205 38 8MB
German Pages 228 Year 2004
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN V O N JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER
BAND 103
MARTINA BACKES
Fremde Historien Untersuchungen zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte französischer Erzählstoffe im deutschen Spätmittelalter
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2004
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-15103-X
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: ΑΖ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Inhaltsverzeichnis
Vorwort I.
VII
Kultureller Austausch im Mittelalter
ι
ι . Zur Situation der Forschung 2. Das Spätmittelalter als »Zeitalter der Übersetzungen, Bearbeitungen, Adaptionen« 3. Eine Fee macht Karriere. Der Melusineroman auf dem Weg von der siidwestfranzösischen Lokalsage zum Stoff der Weltliteratur
ι 8
11
II. Voraussetzungen
17
ι. Si dûhte ir spräche seltscene, so süeze und so höveschlich Französischkenntnisse in Deutschland 2. Wälsch läsen sie da vil — Französische Bücher in Deutschland 3. Geographische Schwerpunkte
17 48 64
III. Überlieferung und Rezeption französischer Romane in Deutschland am Beispiel der >Melusine
L'apparition du livre< bzw. >Histoire de l'édition française< oder »Mise en page et mise en
16
17
Léon Gilissen: Prolégomènes à la codicologie. Recherches sur la construction des cahiers et la mise en page des manuscrits médiévaux. Gand 1977. S. 2 4 1 . Zur Situation in Deutschland siehe etwa die Aufsätze von Michael Cahn: »Es gibt keine Geschichte des Buches«. In: Buchhandelsgeschichte 1994/1, S. B 3 3 - B 3 8 und Uwe J o chum: Textgestalt und Buchgestalt. Überlegungen zu einer Literaturgeschichte des gedruckten Buches. In: LiLi 26, 1996, S. 2 0 - 3 4 . Vgl. fur Frankreich Henri-Jean Martin: Pour une Nouvelle Histoire du livre. In: La Présentation du livre. Actes du colloque de Paris X-Nanterre, 4 . - 6 . décembre 1985. Hg. v. Emmanuèle Baumgartner u. Nicole Boulestreau. Paris 1987. S. 1 3 - 2 4 .
6
texte du livre manuscrit< vergleichbar wären, fehlen fur den deutschsprachigen R a u m . 1 8 Umso dringlicher erscheinen exemplarische Einzeluntersuchungen, wie sie im Folgenden fur die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte französischer Erzählstoffe im deutschen Spätmittelalter vorgelegt werden. Da für die Übersetzungen französischer Chansons de geste umfangreiche Studien von Bernd Bastert und Ute von Bloh angekündigt sind, 1 9 ist meine Arbeit den höfischen Ritter- und Abenteuerromanen gewidmet, wobei im Mittelpunkt die bereits eingangs erwähnte >Melusine< steht. Sie eignet sich in vielerlei Hinsicht als exemplarischer Untersuchungsgegenstand. Zum einen lassen sich in diesem Roman, der die Fee Melusine als Stammutter einer südwestfranzösischen Adelsfamilie einfuhrt und deshalb in Frankreich als Geschlechtermythologie gelesen werden konnte, im Vergleich der französischen und deutschen Fassungen besonders gut die unterschiedlichen Autorintentionen, Erzählstrategien und Lesarten der Geschichte in den verschiedenen Rezeptionszusammenhängen analysieren, da in Deutschland die Möglichkeit einer genealogisch begründeten Identifikation mit den literarischen Figuren nicht gegeben war. Z u m anderen weist die deutsche Bearbeitung durch Thüring von Ringoltingen mit 1 6 Textzeugen, die alle noch ins 1 5 . Jahrhundert gehören, eine sehr viel umfangreichere Überlieferung als andere frühneuhochdeutsche Prosaromane auf, die — wie ζ. B. die >Magelone< — nur in einer einzigen Handschrift oder gar nur in einer späten Druckausgabe erhalten sind. Ähnliches gilt für die Überlieferungssituation der französischen Fassungen. Außerdem bricht die Überlieferung der offenbar äußerst erfolgreichen Geschichte mit der zunehmenden Verbreitung des Buchdrucks nach 1 5 0 0 keineswegs ab, weder in Frankreich noch in Deutschland. Dieser Befund erlaubt daher sowohl Untersuchungen zur Handschriftenkultur des ausgehenden Mittelalters als auch zu möglichen Veränderungen bei Eintritt der Texte in den Druck und damit Beobachtungen zum Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in einer zentralen Umbruchsphase der Literaturgeschichte. Schließlich ermöglichen die Illustrationen französischer und deutscher Handschriften sowie die Existenz umfangreicher Holzschnittfolgen in den 18
19
Lucien Febvre u. Henri-Jean Martin: L'apparition du livre. Paris 1958; Histoire de ledition française. Hg. v. Henri-Jean Martin u. Roger Chartier. Bd. 1—4. Paris 1982 — 86; Mise en page et mise en texte du livre manuscrit. Hg. v. Henri-Jean Martin u. Jean Vezin. Paris 1990. Zuletzt erschien Henri-Jean Martin: La naissance du livre moderne ( X X V e - X V I T siècles). Mise en page et mise en texte du livre français. Paris 2000. Bernd Bastert: Chanson de geste in Deutschland — Annäherungen an ein marginalisiertes Genre. Habilitationsschrift Köln 2002. Die Münchner Habilitationsschrift von Ute von Bloh ist inzwischen im Druck erschienen: Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Tübingen 2002.
7
frühen Drucken die Behandlung von Fragen zum Verhältnis von Text und Bild und können überdies Aufschluss über das unterschiedliche Ausstattungsniveau und die möglicherweise andere Gebrauchssituation französischer und deutscher Bilderhandschriften des Spätmittelalters geben. Dabei lassen die Ergebnisse dieser Untersuchungen am Ende, wie ich hoffe, erkennen, dass zu einer umfassenden kulturgeschichtlichen Erforschung des deutsch-französischen Literaturtransfers im Mittelalter nicht nur die philologische Analyse der adaptierten Texte im Hinblick auf stoffliche und stilistische Übernahmen gehört, sondern ebenso eine buchgeschichtliche Untersuchung der Uberlieferungszeugen, vorausgesetzt, man nimmt das Buch als Zeichenträger ernst.
2. Das Spätmittelalter als »Zeitalter der Ubersetzungen, Bearbeitungen, Adaptionen« Das bekannteste Stichwort, mit dem die besondere Situation des Spätmittelalters im Kontext der deutschen Literaturgeschichte charakterisiert worden ist, ist das der »Literatur-Explosion«. Es stammt von Hugo Kuhn 2 0 und kennzeichnet prägnant den Höhepunkt einer Entwicklung, die im Frühmittelalter mit den ersten vereinzelten Versuchen, volkssprachliche Texte im Anschluss an die lateinische Schrifttradition aufzuzeichnen, begonnen hatte. Erst jetzt erfasst der Prozess der Verschriftlichung der Volkssprache alle Bereiche der mittelalterlichen Kultur, und die entstehenden Werke erreichen dank der Einführung des billigeren Papiers und der Erfindung des Buchdrucks ein immer größeres Publikum. Obwohl diese allgemeine Literarisierung mit einer zunehmenden Emanzipation der Volkssprache von den lateinischen Mustern einhergeht, muss auch die deutschsprachige Literatur des Spätmittelalters in sprachübergreifenden literarischen Zusammenhängen gesehen werden, die allerdings nicht mehr — wie in den Anfangen - nur die lateinische Dichtung betreffen. 21 Der Drang, alles irgendwie Vorhandene, sei es alt oder neu, vertraut oder fremd, aufzugreifen und schriftlich zu rezipieren, erscheint in dieser Zeit
21
Hugo Kuhn: Versuch über das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur. In: ders.: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Tübingen 1980. S. 77 — 1 0 1 , hier S. 78. Zur Notwendigkeit einer europäischen Literaturgeschichte des Mittelalters, die den literarischen Zusammenhängen, insbesondere der Rolle der lateinischen Literatur fur die Literarisierung der Volkssprache, einen angemessenen Platz einräumen würde, siehe Joachim Bumke: Geschichte der mittelalterlichen Literatur als Aufgabe. Opladen 1 9 9 1 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 309). S. 22ff.
8
so groß, dass der Anteil dieser »Rezeptionsliteratur« die »originalen« Neuproduktionen bei weitem übersteigt. Das Spätmittelalter gilt als »das Zeitalter der Übersetzungen, Bearbeitungen, Adaptionen« 22 schlechthin, und es ist vor allem dieses Phänomen, das der Literatur der Epoche die langandauernde Geringschätzung der Literaturgeschichten eingebracht hat, die sich zumeist in dem Etikett »Verfall« artikulierte. Der rezeptive Charakter der spätmittelalterlichen Literatur prägt auch den frühneuhochdeutschen Prosaroman, der zu den interessantesten literarischen »Neuerscheinungen« der Zeit zählt. 23 Während der bereits im 1 3 . Jahrhundert entstandene >Prosa-Lancelot< als erster deutschsprachiger Prosaroman ohne jede Wirkung und Nachfolge blieb, setzt erst jetzt im 15. Jahrhundert eine breite Erzählliteratur in Prosaform ein, die sich deutlich von den Erzähltraditionen der mittelalterlichen Versepen absetzt. Obwohl die in den siebziger und achtziger Jahren engagiert geführte kritische Diskussion der »Volksbuch«-Frage und die Einsicht in die irreführende Übertragung des von Joseph Görres 1807 geprägten Begriffs auf die literarischen Werke des 15. und 16. Jahrhunderts ein durchaus lebhaftes Interesse an den Prosaromanen weckte, rückten in der Folgezeit meist nur einzelne herausragende Werke wie etwa der >Fortunatus< oder das >Faustbuch< in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Bemühungen. 24 Übergreifende Untersuchungen zu den verschiedenen literarischen Zusammenhängen, in denen die deutschen Prosaromane stehen, blieben bislang jedoch aus.25 Dabei stammen die verarbeiteten Stoffe dieser neuen Romanliteratur vor allem aus drei Bereichen. Zum einen werden die Versfassungen alter mittelhochdeutscher Dichtungen wie etwa der >Wigalois< des Wirnt von Grafenberg oder der >Tristrant< Eilharts von Oberge in Prosa aufgelöst, wobei der Bearbeiter des >Tristrant< als Grund fur die Neubearbeitung vor allem den Widerstand des zeitgenössischen Publikums angibt, das die alten
22 23
24
25
Kuhn, Versuch über das 15. Jahrhundert, S. 79. Zur Problematik des Hilfsbegriffe >Prosaroman< siehe Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert - Perspektiven der Forschung. In: IASL i , 1985, Sonderheft Forschungsreferate, S. 1 — 128, hier S. iff. Siehe den instruktiven Forschungsüberblick von Jan-Dirk Müller, Volksbuch/Prosaroman sowie zur Kritik des Volksbuch-Begriffe vor allem Hans-Joachim Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch. Studien zur Wirkungsgeschichte des frühnhd. Romans seit der Romantik. Stuttgart 1977. Auch Danielle Buschinger behandelt die Frage der deutsch-französischen Beziehungen letztlich nur exemplarisch an drei Romanen (>Pontus und SidoniaMelusineLoher und Mallen). D. Buschinger: Le Roman en prose en Allemagne à la fin du Moyen Âge ses relations avec la France. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte, S. 155 — 174.
9
Reimdichtungen nicht mehr verstehe.26 Ursache hierfür waren sowohl sprachgeschichtliche Entwicklungen als auch die veränderten Rezeptionsbedingungen Ende des 15. Jahrhunderts. Die Romane waren — vor allem im Druck — zunehmend Leseliteratur geworden, bei der Textelemente wie der Reimschmuck, der nur im akustischen Vortrag seine ästhetische Wirkung entfaltete, entbehrlich schienen. Zum anderen schöpften die Autoren der Prosaromane aus dem großen Reservoir der lateinischen Erzählprosa. Dazu gehörten sowohl bekannte antike Stoffe wie etwa Alexander- oder Troja-Dichtungen als auch moderne frühhumanistische Prosanovellen, die aus Italien übernommen wurden, wie Petrarcas >GriseldisSinn aus Sinn< oder >Wort aus WortHerpinKönigin Sybilles >Loher und Maliers >Huge ScheppelCléomades< auf Prosaversionen älterer Versepen zurückgehen, zum Teil aber auch wie >Ponthus et SidoinePierre de Provence et la belle MaguelonneMelusine< oder später der >Amadis< nicht lange vor den deutschen Bearbeitungen entstanden sind. Gemeinsam ist den Texten beider Gruppen die bewusste Anlehnung an die Historiographie, die nicht zuletzt in der zeitgenössischen Bezeichnung >histori< bzw. >historia< deutlich wird. 2 9 Die geradezu programmatische Darstellung des Geschehens als >res facta< lässt sich besonders eindrucksvoll an der Geschichte der geheimnisvollen Fee Melusine verfolgen, deren französische und deutsche Literarisierungen im Folgenden kurz charakterisiert werden sollen.
3. E i n e Fee m a c h t Karriere. D e r M e l u s i n e r o m a n auf d e m W e g v o n der südwestfranzösischen L o k a l s a g e z u m S t o f f der W e l t l i t e r a t u r Als am 17. Februar 1454 die illustren Gäste Herzog Philipps des Guten von Burgund auf dem berühmten Fasanenbankett von Lille den prächtig geschmückten Speisesaal betraten, sahen sie auf einem der Tische eine minutiöse Rekonstruktion des Schlosses Lusignan, um dessen höchsten Turm die Fee Melusine als Schlange schwebte, während aus zwei anderen Türmen Orangenwasser hervorsprudelte, das sich im Schlossgraben sammelte — für Augen und Gaumen der verwöhnten burgundischen Hofgesellschaft gleichermaßen eine durchaus spektakuläre Sensation. 30 Die inszenierte Präsenz der poitevinischen Fee auf diesem Fest, das als fête du sïècle in die Geschichte eingehen sollte, war zwar besonders eindrucksvoll, jedoch nicht einzigartig. Bereits ein Jahr zuvor gehörte Melusine mit ihren Söhnen zum literarischen Arsenal eines adligen Festes, das Louis de Luxembourg, Graf von St. Pol, in Cambrai veranstaltet hatte. 3 1 29
50
31
Z u r Bedeutung des historiographisch orientierten Wahrheitsanspruchs in den frühen Romanen siehe Müller, Volksbuch/Prosaroman, S. 6$ff. Die Begriffsgeschichte ist erläutert bei Joachim Knape: »Historie« in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffe- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden 1984. Eine ausfuhrliche zeitgenössische Beschreibung dieses Hoffestes bietet der burgundische Chronist Olivier de la Marche, der selbst zum Organisationskomitee gehörte, in seinen >MémoiresVceu du Faisan< und der politischen Hintergründe findet sich bei Agathe Lafortune-Martel: Fête noble en Bourgogne au X V e siècle. Le Banquet du Faisan (1454): Aspects politiques, sociaux et culturels. Montréal/Paris 1984. Davon berichtet Matthieu d'Escouchy in seiner nach 1461 entstandenen >ChroniqueMelusine< vermutlich kein Unterhaltungsroman unter anderen. Während Graf Louis sich aufgrund seiner weitläufigen Verwandtschaft mit den Lusignan als einen der letzten Nachfahren der legendären Fee betrachtete, konnte Herzog Philipp sich rühmen, mit dem Auftraggeber der ersten volkssprachlichen Verschriftlichung des Melusine-Stoffs verwandt zu sein. 1387 hatte der Pariser Buchbinder und libraire Jean d'Arras von Herzog Jean de Berry den Auftrag erhalten, fiir ihn und seine Schwester Marie, Herzogin von Bar, die Geschichte der Fee Melusine in französischer Prosa aufzuschreiben.32 Jean de Berry war jedoch nicht nur einer der besten Literaturkenner und größten Bibliophilen seiner Zeit, sondern zugleich der Sohn des französischen Königs Johann des Guten und damit der Bruder von Philipps Großvater, Philippe le Hardi, dem Begründer des burgundischen Herrscherhauses. Möglicherweise orientierte sich die Inszenierung der Melusine auf dem Bankett zu Lille sogar an jenem berühmten Märzbild der >Très Riehes Heures< des Duc de Berry, das ebenfalls die Fee in ihrer animalischen Gestalt über dem Turm des Schlosses Lusignan zeigt. 33 Jean d'Arras hielt im Vorwort seines 1393 vollendeten Romans ausdrücklich fest, dass er für seine Arbeit bereits vorhandene lateinische Chroniken aus dem Besitz des Herzogs benutzen konnte, und nennt als einen 32
Die urkundlichen Belege, die einen Jean d'Arras, libraire, betreffen, der in der Regel mit dem Autor der >Mélusine< identifiziert wird, sind zuletzt von Richard H. Rouse und Mary A. Rouse zusammengestellt worden. Siehe R . H. Rouse u. M. A. Rouse: Manuscripts and their makers. Commercial Book Producers in Medieval Paris 1200 —1500. 2 Bde. Turnhout 2000, hier Bd. 2, S. 60. — Die Edition dieses ersten Melusineromans stammt von Louis Stouff, der allerdings fur seine Ausgabe nur die Pariser Handschriften heranzog: Mélusine. Roman du X I V siècle par Jean d'Arras. Hg. v. Louis Stouff. Dijon 1 9 3 2 (Publications de l'Université de Dijon 5). Eine moderne, leicht gekürzte Übersetzung ins Neufranzösische legte Michèle Perret vor: Le Roman de Mélusine ou l'Histoire de Lusignan. Préface de Jacques LeGoff. Paris 1979 ( a i992).— Die Datierung des Arbeitsbeginns ist in den Handschriften nicht einheitlich, manche nennen statt 1387 auch 1 3 9 2 (siehe Stouff, Textausgabe, S. 2). Als Tag der Fertigstellung wird allerdings übereinstimmend (mit nur einer Ausnahme) der 7. August 1 3 9 3 angegeben (S. 307).
33
Siehe Abb. 1. Der Verbleib der Handschrift nach dem Tod des Jean de Berry 1 4 1 6 ist unklar. Sie taucht erst 1485 in Savoyen wieder auf, danach verlieren sich ihre Spuren erneut bis ins 18. Jahrhundert. Heute wird sie im Musée Condé in Chantilly (ms. 65) aufbewahrt.
12
seiner Gewährsmänner für die Wahrheit der erzählten Geschichte einen gewissen Gervaise (S. 3). Tatsächlich finden sich Vorläufer der MelusineErzählung, die das weit verbreitete märchenhafte Thema der geheimnisvollen Verbindung eines Sterblichen mit einem übernatürlichen Wesen aufgreifen, bereits bei lateinischen Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts, so etwa bei Walter Map, Helinand de Froidmond und dem von Jean d'Arras erwähnten Gervasius von Tilbury. 34 Die gelehrten Kleriker halten die namenlose Schöne, die in ihren Geschichten die Ehe mit einem jungen Adligen sucht, freilich übereinstimmend für einen Dämon, den es zu entlarven gilt, doch erwähnen auch sie bereits die zahlreiche Nachkommenschaft der Fee, die bis in die zeitgenössische Gegenwart reicht. 35 Mit der südwestfranzösischen Adelsfamilie der Lusignan und ihrem gleichnamigen Stammsitz wird diese Geschichte allerdings erst später verbunden. Der älteste bekannte Beleg stammt aus dem >Reductorium morales einer enzyklopädischen Materialsammlung des poitevinischen Franziskaners und späteren Benediktiners Pierre Bersuire aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, der im 14. Buch seines umfangreichen Werks unter dem Titel >De mirabilibus mundi < über die Gründung Lusignans durch eine Schlangenfrau berichtet. 36 Wie und wann diese immer noch anonyme Fee schließlich ihren Namen erhielt, ist unbekannt. Möglicherweise wurde aus der als mère des Lusignan bezeichneten Stammutter schließlich die Melusine der Romane. 37 Ob sich unter den plusieurs livres, die Jean d'Arras vorlagen, neben den lateinischen Werken auch bereits eine ältere, heute verlorene volkssprachliche Version befand, ist in der Forschung umstritten. 38 Bereits kurze Zeit später erschien jedoch der zweite erhaltene französische Melusinenroman, diesmal eine Versfassung, die ein sonst unbekannter Autor namens Coudrette für Guillaume Larchevêque VII., Seigneur de Parthenay, einen entfernten Nachfahren der inzwischen ausgestorbenen Lusignans, und dessen 34
35
36
37
38
Siehe den Überblick über die contes mélusiniens bei Laurence Harf-Lancner: Les Fées au Moyen Age. Morgane et Mélusine: La naissance des fées. Paris 1984. S. 85fr. Noch Luther wird solche geheimnisvollen Frauen, die auch er unter dem Namen Melusina kennt, und ihre Kinder als »Succubus« oder »Teufel« brandmarken. Siehe Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden. Bd. 3. Weimar 1 9 1 4 . S. 5 i 7 f . Siehe dazu Claude Lecouteux: Zur Entstehung der Melusinensage. In: ZfdPh 98, 1979, S. 7 3 - 8 4 · Siehe dazu Lecouteux, Entstehung, S. 83f. sowie Pierre Martin-Civat: La Mélusine, ses origines et son nom. Comment elle est devenue la mythique aieule des Lusignan. Cognac 1969. Für eine verlorene volkssprachliche Fassung plädieren vor allem Leo Hoffrichter: Die ältesten französischen Bearbeitungen der Melusinensage. Halle/S. 1928 und Robert J . Nolan: The Romance of Melusine. Evidence for an Early Missing Version. In: Fabula 1 5 , 1 9 7 4 . s. 5 3 - 5 8 ·
13
Sohn Jean II., Seigneur de Mathefelon, niederschrieb und die vor 1 4 0 5 abgeschlossen war. 3 9 Über die genauen Gründe, die sowohl Jean de Berry als auch Guillaume Larchevêque veranlassten, die Geschichte der Fee und ihrer Nachkommen fur sich aufschreiben zu lassen, und ihr durchaus unterschiedliches Interesse daran wird in einem späteren Kapitel noch ausfuhrlich zu sprechen sein. 40 Wie die Prosafassung des Jean d'Arras, die vor allem durch den Druck große Popularität erlangte, wurde auch Coudrettes Versroman noch im 1 5 . Jahrhundert in andere Sprachen übersetzt. Während die nur in einer einzigen Handschrift überlieferte englische Ubersetzung die Versform der französischen Vorlage beibehielt 41 , übertrug der Berner Patrizier Thüring von Ringoltingen Coudrettes Roman nach eigenen Angaben schlecht (d. h. schlicht, kunstlos) und one rymen nach der substantz in alemannische Prosa und benutzte damit die zeitgenössisch moderne Form deutschsprachiger Erzählliteratur. 42 Thüring (um 1 4 1 5 - nach 1 4 8 3 ) beendete seine Niederschrift, die er laut Vorrede dem Markgrafen Rudolf von Hochberg, Grafen von Neuchâtel, widmete, am 28. 1. 1 4 5 6 , sechs Tage nach dem Fest des Berner Stadtpatrons St. Vinzentius. Das Fest dieses Heiligen mochte fur Thüring, der einer der angesehensten und reichsten Familien Berns angehörte und zahlreiche städtische Ämter bekleidete, eine besondere Bedeutung haben. Denn seit 1 4 4 8 war er als Nachfolger seines Vaters Rudolf Pfleger des Berner Münsterbaus und hatte in dieser Funktion das sog. 39
40 41
42
Le Roman de Mélusine ou Histoire de Lusignan par Coudrette. Hg. v. Eleanor Roach. Paris 1982. Eine moderne Prosa-Übersetzung erschien Anfang der neunziger Jahre, als das Interesse fiir Feen in Frankreich erneut in Mode kam: Coudrette: Le Roman de Melusine. Texte présenté, traduit et commenté par Laurence Harf-Lancner. Paris 1993. Siehe unten, Kap. III.4. Cambridge, Trinity College, ms. R . 3 . 1 7 . Die Handschrift stammt aus dem Ende des 1 5 . oder Anfang des 16. Jahrhunderts. Sie wurde ediert von Walter Skeat (Hg.): The Romans of Partenay or of Lusignen: otherwise known as The Tale of Melusine. London 1866. Vgl. dazu Colette Stévanovitch: As Nigbe as metre will conclude sentence. La traduction en moyen-anglais du Roman de Melusine. In: Melusine. Hg. v. Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok. Greifswald 1996. S. 1 8 5 - 2 0 3 . Zur Person Thiirings siehe den Artikel von Jan-Dirk Müller in: VL 9, 1995, Sp. 9 0 8 9 1 4 und die dort angegebene ältere Literatur. Thiirings Text ist in drei verschiedenen Editionen zugänglich: Thüring von Ringoltingen, Melusine. Nach den Handschriften kritisch hg. v. Karin Schneider. Berlin 1 9 5 8 (Texte des späten Mittelalters 9); Melusine, in: Romane des 1 5 . und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten hg. v. Jan-Dirk Müller. Frankfurt/M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 14), S. 9 — 1 7 6 (Text) u. 1 0 1 2 — 1087 (Kommentar), Müller legt den Augsburger Druck von Johann Bämler aus dem Jahr 1474 zugrunde; Thüring von Ringoltingen, Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe (1587) mit 22 Holzschnitten. Hg. v. Hans-Gert Roloff. Stuttgart 1969 ( 2 1 9 9 1 ) . Das obige Zitat ist der Textausgabe von Schneider entnommen, S. 128.
14
Sankt-Vinzenzen-Schuldbuch zu fuhren, in das die Einkünfte und Stiftungen fìir die Münsterfabrik eingetragen wurden. 43 Dass Thüring, der offenbar auch über die >Melusine< hinaus literarisch interessiert und mit den bekanntesten Erzählstoffen des Mittelalters vertraut war, über die notwendigen Französischkenntnisse fur seine Ubersetzertätigkeit verfugte, scheint fur einen Angehörigen der Berner Oberschicht nicht weiter verwunderlich. Denn in Bern gehörte das Erlernen der französischen Sprache, meist an einem französischsprachigen Hof, zur Ausbildung junger Patrizier, wenn sie später politische oder diplomatische Führungsaufgaben in der Stadt übernehmen wollten. 44 Der große und bis ins 18. Jahrhundert anhaltende Erfolg, den Thürings Melusineroman vor allem nach dem Eintritt in den Druck hatte, und die dramatischen Bearbeitungen von Hans Sachs ( 1 5 5 6 ) und Jakob Ayrer (1598), die den Stoff sogar auf die Bühne brachten, führten dazu, dass in den späteren Jahrhunderten allerdings niemand in Deutschland mehr Französisch verstehen musste, um die Geschichte der Fee aus dem Poitou zu kennen. Die enge Verbindung von Geschichte und Literatur, die den Roman sowohl in Frankreich als auch in Deutschland prägte, stieß allerdings zunehmend auf Kritik. Graf Froben Christoph von Zimmern (t 1 5 6 6 ) hielt die Geschichte der Melusine jedenfalls ungeachtet ihrer Beliebtheit bei seinen Zeitgenossen für lauters fabelwerk, für dessen Entstehung er die verlognen Franzosen verantwortlich machte. Und er fügte hinzu, dass dies kein Wunder sei, denn [ . . . ] so w i s s e n w i r d o c h , das in F r a n k r e i c h k a i n a b e n t e u r l i c h e r p r o v i n z
oder
l a n d s a r t o d e r d i e m e r a d v e n t u r o s s e i e n , als das P o i c t u , d a r i n a u c h d a s S c h l o ß Lusingen ligt.45
Der Faszination der Fee, der noch jahrhundertelang Leser erliegen sollten, tat dies freilich keinen Abbruch. Doch interessierte Melusine vor allem seit ihrer Wiederentdeckung durch die Romantiker nicht länger als mythische Stammutter eines Adelsgeschlechtes, sondern wurde als Elementarwesen zur Chiffre für verlorene Ursprünglichkeit, aber auch Unheimlichkeit der Natur. 43
Siehe dazu Brigitte Kurmann-Schwarz: Das 10000-Ritter-Fenster im Berner Münster und seine Auftraggeber. Überlegungen zu den Schrift- und Bildquellen sowie zum K u l t der Heiligen in Bern. In: Zeitschrift fur Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 4 9 , 1 9 9 2 , S. 3 9 - 5 4 .
44
Siehe Urs Martin Zahnd: Die Bildungsverhältnisse in den bernischen Ratsgeschlechtern im ausgehenden Mittelalter. Verbreitung, Charakter und Funktion der Bildung in der politischen Führungsschicht einer spätmittelalterlichen Stadt. Bern 1 9 7 9 .
45
Zimmerische Chronik. N a c h der von Karl Barack besorgten 2 . Ausgabe neu hg. v. Paul Herrmann. Bd. 4 . Meersburg/Leipzig 1 9 3 2 . S. 1 4 6 Í
15
¿boo ^gtaf'Mrtqßiftbt conáonenf»««áitamii«^ pfertramfttmtdjfctj« í r g ^ a f i r ö e
rotami dante t w b t í o u m - m d e twivuio
^
ν&ννα.
toqurok^aU«^
regtWe&x> M ì o ino
^Çtmgnt*
»iobtûrçjt\i t t r t n x ñ é ^ t m á r i c o ^ ,-CMÓÍiftrtçcoa
"
^cttlmttfTnno^
f m S c O e « ^ ^ « f W - T I
Ä s t e s t *
u r m f e r o ^ . ç m o C Â àutrv^abetovp. r o g o öe-tnötJ g ^ f t w r ß t t e c ^ S w a m © » j f c a e ItfftwoAmtco M î f e v ^ ^ l e m i r i ^ ^ e t t ^ e m c ^ g f a ^ w i ^ r c f í w T ? . qfffo «
toeUfltm*
« f t & i
óiteéktnatóf
jap* M ^ t»mtfmtfin?»«tt &Flore und Blanscheflun, V. 532f. In crastinum ergo fecit sermonem ad populum vix adhuc aliquid sciens vel intelligens de lingua illa, Romana videlicet, quia numquam earn didicerat: sed non diffidebat, quin, si materna lingua verbum Dei adoriretur, Spiritus sanctus, qui quondam centum viginti linguarum erudierat diversitatem, linguae Teutonicae barbariem vel Latinae eloquentiae difficultatem auditoribus habilem ad intelligendum faceret. Et ita per gratiam Dei omnibus acceptus /actus est, [...]. Aus: Vita Norberti, hg. v. R. Wilmans. In: M G H Scriptorum XII, S. 6 6 3 - 7 0 6 , hier S. 674. Vgl. Arno Borst: Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. 4 Bde. Stuttgart 1957—63, hier Bd. 2,2, S. 646. Siehe den Bericht in der Chronik des Mathias von Neuenburg. Hg. v. Adolf Hofmeister. Berlin 1 9 2 4 - 4 0 (MGH Scriptores Rerum Germanicarum N. S. 4), S. 68 bzw. S. 342Í.
17
f u r ihren S o h n J o h a n n aus dem J a h r 1 5 8 3 , die festlegte, dass der d a m a l s dreizehnjährige H e r z o g jeden T a g g e n a u sechs französische V o k a b e l n — drei v o r m i t t a g s u n d drei n a c h m i t t a g s — zu lernen hatte, die vierteljährlich a b g e f r a g t w u r d e n , w a s p r o J a h r i m m e r h i n einen W o r t s c h a t z v o n
rund
2 0 0 0 W ö r t e r n ergab.4 W ä h r e n d die S i t u a t i o n des i m M i t t e l a l t e r a l l g e g e n w ä r t i g e n
Lateini-
schen, das K l e r i k e r w i e H u g o von T r i m b e r g iiberschwenglich als aller che kiinigin
sprä-
5
priesen , relativ g u t untersucht ist, sucht m a n nach S t u d i e n
über R o l l e und B e d e u t u n g der volkssprachlichen F r e m d s p r a c h e n insbesondere i m mittelalterlichen D e u t s c h l a n d bislang v e r g e b e n s . 6 D i e s g i l t auch f ü r das Französische, das neben d e m Lateinischen damals zweifellos d e n g r ö ß t e n E i n f l u s s auf die deutsche S p r a c h e hatte. Z w a r g i b t es eine R e i h e sprachhistorischer A r b e i t e n , die diesen E i n f l u s s anhand der zahlreichen E n t l e h n u n g e n i m W o r t s c h a t z d o k u m e n t i e r e n , d o c h fehlt f ü r D e u t s c h l a n d ein g r u n d l e g e n d e r , über lexikalische A s p e k t e hinausgehender U b e r b l i c k , w i e ihn D o u g l a s A . K i b b e e vor einigen J a h r e n f ü r E n g l a n d v o r g e l e g t h a t . 7 4
Siehe Karl Kehrbach: Studienordnung der Herzogin Dorothea Susanna von Weimar fur ihren Sohn, den Herzog Johann von Sachsen-Weimar aus dem Jahr 1 5 8 3 . In: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 3, 1893, S. 2 9 - 4 3 , hier vor allem Kap. 19: Nachdem auch die Französische sprach Fürstlichen Personenη sehr nottwendig und dienlich ist, so ordtnen vnd wollen Wir, das der Cammer Junker Vnnsern Sohn die Frantzösische sprach lehre [...], So sollen Im alle Tag durchs gantze Jahr keinen aussgenommen, Sechss Frantzösischer Wörter Inn ein sonderpares Buch vorgeschriebenn werden, die er ordtenlich ausswendig Iherne, Also vnnd dergestalt, das er Vormittag [...] drey, desgleichen nachmittag [...] auch drey sampt Irem Teutschen Iherne vnd auffsage [...].
5
Hugo von Trimberg, >Der RennerDie Volkssprachen als Lerngegenstand im Mittelalter und in der frühen Neuzeit< (Berlin/ New York 2002) konzentriert sich trotz des allgemein gehaltenen Titels auf Deutsch als Fremdsprache.
7
Douglas A. Kibbee: For to speke Frenche trewely: the French language in England 1000— 1600. Its status, description and instruction. Amsterdam 1 9 9 1 . Zum Einfluss des Französischen auf den deutschen Sprachschatz siehe neben den einschlägigen Sprachgeschichten und den Arbeiten der finnischen Germanisten Hugo Suolahti, Emil Öhmann und Arvid Rosenquist zuletzt Johannes Kramet: Das Französische in Deutschland. Stuttgart 1992,
18
Die hierfür notwendige, zweifellos langwierige Sammlung und systematische Aufarbeitung der weit verstreuten Quellen, die sich nicht auf den bisher von der Forschung favorisierten Zeitraum der höfischen Literatur beschränken dürfte, steht ebenfalls noch aus, doch erlauben die wenigen bisher erfassten Belege, die konkret über deutsch-französische Sprachkontakte im Mittelalter Auskunft geben, erste aufschlussreiche Einblicke. Sie legen nahe, dass neben dem Bereich des wirtschaftlichen Handels, der das ganze Mittelalter hindurch ein wichtiger Motor des Fremdsprachenerwerbs blieb und sich in der Literatur der Zeit u. a. in der Gestalt des sprachkundigen Kaufmanns widerspiegelte, 8 in früher Zeit zunächst offenbar die Klöster Begegnungsstätten waren, in denen man eine andere Volkssprache erlernen konnte. Dies mag erstaunen, da die Klöster als Hochburgen des internationalen Lateins bislang keineswegs als Orte galten, in denen auch volksprachliche Kommunikationspraxis und die entsprechende linguistische Kompetenz vermittelt wurde. Lupus von Ferrières, der um 862 verstorbene gelehrte Abt der Benediktinerabtei Ferrières im romanischsprachigen Gâtinais (zwischen Sens und Orléans), berichtet in seinen Briefen, dass er in seiner Jugend zu Beginn des 9. Jahrhunderts sieben Jahre lang an der berühmten Klosterschule Hrabans in Fulda unter anderem in der deutschen Sprache ausgebildet wurde. Als Sohn eines bayerischen Vaters und einer romanischen Mutter mochte Lupus bereits vor seinem Aufenthalt in Fulda Grundkenntnisse in der deutschen Sprache besessen haben, doch zeigt seine Deutschlandreise, welch große Bedeutung man dem Ausbau solcher Kenntnisse damals — zur Zeit der »Straßburger Eide< — in diesen meist eng mit dem Königshof verbundenen romanischen Adelsfa-
8
S. 45 — 55 sowie Johannes Thiele: Von »Firlefanz machen« bis »über den (großen) Onkel laufen« oder Wie das Französische die deutsche Sprache bereicherte. Ein kurzer Streifzug durch die Jahrhunderte. In: Ethische und ästhetische Komponenten des sprachlichen Kunstwerks. Hg. v. Jürgen E. Schmidt u.a. Göppingen 1999. S. 301 — 320 (mit Angabe der älteren Literatur). Erinnert sei vor allem an den Fernhandelskaufmann im Roman >Der guote Gêrhart< des Rudolf von Ems. Z u den Sprachkenntnissen Gêrharts siehe vor allem V. 1 3 5 iff. und V. I 9 8 i f f . , zur Interpretation dieser Stellen Daniel Rocher: Das Problem der sprachlichen Verständigung bei Auslandsreisen in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. v. Dietrich Huschenbett u. John Margens. Würzburg 1 9 9 1 , S. 2 4 - 3 4 . - Zu den deutsch-französischen Handelsbeziehungen im Mittelalter siehe Rolf Sprandel: Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Paris und dem deutschen Sprachraum im Mittelalter. In: Vierteljahrschrift fur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 49, 1962, S. 2 8 9 - 3 1 9 sowie ders.: Die Ausbreitung des deutschen Handwerks im mittelalterlichen Frankreich. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 5 1 , 1964, S. 66—100. Zur Bedeutung des Französischen im kaufmännischen Bereich siehe Irene Kelz: Das Französische als Handels- und Geschäftssprache vom Ausgang des Mittelalters bis zum 19. Jahrhundert. Augsburg 1994.
19
milien beimaß. Auch Lupus selbst schickte später als Abt seinen Neffen und zwei weitere junge Adlige in die Abtei Prüm in der Eifel, damit sie dort Deutsch lernten {propter Germanicae linguae nanciscendam scientiam).9 Rund 300 Jahre später erzählt Guibert von Nogent in seiner Autobiographie von einem Mönch des Klosters Saint Amand (in der Nähe von Laon), der um 1 1 1 0 zwei adlige deutsche Knaben aufnahm, um ihnen Französisch beizubringen. 10 Sicherlich sind solche Sprachkontakte, über deren konkrete Motive die Zeugnisse leider zumeist schweigen, sehr viel häufiger gewesen als die schriftlich erhaltenen (und bisher bekannten) Hinweise erkennen lassen, und so darf man vermuten, dass etwa auch die intensiven Beziehungen zwischen den französischen Abteien Cluny, Cîteaux oder Prémontré und ihren deutschen Tochterklöstern u. a. zum Erwerb von Sprachkenntnissen genutzt wurden, die im Zusammenhang mit dem allgemeinen religiös-kulturellen bzw. wissenschaftlich-theologischen Austausch zwischen den beteiligten Institutionen standen. Zeugnisse hierfür sind aus früherer Zeit z.B. die westfränkische Anregungen aufnehmende Sequenzendichtung Notkers Balbulus in St. Gallen oder die französischen Handschriften, die sich im Besitz der Benediktinerabtei auf der Reichenau befanden. Sie stammen zumeist aus den in Gebetsbrüderschaft mit der Reichenau verbundenen Benediktinerklöstern St. Martin in Tours und St. Denis bei Paris, mit denen man nicht nur Bücher, sondern auch Mönche austauschte. 11 Dass auf solchen Wegen durch mündliche Vermittlung gelegentlich auch weltliche Literatur die Sprachgrenze überquerte, zeigen die bereits oben im Vorwort erwähnten galloromanischen Liebesliedstrophen, die Ende des 1 1 . Jahrhunderts von einem deutschen Schreiber nach dem Gehör in eine fur den Schulgebrauch angelegte niederrheinische Terenzhandschrift eingetragen worden sind. 12
9
10
Zitiert nach Paul Lévy: La Langue Allemande en France. 2 Bde. Lyon/Paris 1950—52, hier Bd. 1, S. 4 7 Í Siehe außerdem Ernst Hellgardt: Zur Mehrsprachigkeit im Karolingerreich. In: PBB 1 1 8 , 1996, S. 1 - 4 8 , zu Lupus vor allem S. 3 1 - 3 5 . Quidam monachus apud Barisiacum Sancii Amandi commanens, duos puerulos teutonici solum loqui gnaros, francicam linguam discendi gratta ad se contraxerat. Allerdings hatten die beiden Knaben keinen unbeschwerten Aufenthalt in Frankreich. Sie wurden entfuhrt und konnten von ihrer Mutter nur gegen ein hohes Lösegeld freigekauft werden. Siehe Guibert de Nogent: Autobiographie. Introduction, édition et traduction par Edmond-René Labande. Paris 1 9 8 1 . Kap. 111,5, S. 300.
" Siehe Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Bd. 1, bearb. v. Paul Lehmann. München 1 9 1 8 (Nachdr. 1969). S. 223 sowie Hellgardt, Mehrsprachigkeit, S. 35fr. und Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen, S. 10. 12 Siehe Bernhard Bischoff: Altfranzösische Liebesstrophen. In: Anecdota novissima. Texte des 4. bis 16. Jahrhunderts. Hg. v. B. Bischoff. Stuttgart 1984. S. 266—268 und Ulrich Mölk: Zwei Fragmente galloromanischer weltlicher Lyrik des 1 1 . Jahrhunderts. In: Ensi
20
Breiter belegt als der Austausch zwischen den Klöstern sind spätestens seit dem 12. Jahrhundert die Aufenthalte deutscher Studenten an französischen Schulen. 13 Die jungen Adligen, die zum Studium nach Paris, Orléans oder an andere berühmte Orte des Landes geschickt wurden, waren in der Regel von ihren Familien fur eine hohe geistliche Laufbahn bestimmt. Dies gilt flir Graf Bruno von Berg, den späteren Erzbischof von Köln ( 1 1 3 1 — 37), und Adalbert von Saarbrücken, Erzbischof von Mainz ( 1 1 3 8 - 1 1 4 1 ) , ebenso wie fur eine Vielzahl anderer hoher geistlicher Würdenträger des 12. Jahrhunderts. 14 Auch die beiden Landgrafensöhne, von deren geplantem Parisaufenthalt ein Brief ihres Vaters, Ludwig II. von Thüringen, an den französischen König Ludwig VII. aus dem Jahr 1162 berichtet, 15 waren vermutlich fur eine geistliche Karriere vorgesehen, und noch Ende des 15. Jahrhunderts schickte Markgraf Karl I. von Baden Friedrich, seinen jüngsten Sohn, nach Paris, um ihm durch das dortige Studium den Aufstieg in ein hohes geistliches Amt zu ebnen.' 6 Natürlich vermehrten diese adligen Studenten während der zuweilen jahrelangen Auslandsaufenthalte nicht nur ihr Wissen in Latein und Theologie, sondern brachten zwangsläufig auch profunde Französischkenntnisse mit zu-
15
14
15
16
firent Ii ancessor. Mélanges . . . offerts à Marc-René Jung. Hg. ν. Luciano Rossi. Alessandria 1996. Bd. ι , S. 4 7 - 5 1 . Siehe Joachim Ehlers: Deutsche Scholaren in Frankreich während des 12. Jahrhunderts. In: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. Hg. v. Johannes Fried. Sigmaringen 1986. S. 9 7 - 1 2 0 und Jacques Verger: Etudiants et gradués allemands dans les universités françaises du XIV e au XVI e . In: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. Hg. v. Rainer C. Schwinges. Berlin 1995. S. 23—40. Dass ein Studium in Frankreich bereits bald als selbstverständlich fur hohe Geistliche angesehen wurde, zeigt nicht zuletzt die fiktionale Konstruktion solcher Aufenthalte in literarischen Biographien. Beispiele bei Ehlers, Deutsche Scholaren, S. I05f. Abdruck des Briefes in: Chartularium universitatis Parisiensis, hg. von Heinrich Denifle und Emile Chatelain. Bd. 1 (1899), Nachdruck: Bruxelles 1964, Nr. 35, S. 39. Zur Deutung des Briefes siehe vor allem Wolfgang Brandt: Landgraf Hermann I. von Thüringen in Paris? Abbau einer germanistischen Legende. In: Festschrift für Friedrich Zahn. Hg. v. Reinhard Olesch u.a. Köln/Wien 1971. Bd. 2, S. 200—222. Dass sich auch der junge Adlige, den Heinrich der Löwe an den Hof des französischen Königs geschickt hatte und für dessen Aufnahme sich der Herzog in einem Brief bedankt, zum Studium in Paris befand, lässt sich aufgrund des Überlieferungszusammenhangs in einer Pariser Handschrift aus Saint-Victor vermuten. Siehe Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Weifen 1 1 2 5 - 1 2 3 5 . Bd. 1: Katalog. Hg. v. Jochen Luckhardt und Franz Niehoff. München 1995. D 10, S. i6${. Weitere Beispiele für Parisaufenthalte deutscher Adliger nennt Werner Paravicini: Rittertum im Norden des Reiches. In: Nord und Süd in der deutschen Geschichte des Mittelalters, S. 1 4 7 - 1 9 1 . Friedrich war Domherr zu Köln, Mainz, Trier, Straßburg und Utrecht, ehe er 1496 das dortige Bischofsamt übernahm. Als er 1473 nach Paris aufbrach, wurde er u.a. von Johannes Reuchlin begleitet. Siehe Regesten der Markgrafen von Baden und Hachberg 1050— 1515. Bd. 4. Innsbruck 1912. Nr. 10361.
21
rück, erinnert sei nur etwa an den Kölner Erzbischof Rainald von Dassel, den berühmten Kanzler Kaiser Friedrichs Barbarossa. 17 Dass deutsche Herrscher sich bei deutsch-französischen Konsultationen 1107 auf den Erzbischof von Trier oder 1147 auf den Bischof von Metz als Dolmetscher verlassen konnten, lag wohl nicht einzig und allein daran, dass beide Bischöfe in Grenzregionen herrschten, 18 sondern sie waren als hochgebildete Kleriker vermutlich auch und gerade durch ein früheres Studium in Frankreich fur diese Aufgabe bestens vorbereitet. Vor diesem Hintergrund scheint es nicht verwunderlich, dass die ersten Übersetzer und Bearbeiter französischer Werke wie etwa des >Alexanderromans< und des >Rolandsliedes< sich selbst als pfaffe Lambrecht bzw. pfaffe Konrad, also als gebildete Kleriker vorstellen, auch wenn man bei beiden leider keine konkreten biographischen Einzelheiten kennt, also auch nichts über ein belegbares Studium in Frankreich weiß. 1 9 Inwieweit die oben vorgestellte Gruppe von adligen Klerikern im Verlauf des 12. Jahrhunderts allerdings konkret dazu beitrug, nach ihrer Rückkehr vom Studium nicht nur die französische Sprache, sondern zugleich die moderne höfische Gesellschaftskultur (und -literatur) Frankreichs an deutschen Höfen heimisch zu machen, ist längst noch nicht befriedigend untersucht. 20 Zwar ist der 17
Die Mehrsprachigkeit Rainalds erwähnt Saxo Grammaticus in seinen >Gesta DanorumPfaffen< Lambrecht. München 1999. S. 38ff., zu Konrad: Jeffrey Ashcroft: Magister Conradus Presbiter: Pfaffe Konrad at the Court of Henry the Lion. In: Literary Aspects of Courtly Culture. Ed. by Donald Maddox and Sara SturmMaddox. Cambridge 1994. S. 3 0 1 - 3 0 8 . In Frankreich ausgebildete Kleriker waren offenbar nicht ungewöhnlich am Weifenhof, denn auch der spätere Bischof Heinrich von Lübeck hatte in Paris studiert, bevor er an den H o f Heinrichs des Löwen kam. Siehe Ehlers, Deutsche Scholaren, S. 101, A n m . 18. Z u französischen Büchern im Besitz von Klerikern siehe unten, Kap. II.2.
20
Siehe die vorsichtige Einschätzung von Joachim Bumke: »Für die Verbreitung der adligen Gesellschaftskultur haben die geistlichen Höfe eine wichtige Rolle gespielt. O b sie auch die Rezeption der französischen Literatur gefördert haben, lässt sich — aus Mangel an Zeugnissen — nicht mit Sicherheit sagen.« (J. Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 1986. Bd. 1, S. 102).
22
Anteil der clerici an der Herausbildung eines modernen Schriftbetriebes an den weltlichen Fürstenhöfen unbestritten, doch hat die in der Forschung vielfach immer noch bewusst oder unbewusst vorgenommene strikte Trennung von geistlich-gelehrter Kleriker- versus höfisch-weltlicher Laienkultur den Blick auf die tatsächlichen Verbindungen und das enge Zusammenwirken beider Gruppen gerade im Hinblick auf die Übernahme französischer kultureller Ausdrucksformen lange verstellt, sei es im Bereich der gesellschaftlichen Lebensformen oder der Literatur. In den letzten Jahren hat in der deutschsprachigen Mediävistik vor allem Eckart Lutz dafür plädiert, die »für die Entstehung von Höfen und Hofkultur konstitutive[n] Begegnung zwischen Eliten von Klerikern und Laien« stärker in den Blick zu nehmen. Sein Konzept, mittelalterliche Literatur als »Literatur der Führungsgruppen« zu begreifen, vermeidet jede vorschnelle Trennung geistlicher und weltlich-höfischer Aspekte und betont hingegen die übergreifenden Konstanten und Kontinuitäten im kulturellen Zusammenwirken beider Gruppen. 2 1 Dieses enge Mit- und Ineinanderverflochtensein von Interessen und Lebensstilen belegt nicht zuletzt das in anderen Zusammenhängen vielzitierte Zeugnis des Arnold von Lübeck, der berichtet, dass dänische Fürsten ihre Söhne zu Beginn des 1 3 . Jahrhunderts ausdrücklich nicht nur deshalb nach Paris schickten, um dort die für eine klerikale Karriere notwendigen geistlichen Studien zu betreiben. Sie sollten vielmehr zugleich mit den vornehmen weltlichen Sitten des französischen Adels und der Sprache des Landes vertraut werden und taten dies, wie Arnold vermerkt, usum Teutonicorum imitantes,22 Harsche Kritik an solchen Parisaufenthalten, bei denen das ernsthafte Theologiestudium nur noch Nebensache war, ließ nicht lange auf sich warten, und so formulierte etwa Hugo von Trimberg, magister und rector scolarum an der Bamberger Stiftsschule St. Gangolf, in seiner 1 3 0 0 fertiggestellten Lehrdichtung >Der Rennen mit unverhohlener Ironie: Maniger bin ze Pârîs vert, Der wrnic lernet und vil verzert. So hat er doch Parts gesehen, Des müge wir tòren niht gejehen. 21
Siehe Eckart Conrad Lutz: Literatur der Höfe - Literatur der Führungsgruppen. Zu einer anderen Akzentuierung. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Hg. von Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1999. S. 2 9 - 5 1 , Zitat S. 30. Vgl. außerdem: Pfaffen und Laien - ein mittelalterlicher Antagonismus? Hg. v. E. C. Lutz und Ernst Tremp. Fribourg 1999; Christa BertelsmeierKierst: Verortung im kulturellen Kontext: Eine andere Sicht auf die Literatur um 1200. In: Eine Epoche im Umbruch. Hg. v. Chr. Bertelsmeier-Kierst u.a. Tübingen 2003. S. 2 3 - 4 4 .
"
Nobiliores terre filios suos non solum ad clerum fromovendum, verum etiam secularibus rebus instituendos Parisius mittunt. Übt litter atura simul et idiomate lingue terre illius imbuti, non solum in artibus, sed etiam in theologia multum invaluerunt. Arnold von Lübeck, Cronica, III, 5, in: M G H SS X X I , S. 147.
23
(V. 1 3 4 3 5 — 38) Dass Paris als angesehener Ausbildungsort fur Adlige schließlich auch Eingang in die fiktionale Welt der höfischen Literatur fand, mag ein Blick auf die verschiedenen Bearbeitungen des >HerzogErnst-Epos< zeigen. Während es in der älteren Fassung Β heißt, dass die Mutter der Hauptfigur ihren Sohn durch zucht zu kriechen in das lant sandte, berichtet der um 1 3 0 0 entstandene »Herzog Ernst DHerzog Ernst BHerzog Ernst DDialogus miracuIorum< erzählt auch Caesarius von Heisterbach die Geschichte eines Ritters, der in seiner Jugend nach Frankreich reist, um dort die lingua gallica zu lernen (Kap. 5,42). Die Geschichte des Französischunterrichts in Deutschland ist längst noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitet. Überdies streifen die vorliegenden Arbeiten Mittelalter und frühe Neuzeit meist nur am Rande. Siehe Karl Dorfeid: Beiträge zur Geschichte des französischen Unterrichts in Deutschland. Beilage zum Programm des Großherzoglichen Gymnasiums in Gießen. Gießen 1892; Walter Kuhfuß: Frühformen des Französischunterrichts in Deutschland. Beiträge zur ersten Ausweitungsphase organisierter französischer Sprachunterweisung ( 1 5 5 4 — 1 6 1 8 ) . In: Sprachen und Staaten. Festschrift fur Heinz Kloss. Hg. v. Harald Haarmann u.a. Teil 1. Hamburg 1976. S. 323 — 348; Linguarum Recentium Annales. Der Unterricht in den modernen europäischen Sprachen im deutschsprachigen Raum. Bd. 1: 1 5 0 0 - 1 7 0 0 . Bearb. v. Konrad Schröder. Augsburg 1980; Franz-Rudolf Weller: Skizze einer Entwicklungsgeschichte des Französischunterrichts in Deutschland bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Die Neueren Sprachen 79, 1980, S. 1 3 5 — 1 6 1 (mit Forschungsüberblick u. Bibliographie). Gislebert von Möns, >Chronicon Hanoniense«, S. 234, zitiert nach Bumke, Höfische Kultur, Bd. I, S. H 4 f . D e r junge Graf hielt sich am Hof Kaiser Heinrichs VI. auf. 1 4 2 1 ließ der nordfranzösische Adlige Guilbert de Lannoy auf der Reise in den Vorderen Orient einen jungen Verwandten beim Hochmeister des Deutschen Ordens in der Marienburg zurück pour apprendre alemant. Siehe Werner Paravicini: Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters. München 1994. S. 89.
24
hunderts berichtet der an den Höfen von Brabant und Flandern schreibende französischsprachige Dichter Adenet le Roi in einem seiner Werke, es sei Brauch in Deutschland gewesen, »dass die großen Herren, die Grafen und die Barone, ständig Leute aus Frankreich in ihrer Umgebung hatten, die ihre Töchter und Söhne im Französischen unterrichteten«.26 Obwohl es aus der frühen Zeit keinerlei historische Nachweise dafür gibt — sichere Belege fur einzelne Höfe datieren erst aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts27 — , hat die ältere kulturhistorische Forschung diese Äußerung Adenets durchweg bedenkenlos fur bare Münze, d.h. für eine Information über die gesellschaftliche Realität in Deutschland während des 12. und 13. Jahrhunderts genommen. Dabei blieb zweierlei völlig außer acht. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass Adenet als Autor an Höfen lebte und schrieb, die trotz der prinzipiellen Zweisprachigkeit der Länder Flandern und Brabant sehr stark auf Frankreich ausgerichtet waren. Sowohl Herzog Heinrich III. von Brabant, der selbst französische Minnelieder dichtete, als auch Adenets späterer Gönner, Graf Gui de Dampierre, an dessen Hof in Flandern die Bearbeitung der Berta-Sage entstand, etablierten in ihrer Umgebung nicht nur Pariser Luxus und Lebensstil, sondern förderten auch gezielt die französische Sprache. Französisch war insbesondere in Flandern nicht nur die Sprache des Hofes, sondern auch der Verwaltung, in der vor allem Kleriker aus den französischsprachigen Teilen des Landes arbeiteten. [ . . . ] dès le X I I I e siècle, le français était en Flandre comme une seconde langue nationale, d'ordre plus relevé que la première, et qui était considérée comme la vrai langue de la bonne société et des gens cultivés. 2 8 26
27
28
Tout droit a celui tans que je ci vous devis / Avoit une coustume ens el tiois pays / Que tout li grant seignor, li conte et li marchis / Avaient entour aus gent françoise tous dis / Pour aprendre françois lor filles et lor fis. Adenet le Roi, >Berte as grans piésBerta-Epos< an das oben erwähnte Zitat unmittelbar anschließen, ebenfalls von der Bevorzugung des françois de Paris die Rede ist, 29 lässt vermuten, dass Adenet bei seiner Erwähnung der Französisch lernenden Grafen und Barone gar nicht — wie seine späteren Interpreten — an die Fürsten in Deutschland dachte, sondern vielmehr den dietsc sprechenden Adel in Flandern und Brabant vor Augen hatte. Ein zweiter gewichtiger Einwand gegen eine allzu sorglose kulturhistorische Vereinnahmung des Adenet-Zitats betrifft darüber hinaus die mangelnde Berücksichtigung der Tatsache, dass der Kontext, in dem die Äußerung Adenets steht, ein eminent literarischer ist. 30 In der höfischen Literatur dieser Zeit sind Sprachkenntnisse und die entsprechende Ausbildung jedoch durchaus nichts Ungewöhnliches, sie gehören zum — idealisierten — Selbstbild, dass sich die adlige Gesellschaft in diesen Werken gab und sind damit nicht lebenspraktische Schlüsselqualifikation, sondern »Zeichen überragender Kultiviertheit«. 31 Immer wieder führen die Texte Helden vor, die sich nicht nur vorbildhaft in modernster ritterlicher Waffentechnik und höfischen Umgangsformen hervortun, sondern zugleich über vielfältige Fremdsprachenkenntnisse verfugen, sei es Herzog Ernst, der Latein und Französisch lernt, Wilhelm von Orlens, der bereits als fünfjähriger in Latein und verschiedenen anderen Sprachen unterrichtet wird, oder Tristan, der neben Latein, Französisch und Deutsch auch vier kelti-
und Brabant zur Zeit Adenets siehe außerdem Albert Henry: Les Œuvres d'Adenet le Roi. Tome 1. Brügge 1 9 5 1 , S. 1 4 - 4 4 . Die Bevorzugung des Französischen als Ausdruck besonderer kultureller Ambitionen in einem flämischsprachigen Gebiet belegt auch die um 1200 entstandene Familienchronik der pikardischen Grafen von Guiñes und Ardres (>Lamberti Ardensis Historia Comitum GhisnensiumAuffiihrung< und >Schrift< in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Stuttgart/Weimar 1996. S. 1 4 9 - 1 6 9 , hier bes. S. i 6 i f . 19
30
31
Siehe Adenet, >Berte as grans piésMéliador< aufnahm. Siehe Jean Froissart: Méliador. Roman comprenant les poésies lyriques de Wenceslas de Bohème. Hg. v. Auguste Longnon. 3 Bde. Paris 1895—99. Et en briefves paroles l'Empereur dist en alemant à ses gens, qui presens estoient et qui n'entendaient pas fran¡ois, ce que le Roy luy avoit dit, et leur exposa les lectres [...]. Chronique des Règnes de Jean II et de Charles V. Publiée par R. Delachenal. T. 2: 1 3 6 4 - 1 3 8 0 . Paris 1 9 1 6 . S. 255Í. Der Hinweis auf die fehlenden Lateinkenntnisse, die nur durch eilig herbeigerufene deutsche Studenten der Sorbonne überbrückt werden konnten, findet sich - unter Berufung auf Froissart - bei Lévy, La Langue Allemande, Bd. ι , S. 64, Anm. 2. Indiz hierfür ist z. B. die Verwendung von Französisch als Urkundensprache. Vgl. dazu die Projektarbeiten, die unter der Leitung von Kurt Gärtner und Günter Holtus im Sonderforschungsbereich 235 an der Universität Trier entstanden sind, veröffentlicht u.a. in: Urkundensprachen im germanisch-romanischen Grenzgebiet. Hg. v. K . Gärtner u. G. Holtus. Mainz 1997.
28
chen dynastischen Verbindungen mit französischen Prinzessinnen) mehr verstand als die höfischen Modewörter, mit denen die Dichter ihre Werke »strîfelten«. Dass diese Lehnwörter zumeist nicht aus dem literarischen Kontext der französischen Vorlagen übernommen wurden, sondern als Spezialwortschatz in engem Zusammenhang mit der Übernahme von bestimmten Sachbereichen der französischen Adelskultur wie etwa Turnierwesen, höfische Kleidermode oder Musik standen, ihr Verständnis damit losgelöst von einer aktiven Beherrschung der Fremdsprache als ganzer war, hat Kurt Gärtner in seiner Untersuchung von Hartmanns >Erec< gezeigt. 40 Auch Thomasîn von Zerclaere, der das strîfeln deutscher Texte mit französischen Formulierungen als besonders vornehm und kunstvoll ansah, rechnete bei den Adressaten seiner Lehrdichtung vor allem mit deutschen Adligen, die — anders als er — kein Französisch konnten und denen die Kenntnis einzelner französischer Schlüsselbegriffe genügte, um Teilhabe an der höfischen Sprachkultur zu demonstrieren.41 Und schließlich hatte nicht zuletzt bereits Hartmann es nötig gefunden, den Namen der Schlussaventiure im >Erec< fur sein deutsches Publikum zu übersetzen: sist Joie de la curt genant. I das selbe wort ist unerkant/ under tiutschen liuten:/ durch daz wil ichz diuten . . . (V. 8002 — 5). Man mag daher durchaus bezweifeln, dass die Feststellung, Französisch habe damals den »status of an international language, a secular equivalent to the church's Latin« 42 erreicht, für das deutsche Mittelalter (außerhalb der Kaufmannskontore und Handelswege) überhaupt zutrifft. Immerhin beschwerten sich Franzosen wie der Dichter Eustache Deschamps in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts bitter darüber, dass die Deutschen, selbst wenn sie etwas Französisch könnten, sich stur weigerten, es zu sprechen.43 Dass in Deutschland alles Volk entzückt die 40
41
42
43
Kurt Gärtner: Stammen die französischen Lehnwörter aus Hartmanns >Erec< aus Chrétiens >Erec et Enide