Freie evangelische Gemeinden: Eine kirchentheoretische Studie im Zusammenhang mit einer empirischen Befragung [1 ed.] 9783666560651, 9783525560655


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German Pages [371] Year 2022

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Freie evangelische Gemeinden: Eine kirchentheoretische Studie im Zusammenhang mit einer empirischen Befragung [1 ed.]
 9783666560651, 9783525560655

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Michael Schroth

Freie evangelische Gemeinden Eine kirchentheoretische Studie im Zusammenhang mit einer empirischen Befragung

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie

Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier

Band 100

Michael Schroth

Freie evangelische Gemeinden Eine kirchentheoretische Studie im Zusammenhang mit einer empirischen Befragung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik GmbH & Co. KG, Göttingen Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1242 ISBN 978-3-666-56065-1

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.3

Grundlagen, Aufbau und Absicht einer frei-evangelischen Kirchentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirchentheorie – eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Begriff der Kirchentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vier neuere kirchentheoretische Entwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirchentheoretische Beiträge aus dem freikirchlichen Bereich . . . . Zentrale Einsichten der neueren kirchentheoretischen Forschung . Kirchentheoretische und praktisch-theologische Prämissen dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirchentheorie zwischen Ekklesiologie und Soziologie . . . . . . . . . Kirchentheorie und Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ort der Kirchentheorie innerhalb der Praktischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein frei-evangelischer praktisch-theologischer Kirchenbegriff . . . . Kirchentheorie als Erweiterung von Handlungsspielräumen . . . . . Zu Aufbau und Absicht dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 13 14 14 16 19 22 23 24 25 27 30 31 33

Teil A Eine historisch-analytische Darstellung Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3

Eine kirchentheoretisch fokussierte Geschichte Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . Wurzeln und Kontexte – die Vorläufer und der Einbruch der Moderne (vor 1854) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorläufer Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorläufer englischer Independentismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorläufer Erweckungsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 39 40 41 41

6

Inhalt

2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.5

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.7.1 3.7.2 3.7.3 3.7.4 3.8 4. 4.1

Die Moderne und der Mentalitätswandel als maßgeblicher Entstehungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung einer Bewegung – Dynamiken bis zur Gemeindegründung 1954 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Heinrich Grafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Evangelische Brüderverein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außerkirchliche Abendmahlsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . Austritt und Gemeindegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisationswerdung – Gründung des BFeG (ab 1874) und Etablierungsphase (ab 1919) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vereinigung von Freien evangelischen Gemeinden und Abendmahlsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einheit und Vielfalt – die Krise im Bund und neue Initiativen . . . . Ein wachsender Bund mit neuem Selbstverständnis und neuen Fragen in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfänge einer Institutionalisierung – Aufbrüche nach 1945 und neuere Entwicklungen seit 1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verleihung der Körperschaftsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitsätze zur Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amtsverständnis im Wandel und Ansätze eines Kirchenrechts . . . . Zusammenfassung: Eine moderne Kirchenform und ein Hybrid in besonderer Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42 45 46 47 48 49 50 51 52 54 57 57 58 59 62

Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur Freier evangelischer Gemeinden . . . . . . . . . . . . . Mitglieder- und Gemeindestatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ortsgemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Bund Freier evangelischer Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionen und Kreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitskreise und Bundeswerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . PastorInnen und GemeindereferentInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenkirchliche Knotenpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der internationale Bund Freier evangelischer Gemeinden . . . . . . . Die Vereinigung evangelischer Freikirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . Evangelische Allianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63 64 70 72 75 76 77 80 80 81 82 83 83

Gemeinde von Gläubigen – Der Glaubensbegriff als kirchentheoretischer Vermittlungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaube als Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86 87

Inhalt

4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.5 4.6 4.7 5.

Glaube als Lebenshaltung zwischen Erkenntnis, Anerkenntnis und Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaube als Erkenntnis – die kognitive Dimension des Glaubens . . . Glaube als Anerkenntnis – die voluntative Dimension des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaube als Vertrauen – die affektive Dimension des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaube als Geschenk und Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freie Gnade – Unbedingtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freie Gnade – Performanz und Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaube in seiner subjektiven, intersubjektiven und transsubjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektiver Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transsubjektiver Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intersubjektiver Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis dieser Dimensionen zueinander . . . . . . . . . . . . . . Glaube als Leitdifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Zentrale Momente des Glaubensbegriffs und ihre kirchentheoretische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerpunkte der Inszenierung des Glaubens durch dessen Sozialgestalt in FeGn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89 90 90 91 92 93 94 96 96 97 98 100 101 102 104

5.3

Zum Verhältnis von Freikirchen und Religion in der Spätmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Merkmale des Phänomens Freikirche – Eine positive Typisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betonung des Zusammenhangs von individuellem Gottesglauben und Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betonung gruppenförmiger Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betonung des Priestertums aller Gläubigen . . . . . . . . . . . . . . . . . Betonung des Unterschiedes von Gemeinde und Welt . . . . . . . . . . Besonderes Verhältnis von Konservativismus und Modernität . . . . Betonung der ethischen Implikationen des Glaubens . . . . . . . . . . Freikirchen und Differenzierung in der spätmodernen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freikirchen und die vertikale Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . Freikirchen und die horizontale Differenzierung . . . . . . . . . . . . . Freikirchen und die Binnendifferenzierung des religiösen Feldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freikirchen und Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.1.6 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3

106 107 109 110 111 112 112 113 113 114 117 119 122

7

8

Inhalt

Teil B Die Perspektive der Mitglieder auf ihre Kirche 7. 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.2 7.3 8. 8.1 8.2 8.3 8.4 9. 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8 10. 10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.3

Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Grundlagen der Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der alte Streit: Quantitativ vs. Qualitativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feldbeschaffenheit, Grundgesamtheit und Auswahlverfahren . . . . Erhebungsinstrument: Computer-gestützte Telefoninterviews . . . . Der Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pretests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführung und Verlauf der Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschöpfung, Auswertung und Vergleichsgruppe . . . . . . . . . . . .

130 131 131 133 137 140 145 146 148

Das Sozialprofil frei-evangelischer Gemeindemitglieder . . . . . . . . Altersstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familienstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung und Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Eher weiblich, in den 50ern, verheiratet, gebildet, berufstätig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

154 155 157 160

Gemeindemitglied werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeindemitgliedschaft als formal-distinktive und qualitativ-graduelle Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eintrittsalter in FeGn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorhergehende Mitgliedschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drei Zugangstypen zur Gemeindemitgliedschaft in FeGn . . . . . . . Sozialisationsinstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitgliedschaftsmotive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiede zu anderen Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Pastorin, Partner, Peer-Group, modern-konservative Gemeinden und der eigene Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

Gemeindemitglied sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundmuster der Kirchenbindung in Freien evangelischen Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbundenheit mit Bund, Kreis und Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . Austrittsneigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gottesdienstbesuch und Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ideelle Kirchenbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typisch frei-evangelisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwartungen an Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liturgische Partizipation beim Abendmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktion am Ort der Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195

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195 196 202 204 210 210 213 217 221

Inhalt

10.3.1 Liturgische Interaktion – Gottesdienst und Kasualien . . . . . . . . . . 10.3.2 Gesellige Interaktion – Gemeindeveranstaltungen und persönliche Kontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Engagement in der Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.1 Sozialstrukturelle und -ökonomische Rahmenbedingungen der Mitarbeit in der Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.2 Häufigkeit und zeitlicher Aufwand der Mitarbeit in der Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.3 Spezifika der Kirchenbindung hochengagierter Mitglieder . . . . . . 10.4.4 Mitarbeit in der Gemeinde und Engagement für die Gesellschaft . . 10.5 Zusammenfassung: Einheit und Vielfalt der Kirchenbilder in FeGn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

222

11. 11.1

Hybride Gemeindemitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundliegendes kirchentheoretisches Konstrukt: Hybrid Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirche als Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirche als Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirche als Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirche als Hybrid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Faktorenanalyse der Kirchenbindung in FeGn . . . . . . . . . . . . . . . Mitgliedschaftsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typisch frei-evangelisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründe für die Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirche als Organisation und Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

266

Moderne Kirche: entschieden, partizipativ, vernetzt, authentisch . . Eine kirchentheoretische Synthese der empirischen Befunde . . . . . Zwei kirchentheoretische Erweiterungen aus freievangelischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1 „Bund Freier evangelischer Gemeinden“: Kirche als Netzwerk von Ortsgemeinden und Gläubigen . . . . . . . . . . . . . . . Eine Skizze der Grundlagen der Netzwerkforschung . . . . . . . . . . . Netzwerk als kirchentheoretische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Netzwerkperspektive auf Freie evangelische Gemeinden . . . . 12.2.2 „Geistliche Persönlichkeiten“ und „persönlicher Glaube“: Kirche als Ort des Begehrens nach Authentizität . . . . . . . . . . . . . Authentizität – eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Authentizität als kirchentheoretische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . Authentizität in Freien evangelischen Gemeinden . . . . . . . . . . . . 12.3 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

284 284

11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.3 12. 12.1 12.2

231 237 239 246 253 260 263

266 267 269 271 273 273 275 277 279 281

293 293 293 297 302 304 305 308 310 312

9

10

Inhalt

13. 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . Fragebogen und Grundauszählung zur Studie Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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320 320 324 353 366 367

Vorwort

Mit der vorliegenden Arbeit wurde ich im Herbst 2021 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn zum Doktor der Theologie promoviert. Dabei ist es wohl eine Grundhaltung theologischen Arbeitens, dass es sich zuerst und in vielerlei Weise verdankt und empfangend weiß. In diesem Sinne darf ich an dieser Stelle ausdrücken, wem ich das Entstehen und Gelingen dieser Arbeit verdanke und von wem ich in den letzten Jahren auf vielfältige Weise empfangen durfte: An erster Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. Eberhard Hauschildt für die Ermöglichung dieses Projekts, für seine stets inspirierende und wohlwollende Begleitung, die hilfreiche und passgenaue Unterstützung sowie die Erstellung des Erstgutachtens ganz herzlich danken. Frau Prof. Dr. Claudia Schulz danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie für die methodischen Ratschläge zur Durchführung der empirischen Studie. Darüber hinaus zu Dank verpflichtet bin ich Stefanie Netzsch und Tamara Ehmann, die mir an einigen Stellen auf dem Glatteis der Statistik und empirischen Methodik ausgeholfen haben. Dankbar bin ich außerdem für fruchtbare Zusammenarbeit und Austausch im Doktorandenkolloquium von Prof. Dr. Michael Meyer-Blanck sowie im Kontext der Theologischen Hochschule Ewersbach, etwa im gemeinsamen Oberseminar zur Kirchentheorie mit Prof. Dr. Markus Iff, Prof. Dr. Andreas Heiser und Christian Bouillon. Sowohl die empirische Studie als auch die Drucklegung des Buches waren nicht ohne finanzielle Unterstützung möglich. Ein besonderer Dank gilt deshalb dem Bund Freier evangelischer Gemeinden, dem Förderkreis für Theologie im Bund Freier evangelischer Gemeinden und der Theologischen Hochschule Ewersbach für die großzügige Unterstützung. Und ich danke den vielen PastorInnen und Gemeindeleitungen, die sich bereiterklärt haben an der Befragung teilzunehmen und für sie zu werben – auch ohne dieses Engagement wäre die vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen. Den Herausgeberinnen und Herausgebern der Reihe Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie danke ich für die Aufnahme in die Reihe und

12

Vorwort

dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die unkomplizierte und professionelle Umsetzung der Publikation. Zuletzt danke ich Sergej Kiel für die langjährige theologische Wegbegleitung, meinem Vater für sein geduldiges Korrekturlesen meines Manuskriptes sowie meiner Frau Anne für so vieles in dieser Zeit, was sich hier nur schlecht in Worte fassen lässt. Ihr und unserem Sohn Anton ist dieses Buch gewidmet. Aachen, im September 2021

Michael Schroth

1.

Grundlagen, Aufbau und Absicht einer frei-evangelischen Kirchentheorie

„Typisch FeG“ lautet der Titel eines in Freien evangelischen Gemeinden häufig gelesenen Büchleins 1, das 1997 das erste Mal veröffentlicht und vom damaligen Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, Peter Strauch, verfasst wurde. Es hat zahlreiche Neuauflagen erfahren und hatte zum Ziel, das Typische an Glauben, Lehre und Leben in Freien evangelischen Gemeinden zu beschreiben. Allerdings zeigt schon ein kurzer Blick in die Geschichte der FeGn, dass nicht immer so eindeutig definiert werden konnte, was als typisch frei-evangelisch zu gelten hat, und dass teils erhebliche Unterschiede zwischen den Ortsgemeinden bestanden. Der Streit um das Taufverständnis zwischen der „Wuppertaler Richtung“ und der „Wittener Richtung“ ist nur ein Beispiel des Ringens um das FeG-Typische aus dieser Geschichte. 2 Auch in der Gegenwart scheint die Frage danach, was eigentlich „typisch FeG“ ist, was uns als Kirche noch eint und auch danach, was tolerierbar ist, wieder stärker in den Fokus zu rücken. Zuletzt waren es die Themen der Frauenordination, der Umgang mit Homosexualität in den Gemeinden sowie ein Disput zur Jungfrauengeburt und zum Schriftverständnis oder auch die beschrittene Strukturreform, die die Frage nach dem „typisch FeG“ immer wieder evoziert haben. Im Kontext dieser Fragen entsteht diese kirchentheoretische Arbeit und unterscheidet sich diesbezüglich fundamental von den meisten Beiträgen dieses Fachs. Volker Drehsen schreibt von der Krise als „zentrale [. . . ] Signatur protestantischer Selbstreflexion“ 3 und Jan Hermelink von der „Kirchentheorie als Bearbeitung kirchlicher Krisen“ 4. Damit beziehen sich beide Autoren auf die Lage der Evangelischen Kirche in Deutschland, die sich seit Ende der 1960er Jahre mit einer Mitgliedschaftskrise und damit verbunden immer mehr mit einer Finanzkrise kon-

1 2 3 4

Strauch, Typisch FeG. Vgl. dazu 2.3.2 Einheit und Vielfalt – die Krise im Bund und neue Initiativen. Drehsen, Traumata, 218. Hermelink, Kirchliche Organisation, 13.

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Grundlagen, Aufbau und Absicht einer frei-evangelischen Kirchentheorie

frontiert sieht. Zuletzt bot auch die Freiburger Projektionsstudie mit ihrer Prognose einer Halbierung des Mitgliederbestandes der EKD bis 2060 wenig Anlass zur Hoffnung, sondern verschärfte dieses Krisenbewusstsein und damit die Frage nach einer zukunftsfähigen Kirche eher noch. 5 Der Bund Freier evangelischer Gemeinden (BFeG) ist dagegen eine der beiden Kirchen in Deutschland, die – zwar moderat, aber immerhin – im Wachsen begriffen sind. Der Mitgliederbestand des BFeG hat sich seit den 1970ern verdoppelt. 6 Mit diesem Wachstum geht nun statt der Frage nach der Mitglieder- und Finanzsicherung die Frage nach der Identität des Bundes sowie der Verhältnisbestimmung von Einheit und Vielfalt einher. Insofern Krise im entwicklungspsychologischen Sinne Eriksons als notwendiger Konflikt in der Entwicklung verstanden wird, kann auch die Situation Freier evangelischer Gemeinden als Krise, nämlich als Identitätskrise, interpretiert werden, die es zu bearbeiten gilt und der sich die Kirchentheorie annimmt. Wem das zu negativ konnotiert ist, der kann die gegenwärtige Herausforderung auch als kybernetische Aufgabe des Wachstumsmanagements begreifen. Diese Arbeit will nun einen kirchentheoretischen Beitrag zur Bearbeitung dieser Frage und damit also einen ersten Ansatz zu einer frei-evangelischen Kirchentheorie bieten und dabei möglicherweise auch Inspiration über die Situation Freier evangelischer Gemeinden hinaus liefern.

1.1 Kirchentheorie – eine Annäherung Auf dem Weg zu diesem Ziel soll nun zunächst eine grundsätzliche Annäherung an die Kirchentheorie erfolgen, in deren Rahmen die beschriebene Bearbeitung gegenwärtiger Fragen in FeGn geschehen soll. Ein erster Schritt fokussiert den Begriff der Kirchentheorie, ein zweiter und dritter widmen sich den kirchentheoretischen Entwürfen sowohl aus dem Bereich der evangelischen Landeskirchen als auch der Freikirchen, um dann in einem vierten Schritt zentrale Einsichten der aktuellen kirchentheoretischen Forschung zu bündeln.

1.1.1 Zum Begriff der Kirchentheorie Der Begriff Kirchentheorie steht für eine inzwischen zwar etablierte, aber dennoch recht junge Disziplin der Praktischen Theologie. Nach dem viel zitierten

5 Vgl. dazu EKD, Kirche im Umbruch. 6 Vgl. dazu 3.1 Mitglieder- und Gemeindestatistik.

Kirchentheorie – eine Annäherung

Aufsatz von Dieter Becker 7 taucht der Begriff zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Modernismusdebatte des Katholizismus am Ende des 19. bzw. am Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Die Kirchentheorie erscheint dort als Sinnbild einer antirömischen Ekklesiologie und wurde inhaltlich schon in diesem Kontext mit einem sehr innerweltlichen Kirchenbegriff verbunden. Eine positive Positionierung erfährt der Begriff erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und „repräsentiert [. . . ] eine Hinwendung der Blickrichtung auf die organisatorischen, gesellschaftlichen und strategischen Funktionen von ‚Kirche‘ in der Welt.“ 8 Den Ursprung dieser positiven Bestimmung verfolgt Becker an das Theologische Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn zurück, insbesondere in Verbindung mit Karl-Wilhelm Dahm. Ausgangspunkt dieser neuen Blickrichtung, die Dahm dann in seinem Buch „Beruf: Pfarrer“ als funktionale Theorie kirchlichen Handelns ausarbeitete, waren nach Becker u. a. „die Diskrepanzerfahrungen zwischen der Theorievermittlung an den theologischen Universitäten und der pastoralen Praxis“. 9 Dahm verstand unter dieser Theorie „vorläufige Deutungsversuche, die aufgrund neuer Daten und Fragestellungen überholungsbedürftig seien.“ 10 Im Anschluss an Dahm wurde Kirchentheorie bis in die 1990er Jahre als „Bearbeitung der Gestalt und der Aufgaben von Kirche in ihrer innerweltlichen Ausprägung“ 11 verstanden. In der Folge war es das Werk von Reiner Preul aus dem Jahr 1997 „Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktion von Kirche“ 12, das den ersten weitreichenden Impuls in Form einer Monographie lieferte. Reiner Preul bestimmt in seinem Entwurf die Kirchentheorie als Bindeglied zwischen Systematischer Theologie und Praktischer Theologie und damit auch als Integral der Praktischen Theologie, der alle anderen praktisch-theologischen Disziplinen zugeordnet werden können. Preul integriert dabei auch soziologische Perspektiven, so vor allem die Institutionentheorie, aber auch die Systemtheorie. Neben einem historischen Teil bilden systematisch-theologische Überlegungen einen wesentlichen Bestandteil der Kirchentheorie Preuls, die insgesamt programmatisch der kybernetischen Grundthese folgt: „Die evangelische Kirche wird durch die Auslegung ihrer eigenen Lehre geleitet.“ 13

7 8 9 10 11 12 13

Vergleiche zum Folgenden die begriffsgeschichtliche Darstellung: Becker, Kirchentheorie. Ebd. 276. Ebd. 279. Ebd. 281. Ebd. 283. Preul, Kirchentheorie. Ebd. 43.

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1.1.2 Vier neuere kirchentheoretische Entwürfe Zuletzt waren es vor allem vier Monographien, die dieser jungen Disziplin maßgebliche Impulse geliefert haben: „Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens“ 14 aus dem Jahr 2011 von Jan Hermelink, „Kirche“ 15 von Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong aus dem Jahr 2013 und zuletzt „Kirchentheorie“ 16 von Christian Grethlein sowie „Aufbruch im Umbruch“ 17 von Michael Herbst, beide aus dem Jahr 2018. 18 Jan Hermelink untersucht die „Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens“ zunächst ausführlich systematisch (systematisch-theologisch sowie aus der Perspektive der Systemtheorie Luhmanns bzw. seines Schülers Nassehi), dann historisch und schließlich aber auch schon empirisch. Er endet mit einer praktisch-theologischen Orientierung zur Leitung von Kirche. Seinen systemtheoretischen Kirchenbegriff konstruiert er im Anschluss an die Konflikttheorie von Ernst Lange in der Spannung zwischen der kirchlichen Organisation und dem Jenseits des Glaubens. Dieses Jenseits des Glaubens steht mit der kirchlichen Organisation im Konflikt und wird in den organisationsrelativierenden Dimensionen „Institution“, „Interaktion“ und „Inszenierung“ begrifflich gefasst. Damit wird Kirche als dialektisch verfasster Möglichkeitsraum von Glauben Gegenstand seiner Kirchentheorie. 19 Bei Hauschildt und Pohl-Patalong kommt Kirche gleichzeitig als Organisation, Institution und Bewegung in den Blick. Zusammengehalten werden diese konträren Logiken in der Metapher vom „Hybrid“ Kirche. Damit weichen unfruchtbare normative Alternativen von richtiger und falscher Kirche der Beschreibung unterschiedlicher legitimer Formen und Gestalten des komplexen Phänomens Kirche. Die Verfasser wollen mit einem deskriptiven Zugang „der 14 15 16 17 18

Hermelink, Kirchliche Organisation. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche. Grethlein, Kirchentheorie. Herbst, Aufbruch im Umbruch. Neben diesen Monographien, auf die ich mich hier aus Platzgründen beschränke, seinen als einflussreiche und instruktive Beiträge natürlich noch die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD erwähnt (siehe dazu die KMU V: Bedford-Strohm / Jung, Vernetzte Vielfalt), außerdem der Tagungsband der Fachgruppe Praktische Theologie in der wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie zu besagtem Thema (Weyel / Bubmann, Kirchentheorie), zur Perspektive der Gemeindeentwicklung das Handbuch der Züricher Praktischen Theologen Ralph Kunz und Thomas Schlag (Kunz / Schlag, Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung) und zuletzt die Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages von Jan Hermelink (Merzyn / Schnelle u. a., Reflektierte Kirche). Eine hilfreiche und übersichtliche Zusammenfassung dieser Beiträge findet sich bei Grethlein: Kirchentheorie, 18–27. 19 „Im Ganzen hat die praktisch-theologische Kirchentheorie die evangelische Kirche daher als eine Organisation zu beschreiben, die den christlichen Glauben gerade darin zur Wirkung und zum Ausdruck bringt, dass sie sich offen hält für die Manifestation des Glaubens jenseits der Organisation.“ Hermelink, Kirchliche Organisation, 29.

Kirchentheorie – eine Annäherung

impliziten Theologie, die sich bei den Menschen in Verhalten und typischen Sichten findet, einen größeren Raum geben.“ 20 Dieser deskriptive Zugang zeigt sich u. a. auch in der Einordnung der evangelischen Großkirche in die vier christlichen Kirchenfamilien sowie der Bestimmung von Kirche als Netz von Gemeinden an kirchlichen Orten, mit der die Verfasser eine Alternativsetzung zwischen Parochie und nichtparochialen Gemeindeformen vermeiden. Kirche als Gemeinde wird so pluriform und flexibel. Eine weitere Besonderheit bei Hauschildt und Pohl-Patalong ist, dass die ekklesiologischen Grundlagen nur noch auf wenigen Seiten im einleitenden Kapitel dargestellt werden. Damit vollziehen sie eine klare Emanzipation der Kirchentheorie von der Ekklesiologie. Die Kirchentheorie kann sich so als genuin praktisch-theologische Disziplin auf die komplexe Aufgabe konzentrieren, die empirisch wahrnehmbare Kirche und ihre Gestalten (aus soziologischer, psychologischer und ökonomischer Perspektive) mit theologischen Einsichten zu Kirche aus Vergangenheit und Gegenwart ins Gespräch zu bringen. Der dritte Entwurf einer Kirchentheorie stammt von Christian Grethlein aus dem Jahr 2018. Im Anschluss an seine Konzeption der Praktischen Theologie als „Theorie der Kommunikation des Evangeliums in der Gegenwart“ 21 gelingt es ihm schlüssig, einerseits mit einem notwendig theologisch scharfen Kirchenbegriff die Kirchentheorie innerhalb der Praktischen Theologie präzise zu verorten, indem er Kirche als speziellen Fall der Kommunikation des Evangeliums begreift, der dann eben Gegenstand der Kirchentheorie ist. 22 Und andererseits Seite kann er durch das Merkmal dieses speziellen Falles der Kommunikation des Evangeliums, nämlich der Kontextualität, einen empirisch weiten Horizont für das Phänomen Kirchen wahren und auch Kommunikation des Evangeliums „außerhalb kirchlicher Organisationsformen und Veranstaltungen“ 23 als Kirche verstehen. Wie schon bei Hauschildt und Pohl-Patalong wird bei Grethlein die Kirchentheorie als genuin praktisch theologische Disziplin verstanden und auf die Ekklesiologie als Thema der Dogmatik lediglich auf vier Seiten verwiesen 24. Bemerkenswerterweise steht der erste Teil des Buches unter dem Titel „Grundlagen: biblische Perspektiven und methodologische Konsequenzen“, in dem Grethlein die inhaltliche Bestimmung der Kommunikation des Evangeliums aus der biblischen Betrachtung gewinnt und damit seiner Kirchentheorie ein biblisch-theologisches Fundament verleiht. In der Folge schreibt er dann im Sinne seiner Grundthese von der Kirche als Kommunikation des Evangeliums im Kontext eine Kirchengeschichte als Kontextualisierungsgeschichte und kommt von 20 21 22 23 24

Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 52. Vgl. Grethlein, Praktische Theologie. Vgl. auch: Grethlein, Theologizität. Grethlein, Kirchentheorie, XV. Vgl. ebd. 3–6.

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dort aus über eine Bestandsaufnahme auf den gegenwärtigen Kontext von Kirche und die damit verbundenen Herausforderungen zu sprechen. Er endet in einem fast schon leidenschaftlichen Plädoyer, dass sich Kirche den gegenwärtigen Metamorphosen des Kontextes zu stellen und nicht auf alten Kontextualisierungen zu beharren habe, die längst ihre Plausibilität verloren hätten. 25 Kirche sei neu zu verstehen, nicht mehr als staatsanaloge Versorgungskirche, sondern als „Assistenzsystem für die Kommunikation der ‚Allgemeinen Priesterinnen und Priester‘“ 26. Damit erhält die Kirchentheorie Grethleins insgesamt einen stärker normativen als deskriptiven Charakter, bleibt aber im Blick auf die konkrete Sozialgestalt bzw. Organisationsform der veränderten Kirche eher unkonkret. Ebenfalls 2018 erschien der kirchentheoretische Beitrag von Michael Herbst unter dem Titel „Aufbruch im Umbruch. Beiträge zu aktuellen Fragen der Kirchentheorie“. Auch wenn das Werk eine Zusammenstellung verschiedener Vorträge und Vorlesungen darstellt, bietet es doch mehr als nur „Ansätze einer missionarisch ausgerichteten Kirchentheorie“ 27. Dass Kirchentheorie „nicht undogmatisch“ 28 ist, weist Herbst durch die Aufstellung einer „schlanken lutherischen Ekklesiologie“ 29 als Grundlage für seine kirchentheoretische Arbeit auf. Deutlich ausführlicher beschäftigt sich Herbst – wie schon Hauschildt und PohlPatalong – dann in vier Annäherungen mit der Frage „Was ist Gemeinde?“, wobei sich hier soziologische und theologische Bestimmungen mischen. Von dieser Grundlage ausgehend entfaltet Herbst in unterschiedlichen Textstilen das Bild einer „missionarischen Volkskirche“, das er im Rückgriff auf die Hybrid-Theorie von Hauschildt und Pohl-Patalong als spezielle Akzentuierung der drei Logiken verstanden wissen will, nämlich mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Gruppen-/Bewegungslogik, einem Ausbau der Organisationslogik sowie einem Rückbau der Institutionslogik. 30 In seinem „Plädoyer für mehr Gemeinschaft“ 31 entgeht Herbst gleichzeitig dem Vorwurf der Konzentration auf eine milieuverengende Geselligkeit, indem er „für unterschiedliche Milieus und Lebensverhältnisse adäquate Vergemeinschaftungs-Muster“ 32 zum Ziel erklärt. Eine solche „missionarische Volkskirche“ sei nur über einen Aufbruch im Umbruch zu verwirklichen, den Herbst mit Blick auf das Verhältnis unterschiedlicher kirchlicher Ebenen auf Gottesdienstformen sowie Gemeindeentwicklungsstrategien und Wachstumsfaktoren skizziert und stets mit geistlichen Umbrüchen verbindet.

25 26 27 28 29 30 31 32

Ebd. 291 ff. Ebd. 298. Herbst, Aufbruch im Umbruch, 11. Ebd. 24. Ebd. 37. Vgl. ebd. 80.83. Ebd. 85 [Hervorhebung im Original]. Herbst, Aufbruch im Umbruch, 85.

Kirchentheorie – eine Annäherung

1.1.3 Kirchentheoretische Beiträge aus dem freikirchlichen Bereich Da sich die vorliegende Untersuchung zu Freien evangelischen Gemeinden im Kontext einer Freikirche bewegt, soll an dieser Stelle neben den erwähnten Kirchentheorien evangelischer Theologen auch noch auf zwei kirchentheoretische Beiträge aus dem freikirchlichen Bereich in Deutschland eingegangen werden. 33 Hans-Martin Niethammer hat 1995 mit seinem Werk „Kirchenmitgliedschaft in einer Freikirche. Kirchensoziologische Studie aufgrund einer empirischen Befragung unter Methodisten“ 34 schon früh eine erste freikirchliche, kirchensoziologische Studie vorgelegt. Niethammer verfolgt zwar nicht die Absicht einer Kirchentheorie, sondern beschreibt sein Werk als „Beitrag zur Kirchenkunde“ 35, liefert allerdings durchaus kirchentheoretische Einsichten sowohl zu Freikirchen insgesamt als auch zu seinem genuinen Untersuchungsgegenstand, der Evangelischmethodistischen Kirche (EmK). So fertig er eine ausführliche Typisierung von Freikirchen an und bietet mit Max Weber und Niklas Luhmann soziologische Rahmentheorien, auf die er seine Analyse immer wieder bezieht, indem er beispielsweise Freikirche ganz basal, nach der Kirchenbildung durch Entscheidung, als Organisation beschreibt. Dabei findet in seinem Werk auch der gesellschaftliche Wandel in der Moderne Berücksichtigung. Die schwerpunktmäßig deskriptive Auswertung der empirischen Mitgliedschaftsbefragung nimmt insgesamt dennoch den größten Teil der Arbeit ein. Hier beschreibt Niethammer Sozialprofil, Rekrutierung der Mitglieder, Verbundenheit, Mitgliedschaftsgründe, Norm, Teilnahmeverhalten, private Praxis, das Verhältnis von Norm und Praxis, das Verhältnis von Gesellschaft und Gemeinschaft, die Erwartungen an die Kirche, Grenzen zur Umwelt sowie Mitgliedschaftstypen. Zum Ende konstatiert er teilweise massiven Rekrutierungsprobleme der EmK, um diese dann auf die vorherige Auswertung zu beziehen und einer kirchentheoretischen Auswertung zuzuführen. Neben auch gesellschaftlich bedingten Faktoren, wie Bedeutungsverlust der Tradition und der Primärsozialisation sowie erhöhter Mobilität, führt Niethammer als für ihn maßgeblichen Begründungszusammenhang eine Schwerpunktverschiebung in der EmK in Deutschland, weg von der Gemeinschaft, hin zur Organisation, an: „Die EmK wird damit tatsächlich von der Gemeinschaftskirche zur Entscheidungskirche“ 36. Dementsprechend plädiert Niethammer zum einen für die Stärkung gemeinschaftlicher Formen und zum anderen für eine Schwächung der Organisationslogik im Blick sowohl auf die liturgische Inszenierung des „Gemeindemitglied-werdens“ als auch auf eine 33 Darüber hinaus sei noch auf die beiden Beiträge aus der Schweiz verwiesen: Schweyer, Kontextuelle Kirchentheorie und Stolz / Favre u. a., Phänomen Freikirchen. 34 Niethammer, Kirchenmitgliedschaft. 35 Ebd. 30. 36 Ebd. 349.

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Weitung der organisatorischen Mitgliedschaftsgrenzen der EmK, hin zu einer „‚Sammlung der Suchenden und Glaubenden‘, bei der nicht formell zwischen Suchenden und Glaubenden zu scheiden versucht wird.“ 37 Als zweiter maßgeblicher Beitrag aus dem freikirchlichen Bereich ist die erst kürzlich erschienene Arbeit von Philipp Bartholomä „Freikirche mit Mission. Perspektiven für den freikirchlichen Gemeindeaufbau im nachchristlichen Kontext“ 38 zu erwähnen, die hier etwas ausführlicher Berücksichtigung finden soll. Bartholomä selbst will sein Werk nicht als Kirchentheorie, sondern lediglich als eine „explorative Studie im Rahmen einer kontextuellen Kirchentheorie im Zueinander von ekklesiologischen und missiologischen Überlegungen“ 39 verstanden wissen. Für diese Studie beschreibt er im ersten Teil „Freikirchlicher Gemeindeaufbau im Kontext: Rahmenbedingungen, Herausforderungen, Konzepte“ einen konzeptionellen Rahmen, um dann im zweiten Teil „Missionarischer Gemeindebau im Raum der Freikirchen: Ergebnisse der empirischen Untersuchung freikirchlicher Gemeinden“ die Ergebnisse empirischer Studien in Beziehung zu diesen Rahmenkonzepten zu setzen. Im ersten Teil attestiert Bartholomä den Freikirchen aufgrund einiger Mitgliederstatistiken eine „Krise der Mission“ 40 und will im besten Fall von „einer gewisse Resistenz, wohl aber eher von einer allgemeinen Stagnation, aber sicherlich nicht von einer nachhaltigen missionarischen Wirksamkeit im Raum der Freikirchen“ 41 sprechen, wobei er zumindest Freien evangelischen Gemeinden noch das größte Wachstum zuschreibt, aber auch diese am Ende „wenig Anlass zur Euphorie“ 42 böten. Sowohl mit der historischen Darstellung zu Freikirchen als auch mit der Theorie zur sozialen Identität liefert Bartholomä dann zwei mögliche Begründungszusammenhänge. Zum einen erschwere der Bedeutungsrückgang der Volkskirchen Freikirchen eine Identitäts- und Markenbildung in der Abgrenzung zum Anderen, also den Volkskirchen, und zum anderen lasse sich historisch der Kontext des volkskirchlichen Christentums als Nährboden für freikirchliches (Transfer-)Gemeindewachstum beschreiben, der im Blick auf Säkularisierungsprozesse und der damit verbundenen rückläufigen Ausprägung des volkskirchlichen Christentums zur Herausforderung für Freikirchen führe, sich ihrer Situation anzunehmen, „die man als säkulare, pluralistische oder eben nachchristliche Diaspora bezeichnen muss“ 43. Diese gesellschaftliche Situation beschreibt Bartholomä in der Spannung zwischen einem religiösen Pluralismus, in dem Men37 38 39 40 41 42 43

Ebd. 361. Bartholomä, Freikirche. Ebd. 51 [Hervorhebung im Original]. Ebd. 26. Ebd. 38. Ebd. 37. Ebd. 129.

Kirchentheorie – eine Annäherung

schen grundsätzlich ansprechbar für Religion sind, und einem gleichzeitigen Bedeutungsverlust von Religion und insbesondere des Christentums in Anlehnung an Charles Taylor. Abschließend wertet er gängige Gemeindeaufbaumodelle aus dem freikirchlichen Bereich auf diese Herausforderungen hin aus und kommt dabei zum Schluss, dass sowohl das Prinzip der „Kirche für andere“ als auch das der Kontextualität von Kirche als „unumstößliche missionarische Notwenigkeit“ 44 zu gelten haben. Im zweiten Teil seines Werkes wertet Bartholomä zum einen eine nur eingeschränkt repräsentative Online-Umfrage unter Mitgliedern unterschiedlicher Freikirchen und zum anderen zwei „Case Studies“ in zwei missionarisch besonders „erfolgreichen“ Freikirchengemeinden aus. In beiden Teilen befragt er die Daten vor allem im Blick auf die Zugangswege zu Freikirchen (also: wen erreichen Freikirchen?), auf ihre missionarische Praxis hin (also: inwiefern sind sie Kirche für andere?) sowie auf ihre Kontextsensibilität angesichts eines postchristlichen Zeitalters. Durch diese Fokussierung erfährt der empirische Buchteil eine deutlich stärkere Ausrichtung hin zum missionarischen Gemeindeaufbau. So sollen denn auch die Synthesen Bartholomäs als „praktisch-theologische Wegweiser hin zu einer missionarischen Ekklesiologie für Freikirchen in einem nachchristlichen Zeitalter“ 45 verstanden werden. Dementsprechend bietet Bartholomä mit einem entstehungsgeschichtlichen, einem identitätstheoretischen, einem kontextuellen und einem funktionalen Wegweiser dann vier empirisch rückgebundene Empfehlungen für eine Freikirche der Zukunft als Freikirche mit Mission. Diese solle ihre Entstehungsgeschichte im Zusammenhang mit der Abhängigkeit von der christlichen Vorprägung der zur Gemeinde kommenden Mitglieder stärker als bisher bedenken. Außerdem solle sie sich nicht mehr in Abgrenzung zu den Volkskirchen definieren, sondern es sollen „vor allem glaubens- und kirchenferne Menschen als identitätsstiftende Gegenüber bzw. ‚signifikante Andere‘ fungieren.“ 46 Drittens wären die Missionsbemühungen stark am Kontext zu orientieren und durch vielfältige Sozialformen zu realisieren, wobei der Beziehung von Gemeindemitgliedern zu Nicht-Christen eine besonders hohe Bedeutung beigemessen wird. Und zuletzt sei eine missionarische Ekklesiologie so zu bestimmen, „dass sowohl die zielgerichtete missionarische Leidenschaft als auch die selbstkritische Bereitschaft zur Transformation selbst dann erhalten bleiben, wenn das angestrebte Bekehrungswachstum bzw. die zahlenmäßigen Erfolge hinter dem ersehnten Maß zurückbleiben.“ 47

44 45 46 47

Ebd. 294. Ebd. 543. Ebd. 585 f. Ebd. 586.

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1.1.4 Zentrale Einsichten der neueren kirchentheoretischen Forschung Trotz der insgesamt sehr unterschiedlichen Ansätze, insbesondere im Vergleich zwischen den Beiträgen aus dem Bereich der EKD und der Freikirchen, lassen sich einige zentrale Übereinstimmungen finden, die zum einen Anknüpfungspunkte für weitgehend zwischen landeskirchlichen und freikirchlichen KirchentheoretikerInnen getrennt ablaufende Diskurse bieten und zum anderen aber auch wieder Ausgangspunkte für eine differenziertere Verständigung über diese Grundsätze darstellen. So sind sich alle neueren Entwürfe einig, dass es Aufgabe einer praktisch-theologischen Kirchentheorie ist, das empirisch wahrnehmbare Phänomen Kirche einerseits und die theologische Größe Kirche andererseits aufeinander zu beziehen und in Zusammenhang zu setzen. Deutlich wird dies auch daran, dass sich alle Entwürfe auf konkrete empirische Studien beziehen. Unterschiede ergeben sich dabei im Blick auf die Gewichtung der deskriptiven und normativen Anteile und deren genauer Verhältnisbestimmung. Darüber hinaus seien als eine Art Übereinstimmung der neueren kirchentheoretischen Monographien – natürlich in den jeweiligen Entwürfen unterschiedlich gewichtet – an dieser Stelle drei Einsichten dargestellt, die dann auch als Grundlage für die Frage nach einer Kirchentheorie in frei-evangelischer Absicht dienen werden. So lässt sich als erster Konsens der evangelischen Kirchentheorie die Einsicht in die Funktionalität von Kirche festhalten. Kirche existiert nicht um ihrer selbst willen, sondern ist funktional auf „das Jenseits des Glaubens“ (Hermelink), die „Kommunikation des Evangeliums“ (Hauschildt / Pohl-Patalong und Grethlein) bzw. die „Missio Dei“ (Herbst) bezogen oder muss als „Kirche für andere“ (Bartholomä) gedacht werden. Zweitens arbeiten alle Entwürfe mit mehrdimensionalen Kirchenbegriffen. Während Preul Kirche noch fast ausschließlich als Institution aufgefasst hat, sind sich die späteren AutorInnen einig, dass das komplexe Phänomen Kirche in der Spätmoderne mit eindimensionalen Konzepten und Theorien nicht zu fassen ist. So liegt der Schwerpunkt bei Hermelink zwar klar bei der Kirche als Organisation, wobei seine Kirchentheorie schon mit ihrem Titel die organisationsrelativierenden Dimensionen „Institution“, „Interaktion“ und „Inszenierung“ umfasst. Hauschildt und Pohl-Patalong nutzen das Modell von der Kirche als „Hybrid“ sowie das Bild von der Kirche als Netz kirchlicher Orte, um die Mehrdimensionalität von Kirche zu erfassen. Bei Grethlein sind es der mehrschichtig angelegte Kommunikationsbegriff selbst und die darin enthaltenen unterschiedlichen Modi der Kommunikation des Evangeliums (gemeinschaftliches Feiern, Helfen zum Leben, Lehren und Lernen, Kunst), die sich gegen einen unterkomplexen praktisch-theologischen Begriff von Kirche wehren. Herbst bezieht sich immer wieder auf den Begriff der Mixed-Economy für das Nebeneinander verschiedener Sozialformen

Kirchentheoretische und praktisch-theologische Prämissen dieser Arbeit

in Kirche und Gemeinden 48 und Bartholomä erreicht die Mehrdimensionalität über den konsequenten Bezug der Kirche auf den Kontext und die von diesem her notwendigen „vielfältigen Gemeindeformen“ 49. Als dritte Übereinkunft kann die Kontextualität von Kirche gelten. Am deutlichsten wird das freilich im Entwurf Grethleins, der eben seinen praktisch-theologischen Kirchenbegriff von der Kontextualität her konzipiert. Ähnlich stark macht aber auch Bartholomä diesen Kontext als „nachchristlichen Kontext“, mit dem eben besondere Herausforderungen und Wechselwirkungen für (Frei-)Kirche einhergehen. Allerdings bezieht auch schon Hermelink unter seinen „Empirischen Bestandsbedingungen“, insbesondere unter dem Punkt „Mitgliedschaft“, gesellschaftliche Rahmenbedingungen sowie die Perspektive der Mitglieder mit ein. Und auch Hauschildt und Pohl-Patalong bringen mit ihrem Kapitel „Die gegenwärtige Situation der Kirche – der Kontext der Kirchentheorie“ direkt und mit dem Kapitel „Die Perspektive der Kirchenmitglieder? Mitgliedschaft und Kirchenbindung“ zumindest indirekt die Kontextualität von Kirche zur Geltung. Am schwächsten explizit ausgearbeitet ist die Kontextualität bei Herbst und dennoch findet sich auch bei ihm der Bezug auf die Perspektive der Mitglieder über die Ergebnisse der V. KMU sowie im Anwendungsteil die Kontextualität als eines von vier Qualitätsmerkmalen einer von der missio dei her konzipierten Gemeindeentwicklung 50.

1.2 Kirchentheoretische und praktisch-theologische Prämissen dieser Arbeit Ausgehend von diesen Einsichten wird der Gegenstand dieser Arbeit bestimmt als Kirche als kontextuelle, pluriforme und funktionale Sozialgestalt des christlichen Glaubens bzw. von Religion in ihrer frei-evangelischen Fassung. In der Folge soll dieser praktisch-theologische Kirchenbegriff nun entfaltet und in seinen kirchentheoretischen und praktisch-theologischen Prämissen expliziert werden.

48 Vgl. beispielsweise Herbst, Aufbruch im Umbruch, 158–166. 49 Bartholomä, Freikirche, 567. 50 Vgl. Herbst, Aufbruch im Umbruch, 175.

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1.2.1 Kirchentheorie zwischen Ekklesiologie und Soziologie Der Gang durch die Geschichte des Begriffs der Kirchentheorie bis zu den neuesten Entwürfen hat unterschiedliche Verhältnisbestimmungen der Kirchentheorie zur Ekklesiologie und zur Soziologie bzw. unterschiedliche Gewichtungen im Blick auf normative und deskriptive Anteile gezeigt. Dieses Verhältnis sei im Folgenden noch einmal ausführlicher bedacht. Die Kirchentheorie hat schon seit ihren Anfängen eine stark innerweltliche Ausrichtung. Ihr Gegenstand ist die Kirche als erfahrbare Größe, als gesellschaftliches Phänomen. Für die Wahrnehmung der Kirche als gesellschaftliches Phänomen und insbesondere auch ihrer Kontexte, die für diese Wahrnehmung entscheidend sind 51, ist eine Kirchentheorie notwendigerweise auf die Soziologie angewiesen. Gleichzeitig ist die Kirche aber auch Gegenstand des Glaubens und hat in ihrer ekklesiologischen Ausprägung einen normativen Gehalt. In dieser Spannung ist es m. E. die Aufgabe der Praktischen Theologie und der Kirchentheorie im Speziellen, diese beiden Pole miteinander kritisch-konstruktiv ins Gespräch zu bringen 52, ohne dabei einseitig zur Religionssoziologie oder zur Ekklesiologie zu werden. 53 Der Einbezug der Soziologie kann gerade eine Differenzierung dogmatischer Begriffe und Konzepte und so deren Gegenwartsbezug fördern. Gleichzeitig sind soziologische Theorien immer auch theologisch zu verantworten und 51 „So belegt der historische Durchgang unsere These, dass die Wahrnehmung von Kirche es immer schon mit zeitlich und örtlich begrenzten Blickwinkeln zu tun hat. Und die historische Theologie führt vor Augen: Welcher Blick auf Kirche eingenommen wird, ist in der Praxis kaum Gegenstand einer freien Wahl, sondern Ergebnis von Prägungen, mit denen umzugehen ist.“ Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 25. 52 Dabei muss natürlich vermerkt und berücksichtigt werden, dass dieses Gespräch sowie schon Auswahl, Interpretation und Verwendung ekklesiologischer sowie soziologischer Einsichten unter dem Vorzeichen der Perspektivität der KirchentheoretikerInnen stehen, die einem bestimmten Gegenstandsbereich, im Fall dieser Arbeit dem Bund Freier evangelischer Gemeinden, verpflichtet sind. 53 So auch Wilhelm Gräb: „Die Kirchentheorie ist ein theologischer Zwitter. Sie bewegt sich zwischen den dogmatisch-theologischen Bestimmungen des Kirchenbegriffs und der begrifflichen Arbeit an der erfahrbaren Kirche. Ihre Intention ist die Vermittlung von Theologie und Soziologie der Kirche. [. . . ] Und diese Theorie gilt ein und demselben Sachverhalt, eben dem, was ‚Kirche‘ heißt. Insofern sind es im Grund auch nur unterschiedliche Aspekte ein und derselben Theorie der Kirche, die in einer Theologie und Soziologie vermittelnden Kirchentheorie zur Sprache kommen. Anders ist eine in sich konsistente Kirchentheorie nicht möglich.“ Daraus folgert er dann zusätzlich sehr schlüssig die kommunikative Grundstruktur der Kirchentheorie: „Die Vermittel- und Übersetzbarkeit theologischer in soziologische Begriffe ist zugleich in umgekehrter Richtung möglich und ebenso notwendig. Auch von den soziologischen Dimensionen im Verständnis der Kirche muss eine Kirchentheorie zeigen können, welche Erweiterungen ihnen zuwachsen, wenn sie mit theologischen Gehalten gefüllt werden. Wo eine Übersetzbarkeit und Vermittelbarkeit theologischer und soziologischer Dimensionen im Begriff Kirche gegeben ist, handelt es sich um ein kommunikatives Verständnis, sowohl vom Auftrag wie von der Empirie kirchlicher Praxis.“ Gräb, Kirchentheorie, 267–269.

Kirchentheoretische und praktisch-theologische Prämissen dieser Arbeit

auf ihre Chancen und Grenzen hin zu befragen – was allerdings häufig nicht geschieht. 54 Kirchentheorie kann also mit Dahm in einer ersten Annäherung als vorläufiger und immer wieder, aufgrund neuer Daten und Fragestellungen, überholungsbedürftiger Deutungsversuch des Phänomens Kirche gelten. 55 Hierfür eignet sich m. E. die Herangehensweise von Hauschildt und Pohl-Patalong besonders gut, da sie im Gegensatz zu Preul und Hermelink auf unterschiedliche soziologische (und auch psychologische) Konzepte zurückgreifen und dabei stets deren Chancen und Grenzen im Blick haben. Sie beschreiben die Spannungspole, zwischen denen sich die Praktische Theologie und auch die Kirchentheorie befindet, als „globale Muster individuellen Glaubens, wie sie teils kirchlicher, teils kulturchristlicher und teils allgemeinreligiöser Fassung in Formen der jeweiligen Konfessionen und Religionen zeigen“ 56 und als „faktisch gelebte Regionalität [. . . ] im Zusammenhang mit Institutionen, der Institution der (evangelischen) Kirche (in Deutschland) ebenso wie der kulturchristlichen und allgemeinreligiösen Institutionalisierung in der jeweiligen Gesellschaft“ 57. Auch der in dieser Arbeit verwandte Kirchenbegriff wird in diesem Sinne als eine soziologisch zugängliche kontextuelle und pluriforme Sozialgestalt definiert, die mit der funktionalen Ausrichtung auf den christlichen Glauben gleichzeitig einen theologischnormativen Bezug aufweist.

1.2.2 Kirchentheorie und Empirie In diese Vermittlungsaufgabe der Kirchentheorie zwischen erfahrbarer und geglaubter Kirche kann auch die empirische Arbeit in der Kirchentheorie eingezeichnet werden. Die empirische Arbeit in der Praktischen Theologie kann allerdings keineswegs als selbstverständlich betrachtet werden, sondern hat sich erst in Folge der empirischen Wende in dieser Weise durchgesetzt. Besonders deutlich wird die Wende der Praktischen Theologie zur Empirie an den seit 1972 im Abstand von zehn Jahren durchgeführten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD. Sie haben einen „Perspektivwechsel, dessen ekklesiologische Tragweite vermutlich bis heute noch nicht ganz begriffen worden ist“ 58, initiiert und „mit ihren Ergebnissen die deutschsprachige Praktische Theologie maßgeblich beeinflusst“ 59. 54 Vgl. hier beispielsweise die mangelnde theologische Reflexion der ökonomischen Perspektive in der viel kritisierten EKD-Schrift: Kirchenamt der EKD, Kirche der Freiheit. 55 Becker, Kirchentheorie, 281. 56 Kirchenamt der EKD, Kirche der Freiheit, 47 [Hervorhebung im Original]. 57 Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 47 [Hervorhebung im Original]. 58 Hermelink, Die Kirche, 145. 59 Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 316.

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Unter dem Motto „Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen“ 60 hat im Jahr 1901 schon Paul Drews als einer der Ersten die Notwendigkeit empirischer Arbeit in der Praktischen Theologie und Aspekte ihrer spezifischen Leistung für die Praktische Theologie benannt. Weyel, Heimbrock und Gräb stimmen dieser Notwendigkeit zu, indem sie formulieren: „Empirische Religionsforschung trägt wesentlich dazu bei, Grundlagen für eine praktisch-theologische Wissenschaft zu schaffen, die – in allem theoretisch-theologischem Erkenntnisinteresse – an den Phänomenen orientiert bleibt.“ 61 Claudia Schulz führt als Leistungen der Empirie für die Praktische Theologie und damit letztlich auch für die Kirchentheorie noch differenzierter die Veranschaulichung der Praktischen Theologie, die Ermöglichung von mehr Nähe zur Wirklichkeit, die Erschließung der Komplexität der Wirklichkeit, die Unterstützung der Organisation Kirche, die Sicherung der Wissenschaftlichkeit der Praktischen Theologie sowie die Hilfe zum Respekt vor der Subjektivität des Glaubens auf 62 und verdeutlicht damit, warum die Empirie aus der Praktischen Theologie heute nicht mehr wegzudenken ist. Dennoch darf dabei nicht übersehen werden, dass mit der Integration empirischer Forschung in die Praktische Theologie auch Herausforderungen verbunden sind. So sprechen empirisch erhobene Daten nicht von sich aus, sondern bedürfen immer einer Interpretation und möglichweise danach einer Weiterführung in Handlungsmaximen. Dieser Interpretationsprozess muss in der praktisch-theologischen Arbeit als solcher kenntlich gemacht werden. Wo empirische Ergebnisse als Fakten präsentiert werden, anstatt methodische Zusammenhänge, normative Setzungen und Deutungen offen zu legen, wird eine Kritik am für die Praktische Theologie so entscheidenden Interpretationsprozess empirischer Daten unmöglich. Aber nicht nur die Ergebnisse sind mit Deutungsprozessen verbunden, sondern bereits die Auswahl von Methodik und Anlage einer empirischen Studie sind mit impliziten Wirklichkeits- und Menschenbildern verbunden 63. Diese gilt es in der praktisch-theologischen Arbeit sowohl transparent und somit nachvollziehbar sowie kritisierbar zu machen als auch sie theologisch zu verantworten. Und zuletzt stellt sich – wie schon zwischen Kirchentheorie und Soziologie – die Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen empirischen Erkenntnissen und theologischen Vorstellungen. Wie ist zu verfahren, wenn sich Widersprüche auftun zwischen der empirisch erforschten Kirche und der geglaubten Kirche? Dabei soll an dieser Stelle dasselbe konstruktiv-kritische Kooperationsverhältnis beider Perspektiven in Anspruch genommen werden, wie oben. Es gilt empirische

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Drews, Religiöse Volkskunde, 4. Weyel / Gräb u. a., Praktische Theologie, 8. Schulz, Empirische Forschung, 25–55. Vgl. 07.1.1 Der alte Streit: Quantitativ vs. Qualitativ.

Kirchentheoretische und praktisch-theologische Prämissen dieser Arbeit

Anfragen an die Kirchentheorie ernst zu nehmen, zu integrieren und so einen stärkeren Gegenwartsbezug und eine größere Nähe zur „Wirklichkeit“ im Blick auf die Theorie zu erhalten und gleichzeitig Deutung und Folgerungen aus empirischen Beobachtungen theologisch zu verantworten.

1.2.3 Der Ort der Kirchentheorie innerhalb der Praktischen Theologie Neben den Bezügen zu außertheologischen Wissenschaften ist an dieser Stelle auch noch der Ort der Kirchentheorie innerhalb der Praktischen Theologie zu klären. Nach Hauschildt und Pohl-Patalong befinden sich also sowohl die Praktische Theologie wie auch die Kirchentheorie in der Spannung zwischen globalen Mustern individuellen Glaubens und faktisch gelebter Regionalität. Die Weite dieser Bestimmung der Kirchentheorie geht allerdings gleichzeitig mit einer Unschärfe der Ortsbestimmung der Kirchentheorie innerhalb der Praktischen Theologie einher. Diese können die Verfasser erst in der Antwort auf eine entsprechende Anfrage einer Rezensentin 64 klären: „Das Thema Kirche wird in seiner klassischen Stellung entthront. [. . . ] Kirche ist neben den Subjekten und ihrer Religion eben nur ein zentrales Thema der Praktischen Theologie und nicht mehr ihr alleiniges zentrales Thema.“ 65 Mit diesem Satz beziehen sich die Verfasser auf die prominent von Gert Otto formulierte Kritik einer kirchlichen Verengung des Gegenstandsbereiches der Praktischen Theologie, wie sie Otto der Praktischen Theologie von Carl Immanuel Nitzsch vorgeworfen hat 66, und damit auf den Disput um den Gegenstand der Praktischen Theologie. Eine präzise Ortsbestimmung der Kirchentheorie innerhalb der Praktischen Theologie sowie die Definition eines praktisch-theologischen Begriffs von Kirche gehen zwingend einher mit der Klärung des Gegenstandes der Praktischen Theologie selbst. Nach Nitzsch und den praktischen Theologen des Historismus und der Dialektischen Theologie war es vor allem Rössler, für den der Kirchenbegriff die Einheit für die Beschreibung des Feldes der Praktischen Theologie leistete. 67 Zu64 Vgl. dazu den Beitrag von Nord, Lehrbuch, 234: „Bezüglich der Verhältnisbestimmung von Praktischer Theologie und praktisch-theologischer Kirchentheorie gibt bereits die Titelgebung ‚Kirche‘ die Orientierung vor, denn die Frage nach der Kirche wird als das Grundthema der Praktischen Theologie entfaltet.“ 65 Hauschildt / Pohl-Patalong, Antwort, 240 [Hervorhebung im Original]. 66 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 39. 67 Auch wenn Rössler mit seiner Christentumstheorie versucht, die Ausdifferenzierungsprozesse der Moderne aufzunehmen, kann er sich dabei noch nicht vom einheitsstiftenden Gegenstand Kirche trennen, sondern schließt programmatisch: „Entsprechend gewinnt die Praktische Theologie ihre Einheit durch die Rekonstruktion dessen, was ihr als geschichtliche Praxis der Kirche vorausliegt.“ Zitat nach ebd. 46.

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Grundlagen, Aufbau und Absicht einer frei-evangelischen Kirchentheorie

nehmenden gesellschaftlichen Veränderungen wurde dieser enge Gegenstandsbereich der Praktischen Theologie allerdings nicht mehr gerecht. Dieser Tatsache begegneten Gräb, Josuttis, Luther, Grözinger u. a. mit einer Weitung desselben auf unterschiedliche Weise und haben dabei „in ihrer positionellen Unterschiedlichkeit eines gemeinsam: Sie bemühen sich um bessere und umfassendere Wahrnehmung“ 68. Christian Grethlein bestimmt, u. a. um eine kirchliche Verengung zu vermeiden und um stattdessen den Blick zu weiten 69, den Gegenstand der Praktischen Theologie als „Kommunikation des Evangeliums (in der Gegenwart)“ 70. Die Kirchen kommen innerhalb einer Praktischen Theologie der Kommunikation des Evangeliums dann (nur) noch als „so etwas wie ‚Zonen dichter gekoppelter Kommunikation‘“ in den Blick und „religionshermeneutisch betrachtet bringen sie vor allem die skriptural tradierte sekundäre Religionserfahrung in die Kommunikation des Evangeliums ein“. 71 Demgegenüber betont Wilhelm Gräb die Bedeutung des Religionsbegriffs für die Praktische Theologie, von dem Grethlein sich distanziert 72, und hat damit die Absicht, die Praktische Theologie noch weiter als Grethlein vom kirchlichen Paradigma zu emanzipieren. Im Endeffekt konzipiert er Kirche dann aber strukturanalog zu Grethlein als eine funktional auf den eigentlichen Gegenstand der Praktischen Theologie (bei Gräb: religiöse Lebensdeutung) ausgerichtete Größe, nämlich Kirche als Ort religiöser Deutungskultur. 73 Damit zeichnet sich in den beiden durchaus konträren Entwürfen eine Verhältnisbestimmung von Praktischer Theologie und Kirche bzw. Kirchentheorie ab, die die Kirchentheorie dem Gesamten der Praktischen Theologie (der „Kommunikation des Evangeliums“ bzw. der religiösen Lebensdeutung) deutlich unterordnet und sie dabei in streng funktionaler Relation denkt. Kirchentheorie ist also der Bereich der Praktischen Theologie, der eine Theorie der Kirche als „Zone dichter gekoppelter Kommunikation“ des Evangeliums bzw. von religiösen Lebensdeutungen entwirft und mit dieser im Dienst der gesamten Praktischen Theologie und der Kommunikation des Evangeliums bzw. der religiösen Lebensdeutung steht. Um das leisten zu können, darf sich die Kirchentheorie eben nicht nur auf die Kirche selbst beschränken, sondern muss das, worauf sie funktional ausgerich68 Grethlein, Praktische Theologie, V: „Praktische Theologie analysiert und reflektiert die Kommunikation des Evangeliums in der Gegenwart.“ 69 „Doch zeigt ein Blick in die Christentumsgeschichte die große Gefahr, dass sich Kirche bzw. kirchliche Amtsträger an die Stelle der Kommunikation des Evangeliums setzen.“ [Hervorhebung getilgt], ebd. 387. 70 Ebd. 139. 71 Ebd. 334. 72 Vgl. dazu den Beitrag Engemanns zur Kommunikation des Evangeliums, der diese Distanznahme und auch ihre Begründung durchaus kritisch sieht: Engemann, Grundprinzip. 73 Gräb, Lebensgeschichten, 79. Vgl. dazu auch den Titel des zweiten Teils „Kirche für die Religion der Menschen“.

Kirchentheoretische und praktisch-theologische Prämissen dieser Arbeit

tet ist, die christlich-religiöse Kommunikation, immer mit in den Blick nehmen. Genau das ist wohl die Absicht von Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong, wenn sie ihre Kirchentheorie in derselben Spannung entwerfen, in der auch ihre Praktische Theologie im Gesamten steht, zwischen globalen Mustern individuellen Glaubens und faktisch gelebter Regionalität. Und auch die Kirchentheorie Jan Hermelinks ist, wie bereits im Titel seiner kirchentheoretischen Monographie deutlich wird, in einer noch präziser gefassten Spannung zwischen Kirche und dem, auf das sie funktional ausgerichtet ist, entworfen: Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Dieser Absicht folgend versteht auch diese Arbeit Kirche als funktionale Größe. Gleichzeitig sollen beide Bezugsperspektiven von Kirche bei Grethlein und Gräb Berücksichtigung finden, in frei-evangelischer Tradition sowohl die des christlichen Glaubens 74 als auch die von Religion 75. 74 Siehe zum Glauben als kirchentheoretischen Vermittlungsbegriff das Kapitel „4. Gemeinde von Gläubigen Der Glaubensbegriff als kirchentheoretischer Vermittlungsbegriff“. 75 Es entspricht dem Ansatz dieser Arbeit, dass auch der Religionsbegriff nicht im Sinn einer abschließenden Definition, sondern gerade in seiner Unabgeschlossenheit als Suchbegriff verstanden werden soll. Niklas Luhmann definiert Religion als Funktion der Gesellschaft (Kontingenzbewältigung, vgl. Luhmann, Funktion). Peter L. Berger setzt diesem funktionalen Religionsbegriff einen substanziellen entgegen. Er versteht Religion als „das Unterfangen des Menschen, einen heiligen Kosmos zu errichten“ (Berger, Dialektik, 26). Damit sind die beiden gängigen Alternativen einer möglichen Fassung des Religionsbegriffes genannt. Der funktionale Religionsbegriff beschreibt Religion über ihre Leistung für Gesellschaft (Luhmann), Individuum (Luckmann) oder Kultur, während der substanzielle einen inhaltlichen Bezug auf Gott, Heiliges (Berger) oder Transzendentes voraussetzt. Die Stärken der beiden Definitionen sind zugleich auch ihre Schwächen. So ist der funktionale Religionsbegriff sehr weit und dadurch gegen eine beispielsweise kirchliche oder christliche Verengung gefeit. Gleichzeitig ist diese Weite sein Problem, da damit auch gesellschaftliche Phänomene als Religion gelten müssen, die gemeinhin eben nicht als solche verstanden werden (vgl. Pickel, Religionssoziologie, 20). Wegen dieser zu großen Weite entscheidet sich auch Berger für den substantiellen Religionsbegriff, der deutlich schärfere Grenzen hat (vgl. Berger, Dialektik, 165–168). Aber dadurch können wieder Religionsformen ausgeschlossen werden, die nach ihrem Selbstverständnis einen deutlich höheren Wert auf die Immanenz legen und durch ihren mangelnden substanziellen Bezug von einem solchen Religionsbegriff nicht erfasst werden. Die Auswirkung dieser Religionsdefinitionen zeigen sich insbesondere in der empirischen Forschung. Dort liegt bei einem funktionalen Religionsbegriff der Fokus stärker auf der Mikro-Ebene, also individuellen, fluideren Formen von Religion, während auf Grundlage eines substanziellen Religionsbegriffs eher die Makro-Ebene und damit institutionell-bestimmte Formen von Religion im Blick sind. Einen anderen Weg beschreiten die Unterscheidung von Dimensionen des Religiösen nach Charles Glock sowie die Aufstellung einer Religions-Typologie von Detlef Pollack. Glock geht von fünf religiösen Dimensionen aus, nämlich einer Dimension der religiösen Erfahrung, einer rituellen Dimension, einer ideologischen Dimension, einer Wissensdimension sowie einer Dimension der Konsequenzen (vgl. dazu Pollack, Probleme der Definition von Religion, 26–27). Damit integriert er Momente eines substanziellen (etwa die ideologische Dimension und die Wissensdimension) und funktionalen Religionsbegriffs (etwa die Dimension der religiösen Erfahrung). Detlef Pollack entwirft Religion in zwei Spannungsfeldern (vgl. Pollack, Was ist Religion? Probleme der Definition). Zum einen in der Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz und zum anderen zwischen Konsistenz (in die gesellschaftlichen

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Grundlagen, Aufbau und Absicht einer frei-evangelischen Kirchentheorie

So kommt Kirche aus einer Binnenperspektive als Ort des christlichen Glaubens und aus allgemein-gesellschaftlicher Perspektive als Ort von Religion neben und in seinem Zusammenspiel mit anderen Orten von Religion in den Blick. Dabei sind diese beiden Perspektiven zum einen scharf zu unterscheiden und gleichzeitig kritisch-konstruktiv aufeinander zu beziehen. 76

1.2.4 Ein frei-evangelischer praktisch-theologischer Kirchenbegriff Aus dieser Bestimmung der Kirchentheorie bzw. ihrer Verortung innerhalb der Praktischen Theologie ist die Notwendigkeit gegeben, die Gleichsetzung einer spezifischen Sozialform organisierter Kirche mit dem christlichen Glauben zu vermeiden. 77 Für den Entwurf eines praktisch-theologischen Begriffs der Kirche, der dieser Anforderung gerecht wird, lassen sich nach den neueren kirchentheoretischen Monographien zwei Wege beschreiten: Der erste Weg ist ein pluriformer Kirchenbegriff, der in sich schon unterschiedliche Sozialformen einschließt (Beispiel: Hybrid Kirche und Kirche als Netz von Gemeinde an kirchlichen Orten). Mit diesem Kirchenbegriff muss dann allerdings noch in einem gesonderten Schritt der Blick über den Tellerrand der pluriformen Kirche auf die „globalen Muster individuellen Glaubens“ 78 getätigt werden. 79

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Zusammenhänge eingebunden) und Kontingenz (diese Zusammenhänge durchbrechend). Diese Spannungsfelder ergeben eine Vierfeld-Matrix und damit vier Typen von Religion, die in ihrer Substanz und Funktion unterschiedlich ausgeprägt sein können und darin typisierbar sind. Diese Typisierung verhindert eine vorschnelle Reduktion des Phänomens, umfasst sowohl kirchennahe und kirchenferne Religionsformen als auch spirituelle und nicht-spirituelle Religionsformen und integriert damit den substanzielle und den funktionalen Religionsbegriff. Dieser zweite Weg der Dimensionsforschung bzw. der Unterscheidung zwischen Typen von Religion scheint für eine multiperspektivisch angelegten Kirchentheorie der fruchtbarste zu sein. Wenn nun der Schwerpunkt dieser Arbeit, vor allem durch die methodische Anlage des empirischen Teils als quantitative Studie, mehr auf einem substanziellen Verständnis von Religion liegt, folgt aus dem beschriebenen multiperspektivischen Religionsverständnis, dass diese Herangehensweise unbedingt als ergänzungsbedürftig betrachtet werden muss (vgl. dazu 7.1.1 Der alte Streit: Qualitativ vs. Quantitativ). Hauschildt und Pohl-Patalong haben in genau dieser Doppelperspektive jeweils eine direkte (Kirche als Ort der Kommunikation des Evangeliums bzw. des christlichen Glaubens) und eine indirekte Variante (Kirche als Ort von Religion) der Aufgaben von Kirche entworfen. Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 418–419. Vgl. Grethlein, Kirche, 148 f. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 47. Das geschieht in der Kirchentheorie von Hauschildt und Pohl-Patalong v. a. im 2. Kapitel (Die gegenwärtige Situation der Kirche), im 5. Kapitel (Die Perspektive der Kirchenmitglieder?) und in Ausschnitten auch im letzten Kapitel zu Auftrag und Aufgaben der Kirche in der Welt. Die Tatsache, dass dieser Schritt dennoch immer gesondert zu gehen ist, führt möglicherweise zu dem von Ilona Nord bemängelten Ergebnis: „[. . . ] der Pol der Religion

Kirchentheoretische und praktisch-theologische Prämissen dieser Arbeit

Einen anderen, in meinen Augen noch vielversprechenderen Weg, hat Jan Hermelink eingeschlagen, wenn er seinen praktisch-theologischen Begriff von Kirche als „kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens“ bestimmt und damit bereits der Kirchenbegriff selbst die Offenheit für eine „Manifestation des Glaubens jenseits der Organisation“ beinhaltet 80. Wie bereits erwähnt, steht dieser Kirchenbegriff allerdings in der Gefahr einer systemtheoretischen Verengung. In einer Synthese aus beiden Ansätzen und unter Berücksichtigung der obigen Einsichten soll in dieser Arbeit Kirche als kontextuelle, pluriforme und funktionale Sozialgestalt des christlichen Glaubens bzw. von Religion verstanden werden. Für das Ziel dieser Arbeit, einen ersten Ansatz einer frei-evangelischen Kirchentheorie bzw. einen Beitrag zur Klärung der Identität Freier evangelischer Gemeinden oder dessen, was „typisch FeG“ ist, zu leisten, gerät mit diesem Kirchenbegriff nicht die Frage „Welcher Glaube gehört (noch) zur Kirche?“ in den Blick, sondern vielmehr „Wie zeigt sich der Glaube in Freien evangelischen Gemeinden?“ bzw. „Wie dient das frei-evangelische Kirchenmodell dem Glauben und lässt sich als Ort von Religion in der Moderne verstehen?“

1.2.5 Kirchentheorie als Erweiterung von Handlungsspielräumen Im Rahmen der Klärung dieser Fragen kann diese Arbeit allerdings nicht als Handlungsanleitung verstanden werden. Denn während eine Handlungsanleitung zum nachahmenden Handeln anleitet, befähigt die Kirchentheorie als Theorie zu eigenständigem Handeln sowie zum Nachdenken über das eigenständige Handeln und zu dessen Anpassung. Dieser Zusammenhang lässt sich gut am klassischen kybernetischen Dreischritt von 1. Wahrnehmen, 2. Urteilen und 3. Handeln aufzeigen: Wahrnehmen: Im Gang der aufgezeigten Entwicklung der gesamten Praktischen Theologie ist auch die Kirchentheorie um die möglichst umfassende Beschreibung bzw. Wahrnehmung ihres Handlungsfeldes, der Kirche als kontextueller, pluriformer und funktionaler Sozialgestalt des christlichen Glaubens bzw. von Religion, bemüht. Dementsprechend arbeitet Kirchentheorie – auch in dieser Studie – zunächst deskriptiv. Damit tritt der Charakter einer einheitlichen Theorie und Theologie zurück. Im Anschluss an Hauschildt und Pohl-Patalong weichen unfruchtbare normative Alternativen von richtiger und falscher Kirche der Beschreibung unterschiedlicher legitimer sozialer Formen und Gestalten des

erhält, soweit ich sehen kann, kein die Kirche konkret herausforderndes Gewicht.“ Nord, Lehrbuch, 234. 80 Hermelink, Kirchliche Organisation, 29.

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Grundlagen, Aufbau und Absicht einer frei-evangelischen Kirchentheorie

Glaubens. 81 Auf diese Weise kann Kirchentheorie „der impliziten Theologie, die sich bei den Menschen in Verhalten und typischen Sichten findet, einen größeren Raum geben.“ 82 Urteilen: Im nächsten Schritt wird die normative Dimension in die kirchentheoretische Arbeit explizit einbezogen, also, wie im Abschnitt zur Empirie gefordert, transparent und damit auch kritisierbar gemacht. Allerdings nimmt die hier betriebene Kirchentheorie im Anschluss an Hauschildt und Pohl-Patalong „die Urteilsbildung in der Praxis angesichts konkreter Situationen vor Ort nicht vorweg, aber liefert für sie situationenübergreifende Gesichtspunkte. Sie dient dazu, das Plurale auf seine Grundzüge zurückführen zu können und Chancen und Risiken bestimmter Handlungsoptionen einzuschätzen, damit dann im Einzelfall besonnener reagiert und kreativer für eine Situationen passendes Neues entwickelt werden kann.“ 83 Handeln: Dieser letzte Schritt nun setzt die beiden ersten notwendig voraus, ist aber schon Teil kirchenleitender Praxis selbst und nicht mehr Aufgabe der Kirchentheorie. Sie ist vielmehr bemüht, eben die Voraussetzung für diesen letzten Schritt zu schaffen. Ziel und Aufgabe der Kirchentheorie und damit auch dieser Arbeit wird somit nach Hauschildt und Pohl-Patalong sein, zu „zeigen, dass und wie solche Reflexionen und Beschreibungen für die Praxis darin ihren Sinn haben, dass sie nicht nur Ziele des Handelns begründen helfen, sondern auch die Handlungsspielräume erweitern.“ 84 Ganz im Sinne Schleiermachers bietet auch diese Kirchentheorie also „Kunstregeln“ für alle, die Kirche leiten. 85

81 Dabei ist allerdings unbedingt zu beachten, dass diese Zielsetzung dann doch wieder normativen Gehalt hat. Bei Hauschildt und Pohl-Patalong wird dieser normative Zug in ihrer Abhandlung zur Gemeinde besonders deutlich (Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 271– 284). Um hier „unfruchtbare normative Alternativen“ zu vermeiden, setzen sie normativ, dass nach bestimmten Kriterien auch nicht-parochiale Organisationsformen als Gemeinde zu bezeichnen sind. Sie bleiben sich insofern treu, dass sie unfruchtbare normative Alternativen vermeiden, aber genau darin liegt der normative Anspruch der gesamten Kirchentheorie von Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong. Auch in dieser Arbeit verbinden sich deskriptive und normative Züge, auf die ich explizit unter 1.4 Aufbau und Ziel dieser Arbeit eingehen werde. 82 Ebd. 52. 83 Ebd. 48 f. 84 Ebd. 52. 85 „Alle Vorschriften der praktischen Theologie können nur allgemeine Ausdrükke sein, in denen die Art und Weise ihrer Anwendung auf einzelne Fälle nicht schon mit bestimmt ist [. . . ] d. h. sie sind Kunstregeln im engeren Sinne des Wortes.“ Schleiermacher, Kurze Darstellung, 234.

Zu Aufbau und Absicht dieser Arbeit

1.3 Zu Aufbau und Absicht dieser Arbeit Diese Arbeit setzt es sich also erstens zum Ziel, denjenigen Wahrnehmungen und Urteile im o. g. Sinn zur Verfügung zu stellen, die handelnd in Freien evangelischen Gemeinden tätig sind und sich (hoffentlich) die Frage stellen, wie Kirche in ihrer frei-evangelischen Gestalt dem Glauben dienen kann. Für diese kirchenleitenden Aufgaben soll diese Arbeit eine Erweiterung von Handlungsspielräumen bieten. Zum zweiten will diese Arbeit aber auch über den Kontext Freier evangelischer Gemeinden hinaus Wahrnehmungen und Urteile dazu bereitstellen, wie Kirche in ihrer frei-evangelischen Gestalt im Vergleich zu anderen Formen von Kirche dem Glauben dienen kann, indem sowohl Freikirchen insgesamt als auch die EKD im Besonderen in die Ausführungen miteinbezogen werden. Und drittens zeigt diese Arbeit, in welcher Weise Kirche in ihrer frei-evangelischen Gestalt einen Ort für Religion in der Spätmoderne darstellt. Dabei lässt sich diese Arbeit nach ihrer Methodik grundsätzlich in zwei Teile gliedern, sie untersucht Freie evangelische Gemeinden zunächst historisch-analytisch (Teil A) und dann empirisch (Teil B). Der historisch-analytische Angang beginnt mit einer kirchentheoretisch fokussierten Geschichte Freier evangelischer Gemeinden, zum einen mit Blick auf die historischen Entstehungskontexte und ihre Wechselwirkung mit der Sozialgestalt von Kirche in FeGn und zum anderen anhand der Kategorien der Hybrid-Theorie, also Bewegung, Organisation und Institution (Kapitel 2). Anschließend wird die gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur von FeGn in Deutschland untersucht, inklusive der zwischenkirchlichen Vernetzung von FeGn. Dazu dienen zum einen Statistiken der Bundesleitung in FeGn und zum anderen die gültigen Ordnungen des Bundes (Kapitel 3). In einem nächsten Schritt wird dann in frei-evangelischer Tradition der Glaubensbegriff als kirchentheoretischer Vermittlungsbegriff eingeführt, expliziert und in seinem sowohl deskriptiven als auch normativen Potential für eine frei-evangelische Kirchentheorie fruchtbar gemacht (Kapitel 4). Der vierte Abschnitt von Teil A weitet dann die Perspektive der Untersuchung auf Freikirchen insgesamt, die zunächst typisiert werden und sodann auf die Differenzierungsprozesse der Moderne und gegenwärtige religionssoziologische Konzepte bezogen sowie abschließend in ihrer Sozialform für Religion in der Spätmoderne relevanztheoretisch ausgewertet werden (Kapitel 5). Zuletzt erfolgt eine Synthese der historisch-analytischen Untersuchung Freier evangelischer Gemeinden (Kapitel 6). Der empirische Teil B widmet sich ausführlich einer im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Mitgliedschaftsbefragung von FeG-Mitgliedern unter Einbezug einer Sekundäranalyse der Daten der V. KMU zu Vergleichszwecken. Zunächst wird dafür Anlage, Methodologie und Verlauf der FeG-Studie beschrieben, um die oben geforderte notwendige Transparenz empirischer Arbeit in der Prakti-

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Grundlagen, Aufbau und Absicht einer frei-evangelischen Kirchentheorie

schen Theologie zu schaffen (Kapitel 7). Die Erstellung eines Sozialprofils freievangelischer Gemeindemitglieder bildet den nächsten Schritt und bietet bereits eine erste, bisher nicht gegebene Wahrnehmungserweiterung im Blick auf FeGn (Kapitel 8). Die Schwerpunkte der empirischen Untersuchung finden sich dann zum einen mit der Auswertung zur formal-distinktiven Gemeindemitgliedschaft und der Frage „Wie wird man Gemeindemitglied in FeGn?“ (Kapitel 9) und zum anderen mit der Analyse zur graduell-qualitativen Mitgliedschaft und der Frage „Was macht es aus, Gemeindemitglied einer FeG zu sein?“ (Kapitel 10). 86 In einem weiteren Differenzierungsschritt werden dann die empirischen Daten zur Gemeindemitgliedschaft auf ihren Zusammenhang mit der Hybrid-Theorie hin untersucht und ausgewertet (Kapitel 11). Den Abschluss dieser Arbeit bildet eine kirchentheoretische Synthese der gesamten Untersuchung, an die zwei kirchentheoretische Erweiterungen aus frei-evangelischer Perspektive mit den Begriffen „Netzwerk“ und „Authentizität“ angeschlossen werden (Kapitel 12), die zuletzt dazu beitragen sollen, noch differenzierter wahrnehmen zu können, wie Kirche in Freien evangelischen Gemeinden in ihrer Kontextualität und Pluriformität dem Glauben dient.

86 Vgl. zur Unterscheidung zwischen formal-distinktiver und graduell-qualitativer Gemeindemitgliedschaft 09.1 Gemeindemitgliedschaft als formal-distinktive und qualitativ-graduelle Kategorie.

Teil A Eine historisch-analytische Darstellung Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland

2.

Eine kirchentheoretisch fokussierte Geschichte Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland

Sofern Kirchentheorie das Ziel hat, zu einem vertieften Verständnis von Kirche in der Gegenwart anzuleiten, muss sie sich auch auf die Geschichte der Kirche beziehen, denn „Gegenwart ist stets nur von der Vergangenheit her zu verstehen“ 1. Daher verwundert es nicht, dass in allen vier oben genannten kirchentheoretischen Monographien diese historischen Bezüge zu finden sind. Nichtsdestotrotz bieten alle vier Kirchentheorien nicht nur eine reine Kirchengeschichte, sondern erreichen durch eine kirchentheoretische Fokussierung der Kirchengeschichte immer ein Mehr für die kirchentheoretische Fragestellung selbst. Reiner Preul, der die Kirchentheorie als „Verbindungsstück zwischen Systematischer und Praktischer Theologie“ 2 versteht, konzipiert seinen historischen Teil dementsprechend noch maßgeblich als Dogmengeschichte, indem er sich auf die Ekklesiologie des Neuen Testamentes, der altkirchlichen Symbole, der reformatorischen Bekenntnisschriften und schließlich auf Luthers Einsichten bezieht. Auch bei Jan Hermelink findet sich ein solcher Bezug auf die historische Entwicklung der Ekklesiologie bis in die Gegenwart und über die Konfessionsgrenzen hinaus, zusätzlich aber noch ein dezidiert historisches Kapitel „Historische Organisationstypen“ 3. Hermelink schreibt also eine Kirchengeschichte als Organisationstypengeschichte, wobei er die jeweiligen Organisationstypen dann direkt auf ihre gegenwärtige Bedeutung hin befragt 4. Bei Hauschildt und Pohl-Patalong hat die historische Perspektive 5 vor allem die hermeneutische Funktion, zu zeigen, dass „die Wahrnehmung von Kirche es immer schon mit zeitlich und örtlich begrenzten Blickwinkeln zu tun hat“ und erst das Verstehen dieser Tatsache und der eigenen geprägten Wahr1 2 3 4

Grethlein, Kirchentheorie, 49. Preul, Kirchentheorie, 4 (Hervorhebung im Original). Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation, 125–173. Vgl. ebd. 125: „Die folgende Darstellung gibt einen historischen Längsschnitt einiger Organisationstypen, um die komplexe, mitunter verwirrende Prägung der gegenwärtigen Verhältnisse durchschaubar zu machen.“ 5 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 19–25.

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Eine kirchentheoretisch fokussierte Geschichte

nehmung ermöglicht „eine bislang eingenommene Position zu überschreiten.“ 6 Durch diese historische Relativierung dient sie also im Duktus des gesamten Werkes dem Ziel, einer vorschnellen normativen Gegenüberstellung von richtiger und falscher Kirche vorzubeugen. Grethlein dagegen schreibt ganz im Sinne seines praktisch-theologischen Begriffes von Kirche eine Kirchengeschichte als Kontextualisierungsgeschichte mit besonderem Fokus auf die Auswirkungen dieser Kontextualisierung auf Ämter und Struktur sowie auf Tauf- und Mahlpraxis 7. Auch diese Arbeit will einen solchen kirchentheoretisch fokussierten Blick in die Vergangenheit bieten, mit dem Ziel, dadurch die Gegenwart besser zu verstehen. Dabei soll dieser Blick allerdings auf die Geschichte Freier evangelischer Gemeinden beschränkt bleiben, nicht aus dem Grund, dass Freie evangelische Gemeinden nicht in das Ganze der Kirchengeschichte einzureihen sind – das sind sie als „Erben des Protestantismus“ und „Kinder der Reformation“ durchaus 8 – sondern lediglich aus dem Grund, dass den historischen Perspektiven von Preul, Hermelink, Hauschildt und Pohl-Patalong sowie Grethlein in Bezug auf die allgemeine Kirchengeschichte nichts Maßgebliches mehr hinzuzufügen ist. Erfreulicherweise stehen dem Fehlen praktisch-theologischer Ausarbeitungen zu Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland einige gründliche kirchengeschichtliche Veröffentlichungen gegenüber. 9 Wie in den anderen kirchentheoretischen Arbeiten kann und muss es nicht das Ziel dieser Darstellung sein, eine ausführliche Geschichte der Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland zu bieten. Stattdessen hat auch die historische Perspektive an dieser Stelle zwei Ziele. Sie will erstens denjenigen Leserinnen und Lesern einen knappen Überblick bieten, die mit dem Gegenstand und seiner Geschichte nicht besonders vertraut sind. Zweites soll sie einerseits mit Bezug auf die Kontextualität von Kirche, wie sie Christian Grethlein veranschlagt, die besonderen Kontexte der Entstehung dieser Kirchenform beleuchten und andererseits auch einen Wandel in der Sozialgestalt Freier evangelischer Gemeinden von der Bewegungs-Logik zur Organisations-Logik zur institutionellen Logik nachzeichnen. Dem liegen wiederum die HybridTheorie von Eberhard Hauschildt 10 sowie die Einsicht der Bewegungsforschung zugrunde, dass Bewegungen stets Entwicklungsphasen durchmachen, an deren Ende entweder die Institutionalisierung oder die Auflösung liegt. Dabei erreichen 6 7 8 9

Ebd. 25. Vgl. Grethlein, Kirchentheorie, 49–123. Vgl. Iff, Reformation, 132. Vgl. dazu besonders die beiden Monographien Heinrichs, Freikirchen und Weyel, Evangelisch und frei; den Zeitschriftenaufsatz von Heiser, Erneuerung sowie die Zusammenstellung wichtiger Quellen der Frühgeschichte: Dietrich, Ein Act des Gewissens 1 und Dietrich, Ein Act des Gewissens 2 und zuletzt darüber hinaus für die Entstehung von Freikirchen insgesamt: Voigt, Freikirchen. 10 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 11.1 Grundliegendes kirchentheoretisches Konstrukt: Hybrid Kirche.

Wurzeln und Kontexte – die Vorläufer und der Einbruch der Moderne (vor 1854)

allerdings die meisten Bewegungen schon die Phasen der Konsolidierung bzw. Bürokratisierung nicht, sondern lösen sich vorher auf. 11 Erst „wenn eine Bewegung erfolgreich ist, wandelt sie sich zu den Sozialformen von Institution und Organisation und löst sich als Bewegung auf. Bewegung wäre dann ein soziales Durchgangsphänomen“ 12. Neben einer Darstellung der Entstehungskontexte will der nächste Abschnitt nun also darlegen, inwiefern sich eine solche Erfolgsgeschichte im soziologischen Sinn auch in der Geschichte Freier evangelischen Gemeinden aufzeigen lässt. Dabei ist allerdings vorausgesetzt, dass die soziologische Kategorien Bewegung, Organisation und Institution Idealtypen darstellen, während soziale Phänomene in der Regel Mischformen dieser Idealtypen sind. Die drei Idealtypen haben in der folgenden Darstellung vor allem eine heuristische Funktion bezüglich der schwerpunktmäßigen Entwicklung bestimmter Logiken in der FeG-Geschichte. Für dieses Vorhaben scheint es nun nicht weiter begründungsbedürftig, dass eine historische Darstellung die Entstehungskontexte betrachtet. Demgegenüber könnte sich ein Durchgang durch die Geschichte Freier evangelischer Gemeinden anhand der Hybrid-Theorie dem Vorwurf des Anachronismus ausgesetzt sehen, wenn dabei umstandslos gegenwärtige sozialwissenschaftliche Modelle auf vormoderne bzw. moderne Sozialgestalten übertragen werden. Einerseits trägt das beabsichtigte Vorgehen dem Umstand Rechnung, dass sich Sachverhalte vergangener Zeiten nur mit Begriffen untersuchen lassen, „die nicht jener Zeit und jener Sprache entstammen, wenn man nicht einfach die Quellen nacherzählen will“ 13. Andererseits liegen die Wurzeln dieser Hybrid-Theorie und damit der differenzierten Betrachtung der Sozialgestalt von Kirche bei Ernst Troeltsch und seiner Trias von Sekte, Kirche und Mystik 14 gerade im 19. Jahrhundert selbst und lassen deshalb eine Anwendung dieser Theorie auf die Geschichte Freier evangelischer Gemeinden umso unproblematischer erscheinen.

2.1 Wurzeln und Kontexte – die Vorläufer und der Einbruch der Moderne (vor 1854) „Die Moderne ist auch der historische Raum für die Entstehung von Freikirchen. Freikirchen sind nicht einfach, wie häufig behauptet wird, Nachfolger von in der Reformationszeit oder gar noch früher entstandenen Gruppen, . . . sondern eine

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Vgl. dazu: Schnabel, Bewegung, 36 f. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 144 (Hervorhebung im Original). Gemeinhardt, Was ist Kirche, 20. Vgl. dazu: Troeltsch, Soziallehren. Eine hervorragende Zusammenfassung dieser Arbeit von Troeltsch bietet Hermelink, Kirchliche Organisation, 52–58.

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Eine kirchentheoretisch fokussierte Geschichte

Antwort des Protestantismus auf die moderne Welt“ 15. In diesem Zitat des Historikers Wolfang Heinrichs wird deutlich, dass sich die Entstehung Freier evangelischer Gemeinden von zwei Seiten betrachten lässt. So werden zum einen als Wurzeln immer wieder kirchliche Gruppierungen und Bewegungen wie die vorreformatorische Bewegungen, die Reformation selbst, die reformatorische Täuferbewegung, der frühe englische Kongregationalismus, der Pietismus sowie die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts aufgeführt, an die Freie evangelische Gemeinden zumindest indirekt anknüpfen. 16 Auf der anderen Seite plädiert Heinrichs dafür, die Entstehung von Freikirchen und damit auch der Freien evangelischen Gemeinden nicht nur als Anknüpfung an Vorangegangenes, sondern als spezifisch modernes Phänomen zu begreifen. 17 Beide Ansätze sollen nun hier Berücksichtigung finden, wobei der Blick zunächst auf die vorlaufenden Phänomene gerichtet wird und als zweites dann die Moderne als Entstehungskontext genauer in Betracht kommt.

2.1.1 Vorläufer Reformation Als erster Anknüpfungspunkt wird in der Regel die Reformation genannt. Neben den inhaltlichen Anknüpfungen an die Einsichten der Reformation, die im systematisch-theologischen Kapitel noch ausführliche Berücksichtigung finden sollen, sind es vor allem immer wieder der Bezug auf Luthers Vorrede zur Deutschen Messe von 1526 und die darin beschrieben Vorstellung von Gemeinde, die aufgegriffen werden. 18 Luther beschreibt dort eine „dritte Weise“ des Gottesdienstes: „diejenigen, so mit Ernst Christ sein wollen und das Evangelion mit Hand und Mund bekennen, müßten mit Namen (in eine Liste) sich einzeichnen und etwa in einem Hause allein sich versammeln“ 19. Zumindest in der Retrospektive sehen spätere frei-evangelische Autoren hier einen Vorläufer ihrer Vorstellung von Gemeinde: „Was Luther hier entfaltet, ist eine Freiwilligkeitsgemeinde bekennender Christen, die zu einem eigenen Gottesdienst zusammenkommen, aber auch Taufe und Abendmahl feiern sowie christliche Werke und Gemeindezucht nach der Regel Christi in Mt 18,15 f üben.“ 20

15 Heinrichs, Freikirchen, 16. 16 Vgl. dazu Weyel, Evangelisch und frei, 4. 17 Dass dieser Zusammenhang von Moderne und Entstehung Freier evangelischer Gemeinden bei Weyel deutlich unterbestimmt bleibt, zeigt sowohl das Fehlen eines ausführlichen Bezuges auf die Moderne in seinem Werk als auch beispielhaft folgende Einschätzung: „Ihr [der Gründung der erste FeG, M.S.] lag weder eine visionäre Eingebung zugrunde noch hatte sie religions-politische oder soziale Hintergründe.“ Ebd. 14–15. 18 Vgl. dazu ebd. 4; Bussemer, Die Gemeinde, 9 und Heiser, Erneuerung, 46. 19 Luther, Deutsche Messe, WA 19,75. 20 Iff, Reformation, 137.

Wurzeln und Kontexte – die Vorläufer und der Einbruch der Moderne (vor 1854)

2.1.2 Vorläufer englischer Independentismus Als ein weiterer, zumindest entfernter Vorläufer Freier evangelischer Gemeinden kann der frühe englische Independentismus gelten. Hier wurde bereits 1555 eine erste freie Gemeinde außerhalb der Anglikanischen Staatskirche gegründet, die als erstes Phänomen einer wachsenden Bewegung unabhängiger evangelischer Gläubiger und Gemeinden gesehen werden kann, der „Dissenters“. Diese bestanden aus denjenigen Gläubigen und Gemeinden, die sich aus Gewissensgründen der Alleinherrschaft der Episkopalkirche nicht unterstellen wollten. Für diese Bewegung spielte das kongregationale Kirchenverständnis eine maßgebliche Rolle, nach dem „die Ortsgemeinde das grundlegende und wesentliche Element von Kirche ist“ 21. Nichtsdestotrotz begnügte sich diese Bewegung nicht mit dem Entstehen von Einzelgemeinden. Unter Aufnahme der Föderaltheologie des Bremer Theologen Johannes Coccejus suchten die britischen Dissidenten den Zusammenschluss der Einzelgemeinden zu einem Bund („Convenant“) und begründeten dies mit der Ergänzungsbedürftigkeit der Einzelgemeinde und der notwendigen Bündelung von Kräften, die das Erreichen gewisser Ziele erst ermögliche. 22 Im sechsten Artikel der „Declaration of Faith and Order Owned and Practised in the Congregatinosal Churches in England“ aus dem Jahr 1658 wird allerdings sehr deutlich festgehalten, dass neben den Einzelgemeinden keine „zusätzlich von Christus verordnete Kirche oder Autorität“ bestehe, „die umfassender und zur Aufrechterhaltung seiner Anweisung mit mehr Macht ausgestattet wäre“ 23. Dem übergeordneten Bund kommt also für die Einzelgemeinde keine bindende Entscheidungsbefugnis zu. Dieses Bundesmodell beeinflusste dann über die Schweiz auch Freie evangelische Gemeinden in Deutschland, deren Körperschaft des öffentlichen Rechtes bis heute „Bund Freier evangelischer Gemeinden“ heißt.

2.1.3 Vorläufer Erweckungsbewegung Als dritter Vorläufer sei noch die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts und der Pietismus erwähnt, wobei erstere, insbesondere im deutschen Sprachgebiet, maßgeblich auf zweitem fußt. Einflussreich für die Erweckungsbewegung und damit indirekt auch für Freie evangelische Gemeinden sind das Herrenhutertum, der Biblizismus Württembergs, die Jesus-Mystik Tersteegens sowie angelsächsische Einflüsse. 24 Die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts versteht 21 22 23 24

Huxtable, Kongregationalismus, 452. Vgl. Weyel, Evangelisch und frei, 5. Zit. nach: Goodall, Der Kongregationalismus, 205. Vgl. Harkianakis / Iserloh u. a., Kirchengeschichte, 134.

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Eine kirchentheoretisch fokussierte Geschichte

sich selbst als Bewegung, deren Zentrum in der „individuellen Bekehrung zu lebendigem Heilsglauben in Absage an die gottlose ‚Welt‘“ 25 liegt. Sie kann im Sinne einer Intensivierung christlicher Lebenseinstellung als Gegenbewegung zur „moderaten Christlichkeit und zur distanzierten Kirchlichkeit, die sich im aufgeklärten Bürgertum ausbreitet“ 26, interpretiert werden. Ihre wichtigsten Kennzeichen sind, neben dem Fokus auf das individuelle Bekehrungserlebnis, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich wesentlich aus der „gemeinsamen Frontstellung gegen den modernen Säkularismus, insbesondere aus einem programmatischen Antirationalismus ergibt“ 27, eine eigentümliche Verschränkung von subjektivemotionaler Glaubenserfahrung und „Betonung der Objektivität der Glaubensfundamente“ 28 sowie die Gruppierung um Einzelpersönlichkeiten, starke Gemeinschaftspflege und eine Organisation in Vereinsstrukturen. Im Zusammenspiel mit diesen Vereinsstrukturen entwickelt die Erweckungsbewegung außerdem einen starken diakonischen Impuls. 29 Dabei lässt sich mindestens eine direkte Verbindungslinie von der Erweckungsbewegung zu Freien evangelischen Gemeinden ziehen: Aus der französischen Erweckungsbewegung „réveil“ ging unter der Leitung von Adolphe Monod 1832 die freie Gemeinde „Église évangélique de Lyon“ hervor, die später Hermann Heinrich Grafe zur Gründung der erste Freien evangelischen Gemeinde in Wuppertal inspirierte. Außerdem lassen sich zahlreiche Merkmale der Erweckungsbewegung in Freien evangelischen Gemeinden finden. So ist beispielsweise bis heute ein individuelles Bekehrungserlebnis maßgebliche Voraussetzung für eine Gemeindemitgliedschaft: „Mitglied der Gemeinde kann werden, wer bekennt, dass Jesus Christus sein persönlicher Retter und Herr geworden ist und dass er Vergebung der Sünden empfangen hat.“ 30

2.1.4 Die Moderne und der Mentalitätswandel als maßgeblicher Entstehungskontext Neben diesen vorlaufenden Phänomenen, die direkten und indirekten Einfluss auf die Entstehung Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland hatten, müssen nach Heinrichs, wie schon erwähnt, insbesondere die Moderne und der mit ihr einsetzende Mentalitätswandel als maßgeblicher Kontext miteinbezogen

25 26 27 28 29 30

Hauschild, Lehrbuch, 746. Ebd. 765. Ebd. 766. Ebd. Vgl. dazu ebd. 776–782. BFeG, Gemeindeordnung, 1.

Wurzeln und Kontexte – die Vorläufer und der Einbruch der Moderne (vor 1854)

werden. Andreas Heiser spricht sogar im Anschluss an Jan Hermelink 31, wenn auch etwas vorsichtiger als dieser, von der Mitte des 19. Jahrhunderts als einer „Achsenzeit“ für Freie evangelische Gemeinden 32, einer ereignisreichen Zeit also, die weitreichende kybernetische Konzepte hervorgebracht hat. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellt sich im Zuge der französischen Revolution und ihrer Folgen nicht nur das politische Europa völlig verändert dar, sondern mit der sich zeitgleich bahnbrechenden industriellen Revolution und ihren Auswirkungen befinden sich auch die Wissenschaft, die Kunst sowie das alltägliche Leben der Menschen im rasanten Wandel. Dabei findet sich gerade in dieser Beschleunigungserfahrung das prägende Moment einer neuen Generation. 33 Politisch vollzieht sich mit der Moderne nicht weniger als der Wandel vom hierarchisch-ständischen zum demokratischen Parteienstaat und die bürgerliche Mitbestimmung wird zum Ideal. In diesen Wandel ist auch einzuordnen, dass 1845, nach langer Verfolgung, die Altlutheraner in Preußen als erste Freikirche anerkannt werden und dass die verschiedenen Staaten etwas später, als Reaktion auf die Revolution 1848/49, staatsrechtliche Regelungen formulieren, die die Gründung von Religionsgemeinschaften außerhalb der bestehenden Kirchen ermöglichen. 34 Erst diese auf der Frankfurter Nationalversammlung geforderte Trennung von Staat und Kirche bereitet die rechtliche Grundlage für die Entstehung Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland. Der im Zuge der industriellen Revolution erfolgte wirtschaftliche Wandel von einem Agrar- zu einem Industriestaat hatte „einerseits eine langfristige Hebung des allgemeinen Lebensstandards, andererseits eine zeitweilige Verelendung von Teilen der Bevölkerung“ 35 zur Folge. Die Ursachen des unter dem Begriff „Pauperismus“ verhandelten Sachverhaltes waren das rasante Bevölkerungswachstum und die Notlage der Landbevölkerung, die beide zu einer „exorbitanten Ausdehnung der bisherigen Großstädte“ 36 führte, wobei hier die üblichen Betreuungsmechanismen von Staat und Kirche völlig überfordert waren. Die diakonischen Vereine und Initiativen, die sich hier bildeten und zu denen auch Freie evangelische Gemeinden gezählt werden können, lassen sich also als ein Reflex auf den sozialen Wandel, insbesondere in Industriezentren wie dem Wuppertal, verstehen. Im Bereich der Wissenschaft lassen sich zum einen das verstärkte Interesse an der Ökonomie, der Soziologie und vor allem an der Naturwissenschaft beobachten, die sich immer mehr zur Leitwissenschaft entwickelt 37, zum anderen tritt 31 32 33 34 35 36 37

Hermelink, Tendenzen, 145. Iff / Heiser u. a., Werkstattbericht, 9. Vgl. Gumbrecht, Modern, 109. Vgl. Heiser, Erneuerung, 53. Hauschild, Lehrbuch, 472. Ebd. 746. Vgl. ebd. 742.

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im Bereich der Geisteswissenschaft mit dem Historismus eine Betrachtungsweise hervor, die grundsätzlich relativierenden Charakter hat. 38 Dieser Relativierung in der Wissenschaft entspricht auch die Pluralisierung von Vorstellungen und Werten in der Lebenswelt der Menschen, die untrennbar mit dem modernen Phänomen der Individualisierung verbunden ist. Auch die gewaltigen technischen Fortschritte in Kommunikation und Mobilität beeinflussen das Alltagsleben der Menschen maßgeblich und prägen eine Mentalität des „Positivismus, Pragmatismus und Materialismus“, während „der Transzendenzbezug von Religion und Theologie, Kunst und Philosophie . . . in dem am normalen Leben orientierten Bewußtsein“ 39 zurücktritt und zunehmend eine „Dechristianisierung“ bzw. „Entkirchlichung“ 40 beklagt wird. Bei all diesen Umwälzungen kann es nicht ausbleiben, dass sich die Form der sozialen Organisierung entscheidend wandelt. Und in der Tat „findet sich auch eine organisatorische Entsprechung, die von der Gesellschaft im Zuge ihres Wandels von einer agrarisch-handwerklichen zu einer bürgerlich-industriellen entwickelt worden ist: der Verein.“ 41 Während vormodern der Organisationstyp der Anstalt bzw. Korporation vorherrschend war, der dadurch definiert ist, dass Mitgliedschaft und gesatzte Ordnungen „innerhalb eines angebbaren Wirkungsbereiches jedem nach bestimmten Merkmalen . . . oktroyiert werden“ 42, zeichnet sich der Verein als spezifisch moderne Organisationsform dadurch aus, dass „gesatzte Ordnungen nur für den kraft persönlichen Eintritts Beteiligten Geltung beanspruchen“ 43. Der Verein erfüllt nach Heinrichs „das Bedürfnis nach einer neuen Organisationsform . . . in der Auflösungsphase alter, überkommener oder nicht mehr wirksamer gesellschaftlicher Kooperationsformen und sozialer Beziehungen, wie der Korporation . . . , der bäuerlichen Dorfgemeinschaft und nicht zuletzt der Familie“ 44. Dabei steht der Verein von Beginn an in einem ambivalenten Verhältnis zum Staat, indem er zum einen in Frontstellung zur unterdrückenden und rückständigen Hierarchie des Staates Träger bürgerlicher Freiheit und Emanzipationsbemühung ist, zum anderen aber auch Individuen an gemeinnützigen Aufgaben beteiligt und in diesem Sinne „den Staat als organischen Körper“ 45 aufbaut. Auch die Kirche bleibt von dieser neuen Organisationsform sowie von den weiteren Umwälzungen und mit ihnen verbundenen Herausforderungen der

38 39 40 41 42 43 44 45

Vgl. Gumbrecht, Modern, 111. Hauschild, Lehrbuch, 742. Vgl. ebd. 745. Heinrichs, Freikirchen, 12. Weber, Grundbegriffe, 720. Ebd. 710. Heinrichs, Freikirchen, 13. Ebd. 14.

Entstehung einer Bewegung – Dynamiken bis zur Gemeindegründung 1954

Moderne nicht unberührt. Angesichts von Wertepluralismus, Hierarchiekritik, Emanzipationsbewegung, Bevölkerungsexplosion, Verstädterung, Pauperismus und Individualisierung stellt sich für die Kirche, analog zur Gesellschaft, die Frage nach Erneuerung und nach Anpassung an diesen neuen Kontext sowohl in theologischer als auch in organisatorischer Hinsicht. Allerdings erweisen sich die etablierten Kirchen im deutschsprachigen Raum dabei als „in auffälliger Weise institutionell stabil bzw. erstarrt“ 46. Die Organisationsform des Vereines bietet nun eine Reaktionsmöglichkeit auf die Moderne im Randbereich bzw. auch außerhalb der verfassten Kirchen, die sich eben insbesondere die Erweckungsbewegung sowie zahlreiche diakonische Initiativen zu Nutze machen. Als Beispiele seien die in Basel gegründete Deutsche Christentumsgesellschaft oder auch die „Innere Mission“ von Johann Hinrich Wichern genannt. Dabei ist, ganz im emanzipatorischen Duktus, von Beginn an der Anteil an Laien in diesen Vereinen relativ hoch, was ein „altes Gemeinde- und Amtsverständnis“ 47 durchbrach. In diesem Zusammenhang, also der Reaktion des Protestantismus auf die Umwälzungen und Herausforderungen der Moderne, kann nun auch die Gründung Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland gesehen und mit Heinrichs als „Antwort des Protestantismus auf die moderne Welt“ 48 interpretiert werden.

2.2 Entstehung einer Bewegung – Dynamiken bis zur Gemeindegründung 1954 Andreas Heiser versteht Freie evangelische Gemeinden ganz grundsätzlich als Erneuerungsbewegung, deren Erneuerung in der Auffassung besteht, „dass Gottes Wort erst da zu seinem Ziel kommt, wo es menschlichen Glauben weckt und im Gehorsam des Glaubens angenommen wird“ 49 und dass dieser Zusammenhang auch in der konkreten Gestalt von Kirche Ausdruck finden muss. Im Folgenden seien nun, nach dem Durchgang zum Entstehungskontext der Moderne, vier Momente dieser Bewegung beschrieben, die am 22. November 1854 in der Gründung der ersten Freien evangelischen Gemeinde im heutigen Wuppertal gipfelten: Der evangelische Brüderverein, außerkirchliche Abendmahlsgemeinschaften, die Gründerfigur Hermann Heinrich Grafe sowie schließlich der Kirchenaustritt Grafes und seiner Mitstreiter. 46 Grethlein, Kirchentheorie, 106. Nach Grethlein ergeben sich dadurch bzw. durch Anpassungen, die erst mit „erheblicher Verspätung“ geschehen, die Problemlagen, die bis heute in der Kirchentheorie diskutiert werden. 47 Heinrichs, Freikirchen, 16. 48 Ebd. 49 Heiser, Erneuerung, 46.

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2.2.1 Hermann Heinrich Grafe Typischerweise werden in Bewegungen „einzelne Individuen mit Charisma zu Kristallisationspunkten“ 50. Dementsprechend kann die Feststellung von Andreas Heiser zur frei-evangelischen Historik, dass das personengeschichtliche Modell in der Geschichtsschreibung Freier evangelischer Gemeinden das vorherrschende ist, auf dem Hintergrund der Hybrid-Theorie kirchentheoretisch schlicht als deutlicher Indikator für eine gewisse Vorrangstellung der Bewegungslogik in FeGn interpretiert werden. Fokussiert wird dabei vor allem die Gründerfigur Hermann Heinrich Grafe. 51 Dieser wurde am 3. Februar 1818 in Palsterkamp bei Bad Rothefelde im Süden Osnabrücks geboren. Seine Eltern waren Mitglieder der Lutherischen Kirche, gaben ihm aber „keine wesentlichen Impulse für sein späteres Christsein mit“ 52. Stattdessen ereignete sich seine Bekehrung – ganz im Sinne der Erweckungsbewegung – in seiner Jugendzeit in Duisburg „nach langem Kampf und intensivem Bibelstudium“ 53. Dort suchte er dann auch Anschluss an andere „erweckte“ Christen und fand einenpietistischen, von Tersteegen geprägten Kreis. Im Herbst 1841 besuchte Grafe im Rahmen einer Geschäftsreise, er war inzwischen ausgebildeter Kaufmann, Lyon und die dortige dissidente „Église libre évangélique“, die wiederum 1831 durch den reformierten Pfarrer und Erweckungstheologen Adolphe Monod gegründet worden war. Dort machte Grafe zwei für die weitere Entwicklung entscheidende Entdeckungen. Zum einen bildeten sich nach Grafes eigener Aussage während dieses Besuches maßgeblich seine Gedanken zur freien Gnade Gottes, die später das Zentrum seiner Ekklesiologie wurden 54, zum anderen gelangte er dort zur Einsicht, „dass es sehr verkehrt ist, dass Gläubige mit Ungläubigen zum Tisch des Herrn gehen“, weshalb er selbst „nur in separierten Gemeinden, wo kein anderer, als ein wahrhaft Gläubiger, soviel Menschen dies beurteilen können, Mitglied ist, und deshalb nur er zum Abendmahl zugelassen wird, dasselbe zu genießen“ 55. Beide Entdeckungen sah er vorbildlich im Lyoner Modell einer Freiwilligkeitsgemeinde independent-reformierter Prägung mit einem starken missionarisch-diakonischem Impetus und einem presbyterial geordneten Gemeindeleben verwirklicht.

50 Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 144. 51 Vgl. zu Grafe aber auch weiteren prägenden Persönlichkeiten der FeG-Geschichte besonders: Weyel, Zukunft braucht Herkunft sowie: Weyel, Zukunft braucht Herkunft II. 52 Weyel, Evangelisch und frei. 53 Weyel, Geschichte des Bundes, 21. 54 Vgl. dazu Kapitel 3.1. 55 Dietrich, Ein Act des Gewissens 1, 122. Adolphe Monod vertrat genau diese Ansicht bezüglich des Abendmahls und wurde letztlich wegen diesbezüglicher Äußerungen vom Amt suspendiert und aus der reformierten französischen Kirche ausgeschieden.

Entstehung einer Bewegung – Dynamiken bis zur Gemeindegründung 1954

In Folge dieser Einsichten nahm Grafe nach seiner Rückkehr nicht mehr am Abendmahl in der Landeskirche teil und drückte in einem Brief an sein Presbyterium die Bitte aus, dass er dieses von einem ordinierten Pastor „in einem engeren Kreise von gläubigen Freunden und Verwandten“ empfangen dürfe. Die NichtTeilnahme am gottesdienstlichen Abendmahl hinderte ihn aber nicht daran, sich ehrenamtlich als Diakon in der Reformierten Gemeinde zu engagieren. Dieses Amt kündigte er 1846 allerdings wieder auf, aus Enttäuschung über die Entscheidung zur Eintreibung der Kirchensteuer, die er als „unevangelisch, heidnische“ 56 Zwangsmaßnahme verurteilte. Von diesem Moment an verstand er seine Mitgliedschaft in der Landeskirche nur noch als „staatlich-bürgerlich“ 57. Danach festigten sich die Ideen Grafes unter anderem auf weiteren Reisen nach Basel, Bern, Lausanne, Genf und wieder Lausanne und brachten ihn zu der Überzeugung, „dass es zu einer solchen freien Gemeinde von Gläubigen kommen wird [. . . ], aber der Herr weiß und will die rechte Zeit der Reife; und so lange muss man sich gedulden.“ 58 Ganz in diesem Sinne blieb er bis zu seinem Austritt 1854 Mitglied der Landeskirche.

2.2.2 Der Evangelische Brüderverein Die in der Moderne entstandenen neuen organisatorischen Formen nutzen die Gründer des Evangelischen Brüdervereins, die diesen am 03. Juli 1850 als landeskirchlich ungebundenen Verein für Innere Mission ins Leben riefen und der als zweites Moment der Bewegung gelten kann 59, die zur Gründung Freier evangelischer Gemeinden führte. Typischerweise bilden sich Bewegungen der modernen Gesellschaft als „Ausdruck einer Problemlage, die die etablierten Institutionen und Organisationen nicht ausreichend wahrgenommen haben“. 60 Dieser Typisierung entsprechend war es die erklärte Absicht des Brüdervereins, den Auflösungserscheinungen von Staat und Kirche mit der Verbreitung evangelischer Werte durch die „Verkündigung des lauteren Evangeliums“ 61 entgegenzuwirken, da dies die Möglichkeiten der verfassten Kirche übersteige. Dabei war es den Gründern des Brüdervereins von Beginn an ein Anliegen, klarzustellen, dass ih-

56 57 58 59

Ebd. 142. Ebd. Ebd. 198. Dementsprechend ist der Verein bei Weyel auch als „Wegbereiter“ betitelt, vgl. Weyel, Evangelisch und frei, 7. 60 Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 144. 61 Satzung des Evangelischen Brüdervereins vom 3. Juli 1850, § 1, zitiert nach Horn, Brüderverein, 232.

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nen jede „konfessionelle Färbung“ fremd sei. 62 Dementsprechend schlossen sich ihm Mitglieder verschiedener Denominationen an. Ganz typisch für eine Bewegung ignorierte damit auch der Brüderverein vorherrschende institutionelle und organisatorische Grenzen. Einer der Mitgründer und baldige Vorsitzende des Vereins war der eben beschriebene Elberfelder Kaufmann und Textilfabrikant Hermann Heinrich Grafe, der auch als einer der „Sendboten“ des Vereins den freien Auftrag zur Evangelisierung der Gesellschaft erhalten hatte. Sendboten (auch: „Vereinsboten“ oder „Bibelboten“) waren Gesandte des Vereins, die ohne besondere Ausbildung zum Ziel der „Verkündigung des lauteren Evangeliums“ Haushalte besuchten, Traktate verteilten sowie öffentliche Bibelstunden hielten und nach Heiser als eine Art „proletarische Avantgarde“ 63 gelten konnten. Durch diese Sendboten, die ebenfalls im Sinne der Bewegungslogik als charismatische Kristallisationspunkte gesehen werden können, gelang es dem Verein unter anderem auch, von der Amtskirche distanzierte, sozial minderprivilegierte Gruppen zu erreichen. 64 Neben Grafe sind als solche einflussreichen Mitglieder noch Carl Brockhaus (1822–1899) und Heinrich Neviandt (1827–1901) zu nennen. Die Wirksamkeit des Vereins erstreckte sich im Laufe der Zeit über weite Teile Westdeutschlands bis nach Hessen und auf den Hundsrück.

2.2.3 Außerkirchliche Abendmahlsgesellschaften Aus der Arbeit des Evangelischen Brüdervereines entstanden zahlreiche Gruppen und Gemeinschaften, die gemeinsam mit anderweitig gebildeten erwecklichen Kreisen sowohl aus inhaltlichen Beweggründen als auch durch ihnen von Kirche und Staat entgegengebrachtem Misstrauen und Provokationen eine zunehmende Distanz zur Volkskirche entwickelten. Diese Gruppen sahen es im Sinne des allgemeinen Priestertums als ihr Recht an, auch Abendmahl zu feiern. Diese außerkirchlichen Abendmahlsgemeinschaften steigerten dann wiederum, durch ihre ganz offensichtlich das kirchliche Amtsverständnis hinterfragende Praxis sowie ein „weitgehend unsakramentales Abendmahls- und Taufverständnis“ 65, die Skepsis von Staat und etablierter Kirche.

62 Koch, Brüderverein, 5–7. 63 Iff / Heiser u. a., Werkstattbericht, 16. 64 Vgl. dazu Horn, Brüderverein, 215: „Dabei ist sicherlich der Umstand von Bedeutung gewesen, daß einfache Menschen zu einfachen Menschen in volkstümlicher Sprache redeten, und es den Brüdern anzumerken war, daß sie nicht um des Geldes oder anderer Zwecke willen ihren Dienst erfüllten.“ 65 Weyel, Evangelisch und frei, 10.

Entstehung einer Bewegung – Dynamiken bis zur Gemeindegründung 1954

Entsprechend der Vorwürfe an das volkskirchliche Modell waren für die Zugehörigkeit zu diesen Abendmahlsgemeinschaften, wie auch zur Zulassung zum Abendmahl selbst, das persönliche Glaubensbekenntnis und eine vorangegangene Bekehrung entscheidend. Nach Selbstverständnis dieser Gemeinschaften handelte es sich bei diesen Gruppenbildungen allerdings nicht um Sektiererei, stattdessen wurde darauf hingewiesen, dass diese „ein notwendiger Akt des Gehorsams gegen Gottes Wort“ 66 darstellen.

2.2.4 Austritt und Gemeindegründung Sowohl der Evangelische Brüderverein als auch die außerkirchlichen Abendmahlsgemeinschaften können als eine Form des Protests der Bewegung um Hermann Heinrich Grafe gegen die etablierte Kirche verstanden werden, der als Kennzeichen jeder Bewegung gilt. 67 Da dieser Protest offensichtlich nicht die erhoffte Wirkung zeigte und darüber hinaus Bewegungen „einen organisatorischen Kern“ 68 benötigen, war es im Laufe dieser Dynamiken aus soziologischer Sicht der nächste logische Schritt, dass mit der Gründung der ersten Freien evangelischen Gemeinde ein solcher Kern gebildet wurde und mit der endgültigen Abspaltung gleichzeitig eine aggressivere Form des Protest gewählt wurde, die in der Konsequenz dann auch zu einer erhöhten kollektiven Identität führte. So kommt es auch in einem Protokoll zur Vorversammlung zur Gemeindebildung vom 15. 11. 1854 zum Ausdruck: Verschiedene Brüder in Elberfeld und Barmen haben schon seit mehreren Jahren unter dem Eindruck gestanden, daß es nicht dem Worte Gottes gemäß sei, wenn das Mahl des Herrn, welches er doch für seine Jünger eingesetzt hat, in der Volkskirche auch von Ungläubigen ohne Unterschied genossen wird. – Bei der Frage wie diesem Uebelstande auf Grund des Wortes Gottes abzuhelfen sei, mußten jene Brüder leider erkennen, daß die Grundlage und Zusammensetzung von National-Kirchen ihnen nicht die Hoffnung geben könnte, je eine Besserung der Verhältnisse verwirklicht zu sehen, solange man den Ungläubigen mit dem Gläubigen infolge einer Massen-Konfirmation gleiches Recht gestattet. – Es haben deshalb mehrere Brüder schon zu verschiedenen Zeiten untereinander den Wunsch geäußert, eine Gemeinde von Gläubigen, getrennt von der Welt, ins Leben zu rufen, resp. treten zu sehen. 69

Nach seinem Austritt aus der Landeskirche strebte Grafe zunächst den Anschluss an die Baptistengemeinde in Barmen an, allerdings scheiterten die Gespräche mit 66 67 68 69

Ebd. 11. Vgl. Schnabel, Bewegung, 36. Ebd. Zit. nach Heinrichs, Freikirchen, 377 f.

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Julius Köbner am Taufverständnis. Also gründete Grafe am 22. November 1854 die erste Freie evangelische Gemeinde in Barmen und orientierte sich dabei an Namen, Glaubensbekenntnis und Verfassung der 1848 gegründeten „Églisé évangélique à Genève“. Dementsprechend musste, wer Mitglied der Gemeinde sein wollte, „sich mit den Grundsetzen derselben einverstanden erklären und durch sein Leben bezeugen, dass er die von ihr bekannten Heilswahrheiten des Evangeliums an dem eigenen Herzen erfahren hat“. Die Aufnahme in die Gemeinde fand erst nach „Ablegung eines freien persönlichen Bekenntnisses und einer genauen Prüfung von Seiten des Vorstandes durch Zustimmung der Gemeinde statt“. Neben diesem organisationstypischen Grenzziehungsmechanismus Mitgliedschaft wurden in dieser Gemeindeverfassung von 1854 außerdem Rollen (Ältesten- und Diakonenamt), „Gelegenheitsstrukturen“ 70 (Brüderversammlung), Ressourcenakquise (freiwillige Beiträge der Mitglieder) sowie Ziele (Erbauung der Gemeinde, Bekehrung der Ungläubigen) festgehalten. Dabei wurde neben dem im Vergleich zur verfassten Kirche neuartigen Mitgliedschaftsmechanismus inhaltlich, unter Rekurs auf das allgemeine Priestertum, vor allem Wert darauf gelegt, keine Hierarchien einzuführen und die festgelegten Ämter, die anders als beispielsweise bei den Darbyisten durchaus als legitim und sogar notwendig betrachtet wurden, rein funktional als „Dienstverrichtungen“ zu verstehen. 71 In diesem Sinn wurde im April 1855 dann auch der Theologe Heinrich Neviandt in sein Amt als Prediger und Lehrer der Gemeinde eingeführt.

2.3 Organisationswerdung – Gründung des BFeG (ab 1874) und Etablierungsphase (ab 1919) Ausgehend von der Gründungsgemeinde in Elberfeld-Barmen entstanden in den Außenbezirken bald weitere Abendmahlsgemeinschaften, die sich dann zu Freien evangelischen Gemeinden weiterentwickelten. Dieser Wachstumsprozess evozierte vor allem in der Gründungsgemeinde in Elberfeld-Barmen das Bedürfnis, die gebildeten Gemeinden zu unterstützen und die Einheit dieser Gemeinden zu pflegen. In diesem Zusammenhang kam es im September 1874 zu einer „Konferenz von Abgeordneten auswärtiger Abendmahlsgemeinschaften“ in der Muttergemeinde in Elberfeld und Barmen, an der 39 Vertreter aus inzwischen 22 Gemeinden teilnahmen. 70 Schnabel, Bewegung, 36. 71 Vgl. Art. 5 der Gemeindeverfassung von 1854 „Wiewohl die Gemeinde den sogenannten geistlichen Stand als unevangelisch verwirft, hält sie doch an den nach Gottes Wort berechtigen Ämtern (Dienstverrichtungen) vollkommen fest [. . . ]“, zit. nach: Weyel, Evangelisch und frei, 272.

Organisationswerdung

2.3.1 Vereinigung von Freien evangelischen Gemeinden und Abendmahlsgemeinschaften Als Ziel dieser und weiterer Konferenzen wurde die „Verbindung der einzelnen Abendmahlsgemeinschaften“ festgelegt sowie „sich untereinander mit den empfangenen Gaben zu dienen, zu raten und hilfreiche Hand zu bieten“ 72. Schon auf dieser ersten Konferenz wurde gleichzeitig beschlossen, dass auch in dieser gemeindeübergreifenden Organisationsform keine Hierarchien Einzug halten sollen und deshalb „die Unabhängigkeit der einzelnen Gemeinschaft so weit gewahrt werden soll, als es überhaupt möglich ist“ 73. Diese auf der Gründungskonferenz der „Vereinigung von Freien evangelischen Gemeinden und Abendmahlsgemeinschaften“, wie sie schon etwas später hieß, vereinbarten Grundsätze haben in Teilen bis in die Gegenwart des Bundes Freier evangelischer Gemeinden bestand und prägten dementsprechend auch die weitere Entwicklung dieses Zusammenschlusses freier, selbständiger und eigenverantwortlicher Gemeinden im Sinne des kongregationalistischen Modells zwischen „Independenz und Interdependenz“ 74. In der Folge wurden dann auch für diesen Bund organisationstypische Rollenverteilungen vorgenommen. So wurde neben dem Präses ein leitender Ausschuss gewählt, mit Vorsitzendem, Schriftführer und Rechnungsführer, wobei dieser Ausschuss eine Art Exekutive in Wuppertal bildete, sowie ein vollzeitlicher Bundespfleger berufen, der Gemeinden besuchen und beraten sollte. Auch über ein gemeinsames Liederbuch sowie eine Zeitschrift wurde nachgedacht. 1875 wurden dann die „Leitenden Grundsätze“ veröffentlicht, „die man als eine Art Bundesverfassung verstehen konnte“ 75 und in denen die beiden Organisationszwecke formuliert wurden, nämlich erstens „sich in dem gemeinsamen Glauben an den Herrn Jesum und in der Liebe zu allen Kindern Gottes zu stärken“ und zweitens die innere Einigkeit im Geist „äußerlich darzustellen“. Sowohl unter dem Zweck der praktischen Hilfestellung als auch im Blick auf eine äußere Darstellung der inneren Einheit lässt sich auch das bereits 1877 und 1881 den Gemeinden des Bundes vorgelegte „Statut“ für die Ortsgemeinde, eine Art Musterverfassung, verstehen.

72 73 74 75

Gründungsprotokoll vom 30. 09. 1874, zit. nach: Ebd. 39. Gründungsprotokoll vom 30. 09. 1874, zit. nach: Ebd. Weyel, Geschichte des Bundes, 39. Weyel, Evangelisch und frei, 40.

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Eine kirchentheoretisch fokussierte Geschichte

2.3.2 Einheit und Vielfalt – die Krise im Bund und neue Initiativen Mit der Vereinigung Freier evangelischer Gemeinden und Abendmahlsgemeinschaften war etwas entstanden, das mehr als eine kleine lokale Bewegung darstellte, nämlich eine demokratisch-kongregationalistisch-strukturierte kirchliche Organisation. Bereits in ihrer Frühphase war diese Organisation aber maßgeblich von der von Weyel immer wieder beschriebenen Spannung zwischen Independenz und Interdependenz, Selbstständigkeit der Ortsgemeinde und Einheit des Bundes oder, kirchentheoretisch gesprochen, zwischen der Vorrangstellung der Gruppen-/Bewegungs-Logik und der Organisationslogik geprägt und ist dies bis in die Gegenwart. Solche Spannungen und Flügelkämpfe sind wiederum typisch für den Übergang einer Bewegung zur Organisation. 76 An dieser Spannung entzündete sich auch die sogenannte Krise im Bund. Es waren maßgeblich der zweite Prediger der Gemeinde in Elberfeld-Barmen, Friedrich Koch, und der ehemalige Bote des Brüdervereins und inzwischen berufener Prediger in der Gemeinde in Witten, Friedrich Fries, an denen sich diese Krise entzündete. Fries stand dem baptistischen Taufverständnis nahe und hatte dementsprechend in Witten eine Erwachsenentaufe zur Voraussetzung für die Aufnahme in die Gemeinde gemacht und sich dabei auf die Selbstständigkeit der Ortsgemeinde berufen. Dementsprechend stand die „Wittener Richtung“ auch in der Folge für die Tendenz zur stärkeren Betonung der Selbstständigkeit der Ortsgemeinde, während die „Wuppertaler Richtung“ mit Koch stärker für eine konkrete Äußerung der Einheit der Gemeinden plädierte. Erreichen wollte Koch diese Einheit unter anderem durch die Behauptung einer Vorrangstellung der Wuppertaler Muttergemeinde sowie möglicherweise auch durch eine presbyterial-synodale Struktur, „durch welche die Ortsgemeinden an Beschlüsse des Bundes gebunden würden, um somit eine stärkere organisatorische Einheit zu bilden“ 77. Der Bundesausschuss entschied sich für die „Wittener Richtung“ und damit für die Betonung der Selbstständigkeit der Ortsgemeinde vor einer äußeren Darstellung innerer Einheit bzw. für den Vorrang der Bewegungs-/Gruppenlogik vor der Organisationslogik. In der Folge trat Koch, selbst Mitglied des Ausschusses, aus diesem zurück, außerdem trat die Muttergemeinde Elberfeld-Barmen zeitweise aus dem Bund aus. Zu einem Ende kam diese Krise erst durch den Tod Kochs, woraufhin auch die Gemeinde in Elberfeld-Barmen wieder Teil des Bundes wurde. Trotz der deutlichen Betonung der Selbstständigkeit der Ortsgemeinde kamen die nächsten entscheidenden Initiativen für die Entwicklung des Bundes aus Witten bzw. von Friedrich Fries selbst. Zunächst wurden weitere Bundespfleger be76 Vgl. Schnabel, Bewegung, 37. 77 Weyel, Evangelisch und frei, 46.

Organisationswerdung

rufen, um die Gemeinden in ihrem Auftrag zu unterstützen und die Einheit im Bund zu fördern. Dann wurde 1887 eine Verlagsbuchhandlung in Witten ins Leben gerufen (ab 1922: Bundes-Verlag), über die Fries ab 1893 eine Zeitschrift für Freie evangelische Gemeinden mit dem Name „Der Gärtner“ (ab 1992: „Christsein Heute“) herausgab, die bis heute verlegt wird und schon nach kurzer Zeit (1895) zum offiziellen Organ des Bundes Freier evangelischer Gemeinden avancierte. Neben dem Gärtner erschienen dort auch Literatur zu Gemeindefragen, ein Blatt für Sonntagsschulen sowie 1898 das Gesangbuch „Geistliche Lieder“ und 1930 der „Gemeindepsalter“. 1896 gründete Fries außerdem, nach einigen Startschwierigkeiten und auch Vorbehalten in der Bundesgemeinschaft, einen Diakonieverein in Wetter, der 1928, nach 30 Jahren, bereits 105 Diakonissen zählte. Seit 1927 hat das Diakonische Werk Bethanien e. V. seinen Sitz in Solingen-Aufderhöhe. 1904 wurde von einem Freund und Mitarbeiter von Fries, Otto Schopf, mit dem Evangelisationswerk (ab 1965: Inlands-Mission) ein weiteres Bundeswerk ins Leben gerufen, mit dem Ziel zu evangelisieren und Gemeinden zu gründen. Im Rahmen seiner Arbeit im Evangelisationswerk stellte Schopf immer wieder fest, dass gut ausgebildete Prediger fehlten. Schopf kam in Kenntnis der beiden in Deutschland bereits bestehenden freikirchlichen Predigerseminare der Methodisten und Baptisten zu der Überzeugung, „dass die Ausbildung von Pastoren und Evangelisten nicht anderen überlassen werden dürfe, sondern schon aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus in die Hand des eigen Bundes genommen werden müsse.“ 78 Nach erneut erheblichen Widerständen, vor allem aus Wuppertal, gelang es Otto Schopf dann im April 1912, die Predigerschule (seit 2012: Theologische Hochschule Ewersbach) zu eröffnen, die aber erst 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, wirklich eingerichtet werden konnte. Zu Bundes-Verlag, Diakonischem Werk, Evangelisationswerk und Predigerschule kamen bald noch Außen-Mission („Allianz Mission“), die Immobiliengesellschaft „Gemeinwohl“ sowie die Spar- und Kreditbank hinzu. All diese Initiativen, vor allem aus Witten, beförderten das „Werden zu einer sich strukturierenden (frei-)kirchlichen Körperschaft“ 79. Trotz seiner klaren Bemühungen für die Wahrung der Selbständigkeit der Ortsgemeinde war offensichtlich auch Fries und der „Wittener Richtung“ die Bundesgemeinschaft und die Weiterentwicklung des Bundes ein Anliegen. Allerdings suchte er dies nicht hierarchisch-strukturell nach der Logik einer Organisation zu erreichen, vielmehr schienen bei ihm Gruppen- und Organisationslogik nicht in direkter Konkurrenz zu stehen. Stattdessen lässt sich das Vorgehen Fries am ehesten netzwerktheoretisch fassen, indem er durch die Bundeswerke einzelne Knotenpunkte des Netzwerks „Bund Freier evangelischer Gemeinden“ etabliert, 78 Ebd. 55. 79 Ebd. 51.

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die nicht in Konkurrenz zu den Netzwerkakteuren „Ortsgemeinde“ standen oder ihnen hierarchisch vorgeordnet waren, sondern als zentrale Knoten dazu dienten, die Netzwerkdichte zu erhöhen. Dieser Durchgang zeigt zweierlei: Zum einen ist im Bund Freier evangelischer Gemeinden trotz klarer Organisationsförmigkeit die Gruppen-/Bewegungslogik so stark ausgeprägt, dass bis heute einzelne Persönlichkeiten, wie damals beispielsweise Friedrich Fries und Otto Schopf, maßgeblichen Einfluss auf Diskurse und Entwicklungen in Bund und Gemeinden haben. Zweitens stellt sich heraus, dass die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Selbstständigkeit der Ortsgemeinde und äußerlich dargestellter Einheit, also der Verhältnisbestimmung von Vielfalt und Einheit Freier evangelischer Gemeinden, eine der zentralen Fragestellungen einer frei-evangelischen Kirchentheorie darstellt. Diese Frage wurde in der Krise des Bundes nicht ausführlich geklärt, taucht deshalb in der weiteren FeG-Geschichte immer wieder auf und stellt wohl auch gegenwärtig eine der drängendsten Fragen im Blick auf die zukünftige Entwicklung des Bundes und seiner Gemeinden dar. Hier könnte möglicherweise eine netzwerktheoretische Perspektive Antworten für das Kirchenmodell in FeGn bereithalten. 80

2.3.3 Ein wachsender Bund mit neuem Selbstverständnis und neuen Fragen in der Weimarer Republik Durch das Ende des Ersten Weltkriegs und der Monarchie und durch die Einrichtung der Weimarer Republik änderte sich der Kontext Freier evangelischer Gemeinden maßgeblich, was zu neuen Fragestellungen bezüglich des Umgangs mit diesem neuen Kontext führte. 81 Das betraf insbesondere die demokratische Weimarer Verfassung mit ihrer weitgehenden Trennung von Kirche und Staat, die insbesondere für kleine Religionsgemeinschaften mehr Rechte vorsah, wie im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung gefordert: Die Zeit, wo kleine Religionsgemeinschaften amtlich missachtet wurden, ist jetzt grundsätzlich vorbei. [. . . ] Sie sind von Staat und Kirche bisher gleichzeitig unfreundlich behandelt worden. Das hat aufzuhören. Es haben aufzuhören diese Kirchhofquerelen, wo herumgebettelt werden musste, ob irgendein freigemeindlicher Geistlicher einen seiner Brüder oder einen seiner Schwestern bestatten dürfe oder nicht. Was ist das für eine Vorzeitlichkeit, den Friedhof immer noch als Quelle des Unfriedens zu betrachten?! Es muss auch aufhören, dass die aus der Kirche ausgetretenen Mitglieder der kleinen Gemeinden gezwungen werden, ihre Steuern an eine Kirche weiter zu zahlen, aus der sie ausgetreten

80 Vgl. dazu 12.2.1 „Bund Freier evangelischer Gemeinden“: Kirche als Netzwerk von Ortsgemeinden und Gläubigen. 81 Vgl. dazu besonders: Roßkopf, Systemwechsel.

Organisationswerdung

sind. [. . . ] Da es keine Staatskirche mehr gibt, so sind alle Nebenkirchen gleicher Ehre. Sie sollen in der Republik ihr Recht haben, und das soll man ihnen geben. 82

Entsprechend dieser Forderung gab es mit dem Artikel 137 der Weimarer Verfassung für jede Religionsgemeinschaft die Möglichkeit, den Status Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erlangen, wie ihn zu diesem Zeitpunkt bereits die beiden großen Kirchen, die jüdische Kultusgemeinde, sowie Altlutheraner, Herrnhuter, Baptisten und Mennoniten innehatten 83. Auch wenn Freie evangelische Gemeinden – trotz eigener „demokratischer Erfolgsgeschichte“ 84 – in nationalkonservativer Manier in distanziertem Verhältnis zur Weimarer Republik blieben, boten sich ihnen mit der Aussicht auf Körperschaftsrechte doch enorme Möglichkeiten. So erhoffte man sich mit diesem Schritt nicht nur die Überwindung der Stigmatisierung als Sekte sowie eine Gleichstellung von Landeskirche und Freikirchen zu erreichen, sondern konnte eben auch gegenüber dem Staat und anderen gesellschaftliche Institutionen als rechtsfähiger Partner Anerkennung finden, anstatt wie bisher nur privatrechtlich eingestuft zu sein. Um also diese Möglichkeiten zu prüfen und voranzubringen, wurde 1920 von der Bundeskonferenz auf Antrag der Bundesleitung ein Rechtsausschuss ins Leben gerufen, der einen Antrag auf Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts beim zuständigen Ministerium vorbereiten und stellen sollte. Dieser Schritt ergab sich dabei nicht nur aus dem veränderten Kontext, sondern auch aus einem neuen Selbstverständnis des Bundes, der im Jahr 1920 bereits 100 Gemeinden mit rund 10.000 Mitgliedern zählte, sich also allein zwischen 1908 und 1920 verdoppelt hatte. Nicht nur aus dem quantitativen Wachstum sondern schon allein aus der Tatsache, dass man sich gezwungen sah, einen eigenen Rechtsausschuss zu bilden, lässt sich deutlich schließen, dass der als Bewegung gestartete Bund Freier evangelischer Gemeinden auf dem Weg zu einer auf Dauer gestellten kirchlichen Organisation war, auch wenn diese Sicht aus der Binnenperspektive noch lange ignoriert und sogar verneint wurde. Während die Bundesleitung den Schritt des Antrages auf Körperschaftsrechte klar befürwortete und diesbezüglich auch die Initiative ergriffen hatte, gab es aus den Gemeinden erheblichen Widerstand. Man befürchtete durch den neuen Rechtsstatus und die damit verbundene Privilegien eine Einmischung des Staates und damit eine Gefährdung der independentistischen Grundsätze. Darüber hinaus wehrte man sich ganz grundsätzlich gegen eine mit den Körperschaftsrechten einhergehenden Institutionalisierung bzw. Verkirchlichung. So habe, wie

82 So die Forderung des ehemaligen evangelischen Pfarrers Friedrich Naumann im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung. Zit. nach: Strübind, Unfreie Freikirche, 50. 83 Vgl. dazu: Robbers, Landeskirchen und Freikirchen. 84 Roßkopf, Systemwechsel, 131.

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der Gärtner kommentiert, „Christus nicht eine rechtlich verfasste Anstalt oder Körperschaft des öffentlichen Rechts gegründet sondern das Reich Gottes“ 85. Diese Einwände wogen schließlich so schwer, dass die Stimmung im Bund kippte, auch durch Verzögerungen bei der Antragsstellung von Seiten des Ministeriums, der Rechtsausschuss seinen Antrag zurückzog und nun den Weg über das Vereinsrecht anstrebte. Dementsprechend bildeten viele Gemeinden dann Vereine mit Satzungen und Vorständen, um Immobilien zu sichern oder Mitverträge abschließen zu können und auch der Bund selbst erhielt 1925 durch die Eintragung in das Vereinsregister in Elberfeld die Rechtsstellung eines eingetragenen Vereins. Unabhängig davon und unter massiven Androhungen von Konsequenzen, die letztlich aber nicht zur Umsetzung kamen, wurde schon 1924 dem Bund Freier evangelischer Gemeinden in Thüringen durch das Land Thüringen die Körperschaftsrechte verliehen. Diese Entwicklungen und Auseinandersetzungen zeigen, wie unterbestimmt die kirchentheoretische Reflektion in FeGn blieb. So wurde die Notwendigkeit einer äußeren sozialen Gestalt von Kirche schlicht verneint oder ignoriert und gleichzeitig – ohne Reflektion ihrer kirchentheoretischen und ekklesiologischen Implikationen – der Verein als eine eben solche Gestalt gewählt. Dadurch „übernahmen sie [FeGn, MS] auch öfter vereinsrechtliche Gepflogenheiten in den geistlichen Angelegenheiten, was zu ekklesiologischen Deformationen führen konnte und nicht selten auch passierte“ 86, wie schon Weyel bemerkt. Der Integration einer verstärkt institutionellen Logik in das Kirchenmodell Freier evangelischer Gemeinden wurde damit aber zunächst Einhalt geboten. Dieselbe Problemlage zeigte sich in der Debatte um die Bedeutung der neuen Bundesverfassung von 1922. Im Zuge der Selbstklärung im Rahmen der veränderten Rechtslage sowie in Vorbereitung auf den später zurückgezogenen Antrag auf Körperschaftsrechte wurde vom Rechtsausschuss eine solche Verfassung erarbeitet und vom Bundestag 1922 verabschiedet. Allerdings gab es auch hier große Widerstände gegen eine Verfassung und jede Art von Formalismus, sodass sowohl im Vorwort zur Verfassung als auch in der Verfassung selbst explizit gegen eine Verrechtlichung und Institutionalisierung vorgegangen wurde: „Das Besondere der Freien evangelischen Gemeinden besteht darin, dass sie eine in übergeordnete Behörden gegliederte ‚Kirche‘ nicht sein will.“ 87 Dennoch ist Weyel beizupflichten, dass gerade mit dem Schritt einer formulierten Verfassung der Bund „endgültig den Weg zum Ausbau einer eigenen institutionell gefestigten Denomination“ 88 beschritt.

85 86 87 88

Der Gärtner 37/1923, S. 555, zit. nach: Weyel, Evangelisch und frei, 99. Ebd. 100. Zit. nach: Ebd. 105. Ebd. 109.

Anfänge einer Institutionalisierung

2.4 Anfänge einer Institutionalisierung – Aufbrüche nach 1945 und neuere Entwicklungen seit 1960 Im Folgenden sei nun dieser Weg der Institutionalisierung Freier evangelischer Gemeinden, die im Blick auf Gesamtdeutschland inzwischen über 200 Gemeinden und knapp 20.000 Mitglieder zählte, in ihrer ganz speziellen Eigenart nach 1945 beschrieben. Leitend sollen dabei, neben dem rechtlichen Status des BFeG, drei von Hauschildt benannte Bereiche sein, in denen sich eine Entwicklung zur Institution niederschlägt 89 und die sich auch in der weiteren Geschichte Freier evangelischer Gemeinden ausmachen lassen: das Amtsverständnis, die Lehre sowie kirchliche Rechtsordnungen. 90

2.4.1 Verleihung der Körperschaftsrechte Als vielleicht deutlichstes Zeichen der Entwicklung institutioneller Züge in Freien evangelischen Gemeinden kann die Beantragung und spätere Verleihung der Körperschaftsrechte für den Bund gelten. Nachdem in den zwanziger Jahren diesbezüglich noch scharf debattiert und ein Antrag schließlich abgewendet wurde, sprach man auf dem Bundestag im Juni 1950 „ruhig und sachlich“ darüber und gelangte gar zum „einmütigen Beschluss“ 91 die Rechte zu beantragen. Für den FeG-Bund in der DDR erfolgte 1952 die informelle Gewährung der Körperschaftsrechte. Der West-Bund erhielt die offizielle Verleihung im Mai 1956 durch das Land Nordrhein-Westfalen, sowie später Hessen und Hamburg. Wohl um kein erneut größeres Aufsehen zu erregen, wurde diese Nachricht auf dem Bundestag 1956 nur am Rande erwähnt und dabei direkt wieder relativiert: „Man sei zwar dankbar für diesen Erfolg nach jahrelangen Bemühungen, aber das, was Bund und Gemeinden zu tun hätten, solle nicht durch die Körperschaftsrechte geschehen, sondern durch den Geist Gottes.“ 92 Die Verleihung der Körperschaftsrechte an den Bund FeG ist insofern ein Indiz für institutionelle Züge, als Institutionen immer in einem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang gesehen werden müssen. In Bezug auf den Bund FeG bestand dieser Funktionszusammenhang darin, dass er (zusammen mit anderen Freikirchen) unter den veränderten Bedingungen der Moderne für einen nicht unerheblichen Teil der Gesellschaft eine dieser Moderne entsprechende Religi89 Zur Unterscheidung zwischen Organisation und Institution vgl. 11.1.2 Kirche als Institution sowie 11.1.3 Kirche als Organisation. 90 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 158. 91 Der Gärtner 27/1950, 397, zit. nach: Weyel, Evangelisch und frei, 153. 92 Ebd. 102.

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onsausübung ermöglichte und aufgrund ebendieser auf Dauer gestellten Funktion für die Gesellschaft vom Staat die öffentlich-rechtliche Stellung sowie einige eigentlich dem Staat vorbehaltene Hoheitsrechte übertragen bekam. Möglicherweise auf Grund der großen Skepsis in den Gemeinden im Vorlauf auf die Verleihung der Körperschaftsrechte wurden nun in Bezug auf die Wahrnehmung der konkreten Rechtsmöglichkeiten deutliche Einschränkungen vorgenommen. So wurden aus dezidiert theologischen Gründen auf die Einziehung von Kirchensteuern sowie auf die sogenannte Dienstherrenfähigkeit verzichtet. Gleichzeitig wurden anderen Privilegien voll ausgenutzt, wie die Vergünstigung bei Steuern, Abgaben und Gebühren, die Beurkundungsbefugnis, Mitspracherechte in öffentlichen Gremien, strafrechtlicher Schutz für Titel und Amtsbezeichnungen, Vollstreckungsschutz, Rücksicht auf die besonderen kirchlichen Belange nach dem Bundesbaugesetz sowie das kirchliche Selbstbestimmungsrecht.

2.4.2 Leitsätze zur Taufe Neben dem Funktionszusammenhang von Institutionen ist es eine der Grundeinsichten der Institutionentheorie, dass Institutionen der Reduktion von Entscheidungsmöglichkeiten dienen und den Menschen, der nach Arnold Gehlen im Vergleich zum Tier nicht mit einem Instinktapparat ausgestattet und deshalb in hohem Maße umweltoffen ist, vom dauerhaften Entscheidungsdruck entlasten. In diesem Zusammenhang kann auch das Entstehen einer Lehre in religiösen Institutionen betrachtet werden, die vom dauerhaften Entscheidungsdruck befreit, was denn nun zu glauben sei. Mit einer solchen institutionellen Entlastung durch das Festlegen einer Lehre sah sich auch der Bund Freier evangelischer Gemeinden konfrontiert und veröffentlichten deshalb 1982 zehn „Leitsätze zur Taufe in Freien evangelischen Gemeinden“ 93. Hintergrund waren die sehr unterschiedlichen Taufverständnisse und -praxen in FeGn: „Die Variationen reichten von der Zulassung der Kleinkindertaufe, dem Verzicht auf jegliche Taufe, dem Ersatz der Wassertaufe durch eine spiritualisierte ‚Geisttaufe‘, einer Individualisierung der rein symbolisch verstandenen Taufe als freier Gewissensentscheidung des Einzelnen bzw. als unbedingtem Gehorsamsakt über ein nahezu sakramentalistisches Verständnis der Taufe bis hin zu einer baptistisch geübten Glaubenstaufe im Zusammenhang mit der Gemeindeaufnahme.“ 94 War in der Verfassung der ersten FeG in Wuppertal noch in Artikel 17 festgehalten worden, dass „erst dann jemand zur Taufe zugelassen werden soll,

93 BFeG, Taufe. 94 Weyel, Evangelisch und frei, 196.

Anfänge einer Institutionalisierung

wenn er vorher gläubig geworden ist und seinen Glauben bekannt hat“ und „deshalb die Kindertaufe und ebenso die Wiedertaufe für eine Ausnahmen von der apostolischen Regel“ 95 gehalten wurde, änderte man diesen Artikel schon 1863 und behielt ihn später auch in der Musterverfassung für die Ortsgemeinde im Zuge der Bundesverfassung bei: es sei „dem Geiste der evangelischen Freiheit gemäß“ 96, dem gläubigen Individuum zu überlassen, wie man nach persönlicher Überzeugung mit der Taufe umgehen würde. Die Leitsätze zur Taufe sollten dieser „Taufnot“ im institutionellen Sinn einer Lehre nun abhelfen, wobei im Text selbst genau das verneint wurde: „Die Leitsätze sind nicht als ‚Tauflehre‘ im Bund Freier evangelischer Gemeinden zu verstehen, sondern als Orientierungshilfe in der Gemeinde und im gegenwärtigen zwischenkirchlichen Gespräch.“ 97 Sie hielten den persönlichen Glauben als Voraussetzung für die Taufe fest und darüber hinaus, dass „eine Taufhandlung, bei der der persönliche Glaube des Täuflings fehlt, nicht als Taufe“ angesehen wird. Weiter heißt es: Darum ist die Taufe aufgrund des Glaubens keine Wiedertaufe. Taufe ist unwiederholbar. Wenn jemand bereits als Säugling getauft wurde und aufgrund einer vor Gott getroffenen Gewissensentscheidung darin seine Taufe sieht, wird diese Überzeugung geachtet. [. . . ] Alle christliche Lehrbildung geschieht unter dem Vorbehalt, dass unsere Erkenntnis Stückwerk ist. Das gilt auch für das Taufverständnis in Freien evangelischen Gemeinden. 98

Dass die Leitsätze zur Taufe schlussendlich aber doch den Sinn einer institutionellen Lehre erfüllten – auch wenn sie dies explizit nicht sein sollten und eine solche Lehre tatsächlich in einem kongregationalistischen Bund nicht hierarchisch verordnet werden kann –, zeigt die große Einigkeit bezüglich der Frage nach dem Taufzeitpunkt in der Mitgliederbefragung trotz heterogener kirchlicher und gemeindlicher Hintergründe der Mitglieder. 99 Dabei waren die Leitsätze zur Taufe nur die erste Verlautbarung der Bundesleitung, der bis heute weitere folgten.

2.4.3 Amtsverständnis im Wandel und Ansätze eines Kirchenrechts Gegründet von einem Wuppertaler Kaufmann waren FeGn von ihrem Beginn an eine Laienbewegung, die sich aber dennoch auf Dienstämter angewiesen sah. Dementsprechend wurde in der Verfassung der ersten FeG konstatiert: „Wiewohl 95 Verfassung der Freien evangelischen Gemeinde Elberfeld-Barmen von 1854, Art. 17, zit. nach: Ebd. 237. 96 Musterverfassung für die Ortsgemeinde 1922, Artikel 17, zit. nach: Ebd. 295. 97 BFeG, Taufe, 1. 98 BFeG, Taufe, 1. 99 Vgl. 10.3.1 Liturgische Interaktion Gottesdienst und Kasualien.

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Eine kirchentheoretisch fokussierte Geschichte

die Gemeinde den sogenannten geistlichen Stand als unevangelisch verwirft, hält sie doch an den nach Gottes Wort berechtigen Ämtern (Dienstverrichtungen) vollkommen fest [. . . ]“ 100. Das pastorale Amt wurde dabei in diese Dienstverrichtungen eingeordnet und vom Amt der Ältesten her begründet. Bis in die 1970er Jahre war für das pastorale Amt der Begriff „Prediger“ üblich, der häufig mehrere Gemeinden betreute und dort eben für Predigt und Lehre zuständig war, während die Leitung der Gemeinde den Ältesten oblag. Seit den 1970er Jahre bürgerte sich dann der Begriff des „Pastors“ ein, mit dem eine deutliche Erweiterung des Aufgabenprofils und in machen Gemeinden ganz offensichtlich auch ein verändertes Amtsverständnis einherging, welches das Pastorenamt nun vom Apostelamt ableitete. In diesem Sinne hieß es in einer umstrittenen Stellungnahme der Bundesleitung von 2007: „Mit dem Pastorendienst ist eine Lehr- und Leitungsautorität verbunden, die über die Ältesten hinausgeht.“ 101 Zwar lehnte eine große Mehrheit ein solches Amtsverständnis ab, dennoch scheint nach Weyel „die Gefahr einer schleichenden Veränderung zu einer hierarchischen Positionierung des Pastors nicht überwunden zu sein“ 102. Markus Iff warnt gar, dass eine „starke Betonung der Leiterschaft [. . . ] zu einer überzogenen Mystifikation und Überhöhung führen“ und ein „für Freikirchen untypisches Amtsdenken nach sich ziehen“ könne. Soziologisch gesprochen scheint sich hier der Wandel von einer nach Organisationslogik streng zweckrational eingerichteten Rolle („Dienstverrichtung“) hin zu einem „Sicherheit, Ordnung und Stabilität“ 103 verheißenden institutionellen Amt zumindest anzudeuten. Auch die zarten Anfänge eines Kirchenrechts in Freien evangelischen Gemeinden stehen im Zusammenhang mit dem Amtsverständnis. Waren lange Zeit die Bundesverfassung und die Mustergemeindeordnung die einzigen juristischen Texte, entstand in den 1990er Jahren Klärungsbedarf bezüglich der Berufung von Pastoren. Dementsprechend wurden 1984 im Bundestag „Leitlinien zur Praxis der Predigerberufung im Bund“ verabschiedet. Darin fanden sich unter anderem der Einbezug der Bundesleitung bei einer Pastorenberufung durch eine Ortsgemeinde sowie die Unterscheidung zweier Status, nämlich „Pastor im Bund“ sowie „nicht Pastor im Bund“, anhand einiger Kriterien und mit praktischen und rechtlichen Folgen für die Berufenen (beispielsweise Stimmrecht im Bundestag). 1995 wurde als nächstes eine „Ordnung für Dienstanfänger“ sowie eine „Ordnung für die Dienstgemeinschaft der FeG im Bund“ verabschiedet. 2002 kam es dann zu einer „Ordinationsordnung für Pastorinnen / Pastoren“, die die Verlei100 Vgl. Art. 5 der Gemeindeverfassung von 1854, zit. nach: Weyel, Evangelisch und frei, 272. 101 Vorlage der Bundesleitung für den Bundestag am 15. 09. 2007 zum Thema „Dienst von Frauen als Pastorinnen in Freien evangelischen Gemeinden“, zit. nach: Haubeck / Heinrichs, Pastorinnen, 228. 102 Weyel, Evangelisch und frei, 210. 103 Gukenbiehl, Institution und Organisation, 148.

Anfänge einer Institutionalisierung

hung der Berufsbezeichnung juristisch an den Bund als Körperschaft des öffentlichen Rechts band, Dienstverpflichtungen des Pastors / der Pastorin sowie das besondere Treueverhältnis zwischen Bund und Amtsträger betonte und Vorschläge für die liturgische Gestaltung des Ordinationsgottesdienstes enthielt. Darüber hinaus wurde gleichzeitig eine „Schiedsordnung“ verabschiedet, die bei Kündigung von PastorInnen statt eines möglichen Verfahrens vor einem Arbeitsgericht ein innerkirchliches Schiedsverfahren vorsah. Die Einführung zunehmender rechtlicher Regelungen wurde immer auch von Kritik begleitet. Die Ordinationsordnung selbst begründet dies ohne jegliche theologische Reflexion als Anpassung an den gesellschaftlichen Kontext, die theologische Perspektive wird lediglich unverbunden vorgeschoben: „Sie [die Ordinationsordnung, MS] geht von einem Gemeinde- und Pastorenverständnis aus, das sich am Wort Gottes orientiert. Zugleich trägt sie der Entwicklung des Bundes und seiner Gemeinden in einer immer stärker von rechtlichen Ordnungen bestimmten Gesellschaft Rechnung.“ 104 Weyel dagegen schließt daraus: Wegen zunehmender Regelungen ist auch die Frage nicht von der Hand zu weisen, ob sich der FeG Bund und die Gemeinden in eine Art ‚nachapostolische Zeit‘ begeben oder sich bereits darin befinden könnten. Daher werde die Frage immer unabweisbarer, ob der Bund sich auch zu seiner Art ‚frühkatholischer Kirche‘ entwickeln werde, ob er zu einer ‚Pastorenkirche‘ werde. Die Anfragen beruhen auf der Sorge, dass der FeG-Bund einem vermeintlich unabänderlichen Gesetz der Kirchwerdung, der Institutionalisierung, der Absicherung, der Verrechtlichung geistlicher Strukturen ausgeliefert sein und damit sein ekklesiologisches Proprium verlieren könnte. 105

Allerdings wird auch dieser institutionelle Zug durch die letztliche Selbstständigkeit der Ortsgemeinde und die nicht-hierarchische Struktur in der Praxis deutlich abgeschwächt, wie es ein Kommentar zu den Leitlinien für die Berufung von Pastoren im Berichtsheft zum Bundestag 2012 beschreibt: „Der Bundestag hat 1984 folgende Leitlinien für die Berufung von Pastoren verabschiedet, die allerdings hinsichtlich der Zusammenarbeit von Bundesleitung und Ortsgemeinde nur teilweise gelebt werden.“ 106 Darüber hinaus kann bezüglich der inzwischen zahlreichen Ordnungen weder in der PastorInnenschaft, aber noch weniger in den Ortsgemeinden ein hoher Bekanntheitsgrad vorausgesetzt werden. Auch im Studium an der Theologischen Hochschule in Ewersbach finden sie keine ausführliche Beachtung.

104 BFeG, Ordinationsordnung, 1. 105 Weyel, Evangelisch und frei, 212. 106 BFeG, Berichtsheft zum Bundestag 2012 des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, 105.

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Eine kirchentheoretisch fokussierte Geschichte

2.5 Zusammenfassung: Eine moderne Kirchenform und ein Hybrid in besonderer Konstellation Dieser kirchentheoretisch fokussierte Durchgang durch die Geschichte Freier evangelischer Gemeinden hat nun zum einen gezeigt, inwiefern Freie evangelische Gemeinden als „Antwort des Protestantismus auf die moderne Welt“ 107 verstanden werden können. So liegen ihre Wurzeln nicht nur in zahlreichen dieser Zeit entstammenden Entwicklungen und Bewegungen, wie der Reformation (freie Gnade, allgemeines Priestertum), dem englischen Independentismus (Kongregationalismus, Bundesgedanke), der Erweckungsbewegung und dem Pietismus (Betonung der individuellen Bekehrung), sondern es lassen sich darüber hinaus zentrale Merkmale ihrer Kirchenform auf den Mentalitäts- und Gesellschaftswandel in der Moderne zurückführen, wie das Vermeiden von Hierarchien, die Betonung des Individuums, die vereinsförmige Organisation sowie die missionarischen und diakonischen Initiativen als Reaktion auf Entkirchlichung und Pauperismus. Zum anderen hat der Durchgang die Entwicklung Freier evangelischer Gemeinden im Blick auf ihre Sozialgestalt aufgezeigt. Dabei wurde deutlich, dass in FeGn eine ganz besondere Konstellation der drei Logiken des Hybrid-Modells vorliegt und sich tatsächlich ein Verlauf von der Bewegung über die Organisation bis hin zur Institution nachzeichnen lässt. Die Besonderheit des frei-evangelischen Kirchenmodells, wie es sich in der historischen Betrachtung zeigt, scheint darin zu liegen, dass durch die Selbstständigkeit der Ortsgemeinde und die Ablehnung jeglicher Hierarchie sowohl die organisatorische als auch die institutionelle Logik deutlich relativiert werden und am Ende beide im Dienst der Bewegungs-/Gruppenlogik der Ortsgemeinde stehen, was zwar zu Lasten der Darstellung von Einheit aber zu Gunsten von Vielfalt und Kontextualität der Gemeinden geht.

107 Heinrichs, Freikirchen, 16.

3.

Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur Freier evangelischer Gemeinden

Im kirchengeschichtlichen Durchgang ist bereits deutlich geworden, dass die Geschichte Freier evangelischer Gemeinden, wie die jeder Kirche, immer wieder von der Diskussion um konkrete Organisations- und Rechtsstrukturen begleitet war. Dabei fanden sich in FeGn von Beginn an zumindest große Vorbehalte gegenüber einer Beschäftigung mit äußeren Strukturen und rechtlichen Fragen. Das wurde beispielsweise in der Debatte um eine Bundesverfassung beschrieben: „Eine äußere Verfassung komme nämlich immer dann ins Spiel, wenn die innere Verfassung fehle. Die Volkskirche lebe vom Kirchenrecht, die Gemeinde Gottes aber sterbe daran.“ 1 Solche Stimmen sind allerdings nicht nur in Freien evangelischen Gemeinden erhoben worden, sondern auch in gemäßigterer Form in aktuellen Diskursen in der Evangelischen Kirche in Deutschland. 2 Grund dieser Anfragen und Diskurse ist die Doppelgestalt von Kirche als theologische und soziologische Größe, wie sie beispielsweise in der Ordinationsordnung des BFeG zum Ausdruck kommt: „Sie [die Ordinationsordnung, MS] geht von einem Gemeinde- und Pastorenverständnis aus, das sich am Wort Gottes orientiert. Zugleich trägt sie der Entwicklung des Bundes und seiner Gemeinden in einer immer stärker von rechtlichen Ordnungen bestimmten Gesellschaft Rechnung.“ 3 In dieser Doppelgestalt gibt es Kirche nicht ohne Strukturen bzw. Ordnungen. Die Frage ist nun lediglich, ob diese formaler oder informeller Natur sind und damit gleichzeitig, inwiefern ihnen bewusste Reflexions- und Gestaltungsprozesse vorausgehen oder ob es sich lediglich um unbewusst-intuitiv gewachsene Strukturen handelt. Eine Kirchentheorie, die sich als Theorie zur Reflexionsaufgabe macht, beide Dimensionen von Kirche, sowohl die vorfindlich „irdische“ als auch die theologisch „geistliche“ diskursiv aufeinander zu beziehen, muss dies

1 So paraphrasiert Weyel eine Aussage des FeG-Theologen Heinrich Neviandt in der Debatte um die erste Bundesverfassung: Weyel, Evangelisch und frei, 108. 2 Vgl.: Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 246. 3 BFeG, Ordinationsordnung, 1.

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Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur

insbesondere auch im Bereich der Ordnungen und Organisationsstruktur durchführen. Erst eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesen befähigt zur nachvollziehbaren theologischen Beurteilung solcher Ordnungen und Strukturen und damit zu einer bewussten Gestaltung dieser Strukturen und Ordnungen, sodass diese dem Glauben dienen. Denn wie für die gesamte Kirchentheorie, muss diese funktionale Ausrichtung von Kirche auf den Glauben auch das Kriterium dafür sein, ob eine kirchliche bzw. gemeindliche Struktur oder Ordnung mehr oder weniger angemessen ist. Dazu soll nun zunächst die Mitglieder- und Gemeindestruktur aus der Statistik der Bundesleitung Berücksichtigung finden sowie daraufhin die Organisations- und Rechtsstruktur Freier evangelischer Gemeinden anhand der maßgeblichen gegenwärtig gültigen Ordnungen erläutert werden. Die Bedeutung dieser Ordnungen ist allerdings noch vor ihrer Vorstellung deutlich einzuschränken: Es sind zwar erstaunlich viele Bereiche der Arbeit des Bundes über Ordnungen geregelt, aber zum einen durch die erwähnten Vorbehalte gegenüber solchen Ordnungen und zum anderen schlicht durch Unkenntnis dieser sowohl auf Seite der PastorInnen als auch der Mitglieder, sind Schlussfolgerungen von den Ordnungen auf die Gemeindepraxis nicht unbedingt möglich. 4

3.1 Mitglieder- und Gemeindestatistik Ein maßgeblicher Faktor bei der Frage nach Ordnung und Struktur einer sozialen Entität ist ihre Größe. Systemtheoretisch gesprochen geht mit einer höheren Zahl an Elementen eines Systems und damit ihrer möglichen Relationen eine höhere systemimmanente Komplexität einher, die wiederum zur Komplexitätsreduktion komplexerer Strukturen und Ordnungen bedarf. Während kleinere Sozialformen wie Gruppen und Bewegungen häufig nur über informelle Strukturen bzw. Ordnungen funktionieren, ist das bei großen Organisationen und Institutionen nicht möglich. Auf diesem Hintergrund ist auch die Entwicklung der Mitgliederzahlen und Anzahl der Gemeinden im Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland von Interesse. Dabei können zum einen die von Hartmut Weyel zusammengetragenen Zahlen aus den Berichtsheften und dem Bundesarchiv des BFeG und zum anderen die Bundesstatistik der Jahre 2011, 2013, 2015 und 2017 herangezogen werden. 5 Neben den Mitgliederzahlen und ihrer Entwicklung sol4 Vgl. dazu beispielhaft den Kommentar des ehemaligen Präses des BFeG Peter Strauch zur Geschichte der Ordinationsordnung: „Der Bundestag hat 1984 folgende Leitlinien für die Berufung von Pastoren verabschiedet, die allerdings hinsichtlich der Zusammenarbeit von Bundesleitung und Ortsgemeinde nur teilweise gelebt werden.“ BFeG, Berichtsheft, 105. 5 Die Bundesstatistik, die von der Bundesleitung für diese Arbeit freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde, wird alle zwei Jahre in Verantwortung des Geschäftsführers des Bun-

Mitglieder- und Gemeindestatistik

len aber auch noch einige andere Aspekte Berücksichtigung finden, die die gegenwärtige Gestalt Freier evangelischer Gemeinden beschreiben. Nach der aktuellsten Bundesstatistik hatte der BFeG in seinen Ortsgemeinden im Jahr 2017 41.787 Mitglieder in 482 Gemeinden. Insgesamt können Freie evangelische Gemeinden sowohl bezüglich der Mitgliederanzahl als auch der Anzahl der Ortsgemeinden seit ihrer Gründung 1854 bis auf einen minimalen Rückgang in den 1970er Jahren ein kontinuierliches Wachstum von durchschnittlich 2,87 % pro Jahr verzeichnen (vgl. Abbildung 1). Dabei fällt auf, dass die durchschnittliche Gemeindegröße in den letzten 100 Jahren nur minimal variiert und das Wachstum der Mitgliederzahl des Bundes damit auf die gestiegene Anzahl der Gemeinden zurückzuführen ist. 600 500 400 300 200 100 0 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2017 Anzahl Mitglieder in 100

Anzahl Gemeinden

Durchschnittliche Gemeindegröße

Abbildung 1: Mitglieder- und Gemeindeentwicklung im BFeG

Bei der geographischen Verteilung von Gemeinden und Mitgliedern zeigt sich eine sehr deutliche Konzentration im Westen Deutschlands, gefolgt von Süd und Nord, während sich die Lage im Osten mit lediglich 5 % der Mitglieder und 44 Gemeinden ähnlich prekär darstellt wie in anderen Kirchen auch (vgl. Abbildung 2). 6 Im Blick auf die räumliche Verteilung auf Stadt und Land stellt sich die Lage dagegen ziemlich ausgeglichen dar: auf Gemeinden in Land- und Kleinstädten (< 20.000 Einwohner), in Mittelstädten ( 100.000 Einwohner) entfallen jeweils ungefähr ein Drittel der Mitglieder (vgl. Abbildung 3). Der Durchschnitt von 87 Gemeindemitgliedern pro Ortsgemeinde ergibt sich aus 13 % der Gemeinden, die weniger als 50 Mitglieder haben, der großen Mehrdes über einen Fragebogen aus den Mitgliedsgemeinden erhoben und bietet durch den hohen Rücklauf von nahezu hundert Prozent eine verlässliche Datengrundlage zur Mitgliederentwicklung der letzten Jahre. 6 Vgl. EKD, Kirchenmitgliederzahlen. Stand 31. 12. 2018, 3.

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Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur

Mitglieder Süd 21%

Mitglieder Nord 13%

Mitglieder West 61%

Mitglieder Ost 5%

Abbildung 2: Geographische Mitgliederverteilung

Mitglieder Großstadt/ Metropole 37%

Mitglieder Landstadt/ Kleinstadt 32%

Mitglieder Mittelstadt 31%

Abbildung 3: Mitgliederverteilung nach Stadtgröße

heit (62 %) mit zwischen 50 und 200 Mitgliedern und 25 % der Gemeinden mit über 200 Mitgliedern (vgl. Abbildung 4). Die Frauenquote unter den FeG Mitgliedern liegt mit 56,0 % um 1,1 Prozentpunkte über dem Anteil der Frauen in der EKD und 5,3 Prozentpunkte über dem der deutschen Bevölkerung. 7 Neben den 41.787 ordentlichen Mitgliedern erfasst die Statistik für das Jahr 2017 darüber hinaus noch 18.686 Freunde 8 sowie 9.429 Kinder, also in der Summe 69.902 Gemeindebesucher. Die Zahl der Gottesdienstbesucher entspricht mit 42.375 in etwa der Zahl der Mitglieder, wobei laut Statistik 28.372 (67 %) dieser Gottesdienstbesucher Mitglieder sind und die übrigen wohl aus Freunden und Gästen bestehen. Damit besuchen laut Bundestatistik 67,8 % der Mitglieder den Sonntagsgottesdienst. An dieser Zahl manifestiert sich sehr deutlich der Un7 Vgl. ebd. 6. 8 Zur Kategorie „Freunde“ siehe 3.2 Die Ortsgemeinde.

Mitglieder- und Gemeindestatistik

Große Gemeinde ≥ 200 25%

Kleine Gemeinde < 50 13%

Mittlere Gemeinde < 200 62%

Abbildung 4: Mitgliederverteilung nach Gemeindegröße

terschied im Kirchen- und vor allem Mitgliedschaftsmodell Freier evangelischer Gemeinden zur Evangelischen Kirche in Deutschland. Dort beträgt der Anteil der Gottesdienstbesucher in Bezug auf die Mitglieder im Schnitt lediglich 3,5 %, ist in absoluten Zahlen mit 734.000 Gottesdienstbesuchern aber deutlich größer. 9 Auch über die Mitgliederzugänge und -abgänge bietet die Statistik erfreulicherweise Auskunft. 10 So sind zwischen 2015 und 2017 insgesamt 4300 neue Mitglieder in FeGn aufgenommen worden. Etwa ein knappes Drittel (29 %) dieser Aufnahmen betrifft Bekehrte zum einen aus Gemeindefamilien, also in aller Regel Jugendliche oder jungen Erwachsene, die frei-evangelisch sozialisiert sind, und zum anderen solche, die sich im Zusammenhang mit dem Besuch der Gemeinde bekehrt haben (vgl. Abbildung 5). Bei den letzteren 15 % ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass diese vorher Mitglied in einer der beiden Großkirchen waren, im Gegenteil ist dies sogar bei zumindest einem Teil sehr wahrscheinlich. 11 Von anderen freikirchlichen Gemeinden wurden 7 % der Neumitglieder überwiesen. Den kleinsten Faktor beim Mitgliederzuwachs stellen die Wiederaufnahmen mit 2 % dar, während weit über die Hälfte der neuen Mitglieder (61 %) schon als Gläubige zur Ortsgemeinde kommen. Da die inner-freikirchlichen Transfers, wie schon erwähnt, gesondert erfasst sind, ist davon auszugehen, dass es sich bei diesen Neumitgliedern nahezu vollständig um ehemalige Mitglieder der beiden Großkirchen handelt. Bis auf die Neumitglieder aus den Gemeindefamilien und 9 Vgl. EKD, Gezählt, 13. 10 Die dort ebenfalls erfassten innerkirchlichen Mitgliedertransfers wurde für diese Darstellung des Bundes Freier evangelischer Gemeinden getilgt. Ein Vergleich mit den Statistiken von 2011, 2013 und 2015 zeigt außerdem, dass die prozentualen Anteile der Kategorien Zuund Abgängen für den gesamten Zeitraum konstant sind. 11 Vgl. dazu auch die Ergebnisse der Befragung unter 9.4 Drei Zugangstypen zur Gemeindemitgliedschaft in FeGn.

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Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur

wohl einem Teil der Neubekehrten, die vorher keine Kirchenmitglieder waren, sind die Zugänge Freier evangelischer Gemeinden also zu über 69 % Transferzugänge (Überweisungen von anderen Freikirchen, Transfers Großkirchen) und lediglich zu 14–29 % 12 Menschen, die vorher in keiner Kirche Mitglied waren. Wiederaufnahme; 104; 2% Überwiesen von anderer Gemeinde; 323; 8%

Bekehrte aus Gemeindefamilie; 585; 14% Bekehrte durch Gemeindearbeit; 659; 15%

Als Gläubige gekommen; 2629; 61%

Abbildung 5: Zugänge

Austritte; 1349; 37%

Tod; 854; 24%

Überweisung andere Gemeinde; 628; 17%

Ausschlüsse; 41; 1% Streichung/ Listenkorrektur; 744; 21%

Abbildung 6: Abgänge

Bei den Abgängen sind laut Statistik von den zwischen 2015 und 2017 4.163 abgegangenen Mitgliedern 24 % auf Todesfälle zurückzuführen (vgl. Abbildung 6). Dieser Wert erscheint verhältnismäßig sehr gering im Vergleich zu

12 Das Intervall beruht auf der Unschärfe der Kategorie „Bekehrt durch Gemeindearbeit“ im Blick auf eine vorhergehende Mitgliedschaft in einer der beiden Großkirchen.

Mitglieder- und Gemeindestatistik

knapp zwei Dritteln (60,7 %) der Mitgliederverluste, die in der Evangelische Kirche in Deutschland 2018 auf Todesfälle zurückgehen 13. Offensichtlich sind FeGn bezüglich ihrer Mitgliederentwicklung nicht im selben Ausmaß vom demographischen Wandel betroffen wie die beiden Großkirchen. Neben den Todesfällen gehen 17 % der Abgänge auf Überweisungen an andere Freikirchen zurück und 37 % auf Austritte. Der prozentuale Anteil der Austritte in Bezug auf die Abgänge bewegt sich also in einer ähnlichen Größenordnung wie in der EKD (39,2 %). Als maßgeblicher und spezifisch freikirchlicher Faktor kommen dazu noch die sog. Streichung bzw. Listenkorrektur 14 mit 21 % und die Gemeindezucht in Form des Ausschlusses mit 1 %. Zuletzt erfasst die Statistik auch noch die Rubrik Bekehrungen und Taufen. Daraus geht zum einen hervor, dass sich zwischen 2015 und 2017 1988 Menschen in FeGn bekehrt haben. Davon sind 58 % Erwachsene, 29 % Jugendliche und 13 % Kinder 15. Leider bringt diese Kategorie eine erhebliche Unschärfe mit sich. Diese Unschärfe liegt zum einen im Bekehrungsbegriff selbst, sodann in der Erfassung der Bekehrungen in den Gemeinden – hier ist zumindest fraglich, inwiefern diese zuverlässig erhoben werden – und zuletzt fehlt auch der Bezug zu einer vorher bestehenden kirchlichen Bindung bzw. Taufe. Auch wenn die Bekehrungszahlen hier wohl wenig belastbar sind, fällt doch auf, dass bei 1988 Bekehrten 2697 Taufen durchgeführt wurden und lediglich 1244 Neumitglieder auf Bekehrungen zurückgehen. Diese drei Kategorien Bekehrung, Taufe und Gemeindemitgliedschaft triften also auf eigenartige Weise auseinander. Die Zusammenhänge und Abhängigkeiten dieser Kategorien voneinander lassen sich aus den vorliegenden Daten nicht eindeutig erschließen, allerdings können einige Vermutungen angestellt werden: So ist erstens zu vermuten, dass eine Bekehrung nicht unbedingt eine Gemeindemitgliedschaft nach sich zieht, hier ist vielmehr anzunehmen, dass dies vor allem die 1158 erwachsenen Bekehrten betrifft und das wahrscheinlich auch noch mit zeitlicher Verzögerung. Zweitens ist die Zahl der Taufen deutlich höher als die der Bekehrungen. Eine Bekehrung scheint also nicht unbedingt eine Taufe nach sich zu ziehen, da die höhere Anzahl der Taufen nur durch die Taufe bereits Bekehrter zustande kommen kann. Auch hier ist also zumindest in einem erheblichen Teil der Fälle von einem zeitlichen Abstand zwischen Bekehrung und Taufe auszugehen. Die Taufe findet wohl häufig erst einige Zeit nach der Bekehrung statt. Und drittens scheint die Zahl von 1244 Neumitgliedern, die nicht dem Transferwachstum zuzurechnen sind, und die mehr als doppelt so hohe Anzahl von Taufen (2697) nahezulegen, dass auch Neumitgliedschaft und Taufe in zumindest einem Großteil der Fälle entkoppelt sind. 13 Vgl. https://www.ekd.de/gezaehlt-2019-statistik-kirchenmitgliedschaft-48222.htm, zuletzt abgerufen am 06. 02. 2020. 14 Vgl. zur Streichung bzw. Listenkorrektur: 3.2 Die Ortsgemeinde. 15 Auch diese Verhältnisse sind für den Zeitraum 2011–2017 relativ konstant.

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Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur

3.2 Die Ortsgemeinde Nach dem Blick in die Bundesstatistik sollen nun die Ordnungen, Strukturen und Einrichtungen im BFeG näher betrachtet werden, angefangen bei der Ortsgemeinde, über den Bund, Regionen und Kreise, Arbeitskreise und Bundeswerke, die PastorInnen und GemeindereferentInnen sowie abschließend die zwischenkirchliche Vernetzung. Im Bund Freier evangelischer Gemeinden als primär kongregationalistisch organisierter Kirche werden die einzelnen Ortsgemeinden als maßgeblicher Ort von Kirche verstanden. 16 Dementsprechend agieren die Gemeinden „selbstständig innerhalb der Verfassung des Bundes“ 17 und besitzen gleichzeitig durch ihre Anbindung an den BFeG Körperschaftsrechte, was „hoheitliche Befugnisse“ wie Steuerbefreiung oder Beurkundungsbefähigung miteinschließt. Mitglied einer FeG Ortsgemeinde 18 kann werden, „wer bekennt, dass Jesus Christus sein persönlicher Retter und Herr geworden ist [. . . ]. Erwartet wird, dass Wirkungen dieses Glaubens durch den Heiligen Geist im Leben des Gemeindemitglieds sichtbar werden.“ 19 Über die Aufnahme entscheidet dann die Gemeindeleitung, wobei entsprechend den gesetzlichen Vorschriften über Religionsmündigkeit „eine Mitgliedschaft ab Vollendung des 14. Lebensjahres an möglich“ 20 ist. Die „Taufe der Glaubenden“, die in FeGn praktiziert wird, ist keine Bedingung für die Gemeindemitgliedschaft. 21 Nach der Aufnahme besteht die Möglichkeit,

16 Ähnlich formuliert aber auch Hauschildt für die evangelischen Landeskirchen: „Nach evangelischem Verständnis bildet die einzelne Gemeinde die Basis der verfassten Kirche.“, Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 248. 17 BFeG, Gemeindeordnung, 2. 18 Maßgebliche Grundlage für die folgende Darstellung ist die „Gemeindeordnung“ (BFeG, Gemeindeordnung) aus dem Jahr 2017, die vom BFeG als Vorlage für die Ortsgemeinde empfohlen wird. Dabei besteht allerdings nach dem kongregationalistischen Prinzip kein Zwang, weshalb die Gemeindeordnungen einzelner Ortsgemeinden erheblich von der vorliegenden abweichen können. Vgl. dazu Art. 1 Abs. 4 der Bundesverfassung: „Sie [die Gemeinden, MS] ordnen sich in Anlehnung an die vom Bundestag beschlossene ‚Musterordnung für die Ortsgemeinde‘.“, BFeG, Verfassung, 2. 19 BFeG, Gemeindeordnung, 1. 20 BFeG, Gemeindeordnung, 1. 21 Der Hintergrund für diese Formulierung und die daraus folgende Tatsache, dass die Taufe in dieser Musterordnung (wie auch in keiner anderen vorher) keine Voraussetzung für die Gemeindemitgliedschaft ist, hängt m. E. mit dem Taufverständnis von FeGn zusammen. Zum einen wird in FeGn, wie in Art. 4.1 beschrieben, die Glaubenstaufe gelehrt und praktiziert, zum anderen wird aber auch die Kindertaufe unter Berufung auf das Gewissen des Einzelnen akzeptiert: „Im Unterschied zur Leuenberger Konkordie betonen wir, dass die Taufe nur vollzogen werden kann aufgrund des persönlichen Glaubens, der durch die Verkündigung des Evangeliums und das Wirken des Geistes Gottes geweckt wird und zugleich dankbare und gehorsame Antwort des Menschen ist. Für diesen Glauben ist keine Stellvertretung möglich. Wir sehen eine Taufhandlung, bei der der persönliche Glaube des Täuflings fehlt, nicht als Taufe an. Darum ist die Taufe aufgrund des Glaubens keine Wiedertaufe. Taufe

Die Ortsgemeinde

ein Mitglied, dessen Verhalten „den biblischen Weisungen widerspricht“ 22 nach erfolglosem Zurechthelfen aus der Gemeinde auszuschließen. Ein Ende der Mitgliedschaft kann außerdem durch schriftliche Erklärung des Mitglieds (Austritt), durch Überweisung in eine andere Gemeinde, „durch Streichung, wenn das Mitglied trotz der wiederholten Ermahnung seit längerer Zeit nicht mehr am Gemeindeleben teilnimmt“ oder durch Tod des Mitglieds erfolgen. Ausschluss oder Streichung erfolgen durch die Gemeindeleitung, allerdings muss die Gemeinde zuvor darüber informiert und gehört werden, Entscheidungsgewalt hat sie allerdings keine. Neben den Mitgliedern werden noch zwei weitere Zugehörigkeitsrollen erfasst: Freunde und Kinder der Gemeindemitglieder. Freude sind „regelmäßige Besucher der Gemeindeveranstaltungen“ 23, die in einem Verzeichnis geführt werden, um mit ihnen Kontakt zu halten. Für Kinder gilt: „Durch kindgemäße Verkündigung erfahren sie, wie man Christ wird und als Christ zu leben hat. Mitglied der Gemeinde können sie erst dann werden, wenn sie zum persönlichen Glauben gekommen sind und dadurch die Bedingung zur Aufnahme erfüllen.“ 24 Die beiden entscheidenden Organe der Gemeinde sind zum einen die Gemeindeleitung und zum andere die Gemeindeversammlung. Der Gemeindeleitung gehören die Pastoren für die Dauer ihres Dienstes an sowie mehrere in geheimer Wahl berufene, volljährige Gemeindemitglieder. Aufgabe der Gemeindeleitung ist es, „die Gemeinde geistlich, seelsorglich und organisatorisch zu leiten. Das schließt auch ein, die Gemeinde gemeinsam nach außen und gegenüber dem Bund zu vertreten, die laufenden Geschäfte zu führen und das Dienstverhältnis ist unwiederholbar. Wenn jemand die Säuglingstaufe empfangen hat und aufgrund einer vor Gott gewonnenen Gewissensüberzeugung darin seine gültige Taufe sieht, wird diese Überzeugung geachtet, er kann dann ohne ‚Glaubenstaufe‘ Mitglied einer Freien evangelischen Gemeinde sein.“ (Vgl. dazu Abs. 3.6 in: BFeG, Evangelium, 6–7.) Dabei entspricht es eigentlich nicht frei-evangelischer Theologie, Taufe und Gemeindemitgliedschaft zu trennen, sondern sie werden stattdessen in einem engen Zusammenhang gedacht: „Nach dem Neuen Testament ist die Taufe in sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem Beginn des Glaubens zu sehen und mit dem verbindlichen Leben in einer Gemeinde von Glaubenden.“ (BFeG, Taufe.) Die Akzeptanz der Kindertaufe bei gleichzeitiger Lehre der „Glaubenstaufe“ führte in dieser Doppelung m. E. aber zur sehr unglücklichen Formulierung in Abs. 4.1. Diese hält zwar gemäß frei-evangelischem Taufverständnis fest, dass die Glaubenstaufe keine Mitgliedschaftsbedingung darstellt, aber darüber hinaus führt sie nicht mehr aus, dass die Glaubenstaufe nur dann keine Mitgliedschaftsbedingung darstellt, wenn das potentielle Gemeindemitglied seine Kindertaufe nach der eigenen Gewissensentscheidung als gültige Taufe ansieht. Das Weglassen dieser Bedingung, unter der die Glaubenstaufe nicht notwendige Mitgliedschaftsbedingung ist, führt in der vorliegenden Fassung und in allen bisherigen dann zur dramatischen Konsequenz, dass die Taufe als optionale Möglichkeit zur Gemeindemitgliedschaft beschrieben wird und damit der enge Zusammenhang von Taufe und Gemeindemitgliedschaft aufgelöst wird. 22 BFeG, Gemeindeordnung, 1. 23 Ebd. 24 BFeG, Gemeindeordnung, 2.

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Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur

des Pastors und weiterer hauptamtlicher Mitarbeiter zu regeln. Außerdem verantwortet sie die Ausgaben im Rahmen des Finanzbudgets der Gemeinde.“ 25 Das höchste beschlussfassende Gremium ist in FeGn die Gemeindemitgliederversammlung. Sie entscheidet über die grundsätzliche Ausrichtung der Gemeinde, wählt die Gemeindeleitung und kann auch Mitglieder daraus abberufen, sie beruft auf Vorschlag der Gemeindeleitung den Pastor, verabschiedet den Jahresetat, genehmigt den Jahresabschluss des Vorjahres und entlastet den Kassierer, sie entscheidet über wichtige Einzelaufgaben und nimmt Rechenschaftsberichte entgegen. Die Finanzierung der Gemeinde im Blick auf sämtliche Ausgaben für sowohl Personal als auch Gebäude sowie die Kosten der Gemeindearbeit erfolgt durch Spenden der Mitglieder und Freunde. Dabei wird von den Mitgliedern erwartet, „in Verantwortung vor Gott freiwillig und regelmäßig Beiträge, die ihrem Einkommen angemessen sind“ 26 zu spenden. Dabei kann die Gemeindeleitung „aus ihrer Mitte ein Mitglied beauftragen, Einsicht in die Kassenführung zu nehmen, auch um Mitglieder ermahnen zu können, die keine angemessenen Beiträge zahlen.“ 27 Verwaltet werden diese Gelder von einem Kassierer, der von der Gemeindemitgliederversammlung entlastet werden muss.

3.3 Der Bund Freier evangelischer Gemeinden Der Bund Freier evangelischer Gemeinden bezeichnet sich in seiner Präambel zur Verfassung selbst als „geistliche Lebens- und Dienstgemeinschaft selbständiger Gemeinden“ 28. Die gemeinsame, verbindliche Grundlage „für Glauben, Lehre und Leben in Gemeinde und Bund ist die Bibel, das Wort Gottes.“ 29 Dabei wird zum einen in Fragen „der Schriftauslegung und praktischen Anwendung der heiligen Schrift [. . . ] das an Gottes Wort gebundene Gewissen des Einzelnen geachtet“ als auch „nach gemeinsamer Erkenntnis gestrebt“ 30. Als Dienstgemeinschaft selbständiger Gemeinden versteht sich der Bund „als Teil der weltweiten christlichen Gemeinde“ 31 und stellt in diesem Sinne in der Präambel der eigenen Verfassung in Zustimmung das Apostolische Glaubensbekenntnis voran. Er sieht seine Auf-

25 26 27 28 29 30 31

Ebd. Ebd. 3. Ebd. BFeG, Verfassung, 1. Ebd. Ebd. Ebd.

Der Bund Freier evangelischer Gemeinden

gabe darin, mit der weltweiten christlichen Gemeinde „gemeinsam das Evangelium in Wort und Tat [zu] bezeugen“. Zu diesem Zweck verfolgt er die „Bündelung geistlicher, persönlicher und wirtschaftlicher Kräfte“ 32. Die Rechtsform des BFeG ist auf Grundlage des Art. 140 GG die Körperschaft des öffentlichen Rechtes, wobei diese Rechtsform nicht im Sinne der Weimarer Reichsverfassung Art. 137 Abs. 5 beibehalten, sondern erst Mitte des 20. Jahrhunderts erworben wurde. 33 Sitz des Bundes mit seiner Geschäftsstelle ist Witten. Der BFeG besteht nach Art. 1 Abs. 4 aus „selbständigen Einzelgemeinden“. Damit ist die grundsätzlich kongregationalistische Kirchenstruktur festgelegt. Neben den ordentlichen Mitgliedsgemeinden des Bundes gibt es noch neu gegründete Gemeinden mit dem Status „Gemeinde in Gründung“ sowie eintrittswillige Gemeinden mit dem Status „assoziierte Gemeinde“. Als wesentliche Aufgabe des Bundes werden in Art. 2 Abs. 1 der Verfassung die Pflege der Gemeinschaft der Gemeinden, Förderung und Beratung der Gemeinden, In- und Auslandsmission inklusive Gemeindegründung, Diakonie und gesellschaftliche Mitverantwortung, Aus- und Fortbildung von Pastoren und anderen hauptberuflichen Mitarbeitern, Schulung von Mitarbeitern, Verlags- und Öffentlichkeitsarbeit, Förderung von Angeboten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Unterstützung Freier evangelischer Gemeinden im Ausland, Mitarbeit im Internationalen Bund Freier evangelischer Gemeinden, in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen, der Deutschen Evangelischen Allianz und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen beschrieben. Zur Erfüllung dieser Aufgaben bedient sich der Bund der beiden Organe Bundestag und Bundesleitung. Der Bundestag ist „als Vertreterversammlung aller Bundesgemeinden das oberste Bundesorgan“ 34 und tagt mindestens einmal im Jahr. Er entscheidet über grundsätzliche Themen, über die Zugehörigkeit von Gemeinden zum Bund, entschließt Verfassungsänderungen und nimmt Rechenschaftsberichte entgegen sowie erteilt Entlastung für Bundesleitung und Wirtschaftsausschuss. Er wählt außerdem den Präses des Bundes, die geschäftsführende Bundesleitung sowie den Rektor der Theologischen Hochschule Ewersbach. Für den Bundestag entsendet jede Gemeinde je angefangene 150 Mitglieder einen Abgeordneten, möglichst aus der Gemeindeleitung, wobei PastorInnen nicht qua Amt delegiert, sondern ausdrücklich auch Ehrenamtliche erwünscht sind. Einen Verhältnisschlüssel gibt es diesbezüglich nicht. Der Bundestag bedient sich „zur Wahrnehmung seiner Verantwortung“ 35 eines Ständigen Ausschusses. Diesem Ständigen Ausschuss gehören vor allem nach

32 33 34 35

Ebd. Vgl. dazu 2.4.1 Verleihung der Körperschaftsrechte. BFeG, Verfassung, 4. Ebd.

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Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur

kongregationalistischer Logik gewählte Vertreter aus dem Bundestag an. Dazu kommen aber zusätzlich, nach synodaler Logik 36, in derselben Anzahl die Vorsteher der Bundeskreise (siehe 3.4 Regionen und Kreise). Der Ständige Ausschuss als Vertreterorgan des Bundestages genehmigt den Haushalts- und Stellenplan des Bundes, stellt den Jahresabschluss fest, entscheidet über die Einrichtung, Veränderung und Auflösung von Bundessekretariaten und Referaten, bereitet die Sitzungen des Bundestages vor und kann bei Fragen von besonderer Dringlichkeit anstelle des Bundestages beschließen. Außerdem wählt er die Referenten des Bundes, die Dozenten der Theologischen Hochschule Ewersbach, die Mitglieder der Erweiterten Bundesleitung, einen Teil der Mitglieder des Wirtschaftsausschusses, den Personalberufungsausschuss und den Vorstand des Versorgungswerkes. Neben dem Bundestag und seinem Vertretungsorgan, dem Ständigen Ausschuss, ist das dritte wesentliche Gremium die geschäftsführende Bundesleitung. Sie vertritt den Bundestag und dessen Ständigen Ausschuss zwischen den Sitzungen und ist ihm Rechenschaft schuldig. Sie setzt sich zusammen aus dem Präses, dem Geschäftsführer des Bundes sowie den Bundessekretären. Ihre Aufgaben sind, die laufenden Geschäfte zu führen, den Bund nach außen zu vertreten sowie Gemeinden für geistlichen und praktischen Rat zur Verfügung zu stehen. Zusätzlich zur geschäftsführenden Bundesleitung gibt es noch die erweiterte Bundesleitung. Neben den Mitgliedern der geschäftsführenden Bundesleitung gehören zu ihr noch jeweils ein ehrenamtlicher Vertreter aus den Regionen – ein weiteres synodales Element – sowie je ein Vertreter der Bundeswerke. Die erweiterte Bundesleitung hat die Aufgabe über strategische Themen des Bundes zu beraten und zu entscheiden sowie geistliche Fragen und Zeitströmungen zu prüfen und ggf. Empfehlungen zu geben oder zu veranlassen. Die geschäftsführende Bundesleitung bedient sich außerdem zweier Ausschüsse, dem Personalberufungsausschuss und dem Wirtschaftsausschuss. Ersterer erarbeitet die Wahlvorschläge für die wichtigsten Ämter (bis auf das des Präses) und prüft solche aus anderen Organen. Ihm gehören der Präses, zwei weitere Mitglieder der geschäftsführenden Bundesleitung sowie fünf gewählte Vertreter des Ständigen Ausschusses an. Letzterer wahrt die wirtschaftliche Verantwortung des Bundestages und ist diesem Rechenschaft schuldig. Dem Wirtschaftsausschuss gehören je ein Mitglied der Regionen sowie der Geschäftsführer, ein Vorstandsmitglied der Spar- und Kreditbank sowie ein Bundesvertrauenspastor an. Nach Art. 11 Abs. 1 verzichtet der Bund zur Finanzierung seiner Arbeit auf das Erheben von Steuern oder Abgaben, wozu er als Körperschaft des öffentlichen Rechtes 36 Diese synodalen Elemente hatten vor der Strukturreform sogar noch deutlich höheren Anteil. So bestand der Bundesrat fast ausschließlich aus Kreisvorstehern und Vertretern aus den Kreisen.

Regionen und Kreise

nach Art. 137 Abs. 6 WRV berechtigt wäre. Stattdessen deckt der Bund seine Ausgaben „durch regelmäßige, angemessene Beiträge der Bundesgemeinden, durch Einzelspenden und durch Erträge der Arbeit“.

3.4 Regionen und Kreise Wie schon an einigen Stellen erwähnt, besteht der Bund Freier evangelischer Gemeinden nicht nur aus den klassisch kongregationalistischen Strukturelementen, nämlich den selbstständigen Ortsgemeinden sowie dem Bundestag und dessen Vertretungen, dem Ständige Ausschuss und der Bundesleitung, sondern integriert auch synodale Elemente in seine Kirchenstruktur. So gehören die Gemeinden zu einem der 24 geographisch gegliederten Kreise, diese wiederum zu einer der fünf geographisch gegliederten Regionen (Region Nord, Region West, Region MitteWest, Region Mitte-Ost, Region Süd). Die Kreise ordnen sich in Anlehnung an eine vom Bundestag beschlossene „Musterordnung für den Kreis“ und berufen für ihre Arbeit als Vertreterversammlung einen Kreisrat, in den jede Gemeinde ehrenamtliche Abgeordnete, möglichst aus der Gemeindeleitung, sowie die Pastoren entsendet, wobei die Zahl der Abgeordneten sich nach Gemeindegröße staffelt. Der Kreisrat wiederum wählt einen Kreisvorstand. Die wesentlichen Aufgaben der Kreise sind nach Art. 3 Abs. 1 u. a. die Förderung und Beratung einzelner Gemeinden, Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben, Mission im Kreisgebiet, Gründung neuer Gemeinden, Schulung von Mitarbeitern, Unterstützung des Bundes bei seinen Aufgaben und Pflege der Bundesgemeinschaft. Finanziert wird die Kreisarbeit nach Art. 6 Abs. 1 Musterordnung für den Kreis durch Beiträge der Gemeinden, Spenden und Überschüsse aus Kreisveranstaltungen. Auch die Regionen ordnen sich in Anlehnung an eine vom Bundestag beschlossene „Musterordnung für die Region“. Um die Aufgaben der Region zu verwalten, wird ein Regionalrat gebildet. Er setzt sich aus jeweils zwei aus den Kreisen entsandten Abgeordneten sowie dem für die Region zuständigen Bundessekretär zusammen und wählt einen Vorsitzenden aus seiner Mitte. Die Aufgabe des Regionalrates ist es, über gemeinsame Anliegen für die Region zu beraten sowie ihren Beitrag zur Bundesarbeit zu leisten.

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Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur

3.5 Arbeitskreise und Bundeswerke Für die in Art. 2 Abs. 1 der Bundesverfassung festgelegten Aufgaben des Bundes bestehen zum einen Referate, Arbeitskreis bzw. Arbeitsbereiche des Bundes und zum anderen selbstständige Bundeswerke. Unter den Arbeitsbereichen sind zunächst vor allem der Bereich Inlands-Mission sowie Junge Generation zu nennen. Diese beiden sind als einzige mit einem Bundessekretariat bedacht, das nicht auch gleichzeitig einer Region zugeordnet ist und können insofern in dieser strukturellen Verankerung als besondere Schwerpunktsetzungen verstanden werden. Zur Inland-Mission gehört sowohl die FeG Gemeindegründung als auch das FeG Praxisinstitut Evangelisation, zum Sekretariat Junge Generation gehören die Bereiche FeG Kinder, FeG Jugend- und Teenager, FeG Pfadfinder, FeG Diakonisches Jahr sowie die Initiative zum Schutz vor Gewalt und Missbrauch „Schützen und Begleiten“. Darüber hinaus existieren folgende Bundesreferate bzw. Arbeitsbereiche des Bundes: FeG Ältere Generation, Aufwind-Freizeiten, FeG Auslands- und Katastrophenhilfe, FeG Coaching, FeG Datenschutz, FeG Diakonie, FeG Frauen, FeG Gästehäuser, FeG Gebet, FeG Gemeinwohl gGmbH, FeG Gesprächskreis für soziale Fragen, FeG Hauskreise, FeG Herbsttagungen, FeG Historischer Arbeitskreis, FeG Internationale Gemeindearbeit in Deutschland, FeG Medien- und Öffentlichkeitsarbeit, FeG Sanitätsdienst, FeG Seelsorge, FeG Supervision, Theologische Hochschule Ewersbach, FeG Versorgungswerk. Im Vergleich zu diesen Arbeitsbereichen sind die Bundeswerke rechtlich und auch finanziell selbständige Einrichtungen im Bund, die ebenfalls Aufgaben des Bundes nach Art. 2 Abs. 1 der Bundesverfassung wahrnehmen. Sie haben allerdings nach Art. 12. Abs. 1 der Bundesverfassung „in ihren Wahl- und Sachentscheidungen und in ihrer Arbeitsweise der biblischen Grundausrichtung im Bund zu entsprechen“. Über ihre Anerkennung oder Gründung entscheidet der Bundestag. Aktuell bestehen fünf Bundeswerke: die Außenmission des Bundes Allianz Mission mit 190 Mitarbeitenden in 26 Ländern, die Diakonie Bethanien mit mehreren Seniorenzentren, Tagespflegeeinrichtungen, ambulant betreuten Wohngruppen und ambulanten Pflegediensten, dem Diakonissen-Mutterhaus, einer Pflegeakademie, einer Lungenfachklinik, einem Bildungszentrum, einem Demenz-Zentrum, einem Hotel auf Langeoog, medizinischen Versorgungszentren sowie verschiedenen Therapie- und Erholungseinrichtungen und insgesamt 1900 Mitarbeitenden in 40 Einrichtungen, die Elim Diakonie in Norddeutschland mit Seniorenzentren, mobilen Pflegediensten, Servicebüros in Senioren-Servicewohnanlagen, einem ambulanten Hospizdienst und einem Mutter-/Vater-KindHaus mit insgesamt 500 Mitarbeitenden, der SCM Bundesverlag, in dem auch die Zeitschrift Christsein Heute, das offizielle Bundesorgan, erscheint, sowie die Spar- und Kreditbank Witten eG.

PastorInnen und GemeindereferentInnen

3.6 PastorInnen und GemeindereferentInnen Sowohl die Ortsgemeinden als auch der Bund mit seinen Organen nehmen ihre Arbeit nicht nur durch ehrenamtliche, sondern auch durch angestellte Mitarbeiter wahr. Neben den Verwaltungsmitarbeitern in der Bundeszentrale in Witten und in wenigen größeren Gemeinden, sind das, Stand 2019, vor allem 545 PastorInnen, 120 MissionarInnen und 117 GemeindereferentInnen im Dienst des Bundes, des Kreises oder der Ortsgemeinden. Vom Bundestag beschlossene Ordnungen bestehen nur zu diesen Berufen, wobei die MissionarInnen größtenteils in den Zuständigkeitsbereich der Allianz-Mission fallen. Mit ca. 2400 Mitarbeitern sind die Mitarbeiter in den beiden Diakonischen Werken zwar deutlich die größte Berufsgruppe unter dem Dach des Bundes, deren Angelegenheiten zu ordnen ist allerdings Aufgabe der selbstständigen Werke und steht deshalb nicht im Fokus der Bundesordnungen bzw. der Bundesöffentlichkeit. 37 Maßgeblich für die PastorInnen ist die „Ordnung für die Berufung und Anstellung von Pastoren“ 38. Sie würdigt im Vorwort „die gewachsene und besondere Verantwortung von Pastoren in den Gemeinden und der gesamten Bundesgemeinschaft“, geht von einem „Gemeinde- und Pastorenverständnis aus, das sich am Wort Gottes orientiert“ und gilt für Männer und Frauen gleichermaßen 39. Grundlage für die Anstellung und Beauftragung zum Dienst in der Gemeinde, im Kreis oder im Bund ist nach der Ordnung die Berufung von Gott, die wiederum Bekehrung, Begabung und Bewährung voraussetzt. Als konkrete Voraussetzungen werden für die Zeit des Dienstes das Vertreten der gemeinsamen Glaubensbasis entsprechend der Präambel der Bundesverfassung in Leben, Lehre und Dienst, die Mitgliedschaft in einer Gemeinde des Bundes sowie eine fundierte theologische Ausbildung festgelegt. Aufgrund der kongregationalistischen Struktur und der damit einhergehenden Selbständigkeit der Ortsgemeinden gibt es für die PastorInnen zum einen die Gemeinde und zum anderen den Bund als mögliche Anstellungsträger (vgl. § 6 Verhältnis zwischen Pastor und Bund und § 7 Verhältnis zwischen Pastor und An37 Auch wenn in FeGn Ehrenamtliche eine besonders hervorgehobene Rolle spielen, ist im Blick auf die kirchlich angestellten Akteure der Kommunikation des Evangeliums mit Christian Grethlein zu fragen, ob angesichts dieser Zahlenverhältnisse der nahezu ausschließliche Fokus auf den „Schlüsselberuf“ Pastor angemessen ist. Vgl.: Grethlein, Kirchentheorie, 235 f. 38 BFeG, Ordinationsordnung. 39 Seit dem Beschluss auf dem Bundestag 2010 ist es im BFeG möglich, dass Ortsgemeinden, Bundeskreise oder der Bund Frauen als Pastorinnen berufen können. Diese Tatsache wird in der aktuell gültigen Fassung der Ordnung für die Berufung und Anstellung von Pastoren allerdings (noch) nicht berücksichtig. Eine entsprechende Überarbeitung ist im Gang, aber bei Abschluss dieser Arbeit noch nicht beendet. Aus diesem Grund erscheint im Folgenden bei direkten Zitaten aus der Ordnung oder bei Hinweisen auf Artikel und Abschnitte nur die männliche Form.

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Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur

stellungsträger). Diese doppelte Anbindung hat zur Folge, dass im BFeG zwei unterschiedliche Status bestehen. Nach kongregationalistischem Modell steht es den Ortsgemeinden offen, selbstständig nach eigenen Kriterien und Voraussetzungen Menschen als PastorInnen zu berufen. Diese PastorInnen werden in einem Verzeichnis geführt und tragen die Berufszeichnung PastorIn. Demgegenüber gibt es den zweiten Status PastorIn im Bund, der eine Anbindung sowohl an die Ortsgemeinde als auch den Bund bedeutet und über den die Bundesleitung entscheidet. Mit dem Status PastorIn im Bund ist auch die Ordination verbunden als „grundsätzliche, erstmalige Beauftragung eines Pastors zum Dienst der Verkündigung, Seelsorge und Leitung“. Voraussetzung für die Ordination und den Status PastorIn im Bund ist einer der in § 5 festgelegten Qualifikationswege, also eine entsprechende theologische Ausbildung. Als Ausdruck der Anbindung der Pastorin bzw. des Pastors im Bund an die Ortsgemeinde und an den Bund wirken nach § 5 Abs. 5 der Ordinationsordnung bei der Ordination in einem öffentlichen Gottesdienst sowohl Vertreter der Ortsgemeinde als auch des Bundes gemeinsam mit. Zwischen den PastorInnen im Bund und dem Bund besteht ein „besonderes gegenseitiges Treueverhältnis“ (§ 6 Abs. 1). Nach dem evangelischen Kirchenrechtler Hendrik Munsonius ist insbesondere dieses Treueverhältnis Kennzeichen und Besonderheit eines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses: „Privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse weisen eine Reihe von Unterschieden auf. [. . . ] Privatrechtlich besteht ein Austauschverhältnis, d. h. für eine Leistung wird ein entsprechendes Entgelt bezahlt. Öffentlich-rechtlich spricht man von einem Treueverhältnis, bei dem Leistung und Gegenleistung entkoppelt sind. Beamte haben sich mit ganzer Hinhabe ihrem Dienst zu widmen und auch in ihrer sonstigen Lebensführung den Erwartungen, die mit ihrem Amt verbunden sind, zu entsprechen.“ Auch wenn der BFeG nicht explizit davon spricht, nutzt er nach dieser Definition doch sein Privileg als Körperschaft des öffentlichen Rechts, öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse zu begründen, also PastorInnen beamtenähnlich zu beschäftigen. Neben dem Treueverhältnis wird in § 6 Abs. 5 als Pflicht des Pastors bzw. der Pastorin gegenüber dem Bund auch festgelegt, dass der Pastor bzw. die Pastorin „sich im Rahmen seiner Möglichkeiten in die Bundes- und Kreisgemeinschaft“ einbringt. Gleichzeitig bestehen, wie für öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse üblich, auch Privilegien für die PastorInnen, wie Beratung durch den Bund, Stellenvermittlung in Gemeinden, Kreise oder Bundesarbeit durch den Arbeitskreis Pastorenwechsel, seelsorgerliche Fürsorge, Bereitstellung von Maßnahmen der fachlichen Fort- und Weiterbildung sowie „eine geistliche, berufliche und wirtschaftliche Fürsorgepflicht für den Pastor und seine Familie“ (§ 8 Abs. 1) von Seiten des Bundes. Darüber hinaus haben PastorInnen die Möglichkeit, von der gesetzlichen Rentenversicherung befreit zu werden und durch Aufnahme in das Versorgungswerk

PastorInnen und GemeindereferentInnen

des Bundes Versorgung im Alter, im Fall der Invalidität, Versorgung der Hinterbliebenen im Todesfall und finanzielle Unterstützung von Rehabilitationsmaßnahmen zu erhalten (§ 1 Abs. 1 Versorgungsordnung des Bundes Freier evangelischer Gemeinden 40). Dabei weißt § 2 Abs. 1 explizit darauf hin, dass mit der Versorgungsordnung eine Absicherung nach § 5 Abs. 1 Ziff. 2 SGB VI, also eine Anwartschaft auf Versorgung „nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen“, gegeben ist. Ein weiterer Hinweis auf zumindest öffentlich-rechtliche Züge des Dienstverhältnisses zwischen PastorInnen und BFeG. Trotz dieser Anbindung der PastorInnen an den Bund Freier evangelischer Gemeinden, die an vielen Stellen einem öffentlich-rechtlichen Beamtenverhältnis entspricht, wird das Gehalt von der Ortsgemeinde gezahlt und diese ist auch Anstellungsträger. Zum einen besteht also ein besonderes Verhältnis mit Pflichten und Privilegien der PastorInnen zum Bund, zum anderen regelt § 7 Abs. 6 klar: „Die Anstellungsträger, auch ohne eigenen rechtlichen Status, nehmen ihre Aufgaben nach ihren Ordnungen in eigener personeller und finanzieller Verantwortung wahr. Ansprüche des Pastors gegenüber dem Bund bestehen insoweit nicht. Die Fach- und Dienstaufsicht obliegt dem Anstellungsträger.“ PastorInnen in Freien evangelischen Gemeinden sind also nach kongregationalistischer Logik primär in der Ortsgemeinde angestellt, mit allen Vor- und Nachteilen. Gleichzeitig kann das beamtenähnliche Dienstverhältnis zum Bund als Erweiterung und in gewissem Maße auch als Rücksicherung des Anstellungsverhältnisses zur Ortsgemeinde verstanden werden. Zuletzt ist noch besonders darauf hinzuweise, dass in der Ordinationsordnung unter § 11 „Beendigung des Dienstverhältnisses“ der Rechtsweg zu staatlichen Gerichten ausgeschlossen wird, „soweit die Kündigung auf Gründen beruht, die ihren Gegenstand im innerkirchlichen Bereich haben“. Stattdessen wird auf die Anrufung einer Schiedskommission und auf die Schiedsordnung 41 verwiesen, die vom Bundestag 2002 beschlossen wurde. Auch hier nutzen FeGn also ihre Privilegien als Körperschaft des öffentlichen Rechts, indem sie das Selbstverwaltungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 WRV in Form der Schiedskommission umsetzen. Für GemeindereferentInnen gilt die „Ordnung für die Berufung und Anstellung von hauptamtlichen Gemeindereferentinnen“. Diese unterscheidet sich allerdings lediglich geringfügig von der Ordinationsordnung. Die beiden maßgeblichen Unterschiede sind, dass keine Ordination möglich und damit auch die entsprechend ausführliche theologische Qualifikation wie bei PastorInnen nicht nötig ist sowie dass in dieser Ordnung der Rechtsweg zu staatlichen Gerichten nicht ausgeschlossen ist. Alle übrigen beschrieben Bestimmungen treffen auf GemeindereferentInnen im selben Maß zu wie auf PastorInnen. 40 BFeG, Versorgungsordnung. 41 BFeG, Ordinationsordnung.

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Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur

3.7 Zwischenkirchliche Knotenpunkte Freie evangelische Gemeinden haben zum einen durch die historischen Wurzeln im überkonfessionellen Evangelischen Brüderverein, zum anderen aber auch durch die maßgeblichen ekklesiologischen Bezugspunkte des Glaubens an Christus und die Bibel, die in FeG-Tradition nicht an Konfessionsgrenzen gebunden gesehen werden, ein hohes Interesse an über- und zwischenkirchlicher Zusammenarbeit und an der äußerlichen Darstellung der „Einheit der Kinder Gottes“ 42. Kurt Seidel wies bereits auf den „ekklesiologischen Spagat“ hin, den Grafe und die FeG-Tradition hier begehen, nämlich als Ausdruck der Universalkirche eine Partikularkirche zu gründen. 43 In dieser Tradition beschreibt auch die aktuelle Verfassung des BFeG als Aufgaben des Bundes die „Mitarbeit im Internationalen Bund Freier evangelischer Gemeinden, in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen, der Deutschen Evangelischen Allianz und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen sowie Kontaktpflege zu anderen Gemeindebünden, christlichen Gemeinschaften, Kirchen und Werken.“ 44 FeGn sehen sich also als Teil dieses kirchlichen Netzwerkes, dessen wichtigste Knotenpunkte im Folgenden kurz skizziert werden sollen.

3.7.1 Der internationale Bund Freier evangelischer Gemeinden Schon seit den Anfängen Freier evangelischer Gemeinden in der Schweiz suchen die einzelnen, independenten Ortsgemeinden den Ausdruck äußerer Einheit. 45 Dabei hat man sich immer streng von synodalen Strukturen distanziert und die Eigenständigkeit der Ortsgemeinde bewahren wollen. In der Folge sind Zusammenkünfte, Bünde und Netzwerke entstanden, die mit Minimalkonsensen auskommen mussten, die in der Regel aus dem Glauben an Jesus Christus, der Bindung der Gemeindemitgliedschaft daran sowie der Selbstständigkeit der Ortsgemeinden bestanden. Ein erster organisierter internationaler Zusammenschluss erfolgte 1860 aus den Gemeinden der Schweiz, Frankreichs und Belgiens zur „Alliance des Églises libres ou indépendantes“, dem 1864 auch die FeG Elberfeld-Barmen beitrat. Neben Konferenzen und persönlichen Kontakten etablierte sich insbesondere eine Zusammenarbeit auf der Ebene der Jugend- und Sonn42 Seidel, Freie evangelische Gemeinde, 8. 43 „Freie evangelische Gemeinden betonen ja die Einheit der Kinder Gottes. Lassen Sie es mich einmal abgekürzt so sagen: Grafe hat einen ekklesiologischen Spagat vollzogen, um die Einheit der Kinder Gottes sichtbar zu machen. Als Ausdruck der Universalkirche hat er eine Partikularkirche gegründet.“, Seidel, Freie evangelische Gemeinde, 20. 44 BFeG, Verfassung, 2. 45 Zur Entstehung von IFFEC vgl. v. a.: Weyel, Evangelisch und frei, 158–164.

Zwischenkirchliche Knotenpunkte

tagsschularbeit. 1948 wurde auf diesem Boden gewachsener Beziehungen auf der Gründungskonferenz in Bern ein internationaler Bund mit Verfassung ins Leben gerufen, der ab 1978 offiziell „International Federation of Free Evangelical Churches“ 46 (IFFEC) hießt. Die wesentlichen Grundsätze der Verfassung der Gründerkonferenz finden sich bis heute unverändert in der Verfassung der IFFEC 47: Sie beschreibt IFFEC als Gemeinschaft von Kirchenbünden (nicht etwa als Weltkirche), in denen der persönliche Glaube an Christus die einzige Mitgliedschaftsvoraussetzung darstellt und die gleichzeitig die Selbstständigkeit der Ortsgemeinden in keiner Weise einschränkt. Damit sind Kongregationalismus und der persönliche Christusglaube bis heute Minimalkonsens der IFFEC Mitgliedsbünde und -kirchen. Die wichtigsten Ebenen der Zusammenarbeit zeigen die drei Arbeitsgremien neben dem Exekutivkomitee, nämlich Jugend (Youth Working Group), Mission (Mission Comittee) sowie Theologie (Theological Comittee). Heute gehören 32 Kirchen bzw. Gemeindebünde in 30 Ländern mit insgesamt 640.000 Mitgliedern zur IFFEC, von denen in Europa 27 %, in Nordamerika 45 % und 28 % vor allem in Asien und Lateinamerika beheimatet sind. 48

3.7.2 Die Vereinigung evangelischer Freikirchen Neben der internationalen Zusammenarbeit innerhalb der eigenen Denomination suchten FeGn auch immer den Anschluss über die eigene Denomination hinaus. Ein wichtiger Knotenpunkt innerhalb dieses zwischenkirchlichen Netzwerkes stellt die Vereinigung evangelischer Freikirchen (VEF) dar. 49 Sie wurde 1926 in Leipzig gegründet und „ist als Zusammenschluss von selbständigen Kirchen die älteste interdenominationelle und ökumenische Vereinigung in Deutschland“ 50. Gründungsmitglieder waren der „Bund Evangelisch Freikirchlicher Gemeinden“ (BEFG), der BFeG, sowie die frühere „Evangelische Gemeinschaft“ und die „Bischöfliche Methodistenkirche“, die heute gemeinsam die Evangelisch-methodistische Kirche (EmK) bilden. Dabei verbanden sich mit diesem Netzwerk zwei Zwecke: Zum einen die Förderung der Beziehungen untereinander und zum 46 Um Missverständnisse zu vermeiden, gibt Johannes Demandt einen wichtigen Hinweis zum Namen: „Die IFFEC erläutert ihr englisches Adjektiv ‚evangelical‘ dahingehend, dass Glaube, Lehre und Arbeitsweise von der biblischen Botschaft bestimmt sein sollen (was dem deutschen Wort ‚evangelisch‘ entspricht).“ Demandt, Christliche Lehre, 49. 47 Vgl. IFFEC, Constitution. 48 Vgl. Henkel, Geographische Verbreitung, 59–61. 49 Vgl. dazu v. a.: VEF, Freikirchenhandbuch; Iff, Evangelische Freikirchen, 296–302 und Weyel, Evangelisch und frei, 111–118. 50 Iff, Evangelische Freikirchen, 298.

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Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur

andere die gebündelte Vertretung freikirchlicher Interessen gegenüber Staat und Volkskirchen. Inzwischen ist diesen Zwecken ein weiterer hinzugekommen, der die Grenzen der eigenen freikirchlichen Kreise überschreitet: „Zugleich bemüht sie [die VEF, MS] sich aufrichtig, die Gemeinsamkeiten mit anders geprägten Kirchen besser zu erkennen und zu stärken.“ 51 Als Grundkonsens der Kirchen und Gemeindebünde der VEF wurden mit der Präambel der VEF-Verfassung 1998 folgende theologische Faktoren, geistliche Gemeinsamkeiten und lehrmäßige Übereinstimmungen herausgestellt: „der eine Herr (Christusbekenntnis), das eine Wort (Bibel als Lehrautorität), der persönliche Glaube, die Gemeinde der Glaubenden, der Auftrag zur Mission und die Hoffnung auf den wiederkommenden Herrn“ 52. Aktuell gehören der VEF zwölf Kirchen bzw. Gemeindebünde als Mitglieder (Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinde Deutschland, Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden Deutschland, Bund Freier evangelischer Gemeinden Deutschland, Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden, Evangelisch-methodistische Kirche, Die Heilsarmee in Deutschland, Kirche des Nazareners, Mühlheimer Verband FreikirchlichEvangelischer Gemeinden, Gemeinde Gottes, Freikirchlicher Bund der Gemeinde Gottes, Anskar Kirche, Foursquare Deutschland) sowie drei als Gastmitglieder (Evangelische Brüderunität, Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten, Apostolische Gemeinschaft) an. Gemeinsam vereinen die Mitglieder- und Gastmitgliederkirchen ca. 294.000 Gemeindemitglieder in Deutschland. 53

3.7.3 Evangelische Allianz Ein weiterer Knotenpunkt zwischenkirchlicher Aktivitäten stellt für FeGn schon seit frühen Zeiten die Deutsche Evangelische Allianz (DEA) dar. 54 So stellten sie im Laufe der Geschichte sogar einige Vorsitzende dieser. Die Evangelische Allianz hat sich 1846 als weltweites Netzwerk evangelischer ChristInnen in London konstituiert, in dessen Folge in mehreren Anläufen auch in Deutschland ein nationaler Zweig dieses Netzwerkes unter dem Namen „Evangelischer Bund“ entstand (heute: Deutsche Evangelische Allianz). Mit ihr sind heute sowohl, zu einem großen Teil, freikirchliche Gemeindebünde und Kirchen und deren Werke in Deutschland verbunden wie auch, in geringerer Zahl, Organisationen und Institutionen der evangelischen Landeskirchen. Die DEA ist Mitglied der „World 51 52 53 54

VEF, Satzung, 2. Iff, Evangelische Freikirchen, 298 f. EKD, Gezählt, 4. Vgl. dazu grundsätzlich DEA, Gemeinsam glauben und Cochlovius, Evangelische Allianz bzw. aus der Perspektive Freier evangelischer Gemeinden: Weyel, Geschichte des Bundes, 164–170.

Zusammenfassung

Evangelical Alliance“, die insgesamt mit nationalen Allianzen aus 129 Ländern auf allen Kontinenten zusammenarbeitet. Grundlage der Evangelischen Allianz ist die 1846 formulierte Glaubensbasis. Ihr Ziel ist die Förderung der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Gebets (dazu die jährliche Gebetswoche) sowie des gemeinsamen Zeugnisses des christlichen Glaubens.

3.7.4 Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen Den dritten wichtigen Ort zwischenkirchlicher Zusammenarbeit stellt die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (AcK) dar. 55 Im Zuge der Ökumenischen Bewegung, zu der auch die Bemühungen der Freikirchen um die äußere Darstellung der Einheit des Leibes Christi gezählt werden können, bildete sich 1948, nach expliziter Zustimmung und Mitwirkung des BFeG, die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen, paradoxerweise aber ohne frei-evangelischen Vertreter. Dieser wurde kurzfristig doch nicht entsandt und eine AcK-Mitgliedschaft durch die Bundesleitung, aus Angst vor Überformung und Aufgabe der eigenen ekklesiologischen Grundlagen, ausgeschlossen. Trotz guter Erfahrungen insbesondere in den lokalen Arbeitsgemeinschaften und eifriger Vertreter einer Annäherung hielt sich diese Skepsis gegenüber der AcK bis ins Jahr 2019, als der Bundestag des BFeG einen positiven Beschluss zur Vollmitgliedschaft des Bundes in der AcK Deutschland fassen konnte, der bis dahin als Mitbegründer der AcK nur Gastmitglied war.

3.8 Zusammenfassung Auf Grundlage der gegenwärtigen Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur stellt sich der BFeG als Sozialform des christlichen Glaubens dar, die im Kern aus überschaubaren Ortsgemeinden besteht, deren Selbstständigkeit in der Bundesverfassung verankert ist. Dabei wurde deutlich, dass auch das kontinuierliche Wachstum des Bundes strukturell signifikant mit Neugründungen und damit der wachsenden Anzahl dieser überschaubaren Ortsgemeinden zusammenhängt. Gleichzeitig verdankt sich dieses Wachstum qualitativ, wie die Zugangsstatistik nahelegt, vor allem der Aufnahme von Mitgliedern, die zuvor bereits in anderen Gemeinden oder Kirchen Mitglieder waren und nur zu einem geringen Prozent-

55 Vgl. dazu: Frieling, Ökumene, 68–70, sowie aus frei-evangelischer Perspektive Weyel, Evangelisch und frei, 170–180.

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Gegenwärtige Mitglieder-, Organisations- und Rechtsstruktur

satz (14–29 %) der Integration kirchenferner bzw. vorher konfessionsloser Menschen. Die Mitgliedschaft in diesen Ortsgemeinden funktioniert primär organisationslogisch über die Entscheidung des Individuums und die Bedingung „persönlicher Glaube“, die zum einen mit dem Christusbekenntnis und zum anderen mit den nicht näher spezifizierten Wirkungen des Glaubens operationalisiert werden. Die Mitgliedschaft beinhaltet auch die Möglichkeit einer Beendung des Mitgliedschaftsverhältnisses von beiden Seiten. Daneben spielt aber auch die Gruppen-/Bewegungslogik eine große Rolle, indem die Mitgliedschaft auch an die aktive Teilnahme am gemeindlichen Leben gebunden wird. Neben der ordentlichen Mitgliedschaft werden mit Freunden und Kindern noch weitere Zugehörigkeitsrollen beschrieben, die bei den Freunden nur gruppenlogisch über Anwesenheit und Aktivität und bei den Kindern rein institutionell definiert sind. Insbesondere im Zusammenhang mit der Kategorie der Freunde erinnert die Konstellation der Zugehörigkeitsrollen stark an die typischen Rollen einer Bewegung: „Führungspersönlichkeiten, Aktivisten und Sympathisanten“ 56. Erstere wären die in der frei-evangelischen Tradition oft geforderten geistlichen Persönlichkeiten, die insbesondere als GemeindeleiterInnen gefragt sind, zweite die aktiven, ordentlichen Gemeindemitglieder sowie dritte die distanzierteren Freunde, von denen nicht im selben Maße Aktivität und Verbundenheit erwartet wird, wie von den Mitgliedern. Nach dieser, als äußere Form übernommenen bewegungs- und organisationsförmigen Mitgliedschaft ist, neben der individuellen Entscheidung, ihr maßgeblicher Faktor also die Aktivität der Mitglieder. Dieser Faktor muss nach der Einführung des entsprechenden Vermittlungsbegriffes „Glaube“ im nächsten Kapitel unbedingt auf seine theologische Bedeutung hin Berücksichtigung finden. Gleichzeitig besteht der BFeG aber auch als übergeordnete Organisation und Institution mit Körperschaftsrechten, weit verzweigten Strukturen, zahlreichen Ordnungen und großen Werken, die im Sinne des Kongregationalismus allerdings keinen hierarchischen Zugriff auf die selbstständigen Ortsgemeinden ausüben kann. Durch diese kongregationalistische Struktur können zum einen die Vorteile der übergeordneten Organisation und Institution genutzt werden und zum anderen die maximale Freiheit und damit Kontextualität der Ortsgemeinden im Blick auf Formen, Personal und Schwerpunkte bewahrt werden. Die daraus entstehende Vielfalt und Kontextualität der Ortsgemeinden schränkt allerdings die Darstellung von kirchlicher Einheit erheblich ein, die dementsprechend umso stärker im „apostolischen Glauben“ und der Bibel (vgl. Präambel der Bundesverfassung) als einheitsstiftende Vorgaben gesucht werden. Das mag auch der Grund sein, warum sich FeGn gemeinsam mit anderen Freikirchen bei grundsätzlichen 56 Schnabel, Bewegung, 37.

Zusammenfassung

Fragen zu diesen beiden Gegenständen deutlich verunsicherter und weniger gelassen zeigen, als die Kirchen, deren Einheit auch noch in Ämtern, Bekenntnissen, Traditionen, Dogmen oder Liturgien konkrete Gestalt gewinnt. Gleichzeitig bietet dieser Minimalkonsens (apostolischer Glaube und Bibel) günstige Anknüpfungspunkte für die zahlreichen zwischenkirchlichen und ökumenischen Beziehungen. Als inhaltliche Schwerpunkte der Arbeit des BFeG ließen sich neben der Pflege der Ortsgemeinden insbesondere die Junge Generation sowie die Inlands-Mission ausmachen. Dabei fällt bei der Zugangsstatistik auf, dass diese Schwerpunkte im Blick auf die Mitgliederzugänge aus dem eigenen Nachwuchs sowie im Zusammenhang mit den Gemeindegründungen durchaus zum Wachstum des Bundes beitragen. Die Finanzierung sowohl der Ortsgemeinden als auch des Bundes basiert auf freiwilligen Spenden bzw. auf Beiträgen aus den Ortsgemeinden für den Bund. Dabei ist insofern die Freiwilligkeit einzuschränken, als sowohl in den Ortsgemeinden als auch im Blick auf den Bund die Möglichkeit besteht, über die Einsicht in die Spenden sozialen Druck aufzubauen oder die Zahlungen sogar an einen Weiterbestand der Mitgliedschaft zu binden. Auf den Einzug einer Steuer wird bewusst verzichtet, um die Grenze zum Staat zu wahren und den Spendenvorgang als Gewissensentscheidung des Individuums vor institutionellem Zugriff (nicht aber sozialem) zu schützen. Zuletzt zeigte sich die strukturelle Doppelgestalt von FeGn in Ortsgemeinde und Bund auch im Blick auf die hauptamtlich Angestellten, die sowohl direkt in der Ortsgemeinde berufen, beschäftigt und bezahlt werden, auf der anderen Seite aber, im Fall der PastorInnen über die Ordination und in abgeschwächter Form auch im Fall der GemeindereferentInnen beim Bund über ein beamtenähnliches Verhältnis abgesichert sind. Erstaunlicherweise gibt es zum Priestertum aller Gläubigen und damit der Verantwortung Ehrenamtlicher nur wenig explizite Regelungen oder Quoten. Stattdessen lassen sich wohl, neben den historischen Wurzeln, die hierarchie-begrenzende kongregationale Gesamtstruktur des BFeG, die weitreichenden Befugnisse der Gemeindemitgliederversammlung in der Ortsgemeinde sowie die bewusste und aktiv konzipierte Mitgliedschaft als struktureller Nährboden für ehrenamtliches Engagement im Sinne des Priestertums aller Gläubigen werten.

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4.

Gemeinde von Gläubigen – Der Glaubensbegriff als kirchentheoretischer Vermittlungsbegriff

Es war das explizite Anliegen Hermann Heinrich Grafes, eine „Gemeinde von Gläubigen“ ins Leben treten zu sehen. Indem in der Folge in Freien evangelischen Gemeinden tatsächlich der „Glaube“ zum Mitgliedschaftskriterium wurde, es bis heute ist und dabei sogar hinter die Taufe zurücktritt, fungiert er als kirchentheoretischer Vermittlungsbegriff, der sowohl theologischen als auch konkret-lebensweltlichen Bezug aufweist. Allerdings stellt sich bei der Polyvalenz des Glaubensbegriffs die Frage, welche – vor allem implizite – theologische Bestimmungen des Glaubensbegriffes dem Glauben als Vermittlungsbegriff in FeGn zugrunde liegen bzw. im frei-evangelischen Kirchenmodell und seinen Ordnungen inszeniert werden. Deshalb soll nun zunächst eine Darstellung der zentralen Momente des Glaubensbegriffes in reformatorischer Tradition mit frei-evangelischer Zuspitzung vorgenommen werden, wie sie im gegenwärtigen systematisch-theologischen Diskurs zur Sprache kommen. Danach soll die Inszenierung des Glaubens in Freien evangelischen Gemeinden, zunächst im Blick auf vorfindliche Ordnungen und später, im empirischen Teil, dann im Blick auf die Sicht der Mitglieder auf ihre Kirche, auf Grundlage dieser zentralen Momente des Glaubens eingeordnet werden, um die spezifisch frei-evangelische Ausprägung des Glaubens auszumachen und auch systematisch-theologisch zu beurteilen. 1 1 Grundlage der folgenden Überlegungen sind zum einen einige systematisch-theologische Veröffentlichungen frei-evangelischer Theologen, unter denen sich insbesondere Markus Iff intensiv mit dem Glaubensbegriff auseinandergesetzt hat: Bussemer, Die Gemeinde; Seidel, Freie evangelische Gemeinde; Demandt, Christliche Lehre; Iff, Reformation; Iff, Glauben verstehen; Iff / Heiser u. a., Werkstattbericht; zum anderen Aufsätze aus dem sehr instruktiven Band Gemeinhardt / Lasogga, Perspektiven, der 2017 im Rahmen der 61. Europäischen Tagung für Konfessionskunde vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes gemeinsam mit dem römisch-katholischen Johann-Adam-Möhler-Institut auch unter frei-evangelischer Mitwirkung entstanden ist: Horn, Glaube, Hoffnung, Liebe; Theobald, Glauben an die Liebe; Richter, Glaube; Iff, Gabe Gottes; darüber hinaus der Aufsatz zum Glaubensbegriff von Christiane Tietz, der ebenfalls in einem Sammelband unter

Glaube als Verhältnis

Dabei kann mit dieser systematisch-theologischen Perspektive auf den Glauben nicht beabsichtig sein, „so etwas wie theologische Normen oder Grenzen“ für die weitere Arbeit zu formulieren. Oder mit Hermelink gesprochen: „Die dogmatischen Betrachtungen sollen nicht beanspruchen, ein Phänomen der sozialen Wirklichkeit autoritativ und abschließend zu definieren, sondern sie sind viel mehr umgekehrt als Öffnung eines bestimmten Blickfeldes zu verstehen.“ 2 Diese Einblendung der systematisch-theologischen Perspektive kann also als Teil des in den kirchentheoretischen Grundlagen beschriebenen „kritisch-konstruktiven Gesprächs“ verstanden werden. Ganz grundsätzlich lässt sich der Glaube mit Eilert Herms als spezifisch christliche Lebensform verstehen, die ihrer selbst inne ist, „das heißt: als einer Gestalt der Führung des menschlichen Lebens, die ihr spezifisches Profil erhält durch den Inhalt derjenigen Gewissheit über Ursprung, Verfassung (Natur) und Bestimmung des Daseins, die sie ermöglicht, motiviert und orientiert (verlangt und ausrichtet).“ 3 Ebenso versteht Richter den christlichen Glauben als „eine bestimmte Art und Weise [. . . ], das Leben vor Gott zu führen und sich darin als Mensch zu verstehen“ 4. Und auch Markus Iff beschreibt den christlichen Glauben im Anschluss an Martin Heidegger als ein Phänomen sui generis: „Der Glaube ist eine Existenzweise des menschlichen Daseins, die nach dem eigenen – dieser Existenzweise wesenhaft zugehörigen – Zeugnis, nicht aus dem Dasein und nicht durch es aus freien Stücken gezeigt wird, sondern aus dem, was in und mit dieser Existenzweise offenbar wird, aus dem Geglaubten. Das primär für den Glauben und nur für ihn Offenbare und als Offenbarung den Glauben allererst zeitigende Seiende, ist für den ‚christlichen‘ Glauben Christus, der gekreuzigte Gott“ 5. Diese christliche Lebensform des Glaubens soll nun in ihrer Spezifität näher bestimmt werden.

4.1 Glaube als Verhältnis Im Neuen Testament, insbesondere im Johannesevangelium, wird bei der Rede vom Glauben in den meisten Fällen die Konstruktion πιστεύειν εἰς, also glauben an, gebraucht. 6 In diesem Sinne meint Glauben: „Jesus in seinem Selbstanspruch

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dem Titel „Glaube“ (Horn, Glaube) erschienen ist: Tietz, Der Glaube; sowie der viel rezipierte Arikel von Eberhard Jüngel: Jüngel, Glaube und die beiden Bestimmungen des Glaubens von Korsch und Härle: Härle, Dogmatik; Korsch, Dogmatik. Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 31 [Hervorhebung im Original]. Herms, Glaube, 458. Richter, Glaube, 69. Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 52, Zit. nach: Iff, Glauben verstehen, 12. Theobald, Glaube, Hoffnung, Liebe, 41.

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Gemeinde von Gläubigen

anerkennen und sich an ihn als den alleinigen Heilsmittler binden“ 7. Von derselben Struktur ist auch die Glaubensaussage des Credo, das mit den Worten beginnt „Ich glaube an. . . “ und sich dadurch ins Verhältnis setzt zum Gegenstand des Glaubens. Dementsprechend ist Glaube „wesentlich eine Relation, nämlich die angemessene Bezogenheit des Menschen auf Gott“ 8. Diese Bestimmung des Glaubens als Verhältnis führt besonders Dietrich Korsch in seiner Dogmatik im Grundriss aus. Der Verhältnisbegriff führt schon aufgrund formaler Überlegungen zu vier Einsichten: 1.) Verhältnisse sind nicht als solche anschaubar, sondern bedürfen des Ausdruckes durch andere Verhältnisse, 2) Verhältnisse haben Ereignischarakter, sie bestehen nur, wenn sie „hergestellt, gedacht oder vollzogen werden“ 9, 3.) die Relation lässt sich nicht von den Relaten abstrahieren, weshalb sich der Fokus von einem „‚Sein‘ von Verhältnissen ‚an sich‘“ 10 hin zum Ereignis der Relation und ihrem Zustandekommen zwischen den Relaten verschiebt und 4.) die Bedeutung des Verhältnisses und seine Relevanz für das Leben kommt in den Blick. Ermöglichungsgrund für eine solche Verhältnissetzung ist „die Fähigkeit zum Verhältnis überhaupt“ 11, die wiederum ein immer schon sich vollziehendes Selbstverhältnis des Menschen voraussetzt. Allerdings bedarf das Selbstverhältnis des Aufbaus von Weltverhältnissen, im Sinne von „Haftpunkte[n] im Gegenständlichen“ 12 für die eigene Verhältnisförmigkeit. Die Welt kann also als „Erfahrungsraum für alle Verhältnisse, die sich gegenständlich darstellen“ 13, verstanden werden. Auf Grund der Ungesichertheit, sowohl des Selbst- als auch des Weltverhältnisses, bedarf der Zusammenhang beider der Deutung. Dabei kann nun entweder das Selbstverhältnis als Spezialfall des Weltverhältnisses gedeutet werden (Naturalismus) oder, im Gegensatz dazu, das Weltverhältnis als Spiegel des Selbstverhältnisses (Idealismus). Ein dritter Weg ist sodann, das Gottesverhältnis als Dimension der Unverfügbarkeit als Deutung des Zusammenhangs von Selbstund Weltverhältnis einzuführen. Glaube kann auf dieser Grundlage also als eine im Leben sich vollziehende spezifische Koordination aus Selbst- und Weltverhältnis verstanden werden, die im Gottesverhältnis als der Dimension der Unbedingtheit gründet. Oder mit Jüngel: Im Glauben „entdeckt das Ich zugleich auch sich und seine Welt als neu qualifiziert, so daß es zu einer neuen Erfahrung mit der Erfahrung kommt.“ 14

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Ebd., [Hervorhebung im Original]. Tietz, Der Glaube, 147. Korsch, Dogmatik, 10. Ebd. Ebd. 11 [Hervorhebung im Original]. Ebd. 13. Ebd. 14 [Hervorhebung im Original]. Jüngel, Glaube, 972.

Glaube als Lebenshaltung zwischen Erkenntnis, Anerkenntnis und Vertrauen

Christlicher Glaube als Lebensform, die in dieser Konstellation aus Selbst-, Welt-, und Gottesverhältnis gründet, ist „die am Ort meines eigenen Lebens vorhandene Gewißheit, daß aufgrund meines Daseins im Gottesverhältnis ein unverbrüchliches Ineinander von Selbstverhältnis und Weltverhältnis besteht und daß ich als Mensch mein Leben genau in diesem Zusammenhang der drei Verhältnisse unter elementarer Grundlegung des Gottesverhältnisses gut und richtig führen kann.“ 15 Dieser Glaube erlaubt es, „die Strukturen des Lebens zu akzeptieren und ermöglicht uns eine Lebensführung in ihnen, die realistisch bleibt und dennoch zuversichtlich ist.“ 16 Zuletzt weißt Korsch noch auf den Zusammenhang von Glauben und Sprache hin. Da Verhältnisse ausgedrückt werden müssen, um verstanden zu werden und die Sprache, im weiten Sinne eines Zeichensystems, genau diesen Ausdruck leistet und damit Verhältnisse schafft, hat auch der Glaube als Verhältnis „Anteil an den Strukturen der Sprache“ bzw. „Strukturen der Sprache sind selbst Strukturen des Glaubens.“ 17 Wenn nun Kirche in praktisch-theologischer Sicht als soziale Ausdrucksform des christlichen Glaubens verstanden wird, die dieses Selbst-, Weltund Gottesverhältnis in Form sozialer Struktur kodiert, also zur Sprache bringt, muss auch hier von einem reziproken Verhältnis von der Struktur des Glaubens und der Struktur von Kirche ausgegangen werden. Insofern lässt sich auf Grundlage der Bestimmung des Glaubens als Verhältnis erstens danach fragen, inwiefern Sozialformen mehr oder weniger die Relationalität und den dynamischen Vollzug von Kirche betonen, gegenüber einem eher substantiellen Kirchenverständnis, zweitens inwiefern Sozialformen mehr oder weniger die besondere Koordination von Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis inszenieren, insbesondere der Dimension der Unbedingtheit und drittens inwiefern sich Sozialformen dem Glauben als Verhältnis entsprechend als relevant für die tatsächliche Lebensführung darstellen.

4.2 Glaube als Lebenshaltung zwischen Erkenntnis, Anerkenntnis und Vertrauen Im Anschluss an Melanchtons Glaubensverständnis vom Glauben als notitia, assensus und fiducia bestimmt Cornelia Richter den Glauben als Lebenshaltung zwischen Erkennen, Anerkennen und Vertrauen. Damit sind die Modi beschrieben, in denen sich die eben beschriebene Konstellation von Selbst-, Welt- und 15 Korsch, Dogmatik, 17 f. 16 Ebd. 19. 17 Ebd. 20.

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Gemeinde von Gläubigen

Gottesverhältnis vollzieht. Von diesen Modi lässt sich sodann auch auf die anthropologischen Orte des Glaubens als Vernunft, Wille und Gefühl schließen, wie es Christiane Tietz, Wilfried Härle und Markus Iff vornehmen.

4.2.1 Glaube als Erkenntnis – die kognitive Dimension des Glaubens Indem sich der christliche Glaube wesentlich im Verhältnis zu Gottes Wirken in Jesus Christus vollzieht, bedarf er grundlegender Kenntnisse dieses Gegenübers des Glaubens und seiner Vertrauenswürdigkeit. Der christliche Glaube ist inhaltlich bestimmt und kein „diffuses, unbestimmtes menschliches Grundgefühl vom ganz Anderen“ 18. Ohne die von Melanchton so bezeichnete notitia der Glaubensinhalte – wie elementar diese auch sein mögen – gibt es allem Anschein nach keinen Glauben. Das spricht für den Verstand und die Vernunft als anthropologischen Ort des Glaubens. Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass Verstand und Vernunft zwar unverzichtbare Modi der Welterschließung des Menschen sind, dennoch hamartiologisch (Melanchton) oder transzendentalphilosophisch (Kant) begründet höchst unzureichende. Trotz der zweifellos sehr wichtigen Funktion der Vernunft für den Glauben kann diese den Glauben nicht im Ganzen umfassen. „Menschen können alle Glaubensaussagen verstanden und eingesehen haben, sie sogar möglicherweise für wahr halten, ohne deshalb zu glauben.“ 19 Rationale Erschließung, individuelle Aneignung christlicher Kenntnisse und theologisches Denken sind also nur ein Teil der Glaubenswirklichkeit, „denn nicht einmal die klügste, vernünftigste Aneignung der Tradition wäre in der Lage, sie in mein Innerstes zu bringen.“ 20

4.2.2 Glaube als Anerkenntnis – die voluntative Dimension des Glaubens Dementsprechend kommt mit dem assensus die voluntative Dimension des Glaubens hinzu. Aus der abstrakt bleibenden notitia wird die willentliche Anerkenntnis des Glaubens und seines Gegenstandes, also ein Sich-ins-Verhältnis-SetzenLassen. Denn „Glaube ist nichts, was ein Mensch ohne sein Wollen oder gar gegen seinen Willen hätte, sondern er schenkt sein Vertrauen frei-willig – oder er verweigert es.“ 21 Damit ist eine Problematik angesprochen, die unten noch ausführlicher Beachtung finden soll, nämlich die Frage nach der Beteiligung des Men18 19 20 21

Tietz, Der Glaube, 139. Härle, Dogmatik, ebd. [Hervorhebung im Original, MS]. Richter, Glaube, 71. Härle, Dogmatik, 66 [Hervorhebung im Original].

Glaube als Lebenshaltung zwischen Erkenntnis, Anerkenntnis und Vertrauen

schen am Glauben, die Luther verneint und den Menschen dabei als rein passiv bestimmt hat. So kann die voluntative Dimension zumindest als Hinweis darauf verstanden werden, dass der Glaube wie „jeder Akt der Selbstwahrnehmung [. . . ] ein wenigstens minimal reflexives Moment“ und also „mindestens mediopassive Responsivität“ 22 in sich trägt. Dennoch ist der Glaube mit kognitiver und voluntativer Dimension noch nicht umfassend beschrieben, wie aus der Diskrepanz zwischen glauben wollen, aber nicht glauben können, hervorgeht: „Der Glaube selber schafft nicht die Tatsache des Bestimmtwerdens, sondern der Glaubende nimmt es wahr und läßt es für sich gelten. D. h. aber: Er bezieht sich auf ein Bestimmt-Werden und auf ein Sich-bestimmt-Wissen, dass jedem Willensakt als Ermöglichungsgrund schon vorgegeben ist und insofern nicht von ihm abhängt.“ 23

4.2.3 Glaube als Vertrauen – die affektive Dimension des Glaubens Deshalb ist eine dritte Dimension notwendig, die fiducia, das Vertrauen. Dabei ist es von hoher Wichtigkeit, die fiducia als Vertrauen nicht als „eine Gestimmtheit im Sinne purer Emotionalität zu verstehen“ 24. Beim Vertrauen als Gefühl geht es nicht „um einzelne Gefühlszustände, sondern um den affektiven Grundakkord, der das Leben bestimmt und begleitet“ 25. Durch diesen Grundakkord oder auch dieses „Lebensgefühl“ wird ein Mensch bestimmt, „noch lange bevor er sich dessen bewußt wird und sich dazu willentlich (also auswählend) verhalten kann.“ 26 Damit ist als Zentrum des Glaubens das angesprochen, was die Bibel als Sitz des Personenzentrums ausmacht, das Herz des Menschen (Röm 10,9 f). 27 Glaube, der als fiducia das Herz trifft, ist daher nach Richter auch performativ, indem sich „etwas in mir einstellt, das mich im Innersten verändert“ 28. Insofern ist die affektive Dimension des Glaubens als fiducia eine „performative Affektivität, die nur als ein Akt affektiver Erkenntnis zu verstehen ist.“ 29

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Richter, Glaube, 72. Härle, Dogmatik, 67. Richter, Glaube, 72. Härle, Dogmatik, 68. Ebd. [Hervorhebung im Original]. Diese besondere Bedeutung der affektiven Dimension erscheint auch bei Herms: „Diese Evidenzerfahrung vollzieht sich darum in der Grundschicht der Personalität, sie entwickelt „einen prägenden Einfluss auf das ‚Herz‘ des Menschen, auf seine Selbstgewissheit und sein Lebensgefühl.“, Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 35. 27 Iff, Glauben verstehen, 18. 28 Richter, Glaube, 72. 29 Richter, Glaube, 72.

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Nach Härle dürfen die im Gefühl wohl „am tiefsten reichenden Verankerungen des Glaubens“ 30 allerdings nicht als alleiniger Ort des Glaubens verstanden werden, um nicht die bei den anderen Seelenvermögen aufgezeigten Wahrheitsmomente zu verlieren. Darüber hinaus zeigt sich mit der Bestimmung von fiducia als Akt affektiver Erkenntnis „die Verbindung von notitia und fiducia durch den assensus, der mich als individuelle Person mit meiner Lebensprägung und Lebenshaltung in eine responsive Beziehung zu dem setzt, was mir zugesagt ist“ 31. Glaube als Verhältnis vollzieht sich als gerade im Zusammenspiel dieser drei Dimensionen, er ist Lebenshaltung zwischen Erkenntnis, Anerkenntnis und Vertrauen. Im Anschluss an diese Bestimmung des Glaubens lässt sich, wenn nun Kirche in praktisch-theologischer Sicht als soziale Ausdrucksform des christlichen Glaubens verstanden wird, wiederum fragen, inwiefern unterschiedliche Sozialformen das Zusammenspiel dieser drei Dimensionen zum Ausdruck bringen. Insbesondere im Blick auf den Mitgliedschaftsmechanismus und das Verhältnis der Mitglieder zur Kirche ist zu fragen, inwiefern dort eine kognitive, eine voluntative und eine affektive Dimension Niederschlag finden. Eine Ausblendung einzelner Dimensionen dort hätte ähnliche Konsequenzen, wie sie im Blick auf den Glauben zu konstatieren sind: ohne eine kognitive Dimension bleibt das Verhältnis zur Kirche flüchtige Affektivität, ohne eine voluntative Dimension ein mir äußerliches Verhältnis und ohne affektive Dimension kein performatives.

4.3 Glaube als Geschenk und Antwort Nun soll noch einmal im Speziellen der Frage nach der Beteiligung des Menschen am Glauben nachgegangen werden, wie sie oben schon aufkam, da insbesondere für das frei-evangelische Modell die Unterscheidung von Glaube als Geschenk und Glaube als Antwort aufschlussreich ist. Dementsprechend findet sich diese Unterscheidung prominent in den Veröffentlichungen des frei-evangelischen Theologen Markus Iff: „Der Glaube ist dankbare Antwort auf die Zueignung der freien Gnade Gottes durch das Wirken des Heiligen Geistes in der Verkündigung des Evangeliums.“ 32 Auch bei Christiane Tietz findet sich besagte Spannung, dort unter dem Titel „Aktivität und Passivität des Glaubens“ 33.

30 31 32 33

Härle, Dogmatik, 68. Richter, Glaube, 73. Iff, Reformation, 259. Tietz, Der Glaube, 153.

Glaube als Geschenk und Antwort

Freie evangelische Gemeinden verstehen sich als „Erben des Protestantismus“ und „Kinder der Reformation“ 34 und schließen sich insbesondere dem Kern der reformatorischen Tradition, der Rechtfertigungslehre, vollumfänglich an, wie es die Stellungnahme der Bundesleitung zum Verständnis des Evangeliums der Leuenberger Konkordie zur Sprache bringt: Sie [FeGn, M.S.] teilen mit den evangelischen Landeskirchen und anderen evangelischen Freikirchen und Gemeindebünden das Erbe der Reformation, das sein Zentrum im Evangelium als der frohen Botschaft von Gottes freier Gnade für die in der Sünde gefangenen Menschen hat, und das in den „vier sola“ („sola gratia“, „sola fide“, „solus Christus“, „sola scriptura“) zum Ausdruck kommt. 35

4.3.1 Freie Gnade – Unbedingtheit Dabei war schon für Grafe der Begriff der freien Gnade „Ur- und Fixstern“ 36 seiner Theologie und Ekklesiologie. Mit der freien Gnade brachte er die grundlegende Passivität des christlichen Glaubens zum Ausdruck. So schreibt Neviandt über Grafe: „Diese göttliche objektive Seite der Erlösung, nach der Gott Alles vollendet und ein vollkommenes, ewiges Heil in Christo bereitet hat, war für ihn der Ausgangspunkt seines persönlichen Glaubens.“ 37 Damit finden sich Grafe und mit ihm Freie evangelische Gemeinden tatsächlich in reformatorischer Tradition ein, die mit Vehemenz die Unbedingtheit des Heils extra nos, aber pro nobis vertritt. Die Möglichkeitsbedingung des Glaubens als Relation liegen nicht im Verfügungsbereich des Menschen, insofern ist Glaube Gabe und Geschenk und der Mensch dabei passiv, weshalb Luther bezüglich des Glaubens von einer Willensunfreiheit ausgeht 38 und Calvin den Glauben auch als eine „res . . . mere passiva“ 39 bezeichnet. So sehr sich Freie evangelische Gemeinden theologisch in die reformatorische Tradition einordnen können, sprechen sie gleichzeitig von einer „unvollendeten Reformation“ 40, insofern bei der Bestimmung des Glaubens als rein passives Ge34 35 36 37 38

Iff, Reformation, 130. BFeG, Evangelium. Seidel, Freie evangelische Gemeinde, 2. Neviandt, Erinnerungen, 130, zit. nach: Lenhard, Studien, 43. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass sich Luthers Glaubensbegriff in seinen Schriften vielseitiger darstellt, als er im von mir wiedergegebenen systematisch-theologischen Diskurs in der Gegenwart rezipiert wird. Neben jener passiven Dimension des Glaubens (klassisch in: Luther, De servo arbitrio, 638) kennt er auch einen performativ-tätigen Glauben (etwa: Luther, Vorrede zum Römerbrief, WA DB 7, 10). 39 Calvin, Institutio, 220. 40 Wöhrle, Unvollendete Reformation, Der Gärtner, 51/1967, 1008.

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schehen die Frage nach der Beteiligung des Menschen an diesem Geschehen offen bleibt. So schreibt Markus Iff: „Der Mensch ist weder willenloses Objekt des Wirkens Gottes an und in ihm noch ist er selbstmächtiger Autor des Glaubens. Der Mensch glaubt, wie Wilfried Joest sagt, nicht ‚aus sich selbst‘, wohl aber ‚als er selbst‘. Der Glaubende ist passiv, aber seine Passivität ist die ‚responsorische Passivität des Sich-lassens‘“ 41 Damit bezieht er sich auf das von Richter benannte philosophische Grundproblem: „Jeder Akt der Selbstwahrnehmung trägt ein wenigstens minimal reflexives Moment in sich, so dass auch die Erfahrung des geschenkten Glaubens eine Resonanz evoziert, d. h. eine mindestens mediopassive Responsivität in sich trägt.“ 42

4.3.2 Freie Gnade – Performanz und Resonanz Diesem Grundproblem trägt nun der zweite Aspekt von Grafes Begriff der freien Gnade Rechnung, indem er davon ausgeht, dass die freie Gnade nicht nur eine geschenkte, unverdiente, unbedingte Gnade ist, sondern sie auch „befreiende Wirkung am Herz des Menschen“ 43 hat. Die Frage nach der Beteiligung des Menschen am Glauben bzw. das Verständnis der freien Gnade in ihrer wirksamen Dimension soll nun, auf Grundlage der Bestimmung des Glaubens als Verhältnis und dem damit einhergehenden reziproken Zusammenhang von Glaube und Sprache, mithilfe der relationalen Resonanztheorie sowie der Sprechakttheorie erläutert werden. Grundlegend für die Sprechakttheorie 44 ist die Feststellung von John Austin, dass Menschen, wenn sie sprechen, auch etwas tun. Dementsprechend lautet der Titel seines Buches How to do things with words 45. Sprache kann also nicht nur auf ihren Inhalt hin untersucht werden, also ob eine Aussage richtig oder falsch ist, sondern auch auf ihre Wirkung auf den Kommunikationspartner. John Searle hat später die Theorie Austins erweitert und spricht der Unterscheidung Austins gemäß von konstativen und performativen Äußerungen. Im Sinne dieser Unterscheidung wäre es nun zu wenig, die Unbedingtheit und Externität der freien Gnade nur festzustellen, also als konstative Äußerung zu verstehen, sondern der Zuspruch der freien Gnade muss gleichzeitig auch im Hinblick auf seine Wirkung

41 42 43 44

Iff, Reformation, 161. Richter, Glaube, 72. Lenhard, Studien, 44. In der Praktischen Theologie wurde die Sprechakttheorie insbesondere in der Homiletik aufgenommen, da diese maßgeblich auf das Medium Sprache angewiesen ist. Vgl. dazu unter anderem: Grözinger, Homiletik, 290–294 sowie: Engemann, Homiletik, 223–248. 45 Austin, How to do things with words.

Glaube als Geschenk und Antwort

hin als performative Äußerung und also als wirklichkeitsverändernde Handlung hin bedacht werden. Die Wirkung, die der performative Zuspruch der freien Gnade evoziert, die den angesprochenen Menschen in seiner ganzen Existenz bewegt, ist dabei eine solche, dass sie den Menschen auch ganz miteinbezieht. Diese den Menschen ganz einbeziehende Wirkung lässt sich als Resonanz beschreiben. Hartmut Rosa definiert Resonanz als unverfügbare Antwortbeziehung, „in der sich Subjekt und Welt berühren und zugleich transformieren“ 46. Sowenig Resonanz ohne die Affizierung des Subjektes ausgelöst werden kann, so notwendig ist gleichzeitig das Mitschwingen desselben. Dabei fallen im Resonanzereignis Passivität und Aktivität in eins. In diesem Sinn lässt sich der performative Zuspruch der freien Gnade als Affizierung verstehen, die den Menschen zum „schwingen“ bringt, in also ganz bewegt, betrifft und verändert, ohne dass er selbst dieses Schwingen hätte erzeugen können. Diese resonanztheoretische Fassung des Zusammenhangs von Passivität und Aktivität des Menschen im Glauben entspricht dem Glauben als Fiduzialglauben in seinem Zusammenspiel mit Erkenntnis und Anerkenntnis, wie Richter ihn im Anschluss an Melanchton bestimmt. 47 Im Anschluss an Grafe lässt sich also davon sprechen, dass der unbedingte Zuspruch des Glaubens im Sinne der Sprechakttheorie nicht nur eine konstative Äußerung, sondern auch ein performatives Geschehen ist, das den Menschen nicht unverändert, sondern ihn, resonanztheoretisch gesprochen, in diese freie Gnade einstimmen lässt, ohne dass der Mensch damit die Möglichkeitsbedingung dieses Geschehens selbst schaffen könnte. In der Terminologie theologischer Tradition kommt diese performative Dimension der freien Gnade als u. a. als Wiedergeburt und Bekehrung, sowie als Bekenntnis, Glaubensgehorsam und Mission zum Ausdruck. Dabei ist mit ersteren mehr das punktuelle Resonanzereignis im Blick, während letztere mehr die andauernde Antwortbeziehung betonen. Kirchentheoretisch stellt sich nach diesem Durchgang die Frage, inwiefern beide Momente der freien Gnade, also sowohl ihre Unbedingtheit wie auch ihre Performanz und also der Glaube als Gabe und als Antwort, in Kirche als der je konkreten Sozialgestalt des Glaubens Ausdruck finden und durch sie inszeniert werden. Freie evangelische Gemeinden lassen sich in dieser Hinsicht als Versuch verstehen, auf Grundlage der Unbedingtheit der freien Gnade gleichzeitig auch ihre performative Dimension und die sich aus ihr ereignende Resonanz konstitutiv durch einen Mitgliedschaftsmechanismus im Kirchenmodell zu verankern, der genau dieses Resonanzereignis zur Mitgliedschaftsvoraussetzung macht. Die sich daraus ergebende entscheidende Frage ist dann, wie genau dieses Resonanzereignis als Mitgliedschaftsvoraussetzung operationalisiert werden kann. 46 Rosa, Resonanz, 298. 47 Richter, Glaube, 72 f.

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4.4 Glaube in seiner subjektiven, intersubjektiven und transsubjektiven Dimension Eine weitere kirchentheoretisch aufschlussreiche Bestimmung zum Glauben liefert der Neutestamentler Friedrich W. Horn, indem er zwischen einem subjektiven Glauben, also dem „vom Einzelnen zu vollziehenden Glaubensakt“, einem intersubjektiven Glauben als einer „gemeinschaftlichen, Identität stiftenden ekklesiologischen Seite“ und drittens einem transsubjektiven Glauben, der „sich auf das dem Glauben zugrunde liegende Heilsereignis bezieht“ 48, unterscheidet. Mithilfe dieser Differenzierung sollen nun, auf der Grundlage des bisher Gesagten, weitere entscheidende Momente des Glaubens Betrachtung finden.

4.4.1 Subjektiver Glaube Christlicher Glaube ist ein konstitutiv subjektives Geschehen. Insofern er als Deutung des Zusammenhangs von Selbst- und Weltverhältnis verstanden werden kann, ist er ohne Einbeziehung des „Selbst“ nicht denkbar. Auch die voluntative Dimension des Glaubens als assensus sowie die Rede vom Fiduzialglauben als Resonanzereignis verdeutlichen, dass Glaube nur je eigener konkret-geschichtlicher Glaube sein kann, der sich in Bekenntnis und Gehorsam äußert. Dieser Bestimmung entspricht die Beobachtung Hermelinks, dass der Begriff Glaube in der Praktischen Theologie prominent dort Verwendung findet, wo das glaubende Subjekt im Fokus steht: in der Religionspädagogik, in der Aszetik, in der Seelsorge und der Homiletik. 49 Glauben ist dann eine „persönliche, ganz und gar individuelle Erfahrung“ 50. Diese unvertretbar-subjektive Dimension des Glaubens wird „in Freikirchen terminologisch als das ‚persönliche‘ Element des Glaubensvollzuges gefasst“ 51. Beim frei-evangelischen Theologen Konrad Bussemer kommt sie als „christliche Persönlichkeit“ zur Sprache: „Eigentlich soll jedes Glied der Gemeinde eine solche Persönlichkeit sein und werden.“ 52 Auch der von Christian Grethlein geforderte Kommunikationsmodus der Authentizität 53 bezüglich der

48 49 50 51 52 53

Horn, Glaube, Hoffnung, Liebe, 27. Vgl. dazu: Hermelink, Glauben. Ebd. 190. Iff, Gabe Gottes, 95. Bussemer, Die Gemeinde, 163. Vgl. Grethlein, Kirchentheorie, 213f: „Gegenüber den früher am Modus der Autorität, etwa des Bischofs, des Katechismus u.ä., orientierten Kommunikationen dominiert jetzt die Form der Authentizität. Sie ist durch den unmittelbaren Bezug auf das individuelle Erleben bestimmt und nicht an Kohärenz oder theologischer Richtigkeit interessiert. Demzufolge treten konkrete Inhalte hinter dem Wie der Selbstrepräsentation als entscheidend zurück.“

Glaube in seiner subjektiven, intersubjektiven und transsubjektiven Dimension

(kirchlichen) Kommunikation des Evangeliums findet in der subjektiven Dimension des Glaubens seine Begründung. Mit der subjektiven Dimension des Glaubens geht gleichzeitig seine Vielfalt und Vielgestaltigkeit einher. Denn als geschichtlich-konkret angeeigneter Glaube eines Subjekts, als Lebenshaltung und -deutung vollzieht er sich stets in historischen, kulturellen und biographischen Zusammenhängen, die seine Gestalt maßgeblich mitbestimmen. Dabei muss der Glaube diese Kontexte nicht nur affirmativ aufnehmen, sondern kann gerade auch in Widerstand zu ihnen geraten. Wie außerdem in der Religionspädagogik prominent zur Sprache kommt, kann davon gesprochen werden, dass der subjektive Glaube gelernt werden kann. „Glauben lernen folgt demselben Muster, nach dem auch gegenwärtige Bildungsprozesse verlaufen. Glauben ist selbst ein Bildungsvorgang.“ 54 Er ist eine dynamische Lebensbewegung des Suchens, in deren Verlauf sich Subjektivität ausbilden kann. In diesem Sinne kann man glauben zwar nicht lernen, wie sich das Ausüben eines Handwerks lernen lässt, aber er erschließt sich dem Subjekt dennoch in Lernprozessen. Bei alledem ist der vertrauensvolle Glaube als prozesshafte und dynamische Lebensbewegung „kein Besitz des Menschen“, vielmehr vollzieht er sich „in der Polarität von Zuversicht und Angefochtenheit“ 55, da er sich zwar konstitutiv subjektiv vollzieht, aber transsubjektiv begründet und insofern dem Subjekt entzogen ist. Daher muss der subjektive Glaube den Zweifel geradezu einschließen. Die sich im vertrauensvollen Glauben einstellende Gewissheit bleibt eine angefochtene und darf eben nicht mit der certitudo verwechselt werden. Es kann also gesagt werden: „ohne Zweifel kommt der Glaube nicht zu seiner Gewissheit“ 56.

4.4.2 Transsubjektiver Glaube Jan Hermelink stellt neben seine Beobachtung, dass der Glaubensbegriff in der Praktischen Theologie vor allem dort Verwendung findet, wo die subjektive Dimension betont wird, noch eine zweite antithetische Feststellung: „In der Religionspädagogik, in der Aszetik, aber auch in der Religionssoziologie verweist ‚Glauben‘ auf einen bestimmten inhaltlichen Bezug des Religiösen. Zum Glauben gehört zwar nicht die selbstverständliche Übernahme, wohl aber die gründliche, engagierte Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition, mit ihren Texten, Ritualen und Frömmigkeitsformen“ 57. Neben der inhaltlichen Bestimmtheit und 54 55 56 57

Korsch, Dogmatik, 26 [Hervorhebung im Original]. Iff, Gabe Gottes, 95. Benyoetz, Scheinhellig, 29. Hermelink, Glauben, 190.

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der damit einhergehenden Normativität des Glaubens kommt in den Verwendungen außerdem zum Ausdruck, dass der Glaube in seiner Unverfügbarkeit „auf ein Handeln Gottes zurückzuführen ist“ 58. Mit der Bestimmung des Glaubens als freie, geschenkte Gnade und als Gottes Gabe sowie außerdem der notwendigen inhaltlichen Bestimmtheit des Glaubens ist die subjektive Dimension um die transsubjektive zu erweitern und dieser theologisch darüber hinaus klar der Vorrang einzuräumen, insofern die transsubjektive Dimension die Möglichkeitsbedingung für die subjektive darstellt. Neben dem Heilshandeln Gottes als Grund des Glaubens extra nos kommen in dieser Dimension auch weitere transsubjektive, also für den subjektiven Glauben objektiv erscheinende Zusammenhänge zur Sprache, wie die biblischen Texte und die Kirche als Institution mit ihren Bekenntnissen, Traditionen und Ritualen. Sowohl die biblischen Texte als auch die Kirche können als auf Dauer gestellte irdische Räume und unverwechselbare Orte der Manifestation des Evangeliums, also des transsubjektiven Glaubens, in der Geschichte verstanden werden 59 und stehen als solche für die Universalität des christlichen Glaubens, der zwar als subjektiver Glaube eine konkret-raumzeitliche „Erfahrung mit der Erfahrung“ ist, aber gleichzeitig in seinem transsubjektiven Gehalt in dieser konkret-raumzeitliche Erfahrung nicht aufgeht. Sowohl biblische Texte als auch Kirche bieten damit dem subjektiven Glauben Möglichkeitsräume, Erfahrungen mit eben jenen objektiven und universalen Gehalten zu machen.

4.4.3 Intersubjektiver Glaube Christoph Schwöbel stellt in seinem Aufsatz „Kirche als Communio“ 60 heraus, dass „das durch das Christusgeschehen, das im Evangelium bezeugt wird, ermöglichte Sozialleben des Glaubens ein integraler Bestandteil des christlichen Glaubens ist“ 61. Christlicher Glaube ist also mit der subjektiven und transsubjektiven Dimension nicht hinreichend beschrieben, sondern bedarf in zweierlei Hinsicht der Erweiterung um die intersubjektive Dimension: zum einen hat der Glaube ein gemeinschafts- und identitätsstiftendes Moment und zum anderen ist er als prozesshafte, dynamische Lebensbewegung und als Lernprozess auf soziale Räume angewiesen, in denen Glauben-Lernen möglich ist und externe Vergewisserung des Glaubens in personaler Kommunikation geschieht. Dieser Zusammenhang der subjektiven und transsubjektiven Glaubensdimension mit dem intersubjekti58 59 60 61

Ebd. 191. Vgl. Iff / Heiser u. a., Werkstattbericht, 33. Schwöbel, Communio. Ebd. 396.

Glaube in seiner subjektiven, intersubjektiven und transsubjektiven Dimension

ven Glauben zeigt: „Die konstitutiven Elemente des Glaubens prägen die Bestimmung dieses Soziallebens in der Weise, daß seine Identität und Struktur nicht ohne Rückbezug auf diese Elemente aussagbar ist.“ 62 Christlicher Glaube kann als Bildungsprozess verstanden werden. Damit sind allerdings nicht nur kognitive Vorgänge gemeint, stattdessen bilden sich christlicher Glaube und Frömmigkeit, wie in allen Religionen, „wesentlich auf dem Wege der Imitation“ 63. Für diese Imitation sind soziale Zusammenhänge wie Familie, Kirchengemeinde, Schule oder digitale Sozialräume notwendig, die diese Imitation hervorbringen und ermöglichen. In personalen Zusammenhängen überbrückt der intersubjektive Glaube die Distanz zwischen subjektiver und objektiver Ebene und ermöglich im Sinne der Wissenssoziologie Internalisierungsprozesse, durch die sich in der intersubjektiv vermittelten Begegnung mit den objektiven Gehalten des Glaubens im Modus der Aufnahme und Ablehnung der je eigene „persönliche“ Glauben bildet. Der subjektive Glaube ist allerdings nicht nur für die Entstehung und fortdauernde Bildung, sondern auch bezüglich der ihn begleitenden Angefochtenheit und Zweifel auf die intersubjektive Dimension im Sinne der externen, personal kommunizierten Vergewisserung angewiesen. Jede subjektive Wirklichkeit ist auf Plausibilitätsstrukturen, d. h. auf gesellschaftliche Prozesse, die den Bestand der subjektiven Wirklichkeit sichern, angewiesen. Auch die Glaubenswirklichkeit als subjektive Wirklichkeit ist auf diese Plausibilitätsstrukturen und auf ihre wirklichkeitsschaffende und wirklichkeitserhaltende Funktion angewiesen. Der Glaube bzw. die Religion bedarf nach dem Wissenssoziologen Peter Berger sogar besonders dieser Plausibilitätsstrukturen, wegen des „außerordentlichen und (für die meisten Menschen) metaempirischen Charakters ihrer Behauptungen“ 64. Berger spitzt noch mehr zu: „Und so kann der Soziologe sich erlauben, das bereits erwähnte Diktum: ‚Kein Heil außerhalb der Kirche‘ etwas respektlos zu übersetzen in: ‚Keine Plausibilität ohne die richtige Plausibilitätsstruktur.‘ Dies gilt für alles, was Menschen plausibel (im Sinne von glaubhaft) erscheint – für den religiösen Glauben gilt es in verstärktem Maße.“ 65 Die intersubjektive Dimension des Glaubens bietet dem subjektiven Glauben eine solche Plausibilitätsstruktur im Sinne einer externen personal-kommunizierten Vergewisserung. Zuletzt ist der Glaube allerdings nicht nur auf die intersubjektive Dimension angewiesen, sondern bringt sie zugleich auch hervor, da ihm ein konstitutiv gemeinschaftsstiftendes Moment innewohnt: „Es ist die Erfahrung der schöpferischen Lebensmacht Gottes in Jesus Christus, durch die Menschen am Glauben

62 63 64 65

Ebd. Meyer-Blanck, Gebet, 6. Berger, Sehnsucht, 176. Ebd.

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Jesu Christi partizipieren und in die Gemeinschaft der Glaubenden versetzt sind. Für das Gemeindeverständnis ergibt sich daraus, dass Gemeinde als organologisches Sozialgebilde im Sinne einer Wesensgemeinschaft zu verstehen ist, in die man durch das Geschenk des Glaubens und die Wiedergeburt im Heiligen Geist hineingestellt wird bzw. zu der man ‚hinzugetan‘ (vgl. Apg 3, 47) wird.“ 66 Dabei gilt die Geschichtlichkeit und Kontextualität, die für den subjektiven Glauben angeführt wurde, im selben Maß auch für diese intersubjektive Dimension, sodass aus ihr nicht nur eine determinierte Sozialform hervorgeht, sondern diese auch stets vom historischen und kulturellen Kontext geprägt ist.

4.4.4 Das Verhältnis dieser Dimensionen zueinander Nach diesem Durchgang sollen die drei Dimensionen nun noch genauer zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Dabei ist als erstes festzustellen, dass diese drei Dimensionen nicht nur mögliche, legitime, sondern konstitutive Momente des christlichen Glaubens sind. Daher ist dort von Reduktionismus zu sprechen, wo eine dieser konstitutiven Dimensionen gänzlich ausgeblendet oder vernachlässigt wird. Die Trias aus Mystik, Sekte und Anstalt, die Ernst Troeltsch in seiner „Soziallehre von den christlichen Kirchen und Gruppen“ postuliert, findet ihre Begründung exakt in den drei beschriebenen Dimensionen des Glaubens und kann sich also als Inszenierung des Glaubens in drei verschiedenen Sozialformen verstehen. Die Spannung zwischen diesen Sozialformen, die Hauschildt in seinem Hybrid-Modell 67 beschreibt, lässt sich auf dieser Grundlage nicht nur aus den unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Logiken der Sozialformen verstehen, sondern aus den Spannungen, die im Glauben selbst angelegt sind, der unter dieser Perspektive ebenfalls metaphorisch als Hybrid verstanden werden kann. Zweitens ist der transsubjektiven Dimension des Glaubens als Ermöglichungsgrund des je eigenen Glaubens eine klare theologische Vorrangigkeit einzuräumen, während subjektive und intersubjektive Dimension theologisch als gleichursprünglich zu betrachten sind – auch wenn lebensgeschichtlich häufig die intersubjektive der subjektiven in Form von Sozialisationsprozessen vorausgeht. Drittens ist das Verhältnis zwischen subjektiver und transsubjektiver Dimension des Glaubens als besonders spannungsreich zu beschreiben. Sie verhalten sich zu einander wie Vielfalt zu Einheit und Kontextualität zu Universalität. Wo also die subjektive (und intersubjektive) Dimension des Glaubens betont wird,

66 Iff / Heiser u. a., Werkstattbericht, 33. 67 Siehe 11.1 Grundliegendes kirchentheoretisches Konstrukt: Hybrid Kirche.

Glaube als Leitdifferenz

kommen gleichzeitig Vielfalt und Kontextualität in gesteigerter Form zum Ausdruck, während eine Emphase auf der transsubjektiven Dimension des Glaubens Einheit und Universalität inszeniert. Diese Spannung evoziert sowohl ekklesiologisch als auch kirchentheoretisch fast automatisch eine Verhältnisbestimmung von Einheit und Vielfalt, die beispielsweise trinitätstheologisch aber auch christologisch-ekklesiologisch als Einheit in Vielfalt verstanden werden kann. Viertens ist zumindest in reformatorischer, besonders in freikirchlicher Tradition darauf hinzuweisen, dass bei aller theologischen Vorrangigkeit der transsubjektiven Dimension dennoch die subjektive Dimension des Glaubens, insbesondere in ihrem kirchenkritischen Moment, zu schützen ist: Mit der „Hochschätzung des persönlichen Glaubens korrespondieren in Freien evangelischen Gemeinden die Freiheit des an das Wort Gottes gebundenen Gewissens des Einzelnen sowie die Einforderung der Religionsfreiheit als politisches Grundrecht. Die im Glauben unmittelbar begründete Stellung der Person vor Gott schließt aus, dass politische Institutionen Zugriff auf den Glauben des Menschen haben.“ 68

4.5 Glaube als Leitdifferenz Als letzte Bestimmung zum Glaubensbegriff soll nun noch der Glaube als Leitdifferenz untersucht werden. Es war bereits die Rede davon, dass der Glaube gemeinschafts- und identitätsstiftende Funktion hat. Dabei sind Gemeinschaft und Identität definitionsbedürftig, also auf Grenzen angewiesen. In diesem Sinn kommt nun bei Markus Iff und bei Christiane Tietz, im Anschluss an Dalferth, der Glaube als Leitdifferenz in den Blick. Sowohl auf Grundlage des Neuen Testamentes als auch unter Rückgriff auf den Glauben als Verhältnis lässt sich davon sprechen, dass Glaube und Unglaube Gegenbegriffe sind, die sich gegenseitig ausschließen. Auch wenn anthropologisch von einem Mehr oder Weniger des Glaubens bzw., wie schon erwähnt, von ihn konstitutiv begleitenden Zweifel und Angefochtenheit gesprochen werden kann, ist dies theologisch nicht möglich, da der Glaube die von Gott gewirkte Überwindung des Unglaubens ist, sodass Gott nun „vor der Klammer steht, die alle weltlichen Phänomene einschließt“ und der Mensch „von einer Sicht und Praxis des Lebens, die nur Weltliches kennt, zu einer Sicht der Welt als Schöpfung“ 69 hinüberwechselt. Oder mit Markus Iff: „Jeder Mensch lebt entweder im Unglauben oder im Glauben und niemand lebt im Glauben, der nicht aus dem Unglauben gekommen wäre.“ 68 Iff, Reformation, 162. 69 Dalferth, Transzendenz, 150.

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Auch für die intersubjektive Dimension des Glaubens sind Glaube und Unglaube als Leitdifferenz zu verstehen. Gleichzeitig hat diese Leitdifferenz in sich radikal inklusiven und antihierarchischen Charakter: „Insofern die Kirche das Prinzip ihrer sozialen Kohäsion allein im Glauben an den dreieinigen Gott als Antwort auf die Kommunikation des Evangeliums findet, transzendiert sie alle natürlichen, ethnischen, sozialen, funktionalen und interessensbedingten Gemeinschaften. Die Prinzipien, die in diesen Gemeinschaften die Gemeinschaftszugehörigkeit und damit die Differenz zu anderen Gemeinschaften definieren, gelten in der Kirche nicht, wenn sie Gemeinschaft des Glaubens ist.“ 70 Neben diesem radikal inklusiven Charakter, der biblisch unter anderem in Gal 3,28 Ausdruck findet, hat der Glaube als Kohäsionsprinzip aber auch grenzüberschreitenden Charakter, weil er zugleich „durch seinen Inhalt als umfassendes Wirklichkeitsverständnis auf alle Dimensionen des Daseins“ 71 und damit „direkt oder indirekt auf alle Formen sozialer Interaktion bezogen“ 72 ist. Dieses radikal inklusive Moment schließt auch einen antihierarchischen Impetus mit ein, der in der reformatorischen Tradition mit dem Begriff des Priestertums aller Gläubigen verbunden ist, der wiederum in Übereinstimmung steht „mit biblischen Traditionen, der königskritischen Linie in wichtigen Büchern des Alten Testamentes, den herrschaftskritischen Äußerungen der jesuanischen Überlieferung und vor allem dem Grundsatz der Gottebenbildlichkeit aller Menschen (Gen 1,27) sowie der Aufhebung der Unterschiede beim ‚Sein in Christus‘ (Gal 3,28)“ 73. Auf dieser Grundlage und verknüpft mit dem Antwortcharakter des Glaubens und seiner subjektiven Dimension ist Partizipation „nicht nur ein neuzeitlicher Grundsatz, sondern auch in theologischer Perspektive plausibel als Normalfall“ 74 zu betrachten.

4.6 Zusammenfassung: Zentrale Momente des Glaubensbegriffs und ihre kirchentheoretische Funktion Die systematisch-theologische Perspektive auf den Glaubensbegriff hat zunächst deutlich dessen Polyvalenz und Polarität herausgestellt. Der Glaubensbegriff als kirchentheoretischer Vermittlungsbegriff plausibilisiert in dieser Weise die eingangs vorgestellte Übereinkunft des kirchentheoretischen Diskurses, dass ein praktisch-theologischer Kirchenbegriff mehrdimensional gefasst sein muss. 70 71 72 73 74

Schwöbel, Communio, 427. Ebd. Ebd. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 357. Ebd.

Zusammenfassung: Zentrale Momente des Glaubensbegriffs

Diese Mehrdimensionalität ist nicht nur der komplexen sozialen Wirklichkeit geschuldet, sondern kann nach diesem Durchgang darüber hinaus als Implikat des Glaubens selbst verstanden werden. Außerdem wurde der Glaube in seiner grundsätzlich relationalen Verfasstheit als sich vollziehendes, also dynamisches Verhältnis bestimmt, das sich inhaltlich als Lebensform zwischen Erkenntnis, Anerkenntnis und Vertrauen verstehen lässt und das somit kognitive, voluntative und affektive Aspekte umfasst. Dabei hat diese Lebensform grundsätzliche Relevanz für die Lebensführung und also ethische Implikationen. Im Sinne der Antithese von Geschenk und Antwort wurde der Glaube zunächst als rein passives Geschehen am Menschen durch Gottes Heilshandeln bestimmt, das aber in seiner Performanz den Menschen bewegt, ganz beteiligt und nach dem Bild der Resonanz eine Antwort evoziert, wobei insbesondere die Bestimmung des Glaubens als Vertrauen zeigt, wie im Vertrauen passives und aktives Moment ineinander fallen. Weiter wurde bezüglich des Glaubens zwischen einer subjektiven, intersubjektiven und transsubjektiven Dimension unterschieden. Mit der subjektiven Dimension ist davon zu sprechen, dass Glaube nur ein je eigener konkret-geschichtlicher, „persönlicher“ und „authentischer“ Glaube sein kann, der sich in vielfältigen historischen, kulturellen und biographischen Kontexten, diese integrierend oder ablehnend, vollzieht und außerdem als unverfügbarer Bildungsprozess verstanden werden kann, der notwendig vom Zweifel begleitet ist. Die transsubjektive Dimension des Glaubens verdeutlicht in Spannung zur subjektiven Dimension die inhaltliche Bestimmtheit des Glaubens sowie seinen normativen und universalen Anspruch, der im Heilshandeln Gottes extra nos gründet und deshalb im raumzeitlich-konkreten subjektiven Glauben nicht aufgeht, wie es die biblischen Texte und die Kirche als Institution mit ihren Bekenntnissen, Traditionen und Ritualen zum Ausdruck bringen. Mit der intersubjektiven Dimension des Glaubens kommt auf besondere Weise Verschränkung von Aktivität und Passivität im Glauben zur Sprache, insofern der Glaube als Bildungsprozess auf soziale Lernräume und in seiner Angefochtenheit auf Plausibilitätsstrukturen in Form einer externen personalkommunizierten Vergewisserung angewiesen ist und zugleich auch gemeinschaftsstiftende Wirkung hat. Für diese intersubjektive Dimension des Glaubens haben Glauben und Unglauben die Funktion einer Leitdifferenz, die gleichzeitig radikal inklusiven sowie partizipativen und antihierarchischen Charakter hat. Auf diese Momente der Bestimmung des Glaubens hin müssen sich sowohl eine (frei-) evangelische Ekklesiologie als auch Kirchentheorie befragen lassen. Dabei liegt es allerdings schon in der Polyvalenz und teilweisen Polarität des Glaubensbegriffs selbst begründet, dass die unterschiedlichen Kirchen als soziale Ausdrucksformen des Glaubens im Hinblick auf diese Momente explizit oder implizit unterschiedliche Schwerpunkte setzen und also unterschiedliche Kirchenmodelle entstehen.

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4.7 Schwerpunkte der Inszenierung des Glaubens durch dessen Sozialgestalt in FeGn Eine Analyse der Schwerpunktsetzung im Blick auf die unterschiedlichen Momente des Glaubens soll nun konzentriert auf das Kirchenmodell Freier evangelischer Gemeinden durchgeführt werden, wie es sich im geschichtlichen und kirchenkundlichen Durchgang dargestellt hat. 75 Dabei muss zunächst der Mitgliedschaftsmechanismus Berücksichtigung finden. Indem die Mitgliedschaft an eine bekennende und ethische Glaubensäußerung des Einzelnen gebunden wird, kommen sowohl die ethischen Implikationen wie auch die zumindest eingeschränkt rechenschaftsfähigen Momente des Glaubens als Erkenntnis, Anerkenntnis und Vertrauen zum Ausdruck. Vor allem bei der Operationalisierung des Glaubens über das ethische Moment ist allerdings zu fragen, inwiefern hier die historische, kulturelle und biographische Kontextualität von Moral berücksichtigt wird. Dieser Problematik scheint die historische Entwicklung der entsprechenden Passage in den Musterordnungen von 1854 bis 2017 zu entsprechen, die in chronologischer Reihenfolge folgende Operationalisierungsversuche vornimmt: ein Lebenswandel, der das Bekenntnis bezeugt; ein Lebenswandel, der dem Bekenntnis entspricht; ein Lebenswandel, der dem Bekenntnis nicht widerspricht; ein Leben, in dem das Wirken des Heiligen Geistes sichtbar wird. Gleichzeitig werden über den Ansatz beim individuellen Bekenntnis und der Wirkung des Glaubens im Leben der Mitglieder sowie der aktiven Konzeption der Mitgliedschaft die Performanz der freien Gnade sowie die von ihr evozierte Antwort besonders inszeniert. Damit drängt sich aber auch die Frage auf, wo die theologisch vorrangige Passivität als Moment des Glaubens zum Ausdruck kommt. Im Blick auf die Ordnungen erscheint diese vor allem als Voraussetzung für die Antwort des subjektiven Glaubens und findet lediglich ansatzweise in der institutionslogischen Zugehörigkeitsrolle der Kinder eine konkrete Form. Auch die Plausibilitätsstruktur der Gruppenlogik beinhaltet passive Momente, allerdings ist die Zugehörigkeit zur Gruppe wiederum maßgeblich von Aktivität und Anwesenheit des Mitglieds abhängig, weshalb sich wohl von einer tendenziell geringeren Berücksichtigung der Passivität des Glaubens im frei-evangelischen Kirchenmodell sprechen lässt. Die subjektive und intersubjektive Dimension des Glaubens werden im freievangelischen Kirchenmodell im Gegenüber zur transsubjektiven deutlicher betont. Sowohl in der Geschichte als auch in den Ordnungen hat sich die Betonung der persönlich-individuelle Glaubensäußerung als frei-evangelisches Spezifikum gezeigt. Sie ist zwar in gewissem Maß auch mit normativen Gehalten (Christus, 75 Dasselbe soll unten im empirischen Teil noch mit den Aussagen der Mitglieder geschehen, was dann einen aufschlussreichen Vergleich zwischen beiden Perspektiven ermöglicht.

Schwerpunkte der Inszenierung des Glaubens durch dessen Sozialgestalt in FeGn

Bibel) verschränkt, beinhaltet aber doch erhebliche Kontextualisierungsmöglichkeiten, indem als Gütekriterium die Authentizität der theologischen Richtigkeit deutlich vorgeordnet ist. In der bereits erwähnten Gruppenlogik der überschaubaren Ortsgemeinde manifestiert sich zudem, auf bestimmte Art und Weise, die intersubjektive Dimension des Glaubens in ihrer gemeinschaftsstiftenden Wirkung als Plausibilitätsstruktur sowie die Angewiesenheit des Glaubens als Bildungsprozess auf soziale Lernräume. Demgegenüber treten die Universalität und Normativität des Glaubens deutlich zurück und beschränken sich nahezu vollständig auf die Bibel. In dieser Konstellation der drei Dimensionen ist kritisch erstens auf die Ambivalenz der Authentizität 76 zu verweisen, die zu einer Überforderung des Individuums (sowohl bei den Mitgliedern als auch in pastoraltheologischer Hinsicht) führen kann, zweitens zu fragen, ob die Verankerung der transsubjektiven Dimension des Glaubens allein in der Bibel nicht eine Überforderung der in sich spannungsreichen und vielfältigen biblischen Schriften darstellt und drittens, unter Berücksichtigung der den Glauben notwendig begleitenden Zweifel, zu bemerken, dass die intersubjektive Dimension mit ihren Plausibilitätsstrukturen in Freien evangelischen Gemeinden unbedingt einer transsubjektiven Erweiterung bedarf, um im Blick auf die Inszenierung des Heilshandelns Gottes extra nos nicht unterbestimmt zu sein. Zuletzt findet der Glaube als Leitdifferenz deutliche Berücksichtigung im freievangelischen Kirchenmodell, indem eben der „persönliche“ Glaube als Differenzkriterium für die Mitgliedschaft fungiert. Dabei zeigte sich vor allem in der Geschichte aber auch teilweise in den Ordnungen in der wichtigen Rolle der Laien für FeGn das partizipative Moment des Glaubens sowie vor allem in der kongregationalistischen Selbstständigkeit der Ortsgemeinde die antihierarchische Tendenz. Bezüglich der Inklusivität ist allerdings zu fragen, ob durch starke Betonung von Aktivität und Anwesenheit im gruppenförmigen Gemeindemodell nicht eine Milieuverengung evoziert und das inklusive Moment des Glaubens dadurch unsachgemäß eingeschränkt wird.

76 Vgl. dazu auch 12.2.2 „Geistliche Persönlichkeiten“ und „persönlicher Glaube“: Kirche als Ort des Begehrens nach Authentizität.

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5.

Zum Verhältnis von Freikirchen und Religion in der Spätmoderne

Freie evangelische Gemeinden wurden im historischen Teil in ihrem Verhältnis zur Moderne als „Antwort des Protestantismus auf die Moderne“ verstanden. Dabei hatte die Moderne als Entstehungskontext maßgebliche Auswirkungen auf das im Kirchenmodell und, wie der systematisch-theologische Durchgang zeigte, auf das darin implizierte Glaubensverständnis. In ihrem Gegenwartsbezug hat eine kirchentheoretische Untersuchung allerdings auch zu Fragen, wie sich das Verhältnis Freier evangelischer Gemeinden zu ihrem gegenwärtigen Kontext, der Spätmoderne, beschreiben lässt. 1 Dieser Absicht verpflichtet soll nun allerdings der Blick in doppelter Hinsicht geweitet werden. So soll die Verhältnisbestimmung zur Gegenwart erstens nicht nur im Blick auf den christlichen Glauben geschehen, sondern in weiterer Perspektive soll der Frage nach den Bedingungen und Kontexten für Religion allgemein in der Spätmoderne nachgegangen werden. Zweitens soll der Bezugspunkt der Verhältnisbestimmung von Freien evangelischen Gemeinden auf Freikirchen erweitert werden, sodass dieser Abschnitt also zum Ziel hat, das spezifische Verhältnis von evangelischen Freikirchen in Deutschland und Religion in der Spätmoderne zu untersuchen. Dafür ist es zunächst notwendig den Bezugspunkt „Freikirche“ genauer zu bestimmen. Denn es gibt nicht die Freikirche, stattdessen ist Freikirche ein Contai-

1 Beuscher hält zur Postmoderne treffend fest: „Der Ausdruck ist ein ‚Suchbegriff‘ [. . . ], so daß jeder Ansatzbereich seine Perspektive des ‚Postmodernen‘ vorab deklarieren muss“ Beuscher, Postmoderne, 89 Diese Deklaration soll auch an dieser Stelle nicht fehlen. So bezeichnet der Begriff der Spätmoderne hier eine späte Phase der Moderne, die vor allem durch eine Radikalisierung moderner Entwicklungen gekennzeichnet ist, gleichzeitig aber gänzlich Neues mit sich bringt. Er trägt also sowohl Kontinuität wie auch Diskontinuität in sich, wobei für die Fragestellung nach dem Verhältnis von Freikirchen und Spätmoderne – nachdem diese oben bereits als Antwort des Christentums auf die Moderne bestimmt wurden – insbesondere die Diskontinuitäten von Interesse sind. Es ist also nach denjenigen Phänomenen der Moderne zu fragen, die sich zumindest in ihrem Ausmaß deutlich von denen einer jungen Moderne unterscheiden, in deren Kontext Freikirchen entstanden sind. .

Merkmale des Phänomens Freikirche – Eine positive Typisierung

nerbegriff für eine Vielfalt an Kirchen- und Gemeindeformen. Um eine Verhältnisbestimmung dennoch zu ermöglichen, sollen nun als Erstes zentrale Merkmale des Phänomens „Freikirche“ idealtypisch erfasst werden und diese dann in weiteren Schritten mit den wichtigsten religionssoziologischen Konzepten der Gegenwart und den mit diesen korrespondierenden Gesellschaftstheorien in Beziehung gebracht werden, um zuletzt dann das Verhältnis von Freikirchen und Spätmoderne relevanztheoretisch zu bündeln. Dabei folge ich insgesamt der These, dass die Chancen und Herausforderungen für Freikirchen durch die Spätmoderne sich nicht grundsätzlich von denen anderer christlicher Kirchen unterscheiden, diese allerdings in anderer Gewichtung und damit deutlich verschiedener Wirkung auftreten. Diese verschiedene Wirkung zeigt sich allein in den quantitativen Mitgliederstatistiken 2: Wie Freie evangelische Gemeinden sind die Freikirchen der Vereinigung Evangelischer Freikirchen auch insgesamt in deutlich geringerem Ausmaß von einem Mitgliederschwund betroffen, wie die beiden Großkirchen. So verzeichnen neben Freien evangelischen Gemeinden noch der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden und zuletzt auch der Bund Evangelisch Freikirchlicher Gemeinden (Baptisten) nach leichten Verlusten wieder Zuwächse. Von den größeren Freikirchen der VEF ist damit die Evangelisch-methodistische Kirche die einzige mit Mitgliederverlusten. Trotz dieser insgesamt positiven Mitgliederentwicklung der Freikirchen der VEF bleibt deren Mitgliederzahl und damit auch ihr Einfluss im Blick auf die Gesamtgesellschaft mit 225.700 Mitgliedern (Stand 2016) aber eher gering. Die folgende Ausführung soll nun u. a. Aufschluss darüber geben, wie es zu dieser gedämpften Prosperität der Freikirchen in Deutschland in der Spätmoderne kommt.

5.1 Merkmale des Phänomens Freikirche – Eine positive Typisierung Nahezu alle Publikationen zu Freikirchen weisen darauf hin, dass der Begriff „Freikirche“ Schwierigkeiten mit sich bringt, da er keinen einheitlichen, klar umrissenen Gegenstand bezeichne, sondern vielmehr eine „zunehmende Zahl von theologisch wie soziologisch pluriformen Gemeindebünden, Kirche, Gemeinschaften, Bewegungen und einzelnen Ortsgemeinden“ 3. Zugleich hat Niethammer gezeigt, dass sich die Verwendung des Begriffs nur unzureichend durch ge2 Vgl. dazu die Zahlen des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes REMID: https://www.remid.de/info_zahlen/protestantismus/ 3 Iff, Evangelische Freikirchen, 296.

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meinsame historische Wurzeln erklären lässt, sondern in dieser Form nur als etablierte Selbst- und Fremdbezeichnung zu verstehen ist, die auf der „Entdeckung einiger struktureller Gemeinsamkeiten“ 4 fußt. Diese strukturellen Gemeinsamkeiten sollen nun typologisch dargestellt werden, wobei im Vorgehen der Typisierung eingeschlossen ist, dass bezüglich der einzelnen vorfindlichen Freikirchen durchaus in einigen Punkten Abweichungen festzustellen sind. Wiederum nahezu alle Publikationen zu Freikirchen bedienen sich für diese Typisierung der Gegenüberstellung zu den beiden Großkirchen in Deutschland und beschreiben Freikirche als Antitypus zu Staatskirche, Volkskirche, Territorialkirche und Amtskirche 5. Von dieser Herangehensweise soll hier aus drei Gründen abgesehen werden: Erstens bindet die Definition von Freikirche als Antitypus das Phänomen Freikirche an die spezielle konfessionelle Konstellation, wie sie in Deutschland vorliegt, indem sie auf das Gegenüber Volkskirche angewiesen ist. 6 Entgegen dieser Einschränkung macht eine positive Bestimmung der strukturellen Gemeinsamkeiten von Freikirchen auch Bezüge zu Freikirchen außerhalb Deutschlands und Europa möglich und plausibel. Zweitens ist die Darstellung als Antitypus empirisch schlicht an vielen Stellen nicht mehr plausibel, wie schon Niethammer festgestellt hat – ohne dass diese Beobachtung allerdings Konsequenzen für seine Darstellung hatte: Neben Freien evangelischen Gemeinde sind auch die meisten größeren Freikirchen als Körperschaft des öffentlichen Rechtes organisiert und können insofern keine völlige Unabhängigkeit vom Staat mehr behaupten. Auch die Rolle des Pfarrers mag in den Großkirchen formal stärker sein als in Freikirchen, „faktisch haben freikirchliche Prediger sicher kaum weniger Befugnisse und Einfluss in ihrer Gemeinde“ 7, wie der Durchgang durch die Entstehungsgeschichte Freier evangelischer Gemeinden gezeigt hat. Auch die großkirchliche Landschaft lässt sich nicht mehr einheitlich über das Territorialprinzip erfassen 8, während aufgrund der in manchen Gegenden sehr geringen freikirchlichen Gemeindedichte, die Zuordnung der Gläubigen zur Ortsgemeinde zwar nicht organisierterweise und exklusiv, aber ganz konkret pragmatisch meist doch nach dem Territorialprinzip erfolgt. Sogar umkehrt muss angemerkt werden, dass einige der im Folgenden beschrieben Strukturmerkmale auch in den Großkirchen erneut Fuß gefasst haben, wie etwa Zentrierung auf lo4 Niethammer, Kirchenmitgliedschaft, 34. 5 Vgl. u. a.: Ebd. 34–38; Bartholomä, Freikirche, 71–80; Iff, Evangelische Freikirchen, 296. 6 In dieser Hinsicht konsequent muss Grethlein einschränken: „Entsprechend der Abhängigkeit des Begriffs F.[reikirche] im engeren Sinn vom Gegenüber zu einer Kirchenform, die sich in enger Verbindung mit dem Staat und der Gesellschaft umfassend territorial organisiert und deren Mitgliedschaft – soziologisch formuliert – (weithin) zugeschrieben, nicht durch aktiven Entschluß erworben ist, steht im folgenden die Situation im deutschsprachigen Raum im Vordergrund.“ Grethlein, Freikirchen, 326. 7 Niethammer, Kirchenmitgliedschaft, 43. 8 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 305–310.

Merkmale des Phänomens Freikirche – Eine positive Typisierung

kale Gruppen oder auch antiinstitutionelles Denken, und insofern zwar positiv, aber nicht exklusiv für Freikirchen in Anspruch zu nehmen sind. Drittens hat Bartholomä unter Einbeziehung der Theorie sozialer Identität ausführlich nachgewiesen, dass die Selbst- und Fremdzuschreibung als Antitypus zu Beginn der Moderne, in ihrem Verlauf und in großen Teilen bis heute vor allem identitätsstiftende Funktion für Freikirchen und teilweise auch für die Großkirchen hatte und hat, während allerdings gleichzeitig die von diesen Großkirchen geschaffene christliche Durchdringung der Gesellschaft den maßgeblichen Nährboden für die „Missionserfolge“ der Freikirchen darstellte. Wie unten noch ausgeführt wird, scheint angesichts der veränderten gesellschaftlichen Situation, die sowohl Freikirchen als auch Großkirchen nicht mehr vornehmlich in Konkurrenz zueinander, sondern vor allem in Konkurrenz zu außerkirchlichen, nicht-christlichen und nicht-religiösen Lebensformen stellt, eine Identitätskonstruktion primär über inner-christliche Antitypen nicht hilfreich. Diesen Einwänden entsprechend soll nun also eine positive Typisierung des Phänomens Freikirche vorgenommen werden, die nach dem Ansatz dieser Kirchentheorie nicht auf grundsätzliche Gegensätze, sondern auf graduelle Unterschiede verweist und herausstellt, welche Momente expliziter wie impliziter Ekklesiologie in Freikirchen besonders betont werden, ohne dabei zu verleugnen, dass durch die Konstellation dieser besonders betonten Momente Freikirchen in der Gesamtheit doch eine von den Großkirchen sehr verschiedene Kirchenform darstellen.

5.1.1 Betonung des Zusammenhangs von individuellem Gottesglauben und Mitgliedschaft Die deutlichste strukturelle Gemeinsamkeit, die Freikirchen in Deutschland, aber auch darüber hinaus verbindet, ist die besondere Betonung der Mitgliedschaft als Gegenstand individueller Entscheidung und somit der subjektiven Dimension des Glaubens. Auch in den beiden Großkirchen findet sich diese subjektive Dimension des Glaubens. So kommt sie auf evangelischer Seite beispielsweise in der Konfirmation oder auch im Aufrechterhalten der Kirchenmitgliedschaft angesichts der gesellschaftlich akzeptierten und praktizierten Option des Austritts 9 zum Ausdruck. Diese Dimension des Glaubens wird insofern in Freikirchen besonders betont, weil die Zugehörigkeit zu Kirche und Gemeinde soziologisch grundsätzlich über die Logik der Organisation strukturiert und inszeniert ist, also die Zugehörigkeit eben als Gegenstand individueller Entscheidung behandelt wird. Dabei ist diese organisationslogische Mitgliedschaft an bestimmte Rechte 9 Vgl. dazu den Titel des dritten Teils der Kirchentheorie Grethleins: „Bestandsaufnahme: Kirchenmitgliedschaft als Option“, Grethlein, Kirchentheorie, 125.

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und Pflichten gekoppelt und kann darüber hinaus von beiden sozialen Akteuren (Organisation und Mitglied) an die Aufrechterhaltung gewisser formaler oder informeller Bedingungen gebunden werden. In soziologischer Perspektive lässt sich bei Freikirchen also durchaus von einer „Freiwilligkeitskirche“ sprechen, auch wenn dieser Begriff unter explizitem oder implizitem Bezug auf Luthers Schrift de servo arbitrio theologisch immer wieder kritisiert wurde. Diese Kritik hat insofern ihr Recht, als mit dem soziologischen Begriff der „Freiwilligkeitskirche“ in reformatorischer Tradition nicht die theologische Freiwilligkeit des Glaubens verbunden werden darf, in dem Sinne, als läge es am Menschen, die Möglichkeitsbedingung des eigenen Glaubens selbst zu schaffen. Stattdessen muss der Begriff, theologisch eingeschränkt, als besondere Betonung der subjektiven Dimension des Glaubens verstanden werden. 10

5.1.2 Betonung gruppenförmiger Gemeinschaft Als weitere strukturelle Gemeinsamkeit von Freikirchen muss die Betonung gemeinschaftlicher Vollzüge gelten, wobei mit Gemeinschaft an dieser Stelle nicht in erster Linie eine theologische oder sakramentale Kategorie im Blick ist, sondern zunächst eine sozialwissenschaftliche im Sinne einer Sozialbeziehung, „welche Solidarität stiftet, auf einem gemeinsamen Normhorizont basiert und häufig von Affekten begleitet wird.“ 11 Die Betonung dieser intensiven gruppenförmigen Gemeinschaft manifestiert sich vor allem in der Größe der Ortsgemeinden, die in der Regel sehr übersichtlich sind: im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden gehören durchschnittlich 100 Mitglieder zur Gemeinde 12, im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden sind es 75 Mitglieder pro Gemeinde 13, in der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland 109 14 und im BFeG 87 Mitglieder pro Gemeinde 15. Deutlich größere Gemeinden stellen Ausnahmen dar. Neben der Gemeindegröße muss noch ein Weiteres als besondere Betonung der gruppenförmigen Gemeinschaft gelten: Ein maßgeblicher Teil des Gemeindelebens findet in Gruppen und Kreise der Gemeinde (Bibelgruppen, Arbeitskreise,

10 Genauso wenig könnte man übrigens uneingeschränkt aus Perspektive des christlichen Glaubens vom Modell einer „Unfreiwilligkeitskirche“ sprechen. 11 Gertenbach / Laux u. a., Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, 175. 12 Stand 2019, vgl. https://www.befg.de/der-befg/wir-ueber-uns/mitgliederstatistik/, letzter Abruf: 12. 08. 2020. 13 Stand 2019, vgl. https://www.bfp.de/statistiken-und-zahlen-zum-bfp, letzter Abruf: 12. 08. 2020. 14 Stand 2018, vgl. https://www.emk.de/emk-presseinformationen/statistische-zahlen/, letzter Abruf: 12. 08. 2020. 15 Vgl. 03.1 Mitglieder- und Gemeindestatistik.

Merkmale des Phänomens Freikirche – Eine positive Typisierung

Jugendkreise, Interessengruppen, etc.) statt. Diesen Vollzügen wird oftmals derselbe Stellenwert wie dem Gottesdienst zugeschrieben. Insbesondere in großen Gemeinden kann diese Hochschätzung gruppenförmiger Gemeinschaft so weit gehen, dass die formale Gemeindemitgliedschaft an die Zugehörigkeit zu einem dieser Kreise gebunden wird. Auch wenn sich diese gemeinschaftlichen Vollzüge als Inszenierung der intersubjektiven Dimension des Glaubens verstehen lassen, besteht durch die weitestgehend Beschränkung auf gruppenförmige Gemeinschaftsvollzüge die Gefahr der Milieuverengung und somit einer Vernachlässigung der Inklusivität der intersubjektiven Dimension des Glaubens, wie sie beispielsweise in den sakramentalen Gemeinschaftsvollzügen Taufe und Abendmahl zum Ausdruck kommt.

5.1.3 Betonung des Priestertums aller Gläubigen Niethammer stellt fest, dass „in Freikirchen – allein schon von der Größe der Gemeinde her – relativ mehr Menschen mehr Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten geboten werden“ 16. Es sind aber nicht nur relativ gesehen mehr Mitglieder, die sich beteiligen, sondern darüber hinaus auch mehr Mitwirkungsfelder. Insbesondere ist für Laien auch die Übernahme von öffentlichen Ämtern, wie Predigt, Liturgie und Austeilung der Sakramente, üblich. 17 Diese Auffälligkeit am freikirchlichen Kirchenmodell lässt sich zunächst historisch begründen. Freikirchen sind, wie im historischen Durchgang exemplarisch für FeGn gezeigt wurde, als Laienbewegung im Zuge des Mentalitätswandels der Moderne entstanden. Dennoch genügt diese historische Begründung nicht, da es in der weiteren Freikirchengeschichte in nahezu allen Freikirchen speziell theologisch ausgebildete Personen gab, ohne dass sich daraus ein „ausgeprägtes Amtsbewußtsein“ 18 entwickelt hätte. Vielmehr lässt sich diese Besonderheit auch auf einen Vorrang der Authentizität und Subjektivität des Glaubens vor seiner Normativität und Universalität zurückführen, wie es insbesondere im Blick auf die öffentlichen Ämter inszeniert wird. Mit der confessio augustana gesprochen ist für Freikirchen die congregatio sanctorum (CA 7/8) die vorrangige Kirchendefinition gegenüber der Kirche als Ort der reinen Lehre und evangeliumsgemäßen Darreichung der Sakramente (CA 7). Die Authentizität der Glaubensäußerung der versammelten Gemeinde wird also ihrer theologischen Richtigkeit vorgeordnet (wobei letztere nicht ausgeblendet, sondern nur weniger betont wird!) und diese Verhältnisbestimmung gottesdienstlich durch die breite Beteiligung von Laien inszeniert. 16 Niethammer, Kirchenmitgliedschaft, 38. 17 Vgl. dazu 010.2.3 Liturgische Partizipation beim Abendmahl. 18 Niethammer, Kirchenmitgliedschaft, 37.

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5.1.4 Betonung des Unterschiedes von Gemeinde und Welt Freikirchen betonen durch ihren organisationslogischen Mitgliedschaftsmechanismus nicht nur die subjektive Dimension des Glaubens, sondern auch den Glauben als Leitdifferenz. In freikirchlicher Tradition wird daher strikt zwischen (gläubiger) Gemeinde und (ungläubiger) Welt unterschieden. Diese Betonung hat zwei Konsequenzen: Zum einen geht mit dieser Unterscheidung die Betonung der möglichst großen Unabhängigkeit von staatlichem Einfluss und das Eintreten für die Religionsfreiheit einher. In diesem Sinne verzichten Freikirchen trotz der rechtlichen Stellung als Körperschaft des öffentlichen Rechts auf einige damit verbundene Privilegien, wie auf die Dienstherrenfähigkeit oder den Einzug von Steuern. Auf der anderen Seite bleibt es nicht bei einem isolierten Verhältnis zur „Welt“: „Freikirche ist missionarische und evangelistische Kirche.“ 19 Freikirchen sehen sich gerade auf Grund der Betonung des Glaubens als Leitdifferenz dazu gesandt für dessen Universalität in der (ungläubigen) Welt einzustehen und zu werben. Dabei lässt sich sowohl ein großes Engagement von Freikirchen in der Weltmission als auch im unmittelbaren Umfeld der Ortsgemeinden konstatieren.

5.1.5 Besonderes Verhältnis von Konservativismus und Modernität Als weiteres Merkmal von Freikirchen kann das besondere Verhältnis von Konservativismus und Modernität gelten, das die religionssoziologische Studie zum Phänomen Freikirchen in der Schweiz erbracht hat und das sich in diesem Punkt problemlos auf Deutschland und möglicherweise sogar darüber hinaus anwenden lässt. Die Autoren beschreiben das evangelisch-freikirchliche Milieu als „eine der innovativsten und dynamischsten Kräfte in der religiösen Szene in der Schweiz“ 20, dessen Erfolg vor allem durch ein „Doppelspiel von Öffnung und Abschottung, von Anpassung und Ablehnung, von Moderne und Konservativismus“ 21 zu erklären sei. Dieses Doppelspiel lässt sich auch in der vorliegenden Studie zu Freien evangelischen Gemeinden beobachten. 22 Ganz entsprechend der Entstehungssituation in der Moderne, in der man sich berufen sah, die alten Werte in neuem Gewand zu vertreten, bezieht sich dabei die Konservativität vor allem auf die normative Ebene, also Werte, Haltungen und Rollenbilder, während die – in der Regel allerdings theologisch nicht reflektierten – Ausdrucksformen dieses tendenziell konservativeren Glaubens in der evangelischen Landschaft au19 20 21 22

Ebd. Stolz / Favre u. a., Phänomen Freikirchen, 35. Ebd. 353. Vgl. 9.7 Unterschiede zu anderen Kirchen.

Freikirchen und Differenzierung in der spätmodernen Gesellschaft

ßerordentlich modern sein können und durch eine hohe Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet sind. Als Beispiele seien hierfür die breite Integration popkultureller Elemente in die musikalische Gottesdienstgestaltung und die an vielen Stellen hohen Standards bzgl. Technisierung und Digitalisierung sowie der hohe Stellenwert des Kommunikationsmodus der Authentizität zu nennen

5.1.6 Betonung der ethischen Implikationen des Glaubens Zuletzt hat die besondere Betonung der ethischen Implikation des Glaubens als freikirchliches Charakteristikum zu gelten. Neben dem Christusbekenntnis des Einzelnen als Mitgliedschaftsvoraussetzung ist in der Satzung der VEF auch die Rede davon, dass von den Mitgliedern „die ernsthafte Bereitschaft, ihr Leben dem Willen Gottes entsprechend zu führen“ 23, erwartet wird. In diesem Zusammenhang – neben der Frage nach Unabhängigkeit von Staat und Kirche – ist auch die Finanzierung durch freiwillige Spenden zu sehen. Sowohl die freiwilligen Spenden als auch das Bemühen um eine dem Willen Gottes entsprechende Lebensgestaltung können unter dem Aspekt des Glaubensgehorsams, also der performativen Dimension des Glaubens, eingeordnet werden. Dabei ist es in vielen Freikirchen üblich, die Gemeindemitgliedschaft im Sinn Kirchenzucht an diesen Glaubensgehorsam zu koppeln, wobei die konkreten Bedingungen und Verfahren eines Gemeindeausschlusses sehr unterschiedlich sind.

5.2 Freikirchen und Differenzierung in der spätmodernen Gesellschaft Als Grundlagentheorie soll an dieser Stelle in heuristischer Absicht von der Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung ausgegangen werden, wie sie sich für die Moderne und in verschärfter Form für die Spätmoderne aufstellen lässt. Dabei sollen drei Differenzierungsebenen in den Blick kommen 24: a) die vertikale Differenzierung, die klassischerweise als funktionale Differenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Teilsysteme bezeichnet wird, b) die horizontale Differenzierung und damit das Auseinandertreten der Konstitutionsebenen des Sozialen und c) die Binnendifferenzierung des Teilsystems Religion und die Ausbildung eines pluralen religiösen Angebotes. Diese Vorgehensweise ermöglicht es m. E., über

23 VEF, Satzung, 2. 24 Vgl. dazu: Pollack / Rosta, Religion in der Moderne, 38–47.

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die drei Differenzierungsebenen einen Blick auf Makro-, Meso- und Mikro-Ebene der Gesellschaft zu integrieren und bietet gleichzeitig einen Anknüpfungspunkt für die drei maßgeblichen religionssoziologischen Prozesskonzepte der Gegenwart, der Säkularisierungsthese, der Individualisierungsthese sowie der Markttheorie, die sich zwar schwerpunktmäßig einer der Differenzierungsebenen zuordnen lassen, aber durchaus auch in andere übergreifen und so eine differenzierte Verhältnisbestimmung von Freikirchen und Religion in der Spätmoderne zulassen. Im religionssoziologischen Diskurs werden die drei Konzepte in der Regel als Alternativen verstanden, wobei Pickel bereits auf Schnittmengen, integrative Konzepte sowie die jeweils spezifische Perspektive der einzelnen Thesen hingewiesen hat. 25 An dieser Stelle wird sowohl auf eine ausführliche Diskussion bzw. Kritik als auch auf eine Entscheidung für eine der drei Theorien verzichtet, die sich zudem zwar nicht nur, aber doch in großen Teilen auf den zugrunde gelegten Religionsbegriff 26 und auf die weiter unten aufgezeigte Diskussion um die empirischen Untersuchungsmethoden 27 zurückführen ließen. Vielmehr sollen die Einsichten aller drei Konzepte hier zur Geltung kommen und mit ihren je speziellen Perspektiven auf Religion und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen das Verhältnis von Freikirchen und Religion in der Spätmoderne erhellen.

5.2.1 Freikirchen und die vertikale Differenzierung Niklas Luhmann hat als einer der ersten ausführlich die Prinzipien der funktionalen Ausdifferenzierung als maßgebliches Kennzeichen der modernen (und damit in gesteigerter Weise der spätmodernen) Gesellschaft beschrieben. War der primäre Differenzierungsmodus der vormodernen Gesellschaft nach Luhmann noch Stratifikation (bzw. noch davor Segmentierung), also beispielsweise Ausdifferenzierung in unterschiedliche Stände oder Schichten, ist der Modus der modernen Gesellschaft primär die funktionale Ausdifferenzierung. Das heißt, es bilden sich gesellschaftliche Teilsysteme (Recht, Wirtschaft, Politik, Bildung . . . ), die jeweils als selbstreferenzielles System eine bestimmte Funktion erfüllen und sich als System auf diese Funktion und ihre Erfüllung für das Gesamtsystem bzw. für die Gesellschaft spezifizieren und darin einen höheren Grad an Effizienz erreichen, indem sie durch Selektion systeminterne Kommunikationslogiken ausbilden. Die funktionale Ausdifferenzierung ist nach Luhmann der Umgang des Gesellschafts25 Pickel,Religionssoziologie, 218–225. 26 Vgl. 1.2 Kirchentheoretische und praktisch-theologische Prämissen dieser Arbeit, Fußnote 75. 27 Siehe 7.1.1 Der alte Streit: Quantitativ vs. Qualitativ.

Freikirchen und Differenzierung in der spätmodernen Gesellschaft

systems mit der gestiegenen Komplexität der Moderne. Insgesamt lässt sich diese funktionale Ausdifferenzierung aber auf eine Vielzahl von Faktoren zurückführen, unter denen das Christentum selbst wie auch die ökonomische Entwicklung und Rationalisierungsprozesse als maßgeblich betrachtet werden können. 28 Indem nun nach Luhmann in Folge der funktionalen Ausdifferenzierung die Religion eines der gesellschaftlichen Teilsysteme darstellt 29 und damit sie selbst – wie auch andere Teilsysteme – nicht mehr in der Lage ist, die einheitliche Spitze des Gesellschaftssystems zu bilden und eine Erklärungshoheit zu beanspruchen, geht mit der funktionalen Differenzierung auf dieser Makroebene der Gesellschaft auch eine deutliche Beschränkung des Einflussbereiches von Religion bzw. religiöser Institutionen einher. Das ist dann in religionssoziologischer Perspektive wiederum einer der zentralen Ausgangspunkte für die Säkularisierungstheorie. Sie beschreibt, „dass Prozesse der Modernisierung einen letztlich negativen Einfluss auf die Bedeutung der Religion in der Gesellschaft ausüben und deren Akzeptanz vermindern.“ 30 Zugespitzt ergibt sich aus diesem Säkularisierungsprozess als vielleicht größte Herausforderung für Kirchen und Freikirchen das Phänomen der Indifferenz gegenüber Kirche oder Religion im Allgemeinen. Indifferenz meint dabei eine Haltung der Unentschiedenheit oder der schlichten Gleichgültigkeit gegenüber Kirche oder Religion. Pollack führt dieses Phänomen der Indifferenz, das sich auch deutlich in den Ergebnissen der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD niederschlägt 31, zum einen auf den Ausdifferenzierungsprozess selbst zurück, aber auch auf die Attraktivität konkurrierender säkularer Sinn- und Freizeitangebote. 32 Neben diesem Phänomen der Indifferenz scheinen für die Verhältnisbestimmung von Freikirche und Religion in der Spätmoderne noch zwei weitere Einsichten aus dem aktuellen säkularisationstheoretischen Diskurs von besonderem Interesse: die Kontextsensibilität des Religionssystems und die den Differenzierungsprozessen gegenläufigen Entdifferenzierungsvorgänge. Man könnte nun auch davon ausgehen, dass mit einer solchen Eingrenzung, wie sie durch die funktionale Ausdifferenzierung geschieht, neben dem Bedeutungsverlust, sozusagen als Ausgleich, auch eine höhere interne Vitalität des Religionssystems einhergeht, das sich nun effizienter ganz auf die eigenen Aufgaben konzentrieren kann. Allerdings stellt Pollack fest, dass es gerade der Religion weniger als anderen Bereichen gelingt, „sich funktional auf sich selbst zu stellen und aus ihrer

28 29 30 31 32

Vgl. Pollack / Krech u. a., Religionssoziologie, 305. Vgl. dazu u. a.: Luhmann, Funktion und Luhmann, Theorie der Gesellschaft. Pollack / Krech u. a., Religionssoziologie, 305. Vgl. dazu: Pickel / Spieß, Religiöse Indifferenz. Vgl. Pollack, Differenzierung, 23.

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funktionalen Spezialisierung Vorteile zu ziehen“ 33, da sie besonders auf Diffusion und Einbettung in andere Systeme angewiesen, also besonders kontextsensibel ist. Solche Diffusion und Einbettung bezeichnet er als Entdifferenzierung und meint damit „den Einbau systemischer Fremdrationalitäten in ausdifferenzierte Sinnzusammenhänge . . . und damit die Vermischung unterschiedlicher Sinnrationalitäten“ 34. Aufgrund der Kontextsensibilität des Religionssystems beschreibt Pollack dann Entdifferenzierungsvorgänge (also das Ausgreifen des Religionssystems auf Politik, Freizeit, Kunst,. . . ) als tendenziell förderlich für die religiöse Vitalität einer Gesellschaft. Das Aufkommen neuer Religionsgemeinschaften, wie es eben mit den Freikirchen zu Beginn der Moderne der Fall ist, scheint nun dieser Säkularisierungsthese zu widersprechen. Das ist allerdings nur für eine (zu) einfache Version der Säkularisierungsthese zutreffend. Denn der vornehmlich quantitative Blick auf institutionelle Religion, wie er der Säkularisierungstheorie in großen Teilen eignet, zeigt, dass selbst die Summe der Mitglieder aller Freikirchen in Deutschland rein quantitativ die Mitgliederverluste der beiden Großkirchen bei weitem nicht aufwiegen kann. Gleichzeitig räumen insbesondere neuere Entwürfe der Säkularisierungstheorie explizit die Möglichkeit der Bildung neuer religiöser Formen ein. 35 Auf der Makro-Ebene erscheinen Freikirchen nun in diesem Zusammenhang als besonders modernitätskonform, indem sie sehr deutlich die funktionale Ausdifferenzierung zum Programm machen und die strikte Trennung zwischen Kirche und Staat sowie zwischen Gemeinde und Welt (wieder) verstärkt in die Selbstdeutung aufnehmen. Indem sie gleichzeitig den Zusammenhang von Mitgliedschaft und individuellem Gottesglauben besonders betonen, lassen sich Freikirchen differenzierungs- und säkularisierungstheoretisch als der Versuch eines stärker selbstreferentiellen, weniger kontextabhängigen und damit unter den Bedingungen der Moderne und Spätmoderne stabileren Religionssystems verstehen, das zumindest auf der Makro-Ebene in geringerem Maße auf Entdifferenzierungsvorgänge angewiesen ist. Aus diesem Zusammenhang ließe sich auch erklären, dass Freikirchen in Deutschland im Vergleich zu den beiden Großkirchen prozentual deutlich weniger oder gar nicht vom großen Mitgliederschwund betroffen sind.

33 Pollack / Rosta, Religion in der Moderne, 234. 34 Pollack, Differenzierung, 108. 35 Vgl. Pickel, Religionssoziologie, 173.

Freikirchen und Differenzierung in der spätmodernen Gesellschaft

5.2.2 Freikirchen und die horizontale Differenzierung Mit der horizontalen Differenzierung fällt nun der Blick auf die Mikro-Ebene. Diese Perspektive ist vor allem der Individualisierungsthese zu eigen, wie sie sowohl in der allgemeinen Soziologie als auch in der Religionssoziologie breite Berücksichtigung gefunden hat. Es waren unter anderem Ulrich Beck und Peter Berger, die diesen gesellschaftlichen Wandel mit Blick auf die Konstitutionsebenen des Sozialen ausgearbeitet haben. Als Ursache für gesellschaftliche Individualisierungsschübe können dabei, neben der oben beschriebenen funktionalen Ausdifferenzierung, vor allem sozioökonomische Prosperitätsphasen genannt werden. Ulrich Beck hat in seinem inzwischen zum Klassiker gewordenen Werk „Risikogesellschaft“ 36 darauf hingewiesen, dass sich in der späten Moderne eine deutliche Zunahme an Selbstbestimmungsmöglichkeiten für das Individuum ergibt. Äußere Zwänge, wie Autoritäten oder auch soziale Strukturen, verlieren an Einfluss, das Individuum gewinnt an Autonomie, während gleichzeitig die Anzahl der realisierbaren Möglichkeiten deutlich ansteigt. Damit geht die Entstandardisierung von Biographien und Lebensverhältnissen einher, die gleichzeitig ihrerseits die Pluralität der Lebensverhältnisse fördert. Ulrich Beck weist aber auch auf die Ambivalenz dieses Strukturwandels hin: „Viele assoziieren mit ‚Individualisierung‘ Individuation gleich Personwerdung gleich Einmaligkeit gleich Emanzipation. Das mag zutreffen. Vielleicht aber auch das Gegenteil.“ 37 Die Biographie in der Moderne wird zur „Bastelbiographie“, zum selbstverantworteten und damit im Falle des Scheiterns auch selbstverschuldeten „eigenen Leben“ 38. Peter Berger fasst diese neue Autonomie des Individuums als Kennzeichen der Spätmoderne in den „Zwang zur Häresie“. Er definiert Modernität als „beinahe unfaßbare Expansion des Bereichs im Leben, der Wahlmöglichkeiten offensteht“ 39. Häresie ist also in Bezug auf den griechischen Ursprung des Wortes die Wahl. Während die vormoderne Welt eine Welt des Schicksals war, ist der Einzelne in der Moderne zur Wahl gezwungen. Das bedeutet, „daß der einzelne seine Weltanschauung beinahe genauso wählen kann wie die meisten anderen Aspekte seiner privaten Existenz. Mit anderen Worten, es kommt zu einer gleichmäßi36 Beck, Risikogesellschaft. 37 Ebd. 207. Beck weist darauf hin, dass auch in spätmodernen Gesellschaften das Leben der Individuen noch in hohem Maße institutionell geprägt ist und sich damit immer noch über weite Teile dem direkten Zugriff entzieht: „Individualisierung liefert die Menschen an eine Außensteuerung und -standardisierung aus, die die Nischen ständischer und familialer Subkulturen noch nicht kannten.“ (ebd. 212) Das Fatale ist nun, „im Unterschied zu früheren Zeiten werden aber auch biographische Ereignisse, für die es gar keine aktuelle Alternative gibt, als individuelle Entscheidung behandelt.“ Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 201. 38 Beck, Eigenes Leben, 9–15. 39 Berger, Häresie, 16.

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Zum Verhältnis von Freikirchen und Religion in der Spätmoderne

gen Kontinuität zwischen den Konsumwahlen in den verschiedenen Lebensbereichen: eine Präferenz für diese Automarke gegenüber einer anderen, für diesen sexuellen Lebensstil gegenüber einem anderen und schließlich die Entscheidung, sich mit einer bestimmten ‚religiösen Präferenz‘ einzurichten.“ 40 Die religionssoziologische Fassung der Individualisierungsthese baut nun auf dieser allgemeinen Individualisierungsthese auf und beschreibt zahlreiche Folgen für Religion in individualisierten Gesellschaften: Der Verlust institutioneller und sozialstruktureller Prägekraft führt zu einer de-institutionalisierten und autonomeren Religiosität, die sich nach der Privatisierungsthese Luckmanns 41 gleichzeitig ins Private verflüssig und zur sogenannten „Bastelreligion“ oder „PatchworkReligiosität“ wird, in der die Individuen in souveräner Auswahl Versatzstücke unterschiedlicher Religionen kombinieren. Außerdem entsteht als Folge aus der funktionalen Ausdifferenzierung und der damit einhergehenden Begrenzung des Einflussbereiches der Religion sowie der Spezialisierung einiger religiöser Experten eine große Distanz zwischen Experten und Laien. Mit der Schrumpfung des „heiligen Kosmos“ (Berger) in der Alltagswelt ausdifferenzierter Gesellschaften wird die Distanz des Individuums zum hochspezialisierten religiösen Wissen einiger Weniger immer höher und der Zugang schwerer. 42 Die religionssoziologische Individualisierungsthese spricht sich auf Grundlage eines funktionalen Religionsbegriffes allerdings gegen ein grundsätzliches Widerspruchsverhältnis von Religion und Moderne aus und schließt aus den Folgen der Individualisierung auf einen Formenwandel und ein Ansteigen religiöser Vitalität und Pluralität und spricht sogar von einer „Rückkehr der Religionen“ 43. Säkularisationstheoretiker würden unter Voraussetzung eines substantiellen Religionsbegriffs diese authentischere, subjektivierte und individualisierte, aber weniger durch institutionelle und soziale Strukturen gestützte Religiosität dagegen als Zwischenschritt auf dem Weg zum Verlust der Religion werten. Besonders schwer wiegt dabei der Verlust der „kommunalen Grundlagen religiöser Verankerung“ 44. Wissenssoziologisch gesprochen schwinden in der spätmodernen Gesellschaft die Plausibilitätsstrukturen, auf welche die religiöse Wirklichkeit angewiesen ist. 45

40 41 42 43 44 45

Ebd. 30. Luckmann, Religion. Vgl. Pickel, Religionssoziologie, 185. Vgl. Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Pickel, Religionssoziologie, 166 [Hervorhebung im Original, MS]. Der Glaube bzw. die Religion bedarf nach Berger sogar besonders dieser Plausibilitätsstrukturen, wegen des „außerordentlichen und (für die meisten Menschen) metaempirischen Charakters ihrer Behauptungen“ (Berger, Sehnsucht, 176). Berger spitzt noch mehr zu: „Und so kann der Soziologe sich erlauben, das bereits erwähnte Diktum: ‚Kein Heil außerhalb der Kirche‘ etwas respektlos zu übersetzen in: ‚Keine Plausibilität ohne die richtige

Freikirchen und Differenzierung in der spätmodernen Gesellschaft

Die Entstehung von Freikirchen, die wie im Fall Freier evangelischer Gemeinden maßgeblich auf einzelne Gründergestalten zurückgehen, lässt sich unter individualisierungstheoretischer Perspektive als Ausbildung einer dezidiert formverwandelten, vitalen, modernen Religion verstehen, die jenseits institutioneller Strukturen neue Wege geht: Die Entscheidungen des Einzelnen wird besonders betont, die Mitgliedschaft als Gegenstand individueller Entscheidung behandelt und mit dem subjektiven, „eigenen“ Gottesglauben verbunden. Dieser Gottesglaube wird als einziges formales Mitgliedschaftskriterium – operationalisiert über das Christusbekenntnis – im Sinne eines Minimalkonsenses institutionellkirchlich gesichert, zum anderen aber in hohem Maße subjektiv inszeniert und in dieser Subjektivität theologischer Richtigkeit vorgeordnet, wie es die besondere Betonung des Priestertums aller Gläubigen in Freikirchen zeigt. Gleichzeitig werden aber die säkularisierungstheoretischen Ambivalenzen der Individualisierung berücksichtigt, indem der auf der Makroebene eingeschränktere Einfluss von Religion und der Verlust der kommunalen Basis durch die gruppenförmige Gemeindemitgliedschaft in überschaubaren Ortsgemeinden als Plausibilitätsstrukturen ausgeglichen werden. Die überschaubaren, gruppenförmig organisierten Ortsgemeinden werden damit als Ort dichter Interaktion zum Vermittler zwischen Individuum und Institution. Auch der Distanz zwischen Experten und Laien wird die Betonung des Priestertums aller Gläubigen entgegensetzt und über die Subkultur der Gruppe dem heiligen Kosmos ein entsprechend größerer Raum eingeräumt. Außerdem finden nun auf dieser Mikroebene auch Diffusion in die jeweiligen Kontexte und deutliche Entdifferenzierungsvorgänge statt, wie sie Gruppenstrukturen bieten können, die neben der Prägung von systemfremden Werten, Haltungen und Rollenbildungen (bzgl. Politik, Wissenschaft, Recht,. . . ) auch in diese Bereiche diffundieren und auf dieser Mikroebene zum Ort von Freizeit und Sport, Anbahnung von Partnerschaft, Bildung und weiterem werden.

5.2.3 Freikirchen und die Binnendifferenzierung des religiösen Feldes Als dritte Differenzierungsebene soll nun noch die Meso-Ebene zur Geltung kommen. Ihr kommt durch die horizontale Ausdifferenzierung und die Distanz zwischen Institution und Individuum eine besondere Verbindungsfunktion der gesellschaftlichen Makro- und Mikro-Ebene zu. Die maßgebliche Sozialform dieser Meso-Ebene ist die moderne Organisation. Sie behandelt die Mitgliedschaft in ihr als zweckrationale Entscheidung und stellt in der spätmodernen Gesellschaft

Plausibilitätsstruktur.‘ Dies gilt für alles, was Menschen plausibel (im Sinne von glaubhaft) erscheint – für den religiösen Glauben gilt es in verstärktem Maße.“ (ebd. 176).

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Zum Verhältnis von Freikirchen und Religion in der Spätmoderne

durch eine direkte, interaktionelle Einbindung des Individuums das Bindeglied zwischen diesem und der Gesellschaft dar. In den Funktionsbereichen der Gesellschaft, die nicht extern reguliert sind, können sich nun auf dieser Meso-Ebene, an Stelle von Monopolen oder Oligopolen, zahlreiche Anbieter zur Erfüllung des jeweiligen Systemzweckes in Form von Organisationen konstituieren, die dann um mögliche Mitglieder und Ressourcen konkurrieren. Die vor allem in den USA entwickelte Markttheorie geht nun davon aus, dass diese Binnendifferenzierung, die auch im System Religion abläuft, eine Pluralität an religiösen Anbietern hervorbringt, die insgesamt die religiöse Vitalität der Gesellschaft fördert. Durch den Konkurrenzkampf um Mitglieder und Ressourcen sind die Anbieter, also Religionsgemeinschaften und Kirchen, gezwungen möglichst passgenaue Angebote für ihre Zielgruppe zu erstellen. Dieser plurale, religiöse Markt ist dann besser in der Lage die religiösen Bedürfnisse und Wünsche der Individuen zu erfüllen und führt so eben zum Aufblühen der Religion in der Gesellschaft. Damit sich diese Pluralität sowie Wettbewerb und Konkurrenz als Marktprinzipien ausbilden können, ist allerdings möglichst jede staatliche Einmischung und Regulierung, wie beispielsweise die Einrichtung von Staatsreligionen oder die Privilegierung bestimmter Kirchen oder Religionsgemeinschaften, zu vermeiden. Die Grundlage der Markttheorie stellt die Rational-Choice-Theorie dar. Sie geht von dem umstrittenen Grundsatz der Intentionalität und Rationalität jeden sozialen Handelns aus, wobei es ihr Ziel ist, ausgehend von diesem Handeln soziale Phänomene zu erklären. 46 Das Individuum entscheidet sich also auch im Falle der Religionszugehörigkeit, nach Abwägung der Kosten-Nutzen-Bilanz, bewusst für die vorteilhafteste Möglichkeit. Als Güter, die religiöse Organisationen anbieten können, werden dabei unter anderem Kompensation im Jenseits, eine verbesserte soziale Stellung und Integration in die Gesellschaft, Sozialisation und kulturelle Internalisierung der Kinder, moralische Überlegenheit, Identitätsstiftung sowie Leitlinien fürs Leben und die Bearbeitung von Emotionen diskutiert. 47 Als zweite theoretische Grundannahme geht die Markttheorie, wie auch die Individualisierungsthese, von einem funktionalen Religionsbegriff aus und bestimmt das Bedürfnis nach Religion als anthropologische Konstante: „Die subjektive Religiosität ist latent immer vorhanden, sie muss nur durch die religiösen Anbieter motiviert werden an die Oberfläche zu treten.“ 48 Beide Grundannahmen führen dann zur These, dass die plurale, religiöse Marktsituation in der Spätmoderne der Vitalität von Religion in der Gesellschaft zuträglich ist. Demgegenüber argumentieren Anhänger der Säkularisierungstheorie, dass es gerade diese Plura46 Vgl. dazu Stolz, Theorie rationalen Handelns. 47 Vgl. Pickel, Religionssoziologie, 204. 48 Ebd. 203 [Hervorhebung im Original, MS].

Freikirchen und Differenzierung in der spätmodernen Gesellschaft

lität ist, die die Deutungsmacht einzelner religiöser Institutionen unterläuft, insofern ihrer Plausibilität abträglich ist und damit langfristig zu einer Abnahme der Bedeutung von Religion in der spätmodernen Gesellschaft führt. Freikirchen lassen sich nun selbst als Phänomen dieser Binnendifferenzierung, Pluralisierung und Entstehung eines religiösen Marktes verstehen. Die oben beschriebene, bis heute gebrauchte Selbst- und Fremdbeschreibung als Anti-Typus zur Großkirche kann dabei als weiter wettbewerbs- und markttypischer Vorgang gelten. Auch die Kirchenmitgliedschaft wird ganz im Sinne der Theorie rationalen Handelns als bewusste Entscheidung behandelt. Nach der schon erwähnten Schweizer Studie von Stolz zu Freikirchen als „besonders wettbewerbsstarkem Milieu“ 49 scheint das besondere Verhältnis von Konservativität und Modernität in Freikirchen ein Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Bewerbern auf dem Markt darzustellen. Neben diesem Faktor mag es zudem eine Rolle spielen, dass Freikirchen nie eine Monopolstellung innehatten und insofern von Beginn an auf eine in der Marktsituation notwendige aktive Mitgliederwerbung (aktive Missionstätigkeit) und damit Darstellung der Güter, die sie als religiöse Organisation bieten, angewiesen waren (wie eben Orientierung für Lebensentscheidungen, Kompensation im Jenseits, Selbstwirksamkeitserfahrung und Integration durch Mitarbeit, Sozialisation der Kinder und Jugendlichen, usw.). Gleichzeitig müssen – neben Einwänden v. a. gegen die Grundannahme der Theorie rationalen Handelns – insbesondere die Zugangsstatistiken der Freikirchen die markttheoretische Annahme insofern eingrenzen, als ein Großteil der Zugänge von Freikirchen in Deutschland durch Abgänge aus anderen Freikirchen oder den beiden Großkirchen zustande kommen und damit – zumindest in Deutschland – die Effekte einer religiösen Vitalisierung der Gesellschaft durch die Marktsituation deutlich beschränkt sind. Stattdessen scheinen vielmehr religiöse Menschen sozusagen den Anbieter zu wechseln, der Wettbewerb sich also maßgeblich auf schon bestehende Mitglieder in dieser oder jener religiösen Organisation zu konzentrieren und nur ein geringerer Teil bei vorheriger religiöser „Abstinenz“ nun mit Freikirchen einen geeigneten Anbieter auf dem Markt für ihre religiöse Bedürfnislage zu finden. Als zweiter möglicher Faktor, der trotz dieser spätmodernen Wettbewerbsförmigkeit der Freikirchen nur zu geringen „Marktanteilen“ führt, lässt sich das Prinzip der überschaubaren Ortsgemeinde anführen. Wie oben beschrieben, setzen Freikirchen auf eine gruppenförmige Mitgliedschaft, um in der Spätmoderne Plausibilitätsstrukturen und Entdifferenzierungsvorgänge auf der Mikro-Ebene zu schaffen. Dieses Prinzip, bei gleichzeitiger klar postulierter Trennung von Kirche und Staat auf der Makro-Ebene, schränkt im Dienst der Stabilität und Kontextsensibilität gleichzeitig die quantitativen Wachstumsmöglichkeiten ein. 49 Stolz / Favre u. a., Phänomen Freikirchen.

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Zum Verhältnis von Freikirchen und Religion in der Spätmoderne

5.3 Freikirchen und Relevanz Eberhard Hauschildt hat in seiner Kirchentheorie als Bündelung der Herausforderungen für Kirche wie auch Kirchentheorie in der Spätmoderne überzeugend auf das Schlüsselwort der Relevanz verwiesen. 50 Abschließend soll nun auch an dieser Stelle, auf Grundlage der Ausarbeitungen von Hauschildt, eine Fokussierung des bis hierhin beschriebenen Verhältnisses von Freikirchen und Spätmoderne anhand des Relevanzbegriffs vorgenommen werden. Hauschildt geht bei seiner Ausarbeitung zum Relevanzbegriff vor allem von der wissenssoziologischen Fassung bei Alfred Schütz und in dessen Folge Thomas Luckmann aus. Die Wissenssoziologie erfasst mit diesem Begriff ganz grundsätzlich, dass es mehr zu wissen gibt, als von einem Individuum erfasst werden kann. Relevanzstrukturen ermöglichen dem Individuum die Hierarchisierung seines Alltags-Wissen in Relevantes und Irrelevantes, Relevanzstrukturen entscheiden „was im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht“ 51. Dabei ergeben sich Relevanzen sowohl „durch unmittelbare praktische Zwecke“ wie auch „durch meine gesellschaftliche Situation“ 52. Auf dieser Grundlage definiert Hauschildt Relevanz als „Überzeugung, dass etwas (die christliche Religion und / oder die Kirche) in einer bestimmten Entscheidungssituation eine so hohe Bedeutung für jemanden (ein Subjekt und / oder die Gesellschaft) besitzt, dass es für die Reflexion nicht verzichtbar erscheint und daher einen Einfluss auf das Handeln des Subjekts / der Gesellschaft hat.“ 53 Mit dieser Grundbestimmung geht einher, dass „Relevanz“ als „typisch spätmoderner Begriff“ 54 gelten kann. Denn Relevanz setzt eben den Zwang zur Wahl (Berger), die Konkurrenz um Aufmerksamkeit und damit eine Pluralität an Möglichkeiten bzw. Sachverhalten voraus, die entweder relevant oder irrelevant sein können. Gleichzeitig ist Relevanz auch an Urteilsvorgänge eines Subjekts gekoppelt, für das eben diese oder jene Dinge im jeweiligen Lebenskontext relevant sind oder nicht. Mit den Relevanzurteilen durch Subjekte geht aber gleichzeitig einher, dass „de facto die in der Biographie in persönlichen Begegnungen und immer prominenter auch über Medien vorkommende Relevanzhierarchisierungen anderer [. . . ] stark auf das individuelle Relevanzsystem einwirken.“ 55 Auch im Blick auf Kirche und Religion lässt sich auf allen drei gesellschaftlichen Differenzierungsebenen die Konkurrenz um das knappe Gut der Aufmerksamkeit beobachten. Religion an sich bzw. auch der christliche Glaube mit seiner Botschaft können angesichts säkularer Optionen auf der Makro-Ebene keine ge50 51 52 53 54 55

Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 110–115. Ebd. 110 [Hervorhebung im Original, MS]. Berger / Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion, 46. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 111. Ebd. 110. Ebd. 111.

Freikirchen und Relevanz

samtgesellschaftliche Allgemeingültigkeit mehr beanspruchen, sondern müssen die Relevanz von Religion bzw. des christlichen Glaubens für die Gesellschaft erst plausibilisieren. Auch auf der Meso-Ebene und damit dem religiösen Markt stellt sich die Frage nach der Relevanz einzelner religiöser Organisationen bzw. Kirchen sowohl für die Gesellschaft als auch für das Individuum. Also in gesellschaftlicher Perspektive, inwiefern diese oder jene religiöse Organisation oder christliche Kirche relevanter für die Gesellschaft ist und aus individueller Perspektive, inwiefern eine Mitgliedschaft in dieser oder jener Organisation Bedeutsamkeit für das Leben des Individuums behaupten kann. Und zuletzt stellt sich auf der Mirko-Ebene die Frage nach der Relevanz von Religion und des christlichen Glaubens für das Leben des Individuums selbst. Relevanz

für die Individuen

für die Gesellschaft

der christlichen Religion der Kirche Abbildung 7: Relevanz-Matrix, nach: Hauschildt / Pohl-Patalong: Kirche, 2013, S. 112

Mit diesen Bezügen zeigt sich gleichzeitig, was in der obigen Definition schon deutlich wird: Die Frage nach der Relevanz bezieht sich auf zwei Größen als Subjekt und zwei Größen als Objekt. Subjekt der Relevanz kann einerseits die religiöse Organisation bzw. Kirche sein, andererseits aber auch die Religion bzw. der christliche Glaube selbst, die nicht notwendig mit einer organisatorischen Größe verbunden sein müssen. Diese beiden möglichen Subjekte beziehen sich ihrerseits auf zwei mögliche Objekte, für die sie relevant sein können, nämlich das Individuum und die Gesellschaft. Aus diesen zwei Subjekten und zwei Objekten entwirft Hauschildt eine Vier-Feld-Matrix (siehe Abbildung 7), mit der sich „der Relevanzbegriff in vier Richtungen ausziehen“ 56 lässt: Die Relevanz der christliche Religion für die Individuen, die Relevanz der christlichen Religion für die Gesellschaft, die Relevanz der Kirchen für die Individuen, die Relevanz der Kirche für die Gesellschaft. Während Hauschildt nun alle diese vier Felder relevanztheoretisch und auch theologisch bearbeitet (maßgeblich aus Perspektive der evangelischen Landeskirchen), soll an dieser Stelle die Vier-Feld-Matrix dazu dienen, Freikirchen relevanztheoretisch einzuordnen, also ihre spezifische Antwort auf die Frage nach der Relevanz christlicher Religion und ihrer Sozialform für die Spätmoderne aufzuzeigen. Dabei haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, dass in freikirchlicher Perspektive der deutliche Schwerpunkt zunächst auf der Relevanz der christlichen Religion für die Individuen sowie, abgeleitet davon, dann auf der Relevanz der 56 Ebd. [Hervorhebung im Original, MS].

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Zum Verhältnis von Freikirchen und Religion in der Spätmoderne

Kirche für die Individuen liegt, während die Relevanz der christlichen Religion und der Kirche für die Gesellschaft einen geringeren Stellenwert besitzt. Indem in Freikirchen die Gemeindemitgliedschaft an den persönlichen Gottesglauben gebunden wird, wird die Relevanz der christlichen Religion für die Individuen zum Zentrum des Kirchenverständnisses und damit dementsprechend inszeniert. Nach Hauschildt befinden sie sich damit in protestantischer Tradition, nach der entscheidend ist, „dass der einzelne Mensch die christliche Botschaft hört und für sich erfasst – nur dann ist das Heilsgeschehen an sein Ziel gekommen.“ Kirche ist nun an diese bestehende Relevanz der christlichen Religion für das Individuum gebunden und ist der Ort, an dem Menschen mit einem geteilten Relevanzhorizont zusammenfinden. Allein die Resonanzerfahrung der Gemeinschaft mit anderen Individuen, die denselben Relevanzhorizont teilen, kann als Relevanzkriterium für viele Mitglieder gelten. Zum anderen ist Kirche aber auch Stütze dieses Relevanzhorizontes, indem sie vor allem durch die gruppenförmigen, überschaubaren Ortsgemeinden Plausibilitätsstrukturen für die christliche Religion bereitstellt. Konkret sind an dieser Stützfunktion wiederum die Individuen selbst beteiligt, indem sie als MitarbeiterInnen die Relevanz der christlichen Religion für ihr Leben kommunizieren und inszenieren, inklusive entsprechender Selbstwirksamkeitserfahrungen (besondere Betonung des Priestertums aller Gläubigen). Außerdem können das besondere Verhältnis von Konservativismus und Modernität 57, die besondere Betonung der ethischen Implikationen und die wiederum durch die gruppenförmigen Ortsgemeinden gestützten Werte und die mit ihnen einhergehende Orientierung vom Individuum als relevant erlebt werden. Auf dieser Grundlage wird Kirche dann zum Ort, der sogar für andere Bereiche, wie Freizeitaktivität, Sport, Partnerschaft, Arbeitsbeschaffung relevant ist. Durch die besondere Betonung der Trennung von Gemeinde und Welt treten nun sowohl die Relevanz der christlichen Religion als auch von Kirche gegenüber der Gesellschaft deutlich in den Hintergrund. Zwar betreiben viele Freikirchen zum Teil große diakonische Werke und Einrichtungen, auch gibt es einen Vertreter der VEF am Sitz der Bundesregierung sowie einen Rundfunkbeauftragten und in dieser Hinsicht erweisen sich Freikirchen (letztlich in durch ihre Größe beschränktem Ausmaß) als relevant für die Gesellschaft, in der Selbstbeschreibung aber treten diese Aspekte deutlich hinter die Relevanz von christlicher Religion und Kirche für das Individuum zurück. Vielmehr ergibt sich ein mittelbarer Relevanzzusammenhang: die Kirche ist relevant für die Gesellschaft, indem sie Individuen die Relevanz der christlichen Religion plausibilisiert (missionarische Aktivität) und diese Individuen dann in veränderter Weise der Gesellschaft dienen. 57 Vgl. dazu ebd. 114: „Dabei sind solche Werte attraktiv, die nicht in radikalem Widerspruch zu den Werten der jeweiligen Gesellschaft stehen, aber auch nicht einfach identisch sind mit denen, die außerhalb der religiösen Bezüge sowieso dominieren“.

6.

Zusammenfassung und Ausblick

In diesem historisch-analytischen Angang stellte sich über die eingenommenen Perspektiven bereits in einer ersten Fassung heraus, was als typisch frei-evangelisch gelten kann. So zeigten sich Freie evangelische Gemeinden als spezifisch moderne Kirchenform mit einem besonderen Fokus auf der Organisations- und Gruppenlogik, die sich maßgeblich auf den historischen Entstehungskontext der Moderne zurückführen ließ. Die Besonderheit des frei-evangelischen Kirchenmodells, wie es sich in der historischen Betrachtung hervortrat, scheint darin zu liegen, dass durch die Selbstständigkeit der Ortsgemeinde und die Ablehnung jeglicher Hierarchie sowohl die organisatorische als auch die institutionelle Logik deutlich relativiert werden und am Ende beide im Dienst der Bewegungs-/Gruppenlogik der Ortsgemeinde stehen, was zwar zu Lasten der Darstellung von Einheit aber zu Gunsten von Vielfalt und Kontextualität der Gemeinden geht. In der Analyse der Bundesstatistik wurde deutlich, dass auch das kontinuierliche Wachstum des Bundes strukturell mit Neugründungen und damit der wachsenden Anzahl der überschaubaren Ortsgemeinden zusammenhängt. Gleichzeitig verdankt sich dieses Wachstum qualitativ, wie die Zugangsstatistik nahelegte, vor allem der Aufnahme von Mitgliedern, die zuvor bereits in anderen Gemeinden oder Kirchen Mitglieder waren und nur zu einem geringen Prozentsatz der Integration kirchenferner bzw. vorher konfessionsloser Menschen. In den Ordnungen des Bundes bestätigte sich zunächst die historische Analyse, gleichzeitig kam beispielsweise mit der Kategorie „Freund“ in FeGn eine Art formalisierte distanzierte Kirchenbindungsrolle zu Tage und im Blick auf den Bund Freier evangelischer Gemeinden zeigte sich eine besondere Schwerpunktsetzung auf den Bereichen Junge Generation und Inlandsmission (Gemeindegründung). Zuletzt war mit dem Verzicht auf den Einzug von Kirchensteuern und dementsprechenden Einnahmen nur über freiwillige Spenden das besondere Finanzierungsmodell in FeGn zu bedenken. Der Durchgang zum Glaubensbegriff hat gezeigt, dass in FeGn über den Ansatz beim individuellen Bekenntnis und der Wirkung des Glaubens im Leben der Mitglieder sowie der aktiven Konzeption der Mitgliedschaft die Performanz der

126

Zusammenfassung und Ausblick

freien Gnade sowie die von ihr evozierte Antwort des Glaubens besonders inszeniert werden. Außerdem wurde deutlich, dass die subjektive und intersubjektive Dimension des Glaubens im frei-evangelischen Kirchenmodell im Gegenüber zur transsubjektiven klar betont werden. Sowohl im Blick auf Geschichte als auch auf die Ordnungen konnte diese Emphase als frei-evangelisches Spezifikum gezeigt werden. Insgesamt stellte sich damit aber die Frage und Aufgabe, inwiefern die transsubjektive und passive Dimension des Glaubens in FeGn zum Ausdruck kommt. Im letzten Teil wurden FeGn dem Phänomen Freikirche untergeordnet und Freikirche positiv, also nicht über grundsätzliche Gegensätze zu den Großkirchen, sondern im Blick auf graduelle Unterschiede, typisiert und es wurde so herausgestellt, welche Momente expliziter wie impliziter Ekklesiologie in Freikirchen besonders betont werden. Also solche wurden die besondere Betonung des Zusammenhangs von individuellem Gottesglauben und Mitgliedschaft, der gruppenförmigen Gemeindemitgliedschaft, des Priestertums aller Gläubigen, des Unterschiedes von Gemeinde und Welt sowie ein besonderes Verhältnis von Konservativismus und Modernität und die Betonung der ethischen Implikationen des Glaubens benannt. Im Blick auf die Differenzierungsprozesse der Spätmoderne ließen sich Freikirchen, indem sie den Zusammenhang von Mitgliedschaft und individuellem Gottesglauben besonders akzentuieren, differenzierungs- und säkularisierungstheoretisch als der Versuch eines stärker selbstreferentiellen, weniger kontextabhängigen und damit unter den Bedingungen der Moderne und Spätmoderne stabileren Religionssystems verstehen, das zumindest auf der Makro-Ebene in geringerem Maße auf Entdifferenzierungsvorgänge angewiesen ist. Gleichzeitig konnte festgestellt werden, dass Freikirchen den gesamtgesellschaftlich eingeschränkten Einfluss von Religion und den Verlust der kommunalen Basis durch die gruppenförmige Gemeindemitgliedschaft in überschaubaren Ortsgemeinden als Plausibilitätsstrukturen versuchen auszugleichen. Die überschaubaren, gruppenförmig organisierten Ortsgemeinden werden damit als Ort dichter Interaktion zum Vermittler zwischen Individuum und Institution. In der Wettbewerbsperspektive wurde konstatiert, dass sich durch die besondere Mischung von Konservativität und Modernität durchaus Marktvorteile für Freikirchen ergeben, die allerdings nicht in höheren Marktanteilen resultieren, da sich der Wettbewerb wohl maßgeblich auf schon bestehende Mitglieder in dieser oder jener religiösen Organisation konzentriert und nur ein geringerer Teil bei vorheriger religiöser „Abstinenz“ mit Freikirchen einen geeigneten Anbieter auf dem Markt für ihre religiöse Bedürfnislage zu finden scheint. Außerdem wurden die geringen Marktanteile der Freikirchen auf das Prinzip der überschaubaren Ortsgemeinde und der gruppenförmigen Mitgliedschaft als Einschränkung quantitativer Wachstumsmöglichkeiten zurückgeführt.

Zusammenfassung und Ausblick

Mit dieser historisch-analytischen Wahrnehmung Freier evangelischer Gemeinden geht nun mit dem anfangs beschriebenen Zusammenhang zwischen Kirchentheorie und Empirie die Frage einher, wie sich FeGn aus der Perspektive der Mitglieder, also als empirisch wahrnehmbare Größe, zu den bisherigen Einsichten verhält. Dieser Frage soll nun im nächsten Teil nachgegangen werden.

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Teil B Die Perspektive der Mitglieder auf ihre Kirche

7.

Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland 2019

Die Praktische Theologie ist als Praxistheorie notwendig auf die Praxis von Religion und des christlichen Glaubens bezogen. Diese Praxis lässt sich – wie im ersten Teil dieses Buches – historisch-analytisch beschreiben, was im besten Fall zur Erweiterung von Wahrnehmung und Handlungsspielräumen sowie Orientierung kirchenleitender Praxis führt. Nichtsdestotrotz kann Praktische Theologie in der Gegenwart – wie oben schon ausführlich beschrieben 1 – nicht betrieben werden ohne die „Kenntnis des wirklichen Lebens“ 2. Damit ist nicht nur der Einbezug soziologischer und religionssoziologischer Theorie-Konzepte der Gegenwart gemeint, die natürlich auch in einem gewissen Maß zur „Kenntnis des wirklichen Lebens“ führen, sondern die Notwendigkeit empirischer Arbeit für die Praktische Theologie im Allgemeinen und damit auch für die Kirchentheorie im Speziellen. Dieser zweite Teil ist nun ganz im Sinne dieser Notwendigkeit empirisch angelegt. Nach der Klärung der empirisch-quantitativen Forschungsmethode wird die für diese Arbeit durchgeführte empirische Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland aus dem Jahr 2019 in ihrer Anlage, ihrer Durchführung und vor allem im Blick auf die Ergebnisse fokussiert, die zum einen mit denen der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD verglichen und zum anderen kirchentheoretisch interpretiert werden. Dabei stehen vier Themenkomplexe bzw. Forschungsinteressen im Zentrum der Aufmerksamkeit, die es mithilfe der empirischen Untersuchung zu erhellen gilt: das Sozialprofil freievangelischer Gemeindemitglieder (Kapitel 8), die Rekrutierung (Kapitel 9) und die Dimensionen der Kirchenbindung von Gemeindemitgliedern in FeGn (Kapitel 10) sowie die soziale Gestalt Freier evangelischer Gemeinden auf Grundlage der Hybrid-Theorie (Kapitel 11). Bereits einleitend sei schon darauf hingewiesen, dass ein solches Forschungsdesign mit dem Schwerpunkt auf der institutionellen Dimension der Religion begrenzt ist und unbedingt der Erweiterung um die 1 Vgl. 1.2.2 Kirchentheorie und Empirie. 2 Weyel, Kenntnis.

Methodische Grundlagen der Befragung

individuelle Religionsdimension vornehmlich aus qualitativer Forschungsarbeit bedarf, etwa zu individuellen Glaubensgehalten, privater Praxis und Erfahrungen, wie im Folgenden noch auszuführen ist.

7.1 Methodische Grundlagen der Befragung Die empirische Sozialforschung, die für diesen Teil das methodologische Werkzeug bereitstellt, macht es sich zur Aufgabe, die unterschiedlichsten Phänomene sozialer Wirklichkeit wahrzunehmen und bedient sich für eben diesen Erkenntnisvorgang notwendigerweise bestimmter empirischer Methoden. Maßgeblich für den Wert empirischer Forschung und ihrer Ergebnisse und damit auch für das oben dargestellte Ziel, einer auf diese soziale Wirklichkeit bezogenen Kirchentheorie, ist die Nachvollziehbarkeit und intersubjektive Überprüfbarkeit dieser Methoden und des Vorgehens. Eine diesbezügliche Transparenz sollen nun die folgenden Abschnitte herstellen.

7.1.1 Der alte Streit: Quantitativ vs. Qualitativ Die wohl wichtigste und folgenreichste Unterscheidung in der empirischen Methodologie ist die zwischen einer quantitativen und einer qualitativen Herangehensweise. Zwar kann Morgenthaler schreiben: „Die Tage, in denen sich Vertreterinnen und Vertreter quantitativer und qualitativer Forschung in den Haaren lagen, sind längst vorbei“ 3, aber die deutlichen Differenzen beider Ansätze müssen dennoch bedacht werden. Wohlrab-Sahr macht zudem darauf aufmerksam, dass gerade im Zusammenhang mit dem Forschungsgegenstand Religion durch die Methodenwahl immer auch die Religionsdefinition in den Blick kommt und daher umso klärungsbedürftiger ist. 4 Während qualitative Ansätze eher das „Verstehen“ von sozialer Wirklichkeit zum Ziel haben, folgen quantitative dem Modell des „Erklärens“. Qualitatives Forschen beschreitet also einen induktiven, quantitatives dagegen einen eher deduktiven Erkenntnisweg. Beide leisten dabei einen spezifischen Beitrag zur empirischen Forschung. So eignet sich ein qualitatives Herangehen u. a. zur Erforschung individueller Deutungs- und Handlungszusammenhänge, während quantitativ u. a. die Regelhaftigkeit sozialen Handelns ausgemacht werden kann. Diese Anwendungsfälle zeigen, dass die beiden Methoden tendenziell unterschiedliche 3 Morgenthaler, Religionsforschung, 109. 4 Vgl. Wohlrab-Sahr, Qualitative Methoden, 234.

131

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Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden

Perspektiven einnehmen, der quantitativen eignet eher eine Marko-Perspektive, dem qualitativen Ansatz eher eine Mikro-Perspektive. Bei dieser spezifischen Leitungsfähigkeit beider Ansätze verwundert es nicht, dass inzwischen methodenintegrative Ansätze entwickelt wurden, die durch die Integration beider Perspektiven eine noch differenziertere Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit zu erlangen versuchen. 5 Dem kirchentheoretischen Ansatz dieses Buches würde ein solcher MixedMethods-Ansatz entsprechen, wie er auch in den letzten beiden Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD Anwendung gefunden hat. Für die konkrete Durchführung der Studie musste dann allerdings zunächst überhaupt ein erster Schritt in der empirischen Erforschung Freier evangelischer Gemeinden getätigt werden, bevor schon unterschiedliche Perspektiven kombiniert werden können. Mit dem für diese Arbeit gewählten Forschungsgegenstand „Freie evangelische Gemeinden“ ist nun „‚aggregierte‘ Religiosität“ 6 im Blick, die eine quantitative Herangehensweise nahelegt. Mit dieser Methodenwahl ist es zudem möglich, die aggregierten Fälle in einem sozialen Raum zu lokalisieren und zu kontextualisieren, also die Daten zur Religiosität in Beziehung zu Faktoren, wie Einkommen, Geschlecht oder Alter, zu setzen. Vor allem aber erlaubt ein quantitatives Vorgehen „systematische Vergleiche gelebter Religiosität“ 7 und in diesem konkreten Fall den Vergleich mit den Daten der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD aus dem Jahr 2012, der wiederum Einsichten über beide Kirchenformen verspricht. In methodischer Hinsicht will diese Arbeit aber trotzdem im Sinn einer Methodenintegration bzw. eines Mixed-Methods-Ansatzes verstanden werden. Sie bietet mit der quantitativen Herangehensweise einen wichtigen ersten Schritt Freie evangelischen Gemeinden als „aggregierte Religiosität“ unter einer spezifischen Perspektive zu erforschen, der aber ergänzungsbedürftig bleibt. Nicht nur die starke Tendenz der quantitativen Methoden zu einem substantiellen Religionsbegriff, der – wie oben beschrieben – in der Gefahr steht, das Phänomen Religion zu eng, zu institutionell zu fassen, sondern auch die große Bedeutung des subjektiven, „persönlichen“ Glaubens in Freien evangelischen Gemeinden legen als Ergänzung zu dieser quantitativen eine weitere qualitative Studie nahe. Beispielsweise nach dem Triangulationsmodell könnten dann die Resultate der beiden unterschiedlichen Herangehensweisen und ihrer zugrundeliegenden Religionsdefinitionen kombiniert, verknüpft oder validiert werden und dadurch in weitergehende Interpretationen überführt werden. 8

5 6 7 8

Vgl. dazu Morgenthaler, Religionsforschung. Ebd. 216. Ebd. Ebd. 214.

Methodische Grundlagen der Befragung

Im Bewusstsein der Leistungsfähigkeit der quantitativen Methode, aber auch ihrer Grenzen, sollten nun im Herbst 2019 mittels einer standardisierten Befragung von 1.000 Gemeindemitgliedern Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland eine quantifizierte Perspektive der Mitglieder auf ihre Kirche eingeholt werden, die möglichst für die Gesamtheit der Mitglieder aller Freien evangelischen Gemeinden verallgemeinerbar ist, also keinen groben Verzerrungen unterliegt.

7.1.2 Feldbeschaffenheit, Grundgesamtheit und Auswahlverfahren Grundlage für die Anlage der Studie war die zum Zeitpunkt der Durchführung aktuelle Statistik der Bundesleitung des BFeG aus dem Jahr 2017. Nach dieser Statistik bestand der BFeG am 31. 12. 2017 aus 482 Ortsgemeinden in 23 Kreisen mit 41.787 Gemeindemitgliedern. Aus dieser Grundgesamtheit aller Mitglieder Freier evangelischer Gemeinde in Deutschland sollte eine Nettostichprobe von 1.000 Personen erreicht werden. Entsprechend der zentralen Stellung der Ortsgemeinde im frei-evangelischen Gemeindemodell gibt es keine zentrale Mitgliederdatenbank des Bundes, sondern lediglich die Mitgliederlisten in den Ortsgemeinden. Als Auswahlverfahren musste deshalb eine einfache Zufallsauswahl ausscheiden und der Zugang zum Feld über die einzelnen Ortsgemeinden und dort die Gemeindeleitungen und PastorInnen erfolgen. Dementsprechend wurde ein mehrstufiges Auswahlverfahren gewählt, auf dessen letzter Stufe aus 60 Gemeinden zufällig Mitglieder gezogen wurden. Da für diese Ziehung auf der letzten Stufe eben der persönliche Kontakt zu den Gemeinden und ihren PastorInnen bzw. Gemeindeleitungen notwendig war, wurde die Anzahl dieser Gemeinden für die Stichprobe auf maximal 60 beschränkt, um den Aufwand in einem für diese Studie angemessenen Rahmen zu halten. Um grobe Verzerrungen der Stichprobe im Blick auf die Grundgesamtheit zu vermeiden, 9 wurden zunächst die 482 Gemeinden des Bundes nach drei aus der Bundesstatistik bekannten Merkmalen geschichtet, für die angenommen wurde, dass sie maßgeblichen Einfluss auf die untersuchten Zusammenhänge haben: 1) Lage in Deutschland (West, Ost, Nord, Süd), 2) Größe der Stadt am Standort der Gemeinde (Landstadt / Kleinstadt; Mittelstadt; Großstadt / Metropole) sowie 3) Größe der Gemeinde nach Mitgliederanzahl x (kleine Gemeinde: x < 50; mittlere Gemeinde: ≥ 50 x < 200 Mitglieder; große Gemeinde: x ≥ 200). Aus der Kombination dieser drei Kriterien ergaben sich 36 Schichten. Mithilfe der Bundesstatistik, die für jede Gemeinde Auskunft zu den genannten Merkmalen gibt 9 „Werden unter dieser Voraussetzung Zufallsstichproben getrennt nach Schichten gezogen, so wird das Fehlerintervall der Schätzung geringer ausfallen als bei einer einfachen Zufallsstichprobe.“ Diekmann, Empirische Sozialforschung, 388 f.

133

134

Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden

und damit die eindeutige Zuordnung jeder Gemeinde zu einer der Schichten gewährleistet, wurden 32 Schichten erstellt, da zu vier der 36 gebildeten Schichten keine Gemeinde zugeordnet werden konnte. Nach dem Verfahren einer proportional geschichteten Stichprobe wurde im nächsten Schritt die aus jeder Schicht zu ziehende Anzahl an Gemeindemitgliedern durch das Verhältnis von Mitgliederanzahl der jeweiligen Schicht zur Gesamtzahl der Mitglieder des BFeG in Multiplikation mit dem Bruttostichprobenumfang ermittelt. Gleichzeitig wurde über dasselbe Verhältnis in Multiplikation mit der Sollzahl von 60 Gemeinden die Anzahl der pro Schicht zu befragenden Gemeinden errechnet. In zehn verhältnismäßig kleinen Schichten lag diese Anzahl der pro Schicht zu befragenden Gemeinden unter eins, wurde aber auf eins aufgerundet, da eins die kleinste mögliche Einheit auf dieser Ebene war und sich im Blick auf die zu befragenden Mitglieder dadurch keine Verzerrung ergab. Durch diese Korrekturen erhöhte sich die Anzahl der insgesamt zu befragenden Gemeinde auf 67. Zudem bestanden drei Schichten aus lediglich einer Gemeinde, sodass die Auswahl dieser drei Gemeinden keine Zufallsauswahl war. Da im nächsten Schritt allerdings die Gemeindemitglieder wieder zufällig gezogen wurden und die geplante Nettostichprobe für die drei Gemeinden in ihrem sehr geringen Umfang von neun, fünf und zwei Gemeindemitgliedern das Gesamtergebnis nicht grob zu verzerren vermochten, wurde an dieser einen Stelle das Prinzip der Zufallsauswahl vernachlässigt. Im letzten Schritt wurde zufällig die errechnete proportionale Anzahl an Gemeinden aus jeder Schicht gezogen, um dann aus jeder dieser Gemeinden eine zur Gesamtmitgliederzahl der aus der jeweiligen Schicht gezogenen Gemeinden proportionale Anzahl an Gemeindemitgliedern wiederum zufällig zu ziehen. Mit diesem Vorgehen einer mehrstufig proportional geschichteten Zufallsauswahl sollte eine Nettostichprobe von 1000 Gemeindemitgliedern aus den 67 ausgewählten Gemeinden gezogen werden, wie in der folgenden Tabelle dargestellt: Anzahl Anzahl Mitglie- Anzahl Anzahl GeMitgliederGeMitgliemeinder / anteil in meinder den / Schicht Prozent den / GeSchicht Schicht meinden 1 West

Großstadt

Große Gemeinde

13

3451

8,26 %

5

83

2 West

Großstadt

Mittlere Gemeinde

40

4103

9,82 %

6

98

3 West

Großstadt

Kleine Gemeinde

17

517

1,24 %

1

12

Methodische Grundlagen der Befragung

Anzahl Anzahl Mitglie- Anzahl Anzahl GeMitgliederGeMitgliemeinder / anteil in meinder den / Schicht Prozent den / GeSchicht Schicht meinden 4 West

Mittelstadt Große Gemeinde

7

2169

5,19 %

3

52

5 West

Mittelstadt Mittlere Gemeinde

46

4684

11,21 %

7

112

6 West

Mittelstadt Kleine Gemeinde

22

679

1,62 %

1

16

7 West

Kleinstadt

Große Gemeinde

5

1228

2,94 %

2

29

8 West

Kleinstadt

Mittlere Gemeinde

70

6926

16,57 %

10

166

9 West

Kleinstadt

Kleine Gemeinde

53

1589

3,80 %

2

38

10 Süd

Großstadt

Große Gemeinde

5

1510

3,61 %

2

36

11 Süd

Großstadt

Mittlere Gemeinde

17

1723

4,12 %

2

41

12 Süd

Großstadt

Kleine Gemeinde

5

196

0,47 %

1

5

13 Süd

Mittelstadt Große Gemeinde

3

718

1,72 %

1

17

14 Süd

Mittelstadt Mittlere Gemeinde

23

1799

4,31 %

3

43

15 Süd

Mittelstadt Kleine Gemeinde

12

444

1,06 %

1

11

16 Süd

Kleinstadt

Große Gemeinde

1

382

0,91 %

1

9

17 Süd

Kleinstadt

Mittlere Gemeinde

16

1485

3,55 %

2

36

18 Süd

Kleinstadt

Kleine Gemeinde

18

488

1,17 %

1

12

19 Nord Großstadt

Große Gemeinde

3

688

1,65 %

1

16

20 Nord Großstadt

Mittlere Gemeinde

16

1584

3,79 %

2

38

135

136

Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden

Anzahl Anzahl Mitglie- Anzahl Anzahl GeMitgliederGeMitgliemeinder / anteil in meinder den / Schicht Prozent den / GeSchicht Schicht meinden 21 Nord Großstadt

Kleine Gemeinde

8

286

0,68 %

1

7

– Nord Mittelstadt Große Gemeinde







22 Nord Mittelstadt Mittlere Gemeinde

14

1668

3,99 %

2

40

23 Nord Mittelstadt Kleine Gemeinde

4

97

0,23 %

1

2

– Nord Kleinstadt

Große Gemeinde







24 Nord Kleinstadt

Mittlere Gemeinde

11

871

2,08 %

1

21

25 Nord Kleinstadt

Kleine Gemeinde

9

288

0,69 %

1

7

26 Ost

Großstadt

Große Gemeinde

1

219

0,52 %

1

5

27 Ost

Großstadt

Mittlere Gemeinde

11

1040

2,49 %

1

25

28 Ost

Großstadt

Kleine Gemeinde

10

251

0,60 %

1

6

— Ost

Mittelstadt Große Gemeinde







29 Ost

Mittelstadt Mittlere Gemeinde

3

191

0,46 %

1

5

30 Ost

Mittelstadt Kleine Gemeinde

10

299

0,72 %

1

7

— Ost

Kleinstadt

Große Gemeinde







31 Ost

Kleinstadt

Mittlere Gemeinde

1

73

0,17 %

1

2

32 Ost

Kleinstadt

Kleine Gemeinde

8

141

0,34 %

1

3

41787

100 %

67

1000

Abbildung 8: Schichten geplante Nettostichprobe

Methodische Grundlagen der Befragung

7.1.3 Erhebungsinstrument: Computer-gestützte Telefoninterviews Als Erhebungsinstrument für die vorliegende Studie wurden Computer-gestützte Telefoninterviews 10 (kurz: CATI) gewählt. Lange Zeit galten telefonische Befragungen als die „quick and dirty“ Methode der empirischen Sozialforschung, inzwischen haben sie sich aber etabliert. Seit dem Jahr 2000 nehmen Telefoninterviews verglichen mit anderen Erhebungsverfahren die Spitzenstellung ein, im Jahr 2012 liegt dieser Anteil bei 38 %. 11 Die Vor- und Nachteile telefonischer Interviews sind inzwischen ausführlich diskutiert und größtenteils auch empirisch untersucht worden. Generell geht mit dem telefonischen Interview eine größere Gesprächsdistanz einher als beim persönlichen Interview, dennoch stellt auch das telefonische Interview – im Vergleich etwa zur schriftlichen oder online Befragung – eine persönliche Gesprächssituation dar, die „auf einer Beziehung zwischen einem Interviewer und einem Befragten“ 12 basiert. Das telefonische Interview kann also im Blick auf die Kommunikationssituation als eine Art Mittelweg gekennzeichnet werden. 13 Als Nachteile dieser Befragungsform werden in der Regel die geringeren Möglichkeiten bei der Fragebogengestaltung sowie ein kürzerer möglicher Zeitumfang des Interviews angeführt. Der Einsatz optischer Skalen und visueller Hilfsmittel sowie die Bildung von Rangreihen sind in telefonischen Befragungen tatsächlich nicht möglich, dennoch muss auf „komplexe Fragen wie Ranking, Rating, bei Itembatterien, Listenabfragen usw. . . . nicht verzichtet werden“ 14. Eine entsprechende Anpassung des Fragebogens ist allerdings notwendig. Die kürzere Dauer des Interviews und die damit einhergehende Reduzierung des Umfangs der Fragen muss bei telefonischen Interviews in Kauf genommen werden. Diekmann spricht zwar davon, dass auch telefonische Befragungen bei entsprechender Motivationslage bei den Probanden mit einer durchschnittlichen Länge von 45 Minuten keine ernsthaften Probleme bereiten, geht dann in der Praxis aber doch von einer Dauer zwischen 10 bis 30 Minuten aus 15, Petersen setzt 20 Minuten als maximale Dauer eines Telefoninterviews 16. Die Erfahrungen der Pretests zu dieser Studie (s. u.) haben gezeigt, dass die letzteren Einschätzungen zumindest für diese Studie zutreffender waren und tatsächlich von einem im Vergleich zum 10 Vgl. zum Erhebungsinstrument Telefoninterview: Scholl, Befragung, 39–43, Diekmann, Empirische Sozialforschung, 501–514, Hüfken, Telefonische Befragung und Bortz / Döring, Forschungsmethoden und Evaluation, 239–242. 11 Vgl. Hüfken, Telefonische Befragung, 631. 12 Scholl, Befragung, 39. 13 Vgl. ebd. 60. 14 Diekmann, Empirische Sozialforschung, 504. 15 Vgl. ebd. 503 f; Ähnlich auch Bortz mit einer Interviewdauer von 20 Minuten (Bortz / Döring, Forschungsmethoden und Evaluation). 16 Vgl. Petersen, Der Fragebogen, 82.

137

138

Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden

persönlichen Interview deutlich reduzierten Umfang ausgegangen werden muss. Zuletzt bietet das telefonische Interview den InterviewerInnen durch die distanziertere Gesprächssituation eingeschränktere Möglichkeiten die ProbandInnen „zur Teilnahme zu motivieren oder eine Beziehung aufzubauen, auf Grund derer es möglich ist, auch sensible und heikle Fragen zu stellen.“ 17 Die gewichtigsten Probleme bei der Durchführung telefonischer Befragungen sind die Gewinnung einer Stichprobe sowie das konkrete Auswahlverfahren. Zunächst hatte die Verbreitung der Telefonanschlüsse auch im Osten Deutschlands nach der Wende zu einer fast 100 %-igen Abdeckung der Bevölkerung geführt, die zudem noch im Telefonbuch oder digital verfügbar waren. Damit waren Zufallsauswahlen ohne erhebliche Verzerrungen problemlos möglich. Durch die Umstellung der Telefonanbieter, die es ihren Kunden erst ermöglichten Widerspruch gegen die Veröffentlichung des Anschlusses einzulegen sowie später diesen nur noch nach ausdrücklicher Einwilligung zu veröffentlichten, waren Personen aus den neuen Bundesländern sowie jüngere, mobilere Personen in den Telefonbüchern unterrepräsentiert („undercoverage“), was zu Stichprobenverzerrung führte. Dafür wurden zwar Lösungen gefunden, doch neue Phänomene wie die Erreichbarkeit eines Haushaltes nur über Mobilfunk oder Internettelefonie bereiten neue Probleme für die Stichprobengewinnung und das Auswahlverfahren und sind teilweise bis heute nicht gelöst. Von diesen Problemen ist die vorliegende Studie allerdings nicht betroffen, da keine Zufallsstichprobe aus der Bevölkerung gezogen werden soll, sondern nur aus einer konkreten Gruppe, zu der in den Gemeinden Listen vorlagen, die neben Festnetzanschlüssen auch Mobilfunknummern enthielten. In der Forschung umstritten sind die beiden Aspekte der Ausschöpfung sowie der sozialen Erwünschtheit im Vergleich mit persönlichen Interviews. Die soziale Erwünschtheit bezeichnet den wichtigsten Effekt inhaltlicher Verzerrung von Antworten. „Hierbei passen Befragte in Abhängigkeit von Normen und Erwartungen ihre Antworten daran an, was sie in der Befragungssituation für sozial wünschenswert erachten. Dabei erhoffen Sie sich in der Regel, soziale Anerkennung zu erhalten oder negative Sanktionen zu vermeiden.“ 18 Während Hüfken Telefonumfragen gegenüber persönlich-mündlichen Befragungen hinsichtlich der sozialen Erwünschtheit eine höhere Verzerrung zuschreibt 19, verweisen Scholl und v. a. Diekmann auf Studien, die tendenziell sogar das Gegenteil nahelegen, also dass der Effekt der sozialen Erwünschtheit in telefonischen Befragungen sogar etwas geringer ausfällt als in persönlich-mündlichen Umfragen. 20 17 18 19 20

Scholl, Befragung, 43. Hlawatsch / Krickl, Einstellungen zu Befragungen, 306. Hüfken, Telefonische Befragung, 636. Vgl. Scholl, Befragung, 42 und Diekmann, Empirische Sozialforschung, 504. Ähnlich auch bei: Petersen, Der Fragebogen, 38.

Methodische Grundlagen der Befragung

Dieselbe Unentschiedenheit findet sich bezüglich der Ausschöpfung. Nach Scholl ist die Ausschöpfung von Telefonumfragen „in der Regel niedriger als die persönlicher Umfragen und reicht in Deutschland kaum über 50 Prozent“ 21, Diekmann sieht beide Erhebungsinstrumente bezüglich der Ausschöpfung gleichauf, sofern geeignete Maßnahmen zur Optimierung der Quote angewandt werden, 22 und Bortz rechnet sogar nur mit einer Verweigerungsrate von 16 Prozent 23 und somit im Vergleich zu persönlichen Interviews mit einer höheren Ausschöpfung. Sowohl für den Effekt der sozialen Erwünschtheit wie auch für die Ausschöpfung soll für diese Studie aufgrund der Forschungslage davon ausgegangen werden, dass das telefonische Interview zumindest keine erheblichen qualitativen Nachteile gegenüber einer persönlichen Befragung birgt. Beide Aspekte sollen stattdessen durch geeignete Gegenmaßnahmen abgefedert werden, also im einen Fall durch eine entsprechende Auswahl und Schulung der InterviewerInnen sowie Gestaltung des Fragebogens und Zusicherung von Anonymität gegenüber den ProbandInnen (soziale Erwünschtheit) und im anderen Fall durch breit angelegte Uhrzeiten, zu denen die Kontaktversuche erfolgen, eine ausreichende Anzahl an Kontaktversuchen, eine Vorabinformation der ProbandInnen durch ein Anschreiben sowie eine Schulung der Interviewer zum Erstkontakt. 24 Dennoch soll für diese Studie zur Erreichung der Nettostichprobe von 1.000 Interviews von der geringsten angegebenen Ausschöpfungsquoten von 50 Prozent ausgegangen werden, woraus sich eine Bruttostichprobe von 2.000 Gemeindemitgliedern ergibt. Trotz dieser Nachteile und der beiden letztgenannten Aspekte wurde für diese Studie eine telefonische Befragung als Erhebungsinstrument gewählt, da die Vorteile deutlich gewichtiger waren. Dabei ist als der größte Vorteil der geringere Aufwand und damit verbunden die viel niedrigeren Kosten telefonischer Interviews zu nennen. Gleichzeitig erreicht eine telefonische Befragung – insbesondere im Vergleich zur schriftlichen oder online Befragung – doch ein gewisses Maß an Gesprächskontrolle, was die Qualität der Daten verbessern kann. Außerdem erlauben Telefoninterviews eine zentrale Organisationsform, die eine gute Kontrolle des Feldablaufs, ständigen Kontakt zwischen InterviewerInnen und dem Studienleiter sowie eine kurzfristige Reaktion auf Probleme ermöglicht. 25 Die Datenerhebungsphase ist im Vergleich zu einer persönlichen Erhebung mit denselben Mitteln deutlich kürzer und die Daten somit aktueller. Zudem sind bei telefonischen Interviews aufgrund der niedrigen Kosten viele Kontaktversuche möglich. 21 22 23 24 25

Scholl, Befragung, 42. Vgl. Diekmann, Empirische Sozialforschung, 503. Vgl. Bortz / Döring, Forschungsmethoden und Evaluation, 241. Vgl. dazu Hüfken, Telefonische Befragung, 637–640. Vgl. Scholl, Befragung, 42.

139

140

Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden

Konkret bedeutet CATI im Rahmen der FeG-Studie: die Antworten der ProbandInnen werden nicht auf Papier vermerkt und später übertragen, sondern die InterviewerInnen tätigen die Eingaben direkt am Computer und lesen auch die Fragen sowie Anweisungen für die InterviewerInnen von dort ab. Durch die Computerunterstützung werden die InterviewerInnen bei der Handhabung des Fragebogens entlastet. So können beispielsweise komplexe Filterführungen automatisch ablaufen und außerdem Konsistenzprüfungen programmiert werden, wodurch wiederum den InterviewerInnen automatisiert angezeigt werden kann, wenn ein Proband bzw. eine Probandin widersprüchliche Angaben macht. Auch die Vermeidung von Reihenfolgen- bzw. Präsentationseffekten 26 kann durch die Randomisierung von Items vermieden werden. Und zuletzt entfällt bei CATI Befragungen der fehleranfällige Schritt der Datenübertragung. Deshalb kann insgesamt unter Voraussetzung einer entsprechenden Schulung der InterviewerInnen (s. u.) davon ausgegangen werden, dass eine computergestützte Erhebung die Datenqualität eher erhöht.

7.1.4 Der Fragebogen Der Fragebogen ist „das Kontaktinstrument des Wissenschaftlers mit dem Forschungsfeld und somit die methodische, empirische Umsetzung theoretischer Fragestellungen und theoretischer Konzepte“ 27 und als solches maßgeblich mitverantwortlich für die Qualität der Daten einer Studie. 28 Dabei ist zum einen die Konstruktion der einzelnen Fragen und Antworten und zum anderen aber auch die Dramaturgie des gesamten Fragebogens zu bedenken, denn „eine Aneinanderreihung von fünfzig perfekt formulierten Fragen kann einen katastrophal schlechten Fragebogen ergeben“ 29. Beides soll an dieser Stelle bedacht sein: Im Blick auf die vier maßgeblichen Fragestellungen bzw. Forschungsinteressen der Studie (Sozialprofil frei-evangelischer Gemeindemitglieder (Kapitel 8), die Rekrutierung (Kapitel 9) und die Dimensionen der Kirchenbindung von Gemeindemitgliedern in FeGn (Kapitel 10) sowie die soziale Gestalt Freier evangelischer Gemeinden auf Grundlage der Hybrid-Theorie), wurde der Fragebogen zum einen für maximale Vergleichbarkeit so nah wie möglich am Fragebo26 „Demnach ist die Aufmerksamkeit für die vorgetragenen Antwortmöglichkeiten am Anfang hoch, nimmt danach langsam ab und steigt gegen Schluss wieder an.“ Ebd. 217. 27 Ebd. 143. 28 Vgl. zur Fragebogenkonstruktion sowie Fragemethoden und Messtechniken: Petersen, Der Fragebogen, Kirchhoff / Kuhnt u. a., Der Fragebogen, 19–27; Diekmann, Empirische Sozialforschung, 471–488; Scholl, Befragung, 143–182; Klöckner / Friedrichs, Gesamtgestaltung des Fragebogens; Porst, Frageformulierung sowie Franzen, Antwortskalen. 29 Petersen, Der Fragebogen, 64.

Methodische Grundlagen der Befragung

gen der KMU V konstruiert und zum anderen zur Erfassung der spezifisch freievangelischen Kirchenform so viel wie nötig angepasst. In diesem Zug wurden 28 der 50 Fragen inklusive der Antwortkategorien sowie die Sozialstatistik von dort übernommen. Nach der durch den Pretest notwendig gewordenen Kürzung des Fragebogens waren noch 20 von 38 aus der KMU V. 30 In manchen Fällen mussten dabei kleine Anpassungen bzw. Umstellungen für den Befragungskontext Freie evangelische Gemeinden vorgenommen werden, die im jeweiligen Abschnitt noch genauer beschrieben sind. Zwei Fragen inklusive Antwortskalen zum ehrenamtlichen Engagement wurden dem Freiwilligensurvey 31 und die Frage zur Gleichstellung der Frau aus der Studie des IPSOS-Instituts zum Weltfrauentag 2019 entnommen. 32 Die übrigen Fragen und Antwortskalen wurden selbst konstruiert, wobei der größte Teil davon schlichte Nominalskalen darstellte. Im Einzelnen wurden für das Sozialprofil die Fragen nach Geschlecht, Alter, Familienstand (und evtl. kirchlicher Trauung), höchstem Bildungsabschluss, aktueller Tätigkeit, Stellung im Beruf, Haushaltskonstellation und mögliche Kinder im Haushalt sowie das monatliche Netto-Einkommen des Haushaltes unverändert aus der KMU V übernommen. Für das Thema der Rekrutierung der Gemeindemitglieder, also das „Gemeindemitglied-Werden“ der FeG-Mitglieder, wurde eine Frage zu Eintrittsalter mit Antwortmöglichkeiten in Zehn-Jahres-Kohorten, dazu eine Frage zu vorherigen Mitgliedschaften in anderen Kirchen oder Gemeinden, sowie als Filterfrage bei vorhandener vorangegangener Mitgliedschaft die Frage nach der Kirche, in der diese Mitgliedschaft bestand, konstruiert. Darüber hinaus dient eine eigens erstellte Frage zu den Unterschieden von FeGn zu den beiden Großkirchen dazu, die Motivlage der Mitglieder unter Voraussetzung der für Freikirchen zugespitzten Marktsituation zu eruieren. 33 Außerdem wurden die Fragen zur Konfession von Vater und Mutter, die die Frage nach Gründen für die Mitgliedschaft sowie die Frage nach den Sozialisationsinstanzen aus der KMU V übernommen. Das große Feld der Kirchenbindung wurde ebenfalls zum größten Teil mithilfe der Frage aus der KMU V erhoben. Im Blick auf die Grundmuster der Kirchenbindung wurden so die Frage zum Verbundenheitsgefühl zu den unterschiedlichen Ebenen von Kirche, zur Veränderung des Verbundenheitsgefühls, zur Austrittsneigung und zur Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs leicht angepasst in den Fragebogen aufgenommen. Die Grundfrage nach einer Beteiligung am Gemeindeleben im Sinne einer Mitarbeit wurde nicht nach der KMU V, sondern über eine simple Ja-Nein Frage konstruiert, die eine Vergleichbarkeit zur KMU V zu-

30 31 32 33

Näheres dazu siehe das nächste Kapitel zum Pretest. Simonson / Vogel u. a., Freiwilliges Engagement in Deutschland, 337. Ipsos, International women’s day, 2019. Vgl. dazu 05.2.3 Freikirchen und die Binnendifferenzierung des religiösen Feldes.

141

142

Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden

lässt, aber eben die darauffolgenden beiden Vertiefungsfragen zu Häufigkeit und Dauer des Engagements nach Vorbild des Freiwilligensurveys ermöglicht. Außerdem wurde Erhebung der Beteiligung am Gemeindeleben um eine eigene Frage nach der Spendenmotivation erweitert, in deren Hintergrund das spezielle Finanzierungsmodell von FeGn ausschließlich über Spenden steht, um so die Beteiligungsmotivation in einer weiteren Dimension zu operationalisieren. Die ideelle Kirchenbindung wurde einerseits über zwei leicht angepasste Fragen aus der KMU V zum Typisch-(Frei-)Evangelischen sowie zur Erwartung an die Kirche in Form der Erwartung an den Pastor bzw. die Pastorin erhoben und zum anderen über eine eigens konstruierte Frage zur liturgischen Partizipation beim Abendmahl mit seiner zentralen Rolle bei der Inszenierung des Glaubens und der Kirchenbindung. Die interaktionelle Kirchenbindung wurde über die Frage zum Gottesdienstbesuch hinaus über die Fragen nach den Kasualien in Form der Verabschiedung aus dem Biblischen Unterricht (entspricht Konfirmation), der Taufe (inkl. Taufzeitpunkt und Gründe für die Taufe) sowie der kirchlichen Heirat abgefragt, wobei die Frage zu richtigem Taufzeitpunkt, Taufe und eigenem Taufzeitpunkt als einzige nicht der KMU V entnommen, sondern selbst erstellt wurde. Dem liegt die These zugrunde, dass sich die Teilnahme an und Motivlage im Zusammenhang mit Kasualien als Kristallisationspunkt der Kirchenbindung überhaupt verstehen lassen. Neben der beschriebenen liturgischen Interaktion wurde weiter die gesellige Interaktion als in Freikirchen besonders betonte Kirchenbindungsform 34 über eine selbst konstruierte Frage zur Häufigkeit der Teilnahme an gemeindlichen Veranstaltungen jenseits des Gottesdienstes sowie eine Frage zum privaten Kontakt zu anderen Gemeindemitgliedern operationalisiert. Als letzte wiederum freikirchliche besonders wichtige Kirchenbindungsform 35 wurde das Engagement der Befragten in der Gemeinde erhoben, wobei die Frage zum Engagement, wie oben beschrieben, an dieser Stelle dem Freiwilligensurvey und nicht der KMU V entnommen sind. Zusätzlich wurden für Möglichkeit, die Kirchenbindung mit den unterschiedlichen Milieudimensionen in Verbindung zu bringen die Werthaltungsfragen zur Eheschließung Homosexueller (selbst konstruiert) und zur Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft (aus der Studie des IPSOS-Instituts zum Weltfrauentag 2019) sowie Fragen zu Prioritäten im Leben, zur Mobilität, zu Musikgeschmack sowie zum Freizeitverhalten (alle KMU V) implementiert. Für die Frage nach der sozialen Gestalt Freier evangelischer Gemeinden auf Grundlage der Hybrid-Theorie mussten keine speziellen Fragen erstellt werden, sondern die Faktorenanalyse sollte unter Einbezug von drei der bereits beschrie34 Vgl. 5.1.2 Betonung gruppenförmiger Gemeinschaft. 35 Vgl. 05.1.3 Betonung des Priestertums aller Gläubigen.

Methodische Grundlagen der Befragung

benen Fragen zur Kirchenbindung, nämlich der Frage nach den Gründen für die Gemeindemitgliedschaft, nach dem FeG-Typischen sowie nach den Gründen für die Taufe, durchgeführt werden. Es sollte davon ausgegangen werden, dass gerade in den Motiven der Befragten zur Kirchenbindung die sozialgestaltliche Ausprägung im Sinne der drei Logiken der Hybrid-Theorie zum Ausdruck kommt, was sich dann statistisch auch bestätigen ließ. 36 Insgesamt kamen im Fragebogen im Blick auf die Antwortmöglichkeiten vor allem dichotome und fünfstufige Likert-Skalen 37 zum Einsatz, da sich siebenstufige Skalen für Telefoninterviews weniger eignen. 38 Als Fragetypen wurden vor allem Einstellungs- und Motivfragen eingesetzt sowie wenige Verhaltens- und Faktenfragen. Auf Wissensfragen wurde gänzlich verzichtet. Zuletzt wurden bis auf numerische Angaben etwa zum Alter oder der Zeitangabe zum ehrenamtlichen Engagement nur geschlossene Fragen verwendet, um eine bestmögliche Vergleichbarkeit mit der Kirchenmitgliedschaftsstudie der EKD zu erhalten. Im Blick auf die Dramaturgie des Fragebogens ist zunächst die Motivation der Befragten zu berücksichtigen. Deshalb wird empfohlen mit einer einfach zu beantwortenden Frage, der sogenannten „Eisbrecherfrage“ 39 zu starten. In der vorliegenden Studie dient zu diesem Zweck die Frage nach der allgemeinen Lebenszufriedenheit, die darüber hinaus keine Funktion hat. Außerdem ist sich die Forschung weitestgehend einig, dass sozialstatistische Angaben grundsätzlich am Ende des Interviews zu platzieren sind, wobei die Frage nach dem Einkommen den größten Widerstand erwarten lässt und daher die allerletzte darstellt. 40 Außerdem kann durch „einen Hinweis darauf, dass die Befragung bereits am Ende ist und nun nur noch ‚für die Statistik‘ Personendaten erfragt werden“ den Befragten das Gefühl vermittelt werden, „dass die Demographie gar nicht mehr zum eigentlichen Fragebogen dazugehört“ 41. Diesen Empfehlungen wurde in Entwicklung des Fragebogens zur vorliegenden Studie entsprochen. Fragen zu besonders heiklen Themen, die zu Verweigerung oder Abbruch führen könnten, sollte in der Regel möglichst weit hinten im Fragebogen eingereiht werden. 42 Daher wurden die Fragen zur Eheschließung Homosexueller sowie zur Gleichstellung der Frau direkt vor der Sozialstatistik platziert. Für den Hauptteil des Fragebogens sind als Fehlerquellen insbesondere die sogenannten „Positions-, Ausstrahlungs- oder Halo-Effekte“ 43 zu berücksichtigen,

36 37 38 39 40 41 42 43

Siehe dazu: 11. Hybride Gemeindemitgliedschaft. Vgl. Diekmann, Empirische Sozialforschung, 240–247. Vgl. Franzen, Antwortskalen in standardisierten Befragungen, 705 f. Diekmann, Empirische Sozialforschung, 483. Vgl. Petersen, Der Fragebogen, 71. Klöckner / Friedrichs, Gesamtgestaltung des Fragebogens, 677. Vgl. Petersen, Der Fragebogen, 677. Ebd. 678.

143

144

Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden

also der mögliche Einfluss einer Frage und ihrer Antwortmöglichkeiten auf darauffolgende Fragen und ihre Items. Aus diesem Grund wurde in der vorliegenden Studie beispielsweise zuerst nach der Meinung zum Zeitpunkt der Taufe gefragt und erst danach nach dem Taufzeitpunkt der Interviewten. Eine umgekehrte Reihung hätte durch eine Anpassung der Meinung zur Taufe an den eigenen Taufzeitpunkt, die Antworten zu ersterer verzerren können. Neben diesen Kontexteffekten ist insbesondere für die telefonische Befragung für die Gesamtgestaltung die Motivation und Aufmerksamkeit der Probanden zu berücksichtigen, da sie direkte Auswirkungen auf die Datenqualität hat und sich am Telefon deutlich schlechter aktivieren lässt als in persönlichen Interviews. Während in der Regel empfohlen wird aus Gründen der Nachvollziehbarkeit den Fragebogen streng thematisch einzuteilen 44, folgt dagegen der Fragebogen dieser Studie der Einschätzung von Petersen, dass nicht zuerst die inhaltliche Logik der Fragen, sondern die Aufmerksamkeit der Befragten zu berücksichtigen ist. Er schließt daraus: „Je näher ein Fragebogen in seiner Themenmischung und seinem Rhythmus von Konzentration und zwischenzeitiger Entspannung einem zwanglosen alltäglichen Gespräch kommt, desto besser.“ 45 Dementsprechend wurden auch in dieser Studie immer wieder „Zwischenfragen“ eingebaut, die einfach zu beantworten waren und mehr spielerischen Charakter hatten, aber gleichzeitig wertvolle Daten lieferten, etwa die Frage nach dem Musikgeschmack. Um den Probanden dennoch eine gewisse Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten, wurden entsprechende Überleitungstexte für die Interviewer formuliert. Obwohl die durchschnittliche Interviewzeit der vorliegenden Studie mit knapp 30 Minuten an der Grenze des von für telefonische Interviews Möglichen lag (siehe oben 7.1.3), wurden bei 1.105 durchgeführten Interviews nur drei Interview-Abbrüche gezählt, sodass sich diese Strategie zumindest nicht nachteilig ausgewirkt hat. Die auf diese Weise entstandenen Fragen wurde von einer Expertengruppe mit Erfahrung in der empirischen Forschung auf die üblichen Fehlerquellen, wie soziale Erwünschtheit, Verständlichkeit, zweideutige Begriffe, doppelte Verneinung, Suggestion usw. 46, überprüft und die Verbesserungen eingearbeitet. Außerdem musste die in einer frühen Version des Fragebogens noch aufgeführte Frage nach dem Glauben an Gott / an ein höheres Wesen 47 komplett gestrichen

44 Vgl. dazu Diekmann, Empirische Sozialforschung, 483 oder auch Klöckner / Friedrichs, Gesamtgestaltung des Fragebogens, 676. 45 Petersen, Der Fragebogen, 67. 46 Vgl. dazu Porst, Frageformulierung. 47 „Welche der folgenden Aussagen kommt ihrer Überzeugung am nächsten? a] Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat. b) Ich glaube, dass es irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt. c] Ich weiß nicht genau, was ich glauben soll. d) Ich glaube nicht, dass es einen Gott, irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt.“ Bedford-Strohm / Jung, Vernetzte Vielfalt, 500.

Methodische Grundlagen der Befragung

werden, da die soziale Erwünschtheit in Freien evangelischen Gemeinden, in denen der Glaube entsprechend der erstem Antwortmöglichkeit Mitgliedschaftsvoraussetzung ist, zu deutlichen Verzerrungen geführt hätte. Dieser Fragebogen wurde dann in das Computerprogramm übertragen und entsprechende Konsistenzchecks sowie Filterführungen programmiert.

7.1.5 Pretests Vor der eigentlichen Feldphase wurde der computergestützte Fragebogen ausführlich im August 2019 in zwei Freien evangelischen Gemeinden getestet. Um für diese Tests eine möglichst große Bandbreite an Bedingungen und Konstellationen in den Blick zu bekommen, wurden die beiden Gemeinden nach dem Prinzip der Kontrastierung 48, einem Vorgehen aus der qualitativen Forschung, ausgewählt, also zwei möglichst gegensätzliche Gemeinden für die Pretest gewonnen: eine große Stadtgemeinde im Westen und eine kleine Dorfgemeinde im Osten. Aus diesen Gemeinden wurden insgesamt 20 Personen telefonisch interviewt. Im Fokus dieser Pretests standen vor allem die Verständlichkeit der Fragen, die von den Interviewten empfundene Dauer der Befragung sowie die technische Zuverlässigkeit des programmierten Fragebogens insbesondere bei Filterfragen und Konsistenzprüfungen. Ein zentrales Ergebnis dieser Pretests war, dass sich der ursprüngliche Fragebogen mit einer durchschnittlichen Beantwortungsdauer von 51 Minuten als deutlich zu lang erwiesen hat. Von 20 Befragten haben das Interview 18 beendet. Bei zwei Probanden war das allerdings nicht möglich, sodass damit zu rechnen war, dass ein Fragebogen mit unveränderter Länge bei 1.000 Nettointerviews zu einer hohen Abbruchzahl führen würde. Daraufhin wurde der Fragebogen von ursprünglich 50 auf 38 Fragen zuzüglich Sozialstatistik gekürzt. Diese notwendige Kürzung, die ausschließlich Fragen aus der KMU V bzw. KMU IV betraf, wurde vor allem durch das Auslassen von Vertiefungsfragen etwa zur kirchlichen Bindung der Eltern (vgl. KMU V Frage 12b) oder zum Gottesdienst v. a. in seiner sozialen Dimension (vgl. KMU V Fragen 22, 23a, 23c, 23d und KMU IV Frage 18) erreicht. Außerdem wurden weniger vielversprechende bzw. aussagekräftige Fragen im Blick auf die Forschungsinteressen getilgt: die Frage nach der Information der Mitglieder durch bestimmte Medien (vgl. KMU V Frage 4c), nach der Einstellung zum Kontakt zur Pfarrerin bzw. zum Pfarrer (vgl. KMU V Frage 18), nach der Bedeutung der Konfirmation bzw. des biblischen Unterrichtes (vgl. KMU IV Frage 6) sowie zur Problemlösung durch die Kirche (vgl. KMU V 48 Przyborski / Wohlrab-Sahr, Forschungsdesigns für die qualitative Sozialforschung, 126.

145

146

Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden

Frage 13). Die Items aus KMU IV boten sich neben inhaltlichen Gesichtspunkten auch aus methodischen Gründen zur Streichung an. Hier ist der zeitliche Abstand zur FeG-Studie besonders groß und vergleichende Einsichten wären dadurch weniger aussagekräftig. Zuletzt wurde – wie schon im letzten Kapitel beschrieben – die Frage nach dem Glauben an Gott / ein höheres Wesen (vgl. KMU V Frage 39) aus Gründen der sozialen Erwünschtheit gestrichen. Außerdem wurden zwei Fragen zur besseren Verständlichkeit geringfügig überarbeitet sowie eine Filterprogrammierung korrigiert.

7.2 Durchführung und Verlauf der Befragung Um die Durchführung einer telefonischen Befragung von 1.000 FeG-Mitglieder zu realisieren wurden 15 Studierende der Theologischen Hochschule Ewersbach, der Ausbildungsstätte des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, als Interviewerinnen und Interviewer angeworben und für ihre Arbeit auch vergütet. 49 Dieses Vorgehen bot für die Studie mehrere Vorteile: So konnte bei den Studierenden von einer hohen Identifikation mit dieser Studie und dementsprechend großem Engagement und Sorgfalt ausgegangen werden. Dazu konnte bei Studierenden der Theologie grundsätzlich von einer hohen Ausprägung von für die telefonischen Interviews notwendigen Kompetenzen, insbesondere kommunikativer Kompetenz, ausgegangen werden. Die Anbindung der InterviewerInnen an eine frei-evangelische Einrichtung schien außerdem vertrauensförderlich für einen telefonischen Erstkontakt. Zuletzt bot die Hochschule in Ewersbach logistisch viele Vorteile, sie konnte geeignete Räumlichkeiten zur Schulung der InterviewerInnen sowie für Besprechungen bereitstellen und fungierte während der Feldphase als Kontrollzentrum und damit auch zentrale Anlaufstelle für die InterviewerInnen bei Problemen oder Rückfragen an den Studienleiter. Zwei Wochen vor Beginn der Feldphase wurden diese 15 InterviewerInnen durch eine ganztägige Schulung, die vom Studienleiter durchgeführt wurde, auf die Feldphase vorbereitet. Nach einer Einführung in die Forschungsfragen, Anlage und Methodik der Befragung wurden die InterviewerInnen ausführlich in den Fragebogen und dessen Handhabung mithilfe der Befragungssoftware, in grundsätzliche Regeln und Techniken telefonischer Interviews, insbesondere Strategien zur erfolgreichen Gestaltung des Erstkontaktes, eingewiesen sowie auf 49 Die dafür notwendigen Mittel von ca. 5000 e wurden zu 40 % vom BFeG, zu 47 % von der Theologischen Hochschule Ewersbach sowie zu weiteren 13 % vom Förderkreis für Theologie im Bund Freier evangelischer Gemeinden e. V. bereitgestellt. Dabei waren die finanziellen Mittel insbesondere der Kirchenleitung in keiner Weise an inhaltliche Restriktionen der Forschungsarbeit gebunden.

Durchführung und Verlauf der Befragung

die häufigsten Fehlerquellen bei der Datenerhebung und ihre Vermeidung hingewiesen. Zuletzt bekamen alle Hilfskräfte bei der Schulung die Möglichkeit die Durchführung der Interviews mit der Befragungssoftware unter Aufsicht zu üben und Rückfragen zu klären. Außerdem wurden am Schulungstag sämtliche Kontakte der InterviewerInnen zu Gemeinden des Bundes notiert und diese Gemeinden für die InterviewerInnen jeweils ausgeschlossen, sodass zum einen die Anonymität der Interviews nicht durch persönliche Kontakte unterlaufen und zum anderen besonders drastische Interviewereffekte, wie beispielsweise der sozialen Erwünschtheit im Blick auf heikle Fragen, vermieden werden konnten. Um für die eigentlichen telefonischen Interviews und den dortigen Erstkontakt eine möglichst gute Ausgangslage zu schaffen, wurden potentielle Probanden auf drei Wegen vor dem telefonischen Erstkontakt informiert: Zum einen wurde in einem E-Mail-Newsletter des BFeG, sowie über dessen Kanäle in den sozialen Netzwerken über die Studie informiert und um Vertrauen geworben. Als zweites wurde im Oktober 2019 ein Artikel 50 zur geplanten Studie in der FeG-Zeitschrift „Christsein-Heute“ veröffentlicht. Und zuletzt wurden die ausgewählten Gemeinden in Form ihrer Gemeindeleitungen und PastorInnen selbst gebeten, die entsprechenden Informationen, insbesondere im Blick auf die Anonymität der Befragung, an ihre Gemeindemitglieder weiterzugeben und dabei um eine Teilnahme an der Befragung zu werben. Dafür wurde den Gemeinden eine ausführliche Broschüre zur Studie inkl. Hinweisen zur Anonymität und zum Datenschutz, ein Motivationsschreiben der Bundesleitung des BFeG, Präsentationsfolien zur Vorstellung im Gottesdienst bzw. auf Gemeindeveranstaltungen sowie eine Emailvorlage zur Information der Gemeindemitglieder zur Verfügung gestellt. Die Feldphase des Projektes erstreckte sich über fünf Wochen vom 28. Oktober bis zum 01. Dezember 2019. Sie sollte möglichst kurzgehalten werden, um die Wahrscheinlichkeit besonderer Ereignisse in Gesellschaft, Bund und Gemeinden, die die Ergebnisse der Studie verzerren könnte, zu minimieren. Der Zeitraum im November wurde zum einen ausgewählt, da er frei von Schul- und Semesterferien war und damit die Wahrscheinlichkeit der Erreichbarkeit der Gemeindemitglieder höher eingeschätzt wurde, und zum anderen, da auch die Referenzstudien der EKD in diesem Jahreszeitraum durchgeführt wurden und so keine Verzerrungseffekte durch eine andere Jahreszeit auftreten können. Während der Durchführung der Interviews bestand zu Qualitätssicherungszwecken durchgehend Kontakt zwischen den InterviewerInnen und dem Studienleiter. Dabei wurden vier problematisch verlaufene Interviews besprochen und die entsprechenden Datensätze für die Auswertung ausgeschlossen sowie einige Falscheingaben korrigiert.

50 Schroth, Was ist eigentlich FeG?

147

148

Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden

7.3 Ausschöpfung, Auswertung und Vergleichsgruppe Schon bei der Auswahl der Gemeinden wurde deutlich, dass von den 67 angefragten Gemeinden sieben Gemeinden aufgrund der aktuellen Gemeindesituation nicht an der Studie teilnehmen konnten. Die Gründe waren in vier Fällen ein Pastorenwechsel, in einem Fall große Umstrukturierungsmaßnahmen in der Gemeinde sowie in einem weiteren Fall anderweitige Hinderungsgründe. In allen Fällen forderte die Situation die volle Aufmerksamkeit insbesondere der Gemeindeleitung und PastorInnen, sodass die Unterstützung und Teilnahme an der Studie nicht möglich war. Durch den Ausfall dieser sechs Gemeinden fielen 131 geplante ProbandInnen aus. Aus diesem Grund wurde die Bruttostichprobe insgesamt auf 2131 aufgestockt bei gleichbleibender proportionaler Verteilung, um trotz des Ausfalls der sechs Gemeinden bei einer 50-prozentigen Ausschöpfung eine Nettostichprobe von 1000 zu erzielen. Bruttostichprobe

2131

Systematische Ausfälle

100,00 %

1029

48,29

Durch abgesagte Gemeinden

131

6,15 %

Keine Bereitschaft

711

33,36 %

Nummer falsch

46

2,16 %

Interview abgebrochen

3

0,14 %

Sprachlich nicht möglich

3

0,14 %

Kein Gemeindemitglied mehr Nicht erreicht Sonstiges Durchgeführte Interviews

7

0,33 %

127

5,96 %

4

0,19 %

1102

51,71 %

Abbildung 9: Ausschöpfung

Diese geplante Stichprobe wurde mit 1102 durchgeführten Interviews sogar übertroffen. Von den 1029 ausgefallenen Probanden gehen 131 (6,15 %) auf die erwähnten sechs Gemeinden zurück, 711 (33,36 %) waren nicht bereit an der Studie teilzunehmen, in 46 Fällen (2,16 %) war die angegebene Nummer falsch und die Zielperson darüber nicht erreichbar. In nur drei Fällen (0,14 %) wurde das Interview durch die Befragten vorzeitig abgebrochen. Die Verkürzung des Fragebogens auf eine Durchschnittsdauer von 27,4 Minuten hatte sich diesbezüglich also ausgezahlt. In weiteren drei Fällen (0,14 %) war die Durchführung des Interviews aus sprachlichen Gründen nicht möglich, sieben Probanden (0,33 %) waren nach eigener Aussage keine Gemeindemitglieder mehr und 127 (5,96 %)

Ausschöpfung, Auswertung und Vergleichsgruppe

waren trotz vielfacher Kontaktversuche nicht erreichbar, vier Interviews (0,19 %) wurden aufgrund problematischer Verläufe nach Rücksprache mit den InterviewerInnen ausgeschlossen (siehe Abbildung 9). Insgesamt liegt die Ausschöpfungsquote damit im Rahmen der oben diskutierten Einschätzungen bei Scholl und Diekmann 51 und gleichzeitig deutlich über der Ausschöpfung der V. KMU mit 31,2 % (Protestanten West) und 34,3 % (Protestanten Ost) 52. Im Blick auf die Verteilung der systematischen Ausfälle auf die 32 Schichte konnte nach Abschluss der Befragung erfreulicherweise festgestellt werden, dass die durchgeführten Interviews nur in zwei Fällen (Schicht 8 und 22) um mehr als zwei Prozentpunkte vom ursprünglich intendierten Anteil abweichen. Auch der Mittelwert der Abweichung vom ursprünglich intendierten Anteil durchgeführter Interviews einer Schicht an allen durchgeführten Interviews liegt nur bei 0,76 (siehe Abbildung 10). Um eine grobe Verzerrung der Ergebnisse im Blick auf die Schichten auch statistisch ausschließen zu können, wurde zusätzlich die Unabhängigkeit der Teilnahme am Interview von der Schicht mit Hilfe eines Chi-Quadrat-Test berechnet. Eine solche Berechnung für den gesamten Datensatz stellte sich allerdings als problematisch heraus, da einige Schichte nur einen sehr geringen Umfang aufweisen und damit Verteilungsunterschiede deutlich stärker ins Gewicht fallen. Außerdem ergeben 9,4 % der Zellen des Chi-Quadrat-Test für den gesamten Datensatz Werte unter fünf, womit die Ergebnisse nur noch eingeschränkt interpretierbar sind. Mitgliederanteil in Prozent

Netto- Brutto- AusAus- Abweistich- stich- schöp- schöp- chung probe probe fung fung in (geabsolut Prozent plant)

1 West Großstadt Große Gemeinde

8,26 %

83

176

100

9,07 %

0,82

2 West Großstadt Mittlere Gemeinde

9,82 %

98

209

120

10,89 %

1,07

3 West Großstadt Kleine Gemeinde

1,24 %

12

26

23

2,09 %

0,85

4 West Mittelstadt Große Gemeinde

5,19 %

52

111

53

4,81 % –0,38

5 West Mittelstadt Mittlere Gemeinde

11,21 %

112

239

102

9,26 % –1,95

51 Vgl. Scholl, Befragung, 42 und Diekmann, Empirische Sozialforschung, 503. 52 TNS Emnid, Methodische Dokumentation, 11 f.

149

150

Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden

Mitgliederanteil in Prozent

Netto- Brutto- AusAus- Abweistich- stich- schöp- schöp- chung probe probe fung fung in (geabsolut Prozent plant)

6 West Mittelstadt Kleine Gemeinde

1,62 %

16

35

23

2,09 %

0,46

7 West Kleinstadt Große Gemeinde

2,94 %

29

63

27

2,45 % –0,49

8 West Kleinstadt Mittlere Gemeinde

16,57 %

166

353

156

14,16 % –2,42

9 West Kleinstadt Kleine Gemeinde

3,80 %

38

81

34

3,09 % –0,72

10 Süd

Großstadt Große Gemeinde

3,61 %

36

77

50

4,54 %

0,92

11 Süd

Großstadt Mittlere Gemeinde

4,12 %

41

88

60

5,44 %

1,32

12 Süd

Großstadt Kleine Gemeinde

0,47 %

5

10

4

13 Süd

Mittelstadt Große Gemeinde

1,72 %

17

37

27

2,45 %

0,73

14 Süd

Mittelstadt Mittlere Gemeinde

4,31 %

43

92

54

4,90 %

0,60

15 Süd

Mittelstadt Kleine Gemeinde

1,06 %

11

23

7

0,64 % –0,43

16 Süd

Kleinstadt Große Gemeinde

0,91 %

9

19

0

0,00 % –0,91

17 Süd

Kleinstadt Mittlere Gemeinde

3,55 %

36

76

31

2,81 % –0,74

18 Süd

Kleinstadt Kleine Gemeinde

1,17 %

12

25

11

1,00 % –0,17

19 Nord Großstadt Große Gemeinde

1,65 %

16

35

3

0,27 % –1,37

20 Nord Großstadt Mittlere Gemeinde

3,79 %

38

81

44

21 Nord Großstadt Kleine Gemeinde

0,68 %

7

15

0

– Nord Mittelstadt Große Gemeinde





0,36 % –0,11

3,99 %

0,20

0,00 % –0,68

Ausschöpfung, Auswertung und Vergleichsgruppe

Mitgliederanteil in Prozent

Netto- Brutto- AusAus- Abweistich- stich- schöp- schöp- chung probe probe fung fung in (geabsolut Prozent plant)

22 Nord Mittelstadt Mittlere Gemeinde

3,99 %

40

85

70

6,35 %

2,36

23 Nord Mittelstadt Kleine Gemeinde

0,23 %

2

5

3

0,27 %

0,04

– Nord Kleinstadt Große Gemeinde



24 Nord Kleinstadt Mittlere Gemeinde

2,08 %

21

44

17

1,54 % –0,54

25 Nord Kleinstadt Kleine Gemeinde

0,69 %

7

15

14

1,27 %

26 Ost

Großstadt Große Gemeinde

0,52 %

5

11

0

27 Ost

Großstadt Mittlere Gemeinde

2,49 %

25

53

43

3,90 %

1,41

28 Ost

Großstadt Kleine Gemeinde

0,60 %

6

13

7

0,64 %

0,03

— Ost

Mittelstadt Große Gemeinde



29 Ost

Mittelstadt Mittlere Gemeinde

0,46 %

5

10

8

0,73 %

0,27

30 Ost

Mittelstadt Kleine Gemeinde

0,72 %

7

15

0

0,00 %

-0,72

— Ost

Kleinstadt Große Gemeinde



31 Ost

Kleinstadt Mittlere Gemeinde

0,17 %

2

4

4

0,36 %

0,19

32 Ost

Kleinstadt Kleine Gemeinde

0,34 %

3

7

7

0,64 %

0,30

100 %

1000

2131 1102

0,58

0,00 % –0,52

100 % ø 0,76

Abbildung 10: Ausschöpfung nach Schichten

Aus diesem Grund wurde der Test auf Unabhängigkeit von Teilnahme und Schicht nur in ausreichend großen Schichten (n ≥ 100) durchgeführt, die zusammen immerhin fast die Hälfte der gesamten Bruttostichprobe ausmachen (n=1043). Auf einem Signifikanzniveau von 0,05 war das Ergebnis des Chi-Qua-

151

152

Die Befragung von Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden

drat-Test nicht signifikant, weshalb die Nullhypothese einer Unabhängigkeit von Schicht und Teilnahme am Interview aufrechterhalten werden konnte. Damit ist für den vorliegenden Datensatz nicht von einer Verzerrung der Stichprobe im Blick auf die aus der Grundgesamtheit bekannten Merkmale auszugehen. Die Auswertung und Analyse der Daten erfolgt mithilfe des Computerprogrammes SPSS (Version 25). Einer der maßgeblichen Gründe für eine quantitative Herangehensweise für diese Studie, war die Möglichkeit des Vergleiches zur fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD. Dieser soll, wo es möglich und sinnvoll ist, in den nächsten Kapiteln mithilfe einer Sekundäranalyse ihrer Daten erfolgen. Für diese Analyse werden aus dem Gesamtdatensatz nur die Fälle der Evangelischen (n=2016) und diese unter Einberechnung der Gewichtungsvariable für Evangelische, wie sie auch sämtlichen Veröffentlichungen zugrunde liegt, berücksichtig. Da ein Vergleich zwischen den Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden und der evangelischen Befragten der fünften KMU sehr große Unterschiede erwarten lässt, soll aus dem Gesamten der Evangelischen noch eine zweite Vergleichsgruppe erstellt werden, die bezüglich ihrer Daten Freien evangelische Gemeinden deutlich ähnlicher ist und damit bei auftretenden Unterschieden aber einen hohen Erkenntnisgewinn verspricht. Entsprechend dem in dieser Arbeit herausgestellten Charakteristikum Freier evangelischer Gemeinden, ein besonderes Gewicht auf die Ortsgemeinde zu legen, und der sich daraus ergebenden hohen Bindung der Mitglieder an die Ortsgemeinde, wurde diese zweite Vergleichsgruppe also nach genau diesem Bindungsprinzip konstruiert: Es wurden aus allen Evangelischen die Fälle ausgewählt, die bei der Frage nach der Verbundenheit zur Ortsgemeinde „ziemlich hoch“ oder „sehr hoch“ angegeben haben und demnach der maßgeblichen Kirchenbindungsform Freier evangelischer Gemeinden möglichst nahekommen (n=907). Diese Gruppe entspricht 45 % der befragten Evangelischen und sie zeichnet sich im Blick auf einige Faktoren durch eine besondere sozialstrukturelle Zusammensetzung aus, die im Zusammenhang mit eben dieser Gruppenkonstruktion zu sehen ist. So korreliert das Verbundenheitsgefühl zur Ortsgemeinde signifikant mit den Faktoren Geschlecht, Alter, Familienstand und Tätigkeit. Oder anders gesagt: die Vergleichsgruppe der Hochverbundenen zur Ortsgemeinde aus der V. KMU stellt einen weiblicheren (59,4 % weiblich; KMU V Gesamt: 53,6 %), älteren (Durchschnittsalter in Jahren 54,1; KMU V Gesamt: 49,2), seltener ledigen (16,9 % ledig; KMU V Gesamt: 25 %) und häufiger in Rente bzw. Pension (Rentner / Rentnerin, Pensionär / Pensionärin 39,1 %; KMU V Gesamt: 29,2 %) befindlichen Ausschnitt aller evangelischen Mitglieder dar. 53 Diese sozialstrukturellen Zusammenhänge sollen in der folgenden zwischenkirchlichen Auswertung der 53 Keine Korrelationen bestehen überraschenderweise an dieser Stelle zu den Faktoren Bildungsabschluss und Haushaltskonstellation.

Ausschöpfung, Auswertung und Vergleichsgruppe

Beziehung zur Kirche immer wieder berücksichtigt und auf ihren Einfluss auf die Auswertungsergebnisse hin überprüft werden, also etwa, ob es durch diese Faktoren zu Verzerrungen kommt und die Vergleichbarkeit der Ergebnisse eingeschränkt werden muss oder ob ein Vergleich zwischen den Hochverbundenen der KMU V und FeG-Mitgliedern von diesen Faktoren unberührt bleibt. Unter Berücksichtigung dieser beiden Gruppen der KMU V, dieser Hochverbundenen sowie aller Evangelischen, werden in den nächsten Kapiteln das Sozialprofil frei-evangelischer Gemeindemitglieder, die Rekrutierung von Mitgliedern, die Dimensionen der Kirchenbindung von Gemeindemitgliedern in FeGn sowie die soziale Gestalt Freier evangelischer Gemeinden auf Grundlage der Hybrid-Theorie analysiert. Für diese sehr unterschiedlichen Themengebiete, bedarf es jeweils nur gewisser Teilmengen der gesammelten Daten und außerdem sehr unterschiedlicher statistischer Verfahren. Die jeweilige Datengrundlage und die angewandten Analyseverfahren sind deshalb im jeweiligen Abschnitt zu finden.

153

8.

Das Sozialprofil frei-evangelischer Gemeindemitglieder

Sowohl die neueren Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen 1 wie auch die kirchentheoretischen Monographien 2 haben darauf aufmerksam gemacht, dass Kirchen- bzw. Gemeindemitgliedschaft eine soziale Praxis darstellen und insofern immer eingeflochten sind in soziale, biographische und mikro- sowie makrostrukturelle Zusammenhänge. Dementsprechend soll auf Grundlage der Daten der Feldstudie nun als erstes das Sozialprofil frei-evangelischer Gemeindemitglieder erstellt werden. In Kapitel drei wurde die Frage nach dem Geschlechterverhältnis in FeGn sowie die geographische Verteilung schon mithilfe der Bundesstatistik beantwortet, wobei deutlich wurde, dass der Frauenanteil in FeGn mit 56,0 % nicht nur 5,3 Prozentpunkte über dem der Bevölkerung, sondern auch 1,1 Prozentpunkte über dem der EKD (54,9 %) 3, aber 3,4 Prozentpunkte unter dem der oben beschriebenen besonders häufig weiblichen Hochverbundenen (59,4 %) liegt. Weitere Auskünfte waren mit dieser Statistik aber nicht möglich. Im Folgenden sollen nun als Erweiterung der dort getätigten Einsichten die Altersstruktur, der Familienstand sowie Bildung und Beruf der Mitglieder Freier evangelischer Gemeinden analysiert werden, wobei als Vergleichspunkte alle Evangelischen der KMU V, die zweite Vergleichsgruppe aus der Ortsgemeinde besonders Verbundenen der KMU V sowie Daten zur gesamten deutschen Bevölkerung dienen.

1 Vgl. dazu „Mitgliedschaft als soziale Praxis“ in Bedford-Strohm / Jung, Vernetzte Vielfalt, 33–127. 2 Vgl. beispielsweise Hermelink, Kirchliche Organisation, 175–204 oder Grethlein, Kirchentheorie, 149–150. 3 Vgl. EKD, Kirchenmitgliederzahlen, 6.

Altersstruktur

8.1 Altersstruktur Unter den Befragten ist das jüngste Mitglied 15, das älteste 97, im Durchschnitt sind die Mitglieder 51,8 Jahre alt. Im Vergleich dazu weist die Gesamtheit der evangelischen Kirchenmitglieder mit 49,2 Jahren einen niedrigeren Altersschnitt auf, während mit 54,1 Jahren die evangelischen Mitglieder, die ihrer Ortsgemeinde ziemlich oder sehr verbunden sind, einen höheren Altersdurchschnitt erreichen. Sowohl in der KMU V als auch in der FeG-Befragung wurde das Alter direkt abgefragt. Zugunsten der Übersichtlichkeit wurden aus den Angaben Alterskohorten in Zehnerschritten gebildet. Die Verteilung der Anteile der Alterskohorten sind in den meisten Altersstufen sehr ähnlich, auffällig sind lediglich die unterschiedlichen Schwerpunkte in den Alterskohorten im Vergleich zwischen FeG und der zweiten Vergleichsgruppe der KMU (siehe Abbildung 11). Auf Seiten der FeG liegt der Schwerpunkt klar ersichtlich bei den 50- bis 59-Jährigen (27,8 % der Mitglieder), bei der Vergleichsgruppe bei den 70- bis 79-Jährigen (26,1 % der Mitglieder). Während in der Auswertung zur fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung dementsprechend die Älteren ab 60 Jahren als Kerngruppe der Kirchen ausgemacht werden 4, haben für FeGn zumindest quantitativ die 50- bis 59-Jährigen als solche zu gelten. Die hohe Ausprägung dieser Altersgruppe lässt sich wohl auf einen besonders starken Baby-Boom-Effekt in FeGn zurückführen. Allerdings bedürfte diese These zur Überprüfung diachroner Daten für die Altersstruktur in FeGn, die leider (bisher) nicht vorliegen. Bis auf diesen Unterschied erreichen die beiden sehr verschiedenen Formen der Mitgliederrekrutierung in 30% 25% 20% FeG 15% KMU Hochv. 10%

KMU Ges.

5% 0% 10-19 20-29 30-39 40-49 50-59 60-69 70-79 80-89 90-99

Abbildung 11: Alter der Mitglieder in Kohorten 4 Spieß, Tabea / Wegner, Gerhard, Die Älteren: Kerngruppe der Kirche, in: Bedford-Strohm, H. / Jung, V. (Hg.), Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2015, 161–170, 161.

155

156

Das Sozialprofil frei-evangelischer Gemeindemitglieder

der EKD und den FeGn am Ende aber eine überraschend ähnliche Altersstruktur ihrer Mitglieder. Verhältnis Altersstruktur FeG/KMU Hochv./KMU Ges. zur Bevölkerung 3,5 3 2,5 2 FeG

1,5

KMU Hochv.

1 0,5

KMU Ges.

0 10-19

20-29

30-39

40-49

50-59

60-69

70-79

80-89

Abbildung 12: Verhältnis Altersstruktur FeG/KMU Hochv./KMU Ges. zur Bevölkerung

Bei einem Vergleich der Altersstruktur in Freien evangelischen Gemeinden mit der der deutschen Bevölkerung im Jahr 2019, nach der Berechnung des Statistischen Bundesamtes unter Berücksichtigung der Altersstufen 10 bis 89 5, zeigt sich zunächst, dass der Anteil der 10- bis 19-Jährigen bei nur 16,7 % des Anteils in der Bevölkerung liegt und diese damit deutlich unterrepräsentiert sind, während die 20- bis 29-Jährigen nur noch knapp unter dem Bevölkerungsschnitt liegen (vgl. Abbildung 12). Dieser Befund lässt sich eventuell zu einem Teil darauf zurückführen, dass die Gemeindemitgliedschaft in FeGn eben erst erworben werden muss und dazu außerdem in der Regel das Erreichen der Religionsmündigkeit mit 14 Jahren voraussetzt, verlangt aber nach einer detaillierteren Klärung, die im nächsten Kapitel bei der Frage nach der Mitgliederrekrutierung erarbeitet werden soll. Darüber hinaus fällt auch an dieser Stelle der deutliche Überhang (173,8 %) bei den 50- bis 59-Jährigen in FeGn auf, während in beiden KMU-Gruppen dagegen die 70- bis 79-Jährigen stark übervertreten sind (Gesamt 196,7 %, Hochverbunden zur Ortsgemeinde 290 %). Damit ergibt sich insgesamt eine Überalterung aller drei Gruppen. So gibt das Statistische Bundesamt auf Grundlage des Zensus 2011 für das Jahr 2018 für die Bevölkerung in Deutschland ein Durchschnittsalter von 44,4 Jahren an. Im Vergleich dazu ist das Durchschnittsalter unter den

5 Datengrundlage sind die Angaben des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2019, vgl. https://service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/, letzter Abruf 13. 08. 2020.

Familienstand

Hochverbundenen der KMU um 9,7 Jahre, in FeGn um 7,4 Jahre und unter allen Evangelischen um 4,8 Jahre höher.

8.2 Familienstand Auch zum Familienstand wurden die Gemeindemitglieder in der Studie befragt, dabei konnten sie auswählen zwischen ledig, verheiratet / eingetragene Lebenspartnerschaft u. zusammenlebend, verheiratet / eingetragene Partnerschaft u. getrennt lebend, geschieden sowie verwitwet. Die einfache Häufigkeit ergibt mit 77,1 % einen sehr hohen Anteil an Verheirateten bzw. in eingetragener Lebensgemeinschaft Lebenden (vgl. Abbildung 13). Einen sehr geringen Anteil machen mit 5,1 % die Geschiedenen und mit 4,9 % die Verwitweten aus, Getrenntlebende können mit 0,5 % nahezu komplett vernachlässigt werden. Korrespondierend mit dem hohen Anteil verheirateter Gemeindemitglieder machen Ledige nur 12,3 % aus. Schon im Vergleich sowohl mit allen Evangelischen wie auch den Hochverbundenen fällt dieser Anteil gering aus, wobei FeG-Mitglieder und Hochverbundene der KMU mit 12,3 % und 16,9 % Ledigen näher beieinander liegen als Hoch-

0%

10%

20%

30%

40%

50%

70%

80%

90%

12,3% 16,9% 25%

Ledig

77,1%

Verheiratet / eingetragene Lebenspartnerschaft

Getrennt lebend

60%

65,5% 60,8% 0,5% 1% 1,1%

Geschieden

5,1% 3,2% 4,4% 4,9%

verwitwet

13,3% 8,6% FeG

Abbildung 13: Familienstand

KMU Hochv.

KMU Ges.

157

158

Das Sozialprofil frei-evangelischer Gemeindemitglieder 1,8 1,6 1,4 1,2 1 0,8 0,6 0,4 0,2 0 Ledig

Verheiratet / eingetragene Lebenspartnerschaft FeG

KMU Hochv.

Geschieden

verwitwet

KMU Ges.

Abbildung 14: Verhältnis Familienstand FeG/KMU Hochv./KMU Ges. zur Bevölkerung

verbundene der KMU und alle Evangelische (25,0 % Ledige). Hier liegt die Vermutung nahe, dass der Familienstand eher mit der Bindungsform an die Kirche als mit der Konfession 6 korreliert. 7 Dass sowohl der gesamte Datensatz der KMU als auch die Hochverbundenen einen höheren Anteil an Verwitweten aufweisen, verwundert aufgrund der oben beschrieben Altersstruktur – vor allem bei den besonders alten Hochverbundenen – nicht. 8 Vielmehr soll das Augenmerk deshalb an dieser Stelle noch beim hohen Anteil Verheirateter bzw. dem geringen Anteil Lediger in FeGn bleiben. Dieser Befund wird noch deutlicher, wenn er mit den Anteilen in der gesamtdeutschen Bevölkerung verglichen wird (Abbildung 14). 9 Auf den ersten Blick zeigen alle drei Gruppen ein ähnliches Muster: sowohl Ledige als auch Geschiedene sind im Vergleich zur Gesamtbevölkerung unterrepräsentiert, während Verheiratete

6 An dieser Stelle und in den weiteren Ausführungen verzichte ich auf eine Unterscheidung zwischen den Begriffen der Denomination und der Konfession. Stattdessen soll der Konfessionsbegriff hier in einem graduellen Sinn verstanden werden, der – wie unter 5.1 Merkmale des Phänomens Freikirche – die besonderen Gewichtungen unterschiedlicher Strömungen des Christentums in Bezug auf Selbstverständnis, Gestaltungsform und rechtlich-organisatorische Struktur in den Blick nimmt, anstatt nur fundamentale Differenzen zu fokussieren. Vgl. dazu auch das Feld der vier christlichen Kirchenfamilien bei Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 221–245. 7 Dabei liegt der höhere Anteil Verheirateter und der damit korrespondierend niedrige Anteil Lediger nicht ausschließlich am höheren Alter der Hochverbundenen. Die Berechnung einer partiellen Korrelation zwischen Verbundenheitsgefühl mit der Ortsgemeinde und Familienstand gibt tatsächlich auch unter Berücksichtigung des Alters als Drittvariable einen zwar schwächeren, aber immer noch signifikanten Zusammenhang. 8 Allerdings ist auch hier der beschriebene Zusammenhang zwischen Verbundenheitsgefühl mit der Ortsgemeinde und Familienstand unter Berücksichtigung des Alters als Drittvariable zu berücksichtigen. Hier spielt also ebenfalls die Form der Kirchenbindung eine Rolle. 9 Vgl. zur Datengrundlage Statistisches Bundesamt, Jahrbuch, 60.

Familienstand

bzw. Menschen mit eingetragener Lebenspartnerschaft überrepräsentiert sind, lediglich bei den Verwitweten sind die Anteile sehr unterschiedlich, was wie oben aus der Altersstruktur erklären lässt. In FeGn beträgt der Anteil der Ledigen nur 40,9 % des Anteils der Ledigen in der Bevölkerung (bei den Hochverbundenen 56,1 %), während der Anteil der Verheirateten bei 143,3 % des Anteils in der Bevölkerung liegt und damit fast eineinhalbmal so hoch ist (bei den Hochverbundenen 121,7 %). Die Abweichung aller Evangelischen der KMU ist den beiden anderen Gruppen zumindest im Blick auf die Anteile der Verheirateten ähnlicher als erwartet (113 %), sodass wohl schon die kirchliche Bindung überhaupt, wie unterschiedlich ihre Ausprägung auch sein mag, mit dem Familienstand korreliert. 0%

Ledig

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

Geschieden

verwitwet

90%

8,10% 11,80% 16,20% 79,10% 77,40% 75,40%

Verheiratet / eingetragene Lebenspartnerschaft

Getrennt lebend

80%

0,70% 0,40% 0,80% 6,80% 4,80% 5,00% 5,40% 5,60% 2,70%

Kleine Gemeinde

Mittlere Gemeinde

Große Gemeinde

Abbildung 15: Familienstand in FeGn nach Gemeindegröße

Eine eingehendere Analyse zeigt außerdem, dass in Freien evangelischen Gemeinden der Familienstand mit der Gemeindegröße korreliert. So finden sich in großen Gemeinden doppelt so viele Ledige wie in kleinen Gemeinden und umgekehrt ist der Anteil Verheirateter in kleinen Gemeinden größer als in großen Gemeinden (vgl. Abbildung 15). Hier stellt sich also erneut die Frage nach dem Zusammenhang von Familienstand und Bindungsform, die sich möglicherweise je nach Gemeindegröße unterscheiden. Zuletzt ist der Anteil der Ledigen in FeGn stark vom Alter abhängig, wobei sich ein von den beiden Vergleichsgruppen etwas verschiedener Verlauf bzgl. der

159

160

Das Sozialprofil frei-evangelischer Gemeindemitglieder 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%

FeG KMU Hochv. KMU Ges.

10-19 20-29 30-39 40-49 50-59 60-69 70-79 80-89

Abbildung 16: Anteil der Ledigen nach Alterskohorten

Alterskohorten abzeichnet. Im Alter zwischen 10–19 sind nahezu alle Gemeindemitglieder ledig. In der Kohorte 20–29 sind es bei den Hochverbundenen der KMU nur noch 38,8 %, bei FeGn noch 48,1 % und bei allen Evangelischen 55,0 % (vgl. Abbildung 16). In dieser Kohorte sinkt der Anteil der Ledigen bei den Hochverbundenen der KMU also sogar noch stärker als unter frei-evangelischen Gemeindemitgliedern. In den nachfolgenden Alterskohorten geht der Anteil dagegen weniger stark zurück und erreicht erst bei den 40- bis 49-Jährigen die 10 %Marke, wie auch bei allen Evangelischen. Dieser Knick bleibt dagegen bei freievangelischen Gemeindemitgliedern aus, sodass schon unter den 30- bis 39-Jährigen nur noch 10,2 % Ledige zu finden sind. Während sowohl bei allen Evangelischen als auch bei den Hochverbundenen bei den 50- bis 59-Jährigen noch einmal ein leichter Anstieg des Anteils der Ledigen zu beobachten ist, ist dies in FeGn nicht der Fall. Stattdessen sinkt der Anteil nach einem Plateau bei den 40bis 49-Jährigen kontinuierlich unter 10 %. Insgesamt lässt sich also sagen, dass die wenigen Ledigen, die sich in Freien evangelischen Gemeinden finden, vor allem (noch) nicht verheiratete junge Menschen sind. Diese 10- bis 29-Jährigen machen insgesamt nur 11,1 % der Mitgliederaus, aber 50 % aller Ledigen.

8.3 Bildung und Beruf Als drittes sollen nun noch der Bildungsstand sowie die berufliche Tätigkeit der Mitglieder Freier evangelischer Gemeinden untersucht werden. Dazu wurden die ProbandInnen nach dem Vorbild der V. KMU zu ihrem höchsten Bildungsabschluss befragt. Um die Auswertung übersichtlicher zu gestalten, wurden die Items „Promotion / Habilitation“, „(Fach-) Hochschulabschluss“ und „Meis-

Bildung und Beruf

terbrief“ zur Kategorie „hoher Bildungsabschluss“, die Items „Allgemeine oder Fachhochschulreife“ und „abgeschlossene Berufsausbildung“ zum „mittleren Bildungsabschluss“ und die Angaben „Realschule“, „Abschluss der allgemeinen polytechnischen Oberschule der ehemalige DDR“, „Haupt- bzw. Volksschulabschluss“, „Schule ohne Abschluss verlassen“, „zur Zeit Schüler / Schülerin“ und „nichts davon“ zur Kategorie niedriger Bildungsabschluss zusammenfasst. Die Auswertung zeigt nun mit 9,1 % einen sehr geringen Anteil an Mitglieder mit einem niedrigen Bildungsabschluss, 48,5 % mit einem mittleren Bildungsabschluss und 42,5 % mit einem hohen Bildungsabschluss (vgl. Abbildung 17). Mehr noch als schon in absoluten Zahlen fällt der hohe Anteil an Mitgliedern mit hohem Bildungsabschluss beim Vergleich mit den entsprechenden Werten der Evangelischen sowie der Vergleichsgruppe der V. KMU auf. Während die Anteile beim mittleren Bildungsabschluss in allen drei Gruppen recht ähnlich sind, gibt es in den beiden Gruppen der V. KMU einen Anteil von 46,2 % bzw. 46,0 % mit niedrigem Bildungsabschluss und dagegen 3,8 % bzw. 3,9 % mit hohem Bildungsabschluss, also genau gegensätzliche Verhältnisse zu Freien evangelischen Gemeinden. 60% 50%

50% 46,2%

46%

48,5%

50,1% 42,5%

40% FeG

30%

KMU Hochv.

20% 10%

KMU Ges.

9,1% 3,8% 3,9%

0% Niedriger Bildungsabschluss

Mittlerer Bildungsabschluss

Hoher Bildungsabschluss

Abbildung 17: Höchster Bildungsabschluss

Nun ist zu vermuten, dass die unterschiedliche Altersstruktur – vor allem im Blick auf die Hochverbundenen – und die bekannte Korrelation von Alter und Bildungsabschluss 10 mindestens einen Teil dieses Unterschiedes ausmachen. Allerdings ergibt sich zumindest rechnerisch für alle Evangelischen nur ein verschwindend geringer signifikanter Zusammenhang von Alter und Bildungsabschluss (Korrelationskoeffizient nach Pearson –.062). Vor allem aber bei den

10 Vgl. etwa Statistisches Bundesamt, Bildungsstand, 10.

161

162

Das Sozialprofil frei-evangelischer Gemeindemitglieder

Hochverbundenen ist der geringe Anteil Hochgebildeter nicht durch die Altersstruktur beeinflusst, da sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen Verbundenheitsgefühl und Bildungsabschluss unter Berücksichtigung des Alters als Drittvariabel ergibt, oder andersgesagt: höher verbundene Kirchenmitglieder wären nicht höher gebildet, auch wenn sie nicht so alt wären. Deshalb ist umso mehr davon auszugehen, dass bezüglich des Bildungsabschlusses unter den Mitgliedern die Kirchenform eine entscheidende Rolle spielt. Dabei scheint es bei der Bildung nun aber nicht die Form der Kirchenbindung zu sein, die sich zwischen allen Evangelischen und der Vergleichsgruppe erheblich unterscheidet, sondern der Mitgliedschaftsmechanismus, der den Unterschied macht. Die organisatorische Form der Mitgliedschaft, die die Mitgliedschaft als Gegenstand der Entscheidung des Individuums behandelt, korreliert offensichtlich mit einem höheren Anteil an hohen Bildungsabschlüssen und einem niedrigeren Anteil niedriger Bildungsabschlüsse, während der institutionelle Mitgliedschaftsmechanismus, der diese aufoktroyiert, mit einem höheren Anteil niedriger und einem niedrigeren Anteil hoher Bildungsabschlüsse zusammenhängt. Aus den Daten lässt sich die Richtung dieser Korrelation nicht bestimmen, es liegt aber nahe, den Mitgliedschaftsmechanismus als unabhängige Variable zu verstehen, die Einfluss darauf nimmt, wie hoch der Anteil der jeweiligen Bildungsabschlüsse bei den Mitgliedern ist. In der weiteren Analyse soll dieser Zusammenhang aber noch präziser erfasst werden. Verglichen mit der Bevölkerung zeigt sich dann wiederum, dass beide Mechanismen zu Verzerrungen führen. Als Vergleichsdaten dienen die Ergebnisse des Mikrozensus 2018. 11 Allerdings wurden die Bildungsabschlüsse dort nach allgemeinbildenden und beruflichen Bildungsabschlüssen unterschieden, während in der KMU diese Differenzierung wegfällt, sodass aus den Daten des Mikrozensus lediglich der Bevölkerungsanteil mit einem hohen Bildungsabschluss errechnet und verglichen werden kann. Für die Bevölkerung ergibt sich dabei ein Anteil von 26,8 % mit einem hohen Bildungsabschluss. 12 Unter den evangelischen Mitgliedern sind Menschen mit hohem Bildungsabschluss also mit 3,8 % bzw. 3,9 % deutlich unterrepräsentiert, während sie in FeGn mit 42,5 % deutlich überrepräsentiert sind. Die Verhältnisse in den drei Gruppen bezüglich der aktuellen Tätigkeit, vereinfacht zu den Kategorien „in Ausbildung“, „berufstätig“ und „nicht berufstätig“ überraschen wiederrum nicht (vgl. Abbildung 18), sind sie doch maßgeblich auf die unterschiedliche Altersstruktur der drei Gruppen zurückzuführen, weshalb die der Ortsgemeinde Hochverbundenen der KMU mit der stärksten rechtssteilen Alters-

11 Statistisches Bundesamt, Bildungsstand. 12 Eigene Berechnung aus den Angaben in ebd. 22.

Bildung und Beruf 70% 60% 50% 40%

FeG

30%

KMU Hochv.

20%

KMU Ges.

10% 0% In Ausbildung

Berufstätig

Nicht Berufstätig

Abbildung 18: Aktuelle Tätigkeit (vereinfacht)

0%

10%

20%

30%

40%

50%

Lehrling StudentIn In Umschulungs- / Weiterbildungsmaßnahme Voll erwerbstätig Teilweise erwerbstätig

FeG KMU Hochv. KMU Ges.

Erwerbslos Rentner / Rentnerin, Pensionär / Pensionärin Hausfrau / Hausmann Aus anderem Grund nicht erwerbstätig

Abbildung 19: Aktuelle Tätigkeit (aufgegliedert, ohne Schüler)

verteilung auch die höchste Zahl an Nicht-Berufstätigen aufweist. 13 Aufschlussreicher ist demgegenüber die Aufschlüsselung dieser Tätigkeiten (vgl. Abbildung 19). So zeigt sich mit 4,6 % zum einen ein höherer Anteil an Studierenden unter FeG Mit13 Gleichzeitig ist hier ebenfalls darauf hinzuweisen, dass selbst unter Berücksichtigung der Variable Alter eine schwache, aber signifikante Korrelation von Tätigkeit und Verbundenheitsgefühl bestehen bleibt.

163

164

Das Sozialprofil frei-evangelischer Gemeindemitglieder

gliedern (ohne Schüler) als in der Vergleichsgruppe (2,2 %) und unter allen evangelischen Mitgliedern (3,1 %), während sich gleichzeitig nur 0,5 % der FeG-Mitglieder in einer Lehre befinden, gegenüber 3,1 % und 4,4 % in den Gruppen der V. KMU. Hier scheinen sich also die in den Bildungsabschlüssen beobachteten Unterschiede schon anzubahnen. Die Differenzen bei voll Berufstätigen und Rentnern lassen sich wieder vor allem durch die Altersstruktur erklären, während die Erwerbslosen (inkl. aus anderem Grund nicht Erwerbstätige) sowie Hausfrauen / Hausmänner ungefähr dieselben Anteile ausmachen. Auffallend ist zuletzt noch der hohe Prozentsatz an teilweise Erwerbstätigen in FeGn (22,7 %), im Vergleich zu 8,7 % bei den Hochverbunden und 9,6 % unter allen evangelischen Kirchenmitgliedern. Eine Kreuztabelle aus Geschlecht und Tätigkeit ergibt, dass in allen drei Gruppen Frauen den höchsten Anteil der teilweise Erwerbstätigen ausmachen, in FeGn mit 88,4 %, bei den Hochverbundenen mit 93,6 % und unter allen Evangelischen 88,9 %. Im Blick auf die Frauen zeigen sich allerdings deutlichere Unterschiede: während in der V. KMU 13,8 % (Hochverbundene) bzw. 15,8 % (alle Evangelischen) der Frauen teilweise erwerbstätig sind, sind es in FeGn 34,8 %. Dagegen sind nur 21,0 % der Frauen in FeGn voll erwerbstätig, bei den Hochverbundenen der KMU sind es 24,5 % und bei allen Evangelischen 32,5 %. Aufgrund sonst recht ähnlicher Anteile lässt sich schließen, dass in FeGn im Vergleich zu allen Evangelischen ein höherer Anteil teilweise erwerbstätiger weiblicher Mitglieder zulasten von voll erwerbstätigen existiert, während es bei den Hochverbundenen auf Grund der höheren Zahl an Rentnern im Vergleich zu allen Evangelischen sowohl weniger voll als auch teilweise Erwerbstätige gibt. Während diese Verteilung bei den Hochverbundenen vor allem auf die Altersstruktur zurückzuführen ist, lässt sich in FeGn hinter diesen Verhältnissen eine traditionelleres Familien- und Rollenbild als unter evangelischen Mitgliedern vermuten.

8.4 Zusammenfassung: Eher weiblich, in den 50ern, verheiratet, gebildet, berufstätig Die Auswertung der Sozialstatistik der Befragung in Freien evangelischen Gemeinden hat zutage gebracht, dass die Mitglieder Freier evangelischer Gemeinden in vielerlei Hinsicht vom Durchschnitt der Bevölkerung zum Teil erheblich abweichen. Bei diesen Abweichungen ergaben sich einerseits Ähnlichkeiten zu den beiden Gruppen der KMU, die darauf schließen lassen, dass sie mehr mit einer Verbindung zu Kirche überhaupt zusammenhängen, während andererseits Unterschiede bei den Abweichungen davon zeugen, dass sowohl das Zustandekommen als auch die Form dieser Bindung Auswirkung auf die Zusammensetzung der Mitglieder einer Kirche haben.

Zusammenfassung: Eher weiblich, in den 50ern, verheiratet, gebildet, berufstätig

Im Blick auf das Geschlecht besteht die Ähnlichkeit darin, dass eine Verbindung zur Kirch grundsätzlich mit einem höheren Anteil Frauen verbunden ist, wobei FeGn hier zwischen allen Evangelischen und den Hochverbundenen liegen. Ähnliches gilt auch für das Alter: das Durchschnittsalter lag bei allen drei Gruppe über dem der Bevölkerung, wobei auch hier FeGn die Mittelstellung einnahmen. Dieses hohe Durchschnittsalter ergab sich zum einen dadurch, dass in allen drei Gruppen die 10- bis 29-Jährigen unterrepräsentiert sind, während in FeGn die 50- bis 59-Jährigen und in den beiden KMU-Gruppen die 70- bis 79-Jährigen überrepräsentiert sind. Auch beim Familienstand zeigte sich im Vergleich zur Bevölkerung bei allen drei Gruppen ein sehr ähnliches Muster, nämlich ein besonders hoher Anteil Verheirateter und ein besonders niedriger Anteil Lediger und Geschiedener. Die Ausprägung dieser Unterschiede war in FeGn allerdings am größten, gefolgt von den Hochverbundenen und allen Evangelischen, sodass hier die Vermutung eines Zusammenhangs zwischen Intensität der Kirchenbindung und Familienstand naheliegt, wie er sich auch rechnerisch nachweisen lässt. Bei Bildung und Beruf wurden die größten Unterschiede im Blick auf die Sozialstatistik offenbar. So korreliert der mehr inklusive Mitgliedschaftsmechanismus der Großkirche, unabhängig von der Art der Kirchenbindung zu einem im Vergleich mit der Bevölkerung unterdurchschnittlichem Anteil und der exklusive Mitgliedschaftsmechanismus in FeGn zu einem überdurchschnittlich hohen Anteil an hohen Bildungsabschlüssen. Für die Berufstätigkeit ließen sich drei gänzlich verschiedene Muster erkennen. Während unter allen Evangelischen etwas mehr Berufstätige als Nicht-Berufstätige zu finden waren, waren es unter den Hochverbundenen sogar mehr Nicht-Berufstätige als Berufstätige und in FeGn die meisten Berufstätigen und wenigsten Nicht-Berufstätigen, wobei unter den Berufstätigen besonders viele teilweise erwerbstätige Frauen zu finden waren. Damit lässt sich das durchschnittliche FeG Mitglied nach dem Sozialprofil als eher weiblich, in den 50ern, verheiratet, eher höher gebildet und berufstätig beschreiben. Insbesondere die sehr auffälligen Ergebnisse bezüglich des Familienstands und der Bildung werfen erneut die Frage nach einer Milieuverengung von Kirche auf, allerdings nicht nur im Blick auf FeGn, sondern auch für die Großkirchen. Führt die Art der Kirchenbindung sowie der Mitgliedschaftsmechanismus in Freien evangelischen Gemeinden dazu, dass Menschen mit niedrigerer Bildung oder anderem Familienstand ausgeschlossen werden? Lassen sich in Freien evangelischen Gemeinden überhaupt noch unterschiedliche Milieus bzw. Lebensstile ausmachen oder gibt es nur noch ein „Gemeindemilieu“? Statistisch lässt sich die Richtung dieses Zusammenhangs nicht eindeutig klären, denn zumindest theoretisch wäre auch denkbar und ist zumindest zum Teil auch realistisch, dass die Gemeindemitgliedschaft als unabhängige Variable positiv mit einem höheren Bildungsabschluss und einem bestimmten Familienstand korreliert, indem Gemein-

165

166

Das Sozialprofil frei-evangelischer Gemeindemitglieder

den Bildungsangebote schon für Kinder und Jugendliche bereitstellen und Ledigen günstige Bedingungen zur Partnerschaftsanbahnung bieten. Diesen Zusammenhängen soll vor allem in Kapitel 10 punktuell immer wieder nachgegangen werden.

9.

Gemeindemitglied werden

In den folgenden beiden Abschnitten soll die Befragung der Mitglieder Freier evangelischer Gemeinden nun im Blick auf die Mitgliedschaftspraxis und die darin implizierten Bilder von Kirche in Freien evangelischen Gemeinden ausgewertet und analysiert werden. Schon der Begriff der Mitgliedschaft weist dabei auf die Komplexität und Mehrdimensionalität hin, die mit diesem Gegenstand bzw. den unter den Begriff der Gemeindemitgliedschaft subsumierbaren Sozialbeziehung einhergehen. So fällt in entsprechenden Veröffentlichungen eine Vielzahl von Begriffen auf, die teilweise synonym zur Gemeinde- bzw. Kirchenmitgliedschaft verwendet werden: Gliedschaft, Zugehörigkeit, Verbundenheit bzw. Bindung und Beteiligung. Damit stellt sich vor einer empirischen Analyse zunächst die Aufgabe der Begriffsklärung 1, an deren Ergebnis sich dann auch entscheidend die Analyseschritte der beiden nächsten Kapitel orientieren.

9.1 Gemeindemitgliedschaft als formal-distinktive und qualitativ-graduelle Kategorie Martin Honecker unterscheidet aus kirchenrechtlicher Perspektive zwischen einer Kirchenmitgliedschaft als Mitgliedschaft in sichtbarer Partikularkirche, der Gliedschaft in der Kirche als Zugehörigkeit zur Kirche als Leib Christi bzw. Volk Gottes, der Zugehörigkeit als soziologische Perspektive sowie der praktischen Betätigung der Mitgliedschaft als aktive oder passive Beteiligung. 2 Jan Hermelink schlägt in ähnlicher Richtung vor, Mitgliedschaft als institutionell geordneten Bezug zu verstehen, während Zughörigkeit oder kirchliche Bindung eher die Per-

1 Auf die Unschärfe des Kirchenmitgliedschaftsbegriffs im Verhältnis zu den genannten Synonymen hat auch schon Dahm in seinem Artikel zur Kirchenmitgliedschaft in der TRE aufmerksam gemacht. Vgl. Dahm, Kirchenmitgliedschaft, 643. 2 Vgl. Honecker, Evangelisches Kirchenrecht, 157.

168

Gemeindemitglied werden

spektive des Individuums einnehmen. 3 In seiner Kirchentheorie ändert er diese Zuordnung noch einmal und will nun Mitgliedschaft als rechtlich-organisatorische Dimension, Bindung als Verhältnis zur Kirche aus der Sicht des Einzelnen sowie Zugehörigkeit als Verhältnis zur Kirche aus der Sicht der Kirche verstanden wissen. 4 Die Qualifikation des Begriffs der Mitgliedschaft als rechtlich-organisatorische leuchtet ein, ebenso wie die des Begriffs Gliedschaft als theologische. Für ersteren muss dabei aber immer auch im Blick bleiben, dass er zugleich Sammelbegriff aller Dimensionen dieser Sozialbeziehung ist. Weniger überzeugend sind allerdings die unscharfen und sich auch widersprechenden Bestimmungen von Bindung bzw. Verbundenheit und Zugehörigkeit. Die Vorschläge „Perspektive des Individuums“ und „Perspektive der Kirche“ eigenen sich hier nicht für eine Unterscheidung, da sich diese Perspektiven in keinem der beiden Begriffe klar trennen lassen. Stattdessen schlage ich vor, Kirchen- bzw. Gemeindemitgliedschaft und Gliedschaft als formal-distinktive Begriffe zu verstehen, während Verbundenheit bzw. Bindung und Gemeinde- bzw. Kirchenzugehörigkeit graduell-qualitative Begriffe darstellen. Gemeindemitgliedschaft bezeichnet also zum einen als Mitgliedschaft bzw. Gliedschaft einen rechtlich-organisatorischen bzw. theologischen Status, der die (Mit-)Gliedschaft streng von der Nicht-(Mit-)Gliedschaft unterscheidet. Zum anderen bezeichnet die Gemeindemitgliedschaft aber auch eine Sozialbeziehung, die als Bindung oder Zugehörigkeit unterschiedliche Grade und Dynamiken der Intensität kennt. 5 Entsprechend dieser Unterscheidung wird in diesem Kapitel unter dem Titel „Gemeindemitglied werden“ das Zustandekommen einer Gemeindemitgliedschaft im formal-distinktiven Sinn in FeGn untersucht. Nach dem Kirchenmodell Freier evangelischer Gemeinden wird diese Mitgliedschaft als Entscheidung behandelt und daher bewusst erworben. Hier sollen also das Eintrittsalter, vorherige Mitgliedschaften, Sozialisationsinstanzen, die Motive der Mitglieder für eine Mitgliedschaft sowie der Blick der Mitglieder auf die Großkirchen Berücksichtigung finden. Im nächsten Kapitel wird dann unter dem Titel „Gemeindemitglied sein“ die graduell-qualitative Mitgliedschaft fokussiert und dazu die Kirchenbindung und Mitgliedschaftspraxis der Mitglieder analysiert. Dabei soll jeweils weiterhin die Einsicht berücksichtig werden, dass beide Dimensionen der Gemeindemit-

3 Vgl. Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 28. 4 Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation, 175. 5 Vgl. dazu auch die Ausführung von Kretzschmar zum Bindungsbegriff: „So versteht die vorliegende Untersuchung nicht nur soziale Nähe als Bindung, sondern betrachtet auch im herkömmlichen Sinne verstandene Bindungslosigkeit und Unverbindlichkeit als Bindung [. . . ] Neben dem Verständnis von Bindung als sozialer Nähe umfasst der Begriff nun auch soziale Distanz und vermeintliche Bindungslosigkeit als Phänomene, hinter denen je eigene Bindungsmuster stehen.“ Kretzschmar, Kirchenbindung und mediatisierte Kommunikation, 13.

Eintrittsalter in FeGn

gliedschaft eine soziale Praxis darstellen und daher die im Sozialprofil aufgeführten Kategorien in die Analyse einbezogen werden.

9.2 Eintrittsalter in FeGn Im weiteren Kapitel soll es also um das Zustandekommen der Gemeindemitgliedschaft im formal-distinktiven Sinne gehen. Da im frei-evangelischen Kirchenmodell diese Mitgliedschaft aktiv erworben werden muss, wurden die Befragten nach ihrem Alter bei Eintritt in die Gemeinde gefragt. Die Auswertung zeigt, die Hälfte der befragten Mitglieder wurde im Alter zwischen 10 und 29 Jahren Mitglied einer Freien evangelische Gemeinde, weitere 22 % im Alter zwischen 30 und 39 Jahren und ein weiteres Viertel verteilt sich auf die restlichen Alterskohorten (siehe Abbildung 20). Damit liegt der Schwerpunkt im Blick auf das Eintrittsalter ausgerechnet in einer Lebensabschnittsspanne, die klassischerweise nicht als besonders kirchenaffin gilt: „Eindeutig ist die höhere Austrittsbereitschaft bei jüngeren Menschen – was auf deren geringere Bindung an die verfassten Kirchen schließen lässt“ 6. Deshalb soll nun untersucht werden, welche Faktoren mit dem Eintrittsalter korrelieren. 28,49%

30% 25%

22,87%

22,05%

20% 14,61% 15% 8,08%

10% 5%

2,81% 1,09%

0% 10-19

20-29

30-39

40-49

50-59

60-69

70+

Abbildung 20: Alter bei Eintritt in die Gemeinde

Dabei zeigt sich als erstes der deutliche Einfluss der Konfession der Eltern auf das Gemeindeeintrittsalter. So ergibt sich im Falle einer frei-evangelischen Mutter ein Mittelwert bezüglich der Alterskohorten von 1,73 (beim Vater 1,75), für eine Mutter, die aus einer anderen Konfession stammt, ein Mittelwert von 3,05 (beim 6 Grethlein, Kirchentheorie, 133.

169

170

Gemeindemitglied werden

Vater 3,01) und bei einer konfessionslosen Mutter ein Mittelwert von 3,16 bzw. beim Vater 3,07. Bei Eltern, die selbst frei-evangelisch sind, werden die Kinder also in jüngerem Alter Gemeindemitglied als bei Eltern anderer Konfessionen oder bei konfessionslosen Eltern. Damit einher geht auch der Zusammenhang zwischen dem Besuch des Biblischen Unterrichtes (ähnlich Konfirmationsunterricht) und dem Eintrittsalter. Dieser Besuch wird meist durch die Eltern vermittelt und betrifft daher vornehmlich Kinder, deren Eltern ebenfalls frei-evangelisch sind. Unter den Besuchern des Biblischen Unterrichts liegt das Eintrittsalter zu 82,9 % zwischen 10 und 29 Jahren. Ein weiterer Einflussfaktor ist außerdem die Mobilität, wobei hier sowohl die besonders mobilen (weniger als zwei Jahre am derzeitigen Wohnort, Mittelwert bzgl. Alterskohorten 1,78) sowie auf der anderen Seite die überhaupt nicht mobilen (schon immer, seit meiner Geburt am derzeitigen Wohnort, Mittelwert bzgl. Alterskohorten 2,15) besonders jung Gemeindemitglieder werden. Auch die Größe der Gemeinde sowie die Region korrelieren mit dem Gemeindeeintrittsalter, insbesondere im Blick auf die erste Kohorte (10–19 Jahre). So liegt das Eintrittsalter im Westen bei 30,2 % der Mitglieder zwischen 10 und 19 und damit deutlich über dem Bundesdurchschnitt (22,9 %), während sich dieser Wert im Osten mit 7,2 % deutlich darunter befindet. Für die Gemeindegröße zeigt sich ein schwacher negativer Zusammenhang zwischen Gemeindegröße und Gemeindeeintrittsalter, also je größer die Gemeinde desto jünger das durchschnittliche Eintrittsalter. Damit ergibt sich, dass der hohe Anteil junger Menschen, die sich Freien evangelischen Gemeinden anschließen, strukturell maßgeblich durch bestimmte Sozialisationsbedingungen gestützt ist, nämlich durch die konfessionelle Prägung der Eltern, durch den Besuch des Biblischen Unterrichts, aber auch durch die religiöse Großlandschaft der Region. Außerdem existiert eine leichte Tendenz, dass in größeren Gemeinden Menschen häufiger jünger Gemeindemitglied werden. Gleichzeitig erweist sich das Eintrittsalter als auffallend resistent gegen den Faktor Mobilität. Insgesamt entsteht damit auf den ersten Blick das Bild einer recht klassischen, vor allem durch die Primärsozialisiation vermittelten Kirchenmitgliedschaft. Ein zweiter Blick bringt allerdings bezüglich der drei ersten Alterskohorten einen entscheidenden Unterschied zu Tage: Bei den Mitgliedern, die mit 10 bis 19 Jahren Mitglied einer FeG wurden (22,9 %), war der größte Teil (75,8 %) vorher nicht Mitglied in einer anderen Kirche oder Gemeinde und die Eltern vorwiegend ebenfalls frei-evangelisch (die Mutter bei 70,6 %, der Vater bei 64,8 %). Diejenigen, die mit 20 bis 29 (28,5 %9) und 30 bis 39 (22,1 %) Mitglied einer FeG wurden, waren dagegen zum größeren Teil vorher bereits Mitglied in einer anderen Kirche oder Gemeinde (20 bis 29: 71,3 %; 30 bis 39: 88,5 %) und haben auch überwiegend Eltern einer anderen Konfession (20 bis 29: Mutter 72,0 %/Va-

Vorhergehende Mitgliedschaften

ter 71,2 %; 30 bis 39: Mutter 84,7 %/Vater 82,8 %). Von einer vor allem aus dem eigenen Nachwuchs und vorwiegend durch Primärsozialisation rekrutierten Mitgliedschaft kann also nur im Blick auf die Mitglieder gesprochen werden, die sich zwischen 10 und 19 Jahren einer Gemeinde anschlossen. Für die nächsten beiden Gemeindeeintrittsalter-Kohorten, die zusammen mit 50,54 % etwas mehr als die Hälfte der gesamten FeG-Mitglieder ausmachen, ist dagegen vor allem von einer Primärsozialisation im Kontext einer anderen Kirche auszugehen, zu der die Mitgliedschaft dann aber zugunsten einer solchen in einer Freien evangelischen Gemeinde aufgegeben wurde. Für diesen Teil der Mitglieder Freier evangelischer Gemeinden scheint also die Mitgliedschaft in einer FeG eine Relevanz zu besitzen, die in der ursprünglichen Konfession nicht gegeben war und das gerade in einem Altersspektrum, in dem die Kirchenbindung in den Großkirchen besonders niedrig eingeschätzt wird.

9.3 Vorhergehende Mitgliedschaften Wie schon beschrieben, geht der Mitgliedschaft in FeGn in vielen Fällen eine Mitgliedschaft in einer anderen Kirche voraus. Hier ergibt sich aus den Daten der Befragung zunächst ein ähnliches Bild wie schon in der Statistik des Bundes (vgl. Abbildung 21): 68 % der Mitglieder in FeGn waren vorher bereits Mitglied in einer anderen Kirche oder Gemeinde (laut Statistik des Bundes 69 %). Allerdings konnte aus den in der Bundesstatistik genutzten Kategorien nicht eindeutig auf diese vorangegangenen Mitgliedschaften geschlossen werden. Die Befragten, die bereits vorher in einer anderen Gemeinde oder Kirche Mitglied waren (N=766), gaben nun – bei der Möglichkeit der Mehrfachauswahl – zu 57 % an, schon Mit-

Nein 32%

Ja 68%

Abbildung 21: Vorhergehende Mitgliedschaft

171

172

Gemeindemitglied werden 0%

10%

20%

30%

Evangelische Landeskirche

15,8%

Baptisten

Orthodoxe Kirche

60%

20,4%

Römisch-Katholische Kirche

Methodisten

50%

57,0%

Andere Freikirche

Sonstige

40%

10,4% 2,1% 1,3% 0,1%

Abbildung 22: Vorherige Mitgliedschaft

glied in einer evangelischen Landeskirche, zu 20,4 % in einer anderen Freikirche, zu 15,8 % in der Römisch-Katholischen Kirche, zu 10,4 % in einer Gemeinde des BEFG sowie zu 2,1 % in sonstigen Gemeinden bzw. Gemeinschaften, zu 1,3 % in der EmK und zu 0,1 % in einer Orthodoxen Kirchen gewesen zu sein (siehe Abbildung 22). Dabei gaben 7,6 % der Befragten mehr als eine vorangegangene Mitgliedschaft an und vier Befragte sogar mehr als zwei.

Frei evangelisch 28%

Konfessionslos 5%

andere Konfession 67%

Abbildung 23: Konfession der Mutter (FeG)

Diesem Befund entsprechen auch die Ergebnisse bezüglich der Konfession der Eltern (vgl. Abbildung 23, Abbildung 24 und Abbildung 25). Während sowohl die Gesamtheit der Mitglieder der EKD sowie auch die der Vergleichsgruppe zu

Vorhergehende Mitgliedschaften

konfessionslos 14,8%

andere Konfession 0,6%

evangelisch 81,1%

katholisch 3,6%

Abbildung 24: Konfession der Mutter (KMU Ges.)

andere Konfession 0% konfessionslos 0% katholisch 2%

evangelisch 98%

Abbildung 25: Konfession der Mutter (KMU Hochv.)

hohen Anteilen und im Fall der Vergleichsgruppe sogar fast ausschließlich 7 evangelische Eltern hat, ist nur bei 28 % der FeG-Mitglieder die Mutter ebenfalls freievangelisch (Vater 26 %), während in 67 % der Fälle die Mutter einer anderen Konfession angehört (Vater ebenfalls 67 %).

7 Wie schon weiter oben besteht auch hier die Korrelation zwischen Art der Kirchenbindung (gemessen am Verbundenheitsgefühl zur Ortsgemeinde) und der elterlichen Konfession unabhängig von den sozialstrukturellen Merkmalen, die die Vergleichsgruppe der Hochverbundenen ausmachen.

173

174

Gemeindemitglied werden

9.4 Drei Zugangstypen zur Gemeindemitgliedschaft in FeGn Aus den vorangegangenen Beobachtungen lassen sich nun drei Wege erschließen, über die Menschen Gemeindemitglied in einer Freien evangelischen Gemeinden werden: 1. als vor allem Jugendliche, die bereits in einer FeG sozialisiert wurden, 2. als vor allem junge Erwachsene, die christlich sozialisiert wurden, allerdings in einer anderen Konfession sowie 3. als im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen etwas ältere Konfessionslose. Zur weitergehenden Analyse dieser drei Wege wurden aus dem Datensatz aus den Angaben über die Konfession der Eltern drei entsprechende Gruppen gebildet, wobei die frei-evangelisch Sozialisierten 27,4 % der Befragten (n=299), die kirchlich Sozialisierten 64,4 % (n=703) und die konfessionslos Sozialisierten 8,2 % (n=90) ausmachen (siehe Abbildung 26). Die oben beobachteten Unterschiede im Blick auf das Eintrittsalter lassen sich mit diesen Gruppen noch einmal detailliert darstellen (vgl. Abbildung 27), wobei deutlich wird, dass der Schwerpunkt bei der ersten Gruppe zwischen 10 und 29 und bei der zweiten Gruppe zwischen 20 und 39 liegt, während die Konfessionslosen zu ähnlichen Anteilen vor allem zwischen 20 und 49 Gemeindemitglied werden. Besondere Aufmerksamkeit fiel dabei oben schon auf einen Teil der zweiten Gruppe, nämlich diejenigen, die ursprünglich aus einer anderen Konfession stammen und mit 20 bis 39 Jahren diese Konfession verlassen und sich aktiv einer Freien evangelischen Gemeinde anschließen. Um neben den drei Zugangstypen auch noch nähere Auskunft über diese Teil gruppe zu erhalten, wurden zusätzlich alle aktuell 20- bis 39-Jährigen, die in einer anderen Konfession sozialisiert wurden, in die weitere Analyse einbezogen. Mit n=123 machen sie immerhin 11,2 % aller Befragten aus.

frei evangelisch sozialisiert; 27,4% kirchlich sozialisiert; 64,4%

konfessionslos sozialisiert; 8,2%

Abbildung 26: Zugangstypen zur Gemeindemitgliedschaft

Drei Zugangstypen zur Gemeindemitgliedschaft in FeGn

Im Blick die sozialstatistischen Merkmale der drei Zugangstypen fällt wieder die regionale Prägung auf: im Westen tritt der Zugangstyp „frei-evangelisch sozialisiert“ mit 34,8 % aller Mitglieder im Westen besonders häufig auf, im Osten ist der Zugangstyp „konfessionslos sozialisiert“ mit 23,9 % aller Mitglieder im Osten deutlich häufiger vertreten als in den anderen Regionen. Dieser Zugangstyp tritt außerdem vor allem in Großstädten auf, während die Gemeindegröße nahezu keinen Zusammenhang mit den Zugangstypen aufweist. Auch Geschlecht, höchster Bildungsabschluss, Mobilität und Familienstand korrelieren nicht maßgeblich mit den Zugangstypen. Nur die Frage nach Kindern im Haushalt wurde unter dem Zugangstyp „konfessionslos sozialisiert“ etwas überdurchschnittlich mit „Ja“ beantwortet. 0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

10-19 20-29 30-39 40-49 50-59 60-69 70+ Frei-evangelisch

Andere Konfession

Konfessionslos

Abbildung 27: Eintrittsalter nach Zugangstyp

Auffälliger wird das Bild bei der Analyse der 20- bis 39-Jährigen, die in einer anderen Konfession sozialisiert wurden. Die größten Anteile dieser Gruppe verteilen sich auf den Westen (52,8 %) und auf den Süden (37,4 %), wobei sie damit im Süden deutlich überrepräsentiert sind, während sich im Norden nur 4,1 % dieser Gruppe findet und damit dort unterrepräsentiert ist. Außerdem findet sich diese Gruppe besonders häufig in Großstädten und ist in großen Gemeinden überrepräsentiert. In dieser Gruppe geben 65 % an, Kinder im Haushalt zu haben (bei allen FeG-Mitgliedern: 35,8 %), sie ist zudem überdurchschnittlich mobil, etwas männlicher (mit 48,0 % Männern) und noch höher gebildet als der sowieso schon hohe FeG-Durchschnitt (65,9 % mit einem hohen Bildungsabschluss). Damit stellt sich einmal mehr die Frage, welche Einflüsse und inhaltlichen Motive hoch gebildete, mobile, junge Menschen zwischen 20 und 39, die mehrheitlich Kinder haben, dazu bewegen, die Konfession ihrer Primärsozialisation zu verlassen und sich Freien evangelischen Gemeinden anschließen.

175

176

Gemeindemitglied werden

9.5 Sozialisationsinstanzen Es besteht in der Religionssoziologie inzwischen Einigkeit darüber, dass die Sozialisation maßgeblichen Einfluss auf die individuelle Religiosität hat, wozu sich auch die Kirchenzugehörigkeit zählen lässt. 8 Deshalb sollen nun im Rahmen der Frage nach dem Gemeindeeintritt auch die Sozialisationsinstanzen analysiert werden und sowohl die drei Zugangstypen nach Unterschieden untersucht werden als auch die gesamten Frei-evangelischen mit den Ergebnissen der V. KMU verglichen werden. Die ProbandInnen wurden zu diesem Zweck – wiederum nach dem Vorbild der V. KMU – danach gefragt, welche Items ihre Einstellung zu Religion, Glaube und Kirche eher positiv, eher negativ oder gar nicht beeinflusst haben. Die Auswertung ergibt nun das grundsätzliche Bild, dass bei der Verteilung auf die Kategorien eher positiv, eher negativ und gar nicht der Einfluss auf die Einstellung von Religion, Glaube und Kirche in FeGn, bei den Hochverbundenen und allen Evangelischen insgesamt stark variiert. So geben FeG-Mitglieder im Schnitt 5,1 positive Einflussinstanzen an, Hochverbundene 4,2 und alle Evangelischen dagegen nur 2,5. Umgekehrt ist das Ergebnis für die Kategorie „keinen Einfluss“, diese wurde von FeG-Mitgliedern im Schnitt nur 3,0 mal, von den Hochverbundenen 3,8 mal und allen Evangelischen 4,4 mal genutzt. FeG-Mitglieder geben als positive Einflussfaktoren also rein quantitativ mehr Instanzen an als sowohl die Hochverbunden 9 wie auch alle Evangelischen. Aber auch qualitativ unterscheiden sich die Angaben zu den Instanzen deutlich. Die befragten Mitglieder Freier evangelischer Gemeinden geben überraschenderweise am häufigsten das Item Pastor / Pastorin / JugendleiterIn an (86,8 %), während sowohl bei den Hochverbundenen (89,1 %) als auch bei allen Evangelischen (67,0 %) klar die eigene Mutter und damit eine primäre Sozialisationsinstanz am häufigsten als positiver Einfluss genannt wurde (vgl. Abbildung 28). Diese liegt bei FeG-Mitgliedern auf dem zweiten Platz (70,6 %), den sowohl bei den Hochverbundenen (75,3 %) als auch allen Evangelischen (53,5 %) der Vater einnimmt. In FeGn nimmt der eigene Vater als positiver Einflussfaktor dagegen erst die sechste Stelle ein, nach Ehemann / Ehefrau (66,1 %), Freundeskreis (64,8 %) und christlicher Kindergarten / Jugendgruppe (64,6 %). Damit zeigt sich in FeGn insgesamt ein klarer Schwerpunkt auf sekundären Sozialisationsinstanzen, während sowohl unter den Hochverbundenen als auch 8 Vgl. beispielsweise Pollack / Müller, Religionsmonitor, 15–16. 9 Erneut sind die Unterschiede zwischen den Hochverbundenen und allen Evangelischen nicht lediglich auf das spezielle sozialstrukturelle Profil der Vergleichsgruppe zurückzuführen, da wiederum die Korrelation zwischen Art der Kirchenbindung (gemessen am Verbundenheitsgefühl zur Ortsgemeinde) und Ausprägung der Einflussfaktoren auch unter statistischer Berücksichtigung jener Faktoren bestehen bleibt.

Sozialisationsinstanzen 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90%100% 70,6% Meine Mutter

89,1% 67,0% 54,8%

Mein Vater

75,3% 53,5% 33,8% 33,9%

Geschwister 19,3%

64,8% Mein Freundeskreis

26,5% 14,2% 39,6%

Mein(e) Kinder

Mein(e) Ehemann / Ehefrau ; Partner / Partnerin

22,2% 12,2% 66,1% 46,8% 27,6% 86,6%

Pastor/Pastorin/JugendleiterIn

52,6% 32,1%

Der Religionsunterricht

27,1% 37,8% 24,7% 64,6%

Christliche Kindergarten- oder Jugendgruppe

FeG

KMU Hochv.

35,7% 22,90%

KMU Ges.

Abbildung 28: Sozialisationsinstanzen

allen Evangelischen der V. KMU die primären Sozialisationsinstanzen die wichtigste Rolle spielen. Religion scheint also im frei-evangelischen Kirchenmodell maßgeblich durch den Freundeskreis, die Jugendgruppe, Partner / Parterin und auch in hohem Maße durch den Pastor / die Pastorin bzw. JugendleiterIn tradiert zu werden. Dagegen zeigt sich – in unterschiedlicher Ausprägung – in beiden Gruppen der V. KMU der für die Tradierung von Religion schwerwiegende ge-

177

178

Gemeindemitglied werden

sellschaftliche Verlust der „kommunalen Grundlagen religiöser Verankerung“ 10. Dieser führt dazu, dass die Weitergabe von Religion nahezu vollständig von der Familie abhängt, wobei auch deren Prägekraft im Abnehmen begriffen ist 11. Die gruppenförmige Gemeindemitgliedschaft, wie sie für Freikirchen generell, aber auch für FeGn typisch ist, bietet demgegenüber den strukturellen Boden für eine solche kommunale Grundlage religiöser Verankerung. Nun soll noch untersucht werden, ob diese Sozialisationsinstanzen je nach Zugangstyp differieren. Eine entsprechende Auswertung ergibt tatsächlich deutliche Unterschiede und zeigt, dass innerhalb frei-evangelischer Familien die Primärsozialisation eine viel höhere Rolle spielt als unter allen Befragten, während die in einer anderen Konfession Sozialisierten diesbezüglich nahe am FeG-Durchschnitt sind und die konfessionslos Sozialisierten erwartungsgemäß deutlich darunter liegen (vgl. Abbildung 29). Eine ähnliche Abstufung zeigt sich auch beim Item „Christlicher Kindergarten- oder Jugendgruppe“, wobei sich diese wohl vor allem auf das unterschiedliche durchschnittliche Zutrittsalter dieser drei Typen zurückführen lässt, das eben den Besuch einer Jugendgruppe in einer FeG wahrscheinlicher bzw. auch unwahrscheinlicher macht. Die sonstigen Instanzen der Sekundärsozialisation sind bei allen drei Typen ähnlich hoch, wobei bei den konfessionslos Sozialisierten der / die Partner / Partnerin eine etwas geringere Rolle spielt, während für die in einer anderen Konfession Sozialisierten der Religionsunterricht eine etwas wichtigere Sozialisationsinstanz darstellt. Damit zeigen sich bei den drei Zutrittstypen erwartungsgemäß drei entsprechende Sozialisationswege: bei frei-evangelisch Sozialisierten hat sowohl die Primär- als auch die Sekundärsozialisation in hohem Maße einen positiven Einfluss auf die Einstellung zu Religion, Glaube und Kirche, bei den in einer anderen Konfession Sozialisierten ist der Einfluss der Sekundärsozialisation besonders wichtig, diese kann aber an einen immer noch hohen Einfluss der primären Sozialisationsinstanzen anknüpfen, während bei den konfessionslos Sozialisierten vor allem die sekundären Sozialisationsinstanzen positive Auswirkung haben. Für den hohen Einfluss der Sekundärsozialisation in Freien evangelischen Gemeinden lassen sich drei Dinge begründend anführen: 1. die gruppenförmige Gemeindemitgliedschaft in überschaubaren Ortsgemeinden, die gute Voraussetzung zum Knüpfen von Freundschaften, aber auch Partnerschaften und damit die schon erwähnte kommunale Grundlage religiöser Verankerung bietet, 2. der starke Schwerpunkt auf der Jungen Generation (vgl. Kap. 3.8), wobei hier in Form von Teenager-, Jugend- und Studierendengruppen kirchennahe Peer-Groups geschaffen werden und 3. die Betonung von „geistlichen Persönlichkeiten“ 12, also 10 Pickel, Religionssoziologie, 166 [Hervorhebung im Original], MS). 11 Vgl. Pollack / Pickel u. a., Religiöse Sozialisation, 132. 12 Vgl. Bussemer, Die Gemeinde, 61–64 sowie Heiser, Ein Pastor, 71–75.

Sozialisationsinstanzen 0%

20%

40%

60%

80%

100% 94,00%

65,10%

Meine Mutter

34,40% 78,00% 81,30%

Mein Vater

48,50% 21,10% 58,50% 47,80%

Geschwister

30,60% 13,30% 39,80% 66,60% 64,90% 58,90% 65,90%

Mein Freundeskreis

35,80% 41,10% 41,10% 35,80%

Mein(e) Kinder

64,50% 67,90% 57,80% 72,40%

Mein(e) Ehemann / Ehefrau ; Partner / Partnerin

91,00% 85,30% 83,30% 88,60%

Pastor/Pastorin/JugendleiterIn

Der Religionsunterricht

20,40% 29,90% 24,40% 22,00% 79,30% 61,50%

Christliche Kindergarten- oder Jugendgruppe

41,10% 68,30%

Frei evangelisch

Andere Konfession

Konfessionslos

Andere Konfession 20-39

Abbildung 29: Sozialisationsinstanzen – Vergleich Zugangstypen

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Gemeindemitglied werden

charismatischen, authentischen PastorInnen, GemeindeleiterInnen und JugendleiterInnen, die in FeGn als maßgeblich für den Aufbau der Gemeinde erachtet werden. Abschließend soll noch die Gruppe der 20- bis 39-Jährigen, die vor ihrer FeG Mitgliedschaft in einer anderen Konfession sozialisiert wurden, untersucht werden. Eine entsprechende Auswertung zeigt, dass diese Gruppe im Vergleich zu allen in einer anderen Konfession sozialisierten FeG-Mitgliedern besonders häufig einen positiven Einfluss der primären Sozialisationsinstanzen angeben und mit 72,4 % den höchsten Wert bezüglich eines positiven Einflusses von Ehemann / Ehefrau bzw. Partner / Partnerin erzielen, auch die Items Freundeskreis, PastorIn / JugendleiterIn und Jugendgruppe sind etwas häufiger als positiver Einfluss angegeben als bei allen in einer anderen Konfession Sozialisierten. Damit lässt sich für diese Gruppe das Bild von oben erweitern, als hoch gebildete, mobile, junge Menschen zwischen 20 und 39, die mehrheitlich Kinder haben und die in einer anderen Konfession eine besonders intensive christliche Primärsozialisation erfahren haben, an die dann eine Sekundärsozialisation über vor allem Partern / Parterin, aber auch andere Instanzen in FeGn anknüpfen kann.

9.6 Mitgliedschaftsmotive In der EKD ist die Frage nach Gründen für die Kirchenmitgliedschaft stark mit dem Kirchenmitglied-Bleiben verknüpft: „Das Beibehalten der Kirchenmitgliedschaft ist ebenso eine Option wie der Austritt.“ 13 In FeGn kann durch den notwenigen aktiven Erwerb der Mitgliedschaft dagegen davon ausgegangen werden, dass Gründe für eine Gemeindemitgliedschaft besonders stark mit dem Gemeindemitglied-Werden zusammenhängen. Das Gemeindemitglied-Bleiben spielt diesbezüglich eine untergeordnete Rolle. Dementsprechend sollen nun unter der für dieses Kapitel leitenden Fragestellung nach dem Zustandekommen einer Gemeindemitgliedschaft in FeGn die inhaltlichen Motive für diese untersucht werden. Zu diesem Zweck wurden den Befragten zwölf Items angeboten, aus denen sie die für sie zutreffenden Mitgliedschaftsgründe auswählen konnten. Diese Items wurden ebenfalls an die V. KMU angelehnt, wobei vier FeG-typische Begründungen ergänzt werden mussten: „weil ich mich ganz bewusst dazu entschieden habe“, „weil ich mich verbindlich einbringen wollte“, „weil meine Kinder in einer Gemeinde aufwachsen sollen“ und „weil damit auch gewisse Rechte einhergehen (z. B. Wahlrecht)“. Gleichzeitig wurden vier Items der V. KMU gestrichen, da diese 13 Grethlein, Kirchentheorie, 134.

Mitgliedschaftsmotive

im Blick auf die gesellschaftliche Tragweite (Diakonie, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Kirchengebäude) bzw. auf das Sprachspiel („religiös“) nicht auf FeGn anwendbar sind. Aufgrund der verschiedenen Erhebungsmethoden und der im Rahmen einer telefonischen Umfrage geringeren zur Verfügung stehenden Zeit wurde in der FeG-Studie eine Nominalskala genutzt („trifft zu“, „trifft nicht zu“). In der V. KMU fand dagegen eine Intervallskala Anwendung (1 bis 7, „trifft überhaupt nicht zu“ bis „trifft voll und ganz zu“). Für einen Vergleich wurde eine Datenreduktion bezüglich der V. KMU vorgenommen und die Antworten 5 bis 7 zu einer Ausprägung „Zustimmung“ und die Antworten 1 bis 3 zur Ausprägung „Ablehnung“ zusammengefasst. 14 Allerdings fehlt in der vorliegenden FeG-Studie die Mittelkategorie (V. KMU Antwort 4 „teils / teils“), sodass die Vergleichbarkeit der Ergebnisse eingeschränkt ist. Dennoch lassen sich tendenzielle Unterschiede bezüglich der Mitgliedschaftsmotive in FeGn, unter den Hochverbundenen der V. KMU sowie unter allen Evangelischen aufzeigen (vgl. Abbildung 30). Es fällt zunächst auf, dass die eigene Mitgliedschaft von nahezu allen Mitgliedern Freier evangelischer Gemeinden (97,6 %) auf eine bewusste, eigene Entscheidung zurückgeführt wird. Hier decken sich also die Konzeption von Mitgliedschaft als Entscheidung von Seite der Kirche und die Interpretation der Mitglieder fast vollständig. Genauso lässt es sich vom Zusammenhang zwischen dem eigenen Glauben und der Gemeindemitgliedschaft sagen (97,3 % Zustimmung), wobei an dieser Stelle auffällt, dass die Vergleichsgruppe der zur Ortsgemeinde Hochverbundenen bei diesem Zusammenhang von Kirchenmitgliedschaft und eigenem Glauben tendenziell ähnliche hohe Werte erzielt (93,9 % Zustimmung, 4,4 % teils / teils), während im Gesamten der Evangelischen diesen Grund nur 63,6 % angeben (bei 12,3 % teils / teils). 15 Gemeindemitgliedschaft wird in FeGn und in der Vergleichsgruppe also in erster Linie als Ausdruck der eigenen Selbstbestimmung sowie des eigenen Glaubens interpretiert. Darauf folgen dann fünf Items, die sich als individuelle Relevanzen bzw. klassisch zweckrationale Motive der Gemeindemitgliedschaft für die Mitglieder verstehen lassen: Gemeinschaft, Mitarbeit, innerer Halt, ethische Orientierung sowie Gemeinde als Ort, an dem Kinder aufwachsen können. Wobei die Zustimmung zum Item „meine Kinder in einer Gemeinde aufwachsen sollen“ deutlich

14 So auch in der Veröffentlichung der V. KMU: Kirchenamt der EKD, Engagement, 472. 15 Erneut lässt sich das mit der Art der Kirchenbindung in Zusammenhang bringen, denn wie schon zuvor bleibt die Korrelation zwischen Art der Kirchenbindung (gemessen am Verbundenheitsgefühl zur Ortsgemeinde) und Ausprägung der Zustimmung zu den Gründen für die Mitgliedschaft auch unter statistischer Berücksichtigung der sozialstrukturellen Faktoren, die in der Vergleichsgruppe besonders ausgeprägt sind, bestehen. Zudem verändert eine solche Berücksichtigung nicht einmal die Ausprägung des Korrelationsfaktors maßgeblich.

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Gemeindemitglied werden Ich bin Gemeindemitglied/in der Kirche, weil... 0% ich mich ganz bewusst dazu entschieden habe.

20%

40%

mir der christliche Glaube etwas bedeutet. ich die Gemeinschaft brauche. ich mich verbindlich einbringen wollte.

54,7%

die Gemeinde wichtige ethische Werte vertritt.

84,8% 88,9%

22,9% 5,7% 2,0% 14,1% 20,7%

62,3%

37,7%

45,3%

54,7%

39,2%

60,8%

84,1% 65,6%

26,3%

9,9% 6,1% 13,4% 21,0%

90,1% 73,5%

16,2%

sich das so gehört. 11,3%

73,7%

83,8%

81,6% 71,3%

60,2%

92,0% 91,0%

83,4% 57,8% trifft zu

9,1%9,3% 12,4% 16,3%

13,5% 21,0% 15,1% 28,2%

89,3% 68,3% 58,7%

6,0% 4,0% 10,4%16,1%

88,7%

65,5% 56,7%

ich religiös bin.

Kirchengebäude im Dorf- bzw. Stadtbild nicht verschwinden dürfen.

15,2% 7,4% 3,7% 33,5%

11,8%

77,1% 92,3%

damit auch gewisse Rechte einhergehen (z.B. Wahlrecht).

sie zum Zusammenhalt der Gesellschaft beiträgt. ...

12,2%

65,2%

meine Kinder in einer Gemeinde aufwachsen sollen.

sie etwas für Arme, Kranke und Bedürftige tut.

10,9% 13,0% 5,0% 36,2%

87,8%

die Gemeinde mir inneren Halt gibt.

meine Eltern auch schon Gemeindemitglieder sind bzw. waren.

100%

2,7% 4,4% 1,7% 12,3% 24,1%

89,1% 82,0% 14,2%

49,6%

ich einmal kirchlich bestattet werden möchte.

80%

2,4%

97,3% 93,9%

63,6%

mir eine kirchliche Trauung wichtig ist.

60%

97,6%

teils/teils

6,8% 3,9% 11,2% 20,4% 13,4%

6,1% 1,9% 27,9%

13,4%

5,8% 3,3% 26,4%

15,2%

9,1% 7,5% 27,0%

trifft nicht zu

Abbildung 30: Gründe Gemeindemitgliedschaft (FeG/KMU Hochv./KMU Ges.)

damit korreliert, ob bei den Befragten tatsächlich Kinder im Haushalt leben. Unter den Mitgliedern, die Kinder im Haushalt haben, liegt die Zustimmung sogar bei 75,9 %. Deutlich dahinter liegt mit 45,3 % Zustimmung das ebenfalls zweckrationale Item „weil damit auch gewisse Rechte einhergehen“. Diese mehr organisatorisch-juristische Perspektive scheint also aus Sicht der Mitglieder eine geringere

Mitgliedschaftsmotive

Bedeutung für eine Gemeindemitgliedschaft zu haben. Bei den Befragten der V. KMU zeigt die Vergleichsgruppe bei den Items Gemeinschaft, innerer Halt und ethische Orientierung wieder ähnliche Zustimmungswerte bzw. bei der ethischen Orientierung sogar noch deutlich höhere (92,3 %, FeG 77,1 %). Für die Gesamtheit der Evangelischen dagegen sind diese drei Motive deutlich weniger wichtig. Das kann zum einen daran liegen, dass Kirche bezüglich dieser Bedürfnisse nicht als relevant erlebt wurde oder zum anderen daran, dass diese Bedürfnisse nicht vorhanden sind bzw. anderweitig gestillt werden. Am wenigsten Zustimmung finden in FeGn die konventionellen Mitgliedschaftsgründe, die die Kirchen als Institution in Anspruch nehmen und vor allem familiär vermittelt sind: kirchliche Trauung, kirchliche Beerdigung, Mitgliedschaft der Eltern und „weil sich das so gehört“. Das ist insofern von Bedeutung, als diese Motive bei der Gesamtheit der Evangelischen die Spitzenplätze einnehmen (Bestattung 73,5 %; Kirchenmitgliedschaft Eltern 71,3 %) und auch bei der Vergleichsgruppe hohe Zustimmungswerte erhalten. Lediglich das Item „weil sich das so gehört“ erfährt mit 65,5 % in der Vergleichsgruppe die niedrigste Zustimmung aller Items. Daraus ergeben sich drei verschiedene Motivkomplexe für eine Kirchen- bzw. Gemeindemitgliedschaft: 1. In Freien evangelischen Gemeinden wird die Gemeindemitgliedschaft von den Mitgliedern vor allem als Ausdruck des eigenen Glaubens und der religiösen Selbstbestimmung verstanden und gleichzeitig stark mit bestimmten Relevanzen für das Individuum verknüpft. 2. Bei allen Evangelischen fallen demgegenüber diese individuellen Relevanzen (insbesondere innerer Halt und Gemeinschaft) sowie der Ausdruck des Glaubens deutlich geringer aus, während konventionelle, familiäre und gesellschaftliche Motive einen hohen Stellenwert besitzen. 3. In der Vergleichsgruppe haben nun nahezu alle Motive einen hohen Stellenwert, also sowohl die Mitgliedschaft als Ausdruck des Glaubens, die zweckrational-individuellen Motive sowie die konventionellen und gesellschaftlichen. Damit können die Kirchenmitglieder der Vergleichsgruppe auf dem breitesten Motivkomplex für ihre Mitgliedschaft aufbauen, während bei allen Evangelischen die individuelle Relevanz und bei den frei-evangelischen das gesellschaftliche und konventionelle Moment in der Selbstdeutung unterbetont ist, gleichwohl vor allem die familiäre Prägung dort eine sehr große Rolle spielt. In der Selbstdeutung der eigenen Mitgliedschaftsmotive gerät diese allerdings in Konkurrenz mit der als offensichtlich relevanter erachteten religiösen Selbstbestimmung. Nun sollen diese Mitgliedschaftsmotive auch noch im Blick auf die drei unterschiedlichen Zugangstypen und besonders auf die 20- bis 39-Jährigen, die in einer anderen Konfession sozialisiert wurden, untersucht werden. Dabei zeigt sich insgesamt ein recht homogenes Bild, die Zustimmung zu den einzelnen Items differiert nicht stark zwischen den unterschiedlichen Zugangstypen (vgl. Abbil-

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Gemeindemitglied werden

Ich bin Gemeindemitglied, weil... 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% ich mich ganz bewusst dazu entschieden habe. mir der christliche Glaube etwas bedeutet. ich die Gemeinschaft brauche. ich mich verbindlich einbringen wollte. die Gemeinde mir inneren Halt gibt. die Gemeinde wichtige ethische Werte vertritt. meine Kinder in einer Gemeinde aufwachsen sollen. damit auch gewisse Rechte einhergehen (z.B. Wahlrecht). mir eine kirchliche Trauung wichtig ist. ich einmal kirchlich bestattet werden möchte. meine Eltern auch schon Gemeindemitglieder sind bzw. waren. sich das so gehört.

Frei-evangelisch

Andere Konfession

Konfessionslos

Abbildung 31: Gründe Gemeindemitgliedschaft (nach Zugangstypen)

dung 31). Dennoch lässt sich hierüber der niedrige Zustimmungswert zum Item „weil meine Eltern auch schon Gemeindemitglieder sind bzw. waren“ unter allen Frei-evangelischen erklären (16,2 %). Der größte Teil der Mitglieder, die eben nicht in Freien evangelischen Gemeinden sozialisiert wurden und deren Eltern deshalb auch keine Gemeindemitglieder waren, kann dieses Motiv nur eingeschränkt oder gar nicht als Mitgliedschaftsgrund anführen. Unter den frei-evangelisch Sozialisierten ist dagegen die Zustimmung mit 44,1 % höher. Dennoch ist auch in dieser Gruppe, in der, wie oben festgestellt, besonders häufig ein positiver Einfluss der Eltern auf die Einstellung zu Religion, Glaube und Kirche besteht, die Zustimmung immer noch viel niedriger als bei den Evangelischen (71,3 %) und den Hochverbundenen der V. KMU (81,6 %). Als Erklärung hierfür lässt sich die starke Betonung der Gemeindemitgliedschaft als bewusste Entscheidung in FeGn heranführen, die dann – wie schon erwähnt – in Konkurrenz mit konventionellen Motiven und damit auch der familiären Prägung tritt. Betrachtet man nun noch die ins Blickfeld geratene Gruppe der aktuell 20bis 39-Jährigen, die in einer anderen Konfession sozialisiert wurden, ergibt sich zunächst bezüglich der Zustimmungswerte zu den einzelnen Mitgliedschaftsmo-

Mitgliedschaftsmotive

Ich bin Gemeindemitglied, weil... 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90%100% ich mich ganz bewusst dazu entschieden habe. mir der christliche Glaube etwas bedeutet. ich die Gemeinschaft brauche. ich mich verbindlich einbringen wollte. die Gemeinde mir inneren Halt gibt. die Gemeinde wichtige ethische Werte vertritt. meine Kinder in einer Gemeinde aufwachsen sollen. damit auch gewisse Rechte einhergehen (z.B. Wahlrecht). mir eine kirchliche Trauung wichtig ist. ich einmal kirchlich bestattet werden möchte. meine Eltern auch schon Gemeindemitglieder sind bzw. waren. sich das so gehört.

FeG Gesamt

Andere Konfession 20-39

Abbildung 32: Gründe Gemeindemitgliedschaft (FeG Ges./andere Konfession 20 bis 39)

tiven ein insgesamt sehr ähnliches Bild im Vergleich zur Gesamtheit der freievangelische Gemeindemitglieder (vgl. Abbildung 32). Die bewusste Entscheidung und die Bedeutung des christlichen Glaubens sind noch etwas häufiger genannt, Gemeinschaft, verbindliches Einbringen, innerer Halt und ethische Werte dagegen etwas seltener. Besonders aufschlussreich scheint folgender Unterschied: Unter den aktuell 20- bis 39-Jährigen ist für 68,3 % das Aufwachsen der eigenen Kinder in einer Gemeinde ein Motiv für die Gemeindemitgliedschaft, wobei darunter bei den Mitgliedern, bei denen Kindern im Haushalt leben, sogar eine Zustimmung von 81,3 % erreicht wird. Damit zeigt sich, dass für die Mitglieder im Alter zwischen 20 und 39 Jahren, die eine andere Konfession verlassen haben und FeG-Mitglieder wurden, neben den vom Gesamten der Mitglieder mit hohen Zustimmungswerten versehenen Mitgliedschaftsmotiven (bewusste Entscheidung,

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Gemeindemitglied werden

Ausdruck des eigenen Glaubens, innerer Halt, Mitarbeit, Gemeinschaft) der Blick auf die eigenen Kinder ein besonders wichtiges Motiv für die Mitgliedschaft in einer Freien evangelischen Gemeinde ist.

9.7 Unterschiede zu anderen Kirchen Freie evangelische Gemeinden sind ein Anbieter auf dem religiösen Markt spätmoderner Pluralisierung und stehen damit in Konkurrenz zu anderen Anbietern. Diese Tatsache wird schon daran deutlich, dass der größte Teil der Mitgliederzugänge aus Menschen besteht, die vorher einer anderen Konfession angehört und mit ihrer Gemeindemitgliedschaft in FeGn sozusagen einen Anbieterwechsel vorgenommen haben. Vor diesem Hintergrund sollen nun den aus der Sicht der Mitglieder wichtigsten Unterschieden Freier evangelischer Gemeinden im Vergleich zu den beiden größten Anbietern auf dem Markt, der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche, nachgegangen werden. Dafür wurden die Probanden in den Interviews danach gefragt, welche Unterschiede zu den beiden Großkirchen ihnen persönlich besonders wichtig sind. Dabei wurden folgende Unterschiede vorgegeben: Freie evangelische Gemeinden a) sind moderner, b) sind mehr an der Bibel orientiert, c) sind konservativer, d) bieten mir mehr Orientierung für mein Verhalten, e) legen den Fokus mehr auf die Ortsgemeinde als auf die Gesamtorganisation, f) legen mehr Wert auf den persönlichen Glauben, g) betonen ehrenamtliche Mitarbeit stärker. Eine Häufigkeitsauszählung der Daten ergibt, dass mit dem Item zum persönlichen Glauben ein klassisch frei-evangelischer Aspekt mit 92,3 % die höchsten Zustimmungswerte erreicht und damit aus Sicht der Mitglieder der wichtigste Unterschied zwischen FeGn und den beiden Großkirchen ist (siehe Abbildung 33). Auch die stärkere Orientierung an der Bibel sowie mehr Orientierung für das Verhalten wird von den Befragten als besonders bedeutsam eingestuft, wobei die Orientierung für das eigene Verhalten für die 10- bis 19-Jährigen mit 82,4 % Zustimmung deutlich wichtiger ist als für den Durchschnitt, während für die 20- bis 39-Jährigen dieser Unterschied mit 67,9 % bzw. 64,3 % einen geringeren Stellenwert hat. Wie wichtig die stärkere Orientierung an der Bibel eingeschätzt wird, korreliert ebenfalls stark mit dem Alter. Je älter die Befragten desto maßgeblicher die stärkere Orientierung an der Bibel. Bei den 10- bis 19-Jährigen erhielt dieses Item 64,7 %, bei den 70- bis 79-Jährigen dagegen 93,3 %. Die Gewichtung der stärkeren Betonung der ehrenamtlichen Mitarbeit sowie des Fokus auf die Ortsgemeinde ist dagegen durch alle Altersgruppen ähnlich hoch. Ein besonderes Augenmerk soll an dieser Stelle noch den Items „sind moderner“ und „sind konservativer“ gelten. Das spezielle Verhältnis von Konservati-

Unterschiede zu anderen Kirchen

Freie evangelische Gemeinden... 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90%100% legen mehr Wert auf den persönlichen Glauben.

92,3%

sind mehr an der Bibel orientiert.

79,5%

bieten mir mehr Orientierung für mein Verhalten.

73,8%

legen den Fokus mehr auf die Ortsgemeinde als auf die Gesamtorganisation.

69,1%

sind moderner.

64,4%

betonen ehrenamtliche Mitarbeit stärker.

61,7%

sind konservativer.

35,9%

Abbildung 33: Unterschiede zu den Großkirchen

vismus und Modernität war oben in Kapitel 5 bereits Thema und wurde in der Schweiz im evangelisch-freikirchlichen Milieu von Stolz entdeckt. Das besondere Verhältnis von Modernität und Konservativismus, so ein Ergebnis der Studie, mache Freikirchen zu einem besonders wettbewerbsstarken Anbieter auf dem religiösen Markt. 16 Unter den befragten FeG-Mitgliedern liegt „sind moderner“ als Unterschied mit 64,4 % auf dem drittletzten Platz und „sind konservativer“ mit 35,9 % auf dem letzten. Grundsätzlich ist es den Mitgliedern freier evangelischer Gemeinden also wohl wichtig, dass FeGn etwas moderner sind, während immerhin einem Drittel auch wichtig ist, dass FeGn konservativer sind. Überraschend und gleichzeitig bezeichnend ist nun, dass mit 22,1 % sogar über ein Fünftel der Befragten beiden Items zugleich zugestimmt hat, ihnen also wichtig ist, dass FeGn moderner und konservativer sind. Damit deutet sich genau jenes von Stolz beschriebene Verhältnis an. Eine Auswertung nach Altersgruppen erfasst dieses Verhältnis noch deutlicher (vgl. Abbildung 34): das Item „sind moderner“ korreliert stark mit dem Alter und auch bei „sind konservativer“ lässt sich zumindest bei den letzten beiden Altersstufen eine deutliche Zunahme beobachten. Freie evangelische Gemeinden können also sowohl von den jüngeren Gemeindemitgliedern als moderner im Vergleich zu den Großkirchen als auch von den älteren Gemeindemitgliedern als konservativer als die Großkirchen bezeichnet werden.

16 Stolz / Favre u. a., Phänomen Freikirchen, 353.

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Gemeindemitglied werden

Freie evangelische Gemeinden... 0%

10%

10-19

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

76,50% 79,20% 78,30% 70,70% 63,10% 57,50% 42,20% 41,40%

sind moderner.

sind konservativer.

20%

23,50% 33,00% 34,40% 29,30% 34,60% 31,00% 51,10% 65,50%

20-29

30-39

40-49

50-59

60-69

70-79

80-89

Abbildung 34: Unterschiede zu den Großkirchen – moderner / konservativer

Oben wurde bereits vermutet, dass sich dabei die Konservativität vor allem auf die normative Ebene, also Werte, Haltungen und Rollenbilder, bezoge, während die Ausdrucksformen dieses tendenziell konservativeren Glaubens innerhalb der evangelischen Landschaft außerordentlich modern sein können und durch eine hohe Anpassungsfähigkeit ausgezeichnet sind. Neben den mehr oberflächlichen Beispielen, wie die breite Integration popkultureller Elemente in die musikalische Gottesdienstgestaltung sowie die an vielen Stellen hohen Standards bzgl. Technisierung und Digitalisierung, sind viel tiefgreifender eben die spezifisch moderne Kirchenform im Sinne ihrer starken Organisationsförmigkeit und die damit einhergehenden und in dieser Arbeit noch weiter zu entfaltenden Logiken und Strukturmerkmale zu nennen, wie beispielsweise der hohe Stellenwert des Kommunikationsmodus der Authentizität. Diese These lässt sich insofern überprüfen, als Werthaltungen in der FeG-Studie abgefragt wurden. So wurden die ProbandInnen zum einen nach der gleichgeschlechtlichen Ehe („Es wurde ja in Deutschland viel über die Eheschließung Homosexueller diskutiert. Wie stehen Sie persönlich dazu, dass die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland möglich ist? Finde Sie das überhaupt nicht gut, nicht gut, teils / teils, oder gut oder sehr gut?“) sowie nach der Gleichstellung der Geschlechter („Wie stehen Sie persönlich zur folgenden Aussage: „Bei der Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft ist in Deutschland schon genug passiert.“ Stim-

Unterschiede zu anderen Kirchen

men Sie überhaupt nicht zu, wäre das 1 und stimmen Sie voll und ganz zu, wäre das 5.“) gefragt. Eine aus diesen beiden Fragen mittels Summenscore gebildete Variable zur Traditionsorientierung korreliert nun tatsächlich signifikant positiv mit der Angabe „FeGn sind konservativer“. Keine signifikante Korrelation lässt sich allerdings zwischen der Traditionsorientierung und dem Item „sind moderner“ feststellen. Damit zeigt sich die behauptete Entkoppelung der Urteile „konservativ“ und „modern“ bzw. von Modernität und konservativer Werte, Haltungen und Rollenbilder. Zum tieferen Verständnis dieses besonderen Verhältnisses von Modernität und Konservativität in FeGn wäre weitere empirische Forschung, in dem Fall in qualitativer Perspektive, wünschenswert. Abschließend wurde die Wichtigkeit dieser Unterschiede auch noch differenziert nach drei Zugangstypen und den 20- bis 39-Jährigen, die in einer anderen Konfession sozialisiert wurden, untersucht. Das ist insofern aufschlussreich als der allergrößte Teil des Zugangstyps „andere Konfession“ vorher eben Mitglied in einer der Kirchen war, im Vergleich zu denen nun Unterschiede zu FeGn bewertet werden sollten. Dabei ist bei allen dieser Gruppen ebenfalls „legen mehr Wert auf den persönlichen Glauben“ der wichtigste Unterschied (vgl. Abbildung 35). Bei den frei-evangelisch Sozialisierten – bei denen sehr wahrscheinlich weniger die

Freie evangelische Gemeinden... 0%

20%

40%

60%

80%

100%

legen mehr Wert auf den persönlichen Glauben. sind mehr an der Bibel orientiert. bieten mir mehr Orientierung für mein Verhalten. legen den Fokus mehr auf die Ortsgemeinde als auf die Gesamtorganisation. sind moderner. betonen ehrenamtliche Mitarbeit stärker. sind konservativer.

Frei evangelisch

Andere Konfession

Konfessionslos

Andere Konfession 20-39

Abbildung 35: Unterschiede zu den Großkirchen (nach Zugangstypen)

189

190

Gemeindemitglied werden

eigene, konkrete Erfahrung in andere Kirchen als das in FeGn vorherrschende Bild „der Kirche(n)“ Grundlage der Bewertung war – spielt danach „mehr Orientierung für mein Verhalten“ die zweitwichtigste Rolle (74,6 %), gefolgt von dem stärkeren Fokus auf die Ortsgemeinde (71,6 %), während die stärkere Orientierung an der Bibel, die unter allen FeG-Mitgliedern den zweitwichtigsten Unterschied darstellt, nur den vierten Platz einnimmt (71,2 %). Mitglieder, die in anderen Konfessionen aufgewachsen sind, legen dagegen von allen Gruppen den höchsten Wert auf die stärkere Orientierung an der Bibel (83,9 %). Das ist insofern erstaunlich, als beispielsweise die liturgische Praxis in FeGn deutlich weniger von Texten der Bibel durchdrungen ist als in den Großkirchen. Dennoch entsteht insbesondere bei den Mitgliedern, die aus einer anderen Konfession in eine FeG gewechselt sind, der Eindruck einer stärkeren Bibelorientierung in FeGn. Sehr wahrscheinlich bezieht sich dieser Eindruck auf eine unmittelbarere, wörtlichere Auslegung der Bibel, insbesondere in ethischen Fragen, oder aber auch auf eine besonders alltagsnahe und authentische Bibelauslegung, die gerade dadurch an Orientierungskraft gewinnt. Auch diese Vermutungen bedürfen allerdings weiterer empirischer Verifizierung. Die konfessionslos sozialisierten FeG-Mitglieder gaben durchschnittlich etwas weniger Unterschiede an, möglicherweise weil ihnen eben die Erfahrung für den Vergleich fehlt, wobei die Reihenfolge bzgl. der Wichtigkeit der Unterschiede dem Gesamten der FeG-Mitglieder entspricht. Lediglich „sind moderner“ ist dieser Gruppe etwas wichtiger (66,7 %) als allen FeG-Mitgliedern (64,4 %). Bei der Gruppe der 20- bis 39-Jährigen, die in einer anderen Konfession aufgewachsen sind, fällt auf, dass „sind moderner“ zusammen mit „sind mehr an der Bibel orientiert“ die zweithäufigsten Zustimmungen erhalten hat (beide 76,4 %). Gleichzeitig liegt bei dieser Gruppe auch das Item „sind konservativer“ (39,0 %) über dem aller FeG-Mitglieder (35,9 %). Damit scheint auch für diese besonders stark christlich Sozialisierten die besondere Mischung aus Modernität und Konservativität ein Wettbewerbsvorteil Freier evangelischer Gemeinden im Vergleich zu den Großkirchen darzustellen.

9.8 Fazit: Pastorin, Partner, Peer-Group, modern-konservative Gemeinden und der eigene Glaube Das Zustandekommen der Gemeindemitgliedschaft im formal-distinktiven Sinn wurde zum einen im Blick auf Differenzen unter frei-evangelischen Gemeindemitgliedern und zum anderen aber auch im Vergleich mit den Daten der V. KMU analysiert. Dabei zeigten sich für FeGn drei unterschiedliche Wege des Gemeindemitglied-Werdens:

Fazit: Pastorin, Partner, Peer-Group

1. Der kleinste Teil der FeG-Mitglieder (8,2 %) ist konfessionslos sozialisiert und wird zu ähnlichen Anteilen vor allem zwischen 20 und 49 Mitglied einer FeG. Erwartungsgemäß ist dieser Zugangsweg im Osten, aber auch in Großstädten überdurchschnittlich häufig vertreten, korreliert aber nicht mit den Faktoren Gemeindegröße, Bildungsabschluss und Mobilität. Allerdings gibt es in den Haushalten dieser Gruppe besonders häufig Kinder. Im Blick auf die Sozialisationsinstanzen ist entsprechend der Gruppeneinteilung der Einfluss der Primärsozialisation gering und das Zustandekommen der Gemeindemitgliedschaft damit maßgeblich im Zusammenhang mit der Sekundärsozialisation zu sehen, wobei Pastor / Pastorin / JugendleiterIn mit 83,3 % den wichtigsten Einflussfaktor ausmacht. Als inhaltliche Gründe für die Gemeindemitgliedschaft wurden von dieser Gruppe, wie von allen FeG-Mitgliedern, vor allem die bewusste eigene Entscheidung, der christliche Glaube, die Gemeinschaft, das verbindliche Einbringen, innerer Halt, ethische Orientierung sowie die eigenen Kinder mit hohen Zustimmungswerten versehen. Die Bewertung der Unterschiede zu den Großkirchen ist bei den konfessionslos Sozialisierten etwas zurückhaltender, wobei wie für alle frei-evangelischen Mitglieder die besondere Betonung des persönlichen Glaubens, die stärkere Orientierung an der Bibel die wichtigsten Unterschiede sind. Nur der Aussage „FeGn sind moderner“ wurde von dieser Gruppe überdurchschnittlich häufig zugestimmt (66,7 %), während „FeGn sind konservativer“ die geringsten Zustimmungswerte aller Gruppen bekommt. 2. Eine zweite Gruppe der FeG-Mitglieder kann als aus dem eigenen Nachwuchs rekrutiert gelten. Dieser Teil (27,4 %) wird zu 60,9 % schon zwischen 10 und 19 Jahren Gemeindemitglied und tritt überdurchschnittlich häufig im Westen auf. Darüber hinaus lassen sich keine sozialstrukturellen Korrelationen aufzeigen. In dieser Gruppe spielt wiederum erwartungsgemäß die Primärsozialisation eine hohe Rolle, wobei von Befragten der Sekundärsozialisation insgesamt und hier vor allem dem / der PastorIn bzw. JugendleiterIn (91,0 %) sowie der Jugendgruppe (79,3 %) ein noch höherer Einfluss zugeschrieben wird. Dem entspricht auch die Auswertung zu den expliziten Mitgliedschaftsgründen. Hier wird zwar die Mitgliedschaft der Eltern häufiger als unter allen Frei-evangelischen genannt (44,1 %), landet aber doch deutlich hinter den individuell-zweckrationalen Items zur bewussten eigenen Entscheidung, dem christliche Glauben, der Gemeinschaft, zum verbindlichen Einbringen, dem inneren Halt, der ethischen Orientierung sowie den eigenen Kindern. Bei den Unterschieden zu den Großkirchen ist frei-evangelisch Sozialisierten neben der besonderen Betonung des persönlichen Glaubens mehr Orientierung für das Verhalten sowie der stärkere Fokus auf die Ortsgemeinde besonders wichtig, während die stärkere Orientierung an der Bibel für diese Gruppe etwas weniger wichtig ist. 3. Die dritte und größte Gruppe der FeG-Mitglieder (64,4 %) besteht aus Menschen, die vor ihrer FeG-Mitgliedschaft einer anderen Konfession und dabei zu

191

192

Gemeindemitglied werden

über 50 % der evangelischen Kirchen angehörten. Diese Gruppe wird vor allem zwischen 20 und 39 Jahren Mitglied einer FeG und gibt einen immer noch recht hohen positiven Einfluss primärer Sozialisationsinstanzen an. Dennoch überwiegt hier der positive Einfluss der sekundären Sozialisationsinstanzen aus Sicht der Mitglieder noch deutlicher als unter frei-evangelisch Sozialisierten. Als wichtigste Faktoren werden hier PastorIn bzw. JugendleiterIn (85,3 %), ParterIn (67,9 %), Freundeskreis (64,9 %) und christlicher Kindergarten bzw. Jugendgruppe (61,5 %) genannt. Allein die eigene Mutter (65,1 %) schafft es nach dem Freundeskreis unter die fünf Einflussfaktoren mit dem höchsten positiven Einfluss. Bezüglich der Mitgliedschaftsgründe ergaben sich innerhalb der drei Zugangstypen keine besonderen Unterschiede, sodass auch bei der dritten Gruppe die bewusste eigene Entscheidung, der christliche Glaube, die Gemeinschaft, das verbindliche Einbringen, innerer Halt, ethische Orientierung die höchste Zustimmung erfahren. Nur das Item „weil meine Eltern auch schon Gemeindemitglieder sind bzw. waren“ wurde wie auch bei den Konfessionslosen erwartungsgemäß deutlich seltener genannt. Im Blick auf die Unterschiede zu den Großkirchen legen die Mitglieder, die in anderen Konfessionen aufgewachsen sind, von allen Gruppen den höchsten Wert auf die stärkere Orientierung an der Bibel (83,9 %), wobei auch bei dieser Gruppe die stärkere Betonung des persönlichen Glaubens die meiste Zustimmung erhält (93,0 %). Eine Sonderauswertung erfolgte außerdem für die Gruppe der 20- bis 39-Jährigen aus anderen Konfessionen, die zum einen für FeGn eine wichtige Mitgliederrekrutierungsbasis ausmachen und zum anderen üblicherweise als nicht besonders kirchenaffin gelten 17. Die Auswertung brachte eine Gruppe von Mitgliedern zu Tage, die besonders hoch gebildet und mobil sind und außerdem mehrheitlich Kinder haben. Die größten Anteile dieser Gruppe verteilen sich auf den Westen (52,8 %) und auf den Süden (37,4 %), wobei sie damit im Süden deutlich überrepräsentiert sind, während sich im Norden nur 4,1 % dieser Gruppe finden, die dort damit unterrepräsentiert ist. Außerdem häuft sich das Vorkommen dieser Gruppe besonders in Großstädten und ist in großen Gemeinden überrepräsentiert. Sie zeigt einen besonders starken positiven Einfluss der Primärsozialisation und gleichzeitig hohe Werte bei Faktoren der Sekundärsozialisation, wobei hier neben PastorIn bzw. JugendleiterIn das Item „Ehemann / Ehefrau bzw. Partner / Partnerin“ mit 72,4 % den drittstärksten positiven Einflussfaktor darstellt. Bei den Mitgliedschaftsmotiven erhielten die bewusste Entscheidung und der christliche Glaube im Vergleich zu allen Frei-evangelischen sogar eine noch etwas höhere Zustimmung. Außerdem ist dieser Gruppe der Blick auf die eigenen Kinder für eine Gemeindemitgliedschaft besonders wichtig. Bei den Unterschieden zu den Großkirche fiel auf, dass „sind moderner“ zusammen mit „sind mehr an der Bi17 Grethlein, Kirchentheorie, 133.

Fazit: Pastorin, Partner, Peer-Group

bel orientiert“ die zweithäufigsten Zustimmungen erhielten (beide 76,4 %) und gleichzeitig bei dieser Gruppe auch das Item „sind konservativer“ (39,0 %) über dem aller FeG-Mitglieder (35,9 %) lag. Damit ergibt sich insgesamt das Bild, dass das Zustandekommen einer Gemeindemitgliedschaft in Freien evangelischen Gemeinden in allen Fällen mit einer besonders starken Sekundärsozialisation zusammenhängt und in diesem Sinn dann auch weniger institutionell bzw. traditionell, sondern vor allem individuellzweckrational verstanden wird – selbst dort, wo ein besonders hoher Einfluss der Primärsozialisationsinstanzen vorliegt. Denn sowohl die frei-evangelisch Sozialisierten als auch insbesondere die 20- bis 39-Jährigen aus einer anderen Konfession weisen hier besonders hohe Werte auf. Die Gemeindemitgliedschaft aber wird als Ausdruck des eigenen Glaubens und – wie es auch in den Ordnungen konzipiert ist – als bewusste Entscheidung des Individuums interpretiert. Diese Betonung des individuell-persönlichen Glaubens wird von allen Zugangstypen auch als wichtigster Unterschied im Vergleich zu den Großkirchen genannt. Dabei können folgende Komponenten des frei-evangelischen Kirchenmodells als Grundlage dieser Einflüsse und ihrer Deutung durch die Mitglieder gelten: a) die gruppenförmige Gemeindemitgliedschaft in überschaubaren Ortsgemeinden, die das Knüpfen von gemeindenahen Freundschaften und Partnerschaften begünstigt, b) der besondere Schwerpunkt auf der Jungen Generation in FeGn, der sowohl positiven Einfluss auf das eigene Verhältnis zu Religion, Glaube und Kirche ausüben als auch günstige Rahmenbedingungen für das Aufwachsen der eigenen Kinder im Umfeld der Gemeinde bieten kann, sowie c) die „geistlichen Persönlichkeiten“ 18, also charismatische, authentische PastorInnen, GemeindeleiterInnen und JugendleiterInnen, die offensichtlich in FeGn bei allen Zugangstypen einen besonders hohen positiven Einfluss ausüben. Dazu scheint außerdem eine besondere Mischung aus Modernität und Konservativität FeGn einen Wettbewerbsvorteil auf dem religiösen Markt zu verschaffen. Noch deutlicher werden diese Motivlagen im Vergleich mit den Sozialisationsinstanzen und Mitgliedschaftsgründen der befragten Evangelischen und der Vergleichsgruppe der V. KMU. Während bei den frei-evangelischen Mitglieder PastorIn bzw. JugendleiterIn der meistgenannte positive Einflussfaktor bzgl. der Einstellung zu Religion, Glaube und Kirche ist, ist dies sowohl bei allen Evangelischen wie auch bei den Hochverbundenen die eigene Mutter. Gleichzeitig geben FeG-Mitgliedern im Schnitt mehr positive Einflussfaktoren an als sowohl alle Evangelische als auch die Vergleichsgruppe. Zwar erhalten in der Vergleichsgruppe die Instanzen der Sekundärsozialisation höhere Zustimmungswerte in Bezug auf einen positiven Einfluss als bei allen Evangelischen, bleiben damit aber deutlich hinter den Werten bei den frei-evangelischen Befragten zurück. 18 Vgl. Bussemer, Die Gemeinde, 61–64 sowie Heiser, Ein Pastor, 71–75.

193

194

Gemeindemitglied werden

Bei den Mitgliedschaftsmotiven gibt es dagegen starke Ähnlichkeiten zwischen Frei-evangelischen und der Vergleichsgruppe der Hochverbundenen. Die individuell-zweckrationalen Items werden ähnlich häufig und teilweise sogar häufiger als Gründe für die Mitgliedschaft genannt, während sie bei allen Evangelischen geringere Zustimmung erfahren. Stattdessen sind hier – wie auch für die Vergleichsgruppe – die traditionellen, familiär vermittelten Mitgliedschaftsgründe besonders wichtig. Damit zeigt sich einmal mehr: Für frei-evangelische Gemeindemitglieder ist die Gemeindemitgliedschaft – auch bei starker familiärer Prägung – vor allem Ausdruck des eigenen Glaubens und Gegenstand eigener Entscheidung. Traditionelle Gründe werden nicht als Stütze dieser Entscheidung interpretiert, sondern geraten in Konkurrenz zu ihr. Bei allen Evangelischen fallen demgegenüber diese individuellen Relevanzen (insbesondere innerer Halt und Gemeinschaft) sowie der Ausdruck des Glaubens deutlich geringer aus, während konventionelle, familiäre und gesellschaftliche Motive einen hohen Stellenwert besitzen. Bei der Vergleichsgruppe scheint die Integration beider Motivbündel zu gelingen, sodass die Mitgliedschaft sowohl als Ausdruck des eigenen Glaubens verstanden und mit den zweckrational-individuellen Motiven verknüpft werden kann, als auch in hohem Maße von familiären, konventionellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen bedingt sein kann.

10.

Gemeindemitglied sein

Im Blick auf die Gemeindemitgliedschaft wurde oben die Unterscheidung zwischen einer Gemeindemitgliedschaft als formal-distinktive Kategorie im Sinne eines rechtlich-organisatorischen bzw. theologischen Status, der die (Mit-)Gliedschaft von der Nicht-(Mit-)Gliedschaft unterscheidet, und einer Mitgliedschaft als graduell-qualitative Größe im Sinne einer Sozialbeziehung, die als Bindung oder Zugehörigkeit unterschiedliche Grade und Dynamiken der Intensität kennt, eingeführt. Nachdem nun die formal-distinktive Gemeindemitgliedschaft und ihr Zustandekommen untersucht wurden, soll im Folgenden die graduell-qualitative Mitgliedschaft in Freien evangelischen Gemeinden aus der Perspektive der Mitglieder eine nähere Betrachtung erfahren und so ein weiterer Schritt zu einer empirisch fundierten frei-evangelischen Kirchentheorie getätigt werden. Dazu wird die Befragung der Mitglieder Freier evangelischer Gemeinden auf die konkrete Mitgliedschaftspraxis sowie ihre affektiven und ideellen Korrelate hin ausgewertet. Als erstes wird dafür – wieder im Vergleich mit der V. KMU – die Kirchenbindung im engeren Sinn in Freien evangelischen Gemeinden analysiert, sodann die Bilder von Gemeinde, die sich u. a. in den Erwartungen der Befragten an Pastorin bzw. Pastor widerspiegeln, außerdem die Perspektive der Mitglieder auf die unterschiedlichen, konkreten Interaktionen am Ort der Gemeinde und zuletzt, als Spezialfall dieser Interaktion, das Engagement der Mitglieder in der Gemeinde.

10.1 Grundmuster der Kirchenbindung in Freien evangelischen Gemeinden Im ersten Teil dieser Arbeit ist bereits deutlich geworden, dass in Freikirchen allgemein und in Freien evangelischen Gemeinden im Speziellen ein besonderes Muster der Kirchenbindung und -zugehörigkeit vorliegt. Um dieses Muster in einer ersten Annäherung auch empirisch zu erfassen, wird auf die in den

196

Gemeindemitglied sein

Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen schon etablierten Fragen zum Gefühl der Verbundenheit zurückgegriffen, die auch in der Befragung der FeG-Mitglieder gestellt wurden: „Das Gefühl der Verbundenheit mit der Gemeinde kann ja verschieden stark sein. Wie verbunden fühlen Sie sich ihrer Gemeinde?“. Quasi als Negativfolie dazu dient die ebenfalls der KMU entlehnten Frage nach der Haltung zu einem Kirchen- bzw. Gemeindeaustritt. Ergänzt werden diese mehr affektiven Operationalisierungen der Kirchenbindung durch die Frage nach der Häufigkeit des Gottesdienstbesuches sowie der Mitarbeit in der Gemeinde, die damit die Kirchenbindung um den Aspekt der mehr oder weniger aktiven Beteiligung erweitern und so einen ersten empirischen Umriss frei-evangelischer Kirchenbindung bieten, der in den folgenden Abschnitten dann immer weiter ergänzt und präzisiert wird.

10.1.1 Verbundenheit mit Bund, Kreis und Gemeinde Die erste Besonderheit frei-evangelischer Kirchenbindung ergibt sich bereits mit der Reihenfolge der Fragen nach der Verbundenheit. Sowohl in der V. KMU als auch in der FeG-Studie wurde das Gefühl der Verbundenheit in Bezug auf drei Größen abgefragt, die Verbundenheit zur Kirche als Ganze, zur Ortsgemeinde und zur Ebene dazwischen (Bundeskreis bzw. Landeskirche). Während in allen KMUs die Verbundenheit zur Evangelische Kirche in Deutschland insgesamt als maßgebliche Größe an erster Stelle abgefragt wurde, ist dasselbe Vorgehen im frei-evangelischen Kontext nicht denkbar, da die Gemeindemitgliedschaft sich in FeGn eben zuerst auf die Ortsgemeinde bezieht und diese dementsprechend auch als Einstieg in den Themenblock zur Verbundenheit gewählt werden musste. Doch in der Auswertung soll nun zunächst der Blick auf die Verbundenheit zum Bund bzw. zur Kirche fallen. Aufgrund der aktiv zu ergreifenden Mitgliedschaft wäre in FeGn eine deutlich höhere Verbundenheit zur Kirche zu erwarten als in der EKD. Bei der Verbundenheit zur EKD bzw. zum Bund FeG erreichen die befragten FeG-Mitglieder allerdings Werte, die sogar etwas niedriger als die der Evangelischen der V. KMU sind: 44 % der Evangelischen der V. KMU und 40,8 % der befragten FeG-Mitglieder geben an, ziemlich oder sehr verbunden mit der EKD bzw. dem Bund Freier evangelischer Gemeinden zu sein (vgl. Abbildung 36). „Sehr verbunden“ sind sogar um 4,2 Prozentpunkte mehr evangelische Mitglieder (15,7 %) als FeG-Mitglieder (11,5 %). Deutlich davon abweichend stellt sich die Verbundenheit der zweiten Vergleichsgruppe der V. KMU dar, die aus den der Ortsgemeinde ziemlich und sehr Verbundenen konstruiert wurde. Hier findet sich eine viel höhere Verbundenheit zur Kirche insgesamt. So sind mit 90,1 % fast alle Befragten dieser Gruppe der

15,7%

11,5%

29,3%

24,9% 9,1%

0,8%

10%

13%

20%

6,2%

30%

18,1%

22,9%

40%

30,1%

50%

28,3%

60%

34,5%

55,6%

Grundmuster der Kirchenbindung in Freien evangelischen Gemeinden

0% Überhaupt nicht Kaum verbunden Etwas verbunden verbunden FeG

KMU Hochv.

Ziemlich verbunden

Sehr verbunden

KMU Gesamt

Abbildung 36: Verbundenheit zum Bund / zur Kirche

EKD ziemlich oder sehr verbunden. 1 Damit kann also nicht von einer generell höheren Verbundenheit von FeG-Mitgliedern zu ihrer Kirche ausgegangen werden, stattdessen kann an dieser Stelle in Bezug auf die gesamte Kirche eine ähnlich hohe Verbundenheit im Vergleich mit allen evangelischen Mitgliedern bzw. sogar eine deutlich niedrigere im Vergleich mit den Hochverbundenen der V. KMU festgehalten werden. Ein anderes Bild, das den Erwartungen wieder entspricht, zeigt dann aber die Auswertung zur Verbundenheit mit der Ortsgemeinde (vgl. Abbildung 37). Hier geben 92,2 % der befragten FeG-Mitglieder an, sich mit der Ortsgemeinde ziemlich (37,7 %) oder sehr verbunden (54,5 %) zu fühlen. Demgegenüber sind es bei den Evangelischen nur 45 %, wobei der Unterschied zwischen allen Evangelischen und den FeG-Mitgliedern in der Kategorie „sehr verbunden“ mit 31,7 Prozentpunkten besonders deutlich ist. Die Vergleichsgruppe der Hochverbundenen erreicht hier 100 %, da sie nach dieser hohen Verbundenheit zur Ortsgemeinde konstruiert wurde. Die Verbundenheit zur Zwischenebene, also der Landeskirche bzw. dem Bundeskreis, ist in allen drei Gruppen insgesamt niedriger (vgl. Abbildung 38). In FeGn fühlen sich nur 27,5 % der Befragten ziemlich oder sehr verbunden mit dem Bundeskreis, bei allen Evangelischen sind es 27,6 %, wobei nur 8,3 % der FeG-Mitglieder und 9,5 % der Evangelischen „sehr verbunden“ angeben. Auch in Bezug auf die Zwischenebene gleichen sich die Werte der FeG-Mitglieder und aller evan1 Erneut lässt sich das mit der Art der Kirchenbindung in Zusammenhang bringen, denn wie schon zuvor bleibt die Korrelation zwischen Art der Kirchenbindung (gemessen am Verbundenheitsgefühl zur Ortsgemeinde) und der Verbundenheit zur Kirche bzw. zur Landeskirche auch unter statistischer Berücksichtigung der sozialstrukturellen Faktoren, die in der Vergleichsgruppe besonders ausgeprägt sind, bestehen. Und auch hier verändert eine solche Berücksichtigung nicht einmal die Ausprägung des Korrelationsfaktors maßgeblich.

197

0,1%

0,9%

22,2%

6,8%

13%

20%

18,2%

30%

23,8%

40%

22,8%

37,7%

50%

10%

54,5%

49,4%

60%

50,6%

Gemeindemitglied sein

0% Überhaupt nicht Kaum verbunden Etwas verbunden verbunden FeG

Ziemlich verbunden

KMU Hochv.

Sehr verbunden

KMU Gesamt

Abbildung 37: Verbundenheit zur Ortsgemeinde 60%

9,5%

18,1%

20,4%

35% 19,2%

21,9%

27,9%

24,2%

8,3%

10%

5,9%

20%

14,5%

30%

23%

27,6%

40%

27,5%

50%

17%

198

0% Überhaupt nicht verbunden

Kaum verbunden FeG

Etwas verbunden

Ziemlich verbunden

KMU Hochv.

Sehr verbunden

KMU Gesamt

Abbildung 38: Verbundenheit zum Kreis / zur Landeskirche

gelischen Mitglieder nahezu vollständig. Am höchsten ist die Verbundenheit im Blick auf die Zwischenebene wiederum bei den Hochverbundenen der V. KMU. Hier geben 55,4 % an, ziemlich oder sehr verbunden mit der Landeskirche zu sein. Damit ergeben sich für die drei Gruppen drei unterschiedliche Muster der Kirchenbindung in Bezug auf das Gefühl der Verbundenheit zu den jeweiligen Ebenen von Kirche. Während in Freien evangelischen Gemeinden zur Ortsgemeinde eine sehr hohe Verbundenheit besteht, ist diese zum gesamten Bund dagegen überraschend niedrig. Unter allen Evangelischen ergibt sich ein umgekehrtes Bild, hier ist die Verbundenheit zur gesamten Kirche am höchsten, während die Verbundenheit

Grundmuster der Kirchenbindung in Freien evangelischen Gemeinden

68%

80%

5,7%

3,3%

10%

1,6%

20%

19,9%

10,9%

30%

11,5%

40%

9,6%

35,9%

50%

17,2%

60%

51,5%

70%

64,8%

zur Ortsgemeinde deutlich dahinter zurücktritt. 2 Die Verbundenheit zur Zwischenebene (Bundeskreis bzw. Landeskirche) spielt für beide Gruppen eine untergeordnete Rolle. Wie bereits bei den Mitgliedschaftsmotiven sind es die Befragten der Vergleichsgruppe der V. KMU, die insgesamt über die breiteste Basis verfügen und unabhängig von ihrer besonderen Sozialstruktur beide Logiken vereinen, also sowohl eine sehr hohe Verbundenheit gegenüber der Ortsgemeinde als auch zur gesamten Kirche und dazu noch zur Landeskirche angeben.

0% Keine Veränderung

FeG

Früher stärker

KMU Hochv.

Früher schwächer

Hat mehrfach gewechselt

KMU Gesamt

Abbildung 39: Veränderung Verbundenheit

Diese Beobachtungen lassen für die Vergleichsgruppe der Hochverbundenen eine besonders stabile Kirchenbindung erwarten. Und in der Tat geben hier 68 % der Mitglieder an, keine Veränderung in ihrer Kirchenbindung erlebt zu haben und dazu 17,2 % eine über die Zeit zunehmende Kirchenbindung (vgl. Abbildung 39). Bei allen Evangelischen geben 64,8 % keine Veränderung in der Verbundenheit an, gleichzeitig haben aber doppelt so viele (19,9 %) eine Abschwächung der Verbundenheit und nur halb so viele (9,6 %) eine Intensivierung der Verbundenheit erlebt. 2 Gerald Kretzschmar weist mit Recht darauf hin, dass Verbundenheitswerte von ca. 70 % grundsätzlich sehr hohe Werte sind und es wohl „nur wenige gesellschaftliche Großorganisationen oder Verbände geben [dürfte, MS], die ein so hohes Maß an Vertrauen über einen so langen Zeitraum aufweisen können.“ (Kretzschmar, Kirchenbindung und Konturen) Mit „niedrigen Werten“ ist an dieser Stelle also nur die niedrigere Verbundenheit in Relation zu den anderen Ebenen der Kirchenbindung beschrieben, um ein Bild der jeweils besonderen Bindungskonstellation zu erhalten. Die insgesamt hohe Verbundenheit gegenüber ihrer Kirche bei allen drei Gruppen, insbesondere im Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Institutionen, bleibt davon aber unberührt.

199

200

Gemeindemitglied sein

In FeGn gibt es bei nur 51,5 % der Mitglieder keine Veränderung in der Verbundenheit, während im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen mit 35,9 % sehr viele eine Intensivierung der Verbundenheit nennen. Dieser Umstand lässt sich zum einen dadurch erklären, dass der aktive Eintritt in die Gemeinde wohl grundsätzlich als Intensivierung gedeutet wird und zum anderen dadurch, dass mit den konfessionslos Sozialisierten und den in einer anderen Konfession Sozialisierten insgesamt 72,6 % der FeG-Mitglieder erst durch ihre Mitgliedschaft überhaupt eine Bindung zu FeGn aufbauen und dieser Aufbau einer Bindung dementsprechend eher als Verstärkung der Bindung interpretiert werden kann als im Falle einer schon durch die Familie vermittelte Kirchenbindung. Ein Vergleich zwischen den freievangelisch und den in einer anderen Konfession Sozialisierten bestätigt diese Vermutung, während erstere nur in 29,1 % der Fälle eine Intensivierung der Verbundenheit angeben, sind es bei zweiteren 39 %. 1

0,886

0,8 0,6 0,4

0,506 0,336

0,2 0 FeG

KMU Hochverbunden

KMU Gesamt

Korrelationskoeffizient nach Spearmen-Rho auf einem Signifikanzniveau von 0,01

Abbildung 40: Korrelation zwischen Verbundenheit mit der Ortsgemeinde und der Verbundenheit mit Bund / Kirche

Nun soll noch der Frage nachgegangen werden, wie sich die Ebenen bezüglich der Verbundenheit gegenseitig beeinflussen und außerdem, welche sonstigen Korrelationen sich für die Verbundenheit in Freien evangelischen Gemeinden ausmachen lassen. Für die Untersuchung des Zusammenhangs der Verbundenheit zu den unterschiedlichen Ebenen von Kirche werden die beiden maßgeblichen Ebenen, nämlich die Ortsgemeinde und die Kirche, fokussiert. Dabei ergeben sich tatsächlich deutlich unterschiedliche Korrelationskoeffizienten für den Zusammenhang zwischen der Verbundenheit mit der Ortsgemeinde und der Verbundenheit mit der Kirche bzw. dem Bund. Wobei zunächst festzustellen ist, dass alle Koeffizienten erwartungsgemäß positiv sind, also eine höhere Verbundenheit mit der Ortsgemeinde mit einer höheren Verbundenheit zur Kirche korreliert. Die Höhe des Korrelationskoeffizienten nach Spearman-Rho (vgl. Abbildung 40) ist allerdings für

Grundmuster der Kirchenbindung in Freien evangelischen Gemeinden

FeGn deutlich niedriger (.336) als für die evangelischen Kirchenmitglieder (.886), wobei die Vergleichsgruppe der Hochverbundenen dazwischen liegt (.506). Auch wenn sich für diese Variablen keine eindeutige Kausalitätsbeziehung feststellen lässt, zeigt sich damit doch, dass auch aus Sicht der Mitglieder der Bund Freier evangelischer Gemeinden maßgeblich ein Bund „selbständiger Gemeinden“ 3 ist und entsprechend dieser Konzeption die Verbundenheit zur Ortsgemeinde einen deutlich geringeren Effekt auf die Verbundenheit mit der Kirche als Ganzem und umgekehrt hat, als das in der EKD der Fall ist. Damit verstärkt sich einmal mehr das Bild vom Bund Freier evangelischer Gemeinden als einem loseren Netzwerk aus selbstständigen Ortsgemeinden gegenüber der evangelischen Großkirche als Gesamtorganisation bzw. -institution. 0,25

0,229 0,193

0,2 0,15 0,15

0,11 0,087

0,1

0,09

0,05 0 Alter Verbundenheit Gemeinde

Zeit Wohnort Verbundenheit Bund

Verbundenheit Kreis

Abbildung 41: Korrelation zwischen Verbundenheit und Alter / Mobilität

Darüber hinaus ergeben sich noch zwei weitere signifikante Korrelationen bezüglich der Verbundenheit zu Gemeinde, Bund und Kreis in FeGn. So stehen sowohl das Alter als auch die Wohndauer am jeweiligen Wohnort in einem positiven Zusammenhang mit der Verbundenheit, wobei das Alter den höchsten Effekt in Bezug auf die Verbundenheit mit dem Bund besitzt (vgl. Abbildung 41). Hier ist zu vermuten, dass gerade die Verbundenheit zum Bund durch den geringeren Effekt der Verbundenheit zur Ortsgemeinde auf diese eine längere Zeit der Mitgliedschaft benötigt, um zu wachsen. In der Tat zeigt eine aus Alterskohorten und Kohorten zum Eintrittsalter berechnete Variable zur Dauer der Gemeindemitgliedschaft einen ebenfalls signifikanten und mit .342 noch höheren Korrelationskoeffizienten nach Pearson als das Alter. Gleichzeitig ist damit nicht eindeutig geklärt, ob die höhere Verbundenheit mit dem Bund sich insbesondere in den

3 BFeG, Verfassung, 1.

201

202

Gemeindemitglied sein

älteren Generationen durch die längere Gemeindemitgliedschaft immer wieder neu bildet oder ob sie nur zum Zeitpunkt der Befragung an diesen älteren Generationen hängt und mit der Zeit „herauswächst“. Die Antwort auf derartige Fragen zur zeitlichen Entwicklung können nur in regelmäßigen Abständen durchgeführte Befragungen bieten, wie es beispielsweise durch die inzwischen fünf Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD möglich ist. Nicht nur für die hier berührte Frage wäre eine solche Herangehensweise auch für FeGn wünschenswert.

10.1.2 Austrittsneigung Neben der gefühlten Verbundenheit wurde sowohl in der V. KMU als auch der FeG-Studie die Austrittsneigung abgefragt. Die entsprechende Frage inkl. der Antwortmöglichkeiten aus der V. KMU musste allerdings für die vorliegende Untersuchung dem frei-evangelischen Kontext angepasst werden. Zum einen war ein Bezug auf das Thema Kirchenaustritt nur als gesellschaftliches Thema möglich, da es im frei-evangelischen Kontext keine entsprechende Debatte gibt, und zum anderen ist FeG-Mitgliedern nur ein Austritt aus der Gemeinde nicht aber der Kirche möglich. Die angepasste Frage lautete also: „In Deutschland wird ja heute viel über Kirchenaustritte gesprochen. Wenn Sie mal ganz persönlich überlegen, was trifft dann am ehesten auf Sie zu?“ Die Auswertung bestätigt einmal mehr die Beobachtung, dass die Hochverbundenen der V. KMU über eine auch im Vergleich zu FeG-Mitglieder besonders stabile Kirchenbindung verfügen (vgl. Abbildung 42) 4. Mit 94,7 % geben von den Hochverbundenen deutlich mehr als unter den FeG-Mitgliedern (78,6 %) und unter allen Evangelischen (73,7 %) an, dass ein Austritt nicht in Frage kommt. Auffällig ist wiederum die nur geringe Differenz zwischen FeG-Mitgliedern und allen Evangelischen. Während die restlichen Angaben bei den Hochverbundenen nahezu vernachlässigbar sind, zeigen sich bei den übrigen Antwortmöglichkeiten zwischen FeG-Mitgliedern und allen Evangelischen etwas unterschiedliche Muster. So finden sich unter allen Evangelischen mit den beiden letzten Antwortmöglichkeiten immerhin 7,3 %, die stark austrittswillig sind, in FeGn nur 1,1 %. Dagegen geben FeG-Mitglieder mit 17,1 % häufiger als evangelische Mitglieder (10,9 %) an, schon einmal über einen Austritt nachgedacht zu haben.

4 Und zwar erneut auch unter statistischer Berücksichtigung der besonderen Sozialstruktur. Die stabile Kirchenbindung besteht also nicht nur, weil die Hochverbundenen eben älter sind oder seltener ledig, sondern sie ist auch einer besonderen Art der Beziehung zur Kirche zuzurechnen.

Grundmuster der Kirchenbindung in Freien evangelischen Gemeinden 100% 90% 80%

94,7% 78,6%

FeG

73,7%

EKD Hochv.

EKD Gesamt

70% 60% 50% 40% 30% 17,1%

20%

10,9% 5%

10%

3,2%

8% 0,3%

0,7%

4,4%

0,4%

2,9%

0% Ein Austritt aus der Gemeinde kommt für mich nicht in Frage

Eigentlich bin ich fast Ich habe schon öfter Wenn ich ehrlich bin, daran gedacht aus der schon entschlossen, es habe ich schon mal daran gedacht, aus der Gemeinde auszutreten – ist nur noch eine Frage der Zeit Gemeinde auszutreten, ich bin mir aber noch letztlich kommt es für nicht ganz sicher mich aber doch nicht in Frage.

Ich werde ganz bestimmt so bald wie möglich austreten

Abbildung 42: Austrittsneigung

Damit stellt sich die Frage nach dieser doch anteilsmäßig recht hohen, inhaltlich aber gleichzeitig schwachen Austrittsneigung unter FeG-Mitgliedern. Eine differenziertere Auswertung ergibt für die FeG-Studie keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Austrittsneigung und der Häufigkeit religiöser Kommunikation und nur eine schwach negative Korrelation (Spearman-Rho: -.124) zwischen Austrittsneigung und dem Gottesdienstbesuch. Unter den Evangelischen Mitgliedern dagegen zeigt sich ein signifikanter negativer Zusammenhang zwischen Austrittsneigung und Häufigkeit religiöser Kommunikation (Spearman-Rho: -.291) sowie ein deutlicherer Effekt bezüglich der Korrelation zwischen Gottesdienstbesuch und Austrittsneigung (Spearman-Rho: -.531). Diese Ergebnisse legen für evangelische Mitglieder mit stärkerer Austrittneigung eine geringere Religiosität, hier operationalisiert in Form von religiöser Kommunikation (private Religionspraxis) und Gottesdienstbesuch (öffentliche Religionspraxis), nahe, während das für FeG-Mitglieder mit stärkerer Austrittsneigung nicht behauptet werden kann. Vermutlich ist demzufolge nicht ein gesunkenes Interesse an Religion oder kirchlichen Angeboten Grund für das vorsichtige Nachdenken über einen Austritt aus der Gemeinde. Stattdessen kann davon ausgegangen werden, dass die mit der organisatorischen Mitgliedschaft inszenierten Momente von Individualisierung und religiösem Markt für immerhin ein Fünftel der Mitglieder den beständigen Hintergrund für ein Nachdenken über einen Austritt und das Ergreifen anderer religiöser Optionen darstellt. Gleichzeitig ist es wohl auf die aktiv erworbene Mitgliedschaft sowie die Einbettung dieser in das soziale Netz der Gemeinde in Form von Freundschaften zurückzuführen, dass diese Austrittsneigung nur eine schwache bleibt. Auch der für die evangelische Landeskirche immer wieder festgestellte negative Zusammenhang zwischen Austrittsneigung und dem Alter (KMU Ges: –.254

203

204

Gemeindemitglied sein

und KMU Hochv.: –.134), also der Tatsache, dass junge Menschen eher dazu tendieren, aus der Kirche auszutreten 5, lässt sich für FeGn nicht bestätigen. Stattdessen ergibt sich für FeG-Mitglieder keine signifikante Korrelation zwischen Alter und Austrittsneigung. Für die evangelische Landeskirche deutet Kretzschmar diesen Befund entwicklungspsychologisch. Die Möglichkeit eines Kirchenaustritts sei Teil des Individuationsprozesses, der eben durch das Offenhalten von Entscheidungen gekennzeichnet ist. 6 Eben dieses Offenhalten ist für Jugendliche bzw. junge Erwachsene im Kontext Freier evangelischer Gemeinden nicht notwendig, da sie in aller Regel noch gar kein Mitglied sind, sondern es erst aktiv werden müssen. Derselbe entwicklungspsychologische Hintergrund würde in FeGn also zu einem verzögerten Eintritt führen und nicht zum Erwägen eines Austrittes, was allerdings in einer Mitgliederbefragung keine Effekt nach sich zieht.

10.1.3 Gottesdienstbesuch und Engagement Nun soll in Grundzügen noch die Beteiligung am Gemeindeleben in Form des Gottesdienstbesuchs und der Mitarbeit in der Gemeinde als Indikatoren für die Grundmuster der Kirchenbindung in FeGn untersucht werden. Der historische Teil und der Blick in die Ordnungen hat verdeutlicht, dass konzeptionell sowohl die regelmäßige Anwesenheit bei Gemeindeveranstaltungen als auch die Mitarbeit in der Gemeinde als elementar für die Beziehung zwischen Gemeindemitglied und Gemeinde gesehen wurden und werden. Nun stellt sich die Frage, ob dies auch der Perspektive der Mitglieder entspricht. Tatsächlich fällt bei der Auswertung der Frage nach der Häufigkeit des Gottesdienstbesuches auf, dass FeG-Mitglieder zu 68 % wöchentlich bzw. zusammengenommen zu 98 % ein- bis dreimal im Monat und häufiger einen Gottesdienst besuchen (vgl. Abbildung 43). Demgegenüber sind es unter den Hochverbundenen der V. KMU 7 mit 71,6 % weniger Mitglieder, die ein- bis dreimal im Monat und häufiger einen Gottesdienst besuchen, und unter allen Evangelischen sind es nur 35,9 %. In der Literatur zu den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Zahlen allerdings mit Vorsicht zu genießen sind. Denn es ist bekannt, dass die Angaben der Mitglieder zur Häufigkeit des Gottesdienstbesuches höher sind als die tatsächlichen durch die Kirchen-

5 Vgl. Kretzschmar, Kirchenbindung und Konturen, 209. 6 Vgl. ebd. 209–210. 7 Auch hier bleibt die Korrelation in nahezu gleicher Ausprägung bestehen, wenn die besondere Sozialstruktur der Hochverbundenen statistisch berücksichtigt wird und zeigt den häufigeren Gottesdienstbesuch der Hochverbundenen auch als Teil ihrer Kirchenbindung und nicht nur im Zusammenhang mit Alter oder Familienstand.

Grundmuster der Kirchenbindung in Freien evangelischen Gemeinden

statistik ermittelten Zahlen und sich diese Angaben daher eher als Ausdruck des Verhältnisses zur Kirche denn als faktische Kirchengangstatistik verstehen lassen. 8

68%

80% 70%

3,8% 6,5% 3%

12,9%

19,6% 20,1% 1,1%

22% 0,5% 7,5%

10%

0,4% 1,3%

20%

22,1%

40% 30%

26,2% 24,7%

50%

20%

40,4%

60%

0% Nie

Seltener

FeG

Mehrmals im Jahr

Ein- bis dreimal im Monat

KMU Hochv.

Einmal in der Mehr als Woche einmal in der Woche KMU Ges.

Abbildung 43: Häufigkeit des Gottesdienstbesuches

Die Statistik des Bundes Freier evangelischer Gemeinden für das Jahr 2017 9 gibt durchschnittlich 42.375 GottesdienstbesucherInnen und damit mehr GottesdienstbesucherInnen als Gemeindemitglieder an. Diese hohe Zahl ist aber auch der regen Teilnahme von Freunden der Gemeinde und Gästen geschuldet. 10 Dementsprechend differenziert die Bundesstatistik erfreulicherweise zwischen der gesamten Gottesdienstbesucherzahl und der Anzahl der Mitglieder, die den Sonntagsgottesdienst besuchen. Hier werden 28.372 Mitglieder angeben, was einem Anteil von 67,8 % der FeG-Mitglieder entspricht. Dieser Anteil deckt sich sehr genau mit dem Anteil der Mitglieder, die in der Befragung angegeben haben, wöchentlich den Gottesdienst zu besuchen (68 %). Für die FeG-Studie ist die Differenz zwischen den Angaben bei der Befragung und dem tatsächlichen Gottesdienstbesuch also deutlich niedriger. Sie ist allerdings dennoch vorhanden, da bei den 67,8 % aus der Bundesstatistik auch die Mitglieder mitgezählt sind, die ein- bis dreimal im Monat den Gottesdienst besuchen. Für das an dieser Stelle avisierte Ziel, die Muster des Verhältnisses der Mitglieder zu ihrer Kirche zu be8 Vgl. Hermelink / Koll u. a., Liturgische Praxis, 91. 9 Siehe 3.1, Fußnote 5. 10 Zur Zugehörigkeitsrolle „Freund“ in FeGn siehe 0 3.2 Die Ortsgemeinde.

205

206

Gemeindemitglied sein

schreiben, können die Daten aber problemlos Verwendung finden und zeigen, dass das Verhältnis in FeGn insgesamt auch aus Perspektive der Mitglieder von einer höher frequentierten Anwesenheit im Gottesdienst geprägt ist als unter den Hochverbundenen und einer deutlich höheren als unter allen Evangelischen. Eine Überprüfung des Zusammenhangs der Häufigkeit des Gottesdienstbesuches und der Verbundenheit bezüglich der drei Ebenen von Kirche zeigt zweierlei (vgl. Abbildung 44). Zum einen korreliert ein häufigerer Gottesdienstbesuch unter allen evangelischen Mitgliedern viel stärker mit der Verbundenheit als sowohl bei den Hochverbundenen der V. KMU als auch bei den FeG-Mitgliedern und kann dort mit einem Korrelationskoeffizienten von .81 (Spearman-Rho in Bezug auf Verbundenheit zur Kirche) als sehr deutlicher Indikator für die Kirchenbindung gelten, während dasselbe für die Hochverbundenen nur eingeschränkt (SpearmanRho: .46) und die Frei-evangelischen nicht gelten kann (Spearman-Rho: .17). Und zweitens zeigt sich erneut, dass sowohl für die Hochverbundenen als auch alle Evangelischen die Kirche als Ganze und für FeG-Mitglieder die Ortsgemeinde die maßgebliche Ebene von Kirche ist, da die Effektstärke der Korrelation dort jeweils am stärksten ist – auch wenn die Unterschiede hier eher gering ausfallen. 1 0,81

0,78

0,8

0,63

0,6 0,4

0,46 0,25

0,31 0,17

0,2

0,15

0,20

0 Verbundeheit Gemeinde

FeG

Verbundeheit Bund / Kirche

KMU Hochv.

Verbundeheit Kreis / Landeskirche

KMU Ges.

Abbildung 44: Korrelation zwischen Gottesdienstbesuch und Verbundenheit

Ein ähnliches Bild ergibt sich für ehrenamtliche Mitarbeit der Mitglieder in Freien evangelischen Gemeinden. Auf die Frage nach einer aktiven Mitarbeit in der Gemeinde gibt mit 80,1 % ein sehr hoher Anteil an FeG-Mitgliedern an, sich ehrenamtlich in der Gemeinde zu beteiligen und nur 19,9 % verneinen dies. Auch in der V. KMU wird nach einer Beteiligung am kirchlichen Leben gefragt. Hier geben unter den Hochverbundenen 11 34,4 % und unter allen evangelischen Mitglie11 Erneut zeigt sich statistisch, dass das Engagement der Hochverbundenen nicht nur im Zusammenhang mit Alter oder Familienstand stehen, sondern eben mit der Art der Kirchenbindung (hier: Verbundenheitsgefühl zur Ortsgemeinde) zusammenhängt.

Grundmuster der Kirchenbindung in Freien evangelischen Gemeinden

Nein 19,9 %

Ja 80,1 %

Abbildung 45: Aktive Beteiligung am kirchlichen Leben – KMU Ges.

Ja 34,4 % Nein 65,6 %

Abbildung 46: Aktive Beteiligung am kirchlichen Leben – KMU Hochv.

der 16,6 % eine Beteiligung im aktiven Sinn an 12, wie er der Frage in der FeG-Studie entspricht (vgl. Abbildung 45, Abbildung 46 und Abbildung 47). Auch hier deckt sich also die empirisch erhobene Mitgliedschaftspraxis mit der Mitgliedschaftskonzeption in FeGn. Wie schon bei der hohen Frequenz des Gottesdienstbesuches ist auch die ehrenamtliche Betätigung unter FeG-Mitgliedern so verbreitet, dass sich bei ihnen nur ein geringer statistischer Korrelationseffekt zwischen der ehrenamtlichen Betätigung und der Verbundenheit zur Gemeinde feststellen lässt (Spearman-Rho: .23, vgl. Abbildung 48). Bei den Hochverbundenen der V. KMU gibt es etwas stär12 Entsprechend der Auswertung der V. KMU zählen hierzu die Angaben „Übernahme von Leitungsaufgaben“, „aktive Mitwirkung in Gottesdiensten“, „Mitwirkung in Chören oder Musikgruppen“ sowie die „regelmäßige“ oder „projektbezogene Mitarbeit“. Vgl. Liskowsky / Wegner, Engagement, 122.

207

208

Gemeindemitglied sein

Ja 16,6 %

Nein 83,4 %

Abbildung 47: Ehrenamtliche Betätigung in der Gemeinde -FeG

kere Korrelationseffekte (Beteiligung und Verbundenheit zur Kirche nach Spearman-Rho: .31), am deutlichsten sind diese aber bei allen Evangelischen (Beteiligung und Verbundenheit zur Kirche nach Spearman-Rho: .54). Damit zeigt sich insgesamt erneut, dass aus der Perspektive der FeG-Mitglieder ihre Beziehung zur Kirche zunächst maßgeblich eine Beziehung zur Ortsgemeinde ist und diese wiederum in einem sehr hohen Maß von der Anwesenheit in dieser Gemeinde, zum Beispiel in Form einer hohen Gottes dienstbesuchsfrequenz, und zu einem sehr hohen Anteil von der Beteiligung an der Gemeindearbeit geprägt ist. Gleichzeitig sind diese beiden Aspekte der Beziehung zur Gemeinde in FeGn so weit verbreitet, dass sie nur in einem überraschend geringen Zusammenhang mit dem Gefühl der Verbundenheit der Mitglieder zur Gemeinde stehen. Das hohe Engagement lässt sich außerdem mit der Finanzierungsform in FeGn in Verbindung bringen. Indem die Ortsgemeinden sich ausschließlich über 0,6

0,54

0,52

0,5 0,36

0,4 0,3

0,31 0,23

0,24

0,20 0,14

0,2 0,1 0 Verbundeheit Gemeinde

FeG

Verbundeheit Bund / Kirche

KMU Hochv.

Verbundeheit Kreis / Landeskirche

KMU Ges.

Abbildung 48: Korrelation zwischen Engagement und Verbundenheit

Grundmuster der Kirchenbindung in Freien evangelischen Gemeinden

Spenden finanzieren, beschränkt sich die Anzahl der professionellen Kirchenfrauen und -männer in den meisten Gemeinden auf, wenn überhaupt, eine / n hauptamtlich Angestellte / n. Damit sind besonders viele Arbeitsbereiche der Gemeinde direkt an dieses Engagement der Mitglieder gekoppelt, von der Pflege der Gemeinderäumlichkeiten, über das Angebot von Kinder- und Jugendarbeit bis hin zur Gestaltung des Gottesdienstes selbst. Als empirisches Indiz für diesen Zusammenhang zwischen Engagement und Angeboten der Gemeinde können die Angaben der Befragten der FeG-Studie zu den Motiven des finanziellen Engagements aufgeführt werden. Dazu wurden die ProbandInnen gefragt: „Uns interessiert noch, aus welcher Motivation heraus Gemeindemitglieder für die Gemeinde spenden. Welche der folgenden Gründe treffen auf Sie persönlich am ehesten zu? Sie können dabei auch mehrere Antworten auswählen.“ Das am häufigsten genannte Item ist dabei mit 96,9 % „Ich will die Ziele der Gemeinde unterstützen.“, sodann mit 94,6 % „Ich spende aus Dankbarkeit für das, was ich habe.“, mit 91 % „Das ist eine bewusste Glaubensentscheidung.“ und mit 85,2 % „Ich spende, weil in der Bibel dazu aufgefordert wird.“ (vgl. Abbil-

Ich will die Ziele der Gemeinde unterstützen.

96,9%

3,1%

Ich spende aus Dankbarkeit für das, was ich habe.

94,6%

5,4%

Das ist eine bewusste Glaubensentscheidung.

91,0%

Ich spende, weil in der Bibel dazu aufgefordert wird.

85,2%

Spenden ist meine Pflicht als Gemeindemitglied. Man bekommt ja auch gewisse Leistungen dafür.

14,8%

54,9% 27,2%

Das macht man einfach so. 12,7% Das Spenden lindert mein schlechtes Gewissen ein wenig.

9,0%

6,9%

45,1% 72,8% 87,3% 93,1%

0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90%100% trifft zu

Abbildung 49: Spendenmotivation

trifft nicht zu

209

210

Gemeindemitglied sein

dung 49). Danach fallen „Spenden ist meine Pflicht als Gemeindemitglied.“ mit 54,9 %, „Man bekommt ja auch gewisse Leistungen dafür.“ mit 27,2 %, „Das macht man einfach so.“ mit 12,7 % sowie „Das Spenden lindert mein schlechtes Gewissen ein wenig“ mit 6,9 % deutlich zurück. Es erhält also eben jene Verknüpfung von, in diesem Fall finanziellem, Engagement und den Zielen, Möglichkeiten und Angeboten der Gemeinde die höchste Zustimmung, gefolgt von Motiven der persönlichen Frömmigkeitspraxis. Demgegenüber treten rechtlich-institutionelle sowie traditionelle Motive, wie das der Dienstleistung, deutlich zurück. Neben einer stark auf den Glauben bezogen, intrinsischen Motivlage scheint Mitgliedern also besonders bewusst zu sein, dass die Ziele der Gemeinde direkt von ihrem (finanziellen) Engagement abhängen.

10.2 Ideelle Kirchenbindung Nach dieser ersten Analyse zur Kirchenbindung der Mitglieder Freier evangelischer Gemeinden im Blick auf die affektive Ebene und die Mitgliedschaftspraxis, wird nun der Fokus auf die ideelle Ebene der Kirchenbindung gelegt und danach gefragt, welche Bilder und Vorstellungen die FeG-Mitglieder mit ihrer Mitgliedschaft und ihrer Kirche verbinden. Neben der Frage danach, was typisch freievangelisch sei und der Frage nach den Erwartungen an einen Pastor bzw. eine Pastorin, erweist sich hier zusätzlich noch die in der FeG-Studie gestellte Frage nach der Leitung des Abendmahls und damit nach der liturgischen Partizipation der Mitglieder als aufschlussreich.

10.2.1 Typisch frei-evangelisch Als erstes nun also der Blick auf die Frage, was aus Sicht der FeG-Mitglieder typisch frei-evangelisch ist, wobei den Befragten nur Zustimmung oder Ablehnung der Items möglich war. Auch diese Frage wurde zu Vergleichszwecken aus der V. KMU übernommen und für den frei-evangelischen Kontext um drei Items erweitert. Zum einen wurden die beiden im ersten Buchteil historisch-analytisch herausgestellten Merkmale einer frei-evangelischen Gemeindemitgliedschaft „Mitarbeit in der Gemeinde“ und „Teilnahme an Gruppen in der Gemeinde“ und zum anderen ein Item aus der IV. KMU ergänzt, das ebenfalls für den frei-evangelischen Kontext besonders wichtig schien („. . . sich an der Botschaft Jesu orientiert“) 13. Um den Umfang der Frage für die Telefoninterviews durch diese Ergän13 Vgl. Huber / Friedrich u. a., Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, 440.

Ideelle Kirchenbindung

zungen nicht zu erhöhen, wurden zwei als weniger bedeutsam eingeschätzte Items gestrichen („. . . sich anderen Menschen, die evangelisch sind, verbunden fühlt“ und „. . . sich dafür einsetzt, dass andere Menschen ein gutes Leben haben“). Die Auswertung zur durchschnittlich ausgewählten Anzahl an Items je befragter Person ergibt für FeG-Mitglieder (8,1 von 10) und hochverbundene Evangelische (7,0 von 9) erwartungsgemäß eine höhere Ausprägung als bei allen Evangelischen (5,5 von 9). Die FeG-Mitglieder und die Hochverbundenen der V. KMU halten also durchschnittlich mehr Items für typisch evangelisch bzw. frei-evangelisch, was wiederum für eine intensivere und gleichzeitig anspruchsvollere Kirchenbindung spricht. Auch die inhaltliche Auswertung zeigt für die ideelle Dimension der Kirchenbindung zwei sehr unterschiedliche Profile, wobei sich hier nun FeG-Mitglieder von sowohl den Hochverbundenen als auch allen Evangelischen unterscheiden (vgl. Abbildung 50). Es lassen sich jeweils drei mit einigem Abstand meistgenannte Items ausmachen. Unter den FeG-Mitgliedern gilt als besonders typisch frei-evangelisch, dass man „. . . sich an der Botschaft Jesu orientiert“ (99,6 %), „. . . seinen Glauben in der Öffentlichkeit vertritt“ (94,1 %) und „. . . die Bibel liest“ (93,6 %). Dabei fällt auf, dass sich diese meistgenannten Items alle auf die individuelle Frömmigkeit bzw. Glaubensausübung beziehen und damit der besonderen Inszenierung der subjektiven Dimension des Glaubens in der Mitgliedschafts- und Kirchenkonzeption in FeGn entsprechen. Gleichzeitig lässt sich für diese individuelle Frömmigkeit in FeGn, auch aus Perspektive der Mitglieder, eine besonders betonte Christus- und Bibel-Frömmigkeit konstatieren, wie sie ebenfalls in der Mitgliedschaftsordnung zum Ausdruck kommt: Mitglied kann werden, „wer bekennt, dass Jesus Christus sein persönlicher Retter und Herr geworden ist“ 14 und: die gemeinsame, verbindliche Grundlage „für Glauben, Lehre und Leben in Gemeinde und Bund ist die Bibel, das Wort Gottes.“ 15 In der IV. KMU erreichte das Item zur Orientierung an der Botschaft Jesu lediglich 50 % (Evangelische West) bzw. 56 % (Evangelische Ost), das Lesen der Bibel befinden in der V. KMU 52,9 % der Hochverbundenen und 30,7 % aller Evangelischen für typisch evangelisch. Zuletzt gilt den befragten FeG-Mitgliedern auch das Vertreten dieses subjektiven Glaubens in der Öffentlichkeit als besonders typisch frei-evangelisch und zeigt damit den für Freikirchen insgesamt typischen starken missionarischen Impuls, während in der V. KMU immerhin 70 % der Hochverbundenen und nur 45,8 % aller Evangelischen dieses Item für typisch evangelisch halten. Neben diesen drei Items finden etwas dahinter auch noch das Leben nach den 10 Geboten (85,5 %), die Mitarbeit in der Gemeinde (85,4 %) und die Teilnahme am Abendmahl (84,4 %) hohe Zustimmungswerte, womit nach der subjektiven 14 BFeG, Gemeindeordnung, 1. Vgl. dazu auch 3.2 Die Ortsgemeinde. 15 BFeG, Verfassung, 1. Vgl. 3.3 Der Bund Freier evangelischer Gemeinden.

211

212

Gemeindemitglied sein

Typisch frei-evangelisch / evangelisch ist, dass man... 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90%100% 99,60%

sich an der Botschaft Jesu orientiert. seinen Glauben in der Öffentlichkeit vertritt. die Bibel liest.

70,00%

45,80% 30,70%

93,60%

52,90%

85,50% 80,80%

nach den 10 Geboten lebt. 62,50%

85,40%

in der Gemeinde mitarbeitet. am Abendmahl teilnimmt.

39,20%

74,90% 67,20%

sich bemüht, ein anständiger Mensch zu sein.

getauft ist. sich anderen Menschen, die evangelisch sind, verbunden fühlt sich dafür einsetzt, dass andere Menschen ein gutes Leben haben FeG

KMU Hochv.

84,40%

59,90%

regelmäßig an den Gruppen in der Gemeinde teilnimmt.

Gemeindemitglied ist.

94,10%

95,10% 82,80%

65,20%

89,20% 80,70%

62,80%

54,70%

93,00% 85,00% 80,00%

64,50%

82,00%

KMU Ges.

Abbildung 50: Typisch (frei-)evangelisch

Dimension des Glaubens dann die ethische, die liturgische und die partizipatorische Dimension der Kirchenbindung in den Blick kommt. Insbesondere die beiden letzteren zeigten sich auch schon in der ersten Auswertung zum Gottesdienstbesuch und zur Mitarbeit und können damit einmal mehr als wichtige Bestandteile frei-evangelischer Kirchenbindung festgehalten werden. Zwischen den der Ortsgemeinde Hochverbundenen und allen Evangelischen der V. KMU lassen sich für diese ideelle Dimension der Kirchenbindung über-

Ideelle Kirchenbindung

raschenderweise keine kategorialen Unterschiede ausmachen, sondern lediglich graduelle. 16 Beide Gruppen nennen das Bemühen ein anständiger Mensch zu sein (Hochv.: 95,1 %, Ges.: 82,8 %), die Taufe (Hochv.: 93 %, Ges.: 85 %) sowie die Kirchenmitgliedschaft (Hochv.: 89,2 %, Ges.: 80,7 %) am häufigsten. Damit gelten zwei rechtlich-formale und ein ethisch orientiertes Kriterium also besonders typisch evangelisch, wobei unter den Hochverbundenen das ethisch orientierte sogar an erster Stelle steht und dort die Zustimmungswerte eben insgesamt höher ausfallen. Gleichzeitig sind diese drei besonders typisch evangelischen Items diejenigen, die unter den FeG-Mitgliedern die geringste Zustimmung erfahren. Damit zeigen sich doch zwei sehr unterschiedliche Bilder von Kirche bzw. Gemeinde, die mit der Bindung an diese Kirche bzw. Gemeinde assoziiert werden: auf Seiten der evangelischen Großkirche implizieren die Antworten beider Gruppen vor allem ein institutionell-ethisches Bild von Kirche, während FeG-Mitglieder die Bindung an die Gemeinde maßgeblich auf den subjektiven Glauben beziehen. Dieser Befund kann zumindest für FeGn als empirische Bestätigung der unter „5.2.1 Freikirchen und die vertikale Differenzierung“ aufgestellten Thesen gelten, dass diese sich durch die besondere Betonung des Zusammenhangs von Mitgliedschaft und individuellem Gottesglauben differenzierungs- und säkularisierungstheoretisch als der Versuch eines stärker selbstreferentiellen und damit unter den Bedingungen der Moderne und Spätmoderne stabileren Religionssystems verstehen lassen.

10.2.2 Erwartungen an Gemeinde Für die Frage nach den Erwartungen an Kirche, die ebenfalls mit den Vorstellungen von Kirchen bzw. Kirchenbindung korrespondieren und dementsprechend als nächstes Beachtung finden, spielt erneut die maßgebliche Bezugsebene von Kirche eine große Rolle. So wurde in der V. KMU diese Erwartung als Erwartung an die Kirche formuliert („Die evangelische Kirche sollte. . . “) 17 und abgefragt. Ein solches Vorgehen ist für den frei-evangelischen Kontext nicht denkbar, da hier, wie in den Ordnungen beschrieben und auch aus Perspektive der Mitglieder bestätigt, die maßgebliche Ebene von Kirche die Ortsgemeinde darstellt. Deshalb wurde auch hier auf die Fragestellung in der IV. KMU rekurriert, die die Erwar-

16 Erneut sind die Unterschiede zwischen den Hochverbundenen und allen Evangelischen nicht lediglich auf das spezielle sozialstrukturelle Profil der Vergleichsgruppe zurückzuführen, da wiederum die Korrelation zwischen Art der Kirchenbindung (gemessen am Verbundenheitsgefühl zur Ortsgemeinde) und Ausprägung der Items auch unter statistischer Berücksichtigung jener Faktoren bestehen bleibt. 17 Vgl. Bedford-Strohm / Jung, Vernetzte Vielfalt, 474.

213

214

Gemeindemitglied sein

tungen im Jahr 2002 zusätzlich auch noch als Erwartungen an den Pfarrer bzw. die Pfarrerin formulierte. Diese Fragestellung, unter Verwendung der Aufgaben des Pfarrers / der Pfarrerin als Operationalisierung der Erwartung an die Gemeinde 18, ließ sich problemlos in den frei-evangelischen Kontext transferieren. Dafür wurden für das Setting Telefoninterview wiederum zwei weniger wichtige Items gestrichen („das Gespräch mit den nicht-christlichen Religionen führen“ und „Gemeindemitgliedern helfen, eigene Interessen und Fähigkeiten in Kirche und Gemeinde einzubringen“) und einige andere sprachlich etwas dem frei-evangelischen Kontext angepasst. In der FeG-Studie fand auch bei dieser Frage eine fünfstufige Skala Anwendung, während in der IV. KMU eine siebenstufige Skala verwandt wurde. Dementsprechend ist die Vergleichbarkeit der Ergebnisse deutlich eingeschränkt, zumal für diesen Vergleich nur die in der Veröffentlichung zur IV. KMU aufgeführte Grundauszählung zur Frage zur Verfügung steht. Und dort sind nur die Ausprägungen sechs und sieben (zusammengefasst zur Kategorie „wichtig“) und die Ausprägungen eins und zwei (zusammengefasst zur Kategorie „unwichtig“) beschrieben (vgl. Abbildung 51 und Abbildung 52). Dennoch lassen sich insbesondere aus der Reihenfolge der Items nach Zustimmung einige Tendenzen erkennen. Unter den Befragten der IV. KMU erhalten vor allem die kasuell-liturgischen und seelsorgerlich-diakonischen Items sehr hohe Zustimmungswerte. Pfarrer bzw. Pfarrerin und damit auch die Kirche erhalten von den Mitgliedern vor allem die Aufgabe, Menschen an den Wendepunkten des Lebens zu begleiten (81 %) und darüber hinaus Gottesdienste zu feiern (72 %) sowie die christliche Botschaft zu verkündigen (73 %). Auch mit Menschen über ihre Nöte zu sprechen (81 %) und sich um Probleme von Menschen in sozialen Notlagen zu kümmern (77 %), gehört zu den Kernaufgaben von Kirche. Und zuletzt erhält mit „im Lebenswandel ein Vorbild für die Gemeinde sein“ ein ethisches Item eine hohe Zustimmung (71 %). Demgegenüber fallen die politischen, partizipatorischen und geselligkeitsbezogenen Items deutlich zurück. 19 In der Perspektive der FeG-Mitglieder stellt sich die Gewichtung der Aufgaben eines Pastors bzw. einer Pastorin etwas anders dar. So findet sich zwar ebenfalls die liturgisch-kasuelle Ebene der Kirchenbindung mit den Items „die christliche Botschaft verkündigen“ (98,8 %) und „Menschen an den Wendepunkten des Lebens begleiten“ (92,7 %) an der Spitze der meistgenannten Items, diese erhält allerdings durch die deutliche Nachordnung der Gottesdienstgestaltung (59 %) eine 18 Vgl. dazu „Kirche als heilige Person“ in der Kirchentheorie von Hauschildt und Pohl-Patalong: Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche, 124–126. 19 Wobei immer wieder mit Recht darauf hingewiesen wurde, dass nur relativ von niedrigeren Werten gesprochen kann. Denn absolut bedeuten auch Zustimmungswerte von 31 % noch, dass fast jedes dritte Mitglied die Erwartung hat, dass der Pfarrer bzw. die Pfarrerin regelmäßige Hausbesuche macht. Vgl. auch: Kretzschmar, Kirchenbindung und Konturen, 212.

Ideelle Kirchenbindung 0%

20%

40%

Die christliche Botschaft verkündigen

60%

80%

100%

98,8%

1,2% 1,2%

Menschen an den Wendepunkten des Lebens begleiten zum Beispiel durch Kindersegnung, Biblischen Unterricht, Taufe, Hochzeit und…

92,7%

6,1% 1,0%

Andere haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter/innen an der Verantwortung für die Gemeindearbeit beteiligen

91,5%

7,4% 1,5%

Mit Menschen über ihre Nöte sprechen

89,6%

9,0% 1,8%

In ihrem Lebenswandel ein Vorbild für die Gemeinde sein

86,4%

Sich mit Gemeindemitgliedern treffen

77,4%

Sich um Probleme von Menschen in sozialen Notlagen kümmern

65,6%

Sich um eine ansprechende Gestaltung der Gottesdienste bemühen

Stellung nehmen zu politischen Konflikten

Wichtig

11,9%

27,2%

59,0%

28,6%

Teils/teils

18,2%

27,2%

41,0%

4,4%

7,1%

13,8%

30,4%

Unwichtig

Abbildung 51: Aufgaben eines Pastors / einer Pastorin (FeG)

etwas andere Färbung. So scheint es sich hier also mehr um eine kasuell-homiletische Erwartung an Pastor / Pastorin zu handeln, während knapp die Hälfte der FeG-Mitglieder der Liturgie als pastoraler Aufgabe unentschieden (27,2 %) oder sogar ablehnend (13,8 %) gegenüberstehen. Darin impliziert findet sich die freievangelische Tradition und bis heute gängige Praxis, dass liturgische Aufgaben vor allem von Laien übernommen werden, wie es sich im nächsten Abschnitt bei der Feier des Abendmahls noch präzisieren wird. Gemäß dieser Beteiligung von Laien findet sich an der dritten Stelle das Item „andere haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter / innen an der Verantwortung für die Gemeindearbeit beteiligen“ (91,5 %). Damit ist aus Perspektive der Mitglieder die partizipatorische Ebene der

215

216

Gemeindemitglied sein 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90%100% Menschen durch Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung an den Wendepunkten des Lebens begleiten Mit Menschen über ihre Nöte sprechen

Sich um Probleme von Menschen in sozialen Notlagen kümmern

Die christliche Botschaft verkündigen

Sich um eine ansprechende Gestaltung der Gottesdienste bemühen In ihrem Lebenswandel ein Vorbild für die Gemeinde sein Andere haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter/innen an der Verantwortung für die Gemeindearbeit beteiligen Gemeindemitgliedern helfen, eigene Interessen und Fähigkeiten in Kirche und Gemeinde einzubringen Das Gespräch mit den nicht-christlichen Religionen führen Regelmäßige Hausbesuche machen (Geburtstage, familiäre Anlässe)

Stellung nehmen zu politischen Konflikten

Wichtig (6+7)

Unwichtig (1+2)

Abbildung 52: Aufgaben eines Pfarrers / einer Pfarrerin (IV. KMU)

Kirchenbindung neben der kasuell-homiletischen fundmental für ihre Beziehung zur Gemeinde. Die seelsorgerlichen (89,6 %) und ethischen (86,4 %) Items sind ebenfalls häufig genannt, die geselligkeitsbezogene (77,4 %) und die diakonische (65,6 %) Ebene fallen demgegenüber etwas zurück. Den letzten Platz nimmt sowohl in der FeG-Studie als auch in der IV. KMU die politische Dimension ein. Während Kretzschmar aus den Erwartungen der evangelischen Mitglieder insbesondere im Blick auf die Kasualien die „kirchliche Dienstleistung im Modus der

Ideelle Kirchenbindung

Passivität“ 20 herausstellt, kann diese für die Kirchenbindung in FeGn vor allem bezüglich der diakonischen Dimension nur deutlich zurückhaltender behauptet werden. Stattdessen tritt in FeGn – durch inzwischen zahlreiche Befunde bestätigt – verstärkt die Kirche als Beteiligungskirche in den Fokus, was nicht nur kirchentheoretisch, sondern auch pastoraltheologisch höchst folgenreich ist. Während die pastoraltheologischen Konsequenzen hier nicht ausführlich bearbeitet werden können 21, findet die Frage nach der Beteiligung der Mitglieder nun sowohl im Blick auf die liturgische Partizipation wie auch auf das Engagement der Mitglieder insgesamt noch eine nähere Betrachtung.

10.2.3 Liturgische Partizipation beim Abendmahl Aufgrund der zentralen theologischen Stellung des Abendmahls auch in Freien evangelischen Gemeinden, die gerade als Abendmahlsgemeinschaften ihren Anfang nahmen 22, kann das Abendmahl als kirchentheoretisch besonders aufschlussreich gelten. Auch in der FeG-Studie gaben mit 84,4 % ein sehr großer Teil der Befragten an, eine Teilnahme am Abendmahl sei typisch frei-evangelisch. Christian Grethlein bemerkt zur Abendmahls- und Taufpraxis: „Sie galten von Anfang an in den christlichen Kirchen als konstitutiv. Inhaltlich lässt sich [. . . ] beim Abendmahl das leitende Konzept von Gemeinschaft erfassen. Mit dem Aufbau und Struktur der Liturgien ist direkt die Herausbildung von Ämtern bzw. Diensten verbunden, mit denen in der Regel die Leitung der Gemeinde verknüpft ist.“ 23 Auch für Jan Hermelink spielen der Gottesdienst und seine Rituale eine maßgebliche Rolle für die Inszenierung des Glaubens 24. Eben diese Inszenierung des Glaubens im Abendmahl lässt sich in FeGn allerdings nicht über mehr oder weniger festgelegte und verschriftlichte Abendmahlsliturgien analysieren, da diese in FeGn nicht existieren. Deshalb wurden die ProbandInnen der FeG-Studie nach der Leitung des Abendmahls in ihrer Gemeinde gefragt, um daraus Rückschlüsse auf die liturgische Partizipation und damit gleichzeitig insgesamt auf Leitung und Partizipation in FeGn ziehen zu können. Dafür wurden den Befragten die vier in FeGn gängigen Möglichkeiten 20 Ebd. 213. 21 Es ist nicht nur diese Besonderheit des frei-evangelischen Kirchenmodells, die eine pastoraltheologische Untersuchung in spezifisch frei-evangelischer Perspektive wünschenswert und notwendig erscheinen lässt. 22 Vgl. Kapitel 2.2 Entstehung einer Bewegung – Evangelischer Brüderverein, Abendmahlsgemeinschaften, Hermann Heinrich Grafe, Kirchenaustritt und Gründung der ersten Freien evangelische Gemeinde (ab 1854). 23 Grethlein, Kirchentheorie, 50. 24 Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation, 116–119.

217

218

Gemeindemitglied sein

bezüglich der Leitung der Abendmahlsfeier zur Auswahl gestellt: Leitung vorwiegend durch den Pastor / die Pastorin, Leitung vorwiegend durch ein Mitglied der Gemeindeleitung, Leitung vorwiegend durch ein Gemeindemitglied oder keine dieser Möglichkeiten und damit gleichzeitig keine formal oder informell institutionalisierte Leitung des Abendmahls. Die Auswertung der Daten zeigt zunächst, dass auch diese Angaben nicht im Sinne einer Abendmahlsstatistik interpretiert werden dürfen, da die Befragten in keiner der ausgewählten Gemeinden homogene Antworten gaben. Die Tatsache, dass Mitglieder derselben Gemeinde also sowohl angeben können „das Abendmahl wird vorwiegend vom Pastor geleitet“ als auch „das Abendmahl wird unterschiedlich geleitet“ weißt auf die nicht zu unterschätzende rezeptionsästhetische Dimension der Inszenierung hin. Entscheidend für die Beantwortung der Frage ist nicht nur die faktische Leitung des Abendmahls, sondern die bei den Befragten erzielte Wirkung sowie ihre Interpretation. Die Antworten auf diese Frage müssen dementsprechend also unter Einschluss dieser rezeptionsästhetischen Ebene interpretiert werden.

Leitung des Abendmahls 40% 35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0%

36,8% 31,7% 25,1%

6,4%

Der Pastor, die Pastorin

Ein Mitglied der Gemeindeleitung

Ein Gemeindemitglied

Unterschiedlich

Abbildung 53: Leitung des Abendmahls

Dabei erbringt die Auswertung nicht nur innerhalb der Gemeinden sondern auch im Blick auf den gesamten Bund ein recht diverses Bild (vgl. Abbildung 53): 36,8 % der Befragten gaben „Unterschiedlich“ an und zeigen damit, dass in den meisten Fällen tatsächlich keine institutionalisierte Form der Abendmahlsleitung erlebt wird, 6,4 % gaben eine Leitung des Abendmahls vorwiegend durch ein Gemeindemitglied, 25,1 % vorwiegend durch ein Mitglied der Gemeindeleitung und 31,7 % vorwiegend durch den Pastor bzw. die Pastorin an. Damit ist aus der Perspektive von 56,8 % der Befragten die Leitung des Abendmahls an eine Leitungsaufgabe geknüpft, wobei davon nur etwas mehr als die Hälfte den Pastor / die Pastorin betrifft. Andersherum liegt insgesamt aber nur bei einem Drittel der Befragten die Leitung des Abendmahls vorwiegend beim Pastor / bei der Pastorin.

Ideelle Kirchenbindung

3,8%

15% 10% 5%

39,1%

37,6% 23,5%

29,0%

32,2%

10,2%

20%

1,3%

15,9%

25%

20,0%

30%

26,4%

35%

30,5%

40%

32,2%

45%

15,9%

50%

39,3%

43,0%

Kirchentheoretisch lassen sich aus diesem Befund zwei Schlüsse ziehen: zum einen evoziert die Inszenierung des Glaubens in Form des Abendmahls in FeGn offensichtlich bei ihren Mitgliedern mehr ein Bild von Vielfalt als eines von Einheit. Kirche erscheint damit eher in ihrer Kontextualität und „situationsgebundenen Besonderheit“ 25, während die Raum und Zeit übergreifende Universalität und Einheit von Glaube und Kirche in den Hintergrund rücken. Das wiederum entspricht auch der Beobachtung, dass die Kirchenbindung der Mitglieder zur Gesamtkirche deutlich hinter die Bindung zur Ortsgemeinde zurücktritt. Zum zweiten zeugen diese Ergebnisse auch von der intensiven Inszenierung liturgischer Partizipation der FeG-Mitglieder an diesem für die Inszenierung des Glaubens so entscheidendem Punkt. Damit verstärkt sich nicht nur der Eindruck der Beteiligungskirche, sondern es zeigt sich in der hohen Beteiligung von Laien am Zentrum des gottesdienstlichen Lebens die Betonung der persönlich-individuelle Glaubensäußerung und die Vorordnung der Authentizität gegenüber der theologischen Richtigkeit und Universalität.

0% Der Pastor/ die Pastorin West

Ein Mitglied der Gemeindeleitung Ost

Ein Gemeindemitglied Süd

Unterschiedlich Nord

Abbildung 54: Leitung des Abendmahls nach Region

Gleichzeitig ist innerhalb dieser Momente der Inszenierung des christlichen Glaubens, wie sie als spezifisch für die gesamte Kirchenform Freie evangelische Gemeinden gelten kann, doch auch ein erheblicher Zusammenhang zwischen der Form des Abendmahls und äußeren Faktoren wie Gemeindegröße, Stadtgröße und Region festzustellen. Während in Dörfern und Kleinstädten die Leitung des Abendmahls vor allem in den Händen des Leitungskreises liegt (40,4 %) und nur 25 Ebd. 119.

219

38,5%

35,0%

36,1%

40%

40,4%

45%

35,5%

38,4%

Gemeindemitglied sein

10%

5,2%

5,3%

15%

8,1%

20%

18,2%

25%

21,4%

30%

17,8%

35%

5% 0% Der Pastor/ die Pastorin

Ein Mitglied der Gemeindeleitung

Kleinstadt

Ein Gemeindemitglied

Mittelstadt

Unterschiedlich Großstadt

20%

5,6%

15% 10%

38,2%

5,0%

12,8%

20,9%

25%

29,6%

35%

27,3%

31,0%

40%

25,2%

38,1%

45%

30%

42,6%

Abbildung 55: Leitung des Abendmahls nach Stadtgröße

23,6%

220

5% 0% Der Pastor/ die Pastorin Klein (5000€

4000-5000€

3000-4000€

2000-3000€

1000-2000€

5000€

4000-5000€

3000-4000€

2000-3000€

1000-2000€

5000€

4000-5000€

3000-4000€

2000-3000€

1000-2000€