie; dichotomisch  230 f., 242, 311, 357, 368 f., 417, 547, 561, 586, 605, 611 Dickens, Charles  296, 468 Diderot, Denis  235 Dobužinskij, Mstislav  75 Dolidze, Marija  77 Dom iskusstv (Haus der Künste)  25, 43, 75–79, 145 Dom literatorov (Haus der Literaten) ​ 74 f. Dom-muzej A. S. Grina (A. S. Grin-­ Museum), Staryj Krym  29, 86, 183–185, 186 Dom učënych (Haus der Wissenschaftler) ​ 75 f., 422, 486, 489, 495 Dostoevskij, Fëdor  180, 277, 281, 348, 500, 508, 528, 529, 535 f., 538, 544, 568 f., 579, 585, 612 f. Dostoevskij, Michail  536 Droznes, Leonid  499 Dumas, Alexandre  291

Register

Eagleton, Terry  204 Ennui  279–284, 287–290, 294, 297–299, 303, 310–314, 319–321, 365, 606, 608 Entfremdung; entfremdet  16, 223 f., 242, 247, 258, 272, 280, 281, 302, 304, 304, 312–314, 319, 365 f., 377, 379, 407, 413, 417, 419, 448 f., 472, 504, 506 f., 510, 512, 523 f., 526–528, 531 f., 534, 538–540, 542, 546, 551, 554 f., 561, 569, 572–574, 579 f., 586, 605 f., 609 Erikson, Erik H.  196, 532 Ermakov, Ivan  500 Erofeev, Venedikt  278 Esenin, Sergej  80 ėsery, s. Sozialrevolutionäre Exklusion; exkludierend  199, 208, 223, 226, 242, 275, 286, 461–463 Exotik; exotisch; Exot  15 f., 41 f., 45, 61, 88–90, 100, 132, 135, 139, 151, 158 f., 162, 238, 253, 256, 294, 322–325, 330–332, 337–339, 348, 353, 383, 425, 427, 429, 446, 612, 614 f. Exotisierung  230, 237 f., 240, 242, 407 Fadeev, Aleksandr  106, 118, 177 Fantastik; fantastisch; Fantast  47, 92, 94, 100 f., 109, 114, 118, 124, 139, 152 f., 157 f., 167–170, 175–178, 189, 327, 332, 346, 384, 393, 518, 569, 581, 611, 615 Februarrevolution  70 f., 109, 143, 148, 597 Fedin, Konstantin  75 f., 116 Feodosijskij literaturno-memorial’nyj muzej A. S. Grina (Literatur- und Gedenkmuseum A. S. Grin, Feodosija) ​ 23, 25, 29, 31, 81, 180, 184–186, 299 Formalismus; formalistisch; Formalist ​ 16, 128, 132 f., 235, 586 Forš, Ol’ga  75 Foucault, Michel  20, 254 f., 264, 266, 271, 275, 310, 386, 546 frejdizm, s. Freudianismus Freud, Sigmund  196, 257 f., 267, 413 f., 441, 479, 499–501, 503, 505, 514, 526,

671 527–529, 541 f., 544, 547, 575–580, 581, 602 Freudianismus; freudianisch  501, 528 Futurismus; Futurist  43, 92, 161, 611 Gamzatov, Rasul  167, 615 Gast; Gaststatus  213 f., 233, 264 Geertz, Clifford  221 Gercen, Aleksandr  141 Glavlit (Glavnoe upravlenie po delam literatury i idzatel’stv; Hauptverwaltung für Literatur und Verlagswesen)  84 Godin, Jakov  61 Goethe, Johann Wolfgang  157 Gogol’, Nikolaj  108, 162, 443, 494 f., 497, 500, 508, 536, 544, 552, 612 f. Gončarov, Ivan  363 Gor’kij, Maksim  43, 46 f., 68, 73–75, 78, 79, 83, 85, 93, 102, 106, 111, 149, 155, 163, 175–177 Gornfel’d, Arkadij  15, 43, 61, 65, 88, 93, 98–100, 102, 118, 128, 169, 421, 444 f. Granin, Daniil  167 Green, Anna Katharine  60 Grenze 199, 203, 208, 218, 222 f., 228–231, 242, 245, 247–250, 252–255, 259–267, 306, 307, 311, 314, 316, 321, 324, 333, 335, 340, 345 f., 349, 352, 355–358, 362 f., 366, 368, 379, 384, 386 f., 390, 396, 404–406, 408–410, 412, 415, 424–427, 429, 440, 441, 443, 454, 487–489, 491, 526, 529, 535 f., 540, 542 f., 554, 556, 561, 566, 568–570, 573 f., 585, 587, 595 f., 599, 603, 605 f., 608, 610, 612 f. Grigor’ev, A. S. (falscher Name ­A leksandr Grins)  50 Grimm, Jacob  48, 219, 389, 576 Grimm, Wilhelm  48, 219, 389, 576 Grin, Nina (s. a. Mironova, Nina; Korotkova, Nina)  13, 24, 25, 28–30, 31, 34, 59 f., 66, 70, 77–81, 83 f., 86 f., 124, 131, 173, 175, 180, 183 f., 273, 296, 312, 327, 341, 432, 491, 588

672 Grinevskaja, Anna (s. a. Lepkova, Anna) ​ 38 Grinevskaja, Vera (s. a. Kalickaja, Vera; Abramova, Vera)  24 Grinevskij, Stepan (s. a. Hryniewski, Stefan) 38 Grinlandija  16 f., 36 f., 61, 118 f., 121 f., 127 f., 132, 134–136, 151, 152, ­156–164, 166–169, 180, 184 f., 186, 284, 323–328, 330–332, 334–340, 342 f., 345, 468, 613–615 Gumilëv, Nikolaj  468 Gumilevskij, Lev  26 Haggard, H. Rider  41, 48 Hall, Stuart  197 Harte, Bret  88, 96, 99 f., 125 Haus der Künste, s. Dom iskusstv Haus der Literaten, s. Dom literatorov Haus der Wissenschaftler, s. Dom učënych Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  224, 236 Heidegger, Martin  19, 210, 259, 576 Heine, Heinrich  422 f., 498 Herkules (Herakles)  479 Heterotopie; heterotopisch; hétéro­topie  254 f., 264, 266, 271, 273–277, 279, 310, 355, 363, 386, 546 Hoffmann, E. T. A.  96, 114 f., 443, 500, 508, 546 Hofmannsthal, Hugo von  280 Homer 214, 573 Hryniewski, Stefan (s. a. Grinevskij, Stepan) 38 Humanismus; humanistisch  95, 130, 136, 148, 154 f., 162, 165, 615 Humboldt, Wilhelm von  233 Husserl, Edmund  19, 194, 203, 208, 209, 219, 246 f., 249, 253 Huxley, Aldous  161 Hybridität; hybrid; Hybridisierung; hybridity; hybrid  231, 235, 242, 261–263, 331–334, 336 f., 339, 341 f., 345, 415, 511 f., 571 f., 613 f.

Register

Il’f, Il’ja  339, 612 Il’ ja Muromec  391 f., 611 imagined communities (s. a. Anderson, Benedict) 199 imagined / imaginative geography  333, 337 Inklusion; inkludierend  199, 223, 231, 233, 235, 242 Ivan IV. (Ivan Groznyj; Ivan der Schreckliche) ​586 Jacolliot, Louis  40 Jakobson, Roman  19, 20 James, William  196 Januaraufstand (Powstanie styczniowe, 1863) ​ 38 Jesus Christus  324, 452, 455 f., 594 Judentum; jüdisch  213, 225 Jung, C. G.  505, 541–543, 544, 546, 599 Kafka, Franz  161, 346 kafkaesk 185 Kain (bibl.)  287 Kalickaja, Vera (s. a. Abramova, Vera; Grinevskaja, Vera)  24, 25, 26, 28, 29, 30, 54, 61, 63 f., 66 f., 123 Kant, Immanuel  229 Kapitalismus; kapitalistisch; Kapitalist ​ 135, 149–151 Karamzin, Nikolaj  298 f., 391, 548 Karneval; karnevalistisch (s. a. Bachtin, Michail)  150, 336, 443, 456–458, 588, 590, 591 Kataev, Valentin  118 Katharina die Große (Ekaterina ­Velikaja) ​368 Kaverin, Veniamin  75 f., 115, 116 Ketlinskaja, Vera  165 Kierkegaard, Søren  539 Kipling, Rudyard  41, 88, 96, 99 f., 103 Kireevskij, Ivan  369, 419 Klassenkampf  110, 115, 150, 427 Klemm, Viktorija (Pseudonym von Aleksandr Grin)  59 Kljuev, Nikolaj  75

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Kol’cov, Michail  117 Kolumbus, Christoph (Colón, Cristóbal) ​ 215, 224, 236 Koreckij, Nikolaj  65 Korotkova, Nina (s. a. Grin, Nina; Mironova, Nina)  24 Kosmopolitismus; kosmopolitisch; Kosmopolit  128, 132 f., 134, 135, 162, 179, 189, 611 Kovalenkov, Aleksandr  126 Kreolisierung  231 Kristeva, Julia  20, 200, 204, 208, 258, 575 Krupskaja, Nadežda  174 Krylov, Ivan  58 Kubismus  161 KUBU, s. Central’naja komissija po ulučšeniju byta učënych kultursemiotisch; Kultursemiotiker  20, 244, 246 f., 597 Kundera, Milan  573 Kuprin, Aleksandr  26, 61, 71, 73, 77, 106, 525 Kuzmin, Michail  61, 76 Lacan, Jacques  20, 201, 258, 535, 545 f., 548, 550–553 Lachmann, Renate  263, 441, 443, 463 Le Corbusier (Jeanneret-Gris, Charles-Édouard) 244 Lef (Levyj front iskusstv; Linke Fronte der Künste)  111, 611 Lefebvre, Henri  262, 333 Lejeune, Philippe  33 Lenin  111, 152, 174 Leonov, Leonid  118, 124 Lepkova, Anna (s. a. Grinevskaja, Anna) 38 Lermontov, Michail  97, 416, 418, 420–423, 612 Leskov, Nikolaj  23 Levidov, Michail  88, 124 Levinas, Emmanuel 265 Levyj front iskusstv, s. Lef Libedinskij, Jurij  116, 118, 177

673 Lidin, Vladimir  93, 120 Literatur- und Gedenkmuseum A. S. Grin, Feodosija, s. Feodosijskij literaturno-memorial’nyj muzej A. S. Grina Litvinov, Vladimir  127, 331 Livingstone, David  177 Ljubimov, Pavel  150 Locke, John  198 logos  215, 222 Loks, Konstantin  93, 106, 124 London, Jack  88, 96, 103, 113, 114 Lotman, Jurij (s. a. Semiosphäre)  20 f., 97, 193, 195, 200, 204, 244, 246 f., 249 f., 252–255, 259–261, 262, 263 f., 266, 267, 306 f., 322, 352, 366, 377, 386, 389 f., 392, 408, 509, 540, 554, 558 Lunačarskij, Anatolij  73 Lunc, Lev  75 f., 133 Lurija, Aleksandr  501 Lžedmitrij I. (Pseudodmitrij)  596 Majakovskij, Vladimir  76, 80, 111, 145 Mal’cev, Nikolaj (falscher Name ­A leksandr Grins)  52 Mal’ginov, Aleksej (falscher Name Aleksandr Grins)  53, 59 Malkina, Inna  78 Malyškin, Aleksandr  106, 118, 124 Mandel’štam, Osip  75, 126 Märchen; märchenhaft  27, 40, 48, 52, 107 f., 111, 121, 127, 160, 170, 174–176, 178, 187, 296, 314 f., 320, 329, 388– 390, 393, 396, 401, 411, 415, 433, 437, 440, 483, 490, 580, 591, 616 Märchenerzähler  164, 174 f., 616 Marx, Karl  224 marxistisch  95, 112, 114, 148, 152, 170, 427 Maupassant, Guy de  96 Mayne Reid, Thomas  40, 95 f. Mead, George  219 Meletinskij, Eleazar  509 mental maps (Schenk)  243 Mérimée, Prosper  96, 282

674 Merleau-Ponty, Maurice  19, 192, 265 Métissage 231 Milaševskij, Vladimir  76 Minc, Zara  509 Miroljubov, Viktor  61 Mironov, Lev  83 Mironova, Nina (s. a. Grin, Nina; ­Korotkova, Nina)  24 Mironova, Ol’ga  81, 84, 86 Mitläufer, s. poputčiki Mjagkov, E. D.  58 Montaigne, Michel de  239 Montesquieu (Secondat, Charles-Louis de) ​ 235 Moravskaja, Ėl’za (Pseudonym von Aleksandr Grin)  59 Morris, Charles W.  20, 205 Mujžel’, Viktor  73 Mukařovský, Jan  21 Muromec, Il’ja  391 f., 611 Mythisierung  35, 38, 44, 230, 237 f., 240, 242, 322, 614 Nabokov, Vladimir  161 nachrevolutionär (s. a. Oktoberrevolution) 72, 90, 147 f., 153, 340, 421, 426, 487 Nansen, Fridtjof  177, 330 Narkompros (Narodnyj komissariat prosveščenija RSFSR; Volkskommissariat für Bildung der RSFSR)  73, 184 Naryškina (Fürstin)  79 Nekrasov, Nikolaj  366 NĖP, s. Novaja ėkonomičeskaja politika Nero 316 Nichtassimilierbarkeit  203, 254 Nietzsche, Friedrich  236, 282, 320 Nikitin, Nikolaj  75 Nikolaj II.  70, 597 f., 600 Nikulin, Lev (Ol’kenickij, Lev)  116 non-lieu (s. a. Augé, Marc)  264 f. Novaja ėkonomičeskaja politika (NĖP ; Neue ökonomische Politik)  110, 116 Novikov, Ivan  85 Novikov-Priboj, Aleksej  118

Register

Ochrana 52 Ognëv, Nikolaj  124 Oktoberrevolution (s. a. revolutionär; Revolutionär; nachrevolutionär; vorrevolutionär; antirevolutionär) ​ 56 f., 67, 70–73, 75, 87, 90, 110, 112, 113–116, 120 f., 124, 134 f., 139, 140–149, 152 f., 156, 158, 168, 178, 188 f., 430, 597 Oleša, Jurij  27, 31, 93, 98, 106, 118 f., 124, 132, 138, 169, 293 Oružejnikov, N.  124 Orwell, George  161 Osipov, Nikolaj  499 ostranenie (Verfremdung)  16, 235, 586 Ostrecov, Leonid  127 othering 201, 203 Otrep’ev, Grigorij  596 Ovid 507 Partija socialistov-revoljucionerov; SR ; Partei der Sozialrevolutionäre (s. a. Sozialrevolutionäre)  49, 50–53, 55–58, 62, 141 partijnost’ (Parteilichkeit) 111 Pascal, Blaise  280 f., 287 Paul, Jean  505, 508 Paustovskij, Konstantin  27, 42, 46 f., 58, 86, 118, 119–125, 126, 128, 130, 132–134, 136 f., 140, 152, 155 f., 158, 168, 172, 331 Peirce, Charles Sanders  206 Peter der Große (Pëtr Velikij) 511 Petrov, Evgenij  339, 612 Petrov-Vodkin, Kuz’ma  75 Phänomenologie; phänomenologisch ​ 18–20, 191, 194, 217, 238, 249, 528 Phantastik; phantastisch (Todorov)  77, 94, 111, 115, 346, 423, 438–455, 457–464, 466–471, 474, 476, 482 f., 485 f., 489–491, 493, 495–498, 506, 557, 563, 580 f., 603, 606 f., 609, 615 Pil’njak, Boris  175 f. Pjast, Vladimir  26, 75 f.

Register

Platon  265, 290 f. Poe, Edgar Allan  41, 59, 88, 96 f., 98, 99 f., 114 f., 118, 163, 279, 444, 445, 508, 613, 616 Polenov, Vasilij  538 Polo, Marco  224 poputčiki (Mitläufer) 110 poststalinistisch (s. a. Stalinismus)  153, 166, 188 Potapenko, Ignatij  68 Proletariat; proletarisch (s. a. Rossijskaja associacija proletarskich pisatelej) ​ 109–111, 115 f., 427 Proletkul’t (Proletarskie kul’turnoprosvetitel’nye organizacii; Proleta­ rische Kultur- und Aufklärungs­ organisationen)  109 f., 115, 611 Propp, Vladimir  389, 391, 437, 438 Puškin, Aleksandr  40, 112, 119, 337, 438, 536, 596 Racault, Jean-Michel  235 Rajnis, Jan  141 Ramses I.  437 Rank, Otto  505, 543 RAPP, s. Rossijskaja associacija proletarskich pisatelej Rasputin 71, 596 Reaktionismus; reaktionär; Reaktionär ​ 128, 132, 134 f., 148, 179 Realismus; realistisch; Realist (s. a. Sozialistischer Realismus)  29, 47, 50, 55, 60, 62, 66, 83, 94, 99, 109, 111, 113 f., 133, 139, 159, 167–170, 172 f., 175, 282, 295, 341, 357, 372, 388, 506, 562, 592, 611 Repin, Il’ja  491 Revolution (s. a. Februarrevolution; Oktoberrevolution; Partei der Sozialrevolutionäre; Sozialrevolutionäre) ​ 55, 57, 70 f., 141 f., 221 revolutionär; Revolutionäre (s. a. Februar­revolution; Oktoberrevolution; Partei der Sozialrevolutionäre; Sozialrevolutionäre; vorrevolutionär;

675 nachrevolutionär; antirevolutionär)  50 f., 53–56, 64, 71 f., 117, 140, 141 f., 144 f., 148, 153, 155, 171, 176, 221 Ribot, Theodule  500 Ricœur, Paul  200, 201 Rilke, Rainer Maria  280 Rimbaud, Arthur  228, 256 rite de passage (van Gennep)  223 Romantik; romantisch; Romantiker ​ 17 f., 29, 35, 38, 42, 44, 48, 50, 52, 60, 62, 92, 94, 95, 111 f., 122, 126, 136, 138 f., 148 f., 151, 152–169, 171–173, 176, 178, 179 f., 181, 184–188, 189, 237, 258, 295, 317, 324, 325, 327, 330, 339, 351, 412, 420 f., 444, 458, 499, 507 f., 539, 552, 555, 592, 611, 614–617 Romantisierung; romantisieren  17, 21, 28, 33, 36, 45, 51, 170, 172, 174, 181, 614, 616 Rossijskaja associacija proletarskich ­pisatelej (RAPP; Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller)  35, 83, 110 f., 115 f., 177 Rousseau, Jean-Jacques  234, 237, 419 Rozanov, Vasilij  499 Roždestvenskij, Vsevolod  25, 27, 43, 75 f., 78, 126 Rozental’, Tat’jana  499 Roziner, Aleksandr  67 Russkoe psichoanalitičeskoe obščestvo (RPSAO; Russische psychoanaly­ tische Gesellschaft)  499 f. Ryle, Gilbert  210 Šaginjan, Mariėtta  75 f., 122, 128, 134 Said, Edward  333 Sajanov, Vissarion  174 Saltykov-Ščedrin, Michail  141, 334 Sartre, Jean-Paul  200 Saussure, Ferdinand de  20, 206 Savrasov, Aleksej  492 Schiller, Friedrich  111 Schmid, Wolf  20, 283, 306 Schmitt, Carl  200, 239

676 Schnitzler, Arthur  280 Schriftstellerverband, s. Sojuz pisatelej Schütz, Alfred  227, 234 Schwelle  259, 261–264, 266 f., 380 f., 390, 408, 415, 431, 442, 445, 472, 554, 557 f., 560–562, 573, 575, 603, 605–607 Sejfullina, Lidija  118 Selkirk, Alexander  483 Semiosphäre 97, 200, 204, 244, ­247–256, 258–261, 263–265, 352, 386, 389 f., 443, 554 semiotisch (s. a. kultursemiotisch)  206, 246–249, 251–254, 255, 260, 261, 264, 267, 307, 345, 352, 355, 366, 386, 395, 554 f., 597 Šengeli, Georgij  126 Serapionovy brat’ ja; Serapionsbrüder ​ 76, 110, 115, 133, 611 Sergievskij, Ivan  124 Sibirien  52, 113, 274, 612 Simmel, Georg  203, 204, 212, 219, 234, 244, 291, 316, 442, 527, 530 Šiškin, Ivan  538 Šiškov, Vjačeslav  73 Skitalets (Petrov, Stepan)  68 Šklovskij, Viktor  26, 27, 61, 75 f., 142, 153, 171, 177, 180, 235 Slëzkin, Jurij  73 Slonimskij, Michail  26, 31, 75, 89, 94, 107 f., 116, 123 f., 133, 147, 150, 172, 174 Smirenskij, Vladimir  43, 127, 138, 332 Smirnov, Sergej  182 social’nyj zakaz; sozialer Auftrag  109– 111, 114, 189 Soja, Edward B. (s. a. Thirdspace)  262, 333 Sojuz dejatelej chudožestvennoj ­literatury (Verband der BelletristikAutoren) ​73, 98 Sojuz pisatelej; Schriftstellerverband; Schriftstellerunion  82, 85 f., 112 Sokolov-Mikitov, Ivan  25, 61, 96 Sologub, Fëdor  73, 161, 282

Register

Solov’ëv, Vladimir  448 Solženicyn, Aleksandr  160 Sorokina, Natal’ja  44 Šostakovič, Dmitrij  130 Sowjetisierung  116, 122, 130, 139 f., 155 f., 170, 179, 188, 614 sozialer Auftrag, s. social’nyj zakaz Sozialismus; sozialistisch  83, 114, 115, 121 f., 128, 134, 140, 148 f., 151, 152–154, 171, 178 Sozialistischer Realismus  109, 111, 171–173 Sozialrevolutionäre; ėsery; sozial­ revolutionär (s. a. Partija socialistovrevoljucionerov)  49 f., 52 f., 54, 56–58, 60, 115, 140, 141, 168, 427 Sozialrevolutionäre Kampforganisation; Boevaja organizacija partii socialistov-revoljucionerov (s. a. Partija socialistov-revoljucionerov)  53 SR , s. Partija socialistov-revoljucionerov; Sozialrevolutionäre Stalinismus; stalinistisch (s. a. post­ stalinistisch)  38, 91, 107 f., 128, 130, 134, 136, 153, 155 f., 174, 177, 278, 611 Stanley, Henry Morton  177 Stevenson, Robert Louis  41, 96, 114 f., 413, 476, 508 Strukturalismus; strukturalistisch; Strukturalist  18–21, 191 Svirskij, Aleksej  61, 116 Symbolismus; Symbolist  43, 92, 611 Tauwetter  135 f., 139, 147, 164, 170 Third Space (s. a. Bhabha, Homi)  231, 262 Thirdspace (s. a. Soja, Edward B.)  262, 333 Tichonov, Nikolaj  75, 118 Todorov, Tzvetan  20 f., 95, 439 f., 441 f., 444, 447, 462, 469, 486, 563 f., 580, 581 Tolstoj, Aleksej  30, 111, 116, 391 Tolstoj, Lev  119 toska (Sehnsucht)  348, 372, 571–574, 612

Register

Transkulturalität  231 Trockij, Lev  110 Turgenev, Ivan  282 uchod (Weggang)  62, 113, 120, 128, 158, 288, 303, 321, 341, 351, 366, 453, 458, 506, 612 Uspenskij, Boris  262, 597 Utopie; utopisch  72, 122, 134, 148, 156, 170, 254, 264, 266, 443, 546 Valéry, Paul  548 Vasnecov, Viktor  391 Venskij, Evgenij  61 Verband der Belletristik-Autoren, s. Sojuz dejatelej chudožestvennoj literatury Veresaev, Vikentij  106 Verfremdung, s. ostranenie Verklärung – religiöse Verklärung  594 – romantische Verklärung; verklären ​ 17 f., 79, 122, 130, 136,162, 163, 164, 166, 183, 185 f., 320, 339, 616 – Verklärung des Fremden; verklären ​ 230, 237 f., 242, 263, 357 Verne, Jules  40 f., 96, 312, 315 Vernichtung (des Fremden)  144, 231, 240, 242, 288 f., 294, 320, 378, 406, 415, 419, 431, 485, 508, 513, 517, 540, 607 Veržbickij, Nikolaj  26, 41, 61, 73, 343 Vitte, Sergej  598 vnenachodimost’; Außerhalbbefind­ lichkeit (s. a. Bachtin, Michail)  529, 541 Voinov, Vladimir  73

677 Volkskommissariat für Bildung, s. Narkompros Vološin, Maksimilian  43 f., 82, 86, 126 Vološinov, Valentin (s. a. Bachtin, Michail)  528 Vol’pe, Cezar’  34, 124 Voltaire (Arouet, François-Marie)  235 vorrevolutionär (s. a. Oktoberrevolution) ​ 90, 113, 120, 124, 140, 146, 149, 158, 331, 421 Vserossijskij sojuz Sovetskich pisatelej (Allrussischer Verband Sowjetischer Schriftsteller) 87 Vsesojuznoe ob’’edinenie Associacij proletarskich pisatelej (VOAPP; Allunionsvereinigung der Assoziationen proletarischer Schriftsteller)  83 Vul’f, Moisej  499 Vvedenskij, Aleksandr  174, 277 f. Vygotskij, Lev  501 Waldenfels, Bernhard  19 f., 192, 193 f., 203, 207, 208, 217 f., 220 f., 226, 228, 234, 243–246, 249, 250–253, 255–257, 260, 265, 545, 548 Wells, H. G.  76, 96, 346, 351 Werfel, Franz  493, 591 Wilde, Oscar  508, 590 Witkiewicz, Stanisław  161 Wolff, Larry  368 Zamjatin, Evgenij  76, 79, 161 zaum’ (transmentale Sprache)  92 Ždanov, Andrej; ždanovščina  132 Zedlitz, Joseph Christian von  416 Zorin, Valentin  126 Zoščenko, Michail  75 f., 116