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German Pages 334 [332] Year 2015
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hrsg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus
Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Ralf Schnell.
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hrsg.)
Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus
Medienumbrüche | Band 5
Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
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INHALT Michael Lommel/Volker Roloff
Einleitung ....................................................................................................... 7
I. VOM THEATER ZUM FILM Henri Béhar
Le cinéma de Roger Vitrac .......................................................................... 17 Franziska Sick
Yvan Golls surreales Filmtheater................................................................. 39 Nanette Rißler-Pipka
Picassos surrealistisches Theater.................................................................. 65 Helga Finter
Georges Batailles unsichtbarer Film: Das Szenario La maison brûlée........ 85 Inga Lemke
Theater/Film – der Konflikt Artaud/Dulac als Paradigma......................... 109 Daniel Winkler
Marcel Pagnol auf dem Weg vom Theater zum Film: Marius, Fanny, César ................................................................................ 133 Volker Roloff
Cocteaus Theaterfilme zwischen Surrealismus und Existentialismus ....... 159 Michael Lommel
Schon tot? Szenen des Blicks bei Sartre .................................................... 173
II. FILM Hanno Ehrlicher
Überholte Körper? Mensch und Mechanik im Avantgardefilm der 20er Jahre ............................................................................................. 185 Franz-Josef Albersmeier
Zwischen den Künsten und Medien (Film/Tanz/Theater) Zwischen den Fronten (Tradition/Avantgarde) René Clair: Entr’acte....... 215 Marion Tendam
Ein Avantgardefilm im Medienumbruch – René Clairs erster Tonfilm Sous les toits de Paris ........................................................ 235 Oliver Fahle
Dimension und Schichtung – Raumkonzepte des französischen Films in den 20er und frühen 30er Jahren............................................................ 255 Klaus Kreimeier
Raumauflösung und Ich-Verlust Phantasmatische Bilder in Georg Wilhelm Pabsts L’Atlantide ................. 269 Daniel Serceau
L’éthique théâtrale de Jean Renoir............................................................. 281 Isabel Maurer Queipo
La Règle du jeu – eine surrealistische Phantasie von Jean Renoir?!.......... 293 Kirsten von Hagen
Vorhang auf – für die Ohrringe des Herrn Ophüls .................................... 309 Zu den Autorinnen und Autoren ................................................................ 327
MICHAEL LOMMEL/VOLKER ROLOFF
EINLEITUNG Die im Titel dieses Bandes zusammengeführten Begriffe Theater, Film, Surrealismus, Existentialismus gehören zu den wichtigsten Kategorien und Angelpunkten, die eine Orientierung über die Literatur- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts ermöglichen. So scheint es zumindest – aber Epochenbegriffe, ästhetische Kategorien und die damit verbundenen Definitions- und Abgrenzungsversuche sind nichts anderes als Spielformen einer ars combinatoria, die durch ständigen Wandel, durch die Offenheit, Vielfalt und Subjektivität der Perspektiven gekennzeichnet sind. Es sind, wie Paul de Man anmerkt, „Metaphern für figurale Muster“, die als solche zu immer neuen Lektüren und Interpretationen verführen, mit andern Worten Konstrukte, die ihre Dekonstruierbarkeit schon in sich tragen.1 So führt die erstaunliche Aktualität des Surrealismus – mit den äußerst erfolgreichen Inszenierungen der großen Ausstellungen in Paris, Düsseldorf, Zürich, London, München – zu einem veränderten Bild, in dem, wie Peter Bürger kritisch anmerkt, bestimmte Elemente und Positionen, die ursprünglich im Surrealismus eine Rolle spielen, fehlen: z.B. die Subversivität, der Schock, das radikale politische Engagement, die, wie Bürger es nennt, „existentielle Verzweiflung der Surrealisten“.2 Aber in der postmodernen Retrospektive werden zugleich auch andere figurale Muster durchschaubar, die mit den Lebensformen und dem Medienumbruch der Gegenwart, dem Prozess der Medialisierung der Wirklichkeit korrespondieren – z.B. mit der, wie Werner Spies bemerkt, alltäglichen Erfahrung, dass die sogenannte Realität einer ständigen Metamorphose unterliegt, die „alle Identitäten sprengt und Abgründe aufreißt“.3 Die
1 Vgl. Müller, Harro: „Kleist, Paul de Man und Deconstruction. Argumentative Nach-Stellungen“, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hrsg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 89. 2 Bürger, Peter: „Wider die Meisterwerke. Im Plan des Surrealismus stand ursprünglich mehr als Kunst: Einwände gegen Werner Spies’ Düsseldorfer Schau“, in: Lendemains, Nr. 107/108 (2002), S. 229-231, hier S. 230. 3 Spies, Werner: „Der vorauseilende Triumph der Postmoderne“, in: Süddeutsche Zeitung, 11. Juli 2002.
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Wirklichkeit erscheint als ‚figure‘ eines subjektiven und kollektiven Imaginären, d.h. mehrdeutig, brüchig und fragmentarisch.4 Sie besteht aus, wie schon Breton formuliert, „débris déformés des désirs et des imaginations“.5 Die Surrealisten sind in dem Maße, in dem sie diese existentielle Verunsicherung, vor allem den Zweifel an dem europäischen Rationalismus zum Ausdruck bringen, ihrer Zeit voraus; und damit auch einem Existentialismus nahe, der seinerseits in seiner Kritik einer zweckrationalen bürgerlichen Gesellschaft inzwischen wieder interessant ist und zu neuen Kombinationen und Bewertungen reizt. Dabei geht es nicht um historische Objektivität oder Rechtfertigung, sondern immer nur um den offenen, kreativen Prozess der Entdeckung und Wiederentdeckung jener figuralen Muster, die uns jetzt, aus der Perspektive und den Problemstellungen der Gegenwart, erneut faszinieren, zum Nachdenken und Nachlesen anregen – vor allem im Hinblick auf die mediengeschichtlichen Aspekte, die Medienumbrüche, die sowohl den Surrealismus als auch den Existentialismus geprägt haben, bisher aber zu wenig untersucht wurden. Die Siegener Forschungsprojekte zur „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ und zur Mediengeschichte des Existentialismus, in deren Rahmen dieser Band entstanden ist, versuchen dazu einen Beitrag zu leisten. Geschichte (und Mediengeschichte) kann immer nur Rekonstruktion aus dem Blickwinkel der Gegenwart sein. Dies gilt auch für den hier verfolgten Leitgedanken, dass der Film, in seiner engen Beziehung zum Theater, besondere Formen der Theatralität und Inszenierung, eine Art „Meta-Theatralität“ bzw. „surcroît de théatralité“6 entwickelt, deren weitreichende Konsequenzen insbesondere für die französische Film- und Theatergeschichte bisher kaum erkannt wurden. Zu den Gemeinsamkeiten, die Theater und Film verbinden, gehören die Kunst der Verwandlungen, die Inszenierungen und Spielformen der Schaulust und Redelust, die Reflexion der Grenzen des Redens, Hörens und Sehens, so dass das neue Medium des Films trotz der Konkurrenz nicht etwa das Theater zurückdrängt, sondern die Möglichkeit bietet, die Theatralität des Theaters, sei4 Zum Begriff der ‚figure‘ vgl. Vf.: „Intermediale Figuren in der spanischen (und lateinamerikanischen) Avantgarde und Post-Avantgarde“, in: Vittoria Borsò/Björn Goldammer (Hrsg.): Moderne(n) der Jahrhundertwenden, Baden-Baden 2000, S. 385-401. 5 Vgl. Chénieux-Gendron, Jacqueline/Vadé, Yves (Hrsg.): Pensée mythique et surréalisme, Arles 1996, Avant-propos S. 10. 6 Bazin, André: „Théâtre et cinéma“, in: ders.: Qu’est-ce que le cinéma?, Paris 1957, S. 148; vgl. dazu auch Lommel, Michael/Roloff, Volker (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003, S. 19ff.
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ne Verwandlungsfähigkeiten und Spielräume neu zu sehen und zu gestalten. Bei der Untersuchung solcher intermedialer Kombinationen, Zwischenräume, Passagen, aber auch der Differenzen und Bruchstellen sind die gewohnten Zuordnungen, die Stereotypen vieler Literatur- und auch Mediengeschichten eher hinderlich – vor allem die programmatischen Abgrenzungen und Ausgrenzungen, die von den Wortführern der historischen Avantgarde-Bewegungen vorgenommen wurden, etwa Bretons bekannte Differenzen mit Cocteau, Artaud, Vitrac, Bataille oder Ivan Goll, also Autoren und Künstler, deren Surrealismus ganz offensichtlich ist, aber immer noch von Literarhistorikern, die im Banne Bretons stehen, bezweifelt wird. In dieser Hinsicht ist Sartre als Wortführer des Existentialismus, in seinen Konflikten mit Freunden und Gegnern, vergleichbar. Problematisch sind Sartres Urteile gerade auch dort, wo er gegen den Surrealismus Stellung nimmt, z.B. in Qu’est-ce que la littérature? in einer merkwürdigen, paradoxen Argumentation, die, wie so oft bei Sartre, einer Selbstkritik ähnelt, wobei er zugleich aber sehr treffende und prägnante Formeln für die surrealistische Denkweise findet, so, wenn er von dem neuen „Esprit“ spricht, den die Surrealisten auf den „Trümmern der Subjektivität“ errichten wollten: „Man darf ihn das Unmögliche nennen oder wenn man will, den imaginierten Punkt, an dem Traum und Wachsein, Reales und Fiktives, Objektives und Subjektives ineinander übergehen“7 – Breton hätte dies nicht besser ausdrücken können. Vor allem gilt es, Grenzziehungen zu vermeiden, die den Surrealismus als eine abgeschlossene Phase ansehen, die mit dem Zweiten Weltkrieg oder in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ihr Ende erreicht habe. Dabei wird übersehen, dass der Surrealismus gerade deshalb in der Gegenwart eine Rolle spielt, weil er mit immer neuen, überraschenden Transformationen seine Wandlungsfähigkeit beweist; so dass, wie im Folgenden gezeigt wird, surrealistische Elemente, Inszenierungen, Performances nicht nur viele Theaterstücke und Filme des 20. Jahrhunderts inspirieren,8 sondern zugleich ein Reflexionspotential für die Analyse der jeweils neuesten Medien enthalten; ein Potential, das für die Medientheorien und Medienästhetik des 20. Jahrhunderts von vielen – seit Benjamin, Bazin, Foucault, Barthes, Deleuze – erkannt und genutzt wurde, aber längst noch nicht ausgewertet ist. Vor allem die ‚neuen Philosophen‘ Frankreichs sind, was in Deutschland oft übersehen wird, durch ihre 7 Sartre, Jean-Paul: Was ist Literatur?, Hamburg 1958, S. 109. 8 Vgl. Lommel, Michael/Maurer Queipo, Isabel/Rißler-Pipka, Nanette (Hrsg.): Theater und Schaulust im aktuellen Film, Bielefeld 2004.
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Nähe und zugleich kritische Distanz zum Surrealismus ebenso wie zum Existentialismus geprägt; sie bewegen sich in einem Zwischenraum zwischen surrealistischen und existentialistischen Lektüren und Denkweisen. *** Die kombinatorischen Spielformen und Medientransformationen, die der vorliegende Band untersucht, unterlaufen strikte Grenzziehungen zwischen Surrealismus und Existentialismus. Man kann die Theaterfilme, neuen Regieformen und intermedialen Experimente zwischen Surrealismus und Existentialismus, die für die Ausdifferenzierung der Tonfilmgenres nicht nur in Frankreich eine wichtige Rolle gespielt haben, als Bausteine einer kombinierten Theater- und Filmgeschichte, einer sich neu orientierenden Theater- und Filmkultur verstehen. Trotz Abgrenzungsbestrebungen zum Surrealismus etwa in Sartres Schrift Qu’est-ce que la littérature? haben Dramatiker und Filmautoren, die sich existentialistischen Themen zugewandt haben, zugleich surrealistische Verfahrens- und Schreibweisen aufgenommen, bzw. surrealistisch angelegte Film- und Theaterszenarien entworfen; bei Cocteau, Prévert, Renoir, Melville, Ophüls u.a. finden sich Schnittmengen sowohl zum Surrealismus als auch zum Existentialismus. Die Film- und Theaterregisseure, die im vorliegenden Band anhand ausgewählter, symptomatischer Beispiele präsentiert werden, erkunden neue, Theater und Film kombinierende Formen, indem sie die Zwischenräume der Medien spielerisch in Szene setzen und dadurch – zumindest indirekt – Rückwirkungen filmischer Verfahrensweisen auf das Theater provozieren (vgl. etwa die synästhetischen Experimente und Projekte Antonin Artauds). Sartres Schriften zum Theater und Kino,9 auf die sich Theater- und Medienwissenschaftler überraschenderweise nur selten beziehen, setzen sich sowohl mit der Theatertradition als auch mit damals zeitgenössischen Erscheinungsformen, Genres, Autoren und Regisseuren der internationalen Theaterszene auseinander; dies gilt vor allem für den hier anvisierten Zeitraum der Experimente zwischen Theater und Film – so finden sich bei Sartre umfangreiche Exkurse zu Brecht, Artaud, Brook, Grotowski, zum Living Theatre, zu Anouilh und Giraudoux, aber auch zum Kino eines Orson Welles, André Tarkowskij u.a. In seiner Dramentheorie entwirft Sartre noch vor Goffman und Schechner Konturen einer Theater- und Schauspielanthropologie.
9 Sartre, Jean-Paul: Mythos und Realität des Theaters. Aufsätze und Interviews 1931-1971, Reinbek bei Hamburg 1979.
EINLEITUNG
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In jüngster Zeit sind Symptome für die Wiederentdeckung des Existentialismus in den Kultur- und Medienwissenschaften erkennbar. Dabei wird zunehmend deutlich, dass sich Positionen und Paradigmen des Existentialismus und der Postmoderne „eher komplementär“ als „ausschließend“ zueinander verhalten;10 vor allem bietet Sartres Theorie des Imaginären, der inneren Bilder (images mentales), Bezugspunkte, um die Simulations- und Theatralisierungs-Tendenzen der gegenwärtigen Mediengesellschaft zu erfassen. Die wahrnehmungsästhetischen Ansätze bei Sartre und Merleau-Ponty weisen auf aktuelle medienästhetische Probleme und Diskussionen voraus. So werden gegenwärtig Kino, Video, Cyberart, Fotografie und bildende Künste in einer interdisziplinär angelegten Bild-Anthropologie der Medien auf eine gemeinsame theoretische Basis gestellt und dadurch aus ihren Fachgrenzen befreit, etwa bei Hans Belting und Gernot Böhme.11 Der vielfältige Komplex der Visualität und der Sehordnungen, der imaginären Rollen- und Bildentwürfe könnte mit Hilfe der Kategorien, die Sartre und Merleau-Ponty entwickelt haben, neu perspektiviert werden. In gewisser Weise waren die Phänomenologen bereits auf dem Weg zu einer Bildwissenschaft, die unter dem Stichwort visual studies zur Zeit fachübergreifend ausgearbeitet wird. Mehrere Beiträge im vorliegenden Band behandeln die Wechselbeziehungen existentialistischer Theater/Filme und Drehbücher mit anderen Filmen, Theaterstücken und Genres dieser Zeit, die sich ästhetisch und thematisch mit surrealistischen und existentialistischen Spielformen überschneiden – etwa indem sie auf prämoderne Theatertraditionen wie commedia dell’arte, Barocktheater, karnevaleske Komik und Farce zurückgreifen. Zu nennen wären hier u.a. Delannoy, Prévert, Carné, Duvivier, Guitry, Barrault, Cocteau, Melville, Franju, Tati und Pagnol. Intermediale Spielformen und Hybridisierungen bilden in diesem Sinne ein Medienensemble, in dem Theater, Film, Radio und klassische Printmedien aufeinander bezogen sind und so den Strukturwandel der Massenmedien im 20. Jahrhundert prägen. Durch die Montage von Zeit und Raum liefert das Kino (und später das Fernsehen) ein audiovisuelles Archiv und zugleich ein neues Erinnerungsmodell, das die printmediale Geschichtsschreibung, die den technischen Bildern und Tönen immer noch misstraut, erweitert. Die Bildvor-
10 Vgl. König, Traugott: „Sartre und Bataille“, in: ders. (Hrsg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 365-384. 11 Belting, Hans: Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001 und Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001.
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stellungen, die sich aus dem kollektiven Imaginären speisen, „fließen in die Bilder des Films über oder bleiben als die eigenen in der Erinnerung zurück“, so formuliert es Hans Belting.12 Der Dualismus von mentalen und medialen Bildern, persönlichem und kollektivem Imaginären lässt sich nicht mehr aufrechterhalten. Film und Fernsehen organisieren derart, wie Manfred Schneider ausführt, ein neues „mediales und mentales Speichermedium, das die schriftbasierten Speichermedien, die kulturelles Wissen über Zeit, Raum und Geschichte überliefern, ergänzt“.13 Es darf aber nicht ausgeblendet werden, dass auch das Theater, das dem Film Stoffe, Themen und Vorlagen liefert, ein Gedächtnismedium darstellt. Als performatives Ereignis wird es jedoch immer wieder vom Vergessen heimgesucht und oft nur durch Transformation ins Filmmedium, d.h. als Inter-Medium, der Erinnerung wieder zugänglich. Anfang der 30er Jahre, als junger Lehrer in Le Havre, verteidigt Sartre in einem Vortrag an seiner Schule die Kinematographie als eigenständige Kunst und nobilitiert sie gegen die immer noch virulenten Abwertungen im bildungsbürgerlichen Milieu dieser Zeit.14 In seiner Autobiographie Les mots (1964) blickt er drei Jahrzehnte nach diesem Vortrag auf die Kinobesuche seiner Kindheit zu Beginn des Jahrhunderts zurück. Unter der Nachwirkung seiner Kino-Erfahrung irrealisiert sich der kleine Sartre selbst in Rollenspielen. Traumbilder des Kinos und der populären Abenteuerromane verschmelzen mit seinen ersten schriftstellerischen Phantasien. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg geht er zusammen mit seiner Mutter ins Kino, das eine volkstümliche Gegenkultur zum (literarischen) Bildungsbürgertum des Großvaters darstellt, eine nach Ansicht vieler Zeitgenossen für Frauen und Kinder erfundene Unterhaltungsform. Wenn die Mutter dann später im Hause der Großeltern Klavier spielt und den Stummfilmbegleiter vertritt, wird Sartre die Abenteuerfilme, die er gesehen hat, pantomimisch re-theatralisieren. Die initiatorische Magie des Kinoerlebnisses, deren synästhetische und surreale Eindringlichkeit Sartre in seiner Autobiografie vergegenwärtigt, zeigt nicht nur, wie alle Sinne des Kindes affiziert werden. Sartre sucht im Rückblick, in der Erinnerung, nach intermodalen Sprachbildern, die Sehen, Hören, Riechen und Schmecken in eine Art surreal-halluzinatorischen Wachtraum fusionieren: 12 Ebd., S. 75. 13 Schneider, Manfred: „ENTROPIE tricolore. Die Logik der Bilder in Godards ,Weekend‘“, in: Michael Wetzel/Herta Wolf (Hrsg.): Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, München 1994, S. 235-248, hier S. 243. 14 Vgl. Sartre, Jean-Paul: „Die kinematographische Kunst“, in: ders.: Mythos und Realität des Theaters, S. 147-153.
EINLEITUNG
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Das Schauspiel hatte bereits begonnen. Tappend folgten wir der Platzanweiserin [...]; über unseren Köpfen durchquerte ein weißes Lichtbündel den Saal, man sah tanzenden Staub und Rauch. Ein Klavier wieherte, violette Glühbirnen leuchteten an der Wand, der durchdringende Geruch eines Desinfektionsmittels preßte mir die Kehle zusammen. Der Geruch und die Früchte dieser bewohnten Nacht verschmolzen in mir: ich aß die Notlampen, ihr säuerlicher Geschmack erfüllte mich. Mein Rücken strich vorbei an Knien, ich setzte mich auf einen quietschenden Sitz, meine Mutter legte mir eine zusammengefaltete Decke unter das Gesäß, damit ich höher 15 saß, endlich schaute ich auf die Leinwand.
Der vorliegende Band ist im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs 615 „Medienumbrüche“ und des DFG-Projekts „Theater und Theatralität im Film – französische Theater/Filme 1930-1960“ entstanden. Unser Dank für das Zustandekommen des Bandes gilt in erster Linie den Autorinnen und Autoren. Für die organisatorische Mitarbeit und redaktionelle Vorbereitung bedanken wir uns ferner bei Gesine Hindemith, Catrin Kersten, Melanie Schmidt und Andrea Stahl.
15 Sartre, Jean-Paul: Die Wörter, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 69.
I. V OM T HEATER ZUM F ILM
HENRI BÉHAR
LE CINÉMA DE ROGER VITRAC Abstract In Konkurrenz zum Kino, das sich in kurzer Zeit zum Tonfilm hin entwickelte, durchlief das Theater in den 30er Jahren eine bedeutende Krise. Als avantgardistischer Dramaturg wendet sich Roger Vitrac dem Film zu, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Seine Fähigkeiten als Dialogist und sein anhaltendes Interesse für die Kunst der bewegten Bilder brachten ihn zum Film. Er arbeitet mit bekannten Cineasten wie Jean Grémillon, Pierre Chenal, Jean Dreville, Jacques Becker, Jean Delannoy, Léonide Moguy. Weiterhin entwickelt er eine Vielzahl von Kinoadaptationen, die nie gedreht wurden, und eine Reihe persönlicher Drehbücher. Diese Studie über drei seiner Szenarios macht seine Beschäftigung mit Theater und Film deutlich. Seine Filmkritiken, die er L’écran Français nach dem Krieg lieferte, sowie weitere Arbeiten sorgten für eine Wiederaufnahme und Vertiefung seiner Filmästhetik, die er im Theater unter Beweis stellte. Seine Filmästhetik stützt sich auf drei wesentliche Punkte: Aktualität des Mythos, das Leben wie es ist, ein metaphysisches Vaudeville, das ich in diesem Beitrag untersuchen werde. Concurrencé par le cinéma vite devenu parlant, le théâtre traverse une importante crise dans les années trente. Dramaturge d’avant-garde, Roger Vitrac se tourne vers le cinéma pour gagner sa vie. Il y est appelé autant par ses capacités de dialoguiste que par son intérêt permanent pour l’art des images animées. Il travaille avec des cinéastes réputés comme Jean Grémillon, Pierre Chenal, Jean Dreville, Jacques Becker, Jean Delannoy, Léonide Moguy. Par ailleurs, il élabore de nombreuses adaptations cinématographiques, qui n’ont pas été tournées et des scénarios personnels. L’étude de trois d’entre eux souligne ses préoccupations communes au théâtre et au cinéma. Les critiques de cinéma qu’il livre à L’écran Français après la guerre, ses diverses collaborations reprennent et approfondissent une esthétique du cinéma qu’il avait mise à l’épreuve au théâtre. Elle porte sur trois points : actualité du mythe, la vie comme elle est, un vaudeville métaphysique, que je caractérise dans cette étude.
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Dans les années trente, l’essor du cinéma, l’avènement du parlant, amena une certaine désaffection à l’égard du théâtre, dont fut indirectement victime la seule entreprise révolutionnaire de l’époque, le Théâtre Alfred Jarry, animé par Artaud et Vitrac, qui, le fait mérite d’être signalé, avait programmé un film au cours de son deuxième spectacle, La Mère de Poudovkine, pour protester contre la censure. Ce n’est donc pas un hasard si Roger Vitrac, dont l’œuvre dramatique illustre au mieux, et sans concession, les possibilités du genre dans le sens de l’avant-garde, a dû, essentiellement pour des raisons alimentaires, se tourner vers le 7e art, où il a assuré des fonctions de scénariste, de dialoguiste et de critique. Y a-t-il pour autant perdu son âme? À travers ce qui n’était à ses yeux qu’un succédané à ses ambitions créatrices, n’a-t-il pas trouvé le moyen d’exprimer ce qui lui tenait à cœur, sa propre vision de l’existence ou, à défaut, certains de ses thèmes favoris?
1.
Du théâtre au cinéma
1.1 Le regard cinématographique J’ai dit ailleurs combien Vitrac avait, dès ses premières compositions, le sens du théâtre, qui l’avait marqué depuis sa petite enfance. Mais il n’avait pas moins celui du cinéma, comme en témoignent certaines poésies et surtout ses premières propositions de scènes, plus ou moins muettes. L’un de ses poèmes surréalistes de La Lanterne noire postule la réalisation des images suivantes : Il me vient à l’esprit de proposer l’impossible. De bâtir un drame lyrique où véritablement chaque image serait traduite dans son sens immédiat. Je veux dire que l’Azur devrait être l’Azur en vérité audessus du décor. Je ne ferais aucune concession. Si je parlais d’une rivière d’émeraude, quitte à recueillir toutes les émeraudes de la 1 terre, je voudrais sur la scène les y voir briller toutes.
Il est clair que seul le cinéma pourrait en fournir de semblables sans effort. Auparavant, il avait publié dès décembre 1921 dans Aventure, un article, «Photographies animées», suggéré par le film ZÉNIT de Jean Epstein, où il faisait l’éloge du cinéma comme moyen lyrique de changer de
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Publication posthume dans Dés-Lyre. Henri Béhar (éd.), Paris 1964, p. 146.
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peau sans se déplacer de son fauteuil; 2 et puis en avril 1922 dans la revue Littérature une suite de séquences qui relèvent autant du théâtre que du cinéma.3 La continuité des scènes suggère un faisceau de sensations et d’idées, un embryon de diégèse, tant l’esprit humain est apte à jeter un pont au dessus de ce qui n’a pas nécessairement de lien. Il est clair ici que les limites techniques imposées par le théâtre se trouveraient subsumées par la pellicule.
1.2 Une activité d’appoint? Ayant dû relire les œuvres de et sur Vitrac qui touchent de près ou de loin au cinéma, j’ai pu constater combien j’avais fait école, sans le savoir. En d’autres termes, les informations que j’avais pu recueillir, à grand peine, dans ma première thèse, en 1966, se trouvaient reprises, sans mention de provenance. Pillage, dites-vous? Non, vulgate. C’est pourquoi je me permets aujourd’hui de reprendre, in extenso, mon propos initial. Vitrac songea au cinéma lorsque, au début de l’été de 1934, la Metro Goldwyn Mayer de New York lui demanda la communication de son manuscrit du COUP DE TRAFALGAR pour en tirer un film. L’affaire n’eut pas de suite. En revanche, il fut appelé l’année suivante à travailler à Berlin à la U.F.A. avec Raoul Ploquin pour qui il écrivit les dialogues du film CAVALERIE LÉGÈRE, et fit une adaptation des Pattes de mouche de Victorien Sardou pour Jean Grémillon avec qui il était très heureux de collaborer : «Tout va bien et je suis ravi de mon travail, du séjour, de Grémillon, du temps, du ciel, de la vie», écrit-il. 4 En 1937, il adapte à l’écran L’HOMME DE NULLE PART de Pirandello pour le réalisateur Pierre Chenal. Puis il se trouve à Nice pour rédiger les dialogues de ce qui aurait été le premier film de Jacques Becker, L’OR DU CRISTOBAL, sous l’autorité morale de Jean Renoir, si au milieu du tournage, les producteurs n’avaient fait faillite, payant leurs collaborateurs avec des pièces de bronze qui devaient figurer l’or du vaisseau pirate. En 1939, il séjourna encore à Nice pour transposer à l’écran l’ouvrage de Maurice Dekobra : MACAO, ENFER DU JEU, mis en scène par
Vitrac, Roger : «Photographies animées», dans : Aventure, no 2 (décembre 1921), p. 28s. 3 Voir le texte dans la section Documents de mon essai, Vitrac, Théâtre ouvert sur le rêve, Bruxelles/Lausanne 1980, p. 177-179. 4 Lettre à Jean Puyaubert, de Berlin, 6/11/1935. Dans Vitrac, Roger : Lettres à Jean Puyauber. Alain Virmaux (éd.), Paris, 1991, p. 67. 2
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Jean Delannoy. Pour ce dernier, il fit aussi les dialogues de L’ASSASSIN de Pierre Véry, toujours à Nice, en 1942, la même année qu’il achevait FEU SACRÉ avec Viviane Romance comme interprète. Grâce à l’obligeance de M. Delannoy, nous avons pu lire les dialogues que Vitrac rédigea pour MACAO et L’ASSASSIN. On peut y remarquer que la liberté d’écrire ce qu’il pense lui est très limitée. Le rôle de dialoguiste, très important dans l’ensemble d’une réalisation, est cependant conditionné par des impératifs prépondérants. Vitrac tentait de composer un dialogue vivant, émaillé de jeux de mots, de réflexions spirituelles, mais il n’est pas toujours facile d’adapter ce ton à des films d’action! En 1945, à court d’argent, Vitrac forme divers projets, en particulier celui d’une adaptation cinématographique de l’Éducation sentimentale5 et un scénario original, Les Femmes ne mentent jamais,6 qui rappelle le vrai Vitrac, humoristique et fantaisiste, gentil, tendre et cruel à la fois. C’est l’aventure d’un beau jeune homme misogyne. Il ne peut souffrir les femmes parce qu’elles mentent. Ses amis lui fabriquent une jeune fille faussement muette et il tombe dans le piège. On retrouve ces situations inexplicables qui font l’attrait intellectuel de son théâtre, et même une Isabelle Mortemard qui ressemble quelque peu à son homonyme Ida, dans Victor ou Les Enfants au pouvoir. Il va sans dire qu’il faut ranger ces projets, pourtant bien séduisants, au nombre des échecs qui ont souvent été le lot de Vitrac. Il faut leur ajouter un autre scénario original, Passage de l’Opéra7 qui recrée l’atmosphère surréaliste de ce lieu, sous le prétexte d’une petite intrigue : deux jeunes amis sont amoureux de la même femme. Regrettons que l’idée n’en ait pas été poursuivie, nous aurions pu avoir le pendant cinématographique de l’ouvrage d’Aragon, Le Paysan de Paris. En 1947, il compose les dialogues de BETHSABÉE, roman de Pierre Benoît, pour le réalisateur Léonide Moguy. La presse8 se plaît à constater la rencontre ironique de Vitrac et d’un membre de l’Académie française dont il sabote l’œuvre discrètement en glissant ça et là des répliquescanulars, telle celle-ci : «je ne crois pas à ton roman de quatre sous», que les journalistes s’empressèrent d’appliquer à P. Benoît. Si le film ne fut A PEUR LA NUIT
Lettre à Jean Puyaubert, 12 février 1945, Vitrac 1971, p. 77. Dont le manuscrit nous a été communiqué par Mme Anne Guérin. Qui nous a été communiqué par M. J. Puyaubert. Publié depuis par Alain Virmaux dans : Histoires littéraires, no 12 (décembre 2002) p. 12-21. 8 Cf. recueil de coupures de presse au fonds Rondel, R sup. 2442. 5 6 7
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guère prisé par la critique, Vitrac en tira du moins l’avantage de faire un voyage au Maroc. En 1948, paraît sur les écrans SI ÇA PEUT VOUS FAIRE PLAISIR, film qui n’est retenu que parce qu’il fait appel à Fernandel. Vitrac en avait terminé l’adaptation dès le mois d’avril 1946. Voilà à peu près l’ensemble des films auxquels Vitrac a prêté un grain de son esprit. Répétons que lui-même ne voyait dans cette activité rien d’autre qu’un gagne-pain assuré. Il ne faudrait pas chercher le génie là où il ne peut se trouver.
1.3 Un dialoguiste remarqué Plus que tout autre art, le cinéma est une activité collective où la part de chacun est bien difficile à déterminer. C’est là un truisme inévitable quand on s’intéresse au travail d’un dialoguiste tel que Vitrac. Dans la pratique cinématographique d’avant-guerre, et même s’il a mis la main au scénario, le dialoguiste n’intervient qu’en dernier lieu, pour donner un peu plus de brillant aux échanges verbaux, rivalisant avec le théâtre depuis que la technique a trouvé la parole. Quel rôle Vitrac a-t-il assuré dans la quinzaine de films auxquels il a collaboré (dont on trouvera le détail en annexe)? Il a pu suggérer le choix de l’œuvre au producteur ou au réalisateur, mettre la main au scénario, indiquer tel ou tel jeu de scène, et surtout apporter son esprit, ses jeux de mots, ses calembours, à des œuvres souvent ternes. Vitrac n’avait pas gardé trace de ses contributions. Il faudrait alors pouvoir consulter tous les états préparatoires d’un film, de l’œuvre adaptée au scénario puis au découpage final, rarement conservés par les réalisateurs. Je l’ai fait pour certains titres. Cependant, même quand on a la chance de lire un scénario intégral, on n’est jamais assuré qu’il soit entièrement de sa main, et qu’il ait été conservé au tournage. Je m’en tiendrai donc à deux exemples concrets, falsifiables comme on dit dans les sciences, puisque relativement disponibles en vidéo. D’abord, l’adaptation par Pierre Chenal d’un roman de Pirandello, Feu Mathias Pascal, projetée sous le titre L’HOMME DE NULLE PART en raison d’un précédent tourné par Marcel L’Herbier. Dans un entretien tardif, Pierre Chenal a précisé le rôle exact qu’a joué Vitrac dans l’élaboration de ce film : J’avais commencé avec Salacrou et malheureusement, on ne s’entendait pas parce qu’il tirait le scénario vers la tragédie. Et moi, je voyais de l’humour noir. Ça n’a pas collé entre lui et moi. On
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HENRI BÉHAR s’est séparé. Et j’ai pensé à Vitrac parce que Victor ou Les Enfants au pouvoir était une pièce qui m’avait beaucoup marqué à l’époque. Alors je l’ai contacté. Je lui ai raconté le bouquin, et puis ça a tout de suite collé entre nous. On s’est trouvé des atomes crochus. […] J’ai donc fait l’adaptation tout seul. J’avais mis des dialogues provisoires, et j’en avais pris dans Pirandello. C’est ça ma méthode de travail. C’était ensuite à Vitrac de faire des dialogues. Quand il a eu fini son travail, ça a amené quelques changements dans le script. Alors je l’ai remanié de telle façon que j’ai eu des 9 dialogues impeccables et un script absolument terminé.
Chenal parle ici le langage des années quatre-vingt. Même si le syntagme «humour noir» n’avait pas cours à l’époque du tournage, il signifie par là que la virtuosité de Vitrac à faire sortir le tragique du comique et du trivial lui était connue. Pour ma part, en visionnant ce film, j’ai retrouvé la griffe de Vitrac non seulement dans l’ensemble des dialogues, mais encore dans la séance de spiritisme (vraisemblablement l’une de celles qui ont conduit à modifier le script), où l’on évoque le grand Max, et dans les répliques, toujours en situation. Ainsi, Mathias s’exclamant «La vie est belle!» sa tante lui réplique «La vie est belle? Imbécile». À l’adresse du vieux bibliothécaire sourd comme un pot il s’écrie «Vous êtes sourd!» et celui-ci de répondre : «J’entends, j’entends!» Pierre Blanchar sait jouer la rupture, le contraste entre son attitude soumise du début et la dureté du parvenu à la fin. Réalisé en Italie, en décors naturels, le film respire une atmosphère méditerranéenne, non sans évoquer un milieu très proche du Souillac cher à Vitrac. La réception initiale de l’œuvre ne fut pas des plus chaleureuses, si l’on en croit ce commentaire d’Henri Langlois : Durant tout le film, tout en usant du maximum d’accessoires possibles et imaginables (ainsi la barbe de Blanchard-Mathias), Chenal ne cultive que l’effet sous toutes ses formes et toujours la moins subtile, la plus utilisée; l’effet dramatique (un éclat de rire douloureux de Mathias), comique (la crise de nerfs de la veuve Paleoni), scénarique (l’éclat de rire des deux jeunes gens au début ou la présentation de la note d’un fournisseur le jour même de la noce), effets de situation (l’enterrement du faux Mathias en présence du vrai), de dialogues (monologue de Blanchard au public) enfin effets cinématographiques. […] Non, il ne suffit pas d’être tenace et de
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Le Roy, Eric : L’Homme de nulle part de Pierre Chenal. Paris 1987, p. 34s. Chenal parle aussi de l’alcoolisme de Vitrac, et précise que celui-ci s’est fait payer un séjour en Italie pour s’imprégner de l’atmosphère nécessaire à son travail.
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marquer de l’ambition dans le choix des sujets. Il faut être ambi10 tieux dans la manière dont on les traite.
Justice lui sera rendue une cinquantaine d’années après, lors d’une diffusion à la télévision. Ici, le nom de Vitrac servait de caution aux brusques transformations de l’action et aux répliques cinglantes : «Un film baroque, extravagant, aux limites du fantastique, où le vérisme est bafoué. […] Il y a dans L’Homme de nulle part un humour anarchiste qui bafoue avec allégresse le mariage, la famille et toutes les valeurs. Le dialogue (Roger Vitrac renchérissant sur Pirandello) pète le feu…» 11 Ou encore : «Les jeux pirandelliens de Pierre Chenal, relevés par les dialogues poétiques et sarcastiques de Roger Vitrac, constituent, pour qui ne les a pas connus, une fameuse surprise […]»12 Deuxième exemple, où le dialoguiste semble s’effacer, LE JOUEUR D’ÉCHECS tourné par Jean Dreville, d’après un roman bien oublié. Je ne sais dans quelle mesure Vitrac peut être à l’origine de ce film, auparavant tourné par Raymond Bernard en 1926, mais le fait est que, grand lecteur d’Edgar Poe dans la traduction de Baudelaire, il avait tenu à mettre en tête du premier article important sur Raymond Roussel, paru en février 1928 dans la NRF, la reproduction du Turc automate et joueur d’échecs publiée en tête, ce qui montre qu’il était fort préoccupé par les robots, le jeu du réel et de son double mécanique, et ce qu’on peut en tirer sur le plan fantastique. Selon Dreville lui-même, «le scénario et les dialogues sont assez faibles, au point que Françoise Rosay n’a accepté de jouer qu’à la condition de faire réécrire ses scènes. Roger Vitrac, écrivain de grand talent, se trouve au générique car il a dû participer, étant sous contrat, à un stade ou à un autre, plutôt de loin que de près, à l’élaboration du scénario. Il a vu ça de façon un peu superficielle.» 13 Dreville fait comme si Vitrac était absent du tournage. En tout cas, j’ai relevé dans le découpage dactylographié, un ajout qui lui revient sans nul doute, daté du 26 mars 1938 : «Potemkine : C’est vous baron qui construisez des marionnettes qu’on croit savantes? Je vous trouve bien grand pour jouer encore à la poupée…»
10 Langlois, Henri : critique du film, dans : Cinématographe (mars 1936). 11 Mardore, Michel : «Un anarchiste glouton», dans : Le Nouvel Observateur, (27/01/1984). 12 Siclier, Jacques : «Pierre Chenal, autour d’un film», dans : Le Monde, (31/01/1984). 13 Dreville, Jean : Quarante ans de cinéma. Aulnay 1984.
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Voici enfin, tirés du découpage technique de L’ASSASSIN A PEUR quelques exemples du dialogue vitracien. Le premier sort en droite ligne de Victor :
LA NUIT,
Le Directeur : «Je vous remercie.» Vullen : «Il n’y a pas de quoi.» Directeur : «Je vous remercie, vous entendez. Ça veut dire je vous flanque à la porte.» Le deuxième repose sur un calembour proche du Camelot : «Pourquoi chiffonnez-vous les billets? – Je méprise l’argent, alors il se froisse.»
Enfin, une réplique dans le droit fil du COUP DE TRAFALGAR : «Mais mon cher, si vous nous donnez, vous savez bien que vous vous donnerez vous-même. Donnant, donnant, comme vous dites.» J’ai déjà dit, plus haut, la manière dont Vitrac, dans sa dernière contribution au cinéma, s’est détaché du roman de Pierre Benoît. Il semblerait, en somme, qu’il n’ait accepté de participer au cinéma que pour des raisons matérielles. Toutefois, ses choix, dans la mesure où il pouvait les exprimer, le portaient vers des situations insolites, dans l’esprit de ce qu’il avait tenté de porter à la scène avec des personnages tels que Victor ou son alter ego, le petit Simon, ou bien une Flore Médard qui s’était rasée la moitié de la tête.
2.
Vitrac scénariste
Sans m’attarder sur les films tournés, dont j’ai tenté de montrer ce qui revient à l’humour de Vitrac ou à ses propres thèmes obsédants, je vais maintenant considérer trois scénarios qu’il a lui-même élaborés. Tous trois étaient restés inédits de son vivant, et, faut-il s’en étonner? n’ont pas été réalisés.
2.1 Les Cyclades C’est le 18 juin 1931, alors que les animateurs du Théâtre Alfred Jarry n’ont pas perdu toute espérance de le voir renaître contre l’hostilité publique, qu’un hebdomadaire annonce, sous la plume de Nino Frank, que Roger Vitrac a tourné un film sur les Cyclades, avec pour opérateurs Eli Lothar (1905-1969), le fils du grand poète roumain Tudor Arghezi, photographe, assistant de Man Ray, futur assistant de Buñuel pour LAS HURDES, et Jacques-B. Brunius (1906-1967) acteur de Renoir et Prévert, qui sera membre du groupe Octobre, lui aussi assistant de Buñuel, réali-
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sateur de films surréalistes expérimentaux, auteur à venir de En marge du cinéma français (1947). On pouvait, à bon droit, s’étonner de voir l’auteur des Mystères de l’amour passer du théâtre au cinéma, mais surtout devenir témoin de son temps, en tournant un documentaire. Aussi Nino Frank lui donnait-il la parole. Il s’exprimait en ces termes : Mon but, en partant, avait été de tourner un documentaire sur la Grèce; mais ne vous y trompez pas, ce n’est nullement les ruines que j’allais chercher là-bas. L’archéologie me passionne jusqu’à un certain point… Nous tenions à faire une œuvre vivante : il ne fallait pas que les ruines y occupent plus de place qu’elles n’en occupent dans le territoire même du pays. Nous avons trouvé là-bas un accueil fraternel, une lumière étonnante, une belle personnalité. Mon film – qui s’intitulera les Cyclades tout court – commence sur l’Olympe : c’est, avant tout, au milieu de la neige, la région des dieux; je le dis… mais, aussitôt après, je montre une descente en ski, qui nous mène, directement à l’Acropole. C’est ici qu’apparaît l’ombre de Renan : il est encore jeune, mais il a les cheveux blancs. Et il marmotte paisiblement son illustre prière… Nous avons poussé à l’extrême le souci du détail exact : je suis moi-même fier de me déclarer le disciple de Raymond Roussel et de sa scrupuleuse précision lyrique. Pour filmer le passage de la Prière sur l’Acropole, où il est question des briques et des plâtres de Byzance, nous avons fait exprès le voyage à Constantinople, et nous y avons trouvé en abondance briques et plâtres… Maintenant, n’allez plus croire que je m’en suis complètement tenu à cette sorte de commémoration de Renan. Je vous ai dit que la vie de la Grèce moderne m’a intéressé davantage. Après, Crète, où le palais de Cnossos s’est prêté à toutes nos exigences; vous y verrez la silhouette hoffmannesque d’un bibliothécaire et le Palais reconstitué dans une manière de style Luna-Park, que d’ailleurs je trouve excellent; le volcan éteint de Santorin, les marbres de Paros, la vie politique de Scyra et mystique de Délos. À Scyra, nous avons vu fabriquer le rahat-loukoum; à Délos, Vénus Amphitrite a surgi de l’onde, par une nuit lunaire, aux sons du jazz. Vous reconnaîtrez, tout le long de notre film, des acteurs bénévoles : Mmes Édouard Bourdet, Haardt, Kogéosinas-Averoff et MM. Jacques de Lacretelle, Gabriel Boissy, Charensol. Vous y verrez même, dans son château, à Naxos, la petite-fille de l’Akricie Phrangopoulo de Gobineau… Enfin, pour terminer, l’inauguration, à Schéros, d’un monument récalcitrant, par les soins de Venizelos et d’autres officiels de moindre importance. De nombreuses et curieuses réflexions de touristes serviront de commentaires à ce film, qui devrait être, à mon avis, le premier d’une série où la vie de la Grèce moderne et surtout des Cyclades, si peu connues, serait étudiée poétiquement. Moi-même, je vais donner, outre cette bande,
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HENRI BÉHAR un livre qui n’aura point un caractère documentaire et qui 14 s’intitulera également les Cyclades.
La réaction d’Antonin Artaud ne se fit pas attendre : il demanda, et obtint, un rectificatif, paru la semaine suivante, pour préciser que le Théâtre Alfred Jarry avait été fondé par Robert Aron, Roger Vitrac et luimême, et qu’il était d’ailleurs propriétaire du titre! L’étonnant est que nul n’ait retrouvé trace de ce film, qui, à mon sens, avait été commandité par le propriétaire de l’agence Le Voyage en Grèce, Hercule Joannidès, également promoteur d’une revue culturelle du même nom, qui avait le bon sens de convier artistes et personnalités pour animer ses croisières. Ce qui explique la mention d’acteurs bénévoles appartenant au monde du théâtre, de la littérature, de la politique. Pour préparer son voyage, Vitrac avait pris soin de relire Les Pléiades de Gobineau (1874), qui reviendra souvent sous sa plume par la suite, dans sa correspondance intime comme dans son théâtre. À l’époque, on ne pouvait évoquer l’Acropole sans songer à la fameuse prière composée par Ernest Renan dans ses Souvenirs d’enfance et de jeunesse (1883) qui aurait donné lieu à une rapide mise en scène. Vitrac reprendra cette magnifique allégorie opposant l’orient et l’occident dans La Bagarre. On retiendra de cette notule l’esthétique para-surréaliste dont se réclame Vitrac au cinéma, en faisant référence à l’extrême précision lyrique de Raymond Roussel.
2.2 Passage de l’Opéra En 1966, je mentionnais le scénario intitulé Passage de l’Opéra, publié depuis et présenté par les soins d’Alain Virmaux. Prenant le contre-pied de ma trop brève analyse, celui-ci signale tout ce que Vitrac effaçait du récit d’Aragon. «En résumé», écrit-il, «le scénario de Vitrac se présente presque comme un anti-Paysan de Paris, un reflet déformant du Passage de l’Opéra selon Aragon, ou plutôt une variation délibérément inversée.»15 D’après lui, tout se passe comme si l’auteur de Victor voulait surmonter un passé condamné. Cela me paraît excessif. Pour en trancher, le plus simple, me semble-t-il, est de reproduire ici l’argument :
14 Frank, Nino : «Roger Vitrac a fait un film sur les Cyclades», dans : Pour vous, (28 mai 1931). 15 Virmaux, Alain : «Vitrac sur les sentiers du Paris surréaliste», dans : Histoires littéraires, no 12 (2002) p. 13.
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On connaît ces passages vitrés à la lumière d’aquarium, qui unissent d’un trait à la fois poétique et sordide certaines rues obscures de Paris aux Grands Boulevards. On ne les traverse pas sans éprouver un mélange de curiosité, de nostalgie et de malaise. C’est qu’il est difficile de ne pas y évoquer cette époque fin de siècle où les Grands Boulevards étaient un salon permanent dont les galeries de verre étaient les éclatants vestibules et les alcôves discrètes. Les restaurants, les coiffeurs, les théâtres, aujourd’hui défraîchis et décolorés, y rappellent les élégantes, les artistes et les grandes coquettes qui les traversaient en riant. Car, il faut bien le dire, un passage est fait pour être traversé, et non pour s’y installer. Aussi n’est-ce pas sans une certaine mélancolie qu’on y retrouve ceux qui, moins doués, n’ont pas eu la chance d’accomplir brillamment la traversée. Les malchanceux, les aigris, les désabusés, les indécis, ceux enfin qui s’y sont fixés, y ont vieilli et y sont encore. Ils y mènent dans ses bureaux poudreux et dans des chambres tristes une vie aux occupations médiocres, douteuses et sans éclat. Tel était le Passage de l’Opéra vers 1925 au moment où le boulevard Haussmann, ayant déjà éventré tout un quartier de Paris, le menaçait de destruction.
On le voit, la nostalgie n’est pas mesurée, et dans le détail du synopsis, les emprunts sont manifestes. Mais, outre que Vitrac, ayant luimême fréquenté ce passage avant sa démolition (ne serait-ce qu’au moment de la préparation du Congrès de Paris16), en connaissait les aîtres, il me semble que s’il ne mentionne pas l’auteur du Paysan de Paris, c’est qu’à la date présumée de la rédaction, alors que la France est occupée sur l’ensemble de son territoire, il n’y a aucun intérêt à prononcer son nom. D’autre part, l’intrigue, extrêmement ténue, qu’il bâtit autour de ce lieu mythique, ne doit effectivement rien à son illustre aimé. Il faudrait aussi dire la dette du scénariste à l’égard de Balzac (Illusions perdues), d’Alexandre Dumas (Les Trois Mousquetaires), etc. Les quatre jeunes gens qu’il imagine illustrent davantage le mal d’une éternelle jeunesse (qu’il aurait voulue incarnée par les jeunes premiers de l’heure : Jean Marais, François Périer, Jean Parédès, Marcel Herrand) que l’époque dada-surréaliste, et leur amour commun pour la belle Clarisse, leur ascension sociale, l’heureuse issue, 16 Dans un article de L’Intransigeant (17 mars 1931), partiellement reproduit dans mon essai, Vitrac, Théâtre ouvert sur le rêve 1980, p. 191, il évoque l’échec du «Congrès international pour la détermination des directives et la défense de l’esprit moderne», dit Congrès de Paris, dont les réunions de préparation avaient lieu au café Certa du passage de l’Opéra.
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sacrifient aux lois du genre cinématographique. Le ton de Vitrac est surtout optimiste : «Car le Passage de l’Opéra, comme la bohème, mène à tout à condition d’en sortir. Mais encore faut-il choisir la grande porte, celle qui s’ouvre sur le boulevard des Italiens, sur le grand Paris, et non la petite, l’issue honteuse, celle de la rue Chauchat, qui aboutit à la Salle des Ventes où se liquident les faillites de la vie et des rêves.» dit-il pour terminer l’argument.
2.3 Phèdre Absolument inédit, le scénario de Phèdre n’a jamais été signalé à ce jour. Une copie m’en avait été confiée par Anne Guérin, la dernière épouse de Roger Vitrac. Il date de l’après-guerre, à un moment où l’auteur avait perdu le chemin des studios; où, par un de ces mouvements cycliques dont elle a le secret, la création française, dans son ensemble, se tournait vers un certain classicisme. Depuis longtemps déjà Vitrac avait souligné l’actualité de la tragédie grecque.17 Seulement, ce serait se méprendre que de croire qu’il veuille rivaliser avec Racine ou même le moderniser. Pour lui, les mythes sont éternels, comme il l’avait déjà démontré dans Les Demoiselles du large, et rien ne servirait de vouloir en esquiver les conséquences. Ici, il entend traiter l’inceste du deuxième type (pour parler comme les anthropologues), celui qui affecte les éléments rapportés de la famille, dans un esprit populaire, à travers la notion de «monstre sacré». Si le destin de Phèdre était de tomber amoureuse de Thésée, celui de Delphine, grande comédienne du Théâtre Français passée au Boulevard, sera d’aimer le fils de son mari. Avertie par un signe, un premier accident tragique, elle aura eu beau abandonner une carrière de premier plan, rien ne pourra la détourner de la fatalité. Elle jouera le rôle de Phèdre que son mari, entrepreneur de spectacles, lui destinait. Au soir de son triomphe, partie à la recherche de son beau-fils, elle mourra écrasée par son propre mari… Portant habilement le théâtre à l’écran, le scénariste retient les phases essentielles du mythe, tout en l’incarnant à notre époque, parmi des êtres vraisemblables. Reprenant l’esthétique de «la vie comme elle est» qu’il avait définie pour son théâtre (dont je traiterai plus bas pour le cinéma), il invente une scène dans un bistro de la Place Maubert où l’héroïne reçoit une injonction du destin de la part d’un de ses anciens camarades 17 Voir Vitrac, Roger : «Actualité du théâtre grec», dans : Le Voyage en Grèce, no 7 (été 1937) p. 15-17.
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du Conservatoire tombé dans l’ornière. Sous les apparences les plus quotidiennes d’un clochard, les Dieux antiques se manifestent. Mais, le plus intéressant, qui rejoint le sujet de ce colloque, c’est le traitement que Vitrac aurait voulu pour ce film. Je cite intégralement la dernière page du projet : Le scénario a été conçu en vue d’une réalisation axée sur l'idée que le public se fait du monstre sacré. C'est ainsi que la photographie devra s’inspirer des clichés artistiques reproduits dans les journaux hebdomadaires du type SamediSoir. Et que les «liaisons et les passages» emprunteront le style des informations de journaux et des potins publiés par les hebdomadaires. Ces derniers confirmant ou même infirmant les faits réels. Le film se déroulera donc rapidement comme un journal parcouru à la hâte. Comme une de ces histoires que la presse d’aujourd’hui nous raconte comme un crime ou un conte de fées. Par exemple on voit très bien le film s’achevant sur Phèdre écrasée par la voiture de son mari. Celui-ci se dressant épouvanté au volant, l’image restant fixe un instant, devenue le cliché d’un journal. Et l’appareil ayant reculé découvrant une ligne de 1’information indique la fin du scénario.
3.
Esthétique cinématographique
3.1 Vitrac critique de cinéma On découvre un Vitrac très personnel dans les courts billets qu’il donne à peu près chaque semaine à L’Écran Français, hebdomadaire de cinéma qui gravitait alors dans l’orbite communiste.18 Sous le titre général «Retour de manivelle», il y défend pendant l’année 1946, l’esprit qu’il décèle dans les films de son goût : les Charlot, bien sûr; les Marx Brothers; NOSFERATU LE VAMPIRE, et les grands films sortis durant l’Occupation, les Carné-Prévert : LES VISITEURS DU SOIR, LES ENFANTS DU PARADIS, un Cocteau : L’ÉTERNEL RETOUR; en dépit de ses maladresses, LES DÉMONS DE L’AUBE d’Yves Allégert; UN COUPLE IDÉAL de Raymond Rouleau; enfin un film de Jacques Becker, FALBALAS. Mais il prend bien soin de répéter qu’il n’est pas un critique professionnel!
18 Vitrac, Roger : Re-tour de manivelle. Jean-Pierre Han (éd.), Limoges 1976, p. 104.
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Dans cette perspective, je retiendrai plutôt cette analyse de l’ironie en France, où entre toute son expérience personnelle : «L’ironie se manifeste par le rire intérieur. L’ironiste se moque de lui-même et se propose en exemple au spectateur et au lecteur. «Or le lecteur ou le spectateur français prend cela pour lui… il préfère se fâcher et feindre de croire qu’on se moque de lui.» 19 Pourtant le français aime à rire, il apprécie l’humour anglais. C’est qu’il veut être dépaysé historiquement et géographiquement afin de ne pas se sentir concerné. En somme, Vitrac soutient dans ses chroniques cinématographiques des thèses applicables aux arts plastiques comme à la littérature, considérant que le septième art tient des deux. La démarche qui l’a conduit à s’occuper de cinéma, si elle a été déterminée par des considérations financières, paraît donc très logique. Elle prolonge deux de ses concepts favoris au théâtre : «la vie comme elle est» et le «vaudeville métaphysique».
3.2 «La vie comme elle est» Dans son premier article, qui expose en quelque sorte son programme, il demande au public d’«Y voir clair» 20 en cette époque troublée où les esprits se précipitent vers les extrêmes. «Êtes-vous pour le tout-à-l’égout ou le tout-au-ciel?», demande-t-il. L’égout, c’est l’existentialisme, le naturalisme, le réalisme, tandis que le chemin du ciel passe par le rêve, l’idéalisme, le surréalisme, la poésie absolue. Mais en fait, ces deux tendances ne sont ennemies qu’en apparence, comme le démontrent les plus beaux films produits pendant la guerre. Cela lui permet de mettre en valeur la recherche de «cette pénombre où la vie quotidienne s’achève et où le rêve commence», qui favorise une réconciliation de la poésie et du réel, en partant toujours du réel, car l’art est à sens unique. La littérature se nourrit de la vie, et non le contraire, comme l’écrivait Marcel Proust. Mais cela ne signifie pas qu’il faille, sous prétexte de réel et d’actualité, s’inspirer des événements trop récents. Les films de guerre sont comme les œuvres dramatiques qui, après 1914, essayaient de restituer les événements et qui tombèrent dans l’oubli. Pour Vitrac, l’histoire n’est jamais à la mode (il a cette belle formule : «L’histoire, c’est la folle de Chaillot»); aussi revendique-t-il des œuvres nouvelles, de la même 19 Vitrac, Roger : «Rire dans sa barbe», dans : L’Écran français, 4e année, no 50 (12 juin 1946). 20 L’Écran français, 4e année, no 27 (2 janvier 1946).
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façon que le Théâtre Alfred Jarry autrefois : «Restons actuels sans faire l’actualité. Être actuel, c’est résister à l’actualité pour lui permettre de se métamorphoser un jour.»21 En somme, le cinéma devrait être comme le peintre de la vie moderne chez Baudelaire, capable de dégager l’éternel de ce qui est contingent, mortel. Il imagine à ce propos le développement de la bande dessinée si la caméra n’était intervenue. Deux ans après, ayant à défendre son adaptation de Bethsabée, il s’en justifie ainsi : Actuellement, si nous voulons représenter la vie telle qu’elle est, nous sommes obligés de tricher, c’est-à-dire de voiler cette part du réel qu’on est convenu d’appeler choquante. Si l’on ne trichait pas, les gens crieraient ‹au feu› ou ‹au fou›. Avant d’arriver à cet idéal d’une vérité qualifiée de surréaliste, il faudrait que nous puissions nous dépouiller du tact et de la mesure qui faussent le réalisme de 22 l’art.
3.3 Un vaudeville métaphysique Comme au théâtre, Vitrac défend l’humour et l’ironie. À longueur de chronique il regrette que le cinéma français soit incapable de produire des films comiques, à la différence du cinéma américain en passe d’envahir les écrans. Et de regretter qu’on n’ait pas l’équivalent du gag. Il s’en prend par exemple à un film composé de sketches, AU CŒUR DE LA NUIT, qu’il juge vulgaire, lui opposant «le rêve, les prémonitions, le mystère, l’humour, le dédoublement de la personnalité : autant de thèmes qui nous étaient chers aux temps héroïques du surréalisme».23 Il considère que le vaudeville au cinéma est une erreur, puisque, pour réussir, il lui faudrait, selon la définition de Feydeau, se dérouler en un seul lieu comme au théâtre, s’enfermer entre quatre murs, ce qui est inconcevable à ses yeux, puisque le cinéma est l’opposé du théâtre filmé. C’est ici qu’il convient de rappeler sa définition du vaudeville métaphysique : «drame où les personnages se rencontrent et s’aiment au point précis où ils se ressemblent dans le temps et en tous lieux. Drame réciproque de la personnalité dont l’amour est la sanction inéluctable.» 24 Le malheur est que le public français ne soit pas réceptif au comique résultant d’un tel propos. 21 22 23 24
L’Écran français, 4e année, no 28 (9 janvier 1946). Vitrac, Roger : «À propos de Bethsabée», cité dans Béhar 1980, p. 196. L’Écran français, 4e année, no 48 (29 mai 1946), et Vitrac 1976, p. 55. Vitrac, Roger : «Le voyage oublié», dans : Les Feuilles libres, (janvier 1938).
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Conclusion Vitrac a très vite compris les possibilités qu’offrait le cinéma, sur tous les plans. Dans ses activités cinématographiques, comme dans l’ensemble de sa production théâtrale, il reste attaché à un certain surréalisme de sa jeunesse, vers lequel il a toujours les yeux tournés. Que ce soit par ses scénarios ou ses critiques de films, il creuse au cinéma les deux concepts complémentaires qu’il avait mis au point dans son théâtre : la notion de vaudeville métaphysique et la représentation de la vie comme elle est. Autrement dit, d’un sur-réalisme, d’un réalisme dont il recherche le principe supérieur. Pour alimentaire qu’il soit, son travail n’en demeure pas moins exigeant et fidèle à l’esthétique que lui-même a contribué à définir dans les années vingt. Je terminerai par une anecdote qui, à mes yeux, dépeint à la fois le personnage et le milieu dans lequel il devait évoluer. Un jour qu’un producteur se plaignait devant Vitrac de n’avoir pas de bon sujet (cela n’a pas changé, ils se lamentent toujours autant), «j’en ai un» lui dit Vitrac, «mais je vous connais, vous allez me prendre l’idée, et ne paierez rien». Piqué, l’autre protesta de sa bonne foi, et accepta le marché que Vitrac lui proposait : il glissa trois billets de 100 FF dans une enveloppe qu’il remit en échange d’une enveloppe contenant le projet de Vitrac. Il l’ouvrit, et put lire «Jeanne d’Arc». Furieux d’avoir été floué, il voulait reprendre son argent. «Ben quoi, lui dit Vitrac toujours aussi nonchalant, c’est pas une bonne idée?»
Annexe : Filmographie commentée CAVALERIE LÉGÈRE (1935) Réalisateur : Raoul Ploquin, Werner Hochbaum, Roger Vitrac co-réalisateur, d’après l’œuvre de Heinz-Lorenz Lambrecht. Dialogues : Roger Vitrac. Avec Mona Goya, Line Noro, Gabriel Gabria, Constant Rey. LES PATTES DE MOUCHE (1935) Réalisateur : Jean Grémillon. Producteur : Raoul Ploquin. Adaptation, dialogues de Roger Vitrac, d’après un drame de Victorien Sardou. Avec Pierre Brasseur, Renée SaintCyr, Claude Maya. L’HOMME DE NULLE PART (1936) 95’ Réalisateur : Pierre Chenal. Scénario : Armand Salacrou, Pierre Chenal, Christian Stengel, d’après la nouvelle de Luigi Pirandello, Feu Mathias Pascal. Dialogues : Roger
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Vitrac. Musique : Jacques Ibert. Acteurs : Pierre Blanchar, Robert Le Vigan, etc. Mathias Pascal épouse Romilda. Il doit subir le caractère insupportable de sa belle-mère et à la mort de sa mère, il disparaît quelques jours. Une erreur fait croire à son suicide et on enterre un noyé sous le nom de Pascal. Mathias revient à son village pour assister, caché, à ses propres funérailles. Il s'enfuit alors, gagne une fortune au jeu et s'éprend de Louise Paléari. Or, celle-ci est fiancée à Papiano, qui recourra à tous les moyens, même déshonnêtes, pour se débarrasser de Mathias, qui a pris un faux nom. Désespéré de cette situation, Mathias revient au pays. Il trouve Romilda, mariée et mère d'un enfant. S'étant fait attribuer un nouvel état-civil, il revient vers Louise et l'épouse malgré Papiano. (D’après Les fiches du cinéma 2001.) LE JOUEUR D’ÉCHECS (1938) 90’. Tourné à Berlin. Réalisateur : Jean Dreville Scénario et dialogues : Roger Vitrac et Jean Dreville, d’après le roman d’Henry Dupuy-Mazuel. Avec Conrad Veidt, Françoise Rosay, Micheline Francey. Un épisode de la lutte de la Pologne contre la Russie : un jeune patriote, Boleslas, dont la tête est mise à prix, est enfermé dans un des automates du baron de Kempelen pour tenter de lui faire passer la frontière. Nicolaïeff, agent de l’impératrice Catherine II, qui a surpris la supercherie, achète l'automate et le présente à l'impératrice. Au cours d'une partie d'échecs, l'automate se trahit. Catherine décide de le faire fusiller. Mais Boleslas a pu fuir avec sa fiancée Sonia, tandis que le baron de Kempelen a héroïquement pris sa place.25 ALERTE EN MÉDITERRANÉE (1938) Réalisateur : Léo Joannon Dialogues : Roger Vitrac Avec Pierre Fresnay et Nadine Vogel. Les commandants de trois torpilleurs, français, allemand et britannique, faisant partie d’une escadre internationale de contrôle, fraternisent au cours d’un repas et s’entendent pour éviter tout incident. Or, au cours d’une rixe à terre, un homme est assassiné. Deux matelots français, un anglais, un allemand, sont arrêtés. La tension monte entre les chefs. Il 25 Résumé d’après Les fiches du cinéma 2001 et le guide de Jean Tulard. La BIFI possède, dans la série des Cahiers jaunes, deux états tapuscrits relatifs à ce film : le scénario (Cjo 790 B 106) et le découpage technique avec des variantes (Cjo 791 B 106), mais aucun des deux ne mentionne Roger Vitrac, qui n’a dû intervenir que pour les dialogues.
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apparaît que l’armateur d’un bateau chargé d’un gaz mortel est l’assassin. Il s’enfuit, menaçant de lancer les gaz sur un cargo de passage. Poursuite héroïque des trois officiers, au risque de leur propre vie. «Film empreint de pacifisme mais qui est aussi un documentaire guerrier sur la puissance (réelle) de notre flotte qui devait sombrer à Toulon.»26 LA VIERGE FOLLE (1938) Réalisateur : Henri Diamant-Berger. Scénario : Roger Vitrac, Pierre Rocher, Charles de Peyret-Chappuis, Jean Nohain, d’après la pièce d’Henry Bataille. Dialogues de Jean Nohain et Pierre Rocher. Avec Annie Ducaux, Victor Francen, Juliette Faber, Gabrielle Dorziat. «Un avocat parisien célèbre, marié et arrivé au seuil de l’âge mur, rencontre en vacances une jeune fille et s’en éprend. L’idylle se poursuit à Paris jusqu’au jour où la mère de la jeune fille découvre l’aventure et provoque un scandale. L’avocat fuit avec sa complice. Un drame inattendu et brutal termine cette triste histoire. Le frère de la jeune fille rattrape les fugitifs à Marseille, veut tuer le séducteur qui se défend; le coup frappe la vierge folle.» (Les fiches du cinéma 2001) MACAO, ENFER DU JEU (1939) 90’ Réalisateur : Jean Delannoy. Adaptation et dialogues : Roger Vitrac, d’après le roman de Maurice Dekobra. Avec Erich von Stroheim, Sessue Hayakawa, Mireille Balin, etc. Voici le résumé d’après le découpage dactylographié conservé à la Bifi. Krull, un aventurier, se dit prêt à livrer des armes à la Chine. Il se rend à Macao en compagnie de sa maîtresse, une actrice, Mireille. Il y prend contact avec Ying Tchai, patron d’une maison de jeux, en réalité le chef de la mafia locale. Sa propre fille, Jasmine, découvre ses activités et se réfugie sur le bateau de Krull avec son amoureux, le journaliste Pierre. Ying Tchai tente de couler le bateau, et, croyant avoir tué sa fille, il se suicide. Jean Delannoy connut là son premier succès populaire. De bons comédiens, dont deux vedettes internationales, prêtaient leur talent à un film fort bien réalisé, avec de belles images (le corps flottant au milieu des billets de banque). Le tournage venait de se terminer quand la guerre éclata. Le film fut interdit. Le rôle d’Erich von Stroheim fut alors doublé par Pierre Renoir et le film put sortir en 1942. Mais c’est la première version qui est exploitée en salle depuis la Libération. Lors d’une programmation au ciné-club de la télévision (FR 3) en 1982, le critique de 26 Jean Tulard dans son Dictionnaire du cinéma, Paris 1982.
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Libération, signalant l’adaptation et les dialogues de Vitrac, notait : «Cette importante caution surréaliste […] n’est sans doute pas étrangère aux télescopages internationaux qui ne cessent de chambouler l’argument.»27 LE PARADIS DES VOLEURS Réalistion : L. C. Marsoudet Supervision : Léo Jouannon Dialogues de Roger Vitrac, d’après le film de Gérald A. Foster. Avec Roland Toutain, Fernand Charpin, Paulette Dubost, Julien Carette… Deux artistes amoureux sont amenés à cambrioler malgré eux, ils se déguisent en équilibristes. Fantaisie marseillaise commencée dans une baraque foraine marseillaise qui s’achève en une farce endiablée au Théâtre de la Gaîté. SIXIÈME ÉTAGE (1940) Réalisateur : Maurice Cloche Scénario et dialogues : Roger Vitrac, d’après une œuvre d’Alfred Gehri. Avec Florelle, Janine Darcey, Pierre Brasseur, Julien Carette et Pierre Larquey. «Au sixième étage vivent familièrement des gens simples. Un beau garçon loue l’atelier de peinture et apporte le trouble sur le palier. Il séduit Edwige, une jeune fille malade. Celle-ci va avoir un enfant; son père ne sait rien, mais les voisins de palier sont au courant et s’indignent contre le séducteur qui a d’ailleurs une maîtresse dans la maison. Le beau garçon épouserait, s’il y était contraint, la jeune fille, mais celle-ci accepte la main d’un brave garçon qui l’a toujours aimée. Elle renvoie le sinistre personnage, à la satisfaction de tout le monde.» (Les fiches du cinéma 2001) FEU SACRÉ (1941) Réalisateur : Maurice Cloche Adaptation et dialogues : Roger Vitrac. Avec Viviane Romance. La carrière de Mme Viviane Romance où l'on peut voir toutes les difficultés, les avanies qu'a eu à traverser l'artiste pour arriver à devenir étoile. Scénario un peu heurté mais plein de bonne volonté. Milieu de coulisses, dialogue gênant. (Les fiches du cinéma 2001) «L’ascension d’une jeune femme dans le monde du music-hall et ses amours avec un boxeur. Une suite de clichés sentimentaux. Le film
27 Lefort, Gérard : «Tintin à Macao», dans : Libération, (10/07/1982).
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commençant par la fin, il n’y a pas de suspense. Mais c’est entraînant et finalement sympathique.» (Jean Tulard) L’ASSASSIN A PEUR LA NUIT (1942) 100’ Réalisateur : Jean Delannoy, d’après le roman de Pierre Véry. Dialogues : Roger Vitrac. Avec Mireille Balin, Jean Chevrier et Jules Berry. «Un cambrioleur, Olivier, décide de se ranger dans le Midi et se lie à un ouvrier dont la sœur n’est pas pour lui déplaire. Mais il est contraint de tuer un antiquaire véreux. Remords et angoisse. Tout s’arrangera. Un scénario habile de Pierre Véry ne sauve pourtant pas ce film tourné dans des conditions difficiles qui expliquent les défaillances de la mise en scène.» (Jean Tulard). LE MORT NE RÉPOND PLUS (1943) ou LE MORT NE REÇOIT PLUS. 90’ Réalisateur : Jean Taride. Scénario : René Jolivet. Dialogues : Roger Vitrac. Avec Jules Berry, Aimos, Simone Signoret. Querelle autour de l’héritage de Jérôme Armandy. Mais est-il bien mort? Film policier typique de l’époque de l’Occupation. (J. T.) BETHSABÉE (1947) Réalisateur : Léonide Moguy, scénario de L. Moguy et Jacques Rémy d’après le roman de Pierre Benoit. Dialogues : Roger Vitrac. Dans un poste au Maroc, tenu par des spahis, arrive Arabella (Danielle Darrieux), fiancée du capitaine Dubreuil (Georges Marshall). Cette femme, qui se dit divorcée, a eu un passé agité. Un officier du régiment, Sommerville (Paul Meurisse), le connaît : il a été son amant. Envoyé en reconnaissance à la place de Dubreuil par le colonel sensible au charme d’Arabella, Sommerville est mortellement blessé. Évelyne, la fille du colonel et la maîtresse de Sommerville, qui a surpris la vérité, parle. Dubreuil, qui a demandé à remplacer Sommerville, s’apprête à partir sans vouloir écouter les protestations d’Arabella. Grâce à l’intervention du colonel, tous deux se réconcilient. Sommerville trouve la mort dans une embuscade. Désespérée, Évelyne, dans un accès de folie, blesse Arabella qui meurt dans les bras de celui qu’elle aime. La notice de l’Index de la cinématographie française précise : «de bons dialogues accompagnent les images», tandis que le chroniqueur du Figaro, à la sortie du film, écrivait : «Je crains que Roger Vitrac, qui possède pourtant des dons réels de dialoguiste, ne se soit laissé entraîner lui-même vers le côté roman populaire et poésie facile. Ses personnages
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disent à tout bout de champ : ‹La vie est injuste. C’est trop injuste›. L’at-il bien voulu ainsi?»28 SI ÇA PEUT VOUS FAIRE PLAISIR (1948) Réalisateur : Jacques DanielNorman. Adaptation : Jean Manse, Roger Vitrac, Jacques DanielNorman. Scénario : Pierre Benard, Robert Danger. Avec Fernandel. Sortie : 1er septembre 1948 à Paris. Viala et sa femme sont marchands de couronnes mortuaires à Cassis. Viala partage avec son amie Ginette un billet de loterie. Le billet gagne, mais c’est avec Gonfaron que Viala prétend avoir partagé sa chance. Ce dernier, employé de la salle des ventes, accepte de jouer le rôle de faux millionnaire puis de faux amant de Ginette. Viala, qui avait projeté de passer quelques jours à Aix avec Ginette est obligé de s’y rendre avec sa femme et Gonfaron. Ginette appréciant Gonfaron l’épousera. «Si ça peut vous faire plaisir…» lui répond le bon garçon.
Bibliographie Vitrac, Roger : Dés-Lyre. Henri Béhar (éd.), Paris 1964. Vitrac, Roger : «Photographies animées», dans : Aventure, no 2, (décembre 1921). Béhar, Henri : Vitrac, Théâtre ouvert sur le rêve. Bruxelles/Lausanne 1980. Vitrac, Roger : Lettres à Jean Puyaubert. Alain Virmaux (éd.), Paris 1991. Le Roy, Eric : L’Homme de nulle part de Pierre Chenal. Paris 1987. Mardore, Michel : «Un anarchiste glouton», dans : Le Nouvel Observateur, (27/01/1984). Siclier, Jacques : «Pierre Chenal, autour d’un film», dans : Le Monde, (31/01/1984). Dréville, Jean : Quarante ans de cinéma, Aulnay 1984. Frank, Nino : «Roger Vitrac a fait un film sur les Cyclades», dans : Pour vous, (28/05/1931). Virmaux, Alain : «Vitrac sur les sentiers du Paris surréaliste», dans : Histoires littéraires, no 12 (2002), p. 12-21. 28 Chavet, Louis : «Bethsabée», dans : Le Figaro, (26/11/1947).
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Vitrac, Roger : «Actualité du théâtre grec», dans : Le Voyage en Grèce, no 7 (été 1937). Vitrac, Roger : Re-tour de manivelle. Jean-Pierre Han (éd.), Limoges 1976. Vitrac, Roger : «Rire dans sa barbe», dans : L’Écran français, 4e année, no 50 (12/06/1946). Vitrac, Roger : «Le voyage oublié», dans : Les Feuilles libres, (janvier 1938). Tulard, Jean : Dictionnaire du cinéma. Paris 1982. Lefort, Gérard : «Tintin à Macao», dans : Libération, (10/07/1982). Chavet, Louis : «Bethsabée», dans : Le Figaro, (26/11/1947).
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YVAN GOLLS SURREALES FILMTHEATER Abstract L’avènement de nouveaux médias constitue une menace pour les médias plus anciens. Ceux-ci ne peuvent se maintenir qu’en intégrant les potentialités esthétiques nouvelles. Yvan Goll est un des premiers à s’en apercevoir constatant que le film non seulement fait concurrence au théâtre, mais lui ouvre aussi des perspectives nouvelles. Sa réponse est aussi originelle et perspicace qu’hésitante et hétéroclite. Dans son théâtre, postulats esthétiques et moyens esthétiques se contredisent. D’un côté, Goll utilise les moyens esthétiques nouveaux d’une manière avantgardiste. Réunissant les techniques du théâtre et celles du film il ouvre au théâtre des modes d’expression et de représentation entièrement nouvelles. Projetant des expériences purement subjectives comme par exemple des songes sur un écran, il transforme la topographie de la scène. Celle-ci ne constitue plus un espace servant de décor aux dialogues des personnages, mais un espace de projection où un sujet s’explique avec ses visions qu’on voit en même temps sur écran. La gestuelle est celle du film muet. En même temps et inversement, l’ouverture de l’espace scénique aux images filmiques permet la représentation immédiate d’attroupements dans la rue ou de scènes révolutionnaires. De l’autre côté, les sujets traités par Goll s’opposent à la technique avantgardiste de la mise en scène. Dans La Chaplinade un héros des nouveaux médias descend sur la scène. Se transformant d’acteur en poète il découvre son véritable être. Inversement, mais de façon analogue, Celuiqui-ne-meurt-pas présente un artiste authentique qui se fait photographier, éterniser et meurt se transformant en événement médiatique. Ces deux pièces montrent que l’art et la diffusion médiatique de l’art ne sont point identiques. Jegliche Heraufkunft neuer Medien bedroht die alten. Diese können sich nur behaupten, indem sie versuchen, sich mit dem sich neu bietenden ästhetischen Potential auseinanderzusetzen. Wohl als einer der ersten hat Ivan Goll sowohl die Bedrohung des Theaters durch den Film als auch die Chancen, die dem Theater aus diesem Konkurrenzverhältnis erwachsen, erkannt. Seine Antwort auf das neue Medium ist so originell und richtungsweisend wie disparat und tastend. Bei Goll widersprechen sich ästhetische Mittel und ästhetisches Programm. Zum einen nutzt Goll die sich neu bietenden ästhetischen Mittel in avantgardistischer Weise. Indem er die technischen Mittel des Theaters mit
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denen des Films collagiert, führt er dem Theater völlig neue Ausdrucksund Darstellungsweisen zu. So blendet Goll subjektive Erfahrungsweisen wie Träume als Film in die Bühne ein und transformiert damit die Topographie des Theaters. Dieses ist nicht länger Bühnenraum, das Hintergrund für eine Wechselrede ist, es ist Projektionsraum für ein Subjekt, das sich monologisch mit seinen auf der Bühne dargestellten Projektionen auseinandersetzt. Dort, wo Auseinandersetzung statt hat, unterliegt sie häufig der Stummfilmästhetik. Sie ist averbal, pantomimisch, dinglich zeichenhaft – und damit alles andere als verbal und rhetorisch geschliffen. Gegenläufig zu einer solchen subjektiven, averbalen Bildlichkeit öffnet Goll durch die Einblendung von Filmszenen zugleich den Bühnenraum. Straßen- und Revolutionsszenen werden darstellbar. Einer solchen avancierten Bühnen-/Filmtechnik widerstreitet andererseits der Gehalt der Stücke. In La Chaplinade steigt ein Held der neuen Medien auf die Bühne herab und findet erst dort, indem er vom Filmschauspieler zum Dichter wird, zu seinem Eigensten. In Celui-qui-ne-meurtpas wählt Goll eine komplementäre Situation. Das Stück berichtet davon, wie der authentische Künstler – er wird photographiert, konserviert und stirbt – in ein Medienereignis überführt wird. Beide Stücke berichten im Sinne einer konservativen Medientheorie davon, dass Kunst und mediale Verwertung von Kunst nicht dasselbe sind.
Einleitung So bestimmend die zu seiner Zeit neuen Medien für Golls Dramen1 sind, so wenig wurde ihr Stellenwert bisher im Detail analysiert. Auch wenn kaum jemand es versäumt, auf die Mediengebundenheit von Golls Dramen hinzuweisen, beschränkt man sich zumeist auf die schiere Aufzählung der technisch eingesetzten Mittel, um dann entweder den Gehalt der Stücke zu beschreiben2 oder Golls Ästhetik zu referieren.3 1 Gemeint sind insbesondere Mathusalem ou l’éternel bourgeois (1918/ 1919), La Chaplinade ou Charlot poète (1920) sowie die beiden unter dem Titel Les immortels (1920) publizierten sogenannten Überdramen (surdrames) Celui-qui-ne-meurt-pas und Assurance contre le suicide. Ich beziehe mich im Folgenden auf die französischen Texte. Die (von Goll selbst besorgten) deutschen Übersetzungen ziehe ich nur bei den Regieanweisungen zum Vergleich heran. 2 Vgl. Grimm, Reinhold/Žmegac, Viktor: „Materialien zum Verständnis des Textes“, in: Iwan Goll: Methusalem oder Der ewige Bürger. Ein satirisches Drama. Text und Materialien zur Interpretation. Reinhold Grimm/Viktor Žmegac (Hrsg.), Berlin 1966, S. 64-81; Grimm, Jürgen: Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930, München 1982, S. 149-174, 360-362. 3 Vgl. Mennemeier, Franz Norbert: „‚Das wichtigste Element in der Kunst ist die Überraschung.‘ – Iwan Goll als Theaterautor“, in: ders./Erika FischerLichte (Hrsg.): Drama und Theater der europäischen Avantgarde, Tübingen/Basel 1994, S. 1-28; Plassard, Didier: L’acteur en effigie. Figures de l’homme artificiel dans le théâtre des avant-gardes historiques. Allemagne,
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Ich will und kann hier nicht beanspruchen, diese Lücke zu schließen. Ich habe mein Ziel erreicht, wenn an ausgewählten Eckpunkten die ästhetische Technik und deren Tragweite für die Dramen Golls etwas mehr an Kontur gewinnen. Dass Gehalt und Handlung dabei in den Hintergrund treten müssen, versteht sich von selbst. Das Schlusskapitel versucht hierzu eine wenn auch knappe Orientierung zu geben.
Ästhetische Techniken – und deren Konsequenz Traumsequenzen/der geführte Blick In Szene 2 des Stückes Mathusalem ou l’éternel bourgeois4 sitzt Methusalem in seinem Sessel, er schläft ein, er träumt. Das, was er träumt, sehen wir in einer filmischen Projektion auf dem Fenster des Zimmers, in dem er sich befindet, eingeblendet. Das Stück enthält damit ein Detail, das in seiner ästhetischen Konsequenz programmatischen Wert besitzt. Denn wenn Goll das Fenster als Leinwand und Projektionsfläche für die Träume Methusalems nutzt, funktioniert er es in einer grundlegenden Weise um. Das Fenster, das sonst im Drama eine vergleichsweise stumpfe Ausweitung der Bühne ins Draußen darbietet, wird bei Goll zur Projektionsfläche der Seele. In welch hohem Maße dies der Fall ist, sehen wir an der Bildführung des eingespielten Films. Diese widerstreitet in ihrer Dynamik den Mitteln des traditionellen Theaters. Man sieht auf der Film-/Fensterleinwand zuerst die Beine einer Frau, dann ihren Oberkörper, schließlich die ganze Gestalt. Unübersehbar folgt diese Bildführung dem Blick und den erotischen Interessen des Mannes. Dass ein solch geführter Blick nur mit den Mitteln des Films, also mittels der Kameraführung, nicht aber mit den Mitteln des Theaters darstellbar ist, bedarf kaum der Erläuterung. Nur die Kamera kann aufgrund ihres beweglichen Bildfokus’ der Fokalisierung eines Betrachters, in diesem Falle der des Träumers, folgen. Der Bühnenraum bei Goll ist damit nicht länger ein vorgegebener Ort, in dem das Subjekt seinen Auftritt hat. Er wird durch die Integration des neuen Mediums Film zu einem Projektionsraum des Subjekts, zu France, Italie, Lausanne 1992, S. 324-331; Lorang, Jeanne: „Yvan Goll et l’attrait des arts mineurs“, in: Michel Grunewald/Jean-Marie Valentin (Hrsg.): Yvan Goll (1891-1950). Situations de l’écrivain, Bern u.a. 1994, S. 173-202; Valentin, Jean-Marie: „Le théâtre de Goll et sa modernité“, in: Michel Grunewald/Jean-Marie Valentin (Hrsg.): Yvan Goll (1891-1950). Situations de l’écrivain, Bern u.a. 1994, S. 161-171. 4 Goll, Yvan: Mathusalem ou l'éternel bourgeois. Les immortels, Paris 1963.
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dessen Traum- und Seelenlandschaft.5 Die Handlung findet nicht länger auf der Bühne statt, sondern im Hintergrund des projizierten Bühnenbilds. Diese Subjektivierung des Bühnenraums durch den Film ist nicht dem vergleichsweise zufälligen Umstand zuzuschreiben, dass Goll in Mathusalem den Film zur Darstellung einer Traumszene einsetzt. Bereits 1913 attestiert der junge Lukács dem neuen Medium etwas Träumerisches, Phantastisches.6 Diese Phantastik liegt darin begründet, dass der Film eine subjektive Sehweise objektiv ins Bild setzen kann. Max Brod legt in Kurt Pinthus’ Kinobuch (1913/1914) zur selben Zeit ein Drehbuch vor, das sich zum Ziel setzt, diese neue ästhetische Dimension des Films auszuloten.7 Brods Geschichte handelt, grob zusammengefasst, von 5 Vgl. hierzu bereits Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992, S. 61: „In satirischer Überzeichnung lässt Goll in der ersten Szene [i.e. des Mathusalem] die drei Träume seiner Titelfigur in Form einer Filmprojektion vorbeiziehen – wohl der erste Versuch, via Film unterbewusste Wunschvorstellungen in satirischer Intention im Theaterraum zu verankern.“ Unter medienästhetischen Gesichtspunkten kommt es bei diesen Traumdarstellungen allerdings weniger auf die „satirische Intention“ als auf die durch den Film ermöglichte technische und das heißt völlig ideologiefreie Veräußerlichung des Inneren an. 6 Vgl. Lukács, Georg: „Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos“, in: ders.: Schriften zur Literatursoziologie. Heinz Maus/Friedrich Fürstenberg (Hrsg.), Neuwied/Berlin 41970, S. 75-80, hier S. 76: „Das Fehlen (der) ‚Gegenwart‘ ist das wesentliche Kennzeichen des ‚Kino‘. Nicht weil die Filme unvollkommen sind, nicht weil die Gestalten sich heute noch stumm bewegen müssen, sondern weil sie eben nur Bewegungen und Taten von Menschen sind, aber keine Menschen. Dies ist kein Mangel des ‚Kino‘, es ist seine Grenze, sein principium stilisationis. Dadurch werden die unheimlich lebensechten [...] Bilder des ‚Kino‘ keinesfalls weniger organisch und lebendig, wie die der Bühne, sie erhalten nur ein Leben von völlig anderer Art; sie werden – mit einem Wort – phantastisch. Das Phantastische ist aber kein Gegensatz des lebendigen Lebens, es ist nur ein neuer Aspekt von ihm: ein Leben ohne Gegenwärtigkeit, ein Leben ohne Schicksal, ohne Gründe, ohne Motive [...].“ 7 In der Vorrede zu seiner Filmdichtung Ein Tag aus dem Leben Kühnebecks, des jungen Idealisten schreibt Brod: „Eine noch wenig ausgenützte technische Möglichkeit liegt darin, dass im Kino auch bloße Phantasien in ihrem eigenartigen Leben erscheinen können. So wäre etwa, wenn es irgendwen interessierte, ein ‚Dichter bei seiner Arbeit‘ kinematographisch aufführbar. Seine Eingebungen treten aus den Möbeln, aus dem Löschblatt hervor, auf das er nachdenklich starrt, sie verdichten sich, werden zweckdienlich verändert, korrigiert, bis sie etwa die rührende ‚Versöhnung zwischen Vater und Sohn‘ seines Romans unübertrefflich agieren.“ (Brod, Max: „Ein Tag aus dem Leben Kühnebecks, des jungen Idealisten“, in: Kurt Pinthus (Hrsg.): Das Kinobuch (1913/1914). Dokumentarische Neu-Ausgabe, Zürich 1963, S. 71-75, hier S. 71.)
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einem verträumten Schüler. Sie stellt in einem steten Wechsel von Traumszenen und realitätshaltigen Szenen die Konfrontation dieses verträumten Schülers mit der Realität dar. Der Rückverweis auf die frühe Filmtheorie Lukács’ oder Max Brods kann nicht nur dazu dienen, das phantastische Moment zu bezeichnen, das jedem Film innewohnt. Es kann auch zur Verortung der historischen Wurzeln des Surrealismus dienen. Gebräuchlich in der Forschung ist das Argument, dass der Surrealismus, im Gefolge von Freud, auf die Freisetzung des Unbewussten und, im Gefolge des Dadaismus, auf die Gräuel des 1. Weltkrieges und den Zerfall der (humanistischen) Werte antwortet. Ich will dieser Auffassung nicht in Gänze widersprechen. Dennoch ist eines unübersehbar. Schon 1913, also noch vor dem Krieg, diagnostiziert Lukács in seinen Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos die Heraufkunft einer anderen, neuen Realität als Effekt eines medialen Wandels. Neben anderen Veranlassungen ist der Surrealismus auch eine Antwort auf die Botschaft des Traummediums Film – zumal der Surrealismus Yvan Golls, der die Doktrin der von Breton verordneten Ausrichtung an Freud nicht teilen will.8 Gerade wenn Goll vom surdrame spricht und dieses aus der Anlehnung an den Film bzw. die neuen technischen Medien der Zeit versteht, wird diese Verbindung sichtbar.9 Wiewohl das surdrame Golls Träume darstellt, gemahnt diese Darstellung weniger an 8 Vgl. Goll, Yvan: „Surréalisme“ (1924), in: ders.: Œuvres, 2 Bde. Claire Goll/François Xavier Jaujard (Hrsg.), Paris 1968, Bd. 1, S. 87-89, hier S. 88: „[...] cette contrefaçon du surréalisme, que quelques ex-dadas ont inventée pour continuer à épater les bourgeois, sera vite mise hors de la circulation: – Ils affirment la ‚toute-puissance du rêve‘ et font de Freud une muse nouvelle. Que le docteur Freud se serve du rêve pour guérir les troubles trop terrestres, fort bien! Mais de là à faire de sa doctrine une application dans le monde poétique, n’est-ce pas confondre art et psychiatrie?“ Ausführlich dargestellt ist Golls komplexes Verhältnis zu den historischen Avantgarden bei Béhar, Henri: „Regards sur Yvan Goll et les avant-gardes“, in: Michel Grunewald/Jean-Marie Valentin (Hrsg.): Yvan Goll (1891-1950). Situations de l’écrivain, Bern u.a. 1994, besonders S. 89-99. Speziell zu Golls Verhältnis zu Breton vgl. Ronsin, Albert: „Yvan Goll et André Breton: des relations difficiles“, in: Michel Grunewald/Jean-Marie Valentin (Hrsg.): Yvan Goll (1891-1950). Situations de l’écrivain, Bern u.a. 1994, S. 57-74. 9 Vgl. Golls Ausführungen im Vorwort zu den beiden Überdramen Les immortels: „L’art, dans la mesure où il veut [...] être efficace [...], doit supprimer l’homme de tous les jours, l’effrayer comme le masque effraie l’enfant [...]. – C’est pourquoi le nouveau drame aura recours à tous les moyens techniques qui remplacent aujourd’hui le masque, par exemple le phonographe, qui déguise la voix, la réclame lumineuse ou le haut-parleur.“ (Goll, Yvan: „Préface“ (1920), in: ders.: Mathusalem ou l’éternel bourgeois. Les immortels, Paris 1963, S. 102.)
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die Traumdeutung Freuds – diese hätte man auch durch ein Gespräch auf der Couch darstellen können –, als vielmehr an die technische Möglichkeit, Träume oder, allgemeiner gefasst, die Sehweise des Subjekts darzustellen. Möglich wird dies in dem Maße, wie man mit der Kamera einen Apparat zur Verfügung hat, der so beweglich wie das menschliche Auge Bilder fokalisieren und aufnehmen kann.10 Es soll hier nicht darum gehen, die Narrativik des Films (Fokalisierung) mit den technischen Möglichkeiten der Kamera (Fokus) in Verbindung zu bringen, um sie dann auf die Dramaturgie Golls anzuwenden. Zwar wird man, wenn man dem Begriff der Fokalisierung nachhört, in ihm den Fokus der Kamera wiederfinden, doch stellt der narratologische Begriff der Fokalisierung nichts weiter als eine späte theoretische Folgerung aus der frühen Kameratechnik dar. Erst nachdem Kamera und Filmapparat gleichsam als technische Dublette an die Stelle des Auges getreten sind, wird offenkundig, wie sehr unser Sehen von Bildausschnitten geleitet ist. Techniker, Filmtheoretiker und Dramatiker wie Goll haben das sehr früh erkannt.11 Es bedurfte aber fast eines halben Jahrhunderts, bis die Erzähltheorie solch praktische Einsicht mit dem Begriff der Fokalisierung in ihr Kategoriensystem aufgenommen hat.12 Man sollte deshalb nicht allzu sehr vom hohen theoretischen Ross auf die frühen Praktiker herabschauen. Von deren ästhetischen Versuchen hängt auch unsere Theorie ab.
10 Vgl. hierzu auch Heller, Heinz B.: Literarische Intelligenz und Film. Zu Veränderungen der ästhetischen Theorie und Praxis unter dem Eindruck des Films 1910-1930 in Deutschland, Tübingen 1985, S. 58-66. 11 Vgl. etwa Z(ehder), H(ugo): „Zum Film“, in: Die Neue Schaubühne, Jg. 2, Nr. 8 (1920), S. 218-221, hier S. 221: „Es ist noch nicht erkannt, dass der Film ein bewegtes Bild ist. [...] Das gegenseitige Verhältnis der Dichtung zum Filmbilde ist aber das gleiche wie etwa das der Ergötzlichen Geschichten Balzacs oder der Lederstrumpferzählung Coopers zu den Illustrationen Dorés und Slevogts. Es sollte so sein. Wenn der Filmregisseur – Filmkünstler wäre. [...]. Wenn es Filmkünstler gäbe – und sie werden kommen! –, dann tritt der Film in die Reihe der bildenden Künste als absoluter Film. Du neues, unbegrenztes, fabelreiches Land der Phantasie! Dichtung im Reiche des Sichtbaren!“ 12 Vgl. Genette, Gérard: Figures III, Paris 1972, S. 206-211, und ders.: Nouveau discours du récit, Paris 1983, S. 48-52.
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Kommentierender Gegendiskurs – Subversive filmische Einblendungen Visionäre und Traumszenen kommen in Mathusalem nicht nur in der Form vor, dass sie eine eigene Handlungssequenz wie eben den von Methusalem geträumten Traum darstellen. Nachdem der Student Methusalems Tochter Ida verführt hat, fordert sein Sohn Felix ihn zum Duell heraus. In der Auseinandersetzung vor dem Duell (8. Szene) trägt Felix zwei Handlungsalternativen vor: „Entweder ich töte dich oder du heiratest meine Schwester“. Beide Varianten werden durch filmische Szenen – die Regieanweisung nennt sie Visionen13 – konterkariert. Als das Stichwort der tödlichen Rache fällt, sehen wir eine Filmsequenz, die einen noch im Beerdigungszug ausbrechenden Erbschaftsstreit zwischen den nächsten Anverwandten zeigt; als das Stichwort der Heirat fällt, sehen wir eine Filmsequenz, in der zwei frisch Vermählte sich noch während der Hochzeitsfeier über die Hochzeitsreise zerstreiten. Solche Filmsequenzen konterkarieren das dialogisch Dargestellte. Mit ästhetisch neuen Mitteln nimmt Golls Filmdrama damit ein altes Gattungsproblem des Dramas auf. Typischerweise ist das Drama dadurch bestimmt, dass es das, was es vorzubringen hat, in die Form von Rede und Gegenrede bringt. Das Drama ist die dialogische Gattung par excellence. Dennoch kam das Drama zu keiner Zeit nur mit dem Dialog aus. Immer schon setzte es dem Diskurs der dialogischen Auseinandersetzung einen zweiten Diskurs entgegen, der ihn erläuterte. Dieses Spannungsverhältnis von Rede, Gegenrede und Kommentar zeigt sich in der antiken Tragödie im Chor, später in der wohl abgesetzten Form des Aparte und zieht sich schließlich – mit unterschiedlicher Ausprägung in Tragödie und Komödie – unter dem Primat der psychologischen Darstellung in die Form eines unartikulierten Hintergrunddiskurses zurück. Der Funktionswandel, den das kommentierende Einreden im Laufe der Geschichte des Dramas erfährt, ist an dieser Stelle nicht nachzuzeichnen. Im Kontext der Dramatik Golls ist lediglich darauf hinzuweisen, dass Goll neben grotesken, da doppelbödigen Sprachfügungen14 – das ist die von ihm gewählte Form des Hintergrunddiskurses – die Funktion der kommentierenden Einrede häufig filmisch darstellt. Gerade weil der Film ein subjektives Medium ist, kann er – wie vordem das Aparte –
13 Im Französischen heißt es „projections“. 14 Zur Sprache Golls vgl. ausführlich Rieser-Spriegel, Karin: Untersuchungen zum dramatischen Werk Yvan Golls, Salzburg/München 1962, besonders S. 37-60, 95-113.
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die dialogische Auseinandersetzung durch subjektive Einblendungen konterkarieren. Die Einblendung filmischer Kommentare erweist sich ästhetisch als schlüssiger als das Aparte. Denn während das Aparte darunter leidet, dass es auf derselben Darstellungsebene eine Zweiteilung herbeiführen muss – es muss die Rede ins Publikum von der dramatischen Gegenrede abgrenzen –, eröffnet die filmische Einblendung bei Goll einen Sprachraum, der sich bereits durch die Form abhebt.15 Dass dieser neue Sprachraum seine eigene Sprache besitzt, muss kaum eigens betont werden. Er untersteht nicht länger dem Gesetz der kommentierenden Einrede. Die Sprache der Filmeinblendungen ist gestisch, ikonographisch, stummfilmhaft. Dies wird besonders in der deutschen Fassung des Mathusalem deutlich: Hier essen die Chorknaben im Trauerzug Butterbrote.16 Damit ist ohne Worte alles gesagt.
15 Albersmeier 1992, S. 61f. wertet hier anders: Der Versuch eines kontrapunktischen, die Handlung begleitenden filmischen Gegenbildes sei völlig brüchig. Allerdings lässt Albersmeier den dramengeschichtlichen Bezug zum Aparte außer Acht. Dass kontrapunktische Einreden oder Einblendungen im Versuch, eine zweite Bedeutungs- und Sprachebene herzustellen, stets sich dem Risiko ästhetischer Brüchigkeit aussetzen, ist einzuräumen. Dies vorausgesetzt, ist eine Filmeinblendung ästhetisch allemal eleganter als ein Aparte. 16 Goll, Iwan: Methusalem oder der ewige Bürger. Ein satirisches Drama. Text und Materialien zur Interpretation. Reinhold Grimm/Viktor Žmegaþ (Hrsg.), Berlin 1966, S. 40 (8. Szene). – Grundsätzlich fällt auf, dass den Regieanweisungen in der französischen Fassung die technische Präzision und die bissige Ironie fehlt, mit der Goll in der späteren deutschen Fassung die grotesken Elemente hervorkehrt. Ein genauerer Vergleich zwischen den deutschen und französischen Fassungen der Dramen Golls liegt m.W. bislang nicht vor (erste Hinweise finden sich bei Albersmeier, Franz-Josef: Die Herausforderung des Films an die französische Literatur. Entwurf einer „Literaturgeschichte des Films“, Heidelberg 1985, Bd. 1, Die Epoche des Stummfilms, S. 202). Da Goll seine Dramen stets selbst übersetzt hat, die Divergenzen also nicht auf das Konto eines Dritten (des Übersetzers) gehen, wäre ein solcher Fassungsvergleich kulturgeschichtlich sicher lohnend. Vgl. die vorliegende Regieanweisung im Vergleich: Während es im Französischen schlicht heißt: „Au fond de la scène on voit passer [...] un enterrement pittoresque: grande pompe, corbillard très allongé, enfants de chœur habillés somptueusement, évêque, et, derrière, une foule plutôt comique“ (Goll 1963, S. 74), ist im Deutschen zu lesen: „Ein Begräbnis grotesk und komisch: die Pferde mit hohen Palmwedeln auf dem Kopf. Auf dem Sarg liegt eine Kaffeemaschine. BISCHÖFE in großer Aufmachung torkeln hinterher. Die CHORKNABEN in roten Mänteln essen Butterbrote. Das PUBLIKUM sehr mannigfaltig und komisch“ (Goll 1966, S. 40).
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Beleuchtungstechnik statt Vorhang Goll begnügt sich nicht damit, durch das schiere Mittel filmischer Einblendungen den Bühnenraum aufzubrechen und zu entrealisieren. Er bewerkstelligt dies auch dadurch, dass er weitere technische, aus dem Film herrührende Mittel in seine Bühnentechnik einführt. Über weite Strecken (insbesondere am Anfang) ist die Szenenabfolge in Mathusalem so gestaltet, dass zwar einzelne Schauplätze wechseln, die Szenen aber nicht durch ein Fallen des Vorhangs voneinander getrennt werden, sondern dadurch, dass Goll die Bühne in ein Dunkel hüllt. Szenenwechsel durch eine Abdunklung herbeizuführen, um die Härte des szenischen Schnitts zu mildern, ist grundsätzlich als filmische Technik zu bezeichnen. Fassbinder hat dieses Mittel in EFFI BRIEST später durch die Weißblende konterkariert und so allererst wieder sichtbar gemacht. Dem weichen, dunklen Übergang, der den abrupten Schnitt dämpft, steht bei Fassbinder das Grelle einer leeren, wiewohl den Schnitt bezeichnenden Blendung gegenüber. Die Abdunklung der Bühne bei Goll bezeichnet nicht nur die Zäsur der Szene, des Vorhangs oder des filmischen Schnitts. Sie übernimmt eine weitere Funktion, die dem Vorhang im traditionellen Theater zukommt. Der gefallene Vorhang erlaubt den Umbau der Bühne. Bei Goll erfolgt dieser Umbau nicht real, sondern virtuell. Er ist seinerseits ein Beleuchtungseffekt. Nach der Abdunklung der Bühne erscheint diese in anderem Licht. Beleuchtungseffekte heben – einer Regieanweisung Golls zufolge17 – Gegenstände hervor, die man zuvor nicht sah. Eine unterschiedliche Farbgebung des Lichts verändert auch den Stimmungsgehalt der Szene. Um dies an einigen Beispielen darzulegen: Ein Gegenstand, den man anfänglich als Schrank wahrnahm, wird in einer Folgeszene von innen ausgeleuchtet. Er erweist sich als Aufzug, durch den Felix, der Sohn Methusalems, die Bühne betritt (4. Szene). Als Methusalems schwärmerische Tochter Ida auftritt, erscheint die Bühne in hellblauem Licht (3. Szene). Selbst das Muster der Tapete wechselt („Die bisher dunkle und verschlissene Tapete ist jetzt mit roten und gelben Lianen und Vögeln bemalt“18). 17 In der Regieanweisung zu Beginn der 3. Szene heißt es (in der deutschen Fassung wieder ausführlicher und begrifflich präziser als in der französischen): „Derselbe Raum, aber neue Beleuchtung, die bisher unbeachtete Gegenstände unterstreicht: Beleuchtungswechsel vertritt den Szenenwechsel.“ (Goll 1966, S. 19.) Im Französischen heißt es lediglich: „Changement d’éclairage.“ (Goll 1963, S. 35, 3. Szene). 18 Goll 1966, S. 19.
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Dabei ist anzumerken, dass Golls Regieanweisungen so technisch präzise wie zugleich auch ungenau sind. Obwohl im vorliegenden Fall unerwähnt bleibt, wie ein solcher Tapetenwechsel technisch zu bewerkstelligen wäre, kann man unterstellen, dass die Tapete nichts anderes als die Projektion eines Tapetenmusters ist, die man eben deshalb durch die Projektion eines anderen Musters austauschen kann. Technisch wird der Handlungsraum der Bühne bei Goll zu einem virtuellen Raum, der nicht länger durch Gegenstände, sondern durch Beleuchtungseffekte bestimmt ist. Diese neue Wandlungsfähigkeit der Bühne ist nicht nur bühnentechnisch zu interpretieren. Durch den gleitenden Wechsel des Lichts wird die Bühne bei Goll surreal, ambig und doppelbödig. Dasselbe erscheint in anderem Licht und erweist sich eben damit nicht als dasselbe. Surrealität ist in diesem Sinne nichts weiter als ein Beleuchtungseffekt. Die Sicht auf die Welt gebiert, wenn diese anders ausgeleuchtet wird, neben der realen eine surreale. Goll wendet diese Beleuchtungstechnik in Mathusalem auf den typischen Raum der Boulevardkomödie des 19. Jahrhunderts an. Während diese auf dem eingeengten Raum des bürgerlichen Wohnzimmers aufsetzt, lässt Goll durch seine Beleuchtungstechnik den eingeschränkten Raum buchstäblich explodieren. Das vordem feste und spießig eingeengte Bühnenbild wird zu einem eigenen Sprachraum, der, indem er unterschiedlich aus- und angeleuchtet wird, die Doppelbödigkeit des bürgerlichen Interieurs erscheinen lässt. Der Wechsel der Beleuchtung transformiert das heimelige Wohnzimmer in ein unheimeliges.
Visionäre monologische Selbstreflexion – Die Auflösung des Dramas zugunsten von Lyrik und Film Ästhetische Mittel wie die Einblendung von Traumsequenzen oder die Auslagerung des Apartes in Visionen, die die Handlung konterkarieren, können zeigen, wie die collagenhafte Einbindung des Films in das Theater formal den Bühnenraum verändert – jedoch stellen diese Veränderungen in Mathusalem mehr Ergänzungen oder weitere Spielmöglichkeiten für das Drama dar, sie bewirken nicht dessen radikalen Umbau. Wenn sie dem Drama eine neue Sprache hinzufügen, so bedrohen sie es nicht als Ganzes.
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Eine ungleich tiefgreifendere Veränderung zeigt sich in La Chaplinade ou Charlot poète,19 die (in der deutschen Version) auf der Titelseite nicht von ungefähr als „Filmdichtung“ präsentiert wird.20 Das Stück beginnt damit, dass Charlie Chaplin von einem Reklameplakat herabsteigt. Dieser Übertritt von der fingierten in eine lebende Figur oder dieser mediale Wechsel von der Reklamefigur zur Bühnenfigur geht mit einem Charakterwandel der Figur einher: Der Schauspieler will Dichter werden. Über weite Strecken handelt das Stück von dieser Neubestimmung und Selbstfindung seines Helden. Es ist damit bereits dem Sujet nach mehr reflexiv und lyrisch als dramatisch. Goll setzt dieses Sujet in Szene, indem er sich eines Sprachbilds bedient und dieses mit filmischen Mitteln umsetzt: Die erste Szene endet, die zweite vorbereitend, mit folgenden Worten: „Poète-Narcisse: mire-toi dans tes propres larmes! / Le Parnasse existe, ami, dans ton cœur!“21 Nichts ist undramatischer als solche Selbstbetrachtung des Dichters. Wie um dieses undramatische Sujet abzufedern, spricht Charlot vom tragischen Gefühl des Dichters („Messieurs! Sourire! / Voici le sentiment le plus tragique du monde!“22). Auch wenn das tragische Gefühl den Anschluss an die dramatische Gattung sucht, wird man nicht übersehen dürfen, dass in dieser Rückversicherung das Tragische nur ein Adjektiv ist. Worum es geht, zeigt das Substantiv – um ein Gefühl oder aber auch um tragischen Weltschmerz. Dass man, zumal in den 20er Jahren, das Tragische mehr als ein Problem des Weltverhältnisses – also eines Spannungsverhältnisses von Ich und Welt – denn als Form einer dramatischen, und das heißt sozialen Auseinandersetzung verstanden hat, ist bekannt.23 Durchaus originell und witzig aber ist, wie Goll dieses undramatische Problem der Selbstfindung des Dichters handlungsmäßig umsetzt. Während die Exposition der 1. Szene die Reise zum Parnass als eine Reise zu sich selbst, d.h. zu „mon Parnasse“ inauguriert, finden wir den Dichter in der 2. Szene wieder, wie er – ein altes Schema der Bildungsund Dichterreise aufnehmend – im Orientexpress sitzt, um zum „Mont 19 Goll, Yvan: La Chaplinade ou Charlot poète (1920), in: ders.: Œuvres, 2 Bde. Claire Goll/François Xavier Jaujard (Hrsg.), Paris 1968, Bd. 1, S. 106127. 20 Goll, Iwan: Die Chapliniade. Eine Kinodichtung. Mit vier Zeichnungen von Fernand Léger, Dresden 1920. Eine Kopie dieses raren Textes stellte mir freundlicherweise Franz-Josef Albersmeier zur Verfügung. 21 Goll 1968, S. 112 (La Chaplinade, 1. Szene). 22 Ebd. 23 Vgl. Lukács, Georg: Die Theorie des Romans, Darmstadt/Neuwied 61981 (11920), S. 83-138.
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Parnasse“ zu reisen.24 Obwohl der Parnass programmatisch innen ist, lässt er sich dank eines Sprachspiels draußen erfahren und dramatisch inszenieren. Dieses Sprachspiel würde indessen ins Leere verweisen, wenn es nicht medientechnisch umsetzbar wäre. Nichts wäre für das traditionelle Theater schwieriger als eine Reise darzustellen und den ständigen Szenenwechsel zu bewerkstelligen, den ein solches Sujet erfordert. Goll löst das Problem einmal mehr mit filmischen Mitteln. Er blendet auf dem Bühnenhintergrund unterschiedliche Bilder ein: eine Ansicht der Alpen, einen öden Bahndamm, eine Kuh auf der Weide. So als müsste in dieser filmisch/dramatischen Reiseerfahrung das Sehen des Bühnenbildes noch eigens bezeichnet werden, nutzt Charlot ein Fernglas, um die Bühne zu betrachten. Wenn das Bühnenbild nicht länger Hintergrund, sondern selbst Ort des Geschehens ist, muss dieser Funktionswandel ästhetisch hervorgehoben werden.25 Goll muss darlegen, dass in seinem Drama der Held Zuschauer, Kommentator und nicht Handelnder ist. Diese Umlenkung des Blicks bewerkstelligt das Fernglas. Es bezeichnet zugleich, dass die Bühne bei Goll tendenziell zum Zuschauerraum wird. Möglich wird in dieser technischen Umsetzung nicht nur die Darstellung der Reise, sondern in Ansätzen die szenische Darstellung der Reflexion des Dichters. Wir sehen dem Dichter dabei zu, wie er die Bilder der Reise betrachtet. Wir hören, was er über sie denkt. Die Reise, die er erfährt, ist weniger als räumlich-geographische denn als Zeitreise durch althergebrachte Dichtungslandschaften anzusehen. Das Alpenpanorama etwa zitiert Hallers Text über die Alpen, die Rezeption durch die Romantik klingt an. Die vorgebliche Bahnreise Charlots ist eine Reise durch Postkartenklischees. Sie gibt ihm Gelegenheit, sich von veralteten Dichtungskonzepten abzugrenzen. In der monologischen Besprechung der Reise und Selbstfindung des Dichters wird das Drama bei Goll reflexiv und lyrisch. Auch wenn Goll, wie man weiß, primär Lyriker war, ist diese Lyrisierung des Dramas nicht nur als eine subjektive Vorliebe anzusehen. Zu betrachten sind auch die veränderten medialen Bedingungen, die einen Lyriker wie Goll dazu einladen, sich in der ihm – wenn man das so unterstellen will – fremden Gattung zu versuchen. 24 Goll 1968, S. 112 (La Chaplinade, 2. Szene, Regieanweisung): „Charlot, pour réaliser son rêve: être poète, a pris l’Orient-Express pour le Mont Parnasse.“ 25 In der Regieanweisung zur 2. Szene heißt es weiter: „A chaque instant, il [Charlot] se penche par la portière pour contempler le paysage avec une grosse lunette d’approche“ (ebd., S. 112).
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Ein lyrisch-reflexives Drama wird in dem Maße möglich, wie das Subjekt sich durch mediale Projektionen seiner selbst objektivieren kann. Es spaltet sich in seine mediale Repräsentation und in die Reflexion auf sie auf. Wir sehen auf der Bühne, was Charlot sieht, wir hören, dass und wie er sich mit dem Gesehenen auseinandersetzt. Durch die Aufspaltung des Subjekts auf unterschiedliche mediale Instanzen – Bild und Sprache – kann es sein eigenes Gegenüber werden und damit, zumindest ansatzweise, sich selbst als dramatischer Widerpart gegenübertreten. Man findet diese Tradition fortgesetzt bei Beckett in Krapp’s Last Tape. Auch hier ist das Drama reine Auseinandersetzung mit sich, auch hier wird die Auseinandersetzung mit sich aufgrund einer medialen Repräsentanz des Ich durch ein Medium (in diesem Fall ein Tonband), und das heißt durch eine Verdopplung des Subjekts, möglich. Bereits Martin Esslin hat darauf hingewiesen, dass die Dramatik Golls auf das absurde Theater vorverweist.26 Diese Einschätzung ist sicherlich zutreffend. Allerdings bestimmt Esslin das Absurde als eine Geisteshaltung und sieht deshalb just in der Orientierung an den Medien den Grund dafür, dass Goll das Absurde verfehlt.27 Mediengeschichtlich ist umgekehrt zu argumentieren: Während die Avantgarde der 20er Jahre den Film vorwiegend als Medium des Subjektiven und des Traums wahrnimmt, akzentuiert die Avantgarde der 50er Jahre den objektiven Charakter des Mediums Film und richtet an ihm ihre Ästhetik aus. Alain Robbe-Grillet formuliert seine Theorie des Nouveau Roman zunächst objektivistisch nach dem Vorbild des Films.28 Nur wenige Jahre später, im Kontext von L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (1961), legt er dar, dass der Film ein Traummedium ist.29 Die Forschung hat den Nouveau Ro-
26 Vgl. Esslin, Martin: Das Theater des Absurden, Reinbek bei Hamburg 1965, S. 287-290. 27 Vgl. ebd., S. 290: „Weil er [i.e. Goll] seine Einbildungskraft den Erfordernissen von Maske und Film unterordnete, gelang es ihm nicht, seinen Stoff in die neuen Dichtungsformen des Absurden zu überführen, die er so deutlich vorhergesehen und in seinen theoretischen Äußerungen so überzeugend dargestellt hatte.“ 28 Vgl. Robbe-Grillet, Alain: „Une voie pour le roman futur“ (1956), in: ders.: Pour un nouveau roman, Paris 1963, S. 18f.: „le monde n’est ni signifiant ni absurde. Il est, tout simplement. […] Les innombrables romans filmés qui encombrent nos écrans nous offrent l’occasion de revivre à volonté cette curieuse expérience.“ 29 Vgl. Robbe-Grillet, Alain: „Temps et description dans le récit d’aujourd’hui“ (1963), in: ders.: Pour un nouveau roman, Paris 1963, S. 123-134. Hier heißt es in Bezug auf den Film L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD: „le seul ‚personnage‘ important est le spectateur; c’est dans sa
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man deshalb mit dem im Grunde so erkenntniskritischen wie paradoxen Begriff des subjektiven Realismus belegt.30 Verständlich und akzeptabel wird dieser Begriff nur, wenn man ihm keinen erkenntniskritischen, sondern einen medialen Gehalt unterlegt. In dem Maße, wie der Film es erlaubt, Träume und Subjektives ins Bild zu setzen, gelingt es uns nicht nur (und erstmalig), Subjektives zu visualisieren; das Subjektive stellt sich uns damit zugleich mit photorealistischer Genauigkeit dar. Mit anderen Worten: Aufgrund der Darstellungsform erscheint uns die Visualisierung des Subjektiven so, als wäre es objektiv. Was die 50er Jahre den 20er Jahren voraus haben, ist die Einsicht in diese Ambivalenz des neuen Mediums. Wenn Goll den Film ungebrochen zur Darstellung von Visionen nutzt, liegt das nicht daran, dass Goll ein Romantiker ist,31 es liegt vor allem daran, dass ihm das neue Medium noch ungebrochen als ein Medium des Subjektiven erscheint. So zutreffend man Goll als lyrischen Dramatiker bezeichnet hat, so wenig ist doch zu übersehen, dass und wie sehr Goll den lyrischen Ausdruck im neuen Medium bricht. Auf seiner Bahnreise schreibt Charlot unter anderem auch ein Gedicht. Nun rezitiert er das Gedicht nicht beim Schreiben oder spricht es nur vor sich hin – was eine vielleicht naheliegende szenische Darstellung gewesen wäre. Wir sehen statt dessen, wie Charlot schreibt, und sehen das, was er schreibt, als Projektion seiner Schrift auf dem Bühnenhintergrund.32 Diese Darstellung muss überraschen, da traditioneller Ästhetik zufolge die dem Gedicht gemäßeste Darstellungsform die der Rezitation ist – aus Gründen des Reims und der Rhythmik, die mit dem Ohr gehört werden wollen, aber auch, weil das Gedicht sich im Gefolge der Ästhetik des 18. Jahrhunderts als Selbstaussprache des Dichters versteht. Man kann die Verschriftlichung des Gedichts bei Goll mit unterschiedlichen Bezugsrahmen versehen: Sie schließt zum einen an den expressionistischen Film an. In Robert Wienes DAS CABINET DES DR. CALI-
tête que se déroule toute l’histoire, qui est exactement imaginée par lui“ (ebd., S. 132). 30 Den Begriff des subjektiven Realismus erläutert Blüher, Karl-Alfred: „Robbe-Grillet: La jalousie“, in: Klaus Heitmann (Hrsg.): Der französische Roman vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2 Bde., Düsseldorf 1975, Bd. 2, S. 281-297. 31 So die Deutung von Esslin 1965, S. 290. 32 Vgl. Goll 1968, S. 114 (La Chaplinade, 2. Szene). Eine vergleichbare Szene findet sich in Richard A. Bermanns Filmdichtung Leier und Schreibmaschine (enthalten in: Kurt Pinthus (Hrsg.): Das Kinobuch (1913/14). Dokumentarische Neu-Ausgabe, Zürich 1963, S. 29-33).
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(1919/20)33 erscheint dämonisch eine Schrift, die den mysteriösen Charakter des Helden zugleich ankündigt und unterstreicht.34 Es kann unterstellt werden, dass auch für Goll eine auf der Leinwand erscheinende Schrift eigene expressive Valeurs besaß. Zum andern setzt Goll in seinen Dramen die filmische Projektion von Schrift häufig ein, um grelle, plakative Botschaften aufdringlich und grotesk darzustellen. Ein solches Darstellungsmittel ist dem Inhalt dieser Botschaften gemäß – weil Schrift, zumal wenn sie großflächig projiziert wird, etwas AufdringlichBeständigeres hat als das gesprochene Wort. Kann man bei einem Gedicht eine vergleichbare Darstellungsintention unterstellen? Und wenn ja, in welchem Maße verändern sich dann Form und Funktion des Gedichts? Wie immer man an dieser Stelle urteilt, festzuhalten ist: Dort, wo lyrisch-monologische Dichtung und Filmdrama am engsten zusammenstehen, hören wir entgegen der Darstellungstendenz von Lyrik und Monolog keine menschliche Stimme, sondern lesen im filmisch projizierten Bildhintergrund eine Schrift. Immer wieder löst Goll in seinem Filmdrama Rede in Bilder und Schrift auf. Es geht nur nachrangig um eine Transposition des Gedichts ins Drama. Vorrangig geht es um eine Transposition von Sprache in den Film. Mit anderen Worten: Das traditionelle Gattungsproblem tritt hinter dem Medienproblem zurück.
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Straßenszenen und Reklamebilder So sehr Goll einerseits den Film zur Darstellung subjektiver, traumhafter Wahrnehmung nutzt, so wenig verzichtet er andererseits darauf, den Bühnenraum mit Hilfe des Films in einer nachgerade realistischen Weise
33 Carl Mayer/Hans Janowitz (Hrsg.): Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/20. Mit einem einführenden Essay von Siegbert S. Prawer und Materialien zum Film von Uli Jung und Walter Schatzberg, München 1995. 34 Vgl. ebd. die Ausführungen Prawers zu den Abweichungen des Films vom Drehbuch: „Hier hat sich zwischen Ur-Drehbuch und Film Entscheidendes verändert – man vergleiche nur, wie Mayer und Janowitz die erste Erscheinung ihres Calligaris [sic!] im Zwischentitel kommentieren: ‚Diesem Zuge hatte sich jener geheimnisvolle Mann angeschlossen‘ mit dem dramatischlakonischen, in unregelmäßig vibrierenden Lettern auf zweifach getöntem Grund erscheinenden ‚Er!‘ des fertiggestellten Films.“ (Prawer, Siegbert S.: „Vom ‚Filmroman‘ zum Kinofilm“, in: Carl Mayer/Hans Janowitz (Hrsg.): Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/20. Mit einem einführenden Essay von Siegbert S. Prawer und Materialien zum Film von Uli Jung und Walter Schatzberg, München 1995, S. 11-45, hier S. 16.)
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auszuweiten. Verbreitet sind in Golls Dramen Straßenszenen, die durch Filmeinblendungen auf dem Fenster sichtbar werden.35 Inhaltlich handelt es sich häufig um Revolutionsszenen oder Volksaufläufe. Das sind großformatige Szenen. Golls Bühnentechnik löst damit ein althergebrachtes Problem traditioneller Bühnentechnik. Diese kann aufgrund der räumlichen Begrenztheit der Bühne großformatige Szenen nicht darstellen. Aushilfsweise gleicht sie diesen Mangel durch die Mauerschau aus.36 Auch wenn es im traditionellen Theater da und dort Ansätze gibt, in anderer Weise Volk auf der Bühne darzustellen – eine Volksmenge in einem Fensterausschnitt zu zeigen, lässt die traditionelle Bühne nicht zu. Anders als bei der Darstellung der Traum- und Landschaftsszenen (Chaplin als Bahnreisender, Methusalem als Träumer) bietet die Integration filmischer Technik bei der Repräsentation von Massenszenen nicht nur eine Lösung, sondern schafft auch neue Probleme. Während die Traumszenen einen vom Bühnengeschehen kategorial streng geschiedenen Wahrnehmungsraum eröffnen – man sieht Methusalem auf der Bühne schlafend und man sieht, was er träumt; man sieht also, mit anderen Worten, zwei Räume, die sich nie begegnen können –, liegt die filmisch auf dem Fenster eingeblendete, revoltierende Menge auf derselben Handlungsebene wie die im Wohnzimmer auf der Bühne. Obwohl zwischen beiden Darstellungsräumen ein Medienbruch, eben der von Bühne und Film, besteht, stellt die Handlung zwischen den beiden Räumen eine unmittelbare Verbindung her.37 Mehrfach betreten in Mathusalem Akteure der Straße durch das Fenster die Bühne. Goll handhabt das Fenster damit nicht nur wie eine Projektionsleinwand zur Einblendung von realitätshaltigen Straßenszenen, es dient ihm zugleich dazu, den Medienbruch zwischen Film- und Bühnenraum zu überbrücken. Das Fenster ist nicht 35 So in Mathusalem und Celui-qui-ne-meurt pas. 36 Goll selbst zieht diese Verbindung in Das Kinodram: „Dahin ist die Fabel des einheitlichen Raums, der fünf Akte und allen Kulissenrequisits. Übertrumpft die Drehbühne, die dem modernen Drama gar nichts genutzt hat. Wo ist die Zeit, da ein atemloser Läufer auf den Zinnen des Schlosses eine Schlacht ‚dramatisch‘ erzählte! Dies alles ersetzt der Film. Die Gegenwart und die Vergangenheit und die Zukunft gehen im selben Augenblick über das Bewusstsein der Bühne. Synthese.“ (Goll, Iwan: „Das Kinodram“, in: Die Neue Schaubühne, Jg. 2, Nr. 6 (1920), S. 141-143, hier S. 143.) 37 Franz-Josef Albersmeier sieht als Möglichkeiten der Verbindung die „parallele, kontrapunktische und dialektische Aufeinanderbeziehung“ (Albersmeier 1992, S. 62). Da Goll aber mit dem Film eine zweite Realitäts- und Bühnendimension einführt, erscheint mir der Bezug auf die Fiktionsebenen mindestens ebenso betrachtenswert.
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nur Projektionsleinwand, sondern für die flächige, zweidimensionale Filmfigur zugleich das Tor, durch das sie in den plastischen Bühnenraum eintreten kann. Während in den Traumszenen die divergenten Medien collagenhaft, und das heißt unter Wahrung ihrer medialen Differenz aufeinander bezogen werden, stehen sie in den filmischen Straßenszenen in einem dramatischen Spannungsverhältnis. Die projizierte Figur betritt die Bühne. Deutlicher noch als Mathusalem zeigt La Chaplinade, wie sehr Goll das Problem der Überführung der flächigen Filmfigur in die Bühnenfigur beschäftigt hat. Das Stück eröffnet damit, dass Chaplin von dem Reklameplakat, auf dem er abgebildet ist, herabsteigt, um sich ins wirkliche Leben zu mischen. Was bei den Straßenszenen in Mathusalem lediglich als dramaturgisches Problem und medialer Bühneneffekt thematisiert wird, steht in La Chaplinade als Thema der Handlung im Blick. Während die Straßenszenen in Mathusalem das neue Medium noch unsicher technisch erproben, liest sich La Chaplinade wie die phantastische Chiffre zu diesen bühnentechnischen Experimenten. Goll hat die Figur Chaplins programmatisch so ausgestaltet, dass der Übertritt vom Plakat ins Leben sich als Übertritt von der Sphäre kulturindustrieller Vermarktung in die Sphäre von Kunst und Leben darstellt. Ungeachtet solcher Programmatik ist die nächste Botschaft des Übertritts der Reklamefigur Chaplin auf die Bühne jedoch eine des Mediums selbst. Wie kann man Film- und Theaterraum miteinander verbinden? Wie kann man eine Filmfigur in eine Bühnenfigur überführen? Das Problem, das sich in den Straßenszenen dramaturgisch, technisch und – im mehrfachen Sinne des Wortes – im Hintergrund stellt, wird in La Chaplinade zum Gegenstand der Handlung selbst: Eine zweidimensionale Filmfigur betritt den dreidimensionalen Bühnenraum.
Stumme Kommunikation – Pantomime als Gegendiskurs Der Einsatz filmischer Mittel führt bei Goll nicht nur zu bühnentechnischen Neuerungen. Er besitzt einen Eigenwert auch dort, wo das Theater dem Film technisch überlegen ist. In der Darstellung von Methusalems Traum etwa äußern sich die Figuren mittels Sprechblasen – denkbar wäre hier auch der Einsatz von Synchronsprechern gewesen. Die Dramen Golls tendieren grundsätzlich dazu, gesprochene Sprache als Schrift und die Aktion des Schauspielers pantomimisch darzustellen. Sie lehnen sich damit – man mag einwenden: ohne Not – an die Äs-
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thetik des Stummfilms an. Im Stummfilm sind Schrift und Pantomime diejenigen Darstellungsmittel, die das Fehlen des gesprochenen Wortes kompensieren. Mit der Anlehnung an den Stummfilm tendieren die Dramen Golls zur Sprachlosigkeit. Vom Einsatz der Schrift war oben bereits die Rede. Der pantomimische Charakter ist anhand einiger Beispiele nachzutragen: Als Charlot vom Plakat herabsteigt, setzt er sich in den Rinnstein, zieht eine Bürste hervor und putzt sich mit ihr die Zähne. Anschließend kämmt er sich mit derselben Bürste die Haare. Das ist reine Pantomime, ohne jeden sozialen Bezug. Mit ihr wird die Figur als komische Stummfilmfigur exponiert. Im weiteren Verlauf des Stückes wird Charlot von einem Bahnhofsvorsteher spärlich bewirtet. Er zieht eine Briefwaage aus der Jackentasche und wiegt mit ihr die Brotscheibe, die ihm der Bahnhofsvorsteher überließ.38 In Assurance contre le suicide gerät ein Student mit einem Kontrahenten in eine Auseinandersetzung über einen zuvor gehörten Vortrag. Er greift sich unter den Hut, zieht sein Hirn hervor und wirft es dem Kontrahenten ins Gesicht. Als er später auf einen besseren Gesprächspartner trifft, fängt er zu reden an, kommt aber über ein paar einleitende Phrasen nicht hinaus. Er muss erst sein Hirn vom Fußboden aufheben und wieder unter seinen Hut platzieren, bevor er weiterreden kann.39 Während das traditionelle Theater davon geprägt ist, dass es in einer im Wesentlichen dialogischen Auseinandersetzung zwischenmenschliche Beziehungen behandelt, stellt die Pantomime solche Auseinandersetzungen dinglich-symbolisch dar. Teilweise blendet sie die soziale Auseinandersetzung ganz zugunsten einer Komik der Verrichtung aus. So in La Chaplinade, wenn Charlot ein und dieselbe Bürste als Zahn- und Haarbürste dient. Die Aufnahme der Pantomime ins Drama verändert nicht nur die Darstellungsmittel, sondern auch die Sujets. Golls Dramen handeln nicht mehr von einer Auseinandersetzung zwischen Menschen, sondern von einer Auseinandersetzung des Menschen mit Dingen. Ich bezeichne diesen Kampf mit den Dingen als eine Dramaturgie der Verrichtung – in ihr kommt der Held mit den alltäglichsten Verrichtungen nicht zurecht. Bei Beckett wird man später eine vergleichbare Dramaturgie der Verrichtung finden. In En attendant Godot sucht Vladimir etwas in
38 Vgl. Goll 1968, S. 118 (La Chaplinade, 3. Szene, Regieanweisung). 39 Vgl. Goll, Yvan: Assurance contre le suicide, in: ders.: Mathusalem ou l’éternel bourgeois. Les immortels, Paris 1963, S. 129-153, hier S. 137f.
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seinem Hut. Der Hut ist leer. Estragon leidet unter seinen Schuhen, zieht sie aus und wieder an, ohne etwas Störendes gefunden zu haben, usw. Wenn man genauer zusieht, ist die Verwandtschaft, was die Technik der Darstellungsmittel anbelangt, zwischen Beckett und Goll größer als bislang vermutet. Beide beziehen sich auf eine Dramaturgie der Verrichtung, die auf der Pantomime des Stummfilms aufruht. Divergent aber ist ihre Einstellung zu den neuen Medien. Goll nimmt trotz aller Experimentierfreudigkeit den Film als einen Fremdkörper auf dem Theater wahr. In den frühen 20er Jahren erscheint der Film in durchaus ambivalenter Weise sowohl als neue avantgardistische Gattung als auch als eine Gattung, die Kunst an den Massengeschmack und an die Filmindustrie ausliefert.40 Unter dieser Voraussetzung kann Goll Elemente des Films wie z.B. die Pantomime nur in Form der Groteske ins Drama integrieren.41 Er verletzt in surrealistischer, da schockhafter Manier das hohe Haus, indem er ihm fremde Elemente zumutet. Er respektiert es zugleich auch, indem er sich mit der niedrigsten Gattung begnügt, die das hohe Haus zu bieten hat. Der Rückgriff Becketts auf die Pantomime ist anders gelagert. Beckett greift auf die Dramaturgie der Verrichtung zurück zu einer Zeit, als der Stummfilm sich bereits überlebt hat und filmische Darstellungsmittel dem Publikum auch im Theater vertraut geworden sind. Deshalb kann er diese ästhetischen Mittel mit einer gewissen Selbstverständlichkeit handhaben. Der Unterschied zwischen dem Grotesken bei Goll und dem Absurden bei Beckett besteht – sehen wir vom geistesgeschichtlichen Umfeld ab – auch hierin: Die Integration stummfilmhafter Pantomime ins Drama erscheint grotesk, solange das Medium Film neu und unvertraut ist, sie erscheint absurd, als der Film seine Fremdheit verloren 40 Vgl. Goll 1920, S. 142 (Das Kinodram): „Mit vollem Recht wird heute in Europa Kino von edlen Geistern gehasst, weil es weder in Deutschland noch in Frankreich, noch in Italien eine einzige Filmfirma gibt, die Kunst treibt statt Industrie. Darum zwei getrennte Lager. Anders in Amerika. Dort ist der Film verstanden von Filmspieler und Publikum als ein Zeichen unserer Rapidität, ist schon wesentlicher Bestandteil des amerikanischen Lebens. Die dortigen Filmautoren verarbeiten nämlich nicht alte verbrauchte Kulissen des Daseins, Sardoustücke und Hauptmannromane, sondern erzeugen, schaffen aus dem Urstoff des Filmelementes: aus der ‚Bewegung‘, die auch das moderne Alltagsleben charakterisiert, ihre, unsere Kunst.“ – Ähnlich argumentierte bereits Pinthus im Kinobuch; vgl. Pinthus, Kurt: „Einleitung: Das Kinostück“, in: ders.: Das Kinobuch (1913/14). Dokumentarische Neu-Ausgabe, Zürich 1963, S. 19-28. 41 Zur Groteske bei Goll vgl. auch Valentin, Jean-Marie: „‚Das neue Drama sei enorm!‘ – Surréalité et grotesque dans le théâtre d’Ivan Goll“, in: Etudes germaniques, Jg. 43, Nr.1 (1988), S. 82-93.
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und deshalb mit größerer Ernsthaftigkeit eingesetzt und betrachtet werden kann. Es ist nur ein kleiner Schritt vom Grotesken zum Absurden. Dieser hat mit dem Ernstnehmen der Darstellungsmittel zu tun. Während der heiter leichte Stummfilm Chaplins bei Goll Züge des Grotesken trägt, kommt bei Beckett die stummfilmhafte Pantomime im hohen Haus an – und ändert damit zugleich ihre Wertigkeit. Das Misslingen der Verrichtung, vorgeführt im hohen Haus, erscheint nicht länger wie im Film heiter-komisch, sondern absurd.
Ausblick und Nachtrag zum Gehalt der Dramen Golls Im Grunde hat Goll die Wandlung, die Filmisches auf dem Theater erfährt, bereits vorausgesehen und gestaltet. Als Charlot sich von der Plakatwand löst und den Theaterraum betritt, berichtet er als erstes davon, dass er im Kino zwar alle Menschen zum Lachen bringe, im Grunde aber traurig sei. Das Eigentliche, das hier zur Sprache kommt, ist nicht das des Schauspielers. Wir wohnen keinem Interview bei, in dem Charlie Chaplin sich über sich oder sein Werk äußert, sondern sehen, wie eine Filmfigur die Bühne betritt. Allein dadurch, dass die Figur das Medium wechselt, wechselt sie ihren Charakter. Aus dem sorglos heiteren und ewig grinsenden Kinohelden wird Charlot, der traurige Dichter. Beide sind (Kunst-)Figuren und nicht mit dem Schauspieler Chaplin42 zu verwechseln. Worin unterscheiden sich die beiden Figuren? Filmfiguren besitzen, anders als Theaterfiguren, eine Schwere- und Körperlosigkeit, die kein physisches Missgeschick als solches erscheinen lässt. Das hat ganz einfach damit zu tun, dass sie, anders als Theaterfiguren, zweidimensionale Wesen und damit vom Realen und Körperlichen abständiger als Theaterfiguren sind. Am deutlichsten ist die Körperlosigkeit der Filmfigur dort zu sehen, wo sie eine weitere Verfremdung erfährt: beim Zeichentrickfilm. Hier werden Figuren platt gewalzt oder es wird ihnen der Hals umgedreht, bis er sich zur Spirale aufrollt, ohne dass sie irgendwelchen Schaden nehmen. Wie bei einem mehrfach verdrehten Metallband springt im Zeichentrickfilm der verdrehte Hals in die Ausgangslage zurück. Man lacht in gleicher Weise darüber, wie die Figur sich verwickelt und verdreht, wie über die Elastizität, mit der sie sich 42 Zur Karriere des Schauspielers Chaplin vgl. Vigouroux-Frey, Nicole: „Naissance de Charlot: du Music-Hall au muet“, in: Claudine AmiardChevrel (Hrsg.): Théâtre et cinéma des années vingt. Une quête de la modernité, 2 Bde., Lausanne 1990, Bd. 1, S. 57-72.
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wieder ent-wickelt. Michel Leiris berichtet in seiner Autobiographie, dass er als Kind geglaubt habe, in einem Theaterstück sterbe der Schauspieler.43 Bei einem Zeichentrickfilm wäre er dieser Illusion nicht erlegen. Es ist die Eigenart des Theaterstückes, dass – unabhängig von seinem Inhalt – auf der Bühne ein Mensch aus Fleisch und Blut agiert, die ihm die größere Ernsthaftigkeit verleiht. Bei Goll begegnet Charlot, als er sich ins wirkliche Leben mischt, in der Figur eines Harlekins gleichsam sein fleischlicher Widerpart. Charlot sieht ihm eine Weile zu. Erst weint er, dann lacht er.44 Charlot wird nicht nur trauriger, als er die Bühne betritt, er verwandelt sich auch vom Schauspieler in einen Dichter. Andere Dramen Golls handeln von einem vergleichbaren Wandel, wenn auch in umgekehrter Richtung. In Celui-qui-ne-meurt-pas (1920) verheißt ein Photograph dem Komponisten Sébastien Unsterblichkeit, wenn er sich von ihm ablichten lasse.45 Freilich müsse er hierfür, im wörtlichen Sinne, sein Leben aushauchen.46 In Assurance contre le suicide (1920) empfiehlt ein Journalist dem Redner Dr. Gulfstream, unmittelbar nach seinem Vortrag über die Zukunft der Menschheit Selbstmord zu begehen, um seiner Rede den gewünschten Nachdruck zu verleihen. Er selbst werde den Nachruf schreiben und ihm so zur Unsterblichkeit verhelfen.47 43 Vgl. Leiris, Michel: L’âge d’homme (1939), Paris 1979, S. 45f. 44 Vgl. Goll 1968, S. 111 (La Chaplinade, 1. Szene, Regieanweisung): „D’un bras vigoureux, le Colleur d’affiches prend Charlot au collet et le plaque au mur tel une simple affiche. Charlot y reste collé. […] [Il] rit, sourit, rit, sourit! Survient un vieil arlequin avec une longue barbe blanche, masque tolstoïen et sonnettes au col sali. Ici Charlot ne se maîtrise plus et commence à pleurer comme un enfant… puis après un instant, il se met à rire, il rit plus fort que jamais, il se tord, jusqu’à ce que le vieillard sourie avec lui… alors il se détourne et essuie une larme.“ 45 Vgl. die Ausführungen, mit denen der Photograph Ballon sich bzw. seine Kunst Sébastien empfiehlt: „Je suis photographe d’âmes. C’est-à-dire que je peux vous éterniser, sans douleur; vous continuerez à vivre dans les yeux et dans le souvenir de l’humanité, mais vous-même vous disparaîtrez […]. Vous serez immortel au sens le plus chimique du mot, papier au bromure d’argent et acide chlorhydrique. Bref, je vous prends en photo. Sans douleur, oh! sans douleur! Vous vivrez éternellement“. (Goll, Yvan: Celui-quine-meurt-pas, in: ders.: Mathusalem ou l’éternel bourgeois. Les immortels, Paris 1963, S. 115f.) 46 Vgl. ebd., S. 119 (Ballon zu Sébastien): „Cette petite lentille d’appareil photographique, là, sous mon plastron de chemise… prend votre âme… Opération parfaitement indolore: mourez, je vous prie, et veuillez souffler votre précieuse âme dans la boîte“. 47 Vgl. Goll, Yvan: Assurance contre le suicide, in: ders.: Mathusalem ou l’éternel bourgeois. Les immortels, Paris 1963, S. 141f. (der Journalist
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Wie immer der Übertritt des Menschen (oder der Figur aus Fleisch und Blut) in ein anderes Medium gestaltet ist – ob so, dass Charlot zum Eigensten kommt, indem er vom Plakat auf die Bühne herabsteigt, oder umgekehrt so, dass Sébastien und Dr. Gulfstream sterben müssen, um Unsterblichkeit zu erlangen –, stets bezeichnet bei Goll die Sphäre der Öffentlichkeit und Medienrepräsentanz den Tod. Sie ist das Uneigentliche, eine schlechte, abklatschhafte Existenz im Ruhm. So fortschrittsgläubig Goll also die neuen Medien auf technischer Ebene einsetzt, so auffällig widerstreitet diese technische Aufgeschlossenheit dem Gehalt der Stücke. Immer wieder wird in der Forschung deshalb auf den Romantizismus Golls verwiesen. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass Figuren wie Sébastien, Dr. Gulfstream oder der Student in Mathusalem groteske Züge tragen und eben deshalb nicht für eine Aufrechterhaltung des romantischen Ideals stehen können. Dr. Gulfstream, der Übermensch von morgen, ist gestern bereits gestorben.48 Sébastien, dem großen Komponisten, wird vorgehalten, sein erfolgreiches Lied „Mon cœur, c’est une ruche“ sei ein ehemaliges Volkslied, also ein Plagiat.49 Der revolutionäre Student in Mathusalem erweist sich, als sich ihm die Gelegenheit bietet, so geldgierig wie jeder Kapitalist.50 Keine Figur, auch kein Repräsentant des Idealen, entgeht bei Goll der alles zermalmenden Groteske – mit einer Ausnahme: der des DichterClowns Charlot.51 Das hat naheliegende Gründe. Man kann und muss
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Camembert zu Dr. Gulfstream): „[...] mourez donc tout de suite, ce soir. Cela multipliera votre renommée par mille. Mort au champ d’honneur de l’humanité. […] Votre nom vivra éternellement. Qu’est-ce qu’une vie humaine, de nos jours, sans l’accident mortel qui la complète? Personne ne croira en vous, si vous ne pouvez pas mourir pour ça. Le monde réclame des héros. Je vous le conseille amicalement: mourez! Monsieur le Public est encore là. Il pourra assister au spectacle. […] Discourez, d’abord, pendant la nuit entière. Ayez votre attaque au moment où l’on sort les journaux du matin. Vous pourrez entendre crier votre nom dans tous les bureaux de poste, dans toutes les épiceries, dans tous les cafés et sur tous les champs d’aviation!“ Vgl. ebd., S. 147 (Le Journal du matin): „Edition spéciale! Le cas étrange du Docteur Gulfstream! Il était le surhomme de demain, et il est mort hier!“ Vgl. Goll 1963, S. 118 (Celui-qui-ne-meurt-pas, Ballon): „Savez-vous que votre chanson populaire est un plagiat? Au temps où l’on était sentimental, elle était chantée par les petites grues et par les abeilles.“ Vgl. Goll 1963, S. 85 (Mathusalem, 9. Szene). Vgl. hierzu auch Goll, Iwan: „Apologie des Charlot“, in: Die Neue Schaubühne, Jg. 2, Nr. 2 (1920), S. 31-33, hier S. 32: „Charlot ist der schamloseste aller Zeitgenossen: er besitzt nur einen Melonhut, nur ein winziges Rohrstöckchen, auf dem er auszuruhen und sich zu stützen
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eine Figur nicht ins Lächerliche ziehen, die von sich aus schon, wenn auch in anderer als der grotesken Weise, lächerlich ist. Nur unter dieser Konstellation kann sich in Ansätzen der lyrisch-romantische Anspruch der Dichtung gegen die Groteske, aber auch gegen die neuen Medien behaupten. Indem Goll dem Dichter das komische Mäntelchen einer Stummfilmfigur überwirft, kann er an dem alten Modell des Dichters festhalten, ohne sich seinerseits als rückständig darzustellen und der Lächerlichkeit preiszugeben. Dieser Lesart antwortet Golls Einschätzung des Theaters: Die alten Institutionen und Rollen können, sowohl hinsichtlich ihres Gehalts wie hinsichtlich ihrer ästhetischen Technik, nur überleben in einer intermedialen Verschränkung mit den neuen.52 Der bühnentechnischen Adaptation filmischer Mittel auf dem Theater antwortet auf der Ebene des Sujets die Verkleidung des Dichters in eine Stummfilmfigur.
vorgibt, immer dasselbe Paar Schuhe mit den Bügeleisenfüßen, die er wie Kerkergewichte mit sich schleppt, der Engel, der ein Aviatiker zu werden verdiente! Bei jeder noch so imposanten Zeremonie: derselbe Aspekt. Charlot ist eben der logischste Mensch von heute. Es ist nichts ernst zu nehmen, und er grinst auf alles. Nichts existiert für ihn. Was Anstand, was Bruderliebe! – Ist er ein brutales Vieh ohne Moral? Niemand dachte noch an solche Blasphemie. Nein. Charlot ist ein guter Mensch. Er tötet zwar seinen Nächsten: aber dieser steht im nächsten Augenblick wieder auf. Er verlässt seine Geliebte und strolcht auf Monddächern herum. Er isst den Käse mit dem Messer. Er zeigt nicht den nötigen Ernst beim Ankauf einer Eisenbahnfahrkarte – aber das Publikum lacht, lacht sich tot. [...] Türme vermögen im Sturz seinen steifen Melonhut nicht einzudrücken. Expresszüge rasen unter seiner Hose weg: er sitzt seelenvergnügt mitten in der Welt und grinst. Er kämmt sich, grinst. Plötzlich ist er nicht mehr. Verschwand ohne Wehmut aus dem Leben dieser einen Viertelstunde, ohne Grund. Er kam ja ohne Grund auf die Welt! Wozu der ewige dramatische Knall.“ 52 Vgl. Goll 1920, S. 142f. (Das Kinodram): „Schon vertreibt und ersetzt das Lichtbildpalace das Staatstheater. Aber das Theater kann sich am Kino rächen, indem es diesen auffrisst, das heißt, ihn sich zu eigen macht. [...] – Auch das ‚metaphysische Wort‘ wird nicht fehlen. Vertrauen wir auf den kommenden Erfinder, der uns das ‚redende Kino‘ schenkt. Inzwischen hat aber der Dichter genug zu tun, das Szenario zu schreiben und in Grammophone zu diktieren. – Seine Aufstellung von Filmsituationen wird bewegte Dichtung sein. Seine Menschen, leibhaftig auf der Bühne, sprechen wie wir alle. [...] So werden im Kinodram alle Künste mitwirken: es wird nicht nur Dichtung sein, sondern Malerei, Musik, Plastik, Tanz.“
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PICASSOS SURREALISTISCHES THEATER Voir le dessous des cartes et découvrir ce qui se passe dans la coulisse. Derrière une apparence de jeu il y a quelque chose de sérieux, derrière le sérieux il y a quelque chose de comique (Michel Leiris, Brisée)
Abstract Picasso est à travers toute son œuvre un artiste particulier Il a initié et inventé des mouvements d’art et d’avant-garde, mais il ne se laisse pas classifié sous telle ou telle époque. On reproche à Breton d’avoir illégitimement supposé Picasso sous le Surréalisme, mais même si Picasso n’est pas un Surréaliste, son théâtre reflète aussi bien le Surréalisme que l’Existentialisme. La relation entre Picasso et le théâtre ne peut être complètement saisie en analysant ses deux pièces Le désir attrapé par la queue (1941) et Les quatre petites filles (1948). Le théâtre se retrouve aussi dans la peinture de Picasso : par exemple dans le motif d’Harlekin, des Saltimbanques et d’arène de tauromachie. Je ne vise sûrement pas à présenter tous ces liens, mais en comparant quelques exemples de la peinture avec ses pièces surréalistes, on peut chercher une conception commune d’une théâtralité de la vie. À côté des scènes de rêve, des chaînes d’association, d’absence d’une structure narrative, le théâtre de Picasso trouve la surréalité dans la réalité, dans la vie quotidienne car le jeu des masques, le carnaval font partie de cette vie. C’est en même temps la plus grande différence entre Picasso et les Surréalistes et aussi le plus grand lien. En effet, il n’est pas nécessaire de fuir vers le rêve puisque la surréalité se trouve en observant la vie. Versuche Picasso in diese oder jene künstlerische Epoche einzuteilen, sind meist zum Scheitern verurteilt. Er hat zwar zahlreiche avantgardistische Bewegungen angeregt, aber steht doch immer außerhalb dieser. Breton hat man vorgeworfen, Picasso für den Surrealismus vereinnahmt zu haben, doch selbst wenn man Picasso nicht als Surrealisten bezeichnen kann, so reflektiert sein Theater doch beides: Surrealismus und Existentialismus. Die facettenreiche Beziehung Picassos zum Theater kann man sicher
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nicht allein an seinen beiden Theaterstücken (Le désir attrapé par la queue (1941) und Les quatre petites filles (1948)) ablesen. Neben seinem Engagement für Cocteaus Parade (1917), zieht sich das Thema des Theaters durch Picassos Malerei: z.B. im Motiv des Harlekin, der Gaukler oder der Stierkampfarena. Sicherlich ist es nicht möglich allen diesen Verbindungen nachzugehen, aber im Vergleich von Theaterbildern und den beiden Theaterstücken zeigt sich eine gemeinsame Konzeption der Theatralität des Lebens. Neben Traumszenen, surrealistischen Assoziationsketten und einer fehlenden narrativen Struktur drückt sich der Surrealismus vor allem in Picassos grundlegender Realitätskonzeption aus: Das surrealistische Maskenspiel, der Karneval sind für Picasso Teile des Alltäglichen. Letzteres ist dabei gleichzeitig größte Gemeinsamkeit und größter Unterschied zwischen Picasso und den Surrealisten. Denn es scheint notwendig, auf der Suche nach der Surrealität in den Traum zu fliehen und sie doch in der genauen Beobachtung der Realität zu finden.
Die Malerei ist ebenso wie das Theater, der Film und das Leben eine Bühne, auf der sich im Schein des Spiels Ernst und Komik treffen. Picasso hat sich während seines gesamten Schaffens mit dem Theater der Malerei und des Lebens beschäftigt und so ist es nur konsequent, dass daraus auch zwei bemerkenswerte – wenn auch selten aufgeführte – Theaterstücke entstanden sind: Le désir attrapé par la queue (1941) und Les quatre petites filles (1948). Wenn von Picasso und dem Theater die Rede ist, werden meist nur seine Theatermotive in der Malerei oder seine Kostüme und Vorhänge für unterschiedliche Theaterprojekte von Cocteau, Diaghilew, Massine, Roland, u.a. berücksichtigt.1 Picasso selbst verweist aber in seinen Theaterstücken auf seine Malerei und umgekehrt, so dass man beides schon allein deshalb gemeinsam betrachten muss, wie im Folgenden einige ausgewählte Beispiele zeigen werden. In seinen Theaterstücken und Theaterbildern bringt Picasso nicht nur die Medien Malerei, Theater und Skulptur zusammen, sondern reflektiert generell die Beziehungen von Raum und Subjekt, von Realität und Surrealität. Daher bewegt er sich mehr als andere zwischen Surrealismus und Existentialismus. Zunächst erschrecken die beiden Theaterstücke Picassos aus den 40er Jahren durch gewaltvolle, zum Teil ekelerregende, aber auch eroti1 Vgl. Bagunyá, Lluís et al. (Hrsg.): Picasso y el teatro (Ausstellungskatalog Museu Picasso Barcelona, 19.11.1996-23.02.1997), Barcelona 1996; Cooper, Douglas: Picasso Theatre, New York 1987; Glózer, László: Picasso und der Surrealismus, Köln 1974, S. 110; Menaker Rothschild, Deborah: Picasso’s ‚Parade‘. From Street to Stage, (Ausstellungskatalog The Drawing Centre New York, 06.04-13.06.1991), London 1991; Warncke, Carsten-Peter: Pablo Picasso. Ingo F. Walther (Hrsg.), 1. Bd., Köln 1995, S. 252ff.
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sche Bildphantasien. Die Szenen sind gleichzeitig urkomisch, absurd und vor allem sinn- und handlungsfrei. Als zentrale Motive nennt Henri Béhar „la faim et l’amour“,2 denen man noch Kälte, Angst und Tod hinzufügen könnte. Es sind Themen, die im von den Deutschen besetzten Paris 1941, als Picasso in nur drei Tagen Le désir attrapé par la queue schrieb,3 ganz entschieden in der erlebten Realität verankert sind. Surrealistische Traumästhetik, die sich in halluzinatorischen Bildern, Assoziationsketten und dem Fehlen einer narrativen Struktur in Picassos Theater zeigt, steht hier offenbar im Widerspruch zur existenzbedrohenden Realität. Auf der einen Seite findet man den Schrecken des Krieges mit den Themen Hunger und Liebe, die Picasso auf der anderen Seite in eine surrealistische hungrige Liebeserklärung verwandelt: L’ANGOISSE MAIGRE (regardant le Gros Pied) – il est beau comme un astre c’est un rêve repeint en couleurs d’aquarelle sur une perle […] – son pantalon est gonflé de tous les parfums d’Arabie ses 4 mains sont de transparentes glaces aux pêches et aux pistaches...
Es handelt sich um einen gemalten Traum, der in die Surrealität entführt, aber doch niemals den Hunger vergessen lässt. Diese Kluft zwischen der Realität des Krieges und der Surrealität der Traumphantasien in Le désir attrapé par la queue spiegelt m.E. auch die Kluft zwischen Surrealismus und Existentialismus wider. Picasso bringt jedoch in seinem Stück beides zusammen. Das zeigt sich nicht nur in der Besetzung der privaten Uraufführung im Hause von Michel Leiris mit Beauvoir, Sartre und Camus, die sich offenbar keineswegs an den surrealistischen Traumdialogen störten (vgl. Abb. 1). Gerade innerhalb des Textes verbinden sich surrealistische und existentialistische Themen. Picasso verwandelt die Angst und den Hunger in schrecklich-schöne Traumbilder und bringt dennoch oder gerade deshalb die Isolation, die Einsamkeit und Absurdität unserer Existenz zum Ausdruck. Besonders eindringlich zeigt sich dies in der letzten Szene von Le désir attrapé par la queue: LE Gros PIED: – enveloppons les draps usés dans la poudre de riz des anges – et retournons les matelas dans les ronces – allumons toutes les lanternes – lançons de toutes nos forces les vols de colombes contre les balles – et fermons à double tour les maisons démolies par les bombes. Tous les personnages s’immobilisent d’un côté et autre de la scène – par la fenêtre du fond de la pièce, en l’ouvrant d’un coup, rentre 2 Vgl. Béhar, Henri: Le théâtre Dada et surréaliste, Paris 1979, S. 357. 3 Vgl. ebd. 4 Picasso, Pablo: Le désir attrapé par le queue, Paris 1989, S. 33.
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NANETTE RISSLER-PIPKA une boule d’or de la grandeur d’un homme, qui éclaire toute la pièce et aveugle les personnages, qui sortent de leur poche un mouchoir et se bandent les yeux et, étendant le bras droit, se montrent du doigt les uns et les autres, criant à la fois et plusieurs fois: Toi Toi Toi (sur la grosse boule d’or apparaissent les lettres du mot: „personne“) 5 Rideau.
Das Brombeergestrüpp, Reispuder, Angelrute und Taubenschwärme erscheinen als Teile eines fröhlichen surrealistischen Traumes, doch werden sie durch den Krieg, die zerbombten Häuser, die Gewehrkugeln in der Schönheit ihrer Bilder gebrochen. Und die Frage nach der Identität wird existentialistisch mit „personne“, „niemand“ beantwortet. Abbildung 1: Akteure „Le désir attrapé par la queue“ (Foto: Brassaï, 26.06.1944)6
5 Ebd., S. 66-67. 6 Ort: Picassos Atelier, Rue des Grands Augustins, Ort der Urauffühung: Wohnung Leiris (19.03.1944). Stehend v. links: Jacques Lacan, Cecile Eluard, Pierre Reverdy, Louise Leiris (Les deux Toutous), Zanie Aubier (La Tarte), Picasso, Valentine Hugo, Simone de Beauvoir (La Cousine). Sitzend: Jean-Paul Sartre (Le Bout Rond), Albert Camus, Michel Leiris (Le Gros Pied), Jean Aubier (Les Rideaux). Nicht auf dem Foto: Dora Maar (L’Angoisse Maigre), Germaine Hugnet (L’Angoisse Grasse), Raymond Queneau (L’Oignon), Jacques Bost (Le Silence).
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Auch diese Verbindung von Surrealismus und Existentialismus passt zum Kommentar von Michel Leiris über Picasso und das Theater, dass sich hinter dem Schein des Spiels der Ernst ‚des Lebens‘ verberge und hinter dem scheinbar Ernsten das Komische.7 Der Blick hinter die Kulissen („découvrir ce qui se passe dans la coulisse“) meint hier nicht, dass so die Illusion des Theaters aufgedeckt würde, sondern, dass die Theatralität des Lebens sichtbar werde. Leiris betont weiterhin, dass sich Picasso über die Inszenierungen in der Malerei und sogar über den eigenen Schaffenskampf amüsieren kann.8 Dahinter verbirgt sich bei Picasso ein Nachdenken über Schein und Illusion, um die es nicht nur im Theater geht, sondern, laut Leiris in der Kunst allgemein, aber auch bei der Identitätskonstruktion des Subjekts. Réalité ou fiction: il n’est pas d’art véritable – et tel est celui de notre grand Pablo Picasso – en lequel la fiction, à chaque instant, ne recouvre une réalité aussi authentiquement sentie qu’il est pour Hamlet faisant jouer une action à la fois consternante quant à l’assassin qui s’y reconnaît et tonique quant à lui qu’elle affranchit 9 temporairement d’une obsession.
Ausgehend vom ‚großen‘ Themenkomplex um Picasso und sein Verhältnis zur sichtbaren Realität, wird in zahlreichen Untersuchungen als entscheidender Unterschied zwischen Picasso und den Surrealisten immer wieder seine Realitäts- und Authentizitätskonzeption angeführt.10 Verein-
7 Vgl. Motto: Leiris, Michel: „Picasso et la comédie humaine ou les avatars de Gros Pied“, in: ders.: Brisées, Paris 1966, S. 192-93. 8 Vgl. ebd., S. 195. Als Beispiel bringt er die Schreibschwierigkeiten des Gros Pied, die er mit seiner Muse La Tarte ebenso teilt wie der alternde Künstler mit dem jungen Modell in der Serie von Zeichnungen „Peintre et Modèle“, die Picasso 1953-1954 malte. (Mit diesem Thema beschäftigte sich Picasso allerdings auch schon 1927/1928 in einigen Ölgemälden und Zeichnungen.) 9 Ebd., S. 184. 10 Vgl. z.B. Glózer 1974, S. 77ff.; Warncke 1995, S. 305-380. Anlässlich der Bielefelder Ausstellung Picassos Surrealismus (Kunsthalle Bielefeld 1991) wurde das Thema ebenfalls kontrovers diskutiert, vgl. Ausstellungskatalog hg.v. Ulrich Weisner, Stuttgart 1991. Darin liefert John Golding einen Erklärungsversuch, warum Picasso zwar surrealistische Texte und Theaterstücke verfasste, seine anderen Kunstwerke aber schwieriger dem Surrealismus zuzuordnen sind: „Es steht wohl außer Zweifel, daß Picasso sich in letzter Konsequenz mehr zu den surrealistischen Schriftstellern und ihrer Literatur hingezogen fühlte als zum visuellen Surrealismus, dem er meist doch ein gewisses Mißtrauen entgegenbrachte. Seit seiner kubistischen Zeit war er fasziniert gewesen von der Beziehung zwischen geschriebenem Wort
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facht kann man den Tenor wie folgt darstellen: Während die Surrealisten der Realität in eine Surrealität entfliehen, gehe Picasso unwiderruflich von der sichtbaren Realität aus. Picasso sagt zwar über sich selbst, er sei kein Surrealist, weil er die Wirklichkeit wirklicher darstellen möchte. Doch führt das nicht gerade zu einer Form der Surrealität, eben einem Mehr an Wirklichkeit? Auch wenn man vor allem Picassos Malerei betrachtet, wird deutlich, dass er von der Theatralität derselben ausgeht, und dass er sich selbst in immer neuen Masken erfindet und definiert.
Das Theater der Malerei: Entgrenzung von Raum und Subjekt Die Verbindung zwischen dem Theatermotiv in Picassos Malerei und seinen beiden Stücken stellt gleichzeitig eine Reflexion über Realität, Raum und Subjekt dar. Im Anschluss an Helga Finter und Foucault kann man das Theater als Ort der Identitätsbildung verstehen. Dieser Ort jedoch beschränkt sich nicht auf die Theaterbühne und lässt sich weder geografisch noch logisch eindeutig fassen. Helga Finter definiert den Theaterraum wie Foucault als Nichtort, als Non-lieu: Er soll virtueller, zu konstruierender Raum werden, und zwar ein potentieller Raum, in dem das Subjekt sich entwirft und transfigu11 riert, erst wird.
Foucault bezieht diese Heterotopie auf Theater und Kino. Hier wird daher weniger das Subjekt angesprochen als vielmehr die Virtualität und Gleichzeitigkeit der Räume: Die Heterotopie vermag an einem einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind. So läßt das Theater auf dem Viereck der Bühne eine ganze Reihe von einander fremden Orten aufeinander folgen; so ist das Kino ein merkwürdiger viereckiger Saal, in dessen Hintergrund man einen zweidimensionalen Schirm einen dreidimensionalen 12 Raum sich projizieren sieht.
und gemaltem Bild; mit den Surrealisten teilte er das Interesse an der Vorstellung von Malerei als Zeichensprache.“ (Ebd., S. 184). 11 Finter, Helga: Der subjektive Raum, 1. Bd., Tübingen 1990, S. 1. 12 Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: ders., Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien, Jan Engelmann (Hrsg.), Stuttgart 1999, S. 145157, hier 152f.
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Mehrere Räume werden in Picassos Malerei in einem Bild zusammengebracht, mehrere Platzierungen, die unvereinbar sind, werden in der von Leiris angesprochenen Verbindung von Ernst und Komik in Picassos Theater zusammengebracht.13 Die Suche des Subjekts, seine Verlorenheit und die Bewegung, in der es sich selbst und der Raum befindet, betont Picasso ebenfalls in seinen Theaterbildern, die sich konsequent durch sein gesamtes Œuvre ziehen. Douglas Cooper meint sogar: „In Picasso’s mind there exists a parallel between painting and the theatre“14, obwohl er die Parallele zwischen Picassos eigenen Theaterstücken und seinen Theaterbildern, -vorhängen und -kostümen nicht zieht. Picassos berühmtestes Motiv aus dem Bereich des Theaters ist sicher der Harlekin und die Gaukler allgemein, die den Zusammenhang von Ernst und Spiel durch die Kombination von traurigem Gesichtsausdruck und lustigem Kostüm auf einfache und klare Weise ausdrücken. Ein Beispiel dieses Sujets ist die Gauklerfamilie, La famille des Saltimbanques (vgl. Abb. 2). Abbildung 2: Pablo Picasso, La famille des Saltimbanques (1905), Öl auf Leinwand, 212,8 x 229,6 cm
13 Vgl. Motto. 14 Cooper 1987, S. 12.
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Die Isolation der einzelnen Personen, trotz ihrer Gemeinschaft als Familie und Schauspieltruppe auf der einen Seite und ihre Verlorenheit in der kargen, leeren Landschaft auf der anderen Seite führen zu vielseitigen Diskussionen. Belting beschreibt die Truppe als Gaukler ohne Theater, deren Vorführung in „einem ortlos gewordenen Raum“ nicht mehr möglich scheint.15 Während die Saltimbanques von 1905 also keinen Raum, keine Bühne haben, auf der sie agieren können, erhalten die Gaukler im Bühnenvorhang zu Cocteaus Parade von 1917 gleich mehrere Räume in einem (vgl. Abb. 6). Zwischen La famille des Saltimbanques und Parade liegt allerdings die Zeit von Picassos Kubismus, der mit den berühmten Demoiselles d’Avignon (1907) beginnt. In der ersten Skizze (vgl. Abb. 3) ist der Theaterraum des Bordells – das im Sinne Foucaults auch eine Heterotopie darstellt – noch klar durch Vorhänge zu erkennen. Am linken Bildrand steht ein bekleideter Mann und betrachtet die Frauen, die sich durch das Zur-Seite-Schieben mehrerer Vorhänge sowohl dem Kunden als auch den Betrachtern anbieten. In der Bildmitte sitzt ebenfalls eine bekleidete Figur, deren Geschlecht sich nicht zuordnen lässt. Abbildung 3-4: Pablo Picasso, Studien für Les Demoiselles d’Avignon (1907), Bleistift und Pastell auf Papier, 47,7 x 63,5 cm; Aquarell auf Papier, 17,5 x 22,5 cm
In der darauffolgenden Skizze (vgl. Abb. 4) verschwindet der Kunde bereits aus dem Bild, die Figuren werden geometrischer. Die gesamte Szenerie erscheint aufgrund des Pinselstrichs dynamischer, die Farbpalette wird heller, aber nicht unbedingt freundlicher (kaltes Blau setzt sich vom warmen Orange ab). Alle bekleideten Figuren verschwinden aus dem Bild, bzw. der Kunde am linken Bildrand hat sich in eine nackte Frau verwandelt. 15 Belting, Hans: Das unsichtbare Meisterwerk, München 1998, S. 284f.
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Abbildung 4: Pablo Picasso, Les Demoiselles d’Avignon (1907), Öl auf Leinwand, 243,9 x 233,7 cm
Auch wenn sich im fertigen Bild (vgl. Abb. 5) sowohl Raum als auch Figuren in Auflösung befinden, handelt es sich dennoch um eine Theaterszene, wie z.B. auch Hans Belting anhand der Skizzen belegt.16 Der Mann verschwindet als Zuschauer zwar aus dem Bild, aber die Vorhänge werden einer Theaterszenerie angepasst, indem sie an beiden Seiten wie auf einer Bühne weggeschoben werden. Im Gegensatz dazu steht die Bewegungslosigkeit der Figuren. Belting nennt sie „in der Bildfläche eingefroren“.17 Es ist ein grausames Theater der Malerei, das Schritt für Schritt die Zeichen des Lebens aus den Figuren löscht, statt sie nach Pygmalions Vorbild zu verlebendigen. Doch gerade indem Picasso seinem literarischen Vorbild Frenhofer aus Balzacs Novelle Le Chef d’œuvre inconnu folgt und das lebendige Modell durch eine „‚Wand aus Malerei‘“ tötet – wie Belting meint18 –, verwandelt er die Frauen im Bordell nicht in ein 16 Vgl. ebd., S. 293. 17 Ebd. 18 Vgl. ebd.. Belting betont weiterhin: „Picasso konnte das Werk aber nicht in diese extreme Präsenz treiben, ohne es auf jene Absenz zu beziehen, welche die Idee der Kunst selbst ist.“ Picasso gelingt es ebenso wie Balzac in seiner Novelle gleichzeitig die Opferung des Modells (die Absenz) als auch dessen Ursache (die Präsenz, d.h. Lebendigkeit des Bildes) aufzuzeigen. Bei Bal-
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Frauenopfer, sondern illustriert die Opferung durch den Blick des Malers, Bildbetrachters oder eben Theater- und Kinozuschauers. Das Theater wird neben dem Vorhang auch durch die afrikanischen Masken19 angesprochen, die im fertigen Bild hinzugefügt wurden. Picasso geht vielleicht auch aufgrund dieses Theatermotivs in Le désir attrapé par la queue auf die Demoiselles ein und lässt sein Alter Ego Gros Pied despektierlich und selbstironisch sagen: „les demoiselles d’Avignon ont déjà trente-trois longues années de rente“.20 Die Verbindung zwischen den beiden Theaterstücken und seinen künstlerischen Theaterarbeiten geht allerdings weit über solche Anspielungen auf eigene Werke hinaus. Komplexer werden die Beziehungen zwischen Theater, Malerei, Skulptur, Musik und Tanz bei Jean Cocteaus Ballett Parade von 1917. Es entstand in Zusammenarbeit mit Diaghilew (Tanz), Satie (Musik) und Picasso (Kostüme, Bühnenvorhang). Während Picassos Kostüme noch kubistischen Skulpturen ähneln, wechselt er mit dem Vorhang (vgl. Abb. 6) seinen Stil grundlegend und bringt im Vergleich zu den Demoiselles wesentlich mehr Bewegung in die Malerei.
zac ist es das Farbenchaos und der ‚lebendige‘ Fuß in Frenhofers Meisterwerk. Vgl. zu Balzac und dem Frauenopfer Vf.: Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion, Diss. Universität Siegen 2003. 19 Mit den Masken nimmt Picasso in seinem kubistischen Gemälde außerdem ein Motiv des Surrealismus vorweg, da Bretons berühmte Sammlung afrikanischer Kunst wichtiger Bestandteil der Bewegung war und auch in der Zeitschrift Minotaure, für die Picasso das erste Titelblatt gestaltete nimmt dieses Thema einen großen Platz ein. Vgl. Sondernummer von Minotaure no. 12-13 (1939) zu Bretons Mexiko-Reise. 20 Picasso 1989, S. 55.
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Abbildung 5: Pablo Picasso, Bühnenvorhang zu Cocteaus Parade (1917), Tempera auf Stoff, 10,6 x 17,25 m
Dabei handelt es sich keineswegs um einen Rückschritt zur gegenständlichen Malerei, wie Picassos Zeitgenossen kritisierten, sondern „Picasso etabliert hier die Antinomie, die künftig sein gesamtes Werk mit seinen figurativen und abstrahierenden Renaissancen bestimmen sollte“, wie Werner Spies in seiner Analyse betont.21 Diese Antinomie zeigt sich jedoch nicht nur im Gegensatz von kubistischen Kostümen und dem Vorhang, wie Spies meint, sondern auch innerhalb der Vorhangkomposition selbst. Picasso verdoppelt die Bühne, den Theaterraum in seinem Vorhang nicht nur, er vervielfältigt ihn sogar. Abgesehen davon, dass es sich selbst um einen Theatervorhang handelt, sind weitere hintereinander angebrachte Vorhänge zu sehen. Der Raum führt perspektivisch hinten in eine offene Landschaft, die wiederum in mehrere Ebenen eingeteilt ist. Es handelt sich sowohl um eine Reflexion über den theatralen wie auch über den bildlichen Raum. So werden hier mehrere Medien und mehrere Ebenen der Realität übereinander gelegt. Das Theater kann als Heterotopie verstanden werden, weil in einem Bild, auf einer Bühne mehrere Räume und Realitäten zusammenkommen, „die an sich unvereinbar 21 Spies, Werner: Kontinent Picasso. Ausgewählte Aufsätze aus zwei Jahrzehnten, München 1988, S. 31-43, hier: S. 42.
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sind.“22 Auf diese Weise stellt Picasso auch das oben angesprochene „Mehr“ an Realität dar, das in den Bereich der Surrealität führt. Es verwundert daher nicht, dass der Begriff des Surrealismus von Apollinaire in der Vorankündigung dieses Stückes gebraucht wird, auch wenn er nur Picassos Kostüme würdigt, die die Realität in eine Surrealität übersetzen könnten.23 Eine weitere Verbindung zum Surrealismus besteht darin, dass Picasso dieses Bild Parade in den Traumsequenzen seiner Theaterstücke wieder aufgreift. In Les quatre petites filles lässt er einen geflügelten Riesenschimmel, der seine Eingeweide hinter sich her zieht und auf dessen Kopf eine Eule sitzt vor einem kleinen Mädchen auf- und wieder abtreten. In der Regieanweisung heißt es: (Entre un énorme cheval blanc ailé traînant ses tripes, entouré d’aigles; un hibou est posé sur la tête; il reste un court moment de24 vant la petite fille et disparaît de l’autre côté de la scène.)
Dieser Auftritt des befremdlichen Pferdes stört in keiner Weise den langen surrealen Monolog des Mädchens. Diese Wiederaufnahmen eines Motivs bezeichnet Leiris als Avatare, die Picasso verfolgen und seine Werke untereinander verknüpfen.25 In diesem Fall kann man jedoch eine spezielle Theaterverbindung zwischen den einzelnen Werken feststellen. 22 Vgl. Anm. 12. 23 Vgl. Apollinaire: Œuvres en prose complètes. Pierre Caizergues/Michel Décaudin (Hrsg.), Paris 1991, Bd. 2, S. 865f. Spies argumentiert zwar, Apollinaire habe den Vorhang selbst noch gar nicht gesehen als er die Ankündigung schrieb, doch Apollinaires Beschreibung von Picassos Beitrag zum Ballett als einer Abbildung der sichtbaren Elemente und mehr als dieser oder auch der Zusammenführung der Gegensätze passt ebenso auf den Vorhang: „Il s’agit avant tout de traduire la réalité. Toutefois, le motif n’est plus reproduit mais seulement représenté et plutôt que représenté il voudrait être suggéré par une sorte d’analyse synthèse embrassant tous ses éléments visibles et quelque chose de plus, si possible, une schématisation intégrale qui chercherait à concilier les contradictions en renonçant parfois délibérément à rendre l’aspect immédiat de l’objet.“ (Ebd. S. 866; vgl. auch Spies 1988, S. 32.) 24 Picasso, Pablo: Les quatre petites filles, Paris 1968, S. 60. 25 Vgl. Leiris 1966, S. 188. Leiris findet ein ähnliches Motiv außerdem in Picassos Bildern La guerre et la paix und Minotauromachie. In Letzterem greift Picasso die Komposition und das Motiv aus Course de taureaux: la mort du toréro (vgl. Abb. 7) auf. Aus dem Torero ist in Minotauromachie allerdings eine Frau geworden und das kleine Mädchen verweist auf Picassos Theaterstück Les quatre petites filles. Der Minotaurus selbst ist dem aus Picassos Titelblatt für die gleichnamige surrealistische Zeitschrift nachempfunden (vgl. Anm. 27).
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Denn auch in Le désir attrapé par la queue spricht der Klumpfuß von einem Pegasus, der seine Eingeweide hinter sich her zieht: „les tripes que traîne Pégase après la course dessinent son portrait sur la blancheur et la dureté du marbre brillant de sa douleur“.26 Nicht nur der Theatervorhang zu Parade und die beiden surrealistischen Theaterstücke werden auf diese Weise verbunden, sondern der Riesenschimmel taucht ohne Flügel, aber mit den Eingeweiden, die er hinter sich herzieht, in einem weiteren Theater-Bild Picassos auf: Course de taureaux: la mort du toréro (vgl. Abb. 7). Abbildung 6: Pablo Picasso, Course de taureaux: la mort du toréro (1933), Öl auf Holz, 31,2 x 40,3 cm
Schimmel, Torero und Stier scheinen zu einer Figur verschmolzen und nehmen fast das gesamte Bild ein, doch im Hintergrund erkennt man noch den theatralen Ort: die Stierkampfarena. Der Stierkampf ist ein beliebtes Thema Picassos, das besonders aufgrund der Gewalt und Todeserfahrung mit dem Surrealismus in Verbindung gebracht werden kann. Abgewandelt im Motiv des Minotaurus stellt er außerdem Picassos engste
26 Picasso 1989, S. 47.
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Zusammenarbeit mit den Surrealisten für die Zeitschrift Minotaure dar und kann als sein Alter Ego betrachtet werden.27 Auch in Les quatre petites filles kommt der Stierkampf am Rande vor. Die Träumereien der Mädchen werden vom vierten kleinen Mädchen brüsk unterbrochen, indem es den Tagesablauf des Vaters in Form eines Protokolls wiedergibt. Der Stierkampf ist hier nur ein Detail, aber er scheint neben Baden, Essen und Trinken zu den essentiellen Beschäftigungen des Vaters zu gehören. PETITE FILLE IV: Aujourd’hui le dix-sept du mois de mai de l’année mil neuf cent quarante-huit, notre père a pris son premier bain et hier, beau dimanche, est allé voir à Nîmes une course de taureaux avec quelques amis, mangé un plat de riz à l’espagnole et bu aux 28 éprouvettes du vin à œnologie.
Abgesehen davon, dass Picasso selbst oft mit Freunden zum Stierkampf ging, ist die Stierkampfarena einer der wenigen Orte, wo man noch bis heute der öffentlichen rituellen Opferung beiwohnen kann. Es handelt sich dabei um eine Heterotopie im Sinne eines ganz anderen Ortes innerhalb unserer Gesellschaft. Durch den Eintritt in die Arena verlässt das Subjekt ebenso wie im Theater oder Kino die sichere Umgebung der gewohnten Realität und begibt sich mit den Worten Foucaults in einen „Kompensationsraum“: „einen anderen wirklichen Raum, der so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist wie der unsrige ungeordnet, mißraten und wirr ist“.29 Denn die Opferung des Stieres, die nach genau festgelegten Regeln im theatralen Spiel erfolgt, macht den elementaren Unterschied zwischen Leben und Tod deutlich, an dem das Subjekt seine Existenz ausrichten kann. Picassos Theater dagegen fungiert eher als „Illusionsraum“ im Sinne Foucaults: ein Raum „der den gesamten Realraum, alle Platzierungen, in die das menschliche Leben gesperrt ist, als noch illusorischer denunziert“.30 So findet die Opferung in Les quatre petites filles folgendermaßen statt. Ein kleines Mädchen schneidet einer Ziege den Hals auf, tanzt mit ihr und reisst ihr dann bei lebendigem Leib das Herz heraus, das sie da27 Vgl. Vf.: „Picasso und sein Minotaure“, in: Isabel Maurer Queipo/dies./ Volker Roloff (Hrsg.): Die grausamen Spiele des Minotaure. Intermediale Analyse einer surrealistischen Zeitschrift [in Vorbereitung]. Zur biographischen Verbindung zwischen dem Minotaurus und Picasso vgl. Schneede, Uwe M./Spies, Werner: Picasso. Der blinde Minotaurus, (Ausstellungskatalog, Sammlung Hegewisch, Hamburger Kunsthalle), Hamburg 1997. 28 Picasso 1968, S. 66. 29 Foucault 1999, S. 155. 30 Ebd.
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raufhin ihrer Puppe in den Mund stopft.31 Dies kann man beispielsweise als eine Gewalt- und Opferphantasie auffassen, die unsere Vorstellung von unschuldiger Kindheit als illusorisch denunziert. Der Stierkampf, weniger in seiner Opferthematik als in seiner erotischen Konnotation, wird von Picasso auch in Le désir attrapé par la queue aufgegriffen. In einer verspielten Badeszene flirtet der Klumpfuß mit der Torte und sagt zu ihr: ...et ta bouche est un nid de fleurs tes hanches un sopha et le strapontin de ton ventre une loge aux courses de taureaux aux arènes de Nîmes tes fesses un plat de cassoulet et tes bras une soupe d’ailerons de requins et ton nid d’hirondelles encore un feu d’une soupe aux nid d’hirondelles mais mon chou mon canard et mon 32 loup je m’affole je m’affole je m’affole je m’affole...
Es ist sicher nicht zufällig die gleiche Szene, in der Picasso als eine Art parodistisches tableau vivant Edouard Manets Le Déjeuner sur l’herbe (vgl. Abb. 8) nachstellt. Auf diese ungewöhnliche Verbindung zu einem Bild eines anderen Malers weist auch Henri Béhar hin.33 les deux Toutous, criant leurs aboiements, lèchent tout le monde, couverts de mousse de savon sautent hors de la baignoire et les baigneurs, habillé comme tout le monde à l‘époque, sortent de la baignoire. Seule, la Tarte sort toute nue mais avec des bas – ils apportent des paniers plein de victuailles, des bouteilles de vin, des nappes, des serviettes, des couteaux, des fourchettes – ils préparent un grand déjeuner sur l‘herbe – arrivent des croque-morts avec des cercueils où ils enfournent tout le monde – les clouent et les 34 emportent.
Sicherlich wird Manets Frühstück hier auch zu Grabe getragen, aber Picassos Bewunderung für dieses Bild steht außer Zweifel und drückt sich in einer Serie von 27 Ölbildern und über hundert Skizzen aus, die er um 1960 nach dem Vorbild von Manets Frühstück malte (vgl. Abb. 9). Nach dem Theater des Stierkampfes kommt Picasso in dieser Szene gerade durch Manets Gemälde wieder auf das Thema von Theatralität und Authentizität.
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Picasso 1968, S. 37-39. Picasso 1989, S. 22. Béhar 1979, S. 356. Picasso 1989, S. 23.
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Abbildung 7: Edouard Manet, Le déjeuner sur l’herbe (1863), Öl auf Leinwand, 214 x 270 cm (Paris, Musée d’Orsay)35 Abbildung 8: Pablo Picasso, Le déjeuner sur l’herbe (d’après Manet) (1960), Öl auf Leinwand, 129 x 195 cm (Paris, Musée Picasso)
Es lässt sich eine überraschende Ähnlichkeit in der Komposition des Déjeuner sur l’herbe und Picassos Vorhang für Parade feststellen. Manets Gemälde ist durch die Bäume an beiden Rändern wie durch Vorhänge begrenzt, es hat außerdem mehrere Ebenen im Raum und in der Thematik, also in der dargestellten Realität: Im Vordergrund befindet sich das Stillleben des Frühstücks, in der Mitte die Personengruppe und im Hintergrund die Badeszene, die offensichtlich isoliert ist von der Personengruppe. Schließlich fällt die nach hinten zum Horizont geöffnete Landschaft auf, die sich auch in Parade wiederfindet. Die zentrale Personengruppe passt außerdem thematisch ebenso wenig zusammen wie die Personen in Picassos Parade. Dort ist es eine bunte Mischung aus Matrose,
35 Manets Bild hat zahlreiche Künstler zu entsprechenden Arbeiten inspiriert, so z.B. auch den ausgesprochenen „Theaterfilmer“ Jean Renoir, der als Hommage an seinen Vater und an Manet einen gleichnamigen Film 1960 drehte (vgl. dazu Vf.: „Renoirs gemaltes Film-Theater: Le Déjeuner sur l’herbe“, in: Michael Lommel/Volker Roloff (Hrsg.), Jean Renoirs Theater/Filme. München 2003, S. 153-172). Auch die surrealistische Künstlerin Meret Oppenheim nimmt mit ihrer berühmten Pelztasse Déjeuner en fourrure (1936) Manets Gemälde erneut auf und wurde zu dem Pelzüberzug von Picasso inspiriert (vgl. dazu Gardner, Belinda Grace: „Die Pelztasse war nur der Anfang“, in: Thomas Levy (Hrsg.), Meret Oppenheim. From Breakfast in Fur and Back Again, (Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle), Bielefeld 2003, S. 24-41, hier S. 29). Oppenheim hat außerdem für die deutschsprachige Uraufführung von Picassos Le Désir attrapé par la queue 1956 in Basel das Stück eigens übersetzt, die Kostüme gestaltet und die Gardinen gespielt (vgl. dazu Gardner, Belinda Grace/Spoerri, Daniel: „‚She was incredibly open for everything‘. ‚Trap‘ Artist Daniel Spoerri retraces his friendship with Meret Oppenheim“ (Interview vom 06. Juni 2003), in: Levy 2003, S. 42-52).
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Harlekin, Liebespaar, u.a., bei Manet sehen wir eine Dreiergruppe mit nackter Frau und zwei bekleideten Männern, die aneinander vorbeireden und -schauen.36 Manet hat ebenso wie Picasso einen Skandal durch sein Gemälde verursacht – nicht nur wegen der Nackten neben den bekleideten Männern, sondern auch weil er ein scheinbar realistisches Bild malte, das dann aber zahlreiche Brüche in seiner vornehmlichen Authentizität aufwies. So passen die Gattungen von Stillleben, Akt-, Personen- und Landschaftsmalerei nicht in ein Bild, außerdem passen noch nicht einmal die Früchte des Stilllebens saisonal zueinander „– Kirschen vom Juni, Feigen vom September“.37 Die Hauptfrage lautet jedoch: Was sollen diese Menschen in der merkwürdigen Haltung, die eine nackt, die anderen angezogen dort im Wald? Das Frühstück beschäftigt sie offenbar wenig. Sie scheinen vielmehr dort platziert wie in einer falschen Bühnendekoration. So erinnert sowohl die Komposition als auch die Thematik an die Illusionswelt des Theaters, die auch auf die scheinbar authentische, reale Alltagswelt übergreift. Diese Punkte nimmt Picasso in der direkten Anspielung als tableau vivant in Le désir attrapé par la queue auf, aber auch prinzipiell in seinem Theater und in seinen späteren eigenen Versionen des Déjeuner sur l’herbe (vgl. Abb. 9). Er kombiniert das Unvereinbare, präsentiert es aber als authentische Realität der Figuren: Das kleine Mädchen stört sich nicht an einem Riesenschimmel, der die Gedärme hinter sich her zieht, die Frühstücksgesellschaft nicht an den Sargträgern. In der Surrealität ihrer Traumphantasien sind diese Ereignisse ebenso real wie die Normalität der äußeren Welt, deren Gesetze allein durch die Möglichkeit dieser Phantasien als „illusorisch denunziert werden“.38 Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass man Picassos Theater nicht ohne seine Malerei betrachten kann. Es steht zwischen Surrealismus und Existentialismus, weil die Leere der menschlichen Existenz, das „Niemand“, das „Nichts“, das uns die große Goldkugel entgegenschreit, nicht in die Leere und Einsamkeit führt, sondern in die Bewegung des Subjekts im theatralen Raum. So wie der Raum immer aus mehreren Ebenen und zum Teil unvereinbaren Elementen besteht, so
36 Vgl. zu Picassos Parade: Cooper 1987; Menaker Rothschild 1991. Vgl. zu Manet z.B.: Cachin, Françoise et al.: Manet (Ausstellungskatalog, Paris 1983), Berlin 1984, S. 165ff. 37 Vgl. ebd., S. 169. 38 Vgl. Anm. 30.
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muss sich das Subjekt immer neu erfinden, je nach dem, in welche Konstellation es sich begibt oder gerät.
Literatur Apollinaire: Œuvre en prose complètes, Bd. 2, Pierre Caizergues/Michel Décaudin (Hrsg.), Paris (Bibliothèque de la Pléiade) 1991. Bagunyá, Lluís et al. (Hrsg.): Picasso y el teatro, (Ausstellungskatalog Museu Picasso Barcelona, 19.11.1996-23.02.1997), Barcelona 1996. Béhar, Henri: Le théâtre Dada et surréaliste, Paris 1979. Belting, Hans: Das unsichtbare Meisterwerk, München 1998. Cachin, Françoise et al.: Manet, (Ausstellungskatalog, Paris 1983), Berlin 1984. Cooper, Douglas: Picasso Theatre, New York 1987. Finter, Helga: Der subjektive Raum, 2. Bde., Tübingen 1990. Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: ders., Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien. Jan Engelmann (Hrsg.), Stuttgart 1999, S. 145-157. Gardner, Belinda Grace: „Die Pelztasse war nur der Anfang“, in: Thomas Levy (Hrsg.): Meret Oppenheim. From Breakfast in Fur and Back Again, (Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle), Bielefeld 2003, S. 24-41. Gardner, Belinda Grace/Spoerri, Daniel: „‚She was incredibly open for everything‘. ‚Trap‘ Artist Daniel Spoerri retraces his friendship with Meret Oppenheim“ (Interview vom 06. Juni 2003), in: Thomas Levy (Hrsg.): Meret Oppenheim. From Breakfast in Fur and Back Again, (Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle), Bielefeld 2003, S. 4252. Glózer, László: Picasso und der Surrealismus, Köln 1974. Leiris, Michel: „Picasso et la comédie humaine ou les avatars de Gros Pied“, in: ders.: Brisées, Paris 1966, S. 183-197. Menaker Rothschild, Deborah: Picasso’s ‚Parade‘. From Street to Stage, (Ausstellungskatalog The Drawing Centre New York, 06.0413.06.1991), London 1991. Picasso, Pablo: Les quatre petites filles, Paris 1968.
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Picasso, Pablo: Le désir attrapé par le queue, Paris 1989. Rißler-Pipka, Nanette: „Renoirs gemaltes Film-Theater: Le Déjeuner sur l’herbe“, in: Michael Lommel/Volker Roloff (Hrsg.) : Jean Renoirs Theater/Filme. München 2003, S. 153-172. Rißler-Pipka, Nanette: Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion. Beispiele intermedialer Vernetzung von Literatur, Malerei und Film, Diss. Universität Siegen 2003. Schneede, Uwe M./Spies, Werner: Picasso. Der blinde Minotaurus, (Ausstellungskatalog, Sammlung Hegewisch, Hamburger Kunsthalle), Hamburg 1997. Spies, Werner: Kontinent Picasso. Ausgewählte Aufsätze aus zwei Jahrzehnten, München 1988. Warncke, Carsten-Peter: Pablo Picasso, 2. Bde., Ingo F. Walther (Hrsg.), Köln 1995. Weisner, Ulrich (Hrsg.): Picassos Surrealismus, (Ausstellungskatalog Kunsthalle Bielefeld 1991), Stuttgart 1991.
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GEORGES BATAILLES UNSICHTBARER FILM: DAS SZENARIO LA MAISON BRÛLÉE Abstract Georges Bataille n’a ni écrit des pièces de théâtre, ni tourné des films pourtant théâtre et film persistent dans son œuvre depuis les premiers textes dans lesquels l’hétérogène fait objet. Car la discussion portant sur ce qui dépasse le sujet entraîne la question de la théatralité étant donné que la recherche des formes sociales et artistiques de l’hétérogène comprend le problème de sa représentation. Quelles possibilités trouve ce qui est exclu par le ratio et le discours afin de se manifester? Comment est-ce que s’écrive le corps et le désir dans les pratiques artistiques, littéraires et religieuses? L’intervention traite sur l’analyse et les stratégies de l’hétérogène dans l’œuvre de Bataille en composant cinq paragraphes : en partant de l’analyse du regard comme histoires de l’œil dans Documents (1) ainsi que de son théâtre du livre exprimé par Le Bleu du ciel jusqu’aux textes fictifs pendant la guerre (2), on comprend la production de Bataille pour les médias dans le contexte de son expérience intérieur, qui attribue le film à une effusion du sacrifice (3). Les stratégies audio-visuelles de l’inscription de l’hétérogène indiquées par le projet cinématographique pour Fernandel et surtout réalisées par le scénario „La maison brûlée“, sont analysées comme essai esthétique d’un langage filmique de l’extase, qui révèle son ampleur à travers le contexte de la méthode de la subversion extatique du sujet. Georges Bataille hat weder Theaterstücke geschrieben, noch Filme gedreht, doch Theater und Film insistieren in seinem Werk seit den ersten Texten, die das Heterogene zum Gegenstand haben. Denn die Auseinandersetzung mit dem, was das Subjekt übersteigt, ruft insofern die Frage der Theatralität auf den Plan, als die Erforschung der gesellschaftlichen und künstlerischen Formen des Heterogenen das Problem ihrer Darstellbarkeit beinhaltet. Welche Möglichkeiten findet das von der Ratio und dem Diskurs Ausgeschlossene, sich zu manifestieren? Wie schreiben sich der Körper und das Begehren in künstlerische, literarische und religiöse Praktiken ein? Der Beitrag diskutiert in fünf Punkten Analyse und Strategien des Heterogenen in Batailles Werk: Ausgehend von der Analyse des Blicks in Documents als Geschichten des Auges (1), sowie von seinem Theater des Buches von Le Bleu du ciel bis zu den fiktionalen Texten der Kriegszeit
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(2), wird Batailles Schreiben für die Medien in den Kontext seiner expérience intérieure gestellt, die den Film einer effusion du sacrifice zuordnet (3). Die mit dem Filmprojekt für Fernandel angedeuteten und v.a. mit dem Szenario „La maison brûlée“ gefundenen audiovisuellen Strategien der Einschreibung des Heterogenen (4) werden als der ästhetische Versuch einer filmischen Sprache der Ekstase analysiert, welcher im Kontext der Methode der ekstatischen Subversion des Subjekts seine Tragweite offenbart.
1.
Geschichten des Auges
Schon sehr früh, zur Zeit der Documents, 1929-1930,1 jener Zeitschrift, die sowohl Beispiele der Künste als auch Zeugnisse religiöser und populärer Kultur erforscht, sind visuelle und audiovisuelle künstlerische Formen Gegenstand von ersten Überlegungen, die Mitte der dreißiger Jahre dann in das später zugunsten literarischer Texte bzw. einer Philosophie der inneren Erfahrung und einer Theorie des verfemten Teils menschlicher Aktivität aufgegebene Projekt einer Heterologie münden werden.2 Ihren solidarischen hohen und niederen Formen spürt so Bataille in Documents zuerst im Zusammenhang mit Bildern und Photos nach, an denen er die Frage der Darstellbarkeit des Heterogenen diskutiert. Ein Text wie „Figure humaine“3 stellt anhand von Photos der Idole von Batailles Elterngeneration die Frage des Verhältnisses von zeitgenössischer komischer Rezeption und Darstellbarkeit der menschlichen Wahrheit durch das Abbild. Die (Selbst-)Inszenierungen von Schönheiten der Belle Epoque – Kurtisanen, Gesellschaftsdamen, Schauspielerinnen, Diseusen –, die sich als entblößte Engel oder Elfen, Musikerinnen oder Sportlerinnen ausstellen, wie auch das Posieren großer Männer – Komponisten wie Johann Strauß, Könige oder Schauspieler wie Mounet Sully als Jupiter in Molières Amphytrion – lassen für Bataille gerade in den Zügen ihrer von Zeitgenossen lächerlich empfundenen Darstellung das Wesen des menschlichen Antlitzes aufscheinen. Die Bilder der Hollywooddiven zu „Lieux de Pelérinage: Hollywood“4 sind ihm Belege da1 Documents. Doctrines, Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie, 2 Bde. (1929-1930), reprint, préface Denis Hollier, Paris 1991; Batailles Beiträge sind ebenfalls abgedruckt in Bataille, Georges: Œuvres complètes, 12 Bde., Paris 1970-1988, Bd. 1, Premiers Ecrits 1922-1940, présentation de Michel Foucault. 2 Vgl.Vf.: „Heterologie und Repräsentation. Strategien des Lachens. Zu Georges Batailles Le bleu du ciel“, in: dies./Georg Maag (Hrsg.): Bataille lesen. Die Schrift und das Unmögliche, München 1992, S. 13-31. 3 Documents, Nr. 4 (1929), S. 194-200. 4 Documents, Nr. 5 (1929), S. 280-282.
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für, dass das Mekka des Films das „letzte Boudoir“ sei, „wo eine (masochistisch gewordene ) Philosophie die angestrebten inneren Spaltungen antreffen kann“, denn „dank einer unfehlbaren Illusion stößt man, so scheint es, in der Tat nirgendwo anders auf unnatürliche – dénaturées – Frauen, die in so schreiender Weise unmöglich – impossible – zu erscheinen vermögen.“ Die Charakterisierung von Leinwandgöttinnen als implizite Gehilfinnen für die Verifizierung der Praesuppositionen der idealistischen Philosophie weisen auf eine Denkbewegung hin, die auf eine Solidarität von hohem und niederen Heterogenen abzielt. Ähnlich verfährt Batailles Vergleich der „Pieds nickelés“ – der komischen Halunkenfiguren einer der ersten Comics für Kinder – mit den Figuren der Walhalla mexikanischer Götter, wenn er beide als „à la fois ensanglantés et crevant de rire“ beschreibt. Die Populärformen darstellender Kunst – Film oder Comic – werden analog zu den Repräsentation hoher Kunst oder Religion in ihrer Funktion analysiert: So führt ihn eine ‚mexikanische‘ Interpretation des zeitgenössischen Bedürfnisses nach amusement zu dem Schluss, dass dieses heute nicht nur die wohl „einzige Reduktion des Idealismus“ darstelle, sondern auch sich als „schreiendes und selbstverständlich schrecklichstes Bedürfnis der menschlichen Natur“ erweise.5 Schon in den Anfängen legt also Batailles ethnologischer Blick auf die Bilder der frühen Massenmedien eine Funktion dieser Repräsentationen frei, welche sie den noblen Produktionen der Religionen und Künste nicht nur analog macht, sondern sie sogar übertreffen kann, wenn sie den Schrecken des Bildes ahnen lassen. So kritisiert Bataille in einem kurzen Artikel zu Roger Vitracs Bankrottverdacht des esprit moderne6 das Verbergen der Funktion bildnerischer Darstellung durch die zeitgenössische Kunst: Sie habe die Kraft des Bildes durch ein Spiel der Transpositionen in ihrem Schrecken erstickt; hingegen könne das Bild nur durch das interessieren, was es an Residuen dieses Schreckens ahnen lasse, wenn alle Transpositionen aufgehoben seien. Schon in diesen frühen Anfängen scheint Bataille dem Bild die Funktion zuzuschreiben, Spuren dessen, was dem Einzelnen und der Gesellschaft heterogen ist, in einer, jede Form übersteigenden Kraft zu manifestieren, welche die Affektivität des Betrachters anzusprechen vermag. Die Reproduktionen von Kunstwerken, Illustrationen und Photos der beiden Jahrgänge seiner Zeitschrift Documents werden in diesem Sinne zu Zeugen einer Lektüre und Inventarisierung des Heterogenen: 5 Documents, Nr.4 (1930), S. 216. 6 Bataille, Georges: „L’Esprit moderne et le jeu de transpositions“, in: Documents, Nr. 8 (1930), S. 49-51.
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Das Auge des Zeichners Granville, „attiré par le spectacle du supplice“ ebenso wie das kastrierte und kastrierende Auge von Dalís und Buñuels LE CHIEN ANDALOU oder Stevensons Auge als „friandise cannibale“7 dokumentieren hingegen eine Geschichte des Auges, die zeitgenössische Zeugnisse der Populärkultur, wie der Comic L’œil de la Police, inszenieren, wenn sie dieses Organ als Quelle der Lust und des Schreckens präsentieren. Sie bestätigen so die sexuelle und erotische Funktion des Auges, die Bataille schon ein Jahr zuvor mit seiner unter dem Pseudonym Lord Auch 1928 veröffentlichten Erzählung Histoire de l’œil8 erforscht hatte.
2.
Theater des Buches
Für Bataille werden Bilder immer wieder Ausgangspunkt und Verweis für die Explorationen des Heterogenen, des Unmöglichen werden. So eine Zeichnung André Massons für eine Bühnenfigur des Balletts Présages,9 die Figur des Schicksals, le Sort, die als oiseau de malheur eine Figur des Romans Le bleu du ciel inspirieren wird, wie auch ein weiteres Bild von Masson aus demselben Jahr, das als Vorlage für das Bühnenprospekt des genannten Balletts diente und Bataille zu einem Text mit dem Titel Le bleu du ciel angeregt hat,10 der dann als Première partie in das gleichnamige Buch integriert werden wird. In diesem dort kursiv gedruckten Text wird vom Erzähler-Ich eine Szene in einer Stadt au décor de tragédie evoziert, die das Motiv der Souveränität zusammen mit dem Motiv des Lachens und der Verweigerung der Reue Don Giovannis gegenüber dem Komtur verbindet. Lachen, Trunkenheit und Weinen werden zusammen mit der Musik bestimmend für die Theatralisierung des Heterogenen in diesem Roman werden.11 In diesem 1935 geschriebenen Roman, der erst 1957 veröffentlicht werden wird, wie auch in anderen seit dem Kriege entstandenen fiktionalen Texten, so vor allem in der zuerst im Hinblick auf das Theater konzi-
7 Bataille, Georges: „Œil: l’image de l’œil“, in: Documents, Nr. 4 (1929), S. 215f. 8 In Bataille 1970-1988, Bd. 1. 9 1933 mit den Ballets russes und dem Choreographen Massine aufgeführt. 10 Er wird zuerst zusammen mit Massons Text Montserat und der Reproduktion des Bildes 1936 in Minotaure veröffentlicht werden; vgl. Vf. 1992. 11 Vgl.Vf.: „Das Lachen Don Giovannis. Zu Georges Batailles Rezeption des ‚dissoluto punito‘“, in: Peter Csobádi et al. (Hrsg.): Das Phänomen Mozart im 20. Jahrhundert, Salzburg 1991, S. 639-660.
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pierten Orestie (1942-1944),12 wird Bataille eine affektive Sprache des Heterogenen entwickeln, welche die widerständige Körperlichkeit in sprachlichen Bildern und Stimmen einfängt. Bilder extremer Körperlichkeit, Bilder die den menschlichen Körper mit seinem animalischen oder organischen Anderen konfrontieren, konkrete Körper werden in ihrer Monstrosität evoziert. Schon 1930 schrieb Bataille in Documents: „Chaque forme individuelle est […] par quelque degré un monstre“.13 So wurde auch das Konkrete visueller Formen gegen Ende dieser Überlegungen mit Sergej Eisensteins Projekt des PANZERKREUZERS POTEMKIN als „bouleversant“ begrüßt. In diesen fiktionalen Texten geben vielfältige Stimmen ihren Figuren Leben: Die menschliche Stimme wird zwischen Körpergeräuschen – Schrei, Röcheln, Schluckauf zum Beispiel – und Gesang – Chansons, Blues, Arien, obszönen Reimen – oszillierend präsentiert. Ein Lachen durchquert sie, mit einem Lachen begrüßt sie der Leser, der sie mit seiner inneren Stimme nachvollziehen muss, um potentielle Repräsentationen zu realisieren. Batailles fiktionale Texte, die wie die Orestie die Dramatisierung innerer Erfahrung als Tragödie der Komödie und Komödie der Tragödie ins Zentrum stellen, drängen nach einer Performance durch den Leser, der sein affektives und kulturelles Gedächtnis körperlich zu konkretisieren aufgerufen ist, um mit innerem Auge und Ohr Stimme und Blick diesen Texten zu leihen. Die Entwicklung dieses Theater des Buches,14 die mit dem Roman Le bleu du ciel von 1935 begonnen hatte, wird mit der reichen literarischen Produktivität der Kriegsjahre fortgeführt.15 Doch sie erfolgt zugleich unter dem Vorzeichen einer allgemeinen Reflexion über die Funktion der Theatralität. Denn Dramatisierung, das Lachen, das Weinen, die Komödie, die Tragödie stehen auch im Zentrum seiner ersten großen philosophischen Werke, l’Expérience intérieure (1942-1943), Le coupable (1939-1943) und Sur Nietzsche, volonté de la chance (1944),16
12 Vf.: „Poesie, Komödie, Tragödie oder die Masken des Unmöglichen: Georges Bataille und das Theater des Buches“, in: Andreas Hetzel/Peter Wiechens (Hrsg.): Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, Würzburg 1999, S. 259-273. 13 Bataille, Georges: „Les écarts de la nature“, in: Documents, Nr. 2 (1930), S. 79-93. 14 Vgl. Vf. 1999. 15 Bis dahin hatte Bataille nur L’histoire de l’œil (1928), L’anus solaire (1927), und Sacrifices (1936) publiziert. 16 Bataille 1970-1988, Bd. 5.
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deren Niederschrift parallel zu einer Fülle von literarischen Texten erfolgt. In einem Brief an den noch im Exil in den USA. weilenden André Masson vom 22. September 1944,17 also kurz nach dem débarquement und der libération, hält Bataille das Paradoxon fest, dass die ihn 1942 ereilende Krankheit ihm letztlich die Freiheit gegeben habe: Die ersten zwei Bücher sind nun unter seinem eigenen Namen bei Gallimard veröffentlicht – L’Expérience intérieure 1943 und Le coupable 1944 –, zwei weitere unter Pseudonymen bei kleinen Verlagen (Pierre Angélique, Madame Edwarda 1941, Louis Trente, Le Petit 1943). Doch Batailles tatsächliche literarische Produktivität übersteigt bei weitem noch das Genannte: Parallel zu diesen Veröffentlichungen finden wir eine Fülle von Texten, die sich – Genregrenzen überschreitend – vor allem mit theatralen bzw. spektakulären Formen auseinandersetzen oder aber sich konkret auf das Theater bzw. Weisen der Theatralisierung beziehen.18 Zusammen mit den bei vielfältigen Aufenthalten in der besetzten und der freien Zone gemachten Erfahrungen der Kriegswirren finden persönliche und historischen Umstände Niederschlag als Befragung der possibilités dernières wie Ekstase, Chance und Lachen nicht nur in mehr reflexiv diskursiven Texten wie Le coupable, der L’Expérience intérieure oder Sur Nietzsche, sondern sie bilden auch das Ausgangsmaterial für eine Fülle von ‚fiktiven‘ Texten – Dichtungen, Récits, Filmskripten, Romanen, in Tableaux arrangierten Texten, erotischen Skizzen, Liedlibretti, Komödien- und Tragödienfragmenten. Nur ein Teil davon wird überhaupt veröffentlicht, die meisten Texte finden erst nach dem Krieg bzw. posthum einen Verleger.19 Unter diesen posthumen Texten befindet sich 17 Bataille, Georges: Choix de lettres 1917-1962, Paris 1997, S. 216. 18 Sie sind abgedruckt in Bataille 1970-1988, Bd. 3 und 4. 19 So fallen in diesen Zeitraum: Le coupable, begonnen zu Kriegsbeginn, September 1939, beendet Oktober 1944 und noch im selben Jahr veröffentlicht; L’Expérience intérieure, geschrieben zwischen 1941 und 1943 und veröffentlicht 1943; Sur Nietzsche, geschrieben von Februar bis August 1944 zum 100. Geburtstag des Philosophen und veröffentlicht 1945. Neben diesen Werken mit ‚philosophischer‘ Dominante entstehen in den Jahren 1941 bis 1945 Madame Edwarda, Erzählung 1941; 1942-44 L’Orestie, histoire de rats, Dianus, zusammen erschienen 1947 unter dem Titel La haine de la poésie; die zwischen August und Dezember 1943 verfasste Gedichtsammlung l’Archangélique, erschienen 1944; die als Verbindung von Bild und Schrift zwischen 1942 und 1945 konzipierte Sammlung heterogener erotischer Texte, La tombe de Louis XXX; der Récit einer erotischen Grenzerfahrung, Le petit, geschrieben 1942, erschienen 1943; die 1943 verfasste, posthum erschienene Erzählung in 28 ganzseitigen Tableaux, Le mort; aus
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neben einem kürzlich entdeckten Hörspiel nach Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Untergrund auch ein Filmszenario, La maison brûlée aus dem Jahre 1944. Mit Ausnahme dieser für die Medien bestimmten Skripte sind alle diese Texte nicht eindeutig einer einzigen Textgattung zuzuordnen. Bataille experimentiert mit heterogenen Formen, verbindet Dichtung und Prosa, Bild und Text, dramatische Szene, Lied, Tagebucheintragung und philosophische Reflexion. Thematisch kreisen sie um ein traumatisches Zentrum, das durch die Verbindung von Indizien von hohem und niedrigem Heterogenen eine Theatralität textuell zu generieren sucht, die das Interesse des Lesers durch Lachen und Weinen nicht nur fixieren, sondern Leidenschaft, Lust und Schmerz in ihrer Kraft dank eines äußeren Blicks bannen möchte, welcher sich an einem Element des Realen aufhängt, das auf den Tod, die Sexualität verweist, Lust und Lachen auslöst.20
3.
Schreiben für die Medien
In diesem Kontext erscheinen das Filmskript und der Hörspieltext relativ konventionell, ja man hat einstimmig hierfür die Hypothese einer Brotarbeit formuliert.21 Doch diese Annahme ist wenig überzeugend: Denn
demselben Jahr; das Dramenfragment Le Prince Pierre. La divinité du rire. Tragédie; das Bändchen theatraler erotischer Szenen aus dem gleichen Jahr, La Scissiparité, 1949 veröffentlicht; das Filmskript La maison brulée aus dem Jahre 1944; das Romanfragment Julie; das an Racines Phédre sich anlehnende Monologfragment J’imagine le froid von 1945 sowie zwei Dramenfragmente aus der Nachkriegszeit, die in Motiven und Themen mit der Produktion der Kriegsjahre verbunden sind, Néron, szenischer Versuch in Alexandrinern, der 1951 datiert wird, und La cavatine. Les noces de Pulsatilla, bouffonneries en trois actes, burleske Szenen, die der Produktion des Jahres 1954 zugerechnet werden. Schließlich reiht sich in diese Produktion auch ein erst vor kurzem entdecktes Hörspielskript (Bataille, Georges/Bataille, Marie-Louise: „L’esprit souterrain. Dostoïevski adapté par Georges Bataille et Marie-Louise Bataille“, in: L’Infini, Nr. 75 (2001), S. 53-79) L’esprit souterrain, ein. Es geht von Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Untergrund, französisch Le sous-sol, aus, die Bataille zusammen mit seiner Cousine Marie-Louise Bataille zu einer Radiophonie adaptiert hatte, die am 19. Juni 1946 vom Sender Radio française ausgestrahlt wurde (Moscovitz, Cécile: „Bataille et l’homme du sous-sol“, in: L’Infini, Nr. 75 (2001), S. 46-52). 20 Vgl. Vf. 1999. 21 Vgl. Moscovitz 2001, sowie Sebag, Georges in: Christian Janicot (Hrsg.): Anthologie du cinéma invisible, Paris 1995, S. 62 oder auch Mattheus,
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auch diese für Film und Radio bestimmten Skripte haben mit seinen besser geschätzten literarischen Arbeiten nicht nur das Thema gemeinsam – das Unmögliche, die Souveränität, die innere Erfahrung –, sondern sie werden auch im Dialog mit Höhenkammwerken entwickelt: Das Hörspiel rekurriert auf Dostojewskis Le sous-sol, der schon für Le bleu du ciel Intertext war;22 das Filmskript knüpft mit der Thematik unmöglicher Liebe an Filme an, die wie William Wylers WUTHERING HEIGHTS biographische Bedeutung für Bataille hatten.23 Zudem gehen im Falle des Filmskripts auch persönliche Erfahrungen ein, einerseits auf der Ebene des Plots – der Krieg, dessen Auswirkungen Bataille in der Normandie und am Rande von Paris bei Fontainebleau erlebt, sowie die melodramatischen Umstände seiner Beziehung zu seiner späteren Frau, Diane Kotschouby –, anderseits auf der Ebene der Schauplätze des Films – sie sind ausdrücklich als signifikante Landschaften von Batailles Jugend und aktuellem Leben gekennzeichnet. Doch vor allem spricht für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Filmprojekt der Stellenwert des photographischen und filmischen Bildes, den Bataille im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur inneren Erfahrung und zur Meditation erörtern wird. Seine philosophische Reflexion öffnet eine Bühne für die Diskussion der Bedingungen der Repräsentation, der Bedingungen von Darstellung. Es geht um die Frage der Souveränität, Ergebnis des Opfers des Subjekts als transzendentales Ego, unterworfen dem Reich des Nützlichen und der Arbeit. Unter den Aktivitäten, die eine solche Souveränität aufscheinen lassen, nennt Bataille in seiner Méthode de méditation neben der Ekstase, der Trunkenheit, des erotischen Verströmens – effusion érotique –, des Lachens und des poetischen Verströmens, das Verströmen des Opfers, effusion du sacrifice. Ihr rechnet er in einer Anmerkung neben dem Roman auch den Film zu: J’entends par sacrifice, non seulement le rite, mais toute représentation ou récit dans lesquels la destruction (ou la menace de destruction) d’un héros ou plus généralement d’un être joue un rôle essentiel; et par extension, les représentations et les récits où le héros (ou l’être) est mis en jeu sur le mode érotique (ainsi je désigne par
Bernd: Georges Bataille. Eine Thanatographie, München 1988-1995, Bd. 2, S. 112. 22 Vgl. Marmande, Francis: L’indifférence des ruines. Variations sur l’écriture du ‚Bleu du ciel‘, Marseille 1985, S. 53-69. 23 Bataille sah diesen Film am 3. Juni 1940, er erinnert ihn an seine Beziehung zur toten Laure; vgl. Bataille 1970, Bd. 5, S. 523f.
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effusion du sacrifice aussi bien celle que s’efforcent d’obtenir (as24 sez mal) les procédés du film et du roman).
Batailles Beschäftigung mit dem Film gehört also logisch in den Zusammenhang seines Unternehmens der Subversion des Subjekts und der Freilegung der Möglichkeiten, es jenseits seiner Grenzen zu führen. Hierzu muss der Film eine Repräsentation sein, welche die Drohung der Zerstörung eines Protagonisten bzw. seine Zerstörung oder seine erotische Destabilisierung ins Zentrum stellt. Gerade dies ist in der Tat das Sujet von La maison brûlée, wie ich später aufzeigen möchte. Doch für den Film, wie auch für den Roman macht Bataille zugleich Einschränkungen: Ihre Verfahren für ein solches sakrifizielles Verströmen sind Mühen mit begrenztem Ergebnis. Es wäre also zu fragen, inwieweit bei Bataille auch eine Reflexion zur filmischen Sprache vorliegt, bzw. wie er mit den Darstellungsverfahren des Filmes umgeht, wie er eine filmische Sprache des Heterogenen konzipiert.
4.
Von Fernandel und Sade zu La maison brûlée
Schon 1943 hatte Bataille ein Filmprojekt zusammen mit Henri François Rey in Angriff genommen, das nicht nur ein kommerzieller Erfolg werden, sondern auch seinen philosophischen und moralischen Beschäftigen Rechnung tragen sollte. Zusammen mit Rey wurde ein heute verlorenes Szenario entwickelt, in dem der Komiker Fernandel einen respektablen Seifenfabrikanten aus Marseille und Präsidenten von Wohlfahrtsvereinen darstellen sollte, der in Abwesenheit seiner Familie im Kostüm des Marquis de Sade mit einigen Prostituierten Szenen aus den 120 journées de Sodome und aus La philosophie dans le boudoir nachlebt. Henri François Rey berichtet: Tout cela finissait mal. Le fabricant de savon (de Marseille) assassinant bellement une des putains, on étouffait l’affaire bien entendu, mais le faux Sade et véritable salaud se suicidait pour que la 25 morale triomphe.
Einem Filmproduzenten und auch Fernandel vorgelegt, wurde dieses Szenario zu Batailles großer Enttäuschung abgelehnt. Aus dem von Rey überlieferten Plot geht jedoch hervor, dass es wohl Bataille nicht darum
24 Bataille 1970, Bd. 5, S. 218. 25 Rey, Henri François: „Bataille et Fernandel“, in: Magazine littéraire, Nr. 144 (1979), S. 57f.
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gehen konnte, die Doppelexistenz eines respektablen Bürgers kritisch aufzuzeigen, auch nicht darum, wie Charlie Chaplin in seinem ein Jahr später begonnenen MONSIEUR VERDOUX (1944-45), das Doppelleben des Protagonisten durch einen politischen Diskurs zu rechtfertigen. Vielmehr deutet der Plot darauf hin, dass Bataille die Spaltung in ein moralisches und ein dem Todestrieb gewidmetes Leben als Wahrheit des Eros darzustellen suchte. Schon wenige Monate später, Anfang 1944, ist das einzige erhaltene Filmszenario Batailles, La maison brûlée, verfasst. Es stellt diese Verbindung von Eros und Thanatos, von Eros und Heiligem ins Zentrum. In der Bibliothèque Nationale in Paris finden sich mehrere Versionen dieses Szenarios.26 Dem handgeschriebenen Manuskript ist in Tabellenformen in vier Faltblättern eine découpage der Handlung in 43 bzw. 44 Sequenzen beigefügt, die jeweils in einem Kästchen pro Sequenz Notizen zum Handlungsverlauf und seiner Datierung (Blatt 1), zum Einsatz von Ton, Sprache, Geräusch und Musik, sowie zu den Rekurrenzen von Orten und Landschaften (Blatt 2) und Chiffrierungen der Einstellungen für die Sequenzen festhalten. Das Szenario siedelt den Film in einem Spannungsfeld von mehreren Handlungsorten an, die zugleich durch ihren kontrastiven Bezug untereinander wie auch zu der sie umgebenden Landschaft sowie zu den Protagonisten ambivalent, als unheimlich oder geheimnisvoll affektiv evaluiert werden. Die Schauplätze sind in kontrastive Landschaften eingebettet: Auf einem kargen Hochplateau sind folgende Orte angesiedelt: ein Kloster, in dem wir zuerst dem Tod von Antoines Bruder beiwohnen; in der Ferne der Friedhof einer dem Felsplateau gegenüberliegenden kleinen, auf einem hohen Felsen angelegten Stadt; ein vernachlässigter Bauernhof – la ferme de Mauronnes – sowie das ebenfalls vernachlässigte Herrenhaus – la maison de Mauronnes –, das Elternhaus der Cousinen Antoines, der Schwestern Marthe und Marie, die Antoines erste Frau ist; ein stattliches gepflegtes Haus zwischen Blumen, das Elternhaus Antoines, bei dessen Brand sein Vater umkommen wird, und vor dem, als maison brûlée, Marthes herbeigerufene Freundin Anne zum ersten Mal auf Antoine treffen wird, als sie ihn beinahe mit ihrem Sportwagen überfährt; ein angrenzendes Tal – Vallée de l’Impradine mit dem Cirque de 26 Das Szenario ist mit seinen Varianten in Bataille 1970, Bd. 4, S. 114-149, 368-384 abgedruckt. Für diese Recherche wurden zudem die Manuskripte in der Bibliothèque Nationale, Fond Bataille, Boite I, IV, DON 93-14, sowie XB und Enveloppe 51 konsultiert.
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Mandaillon und dem Puy Griou27–, der Ort, wo Antoines Frau Marie sich zu Tode stürzen wird; ein Wald mit einer Schlucht und einem Wasserfall, der Todesort von Marthe, das Schloss von Mauronnes mit seinem Schlossturm auf felsiger Anhöhe, von dem aus man Friedhof und Kloster sieht. Diesem Hochplateau mit seinen angrenzenden Tälern und Schluchten steht die auf einem hohen Felsplateau gebaute kleine Stadt mit den zwei Türmen ihrer Kathedrale gegenüber; an ihrem Felsenrand über dem Abgrund ist das vernachlässigte labyrinthartige Haus von Marthe mit seinem anschließenden Garten mit einer Kapelle wie in Vezeley lokalisiert; die engen Gassen der Stadt, der Laden des Schuhmachers Poussin, das Sägewerk, das Büro eines Richters. Ein Teil dieser Orte sind Montagen aus Gedächtnisorten der persönlichen Biographie Batailles: Orte seiner Jugend in der Auvergne – Saint Flour, wo er Seminarist war, der Ausflugsort Vallée de l’Impradine oder auch ein kurz vor der Niederschrift des Szenarios bewohntes Stadthaus in Vezeley, dessen Garten mit einer kleinen Kapelle hoch über dem Tal in die weite Landschaft blickt.28 Doch diese Orte werden hier zugleich ihrer signifikanten Kraft wegen ausgewählt. Im Zusammenhang mit dem Romanfragment Julie, in dem ebenfalls die Vallée de l’Impradine evoziert wird, schreibt Bataille: Chaque ville, chaque village, en dehors du commun des habitants, est hanté par des êtres plus noirs que lient la hargne ou le mauvais sort. Sans rien qui les protège des vents de la rage et du froid, ouverts comme des haillons qui les couvrent aux intemperies du ciel 29 et du cœur.
Die Orte indizieren den Affektzustand der Protagonisten, so sind die Häuser, die mit der von Hass und Ressentiment getriebenen Marthe verbunden sind, der vernachlässigte Gemüsegarten der ferme de Mauronnes, das von Schmutz und Spinnweben starrende Elternhaus, la maison de Mauronnes, in dem sie heimlich mit Antoine zussammentrifft und wo sie am Ende des Films in einem Flashback ihr Mordgeständnis ablegen wird; weiter ihr Stadthaus über dem Abgrund, ein von Staub und Spinnweben starrendes Labyrinth. Der Klosterraum hingegen, in dem Antoine der Sterbeszene seines Bruders beiwohnt, soll wie ein Bild von Lesueur,30 27 Schon Schauplatz des Romanfragments Julie in Bataille 1970, Bd. 4, S. 74. 28 Bataille wohnte dort 1943 von März bis September und lernte dort seine künftige Frau Diane Kotchouby de Beauharnais kennen; vgl. Mattheus 1988-1995, Bd. 3, S. 382. 29 Bataille 1970, Bd. 4, S. 367. 30 Ebd., S. 118.
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das heißt als strenger klarer Raum in barockem chiaroscuro erscheinen. Der Laden des Schusters Poussin, eines Gegenspielers derer, die wie die Mönche Antoine des Mordes an Vater, Frau und Cousine verdächtigen und Annes Verbindung mit ihm verurteilen, ist ein Ort des Studiums: In der Szene, wo Anne ihn besucht, sollen ihre Blicke auf einige seiner Bücher fallen, welche die Kamera heraushebt: Alfred Jarry, Tragödien von Crébillon fils, ein zerlesenes altes Exemplar der Ethik von Spinoza, Erzählungen von Paul de Knock charakterisieren ihn als aufgeklärten, mit dem Komischen wie mit dem Tragischen und der Philosophie vertrauten Antagonisten der Mönche. Die Handlung ist chronologisch auf den Tag und die Zeit genau bestimmt: Die erste Sequenz im Kloster ist auf den 5. Januar 1928 datiert, sie zeigt den Tod eines Mönches in einer Sterbeekstase, der sein Bruder Antoine beiwohnt. Die weiteren 42 bzw. 43 Sequenzen spielen im Jahre 1935 vom 3. April bis zum 23. Oktober. Am 3. April die Sequenz 2, wo wir Marthe beim wütenden Herausreißen von Blumen im Garten des Bauernhofs von Mauronnes sehen, beobachtet vom Schuster Poussin, dem der Kauf von Milch verweigert wird; sodann die Sequenz 3, die das noch intakte Elternhaus Antoines zeigt, und danach, von der Stadt aus, den von Marthe, Marie und Antoine beobachteten Brand des Hauses; Sequenz 4 folgt am 5. August mit dem Todessturz von Marie bei einem Ausflug mit Marthe und Antoine zum Vallée de l’Impradine; am 5. Oktober spielen die Sequenzen 5-9, die Marthes Freundin Anne im Sportcabriolet auf der Straße von Mauronnes beim vermiedenen Unfall mit Antoine vor der maison brûlée zeigen, sodann ihre Ankunft im Hause der Freundin, deren bizarres Verhalten und Verschwinden sowie eine unheimliche Nacht in diesem Gemäuer über dem Abgrund sich dem inneren Blick des Lesers anbieten; am 6. Oktober spielen die Sequenzen 1016, welche die Entdeckung der toten Marthe in einer Schlucht, die Aufbahrung ihrer Leiche in ihrem Stadthaus sowie Anne in den Straßen der Stadt und beim Schuster Poussin sehen lassen; am 7. Oktober folgt in den Sequenzen 17-20 nach dem Begräbnis Marthes das Zusammentreffen mit Antoine, der gemeinsame Spaziergang über das Schloss von Mauronnes zur Todesschlucht und die erste Liebesnacht beider im Haus von Mauronnes; am 10. Oktober zeigen die Sequenzen 21-26 die Ankündigung der Heirat der beiden Hinterbliebenen und die Mobilisierung der Stadt gegen den eines dreifachen Mordes verdächtigten Antoine; am 11. Oktober werden in zwei Sequenzen die Demarchen des Mönches Dom Lesueur gegen den vermeintlichen Mörder sowie seine Ekstase beim Gebet in der Kapelle des Klosters gezeigt; am 16. Oktober sehen wir in den Se-
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quenzen 29-33 Anne auf der Suche nach Antoine, die Reaktion der Bevölkerung auf das nach der Trauung aus der Kirche heraustretende Paar sowie die Rückkehr in das Stadthaus von Marthe; am 17. Oktober zeigt die Sequenz 34 die unheimlich bedrückende Stimmung des Lebens der beiden im Haus der Toten; die Sequenzen 35-37, die fünf Tage später im gleichen Haus spielen, führen die Krankheit Annes, ihren Schrecken vor dem Abgrund und Antoines Ekstase im Garten des Hauses vor; der Tag endet mit einem Fest beider mit Champagner, Arien von Don Giovanni, der Rezitation des Todesmonologs von Racines Phèdre durch Marthe in einer Rückblende sowie der Erzählung Antoines von Marthes Schlangen; der 23. Oktober zeigt in sechs Sequenzen zuerst den Versuch des Mönches, Anne zur Denunzierung Antoines zu bewegen, dann Annes Flucht in das Haus von Mauronnes, wo sie Briefe, die eine Liaison von Antoine und Marthe belegen, findet, und schließlich, nach dem Eintreffen Antoines, das Geständnis Marthes, das in einer Rückblende zu denken ist. Mit der chronologischen Bestimmung des Handlungsablaufes geht eine atmosphärische Evaluation her, die über signifikant werdende Indizien für Witterung und Jahreszeiten, sowie durch rituelle Zeitmarkierungen von Glocken- und Uhrgeläut erreicht werden soll. So ist zum Beispiel das Hochplateau der ersten Sequenz, die Anfang Januar spielt, mit Schnee bedeckt, Raben fliegen vorbei, man hört sie kreischen und das Totenglöckchen läutet. Hier wird schon deutlich, dass Bataille die audiovisuelle Determinierung von Orten nicht im Sinne eines effet du réel einsetzt, sondern versucht, gerade das Doppel der Orte, ihre Beziehung untereinander, ihre determinierende Rolle für die Protagonisten, kurz ihren heterogenen Schatten für den Zuschauer erfahrbar zu machen. Diesen Doppelaspekt lässt die letzte Einstellung aufscheinen, die Bataille im Faltblatt 2 als 44. Sequenz angibt: Sie sollte „le cimetière et le monastère“ zeigen. Die Wichtigkeit einer solchen chronotopischen Punktierung macht neben dieser ersten tabellarischen découpage31 ein weiteres Faltblatt deutlich, das in untereinander angeordneten Kästchen die noch ausstehenden weiteren Ausarbeitungen notiert: A faire encore: le récitatif Description des pers. Description des lieux 31 Die Tabellen in Faltblattform sind in der Bibliothèque Nationale im Enveloppe 51 mit der Aufschrift „Scénario“ zusammen mit dem 51-seitigen Manuskript von La maison brûlée enthalten.
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Und eine weitere Seite notiert das folgende Programm für die „prise de vue“ und die Montage: „Le thème du monastère doit être réintroduit plus régulièrement“ und „Le monastère doit être situé près de la petite ville et l’on doit les voir dans un même paysage, ainsi entendu à peu près en même temps sonner les heures de l’un et l’autre.“ Sakrale und simultan säkulare zeitliche Punktierung sollen also die Handlung rhythmisieren. Hier wird schon deutlich, dass Bataille eine Realisierung des Szenarios beabsichtigt, welche die Determinierung der Protagonisten durch das Heterogene – das religiöse Sakrale und die zum Tode drängende chronologische Zeit – audiovisuell indizieren soll. Die Handlung mag, wie Kritiker feststellten,32 auf den ersten Blick wie die eines Kriminalfilms erscheinen: Es häufen sich im Laufe der Handlung vier ungeklärte Tode – Antoines Bruder stirbt im Kloster, sein Vater kommt in seinem abgebrannten Haus um, seine erste Frau Marie stürzt bei einem gemeinsamen Ausflug zu Tode, seine Cousine Marthe, die Schwester seiner Frau, wird tot in einer Schlucht gefunden. Ein Schuldiger scheint naheliegend, Antoine, sowohl die Mönche des Klosters wie auch die Bevölkerung verdächtigen ihn des Mordes und selbst Anne, die auf Marthes Bitten angereiste Freundin, die am Tag ihrer Beerdigung seine Geliebte und 10 Tage später seine Frau geworden war, gibt schließlich den aufkommenden Zweifeln nach. Die Auflösung erfolgt im Elternhaus der toten Schwestern, das sowohl Schauplatz für die verbotene Liebes Marthes zu Antoine als auch von Annes erster Liebesnacht mit Antoine gewesen war. In einer Rückblende – Les aveux de Marthe – bezichtigt sich Marthe des Mordes an Antoines Vater und Marie, ihr eigener Tod erweist sich als Selbstmord. Marthes Geständnis, das den Kriminalfall löst, wirft zugleich das Licht auf eine zügellose zum Tode drängende Leidenschaft, die Antoine, der sich ihrer nicht würdig erwiesen habe, in die Souveränität gesetzloser Affirmation hineinzuziehen suchte: Je voulais pas seulement être ton amante mais la meurtrière… de ta femme, de ton père… …et la mère de ton enfant! […] Il n’est rien de si 33 insensé que je ne l’aie désirer pour te posséder davantage.
Diese Solidarität von Eros und Thanatos, die den Kriminalfall determiniert, wird jedoch im Szenario auf eine Identität mit der mystischen Ekstase erweitert. Wie bekannt ist, setzt Bataille in seinen in den Kriegsjah32 Vgl. Mattheus 1988, S. 112 und Sebbag 1995, S. 62. 33 Bataille 1970, Bd. 4, S. 149.
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ren verfassten philosophischen Schriften nicht nur Eros, Todestrieb und mystische Erfahrung analog, er wird auch später ihre strukturale Identität in L’érotisme von 1957 theoretisieren.34 Das Filmszenario behauptet diese Identität in szenischen Bildern, die insofern die Kriminalgeschichte überlagern und überdeterminieren, als die Anfangsszene in eine mystischen Ekstase im Kloster einführt und die Schlusseinstellung dieses Kloster zusammen mit dem Friedhof zeigen soll und damit der Film ausdrücklich durch das Todes- und Klosterthema sakral gerahmt wird. In der Tat öffnet der vierte Tote, Antoines Bruder, dessen Sterben die Anfangssequenz wie in einem tableau von Lesueur zeigen soll, auf eine Reihe von der Kriminalgeschichte funktional widerständigen Szenen und Einstellungen, die Tod bzw. Todesgefahr und Indizien von ekstatischen Zuständen in Verbindung bringen: Das Szenario evoziert diesen sterbenden Mönch mit einem „visage éclairé d’une lueur étrange.“ Im Gegensatz zu Marthe, die in Rage, hasserfüllt, abweisend, brüsk und sinister gezeigt wird, stehen die Gesichter der anderen Protagonisten angesichts von Tod oder Todesgefahr. Das Szenario insistiert auf in Großaufnahme zu imaginierenden, ekstatischen Gesichtern: „le visage de Marie au moment où elle tombe“ und im Gegenschuss „les visages de Marthe et Antoine après la chute. Visages égarés, toutefois durs, comme en extase.“ (Sequenz 4). Weitere nicht kausalpsychologisch in eine Kriminalhandlung integrierbare Hinweise auf ekstatische Zustände folgen: Antoine vor dem abgebrannten Vaterhaus (Sequenz 5) „s’est mis à sourire puis à rire silencieusement comme déchiré par un rire intérieure“; das erste Zusammentreffen Annes und Antoines vor diesem Haus (Sequenz 6) soll ihren Blickwechsel nach dem durch brüskes Bremsen verhinderten Unfall als eine „impression de complicité“ von zwei Wesen zeigen, „auxquels le silence est également nécéssaire dans ce cas.“ Anne in den Straßen der Stadt nach dem Tode Marthes (Sequenz 14) zeigt Reaktionen von stillem Außer-sich-Sein, nachdem sie mit dem Abstechen eines Zickleins vor einem Metzgerladen und den blutenden Verletzungen eines kleinen Mädchens durch den Zusammenstoß mit einem betrunkenen Rosshändler konfrontiert worden war, und im Laden des Schusters auf einen schwarzen Raben mit dem Namen Jezabel traf. Während die Bevölkerung der Stadt in Opfern ähnlichen Schlachtund Kampfritualen – so weiter ein blutiger Unfall im Sägewerk, bei dem ein Daumen ‚geopfert‘ wird (Sequenz 23) und eine Schlägerei auf ihrem Vorplatz (Sequenz 26) sowie mit Steinwürfen gegen Anne (Sequenz 31) 34 Ebd., Bd. 10.
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– ihren aggressiven Todestendenzen Lauf lässt, manifestiert sich bei den beiden Liebenden die Verbindung von Eros und Thanatos in ekstatischen Zuständen (Sequenzen 36 und 37): Die Ekstase erfasst Antoine im Garten des Hauses von Marthe beim Blick in den Abgrund, ihr folgt ein Fest im Haus der Toten mit der Ouvertüre zu Mozarts Don Giovanni, in der Kapelle des Gartens erzählt er die Geschichte von Marthes Schlangen. Bataille notiert in Klammern: „L’on doit se demander s’il ne va pas la tuer le soir même.“ Der Todesmonolog von Racines Phèdre – „C’est Vénus toute entière“ – wird von Marthe (in einer Rückblende?) vor dem Spiegel rezitiert. Schließlich führt die erstmalige Erzählung Antoines vom Tode seines Bruders ihn zu dem Geständnis, die Reiteration jener Momente der Transparenz, „ces moments [...] où tout est divin, parce que tout est impossible,“ seither ohne Unterlass gesucht zu haben. Bataille notiert in Klammern: „Impossible surtout d’expliquer, de parler.“ Die Schlusssequenzen 42 und 43 zeigen wieder die Protagonisten außer sich, indiziert durch körperliche Zeichen: Antoine „pas rasé, décoiffé“, Anne „épuisé“, „terrifiée, mais dans l’un de ces moments d’incandescence où nous sommes portés par ce que nous vivons au-delà de nous-mêmes.“ Das Andere, das Heterogene wird durch die Landschaften und Orte, die unwirtliche Witterung – Schnee, Regen, Wind –, Stimmen von Vögeln, Schlachtvieh und Hunden, akusmatische Geräusche wie Schlagen von Türen und Fensterläden, Pochen von Schritten, Läuten von Glocken und Turmuhren, einen nicht psychologisch auflösbaren Blick, Gesichtsausdruck, durch Körpergestik und -haltung der Protagonisten, diegetisch unmotiviertes Lachen und Lächeln sowie die Stimmlagen indiziert. Die Filmmusik unterstützt diese unauflösbare, ambivalente Affektevaluation der Bildspur, sie lässt den Atem anhalten um besser zu hören (Sequenz 9), sie wird mit Mozarts Don Giovanni zum Triumph des Souveränen (Sequenz 37).35 Visuelle Bilder und Klang- wie Geräuschbilder, die den Blick und das Ohr auf ein punctum im Sinne Barthes’ ausrichten, welches das Gedächtnis des virtuellen Zuschauers öffnet, zeichnen so intentional eine audiovisuelle Schrift des Heterogenen, die den Zuschauer als begehrendes Subjekt anspricht. Batailles Szenario entrollt in der Lektüre einen unsichtbaren Film, der an die Ästhetik mancher Filme des italienischen Neorealismus denken lässt, an Curzio Malapartes CRISTO PROIBITO (1950) zum Beispiel oder aber an Cineasten, die sich explizit mit der
35 Vgl. Vf. 1991.
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Darstellbarkeit des Heiligen auseinandergesetzt haben, wie Pier Paolo Pasolini mit PORCILE oder TEOREMA.36
5.
Das Bild, die Dramatisierung und die Ekstase
„La maison brûlée“ heißt im Französischen auch der Titel von August Strindbergs Kammerspiel Brända tomten, (dt. Brandstätte) von 1907. Wie dort ist das niedergebrannte Vaterhaus Auslöser für die Aufdeckung der verborgenen Geheimnisse einer Familie durch eine von außen hinzugestoßene Person, dort der aus der Fremde heimgereiste Bruder, der „Fremde“, hier die angereiste Freundin der Brandstifterin Marthe. Doch die freudige Erwartung von „Unglück“ und „Opfer“, die der Fremde in Strindbergs Stück bei der Bevölkerung zu Beginn des zweiten Aktes notiert, wird in Batailles Filmszenario aufgefächert in die Sündenbockopferversuche der Bevölkerung und in die Selbstopfer der Protagonisten in Eros und Ekstase. Die virtuelle filmische effusion du sacrifice wird im Gegensatz zum Stück, wo sie vor allem Ergebnis des Dialogs ist, eng an die audiovisuelle Konstruktion des Chronotopos, die Situierung der Handlung in von Heterogenität geprägten ambivalenten Orten und Landschaften und in einem durch klimatische Exzesse geprägten, zyklisch und rituell punktierten Zeitraum gebunden. Vor allem aber evoziert Bataille die Subversion des Subjekts im Heiligen der Ekstase durch eine Bild- und Tonspur, die einen Subtext des Heterogenen von menschlichem Körper und Stimme in einer Doppelbewegung zeichnet, die es einerseits zum Animalischen und Unheimlichen entgrenzt und anderseits zu Repräsentationen des christlichen Heiligen in Beziehung setzt. Wir haben ähnliche Hinweise in den Theaterskizzen, so zum Beispiel in der zweiten Szene des ersten Aktes des Fragments Le Prince Pierre,37wo auf einem Schlachtfeld mit Leichen Raben krähen und Schreien, Weinen, Röcheln, Schluckauf den ersten Teil der Szene beherrschen. Todeserfahrung des Krieges, rituelles Opfer und mystische Erfahrung werden hier provokativ als Einheit gedacht. Bataille sucht diese Einheit für die Gesellschaft in einer ersten Version von La part maudite, zwischen 1939-1945 geschrieben, zu theoretisieren38 und zugleich die 36 Vgl.Vf.: „San Pier Paolo oder ‚Alles ist Paradies in der Hölle‘ (Sade). Über Pier Paolo Pasolini“, in: Hans Jürgen Heinrichs (Hrsg.): Der Körper und seine Sprachen, Frankfurt a.M. 1984, S. 61-91. 37 Bataille 1970, Bd. 4, S. 320f. 38 Ebd., Bd. 7.
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mystische Erfahrung mit L’Expérience intérieure und ihre Solidarität mit der erotischen Erfahrung, der Erfahrung des Todes und des Krieges mit Le coupable39 zu reflektieren. In dem Kontext dieser Befragung der possibilités dernières ist das Filmszenario, wie schon angedeutet, anzusiedeln. Doch auch seine Konzeption des Bildes und der Repräsentation, die sich in dem Szenario als virtuelle Filmsprache des Heterogenen gezeigt hatten, kann durch die in den philosophischen Texten dargelegte Methode innerer Erfahrung erhellt werden. Die Subversion des abendländischen Subjekts, die die persönliche Erfahrung und die Kriegserfahrung nahelegten, führt nämlich Bataille zu einer Methode der Meditation, die im Rekurs und in Differenz zu Exerzitien christlicher Mystiker wie Ignacio de Loyolas entwickelt wird. Der Gegenstand innerer Erfahrung ist die Projektion eines dramatischen Selbstverlustes, die die Form eines point annimmt.40 Dieser Punkt ist das Bild des Subjekts, der Punkt gibt der Erfahrung eine optische Form.41 Die Projektion des Subjekts in eine Repräsentation macht das Bild zum privilegierten Agenten der ekstatischen Erfahrung, ein Bild, das das Subjekt vor ein Drama stellt. Hier führt Bataille das berühmte Photo der Marter eines Chinesen an, der bei lebendigem Leib einer langwierigen Zerstückelung unterzogen wird.42 Warum kann ein Photo extremer Grausamkeit Ausgangspunkt ekstatischer innerer Erfahrung werden? Die Marter zeichnet sich auf dem Gesicht des Verurteilten als seelige Ekstase ab, ähnlich den barocken Darstellungen des Gesichtsausdrucks christlicher Märtyrer. Die Transfiguration steht im Kontrast zum Horrorbild des zerstückelten Körpers, das gerade das Phantasma ist, welches das erste Ichbild als Ichideal bedroht. Jacques Lacan analysiert es als Wiederkehr der durch das Spiegelbild verdrängten aggressiven Triebe.43 Der Kontrast von seeligem Gesichtsausdruck und körperlicher Qual setzt die narzisstische Identität des Betrachters in Prozess, indem er sein Begehren in der grausamen Darstellung fixiert, doch zugleich diese Fixierung, sein Selbstideal zerstört. Hier wird die erotisch aggressive Determinierung des Blicks in den Dienst der Auflösung des narzisstischen Ichideals des Betrachters gestellt.
39 40 41 42
Ebd., Bd. 5. Bataille 1970, Bd. 5, S. 133ff. Ebd., S. 138. Ebd., S. 139. Das Photo ist abgedruckt in Bataille, Georges: Les larmes d’Eros, Paris 1961/1981, S. 234. 43 Lacan, Jacques: „Le stade du miroir comme formateur du ‚je‘“, in: ders.: Ecrits, Paris 1966, S. 93-100.
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Dieses Verfahren ist jedoch schon vom Film erprobt. Buñuel setzt es in der Anfangssequenz von LE CHIEN ANDALOU ein: Das betrachtende Auge des Zuschauers wird mit der Lust an der Gewalt des durchschnittenen Auges, das die Montage als Auge einer Frau wahrnehmen lässt, zugleich selbst symbolisch kastriert. Dieser einschneidende Sehakt macht den Schrecken des Auges bewusst, seine schneidend-einschneidende Funktion, auf die Bataille selbst schon im Zusammenhang mit diesem Film 1929 hingewiesen hatte.44 Im Film wird diese Funktion durch die Dramatisierung der Montage bewusst: Die Aufeinanderfolge von romantischem Vollmond und rundem Frauenauge, von einer flachen Wolke, die den Vollmond horizontal durchzieht und einem Messer, das waagrecht das Auge von rechts nach links durchschneidet, in der Tonspur durch einen unerbittlich vorantreibenden Tango untermalt, potenziert die in den ersten Bildern unbewusst investierten positiven Affekte und die durch die strukturale Identität der Formen geweckten Erwartungen und entlädt die aufgestauten Triebenergien in der letzten grausamen Einstellung schockartig zu einem neuen Affekt: Das Subjekt wird auf die Grausamkeit seines Blickes zurückgeworfen und zugleich als Ichidentität zerstört. Sergej Eisenstein hatte diese Dramatisierung einer Montage der Attraktionen schon seit 1924 theoretisiert und 1945 in in den Texten „El Greco y el cine“ und „Rodin und Rilke“ zu Überlegungen zur filmischen Ekstase vertieft.45 Er analysiert dort die Montage als Psychotechnik, die sowohl die Ergebnisse religiöser Introspektion, wie sie Ignacio von Loyola in seinen Exerzitien beschrieben hat, als auch den Gewinn aus der Schauspielmethode Stanislawskis vereine: Die Methode Loyolas ist in der Tat auf die Auflösung des narzisstischen Ichs durch eine Technik imaginärer Repräsentation ausgerichtet, ihr erstes Ziel ist die Konstitution eines Raumes und eines ihm zugeordneten Affektes, die potentiell das Ziel, die Verschmelzung mit Gott, ermöglichen sollen. Hierzu werden Ketten von imaginierten Repräsentationen gemäß der fünf Sinne isoliert und aktiviert, wobei der unmittelbare Affekt jedoch verdrängt wird, um dann seine Spannungsenergie in die Addition der Repräsentationsketten zum ekstatischen Affekt zu potenzieren, der sich in einer Vereinigung
44 Vgl. Bataille, Georges: „Œil: l’image de l’œil“, in: Documents, Nr. 4 (1929), S. 281. 45 Eisenstein, Sergeij: „El Greco y el cine” und „Rodin et Rilke“ in: ders.: Cinématisme, Peinture, cinéma, textes inédits, Brüssel 1980.
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mit Gott lösen soll. Durch den Aufschub der Triebentladung bekannter Affekte kann so ein unbekannter Affekt entstehen.46 Doch während es bei Loyola um eine innere imaginäre Affektökonomie geht, bei Stanislawskis Schauspielmethode eine Extrovertierung des Affekts durch additive Mimik, Geste und Dialog vorgesehen ist, verbindet nach Eisenstein nun der Film beide Methoden in der Montage, indem er mit Hilfe von Reihung und Addition die Emotionen über die Darstellung extrovertiert und zugleich die ekstatische Wirkung der Loyola’schen Methode zu erreichen vermag. In der Tat werden mit dem Film nicht nur durch Schauspieler veräußerte Emotionen sondern auch Räume gezeigt, die ambivalent affektiv durch Bildkomposition und Tonspur determiniert werden können und so, die Wahrnehmung des Zuschauers durchquerend, ihn in einen Zustand der Erregung führen können, den Eisenstein der Ekstase gleichsetzt, wenn durch die Montage der Weg von der Wahrnehmung zur Vorstellung des Zuschauers de-automatisiert und eine neue, für Eisenstein primär politische, affektbesetzte Vorstellung erreicht wird. Für Eisenstein soll die ekstatische Montage in eine politische Begeisterung führen: Das Hissen der roten Fahne auf einem erigierenden Kanonenrohr im PANZERKREUZER POTEMKIN wird so zur Entladung erotisch aggressiver Affekte, die einem politischen Ziel zugeführt werden sollen. Doch die ekstatisch filmische Montage erschöpft sich nicht in dieser politischen Nützlichkeit. Das Gelächter heutiger Zuschauer über die erwähnte Sequenz, weist vielmehr auf die mögliche Ambivalenz solcher Bilder hin: Das in der Schwebe-Lassen der Triebentladung des Affektes der Bilder und Töne, seine Nichtintegrierbarkeit in die Diegese öffnet für den Zuschauer die Bühne seines eigenen imaginären Kinos, auf dessen Leinwand, der unsichtbare Film seiner Wünsche und seines Begehrens, die Dramatisierung seines narzisstischen Ichs, er zu projizieren aufgerufen ist. Batailles Filmszenario, dessen Thema die effusion du sacrifice ist, hat hierfür Verfahren gewählt, welche die Methode der inneren Erfahrung, die Konstruktion von points, auf den Film mit visuellen und auditiven puncti47 überträgt. Die Iteration von für den Zuschauer unerklärbaren Indizien ekstatischer Zustände, sowie die genannten Beispiele der Fixierung des Heterogenen in seinem Szenario wie auch die intendierte Re46 Ignace de Loyola, Exercises spirituelles, texte définitif (1584), traduit et commenté par Jean Claude Guy, Paris 1982. 47 Eine Diskussion des Verhältnisses von Batailles point und Roland Barthes’ punctum kann hier aus Platzgründen nicht geleistet werden.
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kurrenz des Blicks auf das Kloster oder den Friedhof machen eine ekstatische Triebentladung für den Zuschauer insofern am Ende wahrscheinlich, als die Bilder mit ihrer ambivalenten affektiven Evaluation eine diegetische Zuordnung verunmöglichen, und so die Triebentladung notwendig aufgeschoben und die Affekte addiert werden können. Doch die ekstatische Triebentladung dieses unsichtbaren Films bleibt wie bei Loyola der imaginären Affektökonomie des Lesers überlassen, der neue Affekt wird virtuell Teil seiner inneren Erfahrung. Hingegen hat die Kunst Hitchcocks konkret mit dieser ekstatischen Methode gearbeitet. Auch die Musik der Montage von Filmen Jean-Luc Godards wie PASSION oder NOUVELLE VAGUE ermöglicht dem Zuschauer eine solche Erfahrung der Subversion seines narzisstischen Ichs. Gerade eine Szene im letztgenannten Film ähnelt auf frappierende Weise der Szene, in der Anne und Antoine vor der maison brûlée zum ersten Mal aufeinandertreffen: An einer Kurve erfasst Annes Sportwagen beinahe Antoine, die Blicke treffen sich, sie bremst. Diese Konfrontation mit dem Tode wird ihre spätere Passion besiegeln. In NOUVELLE VAGUE lässt Godard ebenfalls mit einem solchen in letzter Sekunde durch Bremsen eines Sportwagens vermiedenen Unfall in der Wegkurve einer Landstraße die Liebe von Raoul und Contessa Elena beginnen. Doch in diesem Film werden zwei mögliche Versionen dieser Leidenschaft durchgespielt, einmal mit dem tödlichen Ende des Protagonisten, verschuldet durch seine Geliebte, sowie noch einmal mit seiner Wiederauferstehung und mit einem beide versöhnenden Schluss. Bei Godard hat Eros über Thanatos für einen Moment gesiegt. Dennoch hat vielleicht Batailles unsichtbarer Film, der mehr als Kino, plus que cinéma sein wollte,48 in Godard einen geistigen Erben gefunden, jedenfalls insofern, als auch er die Frage des Unmöglichen, der Darstellbarkeit, der Ekstase mit seinen Filmen stellt.
Literatur Bataille, Georges: Œuvres complètes, 12 Bde., Paris 1970-1988. Bataille, Georges: Les larmes d’Eros, Paris 1961/1981. Bataille, Georges: Choix de lettres 1917-1962, Paris 1997.
48 Vf.: „Musik für Augen und Ohren: Godard, das neue Theater und der moderne Text“, in: Volker Roloff/Scarlett Winter (Hrsg): Theater und Film in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen 2000, S. 125-135.
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Bataille, Georges/Bataille, Marie-Louise: „L’Esprit souterrain, Dostoïevski adapté par Georges Bataille et Marie-Louise Bataille“, in: L’Infini, Nr. 75 (2001), S. 53-79. Documents. Doctrines, Archéologie, Beaux-Arts, Etnographie, 2 Bde. (1929-1930), reprint, préface Denis Hollier, Paris 1991. Eisenstein, Sergej: „El Greco y el cine” und „Rodin et Rilke“ in: ders.: Cinématisme, Peinture, cinéma, textes inédits, Brüssel 1980, S. 15104, 249-282 Finter, Helga: „San Pier Paolo oder ‚Alles ist Paradies in der Hölle‘ (Sade). Über Pier Paolo Pasolini“, in: Hans Jürgen Heinrichs (Hrsg.): Der Körper und seine Sprachen, Frankfurt a.M. 1984, S. 61-91. Finter, Helga: „Das Lachen Don Giovannis. Zu Georges Batailles Rezeption des ‚dissoluto punito‘“, in: Peter Csobádi et al. (Hrsg.): Das Phänomen Mozart im 20. Jahrhundert, Salzburg 1991, S. 639-660. Finter, Helga: „Heterologie und Repräsentation. Strategien des Lachens. Zu Georges Batailles Le bleu du ciel“, in: dies./Georg Maag (Hrsg.): Bataille lesen. Die Schrift und das Unmögliche, München 1992, S. 13-31. Finter, Helga: „Poesie, Komödie, Tragödie oder die Masken des Unmöglichen: Georges Bataille und das Theater des Buches“, in: Andreas Hetzel/Peter Wiechens (Hrsg.): Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, Würzburg 1999, S. 259-273. Finter, Helga: „Musik für Augen und Ohren: Godard, das neue Theater und der moderne Text“, in: Volker Roloff/Scarlett Winter (Hrsg): Theater und Film in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen 2000, S. 125-135. Janicot, Christian (Hrsg.): Anthologie du cinéma invisible, Paris 1995. Lacan, Jacques: „Le stade du miroir comme formateur du ‚je‘“, in: ders.: Ecrits, Paris 1966, S. 93-100. Loyola, Ignace de: Exercises spirituelles, texte définitif (1584), traduit et commenté par Jean Claude Guy, Paris 1982. Mattheus, Bernd: Georges Bataille. Eine Thanatographie, 3 Bde., München 1988-1995. Marmande, Francis: L’indifférence des ruines. Variations sur l’écriture du ‚Bleu du ciel‘, Marseille 1985.
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Moscovitz, Cécile: „Bataille et l’homme du sous-sol“, in: L’Infini, Nr. 75 (2001), S. 46-52. Rey, Henri François: „Bataille et Fernandel“, in: Magazine littéraire, Nr. 144 (1979), S. 57f.
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THEATER/FILM – DER KONFLIKT ARTAUD/DULAC ALS PARADIGMA Abstract Je vais remettre en question l’éternel conflit entre Antonin Artaud et Germaine Dulac à propos du projet filmique LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN (1928) en insistant sur les conceptions divergentes entre le théâtre et le film. À mon avis ce conflit se révèle de sorte paradigmatique en ce qui concerne la relation de l’Avantgarde avec le film et la cristallisation d’un nouveau film de l’Avantgarde, et également vu les contradictions et divergences de l’Avantgarde, tout en particulier présentes en France. Ce conflit marque, précisément dans le contexte de la nouvelle définition de la théâtralité, une rupture qui, se référant à Artaud, est d’abord remise en question par la néo-Avantgarde du film (rupture des médias des années 68) puis à nouveau plus tard par le médium vidéo. Der bekannte Konflikt zwischen Antonin Artaud und Germaine Dulac bezüglich des Filmprojekts LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN (1928) wird hier in Frage gestellt, indem die divergierenden Konzeptionen zwischen Theater und Film in den Mittelpunkt der Analyse rücken. Denn meines Erachtens spiegelt sich dieser Konflikt in paradigmatischer Weise in der Beziehung zwischen Avantgarde und Film, in der Entstehung eines neuen Avantgardefilms sowie in den Widersprüchen und Divergenzen der französischen Avantgardebewegung selbst. Der Konflikt zeigt, gerade im Kontext einer neuen Definition von Theatralität, einen Bruch auf, der in Bezug auf Artaud zunächst durch die Neo-Avantgarde des Films (Umbrüche in den Medien in den 68er Jahren) und später durch das Medium Video in Frage gestellt wird.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Auseinandersetzung um den ersten surrealistischen Film des französischen Kinos LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN (1926-28). Nun gestaltet sich dieses Vorhaben ein wenig kompliziert. Denn es handelt sich um einen Film, der bei genauerer Betrachtung eigentlich gar nicht existiert. Was existiert, ist ein Drehbuch, ein scénario des Dichters, Schauspielers und Theaterrevoltärs Antonin Artaud, das dieser im April 1927 bei der Association des Auteurs de Film erstmals vorgelegte. Und das im November 1927 – in dem Monat also, in dem Artaud wegen ‚kommerzieller Instinkte‘ aus der surrealistischen Be-
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wegung ausgeschlossen wurde1 – in der Nouvelle Revue Française veröffentlicht wurde. Und es existiert ein Film, der nach der Realisierung von Filmen wie LA FÊTE ESPAGNOLE (1919), LA MORT DU SOLEIL (1923) und LA SOURIANTE MADAME BEUDET (1923) bereits als cinéaste avantgarde – der ersten, oder auch ‚impressionistischen‘ Avantgarde des französischen Films – anerkannten Regisseurin Germaine Dulac. Der Film LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN, der auf der Grundlage des besagten Drehbuchs entstanden ist, provozierte bei seiner Uraufführung am 9. Februar 1928 im Studio des Ursulines zugleich einen Skandal. Besser gesagt war es der Autor Antonin Artaud, der gemeinsam mit einigen Surrealisten, u.a. Robert Desnos, einen Skandal provozierte und in einer lautstarken Auseinandersetzung mit der Regisseurin Germaine Dulac seine Empörung über die Deformation seiner ‚Idee‘ zum Ausdruck brachte, bis sie des Saales verwiesen wurden.2 Es liegt mir fern, diesen Skandal und den vorausgegangenen Konflikt zwischen Drehbuchautor und Regisseurin im Detail zu schildern oder auch nur zu skizzieren, der mittlerweile als vielzitierte Anekdote und Anlass zur Polemik unterschiedlicher (pro-surrealistischer wie feministischer) Provenienz in die Filmgeschichte und -literatur eingegangen ist, und in dem auch der Konflikt zweier divergierender Auffassungen von Autorschaft im Film eine Rolle spielt. Was mich vielmehr interessiert, sind die dem Konflikt zwischen Autor und Regisseurin zugrundeliegenden divergierenden, in Teilen aber auch konvergierenden ästhetischen Konzeptionen von Film/Kino, die sich in der Differenz zwischen Skript und Film und – mehr noch – in den programmatischen Entwürfen dieser beiden wichtigen Theoretiker des Avantgarde-Films zeigen. Die Publikationen insbesondere von Sandy Flitterman-Lewis3 und auch Jenaro Talens4 waren in dieser Hinsicht ein wichtiges Korrektiv.
1 Breton hatte Artaud im November 1927 wegen „kommerzieller Instinkte“ von der Gruppe der Surrealisten ausgeschlossen, weil er als Schauspieler „in Spielfilmen mitwirkte und Stücke im Rahmen des kommerziellen Theaterbetriebs herausbringen wollte“. Scheugl, Hans/Schmidt, Ernst jr.: Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms. Bd. 1, Frankfurt a.M. 1974, S. 235. 2 Artaud, Antonin: Œuvres complètes. Bd. III, Paris 1970, S. 366ff. 3 Flitterman-Lewis, Sandy: „The Image and the Spark. Dulac and Artaud Reviewed“, in: Rudolf E. Kuenzli (Hrsg.): Dada and Surrealist Film, Cambridge/Massachusetts 1996, S. 110-127. 4 Talens, Jenaro: „A Writing of Disorder. The Discursive Proposal of Un chien andalou“, in: Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hrsg.): Louis Bunuel: Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt 1994, S. 33-60.
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In meinem Beitrag werde ich mich nun insbesondere auf folgende Aspekte konzentrieren, die mir, bezogen auf die Bewertung des Konflikts – der gescheiterten filmischen Umsetzung, der theoretischen Konzeptionen und des Selbstverständnisses seiner Protagonisten Artaud/Dulac – besonders relevant erscheinen. Und zwar auf das Verhältnis von Film bzw. Kino und Theater, von Visualität und Theatralität und auf das Verhältnis von Kunst und Kino, von Avantgarde und Industrie. Also auf Konfliktkonstellationen, die, für die Avantgarde-Film-Konzeptionen Artauds wie Dulacs in unterschiedlicher Weise konstitutiv wie prekär, den historischen Konflikt überlagern. Aus dieser Perspektivierung ergibt sich für mich die paradigmatische Betrachtung des Konflikts Artaud/Dulac, die den Blick öffnet auch für grundlegende Tendenzen in den filmischen Experimenten und Modellen der Avantgarden, und auf parallel verlaufende wie nachfolgende Entwicklungen. Ich beginne daher mit einem Zitat, das aus einem Text stammt, der vierzig Jahre später, also 1967, verfasst wurde: It is the overcoming of theater that modernist sensibility finds most exalting and that it experiences as the hallmark of high art in our time. There is, however, one art that, by its very nature, escapes 5 theater entirely – the movies.
Das, was der Kunsttheoretiker und -kritiker Michael Fried in seinem Artikel Art and Objecthood gegen das Theater zu verteidigen sucht, ist eine Ästhetik der Moderne (in Malerei und Skulptur), die auf der Autonomie des visuellen Mediums, der Reinheit der medialen Form der Repräsentation und der Synthese von Abstraktion und Vision beruht. Frieds Polemik richtet sich gegen ein Theater, das, im Wesentlichen von den Theatermodellen Brechts und Artauds geprägt, den Zuschauer/Betrachter in das Zentrum seiner Ästhetik rückt, ihn unmittelbar in eine Situation hineinzieht, ihn einer Erfahrung aussetzt, ihn mit der Materialität und Präsenz des theatralen Ereignisses konfrontiert, ihn direkt am theatralen Prozess beteiligt. Und sie richtet sich gegen die – mit der Kritik der Repräsentation verbundene – Auflösung ästhetischer Autonomie in zeitgenössischen Tendenzen der theatralen Grenzüberschreitung der Einzelkünste: The concepts of quality and value – and to the extent that these are central to art, the concept of art itself – are meaningful, or wholly
5 Fried, Michael: „Art and Objecthood (1967)“, in: ders.: Art and Objecthood. Essays and Reviews, Chicago/London 1998, S.164.
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INGA LEMKE meaningful, only within the individual arts. What lies between the 6 arts is theater.
Dieser Tendenz zum Theater, oder besser zur theatricality, dt. Theatralität, die Fried in diesem Text insbesondere an der Minimal Art oder Literalist Art (in Malerei und Skulptur) beobachtet und kritisiert und die alle Ebenen und Medien der zeitgenössischen künstlerischen Produktion zu bedrohen scheine, entziehe sich lediglich ein Medium: das Kino. Das Kino also als letzte Zufluchtsstätte einer modernist sensibility, einer ästhetischen Sensibilität der Moderne!? Ist das Kino dann moderne Kunst? Nein, soweit möchte Fried dann wiederum doch nicht gehen, denn das, was die Kinoerfahrung – auch die experimentellste – im Wesentlichen ausmacht, sei der Zustand der Versunkenheit, der absorption. Und dieser bedeute Flucht vor, nicht Überwindung von Theater. Fried reagiert in seinem Text auf die Konstellation einer Krise, einer Umbruchsituation in der Kunst der späten 60er Jahre. In deren Folge auch neue Formen einer theatralen Ästhetik im Film, später auch im Video, entwickelt werden. Der von Fried formulierte Konflikt zweier Kunstkonzeptionen und das daraus abgeleitete, zunächst paradox wirkende Konvergenzverhältnis von Kino und autonomer Kunst eignet sich m.E. als Folie für meine Betrachtung des historischen Konflikts Artaud/Dulac. Nicht nur, weil Fried seinerseits in einer Anmerkung den Bezug zu den ästhetischen Konzeptionen der 20er Jahre herstellt, indem er auf eine ‚tiefe Affinität‘ zwischen der von ihm als ‚theatral‘ bezeichneten – und somit einer ‚modernistischen Sensibilität‘ entgegengesetzten – literalist sensibility und dem Surrealismus bzw. einer surrealist sensibility verweist.7 Nun geht Artauds Auseinandersetzung mit dem Film weit über die kurze Episode seines surrealistischen Engagements (1924-1927) hinaus. Von 1922 bis 1935 spielte er ca. 20 Rollen für das Theater und ebenso viele für den Film. Er spielte u.a. den scheiternden Revolutionär Marat in Abel Gances NAPOLEON (1925/27) und den mitleidenden Mönch in Carl Theodor Dreyers JEANNE D’ARC (1928). Und er schrieb in den Jahren 1924/25 bis 1930 acht scénarios, von denen nur eines, LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN, verfilmt wurde. Für die Realisierung seines Tonfilmprojekts LA RÉVOLTE DU BOUCHER (1930) entwickelte er, ermutigt durch den Erfolg von Buñuel/Dalis UN CHIEN ANDALOU (1928), sogar ein Konzept zur Gründung einer eigenen Firma ‚zur sicheren und schnell amor6 Ebd. 7 Ebd., Royer, Jean-Michel: „Conaissance et reconnaissance“, in: Cahiers Jean-Barrault 1958, Nr. XXII-XXIII, Paris 1958, S. 171.
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tisierbaren Produktion von Kurzfilmen‘, von films d’avantgarde, die im Rahmen der sich bereits etablierenden Foren spezialisierter Filmdistributionsstätten, den salles d’avantgarde, ein eigenes Publikum finden könnten.8 Als entschiedener Verteidiger des Stummfilms setzte er sich auch theoretisch mit dem Tonfilm auseinander und entwickelte dabei u.a. die Idee eines sonoren Films und die Vision eines Totalkinos,9 wie wir es bereits in Laszlo Moholy-Nagys Plan eines simultanen oder Polykinos (1924)10 und in den Expanded Cinema Projekten der Neo-Avantgarden wiederfinden, z.B. in StanVanderBeeks MOVIE-DROME (1965). Der Tonfilm war für Artaud nur der Anfang einer sinnlichen Aufrüstung des Kinos. Es werde ein Geruchs-, ein Geschmacks-, ein taktiles Kino geben. Ein Kino jenseits der Leinwand, ein Raumkino. Ein Kino im Relief, in Farbe, in drei Dimensionen.11 Dennoch ist Artaud in seinem Interesse am Kino und seiner ästhetischen Konzeption für den Film dem Surrealismus zutiefst verbunden. Und er ist, das hat Stephen Barber in einer kürzlich erschienenen Publikation des BFI zum surrealistischen Film noch einmal betont, der einzige Vertreter der surrealistischen Bewegung in Frankreich, der einen, wenn auch verstreuten und fragmentarischen, Textkorpus theoretischer Schriften zum Kino hinterlassen hat, in dem er das Potenzial des Kinos hinterfragt und die révolution surréaliste auf den Film zu übertragen sucht.12 „[...] A cette époque Artaud éprouvait un véritable sentiment de persécution en matière de création cinématographique [...]“, schreibt Alain Virmaux bereits 1965 und schränkt zugleich ein: „Artaud et le cinéma, c’est avant tout une effilade d’espoirs déçus [...]“.13 Virmaux stellt, was sich bereits aus dem Titel seines Beitrags in den Etudes cinématographiques ablesen lässt, Artauds Filmskripte und theoretische Entwürfe zum Kino 8 Artaud, Antonin: „Projet de Constitution d’une firme destineé a produire des films de court métrage, d’un amortissement rapide et sûr (1930)“, in: ders.: Œuvres complètes, Paris 1970, S.92-98. 9 Artaud, Antonin: „Deux Textes“, in: Positif, Nr. 399 (Mai 1994), Paris 1994, S. 58-61. 10 Moholy-Nagy, Laszlo: „Das Simultane oder Polykino“, in: ders.: Malerei, Fotografie, Film. Reihe Bauhausbücher, Bd. 8., Mainz 1978, S. 39-41. 11 „[...] ce sera le cinéma odorant, tactile et gustatif. Le cinema hors de l’écran, et dans l’espace. Le cinéma relief, en couleurs, à trois dimensions.“ Artaud, Antonin: „Deux Textes“, in: Positif, Nr. 399 (Mai 1994), Paris 1994, S. 61. 12 Barber, Stephen: „Extremities Of The Mind: Antonin Artaud And Cinema (1998)“, in: Robert Short (Hrsg.): The Age of Gold. Surrealist Cinema, London 2003, S. 33. 13 Virmaux, Alain: „Une promesse mal tenue: le film surréaliste“, in: Etudes cinématographiques, Nr. 38-39, Paris 1965, S. 120, 125.
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in den Kontext einer Idee des surrealistischen Films, die für die surrealistische Bewegung gleichermaßen zentral, wie zum ‚Scheitern‘ verurteilt sei: „Une promesse mal tenue: le film surréaliste.“14 Noureddine Ghali vertritt die These, dass der surrealistische Film zumindest in Frankreich tendenziell nicht existiert. Das nicht realisierte Filmskript gehöre zur surrealistischen Programmatik, ebenso wie der Habitus surrealistischer Filmrezeption. Eine alles andere als cineastische Haltung des Kinobesuchers, der sich sein Programm aus kurzen Stipvisiten nach dem Zufallsprinzip generiert und deren positives Verhältnis zur Massenkultur sich freilich die intellektuelle Distanz vorbehält. Das Interesse am Film, die Faszination für die ‚Magie‘ des Kinos sieht Ghali primär als Quelle der Imagination und Inspiration für eine avantgardistische Bewegung, die sich in erster Linie literarisch und kaum kinematographisch manifestiert. Auf der Ebene der Theorie gesteht er den Surrealisten jedoch ein Potenzial zu, das die Frage nach der Realisierbarkeit der eigenen Filmskripte bei weitem übertrifft: das Potenzial für den Entwurf eines anderen Kinos. Les surréalistes ont donc eté des grands amateurs de films et des scénaristes plus que des réalisateurs. [...] il [le surréalisme I.L.] a cependant, sur le plan théorique, été relativement fécond et a su po15 ser les bases d’un cinéma autre.
Das scénario als nicht realisiertes Filmskript wäre in diesem Sinne auch zu lesen als literarischer Text, als eine hybride Form surrealistischer Poesie und Imagination zwischen Literatur und Film. Das scénario oder Skript als Text spiegelt, ebenso wie die Entwicklung anderer bastardgenres (Allain u. Odette Virmaux) wie z.B. des ciné-roman und des film raconté, eine allgemeine Tendenz zur Appropriation massenkultureller Formen in neuen literarischen Formen in den 20er Jahren, die parallel zu der vor allem von Louis Delluc vorangetriebenen Entwicklung neuer Publikationsformen originärer Filmdrehbücher in den sich etablierenden Film-Journalen verlief. Dabei waren es, darauf hat Richard Abel in seiner Erörterung des diskursiven Feldes der ‚surrealistischen Filmszenarios als Text‘ verwiesen, vor allem die Anfang der 20er Jahre in Le Film erschienen scènarios von Cendrars, Albert-Birot, Romain und insbesondere Dellucs eigene, 1923 in den Drames du Cinéma publizierten scénarios (u.a. auch von LA FÊTE ESPAGNOLE), die eine neue Tradition des scénario 14 Ebd. 15 Ghali, Noureddine: L’Avantgarde Cinématographique en France dans les Années Vingt. Idées, Conceptions, Théories, Paris 1995, S. 355.
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als Text und einer synthetischen Film-Form im Medium der Literatur begründeten, und die u.a. Robert Desnos und auch Artaud inspirierten und ihren eigenen scénarios zum Vorbild dienten.16 Abel sieht in diesen frühen Texten den Versuch, die flüchtige, schnelle Bewegung des filmischen Diskurses in verbale Sprache zu übertragen und somit einen imaginären Fluss der Bilder zu generieren, deren spezifische Repräsentation abhängig vom Leser variiere und deren Bedeutung offen bleibe. Einen Versuch zumal, das wiederzugewinnen und in einem neuen Kontext zu etablieren, was diese Autoren – wie die Surrealisten – am Kino am meisten bewunderten: die Transformation des Gewöhnlichen und Alltäglichen durch überraschende Wechsel und wunderbare Metamorphosen. Das Verhältnis von verbaler Sprache und filmischem Bild wird in diesen scénarios als Text zugunsten des sprachlichen Bildes umgekehrt, technische Notationen durch eine ‚geschnittene‘, elliptische Sprachform ersetzt, die die filmische découpage als wesentliches formales Element in den sprachlichen Text transformiert.17 Umgekehrt wird bei Artaud das scénario als Text-Folge primär sprachlich motivierter Bilder zum Ausgangspunkt für seine Auseinandersetzung mit dem Potenzial des inkohärenten, bewegten Flusses der (zunächst) stummen filmischen Bilder, dem er sich in der Sprach-Form seiner Texte anzunähern sucht. Dabei sind es insbesondere die Grenzen filmischer und sprachlicher Repräsentation, die ihn interessieren und es ist die ‚Lücke‘, oder, mehr noch, das ‚Auseinanderklaffen‘ zwischen sprachlichem und filmischen Bild, das ihn gleichermaßen herausfordert und fasziniert. Es sind vor allem Bilder des Geistes und der Psyche, eines état mental18, und der Physis, des menschlichen Körpers, in denen er das für all seine scénarios zentrale Thema der physical struggles seiner Akteure, ihres Konflikts zwischen Triebverlangen und Triebverzicht, sprachlich zu artikulieren und deren Transformation in den filmischen Raum im Vollzug der permanenten filmischen Bewegung – im Zwischen-Raum zwischen Literatur und Film – zu imaginieren sucht. Artauds theoretische Entwürfe zum Kino markieren den Schnittpunkt zwischen den imaginierten filmischen Bildern seiner scénarios und seiner Auseinandersetzung mit der Sprache, die sie motiviert.19 Gleichermaßen durch die Zäsur zwischen Sprachlichem und Filmischem getrennt, 16 Vgl. Abel, Richard: „Exploring the Discursive Field of the Surrealist Film Scenario Text“, in: Kuenzli 1996, S. 64ff. 17 Vgl. ebd., S. 64 u. 66f. 18 Vgl. Finter, Helga: Der subjektive Raum. Antonin Artaud und die Utopie des Theaters. Bd. 2, Tübingen 1990, S. 74. 19 Vgl. Barber 1998, S. 40, 46.
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sind Artauds scénarios und seine theoretischen Schriften zum Film untrennbar miteinander verbunden, wird doch der filmische Raum ihrer Realisierung in Artauds Theorie eines anderen Kinos prospektiert. Einer Theorie allerdings, die sich aus verstreuten theoretischen Fragmenten, Briefen und Materialien zu einzelnen scénarios zusammensetzt, und die sich in einem permanenten Flux befindet, worin sich, analog zu den divergierenden Entwürfen der scénario-Texte, zugleich eine Suchbewegung artikuliert. Artaud vertritt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts bezogen auf das Kino – und hier mag eine Differenz zu anderen Vertretern der surrealistischen Bewegung in Frankreich liegen – eine alles andere als distanzierte Haltung, was sowohl sein, an der Biographie wie an den Schriften zum Kino abzulesendes, persönliches Engagement als auch – und das ist in diesem Kontext nicht minder relevant – die für seine Kinokonzeption zentrale Situierung des Zuschauers betrifft, auf die ich an anderer Stelle noch genauer eingehen werde. Dies mag erklären, warum Artaud immer wieder auf der Mitarbeit an der Realisierung von LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN insistierte und versuchte, durch zahlreiche Briefe, Materialien und Vorworte zu diesem Film auf die Produktion Einfluss zu nehmen. Die Mitwirkung an der mise en scène des Films wurde ihm von der Regisseurin, Germaine Dulac, ebenso verweigert, wie die Verkörperung der zentralen Figur des clergyman, dessen Rolle Alex Allin übernahm – neben Génica Athanasiou und Georges Bataille, die Artaud für die Verkörperung der Metamorphosen des Weiblichen (Mutter, Frau, Herrscherin, Braut) und der männlichen Repräsentation von Macht (Offizier, Vater, Herrscher, Priester) empfohlen hatte.20 Der Stellenwert, den Artaud dem Potenzial seiner eigenen theatralen Verkörperung vor der Kamera für sein Filmprojekt zumaß, wurde m.E. bislang zu gering geachtet, ebenso wie die zentrale Bedeutung seiner theoretischen Entwürfe als konzeptueller Rahmen für einen möglichen Film. Unter dieser Voraussetzung war Germaine Dulacs Verfilmung von LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN von Anfang an zum ‚Scheitern‘, verurteilt, auch wenn – oder gerade weil – sie dem scénario Artauds bis ins Detail und mit größtmöglicher Werktreue folgte, indem sie Bild für Bild in eine auf der technischen Ebene des Bildes durchaus innovative Bildsprache übersetzte, dessen ‚Idee‘ sie aber gerade deshalb gewissermaßen zwangsläufig ignorierte. Eine ‚Idee‘ allerdings, deren konkrete Möglichkeit zur Realisierung bis heute vakant und selbst für ihren Autor Artaud zumindest vage bleibt. 20 Vgl. Artaud, Antonin: „A Germaine Dulac (19.5.1927)“ u. ders.: „A Germaine Dulac (17.6.1927)“, in: ders.: Œuvres complètes, S.131ff.
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Weniger die Nichtvollendung als Prinzip scheint seinem Filmprojekt zugrunde zu liegen als vielmehr der Versuch, im Film etwas Analoges zu erreichen zu dem, was Jacques Derrida bezogen auf Artauds nachfolgend entwickeltes Theater der Grausamkeit beschrieben hat: nämlich der Versuch der Darstellung des nicht darstellbaren Lebens, des Lebens jenseits der Grenze der Repräsentation, deren Beschreitung zugleich die „Möglichkeit“ und die „Unmöglichkeit des reinen Theaters“ bedeuten kann.21 Nicht-Darstellbarkeit also als Movens und paradoxes Verhältnis zugleich. Und es ist paradoxerweise das Kino, darauf hat Jean-Michel Royer hingewiesen, auf das Artaud seine Idee des Theaters erstmals angewendet hat: Rappelons d’abord, par parenthèse, que c’est fort paradoxalement au cinéma qu’Artaud appliqua peut-être le plus exactement son 22 idée au théâtre.
Es ist der Film, nicht das Theater, in dem Artaud das einzulösen sucht, was ihm im Theater (zunächst) nicht realisierbar scheint: die Herstellung einer Synthese zwischen rein bildlicher Darstellung und Poesie, die weder nur auf das Auge noch ausschließlich auf die direkte Erregung der Seele zielt, sondern diese vielmehr in einer Art ‚magischem Prozess‘ auf eine andere Ebene der Darstellung und Erregung eines état mental als eines état vital transzendiert: „Wir wollen es schaffen, bestimmte Bilder zu verlebendigen“, schreibt er 1926 in seinem Manifest für ein Gescheitertes Theater, […] augenscheinliche Bilder aber, handgreifliche, [....] [in denen I.L.] alles, was es an Dunklem im Geiste gibt, an Verschüttetem, Uneröffnetem, in einer Art materieller, realer Darstellung sichtbar wird. [...] Wir suchen nicht – wie das bisher geschehen ist, und wie es immer das Bestreben des Theaters gewesen war – Trugbilder von etwas zu erzeugen, das es nicht gibt, sondern im Gegenteil vor unseren Blicken Bilder erscheinen zu lassen, unzerstörbare, unleugbare Bilder, die direkt zum Geiste sprechen. Die Gegenstände, die Requisiten, die Dekorationen selbst, die auf der Bühne stehen werden, sollen in unmittelbarem Sinne verstanden werden, ohne Übertragung: sie sollen nicht für das gehalten werden, was sie vorstellen, sondern was sie in Wirklichkeit sind. Die eigentliche Inszenierung, die Bewegung der Darsteller, sollen nur als sichtbare Zeichen einer unsichtbaren oder geheimen Sprache betrachtet werden.
21 Vgl. Derrida, Jacques: „Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation“, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972, S.352, 377. 22 Royer, Jean-Michel 1958, S. 141.
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INGA LEMKE Nicht eine theatralische Gebärde, hinter der nicht die ganze Schicksalsschwere des Lebens und die mysteriösen Traumbegegnungen 23 stünden.
Das ästhetische Potenzial des Kinematographischen, Bilder solcherart zu generieren, ist freilich nicht in der zu seiner Zeit etablierten Kinoproduktion zu suchen, die Zielsetzung, dieses vielmehr erst zu erschließen, ist der Ausgangspunkt von Artauds theoretischen Reflexionen zum Film – „[...] la vertu cinématographique qui est à chercher“.24 Dies verbindet ihn auch mit den Vertetern der ersten Avantgarde des französischen Films, die in ihren filmtheoretischen Werken wie in ihren Filmen erstmals eine spezifische Ästhetik des Filmischen zu erschließen suchten. Zentrale Aspekte einer solchen Poetik des Films, für die Louis Delluc 1920 den Begriff des photogénie prägte, wie das reine Spiel des Lichts, die Plastizität und Momenthaftigkeit der Erscheinungen, die Flüchtigkeit und Kontinuität der Bewegung, der Aspekt der Dauer, der gedehnten Zeit, und der Leere, der Unbestimmtheit des Raumes, greift Artaud in seinen Reflexionen zum Kino als wesentliche Elemente auf, die seine Suche nach einer ‚Leerstelle‘ der Repräsentation im Film motivieren.25 Die Analogsetzung eines „Sur-Realismus“ des Films mit dem Film des Surrealismus, wie sie Oliver Fahle auf der Grundlage seiner Studie zur Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre vornimmt, ist allerdings in der Folge zu hinterfragen.26 Korrespondenzen zwischen den Film-Konzepten der ersten französischen Avantgarde und Artauds programmatischen Entwürfen sind auch an anderer Stelle nicht zu leugnen, beispielsweise im Vergleich des Films mit den Hieroglyphen – als der zentralen Kategorie theatraler Repräsentation in Artauds Erstem Manifest zum Theater der Grausamkeit (1932)27 – in Abel Gances filmtheoretischen Schriften, die auch in ihrer Tendenz zur Reetablierung kultischer Elemente im Kontext einer (scheinbaren) Autonomisierung und ‚Bekunstung‘ des Films (die Walter Benjamin in seinem Kunstwerkaufsatz kritisierte),28 Artauds Ansatz nahe 23 Artaud, Antonin: „Manifest für ein gescheitertes Theater (13. November 1926)“, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde. Stuttgart 1995, S. 362f. 24 Artaud, Antonin: „Réponse a une enquête (1924/1925, La Révolution Surréaliste)“, in: ders.: Œuvres complètes, S. 80. 25 Vgl. Barber 1998, S. 46. 26 Fahle, Oliver: Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre, Mainz 2000, S. 25 u. 64ff. 27 Vgl. Derrida 1972, S. 372f. 28 Gance, Abel: „Le temps de l’image est venu“, in: L’art cinématographique II, Paris 1927, S. 94-96. Zit. in: Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Dritte Fassung), in: ders.: Ge-
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stehen. Der mögliche Einfluss von Abel Gances, aber auch von Carl Theodor Dreyers praktischer Filmarbeit, an der Artaud als Schauspieler mitwirkte, sei hier nur hypothetisch angemerkt. Mit den Surrealisten teilt Artaud die grundlegende Faszination für das Kino, das alle bisherigen Werte, Regeln der Optik, der Perspektive und der Logik auf den Kopf und das Theater in den Schatten, in den ‚Andenkenschrank der Geschichte‘ („l’armoire des souvenirs“), stellt: J’aime le cinéma. J’aime n’importe quel genre de films. [...] Le cinéma implique un renversement total des valeurs, un bouleversement complet de l’optique, de la perspective, de la logique. Il est 29 plus excitant que le phosphore, plus captivant que l’amour.
Und es ist mehr als die „Magie“ des Films, der „Zauber“ der Filmapparatur (Louis Aragon)30, es ist die unmittelbar erregende, ‚galvanisierende‘ elektrische Spannung, die direkte, ja agressive Wirkung der bewegten Bilder auf den Zuschauer und sein Affektleben, die ihn am Kino interessiert: Au cinéma nous sommes tous [ ]2 – et cruel. [...] Le cinéma est un excitant remarquable. Il agit sur la matière grise du cerveau directement. [...] Le cinéma a surtout la vertu d’un poison inoffensif et di31 rect, une injection sous-cutanée de morphine.
Eine Wirkungsmacht des Kinos, die auf dem Zusammenwirken von Rhythmus und Geschwindigkeit der Projektion, dem vorübergehenden Entrücktsein aus dem Leben, dem illusorischen, ja fantasmagorischen Charakter des filmischen Erlebens und der Unmittelbarkeit und Transparenz der filmischen Bilder – bei gleichzeitiger Abwesenheit ihrer Gegenstände – beruht. Und auf der jene Erfahrung aufbaut, die die Surrealisten mit der des Traumes in Verbindung brachten, des Tag-Traumes wohlgemerkt, einer Fusion von Traum und Realität. Goudal hat dafür den Begriff der ‚bewussten Halluzination‘ geprägt.32 Und es ist gerade der Aspekt der Mediatisierung der theatralen Darstellung im Film, in der Differenz zum darstellenden Spiel im Theater,
29 30 31 32
sammelte Schriften. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Bd. I (2), Frankfurt a.M. 1991, S. 486. Artaud, Antonin: „Réponse a une enquête“ (1924/25, La Révolution Surréaliste), in: ders.: Œuvres complètes, S. 79. Aragon, Louis: „Dekor“, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919-1939. Leipzig 1986, S. 579. Artaud, Antonin: „Réponse a une enquête“ (1924/25, La Révolution Surréaliste), in: ders.: Œuvres complètes, S. 80f. Vgl. Talens 1994, S. 37.
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der die theatrale Verkörperung vor der Kamera zu einem wichtigen Aspekt der Überlegungen Artauds zur filmischen Imagination poetischer Traum-Bilder macht. Die Darsteller werden im Kino zu lebenden Zeichen, in denen sich die Szene, die Gedanken des Autors, die Folge der Ereignisse synthetisieren. Dabei erscheinen sie nicht als das, was sie darstellen, sondern als das, was sie sind. Indem sie vordergründig sich selbst spielen, sind sie zugleich der Film, der sich durch sie repräsentiert – „C’est pourquoi ils n’existent pas. Rien donc ne s’interpose plus entre l’œuvre et nous.“33 Durch die im Kino durchgesetzten Sujets und Formen – die dem Theater, nicht dem Kino angehören – sieht Artaud die Kraft des Kinematographischen jedoch zerstört, seine Effekte neutralisiert. Worum es Artaud in seinen Filmskripten und seinen theoretischen Entwürfen nun geht, ist das Bestreben, diese Diskrepanz und somit die Nivellierung des Kinematographischen durch das Theater zu überwinden. Das bedeutet konkret, Sujets zu finden, die dem Charakter des Kinos entsprechen. Das sind für Artaud vor allem Fantasmagorien, ‚poetische‘ Filme, „[...] des films poétiques, au sens dense, philosophique du mot, des films psychique“.34 Und es geht ihm darum, eine dem Kino und der Kinoerfahrung entsprechende Film-Form zu schaffen, in der der Effekt des Kinos nicht verloren geht. Einen konkreten ästhetischen und theoretischen Ansatz hierzu hat Artaud mit seinem Filmskript LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN und den begleitenden Schriften vorgelegt. Bei dem Konflikt Artaud/Dulac handelt es sich m.E. nicht nur um die Inkompatibilität zwischen einer surrealistischen Auffassung von Kino (Artaud) und einem avantgardistischen Film (Dulac), sondern um die Differenz zweier ästhetischer Modelle des Avantgarde-Kinos und der daraus entwickelten bzw. zu entwickelnden Film-Form. Denn es gibt durchaus Verbindungen zwischen beiden Positionen – anders wäre das über Yvonne Allendy vermittelte Projekt der Verfilmung wohl kaum zu erklären. Hinsichtlich seiner Ablehnung von ästhetischen Vorbildern des literarischen Theaters für den Film und seiner Suche nach dem ‚Substrat‘ des Kinos („le substratum du cinéma lui-même“)35 als einem primär visuellen Medium stimmt Artaud mit Germaine Dulac – wie zahlreichen anderen Filmavantgardisten – überein. Artaud und Dulac teilen das Interes-
33 Artaud, Antonin: „Réponse a une enquête“ (1924/25, La Révolution Surréaliste), in: ders.: Œuvres complètes, S. 81f. 34 Ebd., S. 79. 35 Artaud, Antonin: „Sorcellerie et Cinema (Juli/August 1927)“, in: ders.: Œuvres complètes, S. 82.
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se an der Entwicklung einer rein visuellen Sprache des Kinos und an dem Potenzial der bewegten Bilder, den Zuschauer direkter, unmittelbarer als es die verbale Sprache, die Literatur, das Theater vermag, auf physischer und psychischer Ebene anzusprechen, aber auch zu tieferen Schichten des Bewusstseins vorzudringen. Ihre Konzeptionen divergieren auf der Ebene der genaueren Bestimmung jener ‚Essenz‘ des Kinos und der daraus abzuleitenden Sprache einer visuellen Film-Form. Was ihre Positionen trennt, lässt sich vor allem an der zentralen Kategorie des Zuschauers zeigen und an ihrem Verhältnis zu den bei Fried formulierten Antagonismen von Absorption vs. Theatralität, von Visualität vs. Materialität, von Autonomie vs. Grenzüberschreitung, von Repräsentation vs. Präsenz. Die im Kontext des Surrealismus immer wieder hergestellte Analogie zwischen Traum und Film, deren Verständnis im Konflikt Artaud/Dulac u.a. zum Streitpunkt wird, rekurriert auf die Vergleichbarkeit von zweierlei Erfahrung eines Zustands und seiner Wirkung, von Traumerfahrung und dem Erleben einer Filmvorführung im Kinoraum. Sie rekurriert damit auf ein Element filmischer Ästhetik, das die Ebene der aisthesis, der sinnlichen Wahrnehmung, und den Zuschauer, als Subjekt der Wahrnehmung, in den Mittelpunkt rückt. Es ist unter anderem die divergierende Auffassung von der Situierung und Involvierung des Zuschauers, darauf hat Sandy Flitterman-Lewis bereits hingewiesen, die die filmischen Konzeptionen von Artaud und Dulac trennt. 36 Für Artaud ist das Kino das Medium, das zum Ausdruck bringen kann, was sich sonst nur im Traum artikuliert: die Freisetzung von Bildern des Inneren, des Unterbewusstseins, der Gedanken jenseits der Sprache der kontrollierten Vernunft. Si le Cinéma n’est pas fait pour traduiere des rêves ou tout ce qui dans la vie éveillée s’apparente au domaine des rêves, le cinéma 37 n’existe pas. Rien ne le différencie du theâtre.
In seinem scénario zu LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN projektiert er die Repräsentation eines Zustands, der dem der Erfahrung des Traumes, „la méchanique d’un rêve sans être vraiment un rêve lui-même“, gleichermaßen ähnelt und diese zur Erscheinung bringt. Eines traumartigen Denkens in Bildern, das sich im Prozess der filmischen Wahrnehmung entfaltet und dabei Erfahrungen evoziert, die an der Grenze des Darstellbaren und Vorstellbaren, und somit tendenziell jenseits des Sichtbaren liegen, 36 Vgl. Flitterman-Lewis 1996, S. 118. 37 Artaud, Antonin: „La Coquille et le Clergyman“ (Cahiers des Belgique, no 8, octobre 1928). in: ders.: Œuvres complètes, S. 90f.
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„tournées vers l’invisible“.38 Das filmische Kunstwerk wird in diesem Sinne erst im Kinosaal konstituiert. Indem es dem Zuschauer erscheint, wird eine Gegenwärtigkeit und eine Situation der Erfahrung etabliert, die diesen gleichermaßen psychisch und physisch involviert und aktiviert. Der Zuschauer wird zum aktiven Teilnehmer an der Produktion des Films, dessen ‚Idee‘ sich erst im Kopf des Betrachters manifestiert.39 Germaine Dulac hingegen intendiert in ihrem Film die Repräsentation eines Traumes („Rêve d’ Antonin Artaud“) und dessen Transformation in die visuelle Komposition einer Film-Form („Composition visuelle de Germaine Dulac“),40 der ihrer Konzeption der visuellen Idee als ‚Wesen des Films‘ zugrundeliegt. Die visuelle Idee definiert Dulac als eine ‚Kunst des Auges‘, der eine ‚Inspiration der Sinne‘, eine sinnliche Sensibilität zugrundeliegt, und die sich in der filmischen Bewegung, in der Kontinuität der Bilder entwickelt, sich somit für den Betrachter gleichfalls im Prozess der Wahrnehmung erschließt. Wie eine Symphonie soll die visuelle Komposition ganz aus der Empfindung eines Künstlers leben, ganz von seinen Emotionen, seinen Impressionen getragen werden und wie in der Musik den Zuschauer unmittelbar in seinem Denken und Fühlen ansprechen. Im Zusammenspiel von Licht und Bewegung soll die visuelle Idee einen Ausdruck finden und zu einer ‚Emanation‘, dem Erscheinen eines Inneren führen, der die Seele des Zuschauers berührt.41 Dabei rekurriert Dulac auf das Potenzial des Kinos, beim Zuschauer eine visuelle und physische Sensation zu evozieren, „l’effect physique qu’il provoque sur le spectateur“, einen Effekt, der auf einer ‚Physik‘ des Kinos und seiner spirituellen Dimension, „un élan spirituel“, beruht: „une physique des mouvements avec ses accélerations, ses ralentissements, ses rapprochements, ses éloignements, ses harmonies, ses ruptures, ses involutions et ses évolutions“.42 Anders als in den etablierten Formen des Kinos wird der Zuschauer nicht mehr primär über die filmische Narration und die Darstellung einer Aktion in das filmische Geschehen involviert, als vielmehr über die ‚Aktion‘ der Bilder einer rein kinematographischen ‚Vision‘.
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Ebd. Vgl. Talens 1994, S. 47. Artaud, Antonin: Œuvres complètes, S. 366. Vgl. Dulac, Germaine: „L’Essence du Cinema – L’Idée Visuelle (1925)“, in: dies.: Écrits sur le Cinéma (1919-1937). Prosper Hillairet (Hrsg), Paris 1994, S. 66. 42 Hillairet, Prosper: „Un Cinéma sans Entrave“, in: Germaine Dulac: Écrits sur le Cinéma (1919-1937) 1994, S. 14 und 17.
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Die evokative Kraft der kinematographischen ‚Aktion‘, wie sie Dulac vorschwebt, ist allerdings nicht zu vergleichen mit der Stimulation des Zuschauers, die Artaud in seinem Filmprojekt intendiert. Der Zuschauer bleibt passiver Rezipient von Effekten, die durch sensorische und emotionale Energien ausgelöst werden,43 und über die sich ihm die ‚Idee‘ des Films, gleichsam über die Kamera und das ‚Temperament‘ des Künstlers vermittelt, mitteilt. Germaine Dulacs Konzeption der visuellen Idee steht weniger dem Surrealismus nahe als jenen Kunstkonzeptionen der Moderne, die den Übergang zur Abstraktion markieren, und in denen die reine Vision zum zentralen Motiv und Thema autonomer Kunstbestrebungen wird: dem Impressionismus und der Kunstkonzeption Cézannes. Oliver Fahle hat auf die mögliche Bedeutung dieser ästhetischen Vorbilder in der Malerei für die filmästhetischen Untersuchungen der Verbindung von Augenschein und Vorstellungsbild in der ersten, ‚impressionistischen‘ Avantgarde in Frankreich aufmerksam gemacht.44 In ihrem Film LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN hat Germaine Dulac ihre ‚Vision‘ eines Traumes in einer assoziativen Folge ‚traum-artiger‘ Bilder repräsentiert. Dabei hat sie die sprachlich formulierten Bilder des scénarios beinahe ‚wortgetreu‘ in eine rein kinematographische Bildsprache übersetzt, wobei sie sich der damals technisch avanciertesten Mittel filmästhetischer Gestaltung, wie Zerrspiegeln, Montagen, Doppelbelichtungen, Überblendungen etc., bedient. Die Visualisierung von Zuständen des Subjektiven, der Halluzination und des Traums, ist in LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN, wie bereits in ihren früheren narrativen Filmen (z.B. LA SOURIANTE MADAME BEUDET), mit der Einführung einer subjektiven Sicht verbunden. Durch die Kameraführung positioniert Dulac zugleich einen imaginären Zuschauer innerhalb des Films, aus dessen Perspektive der Zuschauer im Kino der Repräsentation eines ‚Traumes‘ folgt. Sie nimmt damit eine Subjektivierung und Diegetisierung vor, die so in Artauds scénario nicht vorgesehen war. Dulac ignoriert die Struktur und Form filmischer Wahrnehmung, die Artaud in der Sprachform des scénarios entworfen hat, und die im Wesentlichen von zwei Elementen getragen wird: dem Objektiv der Kamera (l’objective) und der découpage. Es ist bezeichnend, dass Artaud den Text von LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN mit folgender Formulierung beginnt:
43 Vgl. Talens 1994, S. 47. 44 Fahle 2000, S. 25f.
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INGA LEMKE L’objectif découvre un homme habillé de noir et occupé à doser un liquide dans des verres de hauteurs et de grosseurs différentes. Il se sert pour ce transvasement d’une sorte de coquille d’huître et brise 45 les verres après s’en être servi. [...].
Jenaro Talens hat die Differenz zwischen der objektiven Kamera des Skripts und der subjektiven Kamera des Films an einigen markanten Stellen nachgewiesen und deren Konsequenzen für die diegetische Struktur des Films und die Kontextualisierung des Blicks deutlich gemacht. Die filmische Auflösung in LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN erzeuge nicht nur eine Subjektivierung des Blicks, sie führe auch zu einer Veränderung der raum-zeitlichen Struktur des Filmprojekts, zu einer Art „continuity effect“, der allerdings an anderer Stelle durch die Wahl extremer, nicht miteinander kombinierbarer Einstellungen wieder aufgelöst werde.46 – Letzteres ist m.E. weniger Ausdruck eines ‚manieristischen‘ Geschmacks der Regisseurin als vielmehr Dulacs Version, die Irrationalität der von Artaud entworfenen sprachlichen Bilder in das Medium der Kinematographie zu übertragen. – Über die Diegetisierung führt Dulac zugleich ein narratives Moment und eine zeitliche Entwicklung innerhalb der einzelnen Bilder des scénarios ein, das ihrem poetischen Charakter der Verdichtung und dem damit verbundenen Moment der Dauer und der räumlichen Ausdehnung entgegenwirkt. Artaud schwebte für LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN eine mise en scène vor, in der die Dekors auf das äußerste reduziert sind und in höchstem Maße real erscheinen, „pas stylisés du tout, mais à aucun degré“.47 Durch die Reduktion der Szene und den Verzicht auf jede Form der Stilisierung wollte er ein höchstmögliches Maß an Konzentration und Abstraktion bei gleichzeitiger Realität der Bildgegenstände erreichen. Die Umsetzung der poetischen Verdichtung in visuelle ‚Sensationen‘ wäre somit nur vorstellbar als eine Verdichtung im Sinne der Kompaktheit der Realität der wenigen Dinge und Körper, deren Präsenz, die durch das Objektiv der Kamera vermittelt ist und die im Film erst zum Bild und im filmischen Raum erst plastisch werden. Rosalind Krauss hat, u.a. am Beispiel von Brassaïs Sculptures Involontaires, die 1933 in der Zeitschrift Minotaure veröffentlicht wurden, eine Analyse der semiologischen Funktion der Fotografie im Surrealis45 Artaud, Antonin: „La Coquille et le Clergyman“ (Scénario du film) (Nouvelle Revue Française, no 170, 1 novembre 1927), in: ders.: Œuvres complètes, S. 25. 46 Vgl. Talens 1994, S. 44f. 47 Artaud, Antonin: „À Germaine Dulac“, (13 juillet 1927) in: ders.: Œuvres complètes, S. 138.
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mus vorgenommen, die m.E. auch für die Betrachtung der Bildlichkeit im surrealistischen Filmkonzept Antonin Artauds von Bedeutung ist. Sie verweist dabei auf die ‚surrealistische Heterogenität‘ der fotografischen Bilder, die Abdruck und Spur der Realität (indexikalische Funktion) seien und zugleich eine Realität, die durch die Rahmung, die Montage oder die Herstellung eines Bildraums ein Zeichen konstituiert (ikonische Funktion). In der darauf basierenden Erfahrung einer „reality as representation“, in der der Dualismus von Wahrnehmung und Repräsentation produktiv aufgelöst wird, sieht Krauss die Grundlage für die „key concepts“ des Surrealismus: „the notion of Marvelous or of Convulsive Beauty“.48 Jener ästhetischen Konzeptionen, die auch Artauds Reflexionen zum Film zugrunde gelegen haben müssen, wenn er schreibt: „Le cinéma est essentiellement révelateur de toute une vie occulte avec qui il nous met directement en relation.“49 Eine analoge Erfahrung der Realität als Repräsentation hatte Artaud in der Synthese von rein bildlicher Darstellung und Poesie zunächst im Theater, dann in seinen Filmkonzepten gesucht. Die mit der indexikalischen Funktion in der ‚surrealistischen Heterogenität‘ des fotografischen Bildes gleichsam aufgehobe Realität der Dinge bestimmt auch seine Auffassung von der Materialität des Kinos, die sich aus der ‚menschlichen Haut‘ der Dinge, der ‚Lederhaut‘ der Realität, mit der das Kino spielt, und dem ‚Geist‘ der Materie, dem Entstehen von Bildern aus Bildern, dem Zusammenfallen, dem ‚Spiel‘ der Erscheinungen mit der Materie, zusammenfügt.50 Und es ist die über die indexikalische Spur, den Abdruck des fotografischen Bildes vermittelte Realität des Filmbildes, die es zum Träger der filmischen Repräsentation werden lässt: „la griserie physique que communique directement au cerveaux“.51 Germaine Dulac verfehlt in LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN Artauds Entwurf einer poetischen Vision gerade dort, wo sie die poetische Verdichtung der Sprachform in eine kinematographische Poesie transparenter, übereinander und ineinander montierter filmischer Bilder umzusetzen sucht. Die Transparenz der filmischen Bilder und der durch das 48 Krauss, Rosalind: „Photographic Conditions of Surrealism“, in: dies.: The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths, Cambridge (Mass.)/London 1985, S. 101, 112 u. 114. 49 Artaud, Antonin: „Sorcellerie et Cinéma“ (Juli/August 1927), in: ders.: Œuvres complètes, S. 83. 50 Vgl. Artaud, Antonin: „Cinéma et Réalité“, (Vorwort zu: La Coquille et le Clergyman (Scénario du film)), in: ders.: Œuvres complètes, S. 24. 51 Artaud, Antonin: „Sorcellerie et Cinéma“ (Juli/August 1927), in: ders.: Œuvres complètes, S. 83.
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Objektiv der Kamera vermittelte direkte Bezug zum Realen (bei gleichzeitiger Distanz) werden in Dulacs Poetik der Doppelbelichtungen, Überblendungen und Deformationen gleichsam verdeckt und aufgehoben. Die technischen Tricks, die das Fantasmagorische zeigen sollen, zerstören die fantasmatische Wirkung der kinematischen Projektion, das Celluloid wird sichtbar. Dulac entwirft eine rein kinematographische Vision, die dem Zuschauer eine Impression von Realität vermittelt und diesen zugleich von ihr trennt. Und deren Realität sich aus der Realität des Mediums selbst, der Materialität des kinematographischen Bildes bestimmt und damit gleichsam an der Oberfläche bleibt. Der ‚Sur-Realismus‘ der von Germaine Dulac realisierten Film-Form ist nur zu verstehen im Sinne einer Ästhetik der sur-impressions sur la réalité. Dem setzt Artaud seine Auffassung von einem ‚wahren‘ Kino entgegen, von einer ‚wirklich innovativen‘ und im Wortsinn ‚tiefgreifenden‘ Konzeption: dont les innovations ne consisteront pas en de multiples trouvailles techniques, à d’extérieurs et superficiels jeux des formes, mais au profond renouvellement de la matière plastique des images, à une 52 véritable libération [...] de toutes les forces sombres de la pensée.
Artauds Vorstellung von einem Film aus ‚rein visuellen Situationen‘, wie er sie im Vorwort zu LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN formuliert, bezieht sich weniger auf die reine Visualität halbabstrakter Bilder, als vielmehr auf die Materialität und Plastizität ‚unreiner‘ Bilder und die darüber vermittelte ‚surrealistische Heterogenität‘. Visualität ist primär konnotiert mit Bewegungen, Konvulsionen, Entladungen, mit dem Flimmern („vibration“), der Vermischung („mélange“) und dem Schock, dessen physische Wirkung auf den Zuschauer Artaud in ähnlicher Weise konnotierte, wie Walter Benjamin es in seinem Kunstwerkaufsatz beschreibt.53 Und es ist nicht die Subjektivierung einer Vision, sondern die Substanz des Blicks, vergleichbar mit Bretons Vorstellung vom Auge im Urzustand, vom wilden, ursprünglichen Auge,54 die Artauds Konzeption von einer reinen Visualität des Films zugrundeliegt. Die ungehemmte Subjektivität der Substanz des Blicks wird durch die filmische Subjektivierung von LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN in eine Psychologie des Blicks, die Irrationalität seiner filmischen ‚Idee‘ in
52 Artaud, Antonin: „Distinction entre Avantgarde de Fond et de Forme“ (August 1927), in: ders.: Œuvres complètes, S. 86f. 53 Benjamin 1991, S. 502f. 54 Vgl. Krauss 1985, S. 93f.
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eine Logik der Bildfolge übersetzt und somit nivelliert. Die mit der Subjektivierung verbundene Kontinuität der filmischen Diegese widerspricht den unvermittelten, plötzlichen Zäsuren der découpage, die Artaud in seinem scénario setzt, und in denen sich die Freisetzung von Subjektivität artikuliert. Die Struktur des Films ist nicht von der diskursiven Struktur eines freien, assoziativen Denkens in Bildern geprägt, sondern vielmehr von der Analogie zur Musik und der damit verbundenen Tendenz zur kompositorischen Ordnung und Harmonisierung: „the melody is the focus, not the tone“.55 Die Differenz, die sich zwischen den filmischen Konzeptionen Antonin Artauds und Germaine Dulacs auf der Ebene der filmischen Gesamtstruktur zeigt, lässt sich am deutlichsten an der Kategorie des Rhythmus zeigen. Der ‚musikalische‘ Rhythmus ist das tragende formale Element der filmischen Komposition in Dulacs Vorstellung eines Cinéma pur als eines Cinéma intégral: „Le film intégral que nous rêvons tous de composer, c’est une symphonie visuelle faite d’images rhythmées [...]“.56 Der Rhythmus verbürgt die ästhetische Geschlossenheit der Komposition, die formale Integration aller Elemente des Films, ebenso, wie die Abstraktion der filmischen Diegese von einer Form der reinen Narration oder Psychologie, die allein an die Darsteller und die Figuration gebunden ist. Das disruptive Element der découpage in der diskursiven Struktur von Artauds scénario entspricht hingegen einer ganz anderen Definition von Rhythmus, einer Vorstellung von Rhythmus als eines „beat“, „pulse“ oder „throb“ (dt. Pulsschlag), wie sie Rosalind Krauss in ihrem Aufsatz „The Im/Pulse to See“ beschriebenen hat. Rhythmus in diesem Sinne ist nicht das formale Element der Synthetisierung einer abstrakten Form reiner Vision, sondern – im Gegenteil – Träger der Dekomposition und Auflösung der Kohärenz der Form, auf der die Autonomie der Vision in der Kunst der Moderne beruht: „[...] a rhythm [...] which, in itself, acts against the stability of visual space in a way that is destructive and devolutionary“.57 In seinem Vorwort zu dem im November 1927 eingereichten Scenario grenzt Artaud seine ‚Idee‘ eines ‚visuellen Kinos‘ von Dulacs Konzeption eines Cinéma pur ab. „Le cinéma pur est un erreur“ schreibt er
55 Ebd., S. 45f. 56 Dulac, Germaine: „L’Essence du Cinema – L’Idée Visuelle (1925)“, in: dies.: Écrits sur le Cinéma (1919-1937) 1994, S. 66. 57 Krauss, Rosalind: „The Im/Pulse to see“, in: Hal Foster (Hrsg.): Vision and Visuality, New York 1988, S. 51.
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einen Monat vorher.58 Das echte Kino ist für ihn weder die hybride visuelle Kunst, die sich an der Kunst des literarischen Theaters orientiert, noch das reine, abstrakte Kino des Cinéma Pur, dessen autonome Ästhetik die rein lineare visuelle Abstraktion, von Licht und Schatten, Rhythmus und Bewegung sucht. Es ist ein unreines Kino, ein Cinéma brut.59 Mit seiner Unterscheidung einer Avant-garde de fond et de forme60 findet Artaud eine Formel für die divergierenden Tendenzen zweier künstlerischer Avantgarden im Film, für die die Kino-Konzeptionen Antonin Artauds auf der einen und Germaine Dulacs auf der anderen Seite stehen. Die beide Positionen vereinende Suche nach einer primär visuellen Sprache des Films nimmt mit der Einführung des Tonfilms ein abruptes Ende. Artauds Bemühungen um ein anderes Kino enden da, wo sie ihren Ausgang nahmen: im Theater. Der grobsinnlichen Sichtbarmachung dessen, was ist, setzt das Theater durch die Poesie der Bilder dessen, was nicht ist, entgegen. Im übrigen ist vom Gesichtspunkt der Handlung aus ein Kinobild, das trotz aller Poesie innerhalb des Zelluloidstreifens bleibt, nicht mit dem Theaterbild zu vergleichen, das allen Erfordernissen des Lebens gehorcht. (Antonin Artaud, Theater der Grausamkeit, 1. 61 Manifest 1932)
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58 Artaud, Antonin: „Le Cinéma et L’Abstraktion“ (Oktober 1927), in: ders.: Œuvres complètes, S. 88. 59 Vgl. Artaud, Antonin: „Sorcellerie et Cinéma“ (Juli/August 1927), in: ders.: Œuvres complètes, S. 83. 60 Artaud, Antonin: „Distinction entre Avantgarde de Fond et de Forme“ (August 1927), in: ders.: Œuvres complètes, S. 86f. 61 Artaud, Antonin: „Das Theater der Grausamkeit“ (Erstes Manifest) (Nouvelle Revue Française 1932), in: ders.: Das Theater und sein Double. Frankfurt a.M. 1969, S. 106.
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Artaud, Antonin: „A Germaine Dulac“ (19.5.1927), in: ders.: Œuvres complètes, Paris 1970, S.131-132. Artaud, Antonin: „A Germaine Dulac“ (17.6.1927), in: ders.: Œuvres complètes, Paris 1970, S.132-135. Artaud, Antonin: „Cinéma et Réalité“ (Vorwort zu: La Coquille et le Clergyman (Scénario du film)), in: ders.: Œuvres complètes, Paris 1970, S. 22-25. Artaud, Antonin: „Das Theater der Grausamkeit“ (Erstes Manifest) (Nouvelle Revue Française 1932), in: ders.: Das Theater und sein Double, Frankfurt a.M. 1969, S. 95-107. Artaud, Antonin: „Deux Textes“, in: Positif. Nr. 399 (Mai 1994), Paris 1994, S. 58-61. Artaud, Antonin: „Distinction entre Avantgarde de Fond et de Forme“ (August 1927), in: ders.: Œuvres complètes, Paris 1970, S. 86-87. Artaud, Antonin: „La Coquille et le Clergyman“ (Cahiers des Belgique, no 8, octobre 1928), in: ders.: Œuvres complètes, Paris 1970, S. 9091. Artaud, Antonin: „La Coquille et le Clergyman“ (Scénario du film) (Nouvelle Revue Française no 170, 1er novembre 1927), in: ders.: Œuvres complètes, Paris 1970, S. 22-31. Artaud, Antonin: „Le Cinéma et L’Abstraktion“ (Oktober 1927), in: ders.: Œuvres complètes, Paris 1970, S. 88-89. Artaud, Antonin: „Manifest für ein gescheitertes Theater“ (13. November 1926), in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde. Stuttgart 1995, S. 362-364. Artaud, Antonin: Œuvres complètes. X Bde. Bd. III, Scenari – A Propos Du Cinéma – Lettres – Interviews, Paris 1970. Artaud, Antonin: „Projet de Constitution d’une firme destineé a produire des films de court métrage, d’un amortissement rapide et sûr“ (1930), in: ders.: Œuvres complètes, Paris 1970, S. 92-98. Artaud, Antonin: „Réponse a une enquête“ (1924/1925, La Révolution Surréaliste), in: ders.: Œuvres complètes, Paris 1970, S. 79-81. Artaud, Antonin: „Sorcellerie et Cinema“ (Juli/August 1927), in ders.: Oeuvres complètes, Paris 1970, S. 82-85.
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MARCEL PAGNOL AUF DEM WEG VOM THEATER ZUM FILM: MARIUS, FANNY, CÉSAR1 Abstract LA TRILOGIE MARSEILLAISE, composée des trois parties intitulées MARIUS (1931), FANNY (1932) et CÉSAR (1936), a été à plusieurs reprises, depuis 70 ans, l’objet d’interventions sur le début du film parlant et le symbole de son caractère théâtral. Mais ce débat sur le «théâtre en conserve» pagnolien était surtout un débat polémique et journalistique qui, dans tous les cas, n’a que marginalement mis en valeur les images (cf. Clair, Beylie etc.), sans doute par manque de scénarios publiés. Donc, ici il s’agira de contextualiser le débat par l’analyse des images de la trilogie. Quoiqu’ inspirée par la figure et les poèmes de l’écrivain et grand voyageur Louis Brauquier, membre du comité de lecture des Cahiers du Sud, la trilogie n’est pas qu’une galéjade théâtrale. Elle est aussi le lieu d’un débat idéologique. Pagnol étant fondateur du journal, encore sous le nom de Fortunio, s’est vivement opposé au côté «cosmo-polite» des Cahiers du Sud et surtout au fait que la rédaction soit restée à Marseille au lieu de venir avec lui à Paris. La trilogie démarre, avec MARIUS, sous le signe d’un exotisme net, tandis que l’espace cinématographique reste limité aux deux rives du Vieux-Port. Les séquences de la mer et des voiliers ressemblent presque à une suite des photographies insérées dans le film, souvent sans texte et sans acteurs. Par contre FANNY fait preuve d’une ouverture modeste de l’espace urbain et d’une disparition importante de l’exotisme : Fanny monte à Notre-Dame-de-la-Garde et Marius n’apparaît qu’à la fin du film et doit repartir de Marseille. CÉSAR, écrit comme scénario, s’ouvre vers Martigues et Toulon. Les changements de lieux et le montage deviennent plus nombreux. En même temps, l’exotisme est complètement absent; Marius s’est installé comme garagiste à Toulon. Les symboles de l’exotisme, les voiliers à trois mâts au VieuxPort sont remplacés par des petits ports de plaisance, la mer par l’hinterland marseillais. Finalement, Marius est intégré dans la morale catholique et bourgeoise de la trilogie. Le «cosmo-politisme» du personnage et des 1 Die Ziffern in Klammern verweisen auf die Jahre der Theater- bzw. der Filmpremiere. Bei Marius und Fanny bezieht sich die erste Zahl auf das Theater und die zweite auf den Film; bei César verhält es sich umgekehrt. Vgl. Castans, Raymond: Marcel Pagnol. Biographie, Paris 1987, S. 535546.
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Cahiers du Sud en même temps, disparaît au profit de l’ «humanisme méridional» (Bazin). Mais cette esthétique montre aussi, au niveau imagologique, l’éloignement de Pagnol de sa propre logique de studio et de son esthétique de théâtre. Entre FANNY et CÉSAR, il tourne ANGÈLE, essentiellement en plein air à La Treille. Mais, sans doute, son regard sur Marseille reste théâtral : les personnages quittent le bar de la Marine et sa terrasse comme une scène de théâtre, Pagnol ne montre guère les grands boulevards (hausmanniens) de Marseille qui relient le bar du Vieux-Port et la maison de Panisse au Prado, le jeu des acteurs reste souvent exagéré et statique… Die TRILOGIE MARSEILLAISE, bestehend aus den drei Teilen MARIUS (1931), FANNY (1932) und CÉSAR (1936), wird seit 70 Jahren immer wieder zum Thema von Beiträgen über den Beginn des Tonfilms und zum Symbol für seinen Theatercharakter. Aber die Diskussion über das pagnolsche „Théâtre en conserve“ war vor allem eine polemische und journalistische Diskussion, die in allen Fällen die Bedeutung der Bilder nur am Rande berücksichtigte (vgl. Clair, Beylie etc.), ohne Zweifel kann dies auf den Mangel an veröffentlichten Drehbüchern zurückgeführt werden. Hier wird es also darum gehen, die Diskussion durch eine Analyse der Bilder der Trilogie zu kontextualisieren. Obwohl die Trilogie durch die Person und die Gedichte des Schriftstellers und großen Reisenden Louis Brauquier, Mitglied des „Comité de lecture des Cahiers du Sud“, inspiriert wurde, ist sie nicht mehr als ein ‚Theatermärchen‘. Sie wird außerdem zu einem Ort ideologischer Diskussion. Pagnol, Gründer der Zeitung noch unter dem Namen Fortunio, stellte sich engagiert gegen die „kosmopolitische“ Seite der Cahiers du Sud und vor allem gegen die Tatsache, dass die Redaktion in Marseille bleiben sollte statt mit ihm nach Paris zu gehen. Die Trilogie beginnt mit MARIUS unter dem Vorzeichen eines eindeutigen Exotismus, während der kinematographische Raum auf die beiden Ufer des Vieux-Port beschränkt bleibt. Die Meer- und Segelbootsequenzen erinnern an eine Reihe in den Film eingefügter Fotographien, oft ohne Text und Schauspieler. FANNY zeugt dagegen von einer bescheidenen Eröffnung des urbanen Raums und eines bedeutenden Verschwinden des Exotismus: Fanny besucht Notre-Dame-de-la-Garde, Marius erscheint erst am Ende des Films und muss wieder von Marseille aufbrechen. CÉSAR, als Drehbuch geschrieben, öffnet sich in Richtung Martigues und Toulon. Die Wechsel der Orte und der Montage werden zahlreicher. Zur gleichen Zeit findet sich keinerlei Exotismus; Marius hat sich als Automechaniker in Toulon niedergelassen. Die Symbole des Exotismus, die dreimastigen Segelboote am Vieux-Port werden durch kleinere Häfen ersetzt, das Meer durch das Hinterland Marseilles. Letztendlich wird Marius in die katholisch-bürgerliche Moral der Trilogie integriert. Der „cosmo-politisme“ der Figur und der Cahiers du Sud verschwinden zur gleichen Zeit zugunsten eines „humanisme méridional“ (Bazin). Diese Ästhetik zeigt jedoch auch auf dem Niveau der Bilder die Entfernung Pagnols von seiner eigenen Logik des Studios und seiner Theaterästhetik. Zwischen FANNY und CÉSAR drehte er ANGÈLE, hauptsächlich im Freien in La Treille. Dennoch bleibt sein Blick auf Marseille vom Theater geprägt: die Figuren verlassen den bar de la Marine und sei-
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ne Terasse wie die Bühne eines Theaters, Pagnol zeigt kaum die großen Boulevards Marseilles, die die Bar am Vieux-Port mit dem Haus von Panisse am Prado verbinden, das Spiel der Schauspieler zeichnet sich oft durch eine übertriebene und statische Art aus...
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Der mediengeschichtliche Kontext: le théâtre filmé
1.1 Pagnols erste ‚theoretische‘ Annäherung an das Medium Film Marcel Pagnol ist einer der ersten französischen Theaterschriftsteller, die sich von der Erfindung des Tonfilms inspirieren lassen: 1930 fährt er auf Anraten des Schauspielers Pierre Blanchar2 nach London, um eine der ersten Tonfilmprojektionen in Europa zu sehen, BROADWAY MELODY3 (1929) von Harry Beaumont und Edmund Golding. Nach der Rückkehr verfasst Pagnol sein erstes Plädoyer für den Tonfilm, das 1930 in Le Journal erscheint: „Le film parlant offre à l’écrivain des ressources nouvelles“4. In seinem teils polemisch abgefassten Plädoyer für den Film hebt Pagnol v.a. die Möglichkeiten der Kamera (Fokalisierung) hervor und stellt ihr die ‚beschränkten‘ Mittel des Theaters gegenüber. Obwohl sich Pagnol vorläufig mit einem recht allgemein gehaltenen Manifest für das Medium Film begnügt, steht er im Zentrum der Kritik und des Für und Wider des „film cent pour-cent parlant“.5 Zu dieser Zeit laufen seine beiden Theaterstücke Topaze (1928, Théâtre des Variétés) und Marius 2 Blanchar, einer der großen künftigen Filmstars, spielt mit Harry Baur, dem César der Uraufführung von Fanny, und Orane Demazis in Pagnols erstem großen Theatererfolg Jazz (1926, Grand Théâtre de Monte-Carlo und Théâtre des Arts, Paris). Es ist sein drittes aufgeführtes Theaterstück nach Les Marchands De Gloire (1924/25, Théâtre de la Madeleine, Paris) und Un Direct Au Cœur (1926, Théâtre de l’Alhambra, Lille). Die beiden ersten Stücke hat er noch zusammen mit Paul Nivoix verfasst. Vgl. Castans 1987, S. 534f., 543f. 3 BROADWAY MELODY macht New York zum Thema und ist der erste Musicalfilm der Tonfilmära. Bukatman, Scott: The Syncopated City. New York in Musical Film, 15.1.04. 4 Pagnol, Marcel: Cinématurgie de Paris, Paris 1991, S. 10-14. 5 Dirscherl, Klaus: „Cent Pour-cent parlant oder wie der französische Tonfilm der 30er Jahre die Wirklichkeit suchte und das Theater fand“, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S. 377f; Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich, Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992, S. 155f.
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(1929, Théâtre de Paris) bereits seit zwei Jahren in diversen Theatern
Frankreichs; allein in Paris wurden sie mehr als 1000 Mal en suite aufgeführt.6 Bis zu seiner dritten Theaterverfilmung (FANNY 1932, nach MARIUS und TOPAZE) bleibt Pagnol im Pariser Theatermilieu aktiv. Fanny hat 1931 im Théâtre de Paris Premiere, fast parallel zur Filmpremiere von MARIUS. In seiner Cinématurgie de Paris beschreibt er den Vormittag nach der Veröffentlichung seines Artikels, die negativen Reaktionen selbst seiner Umgebung und seinen Entschluss, dem Theatermilieu den Rücken zu kehren: Dans la matinée, je décidai de faire une visite à la Société des auteurs, pour y recueillir l’opinion de mes confrères, dont bon nombre étaient mes amis. Je me croyais le messager d’une grande nouvelle. [...] Lorsque j’arrivai, souriant d’aise, à la rue Ballu, je fus surpris et navré. On m’appelait ingrat, traître et surtout ‚renégat‘. Un auteur célèbre refusa de me serrer la main; un autre prétendit que je devais, sur-le-champ, verser aux œuvres philanthrophiques du théâtre tous les droits d’auteur que j’avais reçus de Topaze et de Marius. [...] Je fus bien triste, mais non découragé. Puisque les gens de théâtre me repoussaient, j’irais trouver les gens de cinéma: je leur dirais la grandeur de l’art nouveau, et je savais qu’ils me fe7 raient une place parmi eux.
1.2 ‚Kritik der Kritik‘ Während sich Stummfilm- und Theater-‚veteranen‘ wie die Brüder Lumière und René Clair8 gegenüber der Neuerung Tonfilm skeptisch zeigen, ist Pagnol vom Erfolg der neuen Kunstform beeindruckt. Für ihn stellt sie die Fortsetzung des Theaters mit anderen Mitteln dar; er spricht – allerdings nicht als erster – vom „théâtre de demain“.9 Die heimische bzw. die in Frankreich ansässige amerikanische Filmindustrie begibt sich im Zuge des (Kassen-)Erfolgs der ausländischen Tonfilmproduktionen bald auf die Suche nach Drehbüchern, und Pagnol nutzt die Gunst der Stunde: Marius wird als erstes Stück Pagnols bei der Pariser Paramount 6 Vgl. Pagnol 1991, S. 10-14. 7 Ebd., S. 15. 8 René Clair beklagt den Verlust der künstlerischen Abstraktion im Tonfilm, wirft Pagnol vor, dem Theater wie dem Film zu schaden, und wird kurzfristig zu einem der prominentesten Opponenten Pagnols, bis er selbst zum Tonfilmregisseur wird. Vgl. Clair, René: Réflexion faite. Notes pour servir à l’histoire de l’art cinématographique de 1920 à 1950, Paris 1951, S. 192197 und Pagnol 1991, S. 74f. 9 Albersmeier 1992, S. 29, 32.
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verfilmt, in der Regie von Alexander Korda. Bereits 1932 feiern nach einigen Verzögerungen TOPAZE und – nach der nicht einmal einjährigen Aufführungsserie im Théâtre de Paris – FANNY in der Regie von Marc Allégret Filmpremiere.10 Am kommerziellen Erfolg von Pagnols erstem und drittem Film entzündet sich daraufhin zunehmend die Debatte um das „théâtre photographié“ bzw. „filmé“, das „théâtre en conserve“.11 Mit diesen Schlagwörtern wird (nicht nur) sein Tonfilm von der Film- und Theaterpresse bedacht, aber als ‚Theoretiker‘ des „théâtre filmé“ sind die Reaktionen auf Pagnols Filme besonders heftig; ihm wird u.a. empfohlen, zum Theater zurückzukehren. Pagnol gründet als Reaktion darauf mit zwei Marseiller Schriftstellerfreunden, Charles Brun und Gabriel d’Aubarède, sowie dem Zeichner Toé seine eigene Filmzeitschrift Les Cahiers du film. Die Zeitschrift, die allgemein keinen großen Absatz erfährt, wird der gesamten Presse, den Produzenten und Regisseuren zugestellt und verschärft nicht zuletzt wegen ihres polemischen Tons die öffentliche Auseinandersetzung um das Filmische der Pagnol’schen Filme.12 Pagnol selbst resümiert seine doctrine im Nachhinein in drei Punkten: Der Stummfilm wird völlig verschwinden, der Tonfilm muss sprechen und der Tonfilm ist nur ein Ausdrucksmittel, das aber allen Künsten und Wissenschaften dienen kann.13 Pagnol expliziert seine zentrale These, dass die dramatische Kunst, also der Text, unabhängig sei vom Medium, für das er produziert wird, in seiner Zeitschrift unter den Titeln „Cinématurgie de Paris“, „Le ‚Théâtre en conserve‘“ und nochmals „Cinématurgie de Paris“ zwischen 1933 und 1934 immer wieder. In seinem Buch Cinématographie de Paris fasst er 1966 einige Artikel und Thesen zusammen und ergänzt sie. Das Theater, die Pantomime, die Oper, das Oratorium, die Choreographie und der Film bilden ihm zufolge „arts mineurs“: „N’importe quelle œuvre dramatique peut être réalisée tour à tour par chacun de ces arts mineurs.“14 Seine These zur Zukunft des Stummfilms wird mit dem kommerziellen Erfolg des Tonfilms in Frankreich bald zum Gemeingut. Auch Pagnols Eintreten für starke AutorInnenrechte gegenüber den machtvollen Filmproduzenten findet allgemein Anerkennung.15 Die Debatte, die nicht nur das Theater- und Filmmilieu, sondern auch die normale Presse 10 11 12 13 14 15
Vgl. Castans 1987, S. 535, 543-545. Ebd., S. 47, 54, 59. Vgl. ebd., S. 60-78. Vgl. ebd., S. 54-60. Pagnol 1991, S. 94. Vgl. Clair 1951, S. 196.
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umfasst, entzündet sich so v.a. an Pagnols polemischem Ton und seiner These des Vorrangs des Textes vor dem Bild, also dem Ignorieren des sich abzeichnenden Medienwandels. Die prägnante und bekannte Kurzformel „Le film muet était l’art d’imprimer, de fixer et de diffuser la pantomime. Le film parlant est l’art d’imprimer, de fixer et de diffuser le théâtre“,16 die Pagnol in seiner Zeitschrift von sich gibt, wird u.a. von René Clair scharf kritisiert. Der Theatermensch Clair, der Pagnol als „cidevant auteur dramatique et actuellement producteur de pièces de théâtre filmées“17 betitelt, stellt dieser Polemik eine Gegenpolemik gegenüber. Er beharrt erst auf einer Mediendifferenz zwischen Theater und Film, verknüpft seine Kritik dann mit dem Vorwurf der Unkenntnis des Stummfilmschaffens abseits von Chaplin und rät Pagnol, ab und zu ins Kino zu gehen.18 Zu einer doch differenzierteren Kritik Pagnols kommt es durch die beiden Theaterkritiker Pierre Brisson und Edmond Sée. Brisson erkennt die positive Funktion des Massenmediums Tonfilm an, das letztlich der Verbreitung der dramatischen Kunst diene, hält aber rückblickend Pagnols zentrale These vom Film als Medium der Fixierung und Vulgarisierung des Theaters für unhaltbar. Sée unterstreicht Pagnols Thesen vom Ende des Stummfilms und vom oft sorglosen Umgang von Filmregisseuren mit Theatertexten, besteht allerdings auf der überlegenen Position des Theaters in der Medienhierarchie.19
1.3 Differenziertere Stellungnahmen Die Debatte um das théâtre filmé ist bis heute zentraler Bestandteil unseres Pagnol-Bildes und prägt die Beschäftigung aller Biographen und WissenschaftlerInnen mit seinen Filmen und Texten nachhaltig. Doch die Begriffe des théâtre filmé und des théâtre en conserve, mit denen Pagnol betitelt wurde und die er selbst wieder in seinen Schriften für seine Doktrinen verwendete, sind und waren nicht nur aufgrund der Mediendifferenz zur Charakterisierung seines Œuvres, inklusive der Erstlinge MA20 RIUS und FANNY, untauglich. Denn sowohl die allgemeine Kritik als auch Pagnols eigene zentrale These ist Teil einer polemischen Debatte, 16 Ebd., S. 194 und Clair, René: Cinéma d’hier, cinéma d’aujourd’hui, Paris 1970, S. 261. 17 Clair 1951, S. 193f. 18 Vgl. ebd., S. 194-197. 19 Vgl. Albersmeier 1992, S. 44-46, 253 und Jacobi, Hansres: „Vorwort“, in: Marcel Pagnol: Dramen. Marius, Fanny, César, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 14-18. 20 Vgl. Dirscherl 1988, S. 377-382 und Pagnol 1991, S. 55-78.
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die oft mehr auf den Strategen und Filmunternehmer Pagnol als auf seine eigene filmische Ästhetik und den kulturellen Kontext seiner Filme rekurriert(e).21 André Bazin, Verfechter des cinéma impur, ist trotz seiner etwas starren Verteidigungshaltung gegenüber Pagnol wohl als erstem zu verdanken, Pagnol ohne Polemik kulturell verortet zu haben. Für ihn ist auch der fürs Theater verfasste Marius ein kinematographisches Stück, das sich nur notfalls fürs Theater inszenieren ließe. Dies führt er ganz wesentlich auf die provenzalisch gefärbte Sprache zurück, die er als konkret, anti-theatralisch, realistisch und so letztlich als kinematographisch charakterisiert:22 „la parole cinématographique est au contraire un fait concret, elle existe, sinon d’abord, au moins par et pour elle-même; c’est l’action qui la prolonge et qui, presque, la dégrade.“23 Auch wenn Bazins Verortung Pagnols zwischen Chaplin und Realismus etwas irreführend ist, so weisen die ersten eigenen Regiearbeiten Pagnols im Kontext des zeitgenössischen Films sicherlich ein realistisches Element auf. Denn das Dogma der „l’art d’imprimer, de fixer et de diffuser le théâtre“ gibt Pagnol, wie auch Clair feststellt, als einer der ersten weitgehend auf.24 Seine beiden ersten Filmregiearbeiten JOFROI (1933) und ANGÈLE (1934), die auf Giono-Texte zurückgreifen, dreht er weitgehend im Freien. Er macht La Treille, eine ländliche Siedlung im 11. Arrondissement am östlichen Stadtrand von Marseille, mit diesen Filmen zu seinem bevorzugten Drehort.25 Dieser Drang nach außen (aus den Studios und der Stadt) ist auch in seinem Film CÉSAR (1936) präsent. Im Gegensatz zu den ersten beiden, nicht von ihm inszenierten Folgen der Trilogie, siedelt Pagnol hier einige Sequenzen in den Calanques südlich (Toulon und Umgebung) und nördlich von Marseille (Palavis bei Martigues) an. 21 Dies gilt weitgehend auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Pagnol. Sie war lange Zeit weitgehend von Leuten aus seiner Umgebung (u.a. Castans) sowie aus seiner Region geprägt und nimmt daher eine eher verteidigende Haltung ein. Interessant ist auch festzustellen, dass sich die universitäre Beschäftigung v.a. auf die ‚literarischeren‘ und weniger boulevardhaften Filme konzentriert, z.B. die Filme, die auf Giono-Texte zurückgreifen. 22 Vgl. Bazin 1990, S. 179-181. 23 Bazin, André: „Le cas Pagnol“, in: ders.: (Hrsg.): Qu’est-ce que le cinéma, Paris 1990, S. 181. 24 Clair 1951, S. 198. 25 Bazin 1990, S. 179-185. Mit diesem Ort verbindet Pagnol, geboren im benachbarten Aubagne, Erinnerungen an seine Kindheit. Er stilisiert La Treille auch in Interviews etc. zu seinem idealen Zuhause, lässt sich dort aber zeitlebens nur zum Filmen nieder. Hier befindet sich auch sein Grab. Vgl. Roumel, Pierre: „La Treille de Pagnol“, in: Marseille. Revue culturelle, Nr. 180 (1997), S. 7-12.
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‚Marseiller G’schichten‘
2.1 Pagnols Marseiller Milieu Vor dem Hintergrund der Erfolgsgeschichte der TRILOGIE MARSEIL26 LAISE und der Durchsetzung des Tonfilms in den 30er Jahren erscheint uns die Debatte um das théâtre filmé aus heutiger Perspektive als fast absurd. Die Marseiller Trilogie steht heute vielmehr für den Erfolg des Tonfilms und für eine kurze Phase einer ansatzweise eigenständigen regionalen Filmindustrie in Südfrankreich. Darüber hinaus ist sie von kulturgeschichtlichem Interesse. Sie ist Teil der Tradition einer Folklorisierung des Midi, einer exotisierenden Pariser Außensicht auf den Süden, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits der Marseiller Schriftsteller Joseph Méry praktiziert hat. Ähnlich wie Pagnol führte Mérys Karriere nach Paris, wo er in der Literatenszene als Prototyp des Marseillers galt und seine Heimatstadt in nostalgischen Porträts festhielt.27 Pagnols Ästhetik des idyllischen Minimalismus steht in dieser Tradition und scheint nicht zuletzt in der mehrjährigen Absenz aus der Heimatstadt begründet zu liegen. 1895 in Aubagne, einer bürgerlichen Kleinstadt am östlichen Rande Marseilles geboren und im Marseiller Stadtteil La Plaine aufgewachsen, wird er 1922/1923 als Lehrer an das Lycée Condorcet in Paris berufen. Auf Anregung des Schauspielers Pierre Blanchar, der der Protagonist von Marius hätte werden sollen, schreibt Pagnol hier sein Lokalstück über das sommerliche Milieu des Vieux-Port.28 Sein Blick von außen lässt ihn die Stadt als eine kulturell geschlossene Entität konstruieren, deren symbolischer Ort der bar de la Marine an der RiveNeuve29 des Alten Hafens ist. Pagnol identifiziert die Stadt mit einer spezifischen Kultur(-insel), die durch drei Spezifika gekennzeichnet ist: das Marseiller Provenzalisch, einen spezifischen Humor und die lateinisch-
26 Unter diesem Titel firmieren heute die drei Filme und Stücke MARIUS, FANNY und CÉSAR. Pagnol kündigt bereits CÉSAR im Vorspann als dritten Teil der TRILOGIE MARSEILLAISE an. 27 Vgl. Bertrand, Régis: „Méry-dional. Joseph Méry, le Parisien-Marseillais“, in: Marseille. Revue culturelle, Nr. 180 (1997), S. 17f. 28 Vgl. Audouard, Yvan: „Marcel Pagnol, la parole et la pudeur“, in: La Pensée de midi, Nr. 1 (2000), S. 62-67; Beylie 1995, S. 63-70; Guiraud 1993, S. 61 und Lagnan, Pierre (Hrsg.): Les années Pagnol, Paris 1989, S. 37-39. 29 Über den Standort des bar de la Marine gibt es in der Literatur widersprüchliche Angaben. Auf den Konstruktcharakter des Pagnol’schen Marseille und den ‚wahren‘ Standort von Césars Café wird im 4. Kapitel noch näher eingegangen.
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mediterrane Kultur. Beim Schreiben hat Pagnol bereits „la voix des acteurs marseillais de l’Alcazar“ – eines nicht mehr existierenden alten Marseiller Boulevardtheaters – im Ohr, das ihm zufolge das Genre einer „tradition millénaire, celle des atellanes latines“ pflegte. Später überlegt er, seinen Marius in diesem populären Theater aufführen zu lassen, da ihm – aufgrund des Humors des Stückes – eine Aufführung in Paris unvorstellbar scheint. „A l‘Alcazar, c’était le provençal, qui comme le latin peut souvent ‚braver l’honnêteté‘“.30 Sprachlich, d.h. provenzalisch, schlägt sich diese regionale Verortung der Trilogie nur bedingt in einer fiktiven Oralität nieder. Denn seiner traditionalistischen Selbstverortung stehen scheinbar mangelnde Sprachkenntnisse und die Denklogik des Geschäftsmannes entgegen: Sein prioritäres Ziel ist es, dass sein populäres Theater für ein möglichst großes Publikum verständlich ist, und später, dass die Filmadaptationen einen möglichst großen Wiedererkennungseffekt erzielen. So enthalten die für die Handlung entscheidenden Szenen nur wenige Provenzalismen, die Adaptation erfolgt diesbezüglich auf der Textebene ohne stärkere Eingriffe.31 Als erster Filmemacher der Tonfilmära, der sich kurze Zeit nach der Produktion von MARIUS als Filmproduzent in Marseille ‚niederlassen‘ und das regionale Filmschaffen dominieren wird, trägt Pagnol so wesentlich zur Herausbildung des Topos eines idyllischen und folkloristischen Marseilles in der Zwischenkriegszeit bei. Im Theatertext von Marius und Fanny wird Marseille über nur wenige und einschlägige Ortsreferenzen eines engen Perimeters um den Vieux-Port herum konnotiert. Pagnol konstruiert ein symbolisches Marseille, das v.a. vom Stadtwahrzeichen Notre-Dame-de-la-Garde und dem Pont Transbordeur, der die beiden Ufer des Alten Hafens verbindet, bestimmt wird. Des Weiteren wird das dem Alten Hafen vorgelagerte touristische Ausflugsziel Château d’If (Fanny II, 3)32 erwähnt, das die Geschichte des Grafen von Monte Christo erinnert; die Canebière (Marius I, 3), die die Achse des Alten Hafens in Richtung Osten verlängert und in den 30er Jahren der Haupt- und Promenierboulevard Marseilles ist, sowie die rue und die statue Victor-Gélu (Marius I, 9; III, 1) in der Nähe des Rathauses, die dem bekanntesten provenzalisch schreibenden
30 Pagnol 1991, S. 459-490. 31 Vgl. Rostaing, Charles: „Le français de Marseille dans la trilogie de Marcel Pagnol“, in: Le Français moderne Vol. X, Nr. 1 (1942), S. 29-44, 117-131; Pagnol 1991, S. 466-483 und Beylie 1995, S. 142-149, 186-190. 32 Da es von MARIUS und FANNY kein (zugängliches) Drehbuch gibt, wird auch bei nach Gehör zitierten Passagen u.ä. aus den Filmen durchgängig in Klammern auf die Theatertexte verwiesen.
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Marseiller Volksdichter33 des 19. Jahrhunderts gewidmet sind. Die place de la Lenche (Marius IV, 6), über die Marius am Ende des ersten Teils durch das Fenster seines Zimmers Richtung Hafen auf ein großes Segelschiff, die Malaisie, entschwindet, markiert schon die äußerste Extremität der Pagnol’schen Topographie. Dieser Perimeter wird zumindest im Verlauf der ersten beiden Teile der Trilogie kaum überschritten. Gemein ist all diesen Ortsreferenzen, dass sie im Sinne des Pagnol’schen urbanen Imaginären ein pittoreskes und populärkulturelles Marseille bezeichnen. Charakteristisch ist dabei auch die Abgrenzung gegenüber dem sogenannten Vieux-Marseille, dem ArbeiterInnen- und Immigrationsviertel St. Jean/Panier, das sich vom nördlichen Ufer des Alten Hafens Richtung Industriehafen erstreckt. Die place de la Lenche, die in diesem Viertel liegt, wird bei Pagnol nicht gezeigt; der Hafen- und Industriestadtcharakter Marseilles gehört nicht mehr zu Pagnols urbanem Imaginären.34 Mit dem Verlassen der Pagnol’schen Topographie um den Alten Hafen herum, die patriarchale und katholische Wertvorstellungen impliziert, verliert Marius auch (vorübergehend) seine Familie und seine Integrität.
2.2 Marseille als Kassen- und Filmschlager Bereits die Uraufführung von Pagnols Marius im Théâtre de Paris (1929) löst in Paris eine regelrechte Marseillemode aus. Die Verfilmung von Marius transportiert dann im Massenmedium Tonfilm erstmalig kollektive Selbst- und Fremdbilder Marseilles, wie sie in den (Pariser) Popularfilmproduktionen der 30er Jahre zum Mainstream werden. Die Ironie des Schicksals will es, dass ausgerechnet ein Marseiller für die karikaturale Perspektive eines ganzen Filmgenres, des film méridional,35 verantwortlich zeichnet. Auf der Basis von Pagnols Erfolg springen andere Filmemacher wie der Marseiller Produzent Félix Méric auf die neue Welle auf. Der ‚fremde‘, folklorisierende Blick von außen hat also entscheidende Auswirkungen auf das kollektive kinematographische Imaginäre Marseilles. Dutzende von Komödien, Revuen und Operetten folgen 33 http://cathare13.chez.tiscali.fr/culture/gelu/bio.htm, 30.10.03. 34 Dieses Marseille bildet bald einen konträren (kinematographischen) Topos heraus, nämlich den der mauvaise réputation im Kontext des Kriminalfilms. 35 Der film méridional setzt sich bereits 1932 als Genre durch und dominiert bis zur Okkupation die kinematographische Repräsentation der Stadt –inklusive einer Welle von Remakes zu Beginn der 50er Jahre. In den 30er Jahren nimmt er immerhin 10% der kinematographischen Produktion Frankreichs ein.
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– zunehmend in Form von Verfilmungen – der Mode eines vermeintlich positiven, minimalistischen und provenzalischen Stadtbildes von Marseille. Begleitet wird diese Welle von Marseillefilmen von Komplementärprodukten: Es erscheinen Endlosvarianten von Marseiller Geschichten in Buchform, ebenso aber auch als Theaterproduktionen. Beispiele sind die satirische Zeitschrift Marius und die (Film-)Operetten des Trios Henri Alibert/René Sarvil/Vincent Scotto. SchauspielerInnen aus dem Midi wie Raimu und Alibert nehmen auf Platte zahlreiche Sketche und Lieder auf, die u.a. MARIUS, CÉSAR und FANNY zum Thema haben.36 Allein ein Blick auf die Adaptationen der Trilogie in den 30er Jahren spricht Bände: Neben der deutschen und schwedischen Paramount-Version von MARIUS aus dem Jahr 1931 folgen 1933 eine italienische (Regie Mario Almirante) und 1934 eine deutsche FANNY unter dem Titel DER SCHWARZE WALFISCH (Regie Fritz Wendhausen). Emil Jannings spielt hier den César alias Peter Petersen; die Musik von Vincent Scotto wird durch Walter Kollos Filmmusik ersetzt. Ein amerikanisches Digest der Trilogie unter dem Titel PORT OF SEVEN SEAS mit Wallace Beery als César hat 1938 Premiere.37
2.3 Avantgarde vs. Populärkultur: Von den Cahiers du Sud zu Marius Dieser populärkulturellen und regionalistischen Verortung steht das historische Marseille, das Pagnol als Inspiration für die Trilogie dient, fast diametral entgegen. Während Pagnol die Trilogie in Paris schreibt, greift ihr erster Teil auf seine Marseiller Schulzeit zurück, in der er kurz vor dem Ersten Weltkrieg (1913/14) mit Schulkollegen des Grand Lycée die Literaturzeitschrift Fortunio gründete. Nach seinem Fortgang nach Paris gibt es einige Querelen um die Ausrichtung der Zeitung, die er gerne nach Paris geholt hätte. Letztlich scheitert Pagnol mit diesem Ansinnen und zieht sich 1925 auch formal aus der Redaktion zurück. Aus der lokalen Literaturzeitschrift Fortunio macht der zum Leiter der Zeitschrift avancierte Widersacher Jean Ballard innerhalb kurzer Zeit die renommierten Cahiers du Sud. Während sich Pagnol zum Boulevardautor entwickelt, öffnen sich die Cahiers unter dem Einfluss von André Gaillard ab 1926 Richtung Avantgarde, zahlreiche neue Mitarbeiter beginnen für 36 Vgl. Peyrusse, Claudette: Le cinéma méridional. Le Midi dans le cinéma français (1929-1944), Toulouse 1986, S. 15-29. 37 Vgl. Beylie 1995, S. 142-149, 186-190 sowie http://dieterleitner.viat-online.de/f_31_gol.htm; http://www.filmevona-z.de/filmsuche.cfm, 30.10.03.
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die Cahiers zu schreiben und zu zeichnen. Unter ihnen sind Henri Michaux, Antonin Artaud, Paul Eluard und Max Ernst. 1929 wird die erste große Sondernummer zum Thema herausgegeben; parallel dazu entsteht in den Editions des Cahiers du Sud eine surrealistische Literaturreihe. Vor diesem Hintergrund kann Marius auch als eine ironische Abwehr Pagnols gegenüber seinen ihm zu intellektuellen und kosmopolitischen Ex-Kollegen gelesen werden: Pagnol siedelt nämlich die Trilogie nicht nur an der Rive-Neuve38 an, wo sich die Redaktion der Zeitschrift bereits 1923 niederlässt, und wo heute noch ein bar de la Marine existiert. In der Redaktion der Zeitschrift findet sich bereits seit 1919 der Dichter Louis Brauquier, den Pagnol in einem Interview mit den Nouvelles Littéraires 1959 als Vorbild für seinen Marius beschreibt. Bei einem Blick auf Photographien von Pierre Fresnay und Brauquier lässt sich eine gewisse Ähnlichkeit nicht leugnen. Brauquier gehörte zudem der von Ballard eingesetzten Redaktion an, dem eine gewisse Rolle im Machtspiel zwischen Pagnol und Ballard nachgesagt wurde. Brauquier steht so nicht nur in enger Verbindung mit der ‚neuen‘ Zeitschriftenmannschaft, sondern ist auch unter den Marseiller Intellektuellen ein Proponent des Exotismus. Neben Gaillard entstehen über ihn die Kontakte der Zeitschrift zu den Reedereien in Marseille und Nordafrika, die Teil des Finanzierungs- und Vertriebsnetzwerkes werden. Als Angestellter diverser Reedereien reist er ab 1924 durch die Weltmeere und verfasst exotistische Gedichte über das kosmopolitische Hafenmilieu. Seine erstmals 1922 erschienene Gedichtsammlung Et l’au-de-là de Suez benutzt Pagnol nach eigenen Aussagen als Inspirationsquelle für seinen Marius: Hier treten bereits in diversen Gedichten einige Schlüsselbegriffe aus Marius auf, wie z.B. die Iles Sous-le-Vent und der bar de la Marine sowie eine Reihe von exotistischen und regionalistischen Assoziationen und Figurenskizzen. Brauquier selbst bestätigt in einem Brief aus Nouméa die Anleihen des Schriftstellers. Er spricht ein Treffen mit Pagnol während eines kurzen Aufenthalts in Marseille an, grenzt sich aber gleichzeitig ideologisch deutlich von Pagnol ab,39 der ihn ja als das reale Leben und die Liebe flüchtenden Träumer karikiert, der letztlich desillusioniert nach Marseille zurückkehrt. D’ailleurs, nous ne sommes pas du même bord. Sa Marseille n’est pas la mienne (si j’en ai une) et son Midi n’est pas le mien. Il est à 38 Vgl. Anm. 29, die sich auf die Erstnennung des Standortes des bar de la Marine bezieht. 39 Brief von Brauquier vom 20.4.1924 an Jules Roy, zitiert nach Roger Duchêne; http://brauquier.free.fr/C000/409.htm, 30.10.03.
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sa place avec Vincent Scotto, Alibert, Sardou et Tino Rossi pour l’exotisme [sic!] – au centre de ce poncif marseillais ridicule et qui fait rire le reste de la France et dont j’ai horreur. Tout cela ne m’in40 téresse pas.
3.
Zur Produktionsgeschichte der Trilogie
Im Jahr 1931 bietet der Leiter der neuen Pariser Paramount-Studios in Saint-Maurice, Robert T. Kane, Pagnol an, die Rechte an Marius zu kaufen. Er schlägt vor, aus den USA den erfolgreichen Stummfilmregisseur ungarischer Herkunft, Alexander Korda, nach Paris kommen zu lassen und ihm die Regie zu übergeben. Kanes Plan, Pagnol über eine möglichst große Geldsumme zur unbedingten Zustimmung seiner Besetzungsvorschläge zu bringen, scheitert allerdings. Pagnol lehnt die ParamountStars ab und besteht auf seinen Midi-ProtagonistInnen, die Marius zur Theaterpremiere gebracht, aber keinerlei Film-, geschweige denn Tonfilmerfahrung hatten. Pierre Fresnay (Marius)41, Raimu (César), Orane Demazis (Fanny), Fernand Charpin (Panisse), Dullac (Escartefigue), Alida Rouffe (Honorine). Zusätzlich fordert Pagnol die Regie für sich, eine Beteiligung an den Ticketeinnahmen und die Kontrolle über den Film. Diese Bedingungen kann Kane fürs erste nicht erfüllen; er ist davon überzeugt, dass eine derartige Produktion kein Erfolg werden kann. Erst über einen Umweg kommt es zu einem Kompromiss: Die Paramount befindet sich zunehmend in der Krise, da das französische Publikum die amerikanischen Programmpläne nur mit gezähmtem Enthusiasmus quittiert. Kane erkennt, dass die Pariser Filiale ein literarischeres Programm erfordert und beauftragt Pagnol, ein comité littéraire mit 10 Mitgliedern – inklusive Pagnol selbst – zusammenzustellen. Dem Gremium, einer Erfindung des Werbechefs von Paramount, ist keine lange Existenz beschieden; die Ideen von Pagnol, Guitry und Co. stoßen bei Kane auf Ablehnung. Da die Krisenstimmung mit dem Scheitern des Projekts in der Chefetage steigt, wird die Produktion des Theatererfolges 40 Beylie 1995, S. 31; Guiraud, Jean-Michel: „Les grands moments des Cahiers du Sud, Jalons pour un itinéraire“, in: Ville de Marseille/Bibliothèques Municipales/Musée de Marseille (Hrsg.): Jean Ballard et les Cahiers du Sud, Marseille 1993, S. 62-64; Maumet, Robert: „Louis Brauquier, et le personnage de Marius“, in: Marseille. Revue culturelle, Nr. 180 (1997), S. 2527; http://brauquier.free.fr/C000/500.htm, 30.10.03. 41 Fresnay stellt in doppelter Hinsicht eine Ausnahme dar: Er ist der einzige, der Stummfilmerfahrungen hat und zudem als Elsässer von ‚außen‘ kommt. Er muss v.a. gegenüber Raimu erst beweisen, dass er einen passablen Marseiller abgibt.
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Marius als Ausweg gesehen. Pagnols alte Forderungen werden gebilligt; er muss dafür aber Kane für eine deutsche und schwedische MARIUSFassung, die parallel produziert werden, freie Hand lassen.42 Die Verfilmung von Marius wird ein kommerziell einschlagender Erfolg. Im November und Dezember 1931 werden pro Woche ca. eine Million Kinokarten verkauft. Um die Erlaubnis zu bekommen, den Film für eine Woche zu zeigen, müssen sich die unabhängigen Kinos dazu verpflichten, die Rechte für 19 weitere Filme der Paramount zu kaufen.43 In den Jahren 1931/1932 werden v.a. in Frankreich, aber auch in Belgien, der Schweiz und Nordafrika ca. 18 Millionen Francs eingespielt, was laut Pagnol dem damaligen Produktionskapital für 7 oder 8 Filme entspricht. Trotzdem erscheint der Paramount die Verfilmung der Fortsetzung Fanny, die im Theater weniger erfolgreich war als Marius, als wenig erfolgsversprechend. Die Pagnol garantierten Anteile aus den Einnahmen erlauben es ihm schon 1932, FANNY zusammen mit dem in Paris erfolgreichen Marseiller Produzenten Roger Richebé zu produzieren (Films Marcel Pagnol et Établissements Braunberger-Richebé). Das Theaterstück wird anlässlich der Verfilmung abgesetzt; die Regie übernimmt Marc Allégret, die Innenaufnahmen werden wieder in Paris gedreht, diesmal in den Studios Braunberger-Richebé in Billancourt. FANNY hat noch mehr Erfolg als MARIUS. Der Abschied vom Theater ist also besiegelt; Pagnol gründet seine erste eigene Filmproduktion (Les Auteurs Associés 1933), deren Existenz nur von kurzer Dauer sein wird, und Pagnol kann schließlich mit den Einkünften aus den beiden Filmen ein eigenes, unabhängiges Produktionsnetzwerk aufbauen. Nach fünf weiteren eigenen Regiearbeiten44 – neben den erwähnten sind dies MERLUSSE (1935) und CIGALON (1935) – schreibt und produziert Pagnol CÉSAR,45 den dritten 42 Es handelt sich um die Filme ZUM GOLDENEN ANKER, Regie Alexander Korda, und LÄNGTAN TILL HAVET (dt.: Sehnsucht nach dem Meer), Regie John W. Brunius. Vgl. Beylie, Claude: Marcel Pagnol ou le cinéma en liberté, Paris 1995, S. 186f. 43 Vgl. Pagnol 1991, S. 33-46. 44 Hinzu kommen noch Filme, die in Pagnols Studios entstehen, für deren Drehbuch und Regie aber nicht Pagnol verantwortlich zeichnet. Das bekannteste Beispiel hierfür ist Jean Renoirs TONI (1934). 45 Eine Theaterversion mit einigen wenigen Mitgliedern des Stammensembles (u.a. Demazis, Maupi) und dem alternden Operettenhelden Henri Alibert als Marius erfolgt erst 1946 im Théâtre des Variétés. Kurz vor der Premiere kommt es zu (beinahe juristischen) Auseinandersetzungen mit Pagnol, der schließlich die Umbesetzung der Rolle des César sowie einige andere Änderungen erwirkt; vgl. Castans 1987, S. 544; Ferrari, Alain/Pagnol, Jacqueline: Le Gloire de Pagnol, Arles 2000, S. 113-116.
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Teil der Trilogie, direkt fürs Kino. Denn seine SchauspielerInnen, insbesondere Raimu und Fresnay, sind mit den ersten beiden Folgen zu national gefragten Filmstars geworden; eine Theateraufführung en suite über mehrere Wochen oder Monate ist so auch aus finanziellen Gründen nicht durchführbar. CÉSAR produziert Pagnol mit seiner zweiten Produktionsfirma (Films Marcel Pagnol) in seinen eigenen Marseiller Studios, zudem führt er – wie erwähnt – auch selbst Regie; die Marseiller Premiere findet in seinem eigenen Kino Noailles statt. Auch wenn CÉSAR weniger erfolgreich ist als die anderen beiden Teile, erweist sich der Erfolg der Marseiller Trilogie zu dieser Zeit bereits als gute Basis für ein frühes, populäres Autorenkino, das Pagnol zu einer nationalen Ausnahmefigur in der Filmbranche macht. Er ist der einzige – zumal regionale – Autor und Regisseur, der sich bis zur Okkupation mittels eigener Studios und Labors in Marseille, eines eigenen Vertriebsnetzwerks von Paris bis nach Algier46 sowie eines eigenen Verlagshauses47 früh und konsequent von der dominierenden (amerikanischen) Tonfilmindustrie unabhängig macht.48
4.
Theater versus Film, Regionalismus versus Exotismus
4.1 Der bar de la Marine als ‚Anker‘ der Filmhandlung Den regionalisierenden Charakter von Pagnols Filmen bezeichnet André Bazin als „humanisme méridional“, also als konkrete lokale Verortung eines humanistischen Weltbildes im Midi. Hierin sieht Bazin auch den Grundstein von Pagnols Erfolg.49 Er wird wesentlich über die grob typenhafte Zeichnung der Charaktere und, insbesondere im Film, über deren lokale Verankerung in einem minimalistischen Kunst-Marseille erzielt. Zentraler Schauplatz ist auch im Film der bar de la Marine am Alten Hafen; hier fließen alle Handlungsfäden zusammen. Das Café ist Treffpunkt der Männerrunde um den Patron César, die sich hier zum Kartenspielen trifft: der Segelmachermeister Panisse, der Kapitän des 46 Vgl. Pagnol 1991, S. 46-54, 65. 47 Les Editions Marcel Pagnol veröffentlichen einige seiner Drehbücher. 48 Vgl. Vincendeau, Ginette: „In the name of the father. Marcel Pagnol’s trilogy: Marius (1931), Fanny (1932), César (1936)“, in: Susan Hayward/Ginette Vincendeau (Hrsg.): French film, Texts and contexts, London/New York 1994, S. 70; Albersmeier 1992, S. 155-157; Beylie 1995, S. 29-36, 72 und Pagnol 1991, S. 7-51. 49 Vgl. Bazin 1990, S. 179-185.
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Touristenschiffes Escartefigue und der Lyoner Zollinspektor M. Brun. Hier bahnt sich auch die Liebesbeziehung zwischen Fanny und Marius an und im Café wird auch die Hochzeit der beiden von César, Marius’ Vater, sowie Honorine, Fannys Mutter, ausgehandelt. Und als am Ende von MARIUS die Sehnsucht nach dem Fernfahren die Liebe zu Fanny besiegt, fährt Marius mit dem großen Segelschiff, der Malaisie, direkt vor dem Café ab. Pagnol blendet auf diese Weise auch im Film den Großstadtcharakter Marseilles aus. Lediglich der Vorspann verortet das Café und die Rive-Neuve des Vieux-Port im Kontext der Hafenstadt Marseille. Zwei ausführliche Panoramafahrten zeigen Marseille vom Alten Hafen bis zur Mündung der nördlichen Calanques-Kette im Meer und vom Garde-Hügel und Umgebung bis zur Rive-Neuve. Auch hier werden allerdings die fast geometrisch angelegten großen Boulevards der Haussmannisierung sowie die neuen Hafenanlagen, die sich Anfang der 30er Jahre auf weit über 100 ha vom Alten Hafen Richtung Norden erstrecken, nicht wirklich sichtbar.50 Das Ufer der Bar wird von den ProtagonistInnen auf der Bildebene insgesamt nur selten verlassen. Als einziger alternativer und weiblich konnotierter Handlungsort dient – im Gegensatz zum Stück – Honorines Wohnung. Ansonsten unterbrechen lediglich kurze Einstellungen die Sequenzen im Café: César promeniert am Ufer entlang Richtung Hauptboulevard, Honorine wird an ihrem Fischstand gezeigt oder der Blick der ProtagonistInnen schweift von der Terrasse des Cafés aus in Richtung des anderen Ufers und das Stadtwahrzeichen Notre-Dame-de-la-Garde wird eingeblendet. Die Bar und ihre Terrasse werden so in nicht wenigen Sequenzen quasi zur Bühne: Mittels eines Minimums an Bewegung und eines zurückhaltenden Einsatzes der Montage wird quasi eine Frontalinszenierung und eine sehr getreue Umsetzung des Theatertextes ermöglicht, wie z.B. in den Kartenspiel-Sequenzen mit César, Panisse, M. Brun und Escartefigue (Marius III, 1ff.). Der bar de la Marine garantiert auf diese Weise auch im Film die Einheit von Ort und Handlung, wo neben den drei ProtagonistInnen Marius, Fanny und César die Kartenrunde residiert und das familiäre Geschehen wie der Chor der antiken Tragödie kommentiert.51 Auf den ersten Teil der Trilogie trifft das von Albersmeier konstatierte „Dilemma zwischen Artisanalität (Theater) und industrieller Mechanik (Film), zwischen tradi-
50 Vgl. Borruey, René: Le port moderne de Marseille. Du dock au conteneur (1844-1974), Marseille 1994, S. 391-395. 51 Vgl. Vincendeau 1994, S. 70.
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tionell-vormedialem und modernem, medienbedingten Kunstverständnis“52 also besonders zu. Auf der strukturellen Ebene werden die Akt- und Szeneneinteilungen der Theaterfassung über Einblendungen wie „un mois plus tard“ oder Einstellungen von Segelschiffen und dem Alten Hafen markiert. Diese fast immer text- und personenlosen Einstellungen vergegenwärtigen den Handlungsort; oft nehmen diese instrumental untermalten Einstellungen im Sinne einer subjektiven Kamera den Blick der ProtagonistInnen aufs andere Ufer (Notre-Dame-de-la-Garde) auf.53 Die Ästhetik von MARIUS, die traditionell auf Pagnols Verankerung im Pariser Theatermilieu zurückgeführt wird, zeigt auch Stummfilmelemente, verweist also auf den (offiziellen) Regisseur Alexander Korda. Er verfügte zwar über zahlreiche Stummfilmerfahrung in Österreich, Ungarn und den USA, drehte aber mit MARIUS seinen ersten Tonfilm. Paradigmatisch für die Hybridität des Stils ist z.B. der Beginn von MARIUS. Nach längeren Panoramafahrten über die Stadt (Vorspann) wird der Alte Hafen fokussiert und die Protagonisten werden an ihren Handlungs- und Arbeitsorten vorgestellt: Panisse vor seinem Segelgeschäft, César in der Bar, Marius am Hafen, Fanny an ihrem Muschelstand. Die Musik stellt wie im Stummfilm Leitmotive für die beiden zentralen Protagonisten zur Verfügung, dafür wird auf Synchronton und damit auch weitgehend auf eine urbane Verortung von Hafen und Café auf der Ebene der Tonspur erst einmal verzichtet. Die Öffnung des Filmraums über das Café hinaus wird in MARIUS mit dem Protagonisten und seinem Exotismus assoziiert. Er verlässt den Alten Hafen, u.a. um sich mit Marineleuten in einem existentialistisch anmutenden Keller zu treffen. Tendentiell gewinnen diese (exotistischen) Passagen mit Marius in der Verfilmung an Gewicht, während die Szenen der Stammtischrunde mit César, Panisse und M. Brun gekürzt werden. Die Sequenzen mit Marius werden über eine ansatzweise kontrastive Montage (Innen- vs Außenaufnahmen) umgesetzt, die Einstellungsfrequenz ist hier deutlich höher. In diesem Sinn werden leichte Textumstel52 Albersmeier 1992, S. 32. 53 Dazu ist anzumerken, dass Pagnol eine fiktive Topographie Marseilles entwirft. Die Verortung des Cafés an der Rive-Neuve wird im Film durch die Kameraführung (u.a. Eröffnungssequenz) und im Text von CÉSAR durch eine Replik von Marius suggeriert („Non; moi, je suis Marseillais! Mon père a un bar au quai de Rive Neuve. C’est même ce qui a fait mon malheur.“ César, S. 450). Die Textpassage, in der Fanny Marius rät, aus der Wohnung über das Fenster Richtung place de la Lenche zu flüchten, da sein Vater vor dem Café am Alten Hafen stünde, widerspricht dem ebenso wie die Tatsache, dass die ProtagonistInnen von der Terrasse des Cafés aus auf Notre-Dame-de-la-Garde, also Richtung Rive-Neuve blicken.
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lungen durchgeführt. Aus Szenen im Café werden zum Teil Außensequenzen vor dem Café am Kai bzw. werden die Innensequenzen von kurzen Einstellungen unterbrochen. Detailaufnahmen von den Segeln der Malaisie und Panoramabilder vom sich Richtung Meer öffnenden Alten Hafen assoziieren visuell eine Gegen- und Traumwelt zum Café, Marius’ Exotismus, seine Sehnsucht nach den Iles Sous-le-Vent, und brechen den folkloristischen Mikrokosmos auf. Die Cahiers du cinéma, die 1969 der „Saga Pagnol“ einen Artikel widmen, resümieren diese ambivalente Repräsentation Marseilles wie folgt: Dans la Trilogie, enfin, on voit plutôt Marseille comme le lieu d’une petite communauté (les gens qui vivent des commerces adjacents au grand port) aux façons presque rurales. Une campagne portuaire. Mais Marseille, port, ce peut bien être aussi […], le lieu ou l’aventure s’épanouit. Bateaux, mers et îles à l’horizon : Marius veut s’en aller et laisser là Fanny. Nous sommes ici dans cette mythologie portuaire de l’entre-deux-guerres que Demy […] va plus 54 tard ressaisir.
4.2 Pagnols Stilmix Das von Albersmeier angesprochene Dilemma zwischen Film und Theater, Tradition und Moderne wird bei Pagnol auf einer stilistischen und inhaltlichen Ebene deutlich. Repräsentiert Marius den zeitgenössischen Hang zum Exotismus, stehen die meisten anderen Figuren, insbesondere Escartefigue und César, für den Midi-Regionalismus, für Prototypen des Marseillers (und seines Klischees). Diese unterschiedlichen Welten haben ebenso auf der Ebene des Filmraums ihre Entsprechung. So bleibt der Handlungsraum von Escartefigue und Raimu im Wesentlichen auf das Ufer des Cafés beschränkt, während Marius aus ihm ausbricht. Damit verbunden ist die Ästhetik eines „régionalisme folklorisant“,55 der auf das Boulevardtheater verweist. Césars und Escartefigues Sprache ist durch Regionalismen, Pointen, starke Übertreibungen, die falsche Verwendung eines bildungsbürgerlichen bzw. Pariser Vokabulars (tourifèle 54 Delahaye, Michel: „La saga Pagnol“, in: Les Cahiers du cinéma, Nr. 213 (1969), S. 49f. Delahaye spielt in seinem Artikel auf Jacques Demys Film TROIS PLACES POUR LE 26 (1988) an, der in der Form eines Musikfilms Yves Montand als Yves Montand inszeniert. Der gereifte Star kehrt in die Stadt seiner Kindheit, nach Marseille, zurück, um eine autobiographische Revue zu proben, die sein Immigrantenschicksal als Docker und seine ersten Schritte Richtung Sängerkarriere im Marseiller Boulevardmilieu inszeniert. 55 Temime, Emile: Un rêve méditerranéen. Des saint-simoniens aux intellectuels des années trente (1832-1962), Arles 2002, S. 161.
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statt Tour Eiffel, Marius I, 3) sowie eine starke Mimik und Gestik bestimmt. Beide bekommen regelmäßig cholerische Ausbrüche und verursachen eine Situationskomik, die weitgehend eine dramatische Handlung in räumlicher Dimension ersetzt. Der Kapitän der französischen Marine, Escartefigue, verlässt so seinen sonnigen Sitzplatz auf der Terrasse vor dem Café nur, um seinen Passagierdampfer vom einen zum anderen Ufer des Hafens zu fahren.56 Dieser Stilmix zwischen Burleskem (Kartenrunde) und Dramatischem (Abfahrt Marius’) ist nicht zuletzt auf die Besetzung der Trilogie mit TheaterschauspielerInnen unterschiedlichster Herkunft zurückzuführen: Fresnay stammt von der Comédie Française, Raimu aus der Marseiller – später Pariser – music hall. Hinzu kommen Charpin als klassischer Tragödienschauspieler, Demazis und Rouffe mit Pariser bzw. Marseiller Berufserfahrung sowie eine Reihe von burlesken Typen aus dem Marseiller Boulevardmilieu.57 Auf diese Weise wird auch auf der inhaltlichen Ebene über das Nebeneinanderstellen von tragischen und komischen SchauspielerInnen bzw. Handlungssträgen auf die Tradition des französischen Bühnenmelodrams zurückgegriffen.58 Selten sind deshalb Sequenzen, in denen über die Kombination von akustischen und visuellen Codes eine Ästhetik und Komik erzeugt wird, die die verschiedenen Stile integriert sowie die beiden Milieus Café und Meer direkt konfrontiert, also die medialen Mittel des Tonfilms nutzt. Die erste mit Dialogtext untermalte Sequenz ist ein Beispiel dafür. Der Dialog zwischen Fanny und Marius in der Bar wird durch das Pfeifen eines Dampfers unterbrochen. Die folgenden Einstellungen zeigen abwechselnd ein aus dem Neuen Hafen fahrendes Schiff und die Szene in der Bar. Das Pfeiffen, das Marius’ Exotismus wachruft, wird vom Geräusch des Kaffeekochers in der Bar abgelöst, das wiederum den noch Siesta haltenden César aufweckt. Als dieser nach dem Lärm fragt, identifiziert Marius, offensichtlich aufs Anheuern fixiert, das Geräusch als das Pfeifen des Schiffes. Steht das Pfeiffen des Schiffes, das sofort Detailaufnahmen des Schiffes assoziiert, für Marius’ Sehnsucht, den VieuxPort Richtung Weltmeere zu verlassen, ist das Geräusch des Kaffeekochers sein Gegenmotiv: César wird durch seinen ersten Auftritt als gutmütiger, aber cholerischer Patron charakterisiert. Die durch ihn verkörperte Tradition der Cafétiersfamilie bildet den Gegenpol zum Träumer Marius. Letzterer ist auch die einzige Figur, die über die Verfilmung seinen Charakter ändert. Marius wird im Film zur einzigen modernen Fi56 Vgl. Albersmeier 1992, S. 78 und Dirscherl 1988, S. 377-390. 57 Vgl. Vincendeau 1990, S. 70f. 58 Vgl. ebd., S. 70.
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gur. Die im Verlauf der Handlung zunehmenden personenlosen Einstellungen von Hafen und Meer werden in den Sequenzen, in denen Marius im Zentrum steht (s.o.), zu seinem Leitmotiv. Hier erhalten sie eine klare Funktion, die über die bloße Illustration des Standortes Vieux-Port hinausgeht; sie erzeugen Spannung. Marius ist zudem die einzige Figur, die auch andere Milieus der Stadt wie die Kellerkneipe der Seefahrer betritt und Marseille schließlich verlässt. Er wird (mit Fanny) als einziger aus dem Milieu des bar de la Marine im abendlichen Hafenterrain zwischen den großen Schiffen gezeigt. Das einzige städtebauliche Monument der Moderne, das im Film visualisiert wird, wird so mit ihm verbunden. Der Pont Transbordeur, eine 1905 errichtete modernistische Stahlkonstruktion, die die beiden Ufer des Vieux-Ports bis zur Zerstörung durch die deutsche Reichswehr verband und beliebtes Objekt avantgardistischer PhotographInnen wie Germaine Krull und László MoholyNagy war, verkörpert diese kosmopolitische Seite Marseilles für die auch Marius’ Exotismus steht.59 Während die Kartenrunde des bar de la Marine sich über diese Brücke lustig60 macht und Fanny auf ihr schwindelig wird, symbolisiert sie für Marius einen Ort der Sehnsucht, der den Blick Richtung Meer frei gibt.
4.3 FANNY und CÉSAR: Provenzalisierung und Erweiterung des Filmraums Für die Fortsetzung FANNY gilt ähnlich wie für MARIUS, dass der Filmraum stark von der Theaterdramaturgie des Stückes bestimmt ist. Der musée vivant de la vieille marine,61 als das der Alte Hafen zwischen Belle Epoque und Entre-deux-guerres zunehmend betrachtet wurde, bleibt der zentrale Handlungsort. Dennoch ist der (Raum-)Charakter des zweiten Teils deutlich different vom ersten Teil. Schon die Dramaturgie des Stückes teilt die Handlung auf mehrere Innenräume auf: Césars Café, Honorines Wohnung sowie Panisses Wohnung und Werkstatt. Ist die Filmversion MARIUS stark von der Thematik des Exotismus und vom burlesken Spiel Césars und Escartefigues geprägt, steht in FANNY die 59 Vgl. Fiedler, Jeannine (Hrsg.): László Moholy-Nagy, Paris 2001, S. 60f; http://isabelle.bruna.free.fr, 30.10.03. 60 So beklagt sich der Kapitän Escartifigue über die ökonomischen Einbußen, die das Bauwerk verursacht: „C’est le Pont Transbordeur qui me fait du tort. Avant qu’ils aient bâti cette ferraille, mon bateau était toujours complet. Maintenant, ils vont tous au Transbordeur… C’est plus moderne que le fériboîte, et puis ils n’ont pas le mal de mer.“ (Marius I, 1) 61 Vgl. Bertrand, Régis: Le Vieux-Port de Marseille, Marseille 1998, S. 172.
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vom Schicksal gezeichnete, verlassene Protagonistin im Zentrum. FANNY beginnt zwar noch mit einer Sequenz, die die Abfahrt der Malaisie zeigt, einem Handlungsteil, der aus dem Stück Marius in das Drehbuch von FANNY verlagert wurde. Mit dem Schiff und Marius verschwindet aber auch die (ideelle) Öffnung Richtung Meer. Das Motiv des Segelschiffs und damit des Exotismus wird durch eine Erweiterung des Stadtraums abgelöst. Schon in der genannten Sequenz werden neben Detailaufnahmen des Schiffs und des Alten Hafens aus verschiedenen Perspektiven im Hintergrund auch flüchtig Teile des zeitgenössischen Marseilles sichtbar: der Neue Hafen und einige rauchende Schornsteine. In der Folge ist der Exotismus nur noch an einzelnen Stellen und nur textuell präsent – über den Empfang und die Lektüre von Marius’ Briefen. Lediglich am Ende des Films erscheint Marius kurz selbst. Sein Besuch in Marseille bei Fanny und César zeigt ihn aber nur noch in Innenräumen – im Café und in Panisses Haus –, ohne die Assoziation Meer. In der dramatischen Abschiedssequenz, in der offenbar wird, dass sich die beiden ProtagonistInnen immer noch lieben, tritt César als Schiedsrichter auf und schickt seinen Sohn Panisses ‚Ehre‘ wegen wieder fort. Auf der Ebene der Außeneinstellungen verweist der Filmraum in FANNY auf ‚neue‘ cinematographische Erinnerungsorte, die im Wesentlichen als Kulissen dienen: das Château d’If, der Pier, das Rathaus, der napoleonische Jardin du Pharo und die in Richtung Joliette-Hafen gelegene neo-byzantinistische Kolonialkirche La Major. Mit dieser Erweiterung des Stadt- und Handlungsraums ist ein stärkerer Einsatz der Montage verbunden; der Anteil an Studiosequenzen nimmt leicht ab und es sind einige wenige längere Außensequenzen vorhanden, die in der Stückfassung nicht enthalten sind. Die Sequenz, in der Fanny den Garde-Hügel besteigt und zum Marseiller Wahrzeichen Notre-Dame-de-la-Garde wallfahrtet, steht besonders deutlich für diese Öffnung der Bühne RiveNeuve. Denn sie hat nicht nur eine illustrative Funktion, sondern markiert auch den dramatischen Höhepunkt der Trilogie. Fanny kommt gerade von Dr. Venelle, von dem sie erfahren hat, dass sie vom abgereisten Marius schwanger ist. Wie eine Traumwandlerin geht sie apathisch die langen, breiten Boulevards entlang zur Bonne Mère, um ihre ‚Sünde‘ zu beichten und für die Rückkehr Marius’ zu beten. Die lange Kamerafahrt über die Boulevards, die sie von der Praxis zur Kirche führen, und die Panoramafahrt von Notre-Dame-de-la-Garde aus über die Stadt stehen dem Prinzip der Abfilmung von Szenenfolgen entgegen, die nur durch kurze Außeneinstellungen unterbrochen werden. Diese ansatzweise Öffnung des Handlungsraumes über den Vieux-Port hinaus wird in der drit-
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ten Folge CÉSAR, die Pagnol als Drehbuch und nicht als Theaterstück verfasst hat und 20 Jahre nach FANNY angesiedelt ist, deutlich intensiviert. Die Außenaufnahmen wachsen so auf ca. ein Viertel des Films an. Mit einer Ausnahme wird allerdings nicht der Stadtraum ausgedehnt,62 d.h. mit der Erweiterung des Handlungsraums geht auch eine Provenzalisierung des Films einher. Während der Marseiller Perimeter im Wesentlichen gewahrt bleibt, werden Teile der Außenaufnahmen aus Marseille hinaus verlagert. Césariot, der Sohn von Marius und Fanny, geht auf die Suche nach seinem leiblichen Vater und verlässt mit dem Motorboot Marseille in Richtung der Sommerfrischleridylle Palavis bei Martigues, um schließlich in Toulon zu landen, wo Marius, vom Weltenbummeln desillusioniert, inzwischen eine Autowerkstatt betreibt. Noch deutlicher als in FANNY verschwindet mit der Erweiterung des Filmraums das kosmopolitische Moment des Exotismus völlig. Die Sequenzen mit Marius und Césariot zwischen Toulon und Marseille sind vielmehr von einer ruralen Ästhetik geprägt, die inzwischen – 1936 – zum gängigen filmischen Repertoire des film méridional gehört. Der Exotismus verweist hier also nicht mehr nach außen, Richtung Meer, sondern nimmt im Sinne Brauquiers die Form eines innerfranzösischen exotisme marseillais an. Es werden ländliche Idyllen gezeigt und es wird (z.T. ironisierend) mit touristischen Versatzstücken gearbeitet: dem Wochenendausflug zum cabanon, der bouillabaisse und der contrebande. Der relativen Öffnung des Filmraums im Verlauf der Trilogie steht so eine ideologische Verengung gegenüber. Die katholische und patriarchale Familienmoral, symbolisiert durch Césars Eingreifen in die Unterredungen zwischen Fanny und Marius am Ende von FANNY und CÉSAR, lassen für den Ausreisser Marius und seine Träumereien keinen Platz. César verhindert so in FANNY, dass der übers Fenster ins Haus von Panisse eingestiegene Marius in Marseille bleibt und wieder mit Fanny und ihrem Sohn zusammenkommt. César rettet so die scheinbare Familienidylle, bestehend aus der Mutter Fanny, ihrem Ehemann (und nur offiziellem Kindsvater Panisse), den sie der ‚Ehre‘ halber nach der Abfahrt von Marius geheiratet hat, dem Sohn Césariot sowie dem Taufpaten (und inoffiziellen Großvater) César. CÉSAR endet im Gegensatz zu FANNY mit einer langen Außensequenz im Marseiller Hinterland. Die ländliche Hü-
62 In der Sequenz, in der der erwachsene Césariot seinen Vater Marius vor einem Autohaus abwartet, um ihn zur familiären Aussprache über seine Vergangenheit zu bitten, wird mit dem Prado erstmalig ein Bestandteil des gutbürgerlichen und großstädtischen Marseilles südlich des Garde-Hügels visualisiert.
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gellandschaft wird zum Ort der Reintegration Marius’ in den Familienverband und das bürgerlich-christliche, patriarchale Weltbild Pagnols.63 Marius und Fanny gestehen sich ihre andauernde gegenseitige Liebe ein, aufgrund der unterschiedlichen Milieus – Fanny ist als Witwe Besitzerin eines Segel- und Motorschiffgeschäfts – bleibt Marius aber bezüglich einer gemeinsamen Zukunft skeptisch. Hier schreitet César als ‚reitender Bote‘ ein und ändert so den Verlauf der Handlung. Er manipuliert Marius’ Auto, so dass er nicht abfahren kann, und überbringt die Nachricht, dass der wieder nach Paris abgefahrene Sohn Césariot den neuen und ‚echten‘ Vater Marius akzeptiert und in eine Hochzeit einwilligen würde. Marius wird also, nachdem er Buße getan hat, wieder in die nun arrivierte Marseiller Familie aufgenommen. Diese fast Brecht’sche Wendung des Schicksals – allerdings unter entgegengesetzten moralisch-politischen Vorzeichen – führt so zu einer allgemeinen Versöhnung; Marius bekommt eine zweite Chance auf ein glückliches Familienleben. Gleichzeitig schließt der Altphilologe Pagnol seine Trilogie auf diese Weise mit einem neuerlichen (doppelten) Verweis auf sein Ursprungsmilieu, die Literatur und das Theater: Ulysses ist von seiner langen Reise zu sich selbst und zu seiner Penelope zurückgekehrt. Marius’ actual and symbolic voyage condenses classical mythology, French popular myths of the 1930s, and Marseillais folklore. [...] It’s object, however, according to the logic of desire, is shown to be an unattainable illusion. In order for Marius’ mythic (and Oedipal) journey to be successful, an object approved by the law – marriage – has to be substituted for his own irrepressible desire for ‚elsewhere‘, while the nature of his desire, threatening the cohesion of the family, is dealt with his virtual exclusion from Fanny and César.64
Filmverzeichnis MARIUS, Regie Alexander Korda, Frankreich 1931 (Video: Paris, Compagnie Méditerranéenne de Films 1961). FANNY, Regie Marc Allégret, Frankreich 1932 (Video: Paris, Compagnie Méditerranéenne de Films 1969). CÉSAR, Regie Marcel Pagnol, Frankreich 1936 (Video: Paris, Compagnie Méditerranéenne de Films 1970).
63 Vgl. Vincendeau 1990, S. 76f. 64 Vincendeau 1990, S. 78.
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Literatur Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich, Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992. Audouard, Yvan: „Marcel Pagnol, la parole et la pudeur“, in: La Pensée de midi, Nr. 1 (2000), S. 62-67. Bazin, André: „Le cas Pagnol“, in: ders. (Hrsg.): Qu’est-ce que le cinéma, Paris 1990, S. 179-185. Bertrand, Régis: „Méry-dional. Joseph Méry, le Parisien-Marseillais“, in: Marseille. Revue culturelle, Nr. 180 (1997), S. 14-18. Bertrand, Régis: Le Vieux-Port de Marseille, Marseille 1998. Beylie, Claude: Marcel Pagnol ou le cinéma en liberté, Paris 1995. Borruey, René: Le port moderne de Marseille. Du dock au conteneur (1844-1974), Marseille 1994. Castans, Raymond: Marcel Pagnol. Biographie, Paris 1987. Clair, René: Réflexion faite. Notes pour servir à l’histoire de l’art cinématographique de 1920 à 1950, Paris 1951. Clair, René: Cinéma d’hier, cinéma d’aujourd’hui, Paris 1970. Delahaye, Michel: „La saga Pagnol“, in: Les Cahiers du cinéma, Nr. 213 (1969), S. 44-57. Dirscherl, Klaus: „Cent Pour-cent parlant oder wie der französische Tonfilm der 30er Jahre die Wirklichkeit suchte und das Theater fand“, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt 1988, S. 377-391. Ferrari, Alain/Pagnol, Jacqueline: Le Gloire de Pagnol, Arles 2000. Guiraud, Jean-Michel: „Les grands moments des Cahiers du Sud, Jalons pour un itinéraire“, in: Ville de Marseille/Bibliothèques Municipales/Musée de Marseille (Hrsg.): Jean Ballard et les Cahiers du Sud, Marseille 1993, S. 55-87. Jacobi, Hansres: „Vorwort“, in: Marcel Pagnol: Dramen. Marius, Fanny, César, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 7-18. Lagnan, Pierre (Hrsg.): Les années Pagnol, Paris 1989. Mouras, Jean-Marc: La littérature des lointains. Histoire de l’exotisme européen au 20e siècle, Paris 1998.
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Fiedler, Jeannine (Hrsg.): László Moholy-Nagy, Paris 2001. Pagnol, Marcel: Cinématurgie de Paris, Paris 1991. Pagnol, Marcel: Œuvres complètes. Théâtre, Bd. 1, Paris 1995. Pagnol, Marcel: Œuvres complètes. Cinéma, Bd. 2, Paris 1995. Peyrusse, Claudette: Le cinéma méridional. Le Midi dans le cinéma français (1929-1944), Toulouse 1986. Rostaing, Charles 1942, „Le français de Marseille dans la trilogie de Marcel Pagnol“, in: Le Français moderne Vol. X, Nr.1 (1942), S. 2944, 117-131. Roumel, Pierre: „La Treille de Pagnol“, in: Marseille. Revue culturelle, Nr. 180 (1997), S. 7-12. Temime, Emile: Histoire de Marseille. De la Révolution à nos jours, Paris 1999. Temime, Emile: „Repenser l’espace méditerranéen. Une utopie des années trente?“, in: La Pensée de midi, Nr. 1 (2000), S. 56-61. Temime, Emile: Un rêve méditerranéen. Des saint-simoniens aux intellectuels des années trente (1832-1962), Arles 2002. Vincendeau, Ginette: „In the name of the father. Marcel Pagnol’s trilogy: Marius (1931), Fanny (1932), César (1936)“, in: Susan Hayward/Ginette Vincendeau (Hrsg.): French film. Texts and contexts, London/New York 1994, S. 67-82.
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COCTEAUS THEATERFILME ZWISCHEN SURREALISMUS UND EXISTENTIALISMUS Abstract Il est évident que le film dans son lien étroit avec le théâtre, peut créer une théâtralité particulière, ce que Bazin, en analysant LES PARENTS TERRIBLES de Cocteau, appelait «sur-théâtre» ou «sur-croît de théâtralité». Ma contribution veut montrer que Cocteau, avec LE SANG D’UN POÈTE et ORPHÉE, est en train de réaliser une nouvelle esthétique figurale et intermédiale – une esthétique qui prend forme surtout dans le film en tant que médium d’une «renaissance du vrai théâtre». Cocteau essaie, à la différence de Freud, d’éliminer les frontières entre le visible et l’invisible, le conscient et le sous-conscient et entre imagination et réalité. Il découvre l’absurdité du rêve, son analogie du film, la ‚Traumform‘, c’est-à-dire les éléments théâtraux, carnavalesques et grotesques du rêve. Cocteau fait rappel, comme déjà Jarry, Apollinaire et Buñuel, à la théâtralité et à la visualité des mythes. Il a l’intention de ‚farcir‘ les mythes à la manière surréaliste, c’est-à-dire de montrer le lien étroit entre mythe et farce, et en même temps l’opacité et l’ambiguïté du langage filmique, les rapports infinis entre le texte et l’image. D’après ce point de vue, on peut considérer le ciné-théâtre de Cocteau comme modèle d’une esthétique qui joue un rôle dans l’histoire du cinéma et accentue l’actualité du surréalisme. C’est surtout le film mythique qui sert chez Cocteau comme lieu ou non-lieu d’une nouvelle mythologie, comme moyen de parodie et de désacralisation, de l’hétérotopie du théâtre dans le cinéma. Wenn man davon ausgeht, dass der Film in seiner engen Beziehung zum Theater besondere Formen der Theatralität, den von Bazin im Blick auf Cocteau sogenannten „sur-croît de théâtralité“ entwickelt, so kann man Cocteaus Theaterfilme als paradigmatisch für eine surrealistische Filmästhetik ansehen, die bis in die Gegenwart, in immer neuen Metamorphosen, eine Rolle spielt und die Aktualität des Surrealismus unterstreicht. Mein Beitrag zeigt, dass Cocteau mit LE SANG D’UN POÈTE und ORPHÉE schon früh, zusammen mit Buñuel, auf dem Wege zu einer neuen figuralen, intermedialen Ästhetik ist, die vor allem im Film, dem von Cocteau sogenannten Medium einer „Wiedergeburt des wahren Theaters“ Gestalt gewinnt. Cocteau versucht in diesen Filmen – im Unterschied zu Freud – die Grenzen zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, zwischen dem Bewussten und Unbewussten, zwischen Imagination und Realität aufzuheben oder zumindest zu relativieren. Er entdeckt dabei, mit der „absur-
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dité du rêve“, die ‚Traumform‘ (E. Lenk) und Traumanalogie des Films, seine theatralen, karnevalesken und farcenhaften Elemente. So erinnert Cocteau, wie vor ihm schon Jarry und Apollinaire, an die Theatraliät und Visualität der Mythen, um sie im Sinne des Surrealismus zu ‚farcieren‘, d.h. den Zusammenhang von Mythos und Farce, Tragik und Komik zu zeigen, aber zugleich auch die traumanaloge Rätselhaftigkeit und Mehrdeutigkeit der Filmsprache, die unendliche Beziehung von Text und Bild, „l’opacité du figural“ (Lyotard). Besonders der Mythenfilm wird bei Cocteau, ähnlich wie bei Sartre, zum Ort und Nicht-Ort einer neuen Mythologie, zu einem Medium der Parodie und Entsakralisierung, der Heterotopie des Theaters im Film.
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der bretonschen Strategien, dass Cocteaus Film LE SANG D’UN POÈTE aus dem Jahre 1930 als „ignoble contre-façon“ von Buñuels LE CHIEN ANDALOU abgelehnt wird; und zur Ironie der Geschichte des Surrealismus, dass Buñuel in einem Vortrag der Universidad Autónoma de México aus dem Jahre 1958 den Film ganz allgemein als „künstlerischen Ausdruck“, als „Instrument der Poesie“ bezeichnet, d.h. als „Befreiung, Subversion der Realität, Schwelle zur wunderbaren Welt des Unbewußten“:1 Der Film sei „eine wunderbare und gefährliche Waffe, wenn er von einem freien Geist gehandhabt wird. Er ist das beste Instrument, um die Welt der Träume, der Emotionen, des Instinkts auszudrücken“.2 Das Zeit- und Raumerlebnis des Kinos erscheint, so Buñuel, als „Reise durch die Nacht des Unbewußten“,3 als Auflösung des Realitätsbewusstseins – und der sog. Neorealismus (der 40er und 50er Jahre) habe nichts getan, „damit in seinen Produktionen sichtbar wird, was charakteristisch für den Film ist, nämlich das Mysterium und das Phantastische“.4 Buñuel zitiert in diesem Zusammenhang Breton: „Das Wunderbarste am Phantastischen ist, dass das Phantastische nicht existiert, alles ist real.“5 Die Ironie besteht darin, dass Buñuel hier – ohne dies anzumerken – nahezu wörtlich die früheren Formulierungen von Cocteau benutzt, die längst zu Topoi der Filmästhetik geworden sind; für Cocteau ist der Film „véhicule de poésie“, „une arme dangereuse et merveilleuse entre les mains des poètes“: „Il serait fou de ne pas considérer comme un art (et même un très grand art) ce véhicule de poésie incomparable“. „Le cinématographe est une arme puissante afin d’obliger les hommes à dormir debout“6. Als Beispiel dafür nennt 1 Buñuel, Luis: „Der Film als Instrument der Poesie“, in ders., Die Flecken der Giraffe, Berlin 1991, S. 142-148, hier S. 142. 2 Ebd. S. 144. 3 Ebd. S. 145. 4 Ebd. S. 145. 5 Ebd. S. 147. 6 Cocteau, Jean: Du cinématographe, Paris 1973, S. 21/22.
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Cocteau (in diesem Essay von 1946) „Le chef-d’œuvre de Buñuel, Le Chien andalou“. In den Gesprächen mit André Fraigneau kommt Cocteau darauf zurück. Man nennt, so erzählt Cocteau, Le sang d’un poète einen surrealistischen Film, obwohl er sich den Filmen dieser Bewegung (die damals noch kaum einen Namen hatte) entgegenstellte, und neulich erzählte mir Buñuel, dass man im Ausland zuweilen Le sang d’un poète ihm zuschreibe und Le Chien andalou mir – kurz, dass unsere damals entgegengesetzten 7 Stile sich mit der Zeit vermischen, bis man sie verwechselt .
Cocteaus Surrealismus ist in vieler Hinsicht dem voraus, was inzwischen zu Angelpunkten der modernen Filmästhetik gehört: Die Traumanalogie des Films, die in Dispositiv ‚Kino‘ erkennbare Funktion und Wirkung eines subjektiven und kollektiven Imaginären, und besonders die Heterotopie des Kinos als ein ‚anderer Raum‘, ein Zwischenraum zwischen dem Realen und Imaginären, dem Sichtbaren und Unsichtbaren, dem Bewussten und Unbewussten,8 der Film und Theater verbindet und den Film als ‚sur-théâtre‘ bzw. ‚surcroît de théâtralité‘ kennzeichnet.9 Der Film erscheint als eine Erweiterung des Theaters, als eine neue Spielart des ‚musée imaginaire‘ und damit auch als ‚Generator‘ neuer Mythen und Figuren. Cocteau ist schon in seinen frühen präfilmischen, theatralen Produktionen, ähnlich wie auch Apollinaire, auf dem Wege einer neuen figuralen und intermedialen Ästhetik, die dann besonders im Film Gestalt annehmen wird und neue Spielräume suchen und entdecken wird. ‚Figure‘ ist dabei nicht im Sinne der klassischen Rhetorik zu verstehen, sondern wie bereits bei Auerbach und dann bei Barthes und Lyotard,10 als
7 Ders.: Kino und Poesie, München/Wien 1979, S. 134. 8 Vgl. Deleuze, Gilles: L’image-mouvement; L’image-temps (Cinéma 1, 2) Paris 1983/1985; Mecke, Jochen/Roloff, Volker (Hrsg.): Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen 1999; Felten, Uta/Schlünder, Susanne/Winter, Scarlett (Hrsg.): Schauspiele des Begehrens. Das Kino in unseren Köpfen, Siegen 2000. 9 Vgl. Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film, Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992; Lommel, Michael/Maurer Queipo, Isabel/Rißler-Pipka, Nanette (Hrsg.): Theater und Schaulust im aktuellen Film, Bielefeld 2004; der Begriff „surcroît de théâtralité“ mit Bezug auf Cocteaus Les parents terribles findet sich erstmals bei Bazin „Théâtre et cinéma“ (zuerst ersch. 1957), vgl. Bazin, André: Qu’est-ce que le cinéma?, Paris 1997, S. 148. 10 Vgl Auerbach, Erich; „Figura“, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern 1967, S. 55-96; Lyotard, François: Discours, figure,
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synästhetische Figur, als Kombination verschiedener Sinne und Künste, die durch die Sinnlichkeit des Begehrens geschaffen wird, in der Weise, dass, so Barthes, „l’amoureux puise dans la réserve (le trésor?) des figures, selon les besoins, les injonctions ou les plaisirs de son imaginaire“.11 Man kann die Tragweite und das Potential der Filmästhetik Cocteaus, die vor allem in dem Sammelband Du cinématographe und in den Gesprächen mit André Fraigneau zu finden ist,12 nur dann erkennen, wenn man, wie angedeutet, von der engen Verbindung von Theater und Film ausgeht und wie Cocteau selbst den Film als „Wiedergeburt des wahren Theaters“13 ansieht. Immer noch werden in den meisten Studien Theatergeschichte und Filmgeschichte getrennt, z.B. bei Jürgen Grimm (Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930), der sich eingehend mit Cocteaus frühen Theater-Experimenten beschäftigt, um Cocteau dann aber als „bürgerlichen Ästheten“ auszugrenzen,14 so dass Stücke wie z.B. Antigone (1922) oder Orphée (1926), die ganz offensichtlich eine neue, im 20. Jahrhundert richtungsweisende Phase des surrealistischen Mythentheaters einleiten, nur als Kehrtwendung, Rückkehr zu den Mythen der Antike und als Reaktion abgetan werden – und avantgardistische Filme wie LE SANG D’UN POÈTE (1930) trotz ihrer sehr engen Bezüge zum Theater nicht einbezogen sind. Auch in der grundlegenden Untersuchung von Béhar, Le théâtre Dada et surréaliste, spielt Cocteau keine Rolle.15 Avantgarde ist Cocteau gerade dort, wo er die Möglichkeiten des Films als Metamorphose und Erweiterung des Theaters begreift und nutzt, so dass er zunächst seine eigenen Theaterstücke, wie z.B. Orphée, filmisch verwandelt. Für Cocteau ist es evident, dass der Film besser als andere Medien und Künste mit den Kategorien Raum, Zeit und Bewegung spielen kann, als ein Medium, das auf der Suche nach dem ist, was „hinter der Welt der Erscheinungen liegt, hinter dem, was wir sehen, hören und denken können“; der Film könne dadurch etwas von der
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Paris 1971; Barthes, Roland: Fragments d’un discours amoureux, Paris 1977. Barthes 1977, S. 10. Cocteau 1973; 1979 (Anm. 6, 7); ders.: Entretiens sur le Cinématographe, éd. André Bernard et Claude Gauteur, Paris 1973. Dazu auch Albersmeier, Franz-Josef: „Jean Cocteau und das Kino“, in: Jochen Poetter (Hrsg.): Jean Cocteau, Köln 1989, S. 205-231; Azoury, Philippe/Lalanne, Jean-Marc: Cocteau et le cinéma. Désordres, Paris 2004 (Ed. Cahiers du cinéma, Centre Pompidou). Albersmeier 1989, S. 208. Grimm, Jürgen: Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930, München 1982, S. 126ff. Béhar, Henri: Le théâtre Dada et surréaliste, Paris 1977.
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Nacht, „de la nuit en plein jour“, d.h. Unsichtbares und auch Unsagbares veranschaulichen.16 So erscheint der Film geeignet, „Grenzzwischenfälle ins Werk zu setzen, die eine Welt von der anderen scheiden“.17 Cocteau vermeidet dabei zunächst den Begriff ‚surréalisme‘, er nennt seine Filmkunst paradoxerweise ‚realistisch‘ und spricht, nicht ohne Ironie, von einer „realistischen Dokumentation über irreale Ereignisse“, von einem ‚réalisme dans l’irréel‘, von dem Versuch, das Wunderbare unmittelbar zum Ausdruck zu bringen.18 So gelangt Cocteau in seinen Filmexperimenten zu Kategorien, die erst viel später von der intermedialen Filmästhetik wiederentdeckt werden, z.B. zur Erkenntnis der Heterotopie des Theaters im neuen Medium des Films.19 Er verwendet im Rahmen seiner Filmästhetik Begriffe der freudschen Psychoanalyse, um sie – ganz ähnlich wie z.B. Buñuel – ihrer analytischen Funktion zu berauben und ihren Sinn zu verkehren. Die von Freud entwickelten Definitionen, die Abgrenzungen zwischen den Begriffen des ‚Bewussten‘ und ‚Unbewussten‘, werden in der Metaphorik und Ästhetik Cocteaus wieder unklar, fast könnte man sagen wieder unsichtbar, so z.B. wenn er das Kunstwerk als „de la nuit en plein jour“ bezeichnet, „née des noces du conscient et de l’inconscient“.20 In dem Essay „De l’invisibilité“ in Le Journal d’un inconnu wird Cocteaus Distanz zu Freud besonders deutlich: Freud est d’accès facile, son enfer (son purgatoire) est à la mesure du grand nombre. A l’encontre de notre étude il ne recherche que la visibilité. La nuit dont je m’occupe est différente. Elle est une 21 grotte aux trésors.
Damit durchschaut und kritisiert Cocteau bereits genau das, was auch in der gegenwärtigen Medientheorie im Blick auf Freud zur Diskussion
16 Vgl. Cocteau, Jean: Démarche d’un poète. Der Lebensweg eines Dichters, München 1953, S. 10; dazu auch Vf.: „Der Blick und die Medien – Orphische Mythologie und Intermedialität bei Cocteau“, in: Karl Hölz/Siegfried Jüttner/Rainer Stillers/Christoph Strosetzki (Hrsg.): Sinn und Sinnverständnis. Festschrift für Ludwig Schrader, Berlin 1997, S. 193-210, hier S. 202. 17 Cocteau 1968, S. 85. 18 Ders.: 1973, S. 125. 19 Vgl. Lommel, Michael/Vf. (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003, S. 19ff. 20 Vgl. Rave, Klaus: Orpheus bei Cocteau, Frankfurt 1984, S. 8ff. 21 Cocteau, Jean: Le journal d’un inconnu, Paris 1953, S. 40; das Bild der „grotte aux trésors“ erinnert mit dem Bezug zu Tausend und einer Nacht an die Interpretation Prousts, vgl. Prousts Vorwort zu: Ruskin, John: Sésame et les lys, Paris 1906.
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steht, nämlich den von Norbert Bolz sogenannten „ikonoklastischen Grundzug der Psychoanalyse“: Freud zeichnet dann einen in narzißtischen Simulakren und Phantasmen befangenen Menschen, den es durch beharrliche Abarbeitung des Imaginären zu befreien gilt. Psychoanalyse ist methodischer Ikonoklasmus: ein Wegsprechen der Bilder. Wenn Freud die Bilder im Traum wie ein Rebus deutet, nimmt er sie nicht nach ihrem Bildwert, sondern nach ihrem Signifikantenwert. Der Traum 22 wird buchstabierbar.
In dieser Hinsicht ist Cocteau mit seinem Versuch, „in Bildern zu schreiben“, die Visualität und Sinnlichkeit des Imaginären zur Darstellung zu bringen, auf dem Wege zu jener neuen Traumästhetik, die sich nach und nach von Freud entfernt und damit zugleich auch die Sprache als Bedeutungs- und Erkenntnisinstrument in Frage stellt. Die Träume und vor allem die Tagträume der Kunst zeigen, wie auch Foucault betont, „die unmittelbare Spur des Begehrens, die nicht in Sprache übersetzbar sei“, den Nicht-Sinn des Bewußtsein, während Freud das Begehren des Traums zur Rede reduziert“.23 Wichtig ist für Cocteau vielmehr die Erfahrung der Evidenz des filmischen Bildes, das Verschwinden der Bedeutung, das traumanaloge Gleiten, das, ähnlich wie auch bei Buñuel, als ein Sichwegbewegen von einem Sinn verstanden wird, als „glissement incessant du signifié sous le signifiant“ im Sinne Lacans,24 als Vervielfältigung metonymischer Verfahren. Grundsätzlich geht es dabei um die Differenzen zwischen der freudschen Interpretation der Träume und der für den Surrealismus interessanten Traumform und Traumästhetik. Der Traum erscheint, wie besonders Elisabeth Lenk betont, als „Theater im Innern des Körpers“, als ein Spiel der Metamorphosen, Verwechslungen, der Lust am Versteckspiel, der karnevalesken Freude am Grotesken, Farcenhaften, Absurden25 – und Cocteau erkennt, dass der Film – mit seinen Lichteffekten, mit seinen Möglichkeiten der Polymorphie, der Entgrenzung von Zeit und Raum, mit der Inszenierung mehrdeutiger Rollenspiele – das beste Medium ist, um die Visualität und Theatralität der Träume, ihre Rätselhaftig22 Bolz, Norbert: Eine kurze Geschichte des Scheins, München 1991, S. 31. 23 Borsò, Vittoria: „Luis Buñuel: Film, Intermedialität und Moderne“, in: Ursula Link-Heer/Vf. (Hrsg.): Luis Buñuel Film-Literatur. Intermedialität, Darmstadt 1994, S. 159-179, hier S. 169 mit Bezug auf Foucault. 24 Vgl. Vf., „Buñuels reflektierte Intermedialität“, in: ebd, S. 1-11, hier S. 10. 25 Lenk, Elisabeth: Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum, München 1983, vgl. bes. Kap. VI und VII.
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keit, Mehrdeutigkeit, aber auch Flüchtigkeit und Kontingenz zum Ausdruck zu bringen. Insofern ist die Traumästhetik der Surrealisten, bei Cocteau ebenso wie z.B. bei Buñuel, Lorca und auch Borges, der äußerste Gegenpol zu einer psychoanalytischen Hermeneutik, die im Interesse einer Therapie den Sinn und die Bedeutung der Träume herausfinden will. Die Traumanalogie des Films führt, so Cocteau, in einen Zwischenbereich der Tagträume, die zwischen Tag und Nacht, Bewusstem und Unbewusstem, zwischen individuellem und kollektivem Imaginären vermitteln: Un film n’est pas un rêve qu’on raconte, mais un rêve que nous rêvons tous ensemble en vertu d’une sorte d’hypnose. […] Il est bien entendu que par rêves je n’entends pas rêves du sommeil, mais spectacles qui s’organisent dans la nuit de l’homme et que le cinématographe projette en pleine lumière. La nuit des salles devient alors semblable à celle du corps humain où une foule d’in26 dividus rêverait ensemble le même rêve.
Der Film ähnelt dem Traum als „succession d’actes réels qui s’enchaînent avec l’absurdité magnifique du rêve“.27 Dass das filmische, traumanaloge Gleiten der Bilder, die Freude an plötzlichen oder allmählichen Metamorphosen, die nicht einer bestimmten Sinngebung oder Symbolik dienen, sondern der Dekonstruktion jeder Hermeneutik, wird besonders in LE SANG D’UN POÈTE deutlich, als einem Film, der typischen Verfahrensweisen des Theaters, dabei insbesondere das innere Theater des Traums, auf das filmische Medium überträgt.28 Durch die „fast unerträgliche Langsamkeit der Bilder“ entsteht der Eindruck, als wolle dieser Film die Objekte des Begehrens in eine gleitende Bewegung bringen, traumanaloge Bildserien auflösen und so den Prozess des Begehrens selbst veranschaulichen.29 Uta Felten hat gezeigt, wie das hôtel-théâtre in LE SANG D’UN POÈTE, das Hôtel des Folies-Dramatiques, nachdem der Protagonist, le poète, den Spiegel durchschritten hat, zum Raum der Träume und der Paradoxa wird; der ‚poète‘ wird zum „Reisenden durch Theaterbühnen“, zum Voyeur, Zeugen, Schauspieler und Regisseur sei26 Cocteau 1973, S. 29 u. 38. 27 Ebd., S. 29. 28 Vgl. Felten, Uta: Traum und Körper bei Federico Garciá Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen 1998 (Siegener Forschungen zur romanischen Literatur und Medienwissenschaft Bd. 9), dort zu Cocteaus LE SANG D’UN POÈTE, S. 149ff. 29 Ebd. S. 148; vgl. bes. Gendolla, Peter: Phantasien der Askese. Über die Entstehung innerer Bilder am Beispiel der ‚Versuchung des heiligen Antonius’, Heidelberg 1991, S. 179ff.
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ner eigenen Träume, zum träumenden Ich, das sich in verschiedene Rollenspiele auflöst.30 Die sich hinter verschlossenen Türen abspielenden Szenen (die aber der Filmzuschauer durch das Schlüsselloch sieht oder ahnen kann) sind „Traumszenen, die im Nirgendwo jenseits der gewohnten Raum- und Zeitkategorien stattfinden“, bis hin zur letzten Szene, dem „Kartenspiel des Todes“ zwischen dem Poète-Voyeur und der femme statue.31 Abbildung 1: Screenshot aus LE SANG D’UN POÈTE
In ähnlicher Weise erscheint die von Cocteau sogenannte ‚Zone‘ in dem Orphée-Film als ein, wie Cocteau selbst es nennt, „Randgebiet des Lebens, ein Niemandsland zwischen Leben und Tod“32 und wird daher mit dem Spiegel verglichen – mit der, wie Foucault erläutert, Heterotopie des Spiegels, die einen Zwischenzustand zwischen Realität und Virtualität, zwischen Diesseits und Jenseits markiert.33 Die ‚Zone‘ und der Spiegel werden zum Medium jener Transgressionen und Metamorphosen, die die
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Felten 1998, S. 149. Ebd. S. 149/150. Cocteau, Jean: Orphée-Drehbuch, Frankfurt 1968, S. 9. Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: Barck, Karl-Heinz u.a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-46, hier S. 39.
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Stabilität von Ordnungsbegriffen, wie Raum, Zeit, Subjekt und Identität auflösen. Die eigentümliche Verwendung des Spiegels zeigt, wie Cocteau, ganz im Sinne der surrealistischen ars combinatoria, den antiken Mythos, der bereits von der Faszination und Gefahr des Blickes ausgeht, neu zusammensetzt: Dem begehrlichen, das Tabu überschreitenden Blick des Orpheus entspricht der Blick des Narziss, der in seinem Spiegelbild sich selbst, seine eigene Sterblichkeit, Fremdheit und Heteronomie erkennt. Beide Sehweisen sind, wie Cocteau in LE SANG D’UN POÈTE und ORPHÉE darstellt, auf vielfältiger Weise miteinander verknüpft. Orpheus übernimmt bei Cocteau – in der Selbstreflexion und Selbstbespiegelung des Dichters, in seiner unbegrenzbaren Identitätssuche, aber auch durch seine Metamorphosen bis hin zur Zerstückelung des Körpers – zugleich auch die Rolle des Narziss. Der Dichter erscheint hier als Seher, als voyant (im Sinne Rimbauds) und voyeur, der mehr sehen will als andere und dabei sich selbst opfert und verwandelt: „comme si Cocteau prenait à la lettre la figure rimbaldienne du poète-voyant, pour en faire un poètevoyeur: un cinéaste, en somme“.34 Schon in dem Theaterfilm LE SANG D’UN POÈTE deutet sich an, wie Cocteau die „Wiedergeburt des Theaters im Film“ konzipiert und realisiert: der Theatralisierung und Karnevalisierung des Traums entspricht eine, wie man es nennen könnte ‚Farcierung‘ und Surrealisierung des Mythos, die sich vor allem in ORPHÉE und in LES PARENTS TERRIBLES im Zwischenraum zwischen Theater und Film entfalten. In Orphée geht es um den Chiasmus des Sehens, die Angst gesehen zu werden und den Blick des Anderen, des Dritten – und damit, ähnlich wie in Lacans Analyse des „Spiegelstadiums“,35 um die Ungewissheit über sich selbst und die Unerfüllbarkeit des Begehrens. Dieses Drama des „Spiegelstadiums“ gerät sehr leicht, wie auch Lacan andeutet, zu Groteske und Farce, insofern die kindlichen Bilder und Gegenbilder der Identitätssuche immer wieder in Träumen und Tagträumen, z.B. in der karnevalesken Form des zerstückelten Körpers, auftauchen werden. Cocteau hat vor Lacan die pathetischen, aber zugleich auch die grotesken und farcenhaften Elemente des Spiegeldramas in den Orpheus- und Narziss-Mythen wiederentdeckt und damit die ‚Farcierung‘ als Element der Mythisierung selbst veranschaulicht. So sind Phänomene wie das Durchschreiten des Spiegels oder die Zerstückelung von Orpheus’ Körper durch die Bacchantinnen oder 34 Philippon, Alain, in: Jean Cocteau: Le testament d’orphée, Le sang d’un poète, Monaco 1983 (Drehbücher), S. 5. 35 Vgl. Lacan, Jacques: Schriften 1, Frankfurt a.M. 1975, S. 62ff. („Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“).
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auch der sprechende Kopf von Orpheus nicht nur Leitmotive, sondern Mittel der Dramatisierung selbst, der Verwandlung der Mythen zu grotesken Farce. Die Wechselbeziehung von Mythos und Farce gehört zu den spektakulären, bis in die Gegenwart wirksamen Figuren der intermedialen Praxis der Surrealisten, zugleich aber auch zu den ältesten Topoi im Umgang mit den Mythen, von Aristophanes’ Komödien über Ovid durch alle Jahrhunderte bis hin zu J. Offenbachs Belle Hélène. Vor allem das Mythentheater der Surrealisten entdeckt seit Jarry und Apollinaire neue Spielräume einer grotesken Polymythie, eines Spiels mit den Mythen, eine farcenhafte Gegenwelt, die den Glauben an Wahrheit, Fatalität und Ursprünglichkeit der Mythologie subvertiert und deshalb schon bei Jarry an die Welt der spätmittelalterlichen Farcen und Rabelais’ narrative Varianten anknüpft. So betont auch Cocteau, dass die Mythen nicht etwa Ausdruck einer ursprünglichen Wahrheit seien, die im Laufe der Geschichte verfälscht wurde, sondern es sei gerade umgekehrt, es sind Erfindungen der Dichter: Lügen, die aber im Laufe der Zeit zu Wahrheiten wurden, indem sie Aufschluss über Bedürfnisse der menschlichen Seele vermitteln: „...des mensonges, qui sont devenus vérités au long des siècles, car ils nous éclairent sur les besoins de l’âme humaine.“36 Es ist Cocteau, der dabei, mehr noch als Buñuel, den Film als Ort dieser neuen Mythologie der Surrealisten entdeckt, und zwar in dem Maße, in dem er die Dramatik der antiken Mythen, ihre ursprüngliche Medialität und Visualität veranschaulicht, rekonstruiert und zugleich auch in grotesker Weise wieder auflöst. So führt der ORPHÉE-Film zur Farcierung jenes Augenblicks, in dem Orpheus Eurydike wieder verliert, zu einer Ironisierung der mythischen Sehtabus und damit in einen Grenzbereich zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt, der von Cocteau sogenannten ‚Zone‘ als einem Zwischenraum zwischen Tod und Leben – und Cocteau entdeckt den Spiegel, aber z.B. auch die ‚Zeitmaschine‘ von Madame La Mort in ORPHÉE als Spielformen und Motive, die den surrealistischen Mythenfilm als Autoreflexion der Filmkunst selbst, als Metafilm, kennzeichnen. Die ‚Farcierung‘ der Mythen ist hier nicht nur, wie bei vielen Vorläufern, eine Form der Banalisierung oder Trivialisierung antiker Mythologie, sondern vor allem die ironische Auflösung ursprünglicher Bedeutungen, eine Verweigerung des Sinns, die den Zuschauer
36 Vgl. Vf.: „Mythe et théâtre au XXe siècle. Notes préliminaires“, in: Daniel Briolet (Hrsg.): Mythes et mythologies en histoire de la langue et de la littérature, Nantes 1992, S. 38-47, hier S. 39.
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irritieren soll.37 Das mythische Geschehen wird nicht neu interpretiert, sondern ad absurdum geführt, d.h. in seiner Paradoxie und tragi-komischen Ambiguität gezeigt. Cocteau erkennt, dass diese ‚Farcierung‘ und Surrealisierung um so wirksamer sind, je mehr dabei die ältesten dramatischen Traditionen der Mythologie ins Spiel gebracht werden. Von daher ergeben sich, wie ich hier nur andeuten kann, auffällige Parallelen zwischen surrealistischen und existentialistischen Theaterfilmen, zwischen Sartres oder auch Anouilhs Mythentheater, die durch ganz ähnliche Verfahrensweisen der Farcierung und Surrealisierung gekennzeichnet sind.38 So sind Mythentheater und Mythenfilme seit Cocteau ein Medium der Reflexion und Transformation der Mythen, wobei vor allem die traditionellen Prämissen der Fatalität und der Rollenzwänge in Frage gestellt, parodiert und durch Rollenspiele dekonstruiert werden. In der spielerischen, satirischen und ironischen Auseinandersetzung mit Rollenund Identitätsproblemen, mit den Rollenzwängen, Konventionen, der Theatralität und den Tabus der sogenannten bürgerlichen Gesellschaft wird das Theater von Cocteau zu einem Vorbild für verschiedene Formen des existentialistischen Theaters und des sog. Theaters des Absurden. Dies gilt nicht nur für Orphée, sondern ebenso für Cocteaus Antigone, La machine infernale, Les parents terribles, die – in ihrer grotesken, farcenhaften Komik – mit Sartres Les mouches, Huis clos oder Les jeux sont faits vergleichbar sind. Auch bei Sartre sind dabei die Grenzen von Theaterstück und Filmszenario offen. Nicht nur Cocteau, sondern auch andere Surrealisten wie z.B. Vitrac, René Clair, Prévert haben besonders seit den dreißiger Jahren in verstärktem Maße die Neigung, auf traditionelle und konventionelle Theatergattungen zurückzugreifen. Das Spektrum reicht vom antiken Mythentheater bis zu den Varianten des ‚realistischen‘ Dramas, Melodramas und Boulevardtheaters des 19. Jahrhunderts, wobei aber diese Rückgriffe auf ältere Spielformen dazu dienen, die vertrauten Genres zu verfremden, ihre Spielregeln ad absurdum zu führen und so die Erwartungen der Zuschauer zu täuschen. Die surrealistische ‚Farcierung‘ ist umso wirksamer, je mehr man sich zunächst in dem gewohnten Gattungsschema zu befinden glaubt. Die ‚Farcierung‘ und Surrealisierung der bekannten Theatergattungen ist insbesondere auch im Film eine der wichtigsten intermedialen Verfahrensweisen, die 37 Vgl. dazu auch Borsò, Vittoria: „Der Orpheus-Mythos neu geträumt. Anmerkungen zu Jean Cocteaus Theater und Film“, in: Karl Hölz u.a. (Hrsg.): Antike Dramen – neu gelesen, neu gesehen. Beiträge zur Antikenrezeption in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1998, S. 77-97, zur „Entsakralisierung“ des Mythos vgl. bes. S. 87/96. 38 Vgl. Vf. 1992, S. 40ff.
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bis in die Gegenwart fasziniert – bei Renoir ebenso wie in den späteren Filmen von %uñuel bis hin zu Godard, Rivette oder Almodóvar und vielen anderen.39 Dies ist einer der Gründe, weshalb der Surrealismus gerade in den neuen und neuesten Medien trotz aller Veränderungen höchst aktuell ist.
Literatur Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film, Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992. Albersmeier, Franz-Josef: „Jean Cocteau und das Kino“, in: Jochen Poetter (Hrsg.): Jean Cocteau, Köln 1989. Auerbach, Erich: „Figura“, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern 1967. Azoury, Philippe/Lalanne, Jean-Marc: Cocteau et le cinéma. Désordres, Paris 2004 (Ed. Cahiers du cinéma, Centre Pompidou). Barthes, Roland: Fragments d’un discours amoureux, Paris 1977. Bazin, André: Qu’est-ce que le cinéma?, Paris 1997. Béhar, Henri: Le théâtre Dada et surréaliste, Paris 1977. Bolz, Norbert: Eine kurze Geschichte des Scheins, München 1991. Borsò, Vittoria: „Luis Buñuel: Film, Intermedialität und Moderne“, in: Ursula Link-Heer/Vf. (Hrsg.): Luis Buñuel Film-Literatur. Intermedialität, Darmstadt 1994, S. 159-179. Borsò, Vittoria: „Der Orpheus-Mythos neu geträumt. Anmerkungen zu Jean Cocteaus Theater und Film“, in: Karl Hölz u.a. (Hrsg.): Antike Dramen – neu gelesen, neu gesehen. Beiträge zur Antikenrezeption in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1998, S. 77-97. Buñuel, Luis: „Der Film als Instrument der Poesie“, in: ders., Die Flecken der Giraffe, Berlin 1991. Cocteau, Jean: Le journal d’un inconnu, Paris 1953. Cocteau, Jean: Démarche d’un poète. Der Lebensweg eines Dichters, München 1953. 39 Vgl. Lommel/Vf. (Hrsg.) 2003 (bes. S. 27ff.); Lommel, Michael/Maurer Queipo, Isabel/Rissler-Pipka, Nanette (Hrsg.): Theater und Schaulust im aktuellen Film, Bielefeld 2004.
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Cocteau, Jean: Orphée-Drehbuch, Frankfurt a.M. 1968. Cocteau, Jean: Entretiens sur le Cinématographe, Paris 1973. Cocteau, Jean: Kino und Poesie, München/Wien 1979. Cocteau, Jean: Du cinématographe, Paris 1973. Deleuze, Gilles: L’image-mouvement; L’image-temps (Cinéma 1, 2) Paris 1983/1985. Felten, Uta/Schlünder, Susanne/Winter, Scarlett (Hrsg.): Schauspiele des Begehrens. Das Kino in unseren Köpfen, Siegen 2000. Felten, Uta: Traum und Körper bei Federico Garciá Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen 1998 (Siegener Forschungen zur romanischen Literatur und Medienwissenschaft Bd. 9). Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: Karl-Heinz Barck u.a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-46. Gendolla, Peter: Phantasien der Askese. Über die Entstehung innerer Bilder am Beispiel der ‚Versuchung des heiligen Antonius‘, Heidelberg 1991. Grimm, Jürgen: Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895-1930, München 1982. Mecke, Jochen/Roloff, Volker (Hrsg.): Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen 1999. Lacan, Jacques: Schriften 1, Frankfurt a.M. 1975, S. 62ff. („Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“). Lenk, Elisabeth: Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum, München 1983. Lommel, Michael/Roloff, Volker: Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003. Lommel, Michael/Maurer Queipo, Isabel/Rißler-Pipka, Nanette (Hrsg.): Theater und Schaulust im aktuellen Film, Bielefeld 2004. Lommel, Michael/Maurer Queipo, Isabel/Rissler-Pipka, Nanette (Hrsg.): Theater und Schaulust im aktuellen Film, Bielefeld 2004. Lyotard, François: Discours, figure, Paris 1971. Philippon, Alain, in: Cocteau, Jean, Le testament d’orphée, Le sang d’un poète, Monaco 1983 (Drehbücher).
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Proust, Marcel: „Vorwort“, in: John Ruskin: Sésame et les lys, Paris 1906. Rave, Klaus: Orpheus bei Cocteau, Frankfurt 1984. Roloff, Volker: „Mythe et théâtre au XXe siècle. Notes préliminaires“, in: Briolet, Daniel (Hrsg.), Mythes et mythologies en histoire de la langue et de la littérature, Nantes 1992, S. 38-47. Roloff, Volker: „Buñuels reflektierte Intermedialität“, in: Ursula LinkHeer/ders. (Hrsg.): Luis Buñuel Film-Literatur. Intermedialität, Darmstadt 1994, S. 1-11. Roloff, Volker: „Der Blick und die Medien – Orphische Mythologie und Intermedialität bei Cocteau“, in: Karl Hölz/Siegfried Jüttner/Rainer Stillers/Christoph Strosetzki (Hrsg.): Sinn und Sinnverständnis. Festschrift für Ludwig Schrader, Berlin 1997, S. 193-210.
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SCHON TOT? SZENEN DES BLICKS BEI SARTRE Abstract Si on analyse les combinaisons ainsi que les transformations des médias des années 40 et 50, on se rend compte que les expériences de l’existentialisme français sont très significatives. Les pièces de théâtre, les films, les scénarios, les essais et les œuvres théoriques de théâtre de Jean-Paul Sartre s’offrent particulièrement comme élément d’une histoire intégrée du ciné-théâtre. Dans la partie philosophique, tout comme dans la partie fictionnelle de son œuvre, on se rend compte que le regard joue un jeu très important chez Sartre. Très souvent même, le regard est associé avec la mort : constamment, on trouve des scènes et des règlements de jeu portant sur le regard. Des situations post mortales (post mortem) sont mises à l’essai dans le laboratoire de la vie. Les pièces de théâtre chez Sartre se jouent dans la technique du film et du drame de la vie après la mort ou de la mort en pleine vie, afin de mieux faire deviner la contingence des rôles de la vie. L’intervention analyse le thème du ,déjà mort‘, de la mort anticipée et de la vie hypothétique après la mort et ceci, en premier, lieu par l’exemple du conte Le mur qui se déroule durant la guerre civile en Espagne. En comparant la mise en scène par Serge Roullet en 1967, il se révèle alors comme une magie, comme un «future visible» (Sartre) des figures et des regards, comme des élément surréels et de cauchemars des décors de film des prisonniers jugés à la peine de mort. Ces effets d’ambiance et de synesthésie de l’instrument qu’est le cinéma est souligné par Sartre dans ses souvenirs du film muet de sa jeunesse (voir l’autobiographie Les mots). A l’appui du chapitre «le Regard» dans L’être et le néant, je vais démontrer que les œuvres philosophiques de Sartre font également preuve de sensibilité pour le théâtre et le cinéma. J’analyse sous la perspective d’une esthétique des médias les scènes célèbres sur le voyeur. Les limites et les apories de la théorie du regard, argumentée de façon philosophique discursive, seront rompues – d’après ma thèse – dans les pièces de théâtre et les scénarios par le champ libre de la fiction. Deux exemples, d’une part le drame Huis clos et d’autre part le scénario Les jeux sont faits doivent illustrer finalement les relations entre le regard et la mort, la subjectivité et la réification, la vision et la visibilité. Wenn man die Medienkombinationen und -transformationen der 40er und 50er Jahre untersucht, sind die intermedialen Experimente des französischen Existentialismus besonders aufschlussreich. Als Elemente einer
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integrierten Theater/Filmgeschichte bieten sich vor allem die Theaterstücke, Filme, Drehbücher, Essays und theatertheoretischen Schriften Jean-Paul Sartres an. Im philosophischen wie im fiktionalen Teil seines Werks spielt bei Sartre der Blick eine wesentliche Rolle. Auffallend häufig steht der Blick in Verbindung mit dem Tod: Immer wieder finden sich bei Sartre Spielanordnungen und Szenen des Blicks. Situationen post mortem werden im Laboratorium des Lebens erprobt. Sartres Theaterstücke spielen mit der Dramen- und Filmtechnik des Lebens nach dem Tod oder des Todes mitten im Leben, um so die Kontingenz der Lebensrollen durchschaubar zu machen. Der Beitrag untersucht das Motiv des ,Schon tot‘, des antizipierten Todes und des hypothetischen Lebens nach dem Tod, zunächst am Beispiel der frühen Novelle Le mur, die zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs spielt. Ein Vergleich mit der 1967 entstandenen Verfilmung von Serge Roullet deckt die Magie, die „sichtbare Zukunft“ (Sartre) der Gesichter und Blicke, die surrealen und albtraumhaften Elemente der filmischen Szenerie der zum Tode verurteilten Gefangenen auf. Diese synästhetischen, atmosphärischen Effekte des Mediums Kino betont Sartre in seinen Erinnerungen an die Stummfilme seiner Jugendzeit (vgl. die Autobiographie Les mots). Dass aber auch Sartres philosophische Schriften eine Sensibilität für Theater und Kino dokumentieren, erläutere ich am Beispiel des Kapitels „Le Regard“ in L’être et le néant. Die berühmten Voyeur-Szenen des Textes unterziehe ich dabei einer medienästhetischen Lektüre. Die Grenzen und Aporien der philosophisch-diskursiv argumentierenden Theorie des Blicks werden – so meine These – in den Theaterstücken und Drehbüchern im offenen Spielraum der Fiktion durchbrochen. Zwei Beispiele, das Drama Huis clos und das Filmdrehbuch Les jeux sont faits, sollen daher abschließend die Relationen von Blick und Tod, Subjektivierung und Verdinglichung, Sehen und Sichtbarkeit illustrieren.
Immer wieder finden sich in Sartres Werken – in seinen Theaterstücken, Romanen, Erzählungen und philosophischen Schriften – Spielanordnungen und Szenen des Blicks. Auffallend häufig, so dass man von einem Hauptmotiv sprechen könnte, steht dabei der Blick in Verbindung mit dem Tod: Wie in einem Umkehrspiel werden Situationen post mortem im Laboratorium des Lebens erprobt. Die Perspektive des Lebens nach dem Tod oder des Todes mitten im Leben bietet Lesern und Zuschauern die Möglichkeit, eigene Lebensrollen und Maskierungen als kontingent zu durchschauen. Im Folgenden werfe ich ein paar Streiflichter auf Szenen, in denen sich bei Sartre Blick und Tod begegnen.
Antizipation des Todes: Le Mur Schon in seinen frühen Erzählungen montiert Sartre (prä)filmische und theatrale Szenen, Schauplätze des Blicks, die er als Abhängigkeitsbeziehung von Einbildungskraft und Theatralität inszeniert. Der Ich-Erzähler
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in der frühen Novelle Le Mur,1 der im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner gekämpft hat und von Francos Truppen gefangengenommen wird, wartet auf seine Hinrichtung. Er protokolliert, wie sich die Sicht auf das Leben, die Vergangenheit und die Außenwelt durch die Gewissheit des nahen Todes verändert, wie alles in Bedeutungslosigkeit versinkt. Sartres Protagonist ist von dem paradoxen Versuch besessen, den eigenen Tod zu antizipieren. Aus der Perspektive des Lebensendes erscheinen die Rollenspiele der Lebenden als Farce. „Toutes ces fuites sont arrêtées par un Mur“, so beschreibt Sartre das gemeinsame Motiv seiner Novellensammlung, „fuir l’Existence, c’est encore exister. L’Existence est un plein que l’homme ne peut quitter.“2 Alle Versuche, den Tod zu verstehen oder ihn sich vorzustellen, prallen wie von einer Mauer zurück. Denn der Tod setzt der Möglichkeit, von einem Augenblick auf den anderen die eigene Vergangenheit, das gelebte Leben neu zu entwerfen, ein Ende. Der Tod unterhöhlt den Beweggrund der Existenz, der darin besteht, sich auf eine Zukunft zu entwerfen. Der französische Regisseur Serge Roullet hat 1967 Sartres Novelle in Schwarzweiß verfilmt.3 In Roullets Film müssen die Zuschauer die Blicke und Blickwechsel der Protagonisten erst interpretieren, die Gesichter, in denen sich die Zukunft des Todes einzeichnet, entziffern, Gefühle und Gedanken aus ihnen herauslesen. Musik und Lichtführung schaffen eine surreale, alptraumhafte Atmosphäre, die bereits in der Novelle suggeriert wird. André Billy bezeichnet Le Mur dementsprechend als „un morceau hallucinant“.4 In einem kurzen Text mit dem Titel Visages liefert Sartre eine phänomenologische Skizze des Gesichts und des Blicks. Das Gesicht fabriziert „inmitten der universalen Zeit seine eigene Zeit“. Wenn ein Gesicht in meinem Blickfeld auftaucht, ist es meinem Blick auf magische Weise immer voraus: „ich kann die Gesichter der Menschen nur durch ihre Zukunft sehen. Und das, die sichtbare Zukunft, ist schon Magie.“ „Daher kommt der magische Reiz alter Porträts“, so Sartre weiter, „jene Köpfe [...] sind seit langem tot. Aber ihr Blick und die Welt [...] bleiben ewig gegenwärtig am Ende ihres Blicks.“5
1 Erstausgabe in La Nouvelle Revue Française, Nr. 286 (1937), S. 38-62. 2 Sartre, Jean-Paul: Œuvres romanesques. Michel Contat/Michel Rybalka (Hrsg.), Paris 1981, S. 1806. 3 Drehbuch in L’Avant-Scène du Cinéma, Nr 75 (1967). 4 Sartre 1981, S. 1811. 5 Sartre, Jean-Paul: „Gesichter“, in: ders.: Philosophische Schriften I: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1939, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 327-333, hier S. 331, 333.
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In einer Schlüsselszene sehen wir Pablo Ibbieta (Michel del Castillo), die Hauptfigur des Films, mit zwei Mitgefangenen und einem belgischen Arzt. Der Arzt paktiert mit den Falangisten und beobachtet die Reaktionen der Todgeweihten in einer Art wissenschaftlichem Experiment. Roullet und sein Kameramann Jean Chibaut zeichnen mit Licht und Schatten impressionistische Tableaus, surreale Lichtzonen: ein beinahe körperliches Licht, das die Petroleumlampe in den Raum wirft, und das sich in den Mauern und Ecken der Gefängniszelle im Dunkel verliert. Die Konfiguration von Licht und Schatten verbindet sich mit der beklemmenden an- und abschwellenden Musik von Edgardo Canton. Die Personen erscheinen wie matt erleuchtete Gespenster, Abzüge, Ab-Bilder des Lebens, lebende Tote, Phantome – als seien sie schon tot, noch bevor sie ums Leben gebracht wurden. Die Prosaerzählung Le Mur muss das Schweigen zwischen den Worten und die Verwirrung des Zeitgefühls paradoxerweise benennen, sie muss den Stillstand der Zeit, über die sich der Todesschatten gelegt hat, literarisieren. Im Film jedoch entfällt der Filter der literarischen Imagination: Die Dunkelheit des Kino-Ortes setzt sich in den Bildern auf der Leinwand fort, als werde die Zeit des Wartens auf den Tod in einem surrealen, traumähnlichen nunc stans angehalten. Gerade der Film kann diese Unausweichlichkeit besonders gut veranschaulichen. Sartre beschreibt dies sehr präzise in seinen Bemerkungen zu Roullets Adaption. Der Film LE MUR „nous fait déguster le temps avec notre propre temps.“6
Voyeur-Szenen: L’être et le néant sie hatte den ewigen Vorhang gelüftet, der die Hälfte ihres Gesichts bedeckte, zum ersten, zum letzten und zum einzigen Mal erblickte ich nun ihre außerordentlichen Augen. Wütend starrten sie mich an; sie wirkten wie das Flutlicht einer Gaslampe, das einen auf frischer Tat ertappten Einbrecher stellt; ich schämte mich entsetzlich 7 unter diesem Blick.
Es ist nicht überraschend, dass auch Sartres philosophische Schriften und Essays eine Sensibilität für Theater und Kino, für kinematographische Szenarien erkennen lassen – verstanden als ,Szenen des Denkens‘, der philosphischen Reflexion, die ihre Begriffe in theatralen Spielräumen auftreten lässt (vgl. dazu die Beispiele alltäglicher Schauspiel-Rituale in L’être et le néant, L’idiot de la famille, Question de méthode und Saint 6 Sartre 1981, S. 1830. 7 James, Henry: Aperns Nachlass, Frankfurt a.M./Berlin 1996, S. 129.
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Genet). Das Kapitel „Le Regard“ in L'être et le néant verdeutlicht Sartres Orientierung der Philosophie des Blicks an Theater- und Kinoerfahrungen. Das Beispiel, mit dem Sartre sich dem Phänomen des Blicks zu nähern versucht, ist berühmt geworden: Ich befinde mich in einem öffentlichen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und längs des Rasens Stühle. Ein Mensch geht an den Stühlen vorbei. Ich sehe diesen Menschen, ich erfasse ihn gleichzeitig als einen Gegenstand und als einen Menschen. Was 8 bedeutet das?
Es bedeutet, so Sartres Antwort, dass der Andere auf seinen Status als Objekt meines Blicks reduziert ist. Die Außenwelt – der Rasen, die Stühle etc. – gruppiert sich um ihn herum, er erfasst sie mit seinem Blick, ohne mich zu sehen, der ihn beobachtet. Eine Voyeur-Szene. Ich sehe den Andern inmitten eines Ensembles, das auf ihn verweist. Der Voyeur, der ich in diesem Fall bin, ist jedoch von dem, was er erblickt, distanziert. Der Raum, der sich für den Andern entfaltet, entgeht mir schon immer. Ich sehe nämlich nicht dessen Blick, nicht seine Art und Weise, die Dinge zu sehen; ich kann mich nicht in das Zentrum der Szene stellen, das der Andere besetzt: Er, der in meinem Blickfeld auftaucht, dezentriert meine Welt, während ich doch die Leere, dieses Entgleiten mit meinem eigenen Blick umgreife. Der ungesehene Voyeur, der so bereits seiner scheinbaren Allmacht entkleidet wird, ist jedoch nur ein abgeleiteter Modus von Intersubjektivität. Das meint Sartre, wenn er behauptet: „Das ,Vom-Andern-gesehenwerden‘ ist die Wahrheit des ,Den-Andern-Sehens‘.“9 Ontologisch ursprünglich sei nicht der Objekt-Andere, sondern der Andere als Subjekt, der mich sieht: „Nehmen wir an“, so führt Sartre das zweite, nicht weniger berühmte Beispiel des Blick-Kapitels ein, „ich sei aus Eifersucht, aus Neugier, aus Verdorbenheit so weit gekommen, mein Ohr an eine Tür zu legen, durch ein Schlüsselloch zu gucken.“10 Entscheidend ist für Sartres Argumentation, was nun passiert: Ich habe Schritte im Flur gehört. D.h., es besteht die Möglichkeit, dass mich jemand in der Haltung des Voyeurs ertappt. Mit einem Male ändert sich alles: Ich bin nicht mehr Herr der Situation, Herr der Szene. Ich bin plötzlich selbst Objekt eines Blicks, genauer: Ein Anderer sieht mich sehend, mein eigener Blick ist angeblickter Blick. Das ist die Umkehrung, die Kehrseite der Szene im Park: Nun 8 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 459. 9 Ebd., S. 464. 10 Ebd., S. 467.
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sieht der Andere mich und situiert mich innerhalb seiner Welt. Weil ich an der Tür lausche, erfahre ich mich etwa als jemanden, der sich schämt. Jetzt erlebe ich selbst, wie meine Welt in das Sichtfeld des Andern abfließt. Das erste Beispiel, der Spaziergänger im Park, illustriert die Verdinglichung des Objekt-Andern; das zweite Beispiel, die Szene des ertappten Voyeurs, den Subjekt-Andern, der mich objektiviert. Die beiden Szenen sind kinematographische mise-en-scènes: Der Blick auf den Spaziergänger im Park korreliert einem Kameraobjektiv, das in der Totalen einer Bewegungs folgt; die zweite Szene wirkt wie eine gefilmte Theater-Szene, denn wir sehen nicht den Blick, sondern die Situation eines Menschen, der sich erblickt fühlt. Sartre macht gleichsam die Leser seiner philosophischen Abhandlung zu Voyeuren des sich ertappt fühlenden Voyeurs – also zu Theaterzuschauern, die Zeugen des Blicks werden. Nun versucht Sartre in einem dritten Schritt beide Modi zu verbinden. Was heißt es, wenn ich den Andern, der mich sieht, als mich Sehenden sehe – also: was geschieht, wenn ich, der Erblickte, zurückblicke? Der Andere hat sich von mir ein Bild gemacht, das mir unzugänglich bleibt, eine „Phantom-Skizze meines Seins“.11 Ich kann nie wissen, was und wer ich für ihn bin. Hier stoßen wir auf ein Problem, das Sartre in L’être et le néant nicht zureichend lösen kann: Das Problem der Reziprozität, des Sich-gegenseitig-Anblickens. Auch die Photographie kann bezeichnenderweise die face-to-face-Situation nicht abbilden12 und der Film kann sie daher nur (durch Montage) simulieren. Sartre selbst insistiert immer wieder, dass niemand zugleich, simultan, Subjekt und Objekt eines Blicks sein kann. Aber wie soll man sich das vorstellen? Ist dann die – immerhin allgegenwärtige – Situation des Einander-Anblickens ein ständiger Umschlag vom einen zum anderen Modus, ein ständiger Zerfall und Neuaufbau? Lesen wir mit diesem kritischen Vorbehalt eine Schlusspassage des Blick-Kapitels: Meine ständige Sorge ist es also, den Andern in seiner Objektivität zusammenzuhalten, und meine Bezüge zum Objekt-Andern bestehen wesentlich aus Tricks, die ihn Objekt bleiben lassen sollen. Aber ein Blick des Andern genügt, damit alle diese Tricks scheitern und ich von neuem die Verwandlung des Andern erfahre [...] –, denn jeder dieser Modi hat eine eigne Unstabilität und bricht zu-
11 Ebd., S. 478. 12 Darauf weist Jacques Derrida hin; vgl. Peeters, Benoît: Recht auf Einsicht. Mit einer Lektüre von Jacques Derrida, Graz/Wien 1985, S. I-XXXII, hier S. XXV.
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sammen, damit der andere [Modus, M.L.] aus seinen Trümmern 13 auftauche [...].
Soweit die Grenzen der sartreschen Blick-Theorie. Dass Sartre sich an traditionellen philosophischen Termini abarbeitet, die den Horizont seiner Methode a priori einschränken, wie die Subjekt-Objekt-Spaltung, das Problem des Solipsismus und des cartesianischen cogito, möchte ich nur andeuten (hier setzen übrigens auch Lacans kritische Bemerkungen zu Sartre an). Die heuristische Evidenz seiner Blicktheorie freilich bleibt davon unbenommen – was leicht nachvollziehen ist, wenn man die Blickund Liebesstrategien zwischen Julien Sorel und Mathilde de la Mole in Stendhals Roman Le Rouge et le Noir,14 zwischen Johannes und Cordelia in Kierkegaards Tagebuch des Verführers, Marcel und Albertine in Prousts Recherche in Erinnerung ruft: Auch wenn Sartre in L’être et le neánt literarische Konfigurationen des Blicks höchstens am Rande zitiert, verdankt er ihnen doch mindestens ebensoviel wie den „drei H’s“, den deutschen Philosophen Hegel, Husserl und Heidegger. In seinen Theaterstücken und Drehbüchern jedoch setzt Sartre seine Figuren markanten Szenen des Blicks aus, die über die Schematik der Theorie hinausreichen und das Spektrum erweitern. Die bei Sartre bereits intermedial angelegte Philosophie des Blicks wird in den Filmen und Theaterstücken, die wesentlich vom Entdecken und Verhüllen, von Freiheit und Begrenzung des Sehens handeln, nicht nur erprobt, sondern im offenen Spielraum der Fiktion erweitert. Sartre hat in L’être et le néant – über das ungelöste Problem des face to face, der sich kreuzenden Blicke hinaus – noch nicht in Betracht gezogen, was geschieht, wenn der Dritte in der Szenerie auf der Bühne des Sehens auftritt. Das ist das Thema seines Dramas Huis clos.
13 Ebd., S. 530. Die Schwierigkeiten freilich, interpersonale Wahrnehmung in feste Begriffsgerüste zu fassen, hängt nicht zuletzt mit der unauflöslichen Durchdringung von Wahrmehmung und Imagination zusammen. 14 Vgl. Wellershoff, Dieter: Der verstörte Eros. Zur Literatur des Begehrens, Köln 2001, zu Stendhal bes. S. 47-64 sowie, mit Bezügen zu Sartre, Roloff, Volker: „Le rouge et le noir als Lektüreroman: Soziale, imaginäre und literarische Rollenspiele“, in: Anja Bandau/Andreas Gelz/Susanne Kleinert/Sabine Zangenfeind (Hrsg.): Korrespondenzen. Literarische Imagination und kultureller Dialog in der Romania. Festschrift für Helene Harth, Tübingen 2000, S. 139-156.
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Der Blick des Dritten: Huis clos „Die Hölle, das sind die andern.“ Diesen oft falsch verstandenen Satz spricht eine der Figuren in Huis clos am Ende des Stücks. Zwei Frauen, Inés und Estelle, und ein Mann, Garcin, die sich im Leben nie begegnet sind, treffen nach dem Tod in einem Hotelzimmer zusammen. Sartre erweitert hier die Blick-Konstellation aus L’être et le néant, die er auf alter und ego beschränkt hatte. Die Dreiecksformation überschreitet die Dichotomien der Subjekt-Objekt-Spaltung: Die Abhängigkeit von den Blicken der Andern verführt jeden der drei Protagonisten zu Täuschungsmanövern und aporetischen Doppelrollenerwartungen. Die Zweierbeziehung, die in Huis clos zwischen Masochismus und Sadismus changiert, wird durch den Blick des Dritten zerstört – oder genauer gesagt: sie wird selbst gespiegelt, zur Theaterszene, zum Spiel im Spiel verdoppelt. Da nur Inés, wie Garcin glaubt, beurteilen kann, wer ein Feigling ist, muss er sie zu überzeugen versuchen, dass er keiner ist. Estelle braucht die Augen des Mannes, Garcin, um sich als (attraktive) Frau zu fühlen, Inés wiederum hindert durch ihren Blick Garcin an seiner Liebe zu Estelle. Garcin schließlich konfrontiert durch seinen Blick Inés, die Estelle begehrt, mit ihrer Eifersucht. So umständlich sich diese Blick-Verschachtelungen in der Chronologie der Beschreibung ausnehmen, so luzid wirken sie auf der Theaterbühne. Das théâtre de situations, das uns mit exzeptionellen Situationen wie Gefangenschaft, Unterdrückung, Folter konfrontiert und Widersprüche zwischen Existenz und Rolle transparent macht, ist nicht zufällig unter dem Eindruck des Krieges entwickelt worden. In Huis clos wählt Sartre, wie übrigens auch am Ende von Les séquestrés d’Altona und dem Filmdrehbuch Les jeux sont faits, das Motiv des ,Schon tot‘, des Lebens post mortem, um so die Verstetigung von Rollenverkrustungen vorzuführen. Weil die drei Insassen tot sind, können sie dem Urteil, das sich die Andern – ihre Familien, ihre Partner –, also die Lebenden, von ihnen, den Toten, bilden, nicht durch weitere Handlungen entgehen. Sie sind dazu verurteilt, ständig Filmszenen des Lebens, das ohne sie und gegen ihren Willen weiterläuft, from beyond the grave zu halluzinieren. In seinem Kommentar zu Huis clos schreibt Sartre: Natürlich, ,tot‘ symbolisiert hier etwas. Ich wollte einfach zeigen, daß viele Leute in einer Reihe von Gewohnheiten und Gebräuchen verkrustet sind, daß sie Urteile über sich haben, unter denen sie leiden, die sie aber nicht einmal zu verändern versuchen. Und diese Leute sind wie tot. Insofern sie den Rahmen ihrer Probleme, ihrer Ambitionen und ihrer Gewohnheiten nicht durchbrechen können und daher oft Opfer der Urteile bleiben, die man über sie gefällt
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hat. [...] damit soll gesagt werden, daß es ein lebendiges Totsein ist, wenn man von der ständigen Sorge um Urteile und Handlungen umgeben ist, die man nicht verändern will. So daß ich, da wir ja lebendig sind, durch das Absurde die Bedeutung der Freiheit habe 15 zeigen wollen [...].
Phantome des Blicks: Les jeux sont faits In seinem Drehbuch Les jeux sont faits, das Jean Delannoy 1947 verfilmt hat, konfrontiert Sartre die Sphäre der Lebenden und Toten miteinander, indem er zwei Ebenen, die Realität und die Traumwelt des Hades, aufeinandertreffen lässt:16 Die Frau eines faschistischen Kommandanten und ein proletarischer Dissident werden zur gleichen Zeit ermordet. Sie wird von ihrem Ehemann vergiftet; er von einem Denunzianten erschossen. Eine Beamtin, die für den Übertritt vom Leben zum Tode zuständig ist und die Registrierung der Toten vornimmt, bemerkt einen Irrtum ihrer ,Behörde‘. Beide sind im Leben eigentlich füreinander bestimmt gewesen und bekommen nun die Chance, in ihr Leben zurückzukehren, vorausgesetzt, sie stellen binnen 24 Stunden unter Beweis, dass sie sich uneingeschränkt lieben. Kein Misstrauen darf sich zwischen ihnen einschleichen. Doch beide scheitern, weil sie sich nicht von ihren Verpflichtungen und Bindungen lösen können. Sie müssen daher endgültig in die Welt der Schatten zurückkehren. Die Gespenster, die Verstorbenen, die dort umherwandeln, können sich lediglich miteinander unterhalten und sich frei unter den Lebenden bewegen, sie haben aber nicht die Möglichkeit, selbst zu handeln, die Wirklichkeit, die Geschichte zu beeinflussen. Sie sind zu Phantomen, zu Voyeuren einer Szenerie verdammt und müssen ohnmächtig hinnehmen, wie die Welt ihren Lauf nimmt. Das Medium Film kann durch Montage, subjektive und objektive Kamera, Großaufnahme etc. in besonderer Weise die Thematik des Blicks, die Geometrie des Sehens und Gesehen-Werdens, den Chiasmus der Blicke darstellen. Der filmische Blick bezeugt die ‚transcendance de l’ego‘, die Ungreifbarkeit der Rollenprojekte. Man kann am Leben ver15 Sartre, Jean-Paul: „Jean-Paul Sartre über Geschlossene Gesellschaft“, in: ders.: Geschlossene Gesellschaft. Stück in einem Akt, Neuübersetzung von Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 60-63, hier S. 62. 16 „Die durchgehend binäre Struktur von Drehbuch und Film“, schreibt FranzJosef Albersmeier, „zieht quasi zwangsläufig die Technik der alterniederenden Montage nach sich.“ Dies führe zu einer „Atomisierung des Raum-ZeitKontinuums“, die sich „im Medium des Films zugleich rationeller und effektvoller als auf der Bühne einrichten ließ.“ (Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992, S. 240f.)
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zweifeln, aber niemals wählen, schon tot zu sein: „nur die Toten“, schreibt Sartre, „sind ständig Objekte, ohne jemals Subjekte zu werden – denn Sterben heißt nicht seine innerweltliche Objektivität verlieren: alle Toten sind da, in der Welt um uns herum [...].“17
Literatur Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992. James, Henry: Aperns Nachlass, Frankfurt a.M./Berlin 1996. Peeters, Benoît: Recht auf Einsicht. Mit einer Lektüre von Jacques Derrida, Graz/Wien 1985. Sartre, Jean-Paul: Œuvres romanesques. Michel Contat/Michel Rybalka (Hrsg.), Paris 1981. Sartre, Jean-Paul: „Jean-Paul Sartre über Geschlossene Gesellschaft“, in: ders.: Geschlossene Gesellschaft. Stück in einem Akt, Neuübersetzung von Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 60-63. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 1994. Sartre, Jean-Paul: „Gesichter“, in: ders.: Philosophische Schriften I: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1939, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 327-333. Volker Roloff: „Le rouge et le noir als Lektüreroman: Soziale, imaginäre und literarische Rollenspiele”, in: Anja Bandau/Andreas Gelz/Susanne Kleinert/Sabine Zangenfeind (Hrsg.): Korrespondenzen. Literarische Imagination und kultureller Dialog in der Romania. Festschrift für Helene Harth, Tübingen 2000, S. 139-156. Wellershoff, Dieter: Der verstörte Eros. Zur Literatur des Begehrens, Köln 2001. 17 Sartre 1994, S. 530. Dass das Motiv des ,Schon tot‘, besonders die Begegnung von Diesseits und Jenseits, Lebenden und Toten, in der Literatur (in der Nachfolge der Divina Commedia) und im Film bis heute seinen Reiz nicht verloren hat, belegen verschiedene, auch aktuelle Filme wie Night Shyamalans THE SIXTH SENSE (1999), Amenábars THE OTHERS (2001), Kore-Edas AFTER LIFE (1998/2003) u.a. Eine besondere Note erhält das Motiv in den späten Theater- und Fernsehstücken von Samuel Beckett, dem großen Dante-Verehrer: Hier lässt sich eine Grenze zwischen Lebenden, Toten und Untoten gar nicht mehr (bei Sartre zumindest noch dramaturgisch-strukturell) bestimmen.
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ÜBERHOLTE KÖRPER? MENSCH UND MECHANIK IM AVANTGARDEFILM DER 20ER JAHRE Abstract Sous l’angle de l’anthropologie culturelle, on peut considérer la cinématographie des années vingt comme un moyen privilégié d’évoquer une fuite imaginaire de l’homme. Un artiste d’avant-garde tel que Fernand Léger réagit contre la violence de la modernisation qu’il avait lui-même vécue pendant la première guerre mondiale, et formula l’image de l’homme sous une forme plus réifiée, plus mécanique et médiatisée. Dans ce sens, le court métrage BALLET MÉCANIQUE utilise le cinéma comme un art véhiculaire extrêmement dynamique. Léger renforce ses essais picturaux et scéniques et rend encore plus efficace et impressionnant ce qu’il avait réalisé jusqu’alors d’une manière plus transmédiale qu’intermédiale. Son concept de la cinématographie force l’homme et son corps à concurrencer la machine et son pouvoir mécanique. La chosification de soi-même devient l’unique stratégie capable de maîtriser la vitesse de la modernité accélérée. Bien qu’ENTR’ACTE – un film réalisé par René Clair et Francis Picabia et présenté dans le ballet théâtral RELACHE – reste lui aussi imprégné par le mouvement moderne qui se caractérise par la rupture et la discontinuité, le problème d’une image de l’homme devant la machine obtient alors un aspect tout à fait nouveau. Le corps humain n’apparaît plus comme une relique dépassée, mais devient davantage un matériau sémantique avec lequel il est possible de jouer. Ce faisant, les deux artistes utilisent le potentiel narratif et illusionniste du cinéma afin de stimuler chez le spectateur le désir d’observer et d’interpréter les images, pour enfin le décevoir profondément. Aus kulturanthropologischer Perspektive lässt sich Kinematographie in den 20er Jahren als ein privilegiertes Medium für Imaginationen der Menschen-Flucht verstehen. Avantgardekünstler wie Fernand Léger reagierten auf das Gewaltpotential der Moderne, das sie im Weltkrieg hautnah erlebt hatten, mit einer Arbeit am Menschen-Bild, die auf Versachlichung, Mechanisierung und Medialisierung hinauslief. Der Film BALLET MÉCANIQUE erscheint in diesem Sinne als ein besonders ‚schnelles‘ Medium, in dem sich die bisherige, trans-medial angelegten Experimente des Künstlers noch einmal steigern ließen und zu besonderer Wirksamkeit gelangten. Der menschliche Körper tritt in dieser Konzeption des Kinematographischen in direkte agonale Konkurrenz zum Mechanischen,
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Selbst-Verdinglichung erscheint als die einzige Strategie, um der Beschleunigung der Moderne noch Herr werden zu können. René Clairs und Francis Picabias ENTR’ACTE ist zwar ebenfalls von einem modernen, von Unterbrechung und Diskontinuität gekennzeichneten Bewegungskonzept geprägt, treibt die künstlerische Arbeit an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine jedoch in andere Richtung weiter: der Körper des Menschen wird hier nicht als ein zu überholendes Relikt aufgefasst, sondern als semantisches Material, mit dem sich ein komisches Spiel treiben lässt. Dabei wird am illusionär-naturalistischen Erzählpotential des Filmischen festgehalten, um die Sinnsuche des Zuschauers zusammen mit seinen Sehnsüchten nur umso gründlicher enttäuschen zu können.
1.
Flucht-Medien: Avantgarde als anthropofugale Bewegungskunst
Wenn überhaupt je sinnvoll der Aufstieg eines Mediums zum Leitmedium seiner Zeit proklamiert wurde, so geschah dies zu Recht im Bezug auf das Kino nach dem Ersten Weltkrieg, als es einen rasanten gesellschaftlichen Statuswandel erlebte und definitiv nicht mehr nur als ökonomisch bedeutsame Institution der Unterhaltung diskutiert, sondern auch als Kulturfaktor und ästhetisches Ausdrucksmittel ernst genommen wurde. Der Film rückte vom Rande langsam ins Zentrum kulturtheoretischer Diskurse und gerade in Frankreich geschah die Etablierung und Ausweitung von publizistischen Foren, die der ‚7. Kunst‘ gewidmet waren, mit erstaunlicher Geschwindigkeit.1 Vom Petit Parisien bis zum ‚großen‘ Figaro richteten immer mehr Zeitungen und Zeitschriften feste Filmrubriken ein, es entstanden nunmehr auch erste spezialisierte Kinozeitschriften (allen voran Ricciotto Canudos Gazette du Septième Art, der freilich kein langes Leben beschieden war) und man gründete CineClubs, in denen neue und künstlerisch anspruchsvolle Filme einem cineastischen Publikum vorgestellt wurden (Théâtre du Vieux Colombier, Studio des Ursulines etc.). Es ist nicht verwunderlich, dass die steigende feuilletonistische Akzeptanz einherging mit sich häufenden kulturpessimistischen Klagen, die den Untergang der ‚alten‘ Kunst-Medien befürchteten. Insbesondere das Theater sah sich von der Dynamik der zum Laufen gebrachten Bilder bedroht, denen es zwar den performativen Live1 Richard Abel etwa, der eine zweibändige Anthologie filmtheoretischer Texte aus Frankreich aus dem Zeitraum von 1907-1939 herausgegeben hat, spricht bei seiner Übersicht der Entwicklung von einer „dramatischen“ Expansion gerade in der Phase zwischen 1920 und 1924. Vgl. Abel, Richard: French Film Theory and Criticism. A History/Anthology 1907-1939, Princeton, New Jersey 1988, Bd. 1, S. 195.
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Effekt des Präsentischen voraushatte, deren Perspektivenreichtum und höhere chronotopische Flexibilität, die gerade in den zwanziger Jahren mit der systematischen Exploration des Montageprinzips deutlich wurden, es jedoch wenig entgegenzusetzen hatte. Die Geschwindigkeitsmetaphorik, der ich mich hier bediene, um die zunehmende Medienkonkurrenz zwischen Kino und Theater zu thematisieren, war in den Roaring Twenties nicht nur topisch, sondern auch symptomatisch für die kulturelle Selbsteinschätzung der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Das Tempo jener Zeit war den ihm unterworfenen Subjekten nicht nur ‚keine Kleinigkeit‘, sondern gewissermaßen der kategorische Imperativ, an dem sie nicht nur ihre wirtschaftlich-industrielle, soziale und künstlerische Produktivitätskraft, sondern ihr Leben schlechthin maßen. Beim Vergleich von szenisch-präsentischem und elektronisch-repräsentierendem Medium schien es keine Frage, wer die Geschwindigkeit und damit Modernität auf seiner Seite hatte: „Le cinéma, c’est l’âge de la machine. Le théâtre, c’est l’âge du cheval“ verkündete Fernand Léger etwa im Rückblick auf die dynamische Entwicklung des Kinos in den zwanziger Jahren und begründete seine apodiktische Epochen-Scheidung wie folgt: Le cinéma a 30 ans, il est jeune, moderne, libre et sans traditions [...] À côté de lui, dans la même rue, le théâtre „a l’air“ d’un vieux truc solennel et lent, un peu moisi, fatigué, et qui marche à pied. Le cinéma et l’aviation vont bras dessus bras dessous dans la vie, ils 2 sont nés le même jour... La Vitesse est la loi du monde.
Selbstverständlich gehen derartig emphatische Verkündungen eines medialen Paradigmenwechsels an der empirischen Realität vorbei, die von einer hochkomplexen intermedialen Gemengelage zwischen Theater und Film gerade in dieser Phase verstärkter Konkurrenz gekennzeichnet war. Das Verhältnis zwischen den rivalisierenden Medien war weniger von einer eindeutigen Substitution und Ablösung als vielmehr von einer nur scheinbar paradoxen Gleichzeitigkeit von Abgrenzungsbemühungen, strategischer Arbeitsteilung und synergetischer Zusammenarbeit gekennzeichnet.3 Bemerkenswert ist Légers Aufsatz „À propos du cinéma“ aber 2 Léger, Fernand: „À propos du cinéma“, in: Plans, Nr. 1 (1931), S. 80-84. Zit. nach Léger, Fernand: Fonctions de la peinture. Sylvie Forestier (Hrsg.), Paris 1997, S. 165 und 163. 3 Einen guten und differenzierten Überblick der Gemengelage bietet beispielsweise Claudine Amiard-Chevrel: „Frères ennemis ou faux frères ? (Théâtre et cinéma avant le parlant)“, in: dies. (Hrsg.): Théâtre et cinéma
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auch gar nicht aufgrund seines (fehlenden) Empiriegehalts, sondern als Ausdruck imaginärer kultureller Wünsche und Ängste, die in der Moderne stets mit der gesellschaftlichen Etablierung neuer Medien einhergehen. Kulturanthropologisch betrachtet avancierte das Kino in den 20er Jahren in diesem Sinne zu einem privilegierten Medium, in dessen Bildproduktion ein kulturelles Imaginäres sichtbar wird, das sich längst schon in anderen Formen und Medien auf je unterschiedliche Weise seinen Ausdruck verschafft hatte. Ausgehend von dieser Prämisse will ich mich im Folgenden auf einen Aspekt konzentrieren, der mir besonders kennzeichnend für die Künste der Avantgarden im Umfeld des Ersten Weltkriegs zu sein scheint und den ich mit dem Stichwort der ‚Menschen-Flucht‘ belegen möchte: Eine doppeldeutige Flucht als Flucht des Menschen vor dem Menschen im Sinne eines aufklärerischen Selbstbildes, das von der Ganzheitlichkeit und Einheit des humanen Subjektes ausgeht. Schon Nietzsche hatte in Frontstellung gegen ein solches humanistisches Ideal die Selbst-Überwindung des Menschen propagiert und die Avantgardebewegungen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts formierten, wurden nicht müde, nach adäquaten Kunst-Formen für die symbolische Verwirklichung dieses Anspruches zu suchen. „Avant tout, les artistes sont des hommes qui veulent devenir inhumains“ hatte Apollinaire schon 1908 in einem Artikel anlässlich der 3. Ausstellung des Cercle de l’art moderne apodiktisch diese Zielsetzung formuliert4 und spätestens mit dem Erscheinen von José Ortega y Gassets Deshumanización del arte (1925) wurde die Menschen-Flüchtigkeit der ‚neuen Kunst‘ zum Begriff der zeitgenössischen Kunsttheorie. Wesentlich bei der Bestimmung der damit bezeichneten ästhetischen Tendenz ist für Ortega y Gasset dabei, dass die humane Gestalt als Ausgangspunkt des künstlerischen Deformationsprozesses sichtbar bleibt. Als Überwundenes muss sie noch erinnert werden und als von der Kunst freiwillig hingegebenes Opfer noch erkennbar bleiben: „El placer estético para el artista nuevo emana de ese triunfo sobre lo humano; por eso es preciso concretar la victoria y presentar en cada caso la víctima estrangulada”5. Der Sadismus dieser Formulierung ist bewusst kalkuliert und soll als sprachliche Gewaltsamkeit années vingt. Une quête de la modernité, o. O. 1990, Bd. 1, S. 9-32. Empfehlenswert ist auch das entsprechende Kapitel (Kapitel 1) in Franz-Josef Albersmeiers verdienstvoller Studie Theater, Film und Literatur in Frankreich: Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992. 4 Apollinaire, Guillaume: „Les trois vertus plastiques“, in: ders.: Chroniques d’art 1902-1918. L.-C. Breunig (Hrsg.), Paris 1981, S. 74. 5 Ortega y Gasset, José: La deshumanización del arte, Madrid 1958, S. 22.
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etwas von dem Schockpotential aufnehmen, das die anti-mimetischen Experimente der Avantgarde-Künste nicht nur in den Augen des spanischen Philosophen kennzeichnete. Seine die im engeren Sinne kunsttheoretischen Ausführungen einleitenden phänomenologischen Reflexionen über die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Wahrnehmung der Agonie eines „hombre ilustre“ sollen verdeutlichen, dass künstlerische Abstraktion nicht als ‚reine‘ Form zu konzipieren ist, sondern als Ende eines Prozesses künstlicher Deformation, dank derer der Schmerz über den Verlust des Menschlichen überholt wird: „en el pintor hemos llegado al máximum de distancia y al mínimum de intervención sentimental“.6 Propagiert wird hier genau der distanziert-schmerzfreie Blick, auf den die Verhaltenslehren der ‚Neuen Sachlichkeit‘ nach dem Krieg schlechthin zielten, folgt man den Ausführungen Helmut Lethens.7 Die Apparatur der Foto- oder Filmkamera wurde bei diesem Wunsch nach Schmerzfreiheit zum unerreichten, aber anzustrebenden mechanischen Modell und VorBild einer veränderten Wahrnehmungsweise, wie sie auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges zur reinen Überlebensnotwendigkeit geworden war. Fernand Légers Schilderungen seiner Eindrücke von der nach monatelangen Artilleriegefechten zur Wüste gewordenen Front um Verdun bieten dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Ich zitiere in extenso: J’ai marché droit dessus en regardant bien où j’étais et ce sur quoi je marchais. Les débris humains commencent à apparaître aussitôt que l’on quitte la zone où il y a encore un chemin. J’ai vu des choses excessivement curieuses. Des têtes d’homme presque momifiées émergeant de la boue. C’est tout petit dans cette mer de terre. On croirait des enfants. Les mains surtout sont extraordinaires. Il y a des mains dont j’aurais voulu prendre la photo exacte. 8 C’est ce qu’il y a de plus expressif.
Der Erzähler beginnt seine Reise durch das verlassene Schlachtfeld als ein Schnappschussjäger, auf der Suche nach expressiven Objekten, die er dank seines neusachlich-unsentimentalen Blicks, in dem sich die Professionalität des Malers mit der des an Leichenteile gewöhnten Sanitätsträgers kreuzt, in den Fragmenten dessen zu erkennen vermag, was einmal ganze menschliche Körper waren. Der „petit voyage“ endet jedoch nicht so makaber-pittoresk, wie er begonnen hat. Das scheinbar nur
6 Ebd., S. 16. 7 Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994. 8 Léger, Fernand: Une correspondance de guerre à Louis Poughon, 19141918. Christian Derouet (Hrsg.), Paris 1990, S. 66.
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betrachtende Wahrnehmungssubjekt gerät plötzlich selbst in Gefahr, zum Teil der nature morte des Schlachtfeldes zu werden und im Schlamm zu versinken, in den sich die Erde nach der Destruktionsarbeit des Krieges verwandelt hat: J’ai été enlisé deux fois malgré mes précautions. J’ai été pris dans la boue une jambe jusqu’au genou et l’autre à mi-jambe. J’ai essayé de me remonter avec les mains. J’ai pas pu. [...] alors j’ai fait ce que font les brancardiers pour dégager un type, je me suis couché à plat ventre et, les bras étendus, j’ai dégagé mes jambes. Je t’avoue que j’ai eu un moment de frousse intense. Je ne referai jamais un 9 voyage comme celui-là tout seul.
Léger belässt es jedoch nicht dabei, seinem Brieffreund mit dieser Geschichte vorzuführen, wie man durch eine geistesgegenwärtige Mimesis den Tod überlebt (er streckt sich auf den Boden aus, als sei er selbst ein Leichnam und wendet damit eine Technik an, welche Sanitäter sonst bei der Exhumierung zumeist toter oder verwunderter Menschen anwenden). Diesem Bericht, mit dem der Erzähler eine Art Allegorisierung des eigenen Leibs vollzieht, folgt am Ende die neusachliche Kälte-Lehre, die er aus seiner Reiseerfahrung zieht und auf der er ganz explizit insistiert: Je suis resté le temps qu’il fallait pour bien voir, regarder, voir encore tout l’horrible du spectacle. Pour être sûr de la chose, pour avoir une idée absolument et rigoureusement nette du drame. [...] Eh! Bien, mon vieux, dans tout cela, dans ce mélange de viande pourrie et de boue, des fantassins commençaient un peu au-dessus à creuser de nouvelles tranchées! Ils recommençaient. Ce recommencement au même endroit par ces hommes-là, tu ne trouves pas cela formidable! Eux, ils ne le trouvent pas, eux. Ils faisaient leur boulot tranquillement. […] Eux, ils sont là-dedans, ils y sont encore. Ils doivent rester 4 jours! Ils se font un abri et, comme ils n’ont pas de planches, sais-tu ce qu’ils font? Je t’ai dit qu’il y avait des tas de bottes avec leurs jambes, eh! Bien, ils en mettent 4 ou 8 en deux rangées, on charge la terre dessus, et voilà. Au revoir, mon vieux, ma lettre est très longue, mais c’est une promenade que je 10 voulais te raconter.
Die Infanteristen, die sich unbeeindruckt von der Präsenz des Todes voller Vitalismus ans Ausheben neuer Schützengräben machen, haben die Panzerung gegen Mitleid und Sentiment, die der Sanitäter und Maler lediglich in einem Sinne, seinem Seh-Sinn nämlich erreicht hat, auf das Vollkommenste vollzogen. Ihnen ist die mechanisch destruktive Kriegs9 Ebd., S. 67. 10 Ebd.
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Arbeit schon so sehr zur zweiten Natur geworden, dass sie die Reste vom ‚ganzen Mensch‘ nicht nur als Objekte wahrzunehmen vermögen, sondern auch dementsprechend behandeln: als reines Material. Dieser Frontbrief Légers verdient eine so ausführliche Analyse, zeigt er doch nicht nur den Abgrund an Realität, auf dem die Imaginationen einer Ent-Menschlichung der Kunst spätestens nach den Erfahrungen, die im Weltkrieg gemacht werden konnten, beruhen, sondern auch eine Selbst-Anästhesierung des Künstlers, die schon erstaunenswert ist, wenn man bedenkt, dass – anders etwa als im Falle der Stahlgewitter Ernst Jüngers, in denen eine ähnliche Wahrnehmung jenseits des Schmerzes kultiviert wird – zwischen dem Erlebnis und seiner Niederschrift extrem wenig Zeit vergangen und damit kaum Möglichkeit zur literarischen Stilisierung ex post vorhanden ist. Was bei Ortega y Gasset noch lediglich als rhetorische Aufrüstung und bewusst kalkulierte Schockstrategie erscheinen mag, wenn er etwa beiläufig davon spricht, mit den neuen Künstlern könne man nur zwei Dinge tun: sie erschießen oder versuchen, sie zu verstehen11 – dieses ‚Spiel‘ mit dem Tode war für Avantgardisten wie Léger, die den Krieg überlebten, bis zum äußersten mit Erfahrung gesättigt. Gerade sein Beispiel verdeutlicht dabei, dass der Krieg weniger als Zäsur denn als Katalysator eines kulturellen Imaginären wirkte, das sich an einer spezifisch modernen Gewalterfahrung abarbeitete, die in den militärischen Destruktionsexzessen, in denen der Mensch ganz unmittelbar zum Material geworden war, nicht ihren Grund hatte, wohl aber eine drastische qualitative Zuspitzung erfuhr und zum Trauma wurde. Trotz der von Léger selbst geäußerten und in der Forschung fleißig wiederholten Auffassung vom nachhaltigen künstlerischen Wandel durch den Krieg, der eine „Rückkehr zum Sujet“ bewirkt habe,12 kann gerade an seinem Beispiel gezeigt werden, dass die anthropofugale Tendenz der Avantgardekunst, die sich im italienischen Futurismus schon vor dem Ersten Weltkrieg mit aller Deutlichkeit manifestiert hatte, eine Verbindung zwischen Vor- und Nachkriegszeit bildete. Abgesehen von der Tatsache, dass noch während des Krieges gegenteilige Äußerungen des Künstlers überliefert sind, die
11 „Con estos jóvenes cabe hacer una de dos cosas: o fusilarlos o esforzarse en comprenderlos“ (Ortega y Gasset 1958, S. 11f.). 12 Von der „Rückkehr zum Sujet“ sprach Léger in einem Brief an Kahnweiler vom 11. Dezember 1919, den dieser in einem Nachruf auf den Maler erwähnte. Zit. nach Green, Christopher: „Krieg und Frieden in Légers Malerei 1914-1920“, in: Fernand Léger. Der Rhythmus des modernen Lebens 19111924. Dorothy Kosinski (Hrsg.), München/New York 1994, S. 45 (Anm. 3).
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gerade die ungebrochene Kontinuität seines Schaffens betonen,13 lässt sich die Menschen-Flucht durch den Krieg hindurch formal recht anschaulich an der Motivreihe der Escalier-Bilder nachweisen. Die Treppe wird dabei zur Brücke, über die der ‚tubistisch‘-abstrahierte,14 roboterhafte Menschen-Körper der Vorkriegszeit (vgl. Abb. 1) in den Krieg schritt, in dem er zum nicht weniger maschinell in der Destruktionsmaschinerie arbeitenden „kubistischen“ Soldaten (Abb. 2) oder aber zum von dieser Maschinerie fragmentierten Opfer (Abb. 3) wurde, um am Ende als Überlebender in der Stadt der Nachkriegszeit seltsam isoliert und bezugslos im Gewirr abstrakter Formen und Zeichen wieder aufzutauchen (Abb. 4). Abbildung 1: Fernand Léger, L’Escalier (1914) Öl auf Leinwand, 144,5 x 93,5 cm, Moderna Museet, Stockholm Abbildung 2: Fernand Léger, Soldat „Cubiste“ (Verso), Kreide auf Papier, 16,8 x 12,1 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris
13 So schrieb er etwa am 14. November 1915 an Nils de Dardel, nachdem dieser eine Kriegscollage Légers erstanden hatte: „Es sind ziemlich abstrakte Versuche (Form- und Farbkontraste), die ich in einem großen Gemälde mit dem Titel ‚Die Treppe‘ ausführen wollte. Der Krieg kam dazwischen und hat die Realisierung verhindert. Der Krieg kam für mich zu spät, um mich noch zu beeinflussen. Ich setzte meine Bemühungen in derselben Richtung fort“. In Ermangelung der Originalquelle (der Brief befindet sich im Archiv Thora Dardel-Hamilton, Stockholm) zitiere ich in deutscher Übersetzung aus dem Katalog Kosinski 1994, S. 68. 14 Aufgrund der Vorliebe des Malers für röhrenartige Formen hatten schon die Zeitgenossen für Légers kubistische Bilder eigens das Spottwort „tubisme“ ersonnen.
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Abbildung 3: Fernand Léger, Les Deux tués (1916), braune Tusche und Bleistift auf Postkarte, 12,3 x 8,9 cm, Standort unbekannt Abbildung 4: Detail aus Fernand Léger, La Ville (1919), Öl auf Leinwand, 231 x 298,5 cm, Philadelphia Museum of Art, A.E. Gallatin Collection
Die hier veranschaulichte Flucht-Linie15 endete freilich nicht mit dem Wiederauftauchen des mechanisierten Menschen in der Stadt. Der Krieg geht für Léger ganz entschieden weiter, lediglich ein Niveauwechsel habe stattgefunden und der „homme moderne“ befinde sich nun „sur un autre plateau où la guerre économique ne lui laisse pas de répit, c’est un autre état de guerre aussi impitoyable que le premier“.16 Die Worte fallen im Kontext eines Vortrags, den er zur Eröffnung der Wiener Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik im September 1924 hielt und der unter dem Titel „Das Schauspiel, Licht, Farbe, Film“ im Ausstellungskatalog auch auf deutsch veröffentlicht wurde,17 auf dem Höhepunkt einer 15 Die von mir zusammengestellte Bildsynthese hat hier eher illustrierenden als argumentativen Charakter. Aus kunsthistorischer Perspektive hat Dieter Koepplin die behauptete Brücke über den Krieg hinweg nachgewiesen: „Eléments mécaniques: Brücke zwischen Légers Kunst vor und nach dem Krieg“, in: Kosinski 1994, S. 219-229. Im gleichen Katalog betont auch Christopher Green die „Kontinuität zwischen 1914 und 1919“, die das Escalier-Motiv bezeugt (ebd., S. 47). 16 Léger, Fernand: „Le spectacle, lumière, couleur, image mobile, objet-spectacle“, in: Léger 1997, S. 115f. 17 Die zitierte Passage findet sich allerdings nicht in der gekürzten Version des Vortrags im Katalog. Eine vollständige Übersetzung erschien dann unter
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Phase, in der sich der Künstler den Medien Theater und Film zugewandt hatte, um mit ihrer Hilfe sein in der Malerei erprobtes maschinisiertes Menschen-Bild weiterzutreiben und in Bewegung zu setzen. Das MECHANISCHE BALLET, das auf der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik seine Erstaufführung erlebte, kann, trotz seiner vergleichsweise geringen Öffentlichkeitswirkung, als ein paradigmatisches Beispiel für die Arbeit der Filmavantgarde dieser Zeit an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine gelten. Der Film ist dabei zum einen interessant in seiner Eigenschaft als Kreuzungspunkt der Medien, an dem auf intrikate Weise neben Film und Tanz-Theater, die schon über den Titel in Beziehung zueinander gesetzt sind, indirekt auch noch drei weitere Künste zusammentreffen: Malerei (Léger fertigte zunächst malerische Skizzen als Vorbereitung zum Film an)18, Musik (George Antheil komponierte ein gleichnamiges Stück, das mit den Bildern synchronisiert werden sollte) und Photographie (einige Aufnahmen des Films setzen die Prismentechnik des sogenannten ‚Vortoskopen‘ ein, die Alvin Landon Coburn im Rahmen der englischen Vortex-Avantgarde entwickelt hatte).19 Darüber hinaus stellt BALLET MÉCANIQUE ein hochgradig intersubjektives Werk dar, an dessen Entstehung und ästhetischer Konzeption mehrere Avantgardekünstler aus Frankreich und Amerika beteiligt waren20 und das somit zugleich als ein Exempel für die Transnationalität der Avantgarde in dieser Zeit gelten kann.21 dem Titel „Conférance über die Schau-Bühne“, in: Europa Almanach, Potsdam 1925, S. 119-132. 18 Abbildungen finden sich u.a. bei Lawder, Standish D.: The Cubist Cinema, New York 1975, S. 128f. 19 Coburn beschreibt das Instrument selbst wie folgt: „Zu diesem Ende erfand ich 1916 das Vortoskop. Dies Instrument besteht aus drei Spiegeln, die in der Form eines Dreiecks zusammengebaut sind, in etwa vergleichbar einem Kaleidoskop – und ich glaube, viele von uns erinnern sich noch an die Freude, die wir an diesem wissenschaflichen Spielzeug hatten. Das Vortoskop funktioniert als Prisma, das das Bild auf der Linse aufspaltet“. Zit. nach Hesse, Eva: Die Achse Avantgarde – Faschismus. Reflexionen über Filippo Tommaso Marinetti und Ezra Pound, Zürich/Hamburg 1991, S. 35. Zu Coburns Vortographie insgesamt vgl. Groth, Peter: Der Vortizismus in Literatur, Kunst und Wissenschaft. Studien zur Bewegung der ‚Men of 1914‘ Ezra Pound, Wyndham Lewis, Gaudier-Brzeska, T.S. Eliot u.a., Hamburg 1972, S. 159-163. 20 Ein Ausgangspunkt des Films war ein Projekt, das Man Ray und Dudley Murphy bereits 1920 gemeinsam ausgeheckt hatten, ein zweiter George Antheils Musik während eines Konzerts im Théâtre des Champs-Elysées. Ezra Pound wirkte als Vermittler im Hintergrund und holte nicht nur Antheil nach Europa, sondern brachte auch Léger als möglichen Finanzier ins Spiel. Als Produzenten im engeren Sinne wirkten dann Dudley Murphy
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Légers BALLET MÉCANIQUE: Körper-Bewegung zwischen Mensch und Maschine
Intermedialität ist dem Film als Bezug zum Theater, wie schon erwähnt, über die Semantik des Titels direkt eingeschrieben und wird kontextuell durch den Umstand seiner Erstaufführung im Rahmen einer Ausstellung zur Theatertechnik noch zusätzlich bestärkt. Dass dabei der Tanz als Verbindungsglied zwischen elektronischem und szenischem Medium wirkt, kann als symptomatisch gelten für die Position der Avantgarde, die sich schon seit langem um eine systematische Austreibung des Wortes aus dem Theater bemühte. Unter dem Stichwort der „Retheatralisierung“ des Theaters (Georg Fuchs) bemühte man sich schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts, die Zentriertheit des Sprechtheaters auf die diskursive Vernunft zu überwinden und es wieder von seinen elementaren Materialien her – d.h. neben der szenischen Gestaltung in erster Linie dem Körper und seinen Bewegungsmöglichkeiten – neu zu konzipieren. Desemantisierung der Sprache und Semantisierung des Körpers gingen dabei Hand in Hand und der Bruch mit dem Wort setzte eine Arbeit an neuen
und Léger, die beide im Rückblick ihre enge Zusammenarbeit betonten. Auch Charles Delacommune ist als Mitarbeiter zu erwähnen, der sich um Synchronisierung von Bild und Ton kümmern sollte. Bei seiner Uraufführung blieb der Film jedoch stumm. Eine tonsychronisierte Version, die über viele Zwischenschritte rekonstruiert wurde, erlebte erst im Jahr 2001 ihre Premiere. Vgl. dazu die Informationen von Paul D. Lehrmann, der für die Digitalisierung der Musik Antheils maßgeblich verantwortlich war, unter http://www.antheil.org, 19.11.2003. Zur Entstehungsgeschichte des Films vgl. insbesondere Freeman, Judi: „Bridging Purism and Surrealism: The Origins and Production of Fernand Leger’s ‚Ballet Mécanique‘“, in: Dada/Surrealism, Nr. 15 (1986), S. 28-45, sowie die entsprechenden Abschnitte bei Lawder 1975, S. 117ff. und Gwinner, Alexa: Ballet mécanique. Ein Avantgardefilm der Zwanziger Jahre, Magisterarbeit an der RuprechtKarls-Universität Heidelberg 1999, Kap. 3.1. Die Arbeiten von Lawder und Gwinner stellen die Ausgangsbasis der nachfolgenden Ausführungen dar. 21 Auf die „Übernationalität“ der historischen Avantgarden hat zuletzt Hubert van den Berg hingewiesen, der mit Bezug auf den Konstruktivismus zu Recht die dem Phänomen nicht angemessene, aber nach wie vor vorherrschende nationale Parzellierung der Literaturwissenschaft kritisiert hat: „Übernationalität der Avantgarde – (Inter-)Nationalität der Forschung. Hinweis auf den internationalen Konstruktivismus in der europäischen Literatur und die Problematik ihrer literaturwissenschaftlichen Erfassung“, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 255-288.
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Körper- und Bewegungskonzepten frei.22 In dieser Neuausrichtung der Theater-Avantgarde lag es begründet, dass sie ein Bündnis mit dem Tanz einging und zugleich die Bewegungs-Möglichkeiten zu nutzen begann, die auf den Bühnen der ‚leichten Muse‘, in Zirkus, Varieté und MusicHall entwickelt worden waren. Die Hinwendung zum Körper folgte sicherlich noch stark dem subjekt- und kulturkritischen Impuls Nietzsches, der mit Nachdruck und in Abgrenzung zur humanistischen Tradition empfohlen hatte, den Menschen mit Hilfe der „Vernunft des Leibes“ zu verstehen, aber dieser Leib war spätestens mit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr als ganzer zu denken. Die Körperkonzeption der (Tanz-)Theater-Avantgarde lief dementsprechend auf ein ‚skroboskopisches Prinzip‘, ein von Bruch, Unterbrechung und technischer Medialisierung gekennzeichnetes Bewegungskonzept hinaus.23 Légers BALLET MÉCANIQUE ist dabei so etwas wie die Quintessenz solcher skroboskopischen Bewegungskunst, an der die Avantgarde zeitgleich und parallel in den verschiedensten Medien arbeitete. Es ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass die Suche nach neuen Formen der Bewegung, mit der man die als Bruch und Dissonanz erlebte Geschwindigkeit der Moderne abbilden und sich ihr ausliefern, doch zugleich auch symbolisch aneignen und ihr damit Herr werden könne, nicht nur intermedial verlief, sondern strukturell transmedialen Charakter besaß, da weniger die Relationierung einzelner Medien und ihre wechselseitige Beeinflussung das Ziel war als vielmehr die Imagination eines flüchtigen und vor sich selbst fliehenden Menschen, dessen Lauf in Richtung einer un-, bzw. übermenschlichen Verdinglichung in den unterschiedlichsten Bildern symbolisiert werden konnte. Légers Arbeiten sind in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchweg von dieser strukturellen Trans- bzw. Übermedialität gekennzeichnet: Sei es, dass er mit Illustrationen zu Büchern von Blaise Cendrars (La Fin du monde filmée par l’ange Notre-Dame, 1919) und Yvan Goll (Die Chapliniade. Eine Kinodichtung, 1920), die sich beide an einem filmischen Schreiben erprobten, die Inszenierung des Filmischen im Medium
22 Zu dieser Thematik vgl. den sehr gelungenen Überblick von Erika FischerLichte: Geschichte des Dramas, Bd. 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart, Tübingen 1990, Kapitel 5.1, sowie meine eigene Fallstudie: „Material Mensch. Zur Inszenierung von Kunst-Körpern im Theater der Avantgarden“, in: Andreas Haus/Franck Hofmann/Änne Söll (Hrsg.): Material im Prozess. Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin 2000, S. 255–270. 23 Brandstetter, Gabriele: „Unter-Brechung. Inter-Medialität und Disjunktion in Bewegungs-Konzepten von Tanz und Theater der Avantgarde“, in: Erika Fischer-Lichte/Wolfgang Greisenegger/Hans-Thies Lehmann (Hrsg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen 1994, S. 87-110, hier S. 92.
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der Schrift um ein weiteres (Bild-)Medium bereichert, sei es, dass er seine Bilder vom entindividualisierten und mechanisierten Menschen der Moderne als Dekorateur zeitlich parallel auf der Bühne und im Film in Szene setzte (als Mitwirkender an den Produktionen der Ballets Suédois24 sowie in seiner Eigenschaft als Dekorateur in Marcel L’Herbiers Film L’INHUMAINE von 1923). Die unterschiedlichen Medien werden hier nicht wirklich systematisch aufeinander bezogen, sondern dazu eingesetzt, ein Imaginäres anschaulich zu machen, das tiefer (oder weiter) reicht als die Eigenlogik differierender Kunstformen, die allerdings zur optimalen Nutzung ihres Wirkungspotentials sehr wohl spezifisch und fachkundig gestaltet werden müssen. Mit der Arbeit am BALLET MÉCANIQUE kam Léger schließlich ganz bei dem Medium an, das für die ästhetische Menschen-Flucht der Avantgarden deshalb besonders gut als Beschleuniger dienen konnte, weil es nicht nur zur dokumentierenden Aufzeichnung von Bewegung geeignet war (mit dieser Zielsetzung hatten ja Eadweard Mybridge und Etienne Jules Marey das Medium entwickelt und genutzt), sondern weil die Dynamik der beschleunigten Moderne des frühen 20. Jahrhunderts seine Entwicklungsgeschichte geprägt und ihm damit inhärent geworden war. Für Léger war das „Weltgesetz“ der Geschwindigkeit (vgl. obiges Zitat) gleichbedeutend mit einem ebenso unausweichlichen und brutalen wie ‚schönen‘ Kampf des Menschen gegen seine eigene Zeit, und die kinematographische Apparatur war dabei eine besonders gut geeignete Maschine, um als „Waffe zur Brutalisierung der Tradition“ und Instrument auf der Suche nach „éclat“ und „intensité“ zu dienen, wie er die Zielsetzung seiner „Esthétique de la machine“ bestimmte.25 Kein Wunder bei einer solch kriegerischen Konzeption des Kinematographischen,26 dass das mechanische Ballet sich als ein Tanz ent24 Und zwar zunächst an dem Stück Skating Ring (1922) sowie anschließend für La Création du monde (1923). Légers Engagement im Rahmen der Ballets Suédois dokumentiert Häger, Bengt: Ballets Suédois, Paris 1989. 25 Léger, Fernand: „L’esthétique de la machine, l’ordre géométrique et le vrai“, Erstveröffentlichung in deutscher Übersetzung in Das Kunstblatt, Jg. 7, Nr. 2 (1924), S. 39-44 (zit. nach Léger 1997, S. 103). 26 Mit der Léger freilich keineswegs allein stand – man denke etwa an Benjamins um 1935 entstandenen Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in dem die entauratisierende Schockqualität des Films nicht nur mit der Wirkung eines Schusses verglichen wird, sondern unter Bezug auf den Dadaismus auch der Avantgardekunst attestiert wird, das Kunstwerk zum „Geschoß“ geformt und damit die Voraussetzung für eine filmadäquate „zerstreute“ Wahrnehmungsweise überhaupt erst geschaffen zu haben. Vgl. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Rolf
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puppt, der eigentlich einen Agon darstellt, den Kampf des Menschen mit dem Prinzip mechanisch-verdinglichter Bewegung. Bei aller Schwierigkeit einer adäquaten Interpretation des Filmes im Detail, die schon aufgrund der unterschiedlichen existierenden Fassungen problematisch sein muss,27 wird dieses Grundthema überdeutlich. Vom Genre des Slapsticks, das mit dem Auftreten der Charlot-Holzmarionette zu Beginn und am Ende aufgerufen wird und eine thematische Rahmung bildet,28 ist nur der agonale Grundkonflikt geblieben: das Standhalten des Menschen in einer von ihm nicht mehr durchschaubaren und noch weniger planbaren Welt, das voraussetzt, dass der Mensch sich selbst maschinisiert. Léger verstand Charlot in einem „Lettre sur Charlot“ ganz ausdrücklich als Symbol des neuen Automaten-Menschen, der erfolgreich die ‚alte‘ Innerlichkeitsromantik verdrängt habe und sich vom „petit bonhomme“ in ein lebendiges Ding verwandelt habe, „une espèce d’objet – vivant, sec, mobile, blanc et noir, c’était nouveau“.29 Genau in dieser Kraft zur Selbstverwandlung sieht Léger denn auch das Modellhafte der Kunstfigur Chaplins. Über die Figur Charlots werden in diesem Brief von ihm zudem ausdrücklich Krieg und Kino zusammengeschlossen, deren Verbindung technik- und kulturgeschichtlich ja in der Tat eine enge ist, wie Paul Virilio gezeigt hat.30 Ein Charlot-Film sei, so heißt es, das einzige gewesen, was während des Fronturlaubs mit dem „enormen Schauspiel“ des Krieges habe mithalten können, und zugleich wird betont, dass die Figur als Inkorporation des Kinematographischen erlebt wurde („on était persuadé qu’il avait été inventé en même temps que l’appareil de projection – ils étaient nés ensemble, fabriqués ensemble“). Charlot und damit das Prinzip des Kinematographischen sind in diesem Bericht gemeinsam aus dem Erlebnis des Krieges geboren und bewundernswert, weil sie die erfolgreiche Transformation des Menschen zum Ding vorführen, eine Mimikry ans Feindliche als Überlebensstrategie gegen die Gewalt der Moderne, die für Léger ja nicht mit dem Krieg ihr Ende gefunden hat. Angesichts dieser Konzeption des Slapsticks ist es auch
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Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1974, Bd. I.2, S. 491 und 502. Zu den unterschiedlichen Fassungen des Films vgl. Gwinner 1999, Kap. 3.2. Einschränkend ist jedoch zu sagen, dass der ‚Epilog‘ des Films nicht in allen Fassungen identisch ist und in einigen die Charlot-Figur am Ende sogar ganz fehlt. Am exponierten Status der Figur ändert dies jedoch nichts. Dieses und alle folgenden Zitate nach dem Abdruck des Briefes in Fernand Léger. Du spectacle du monde au monde du spectacle, Eymoutiers 2001, S. 29. Virilio, Paul: Guerre et cinema I. Logistique de la perception, Paris 1984.
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kaum mehr verwunderlich, dass der Holz-Charlot, der den Reigen der tanzenden Ding-Objekte eröffnet, weniger zu lachen als die Zähne zu fletschen scheint (vgl. Abb. 5). Abbildung 5: Der kubistische Charlot: Screenshot aus dem BALLET MÉCANIQUE
Das mechanische Ballet, das gleichsam aus dem Geiste einer disjunktiven Körpermechanik geboren wird, spiegelt den Rhythmus einer Moderne, die als konfliktiv-gewaltförmige und in ihrer Intensität doch unwiderstehlich attraktive Bewegung erscheint. In Begleitung der bruitistischen Musik Antheils, die von Rezensenten oft als regelrechte Kriegsmusik apostrophiert wird, wäre dies auch unüberhörbar geworden.31 Filmisch setzt Léger dabei vor allem Techniken ein, die auf Fragmentierung und Beschleunigung der Wahrnehmung abzielen (harte Schnitte, rascher Wechsel der Einzelaufnahmen, prismatische Brechung der Objekte auch im Einzelbild durch Einsatz des Vortoskop) und verzichtet – wie schon Lawder zu Recht hervorhob32 – gänzlich auf synthetisierende Montageverfahren, die dem Kino der 20er Jahre ja ebenfalls zur Verfügung standen (Auf- und Abblende, Überblendung, Irisblende etc.). Es dominiert eine auf Unterbrechung und Kontrastbildung abzielende Schnitt-
31 „If Holst’s Mars was the bringer of war, then Ballet Mécanique sounds like war itself“ formulierte etwa der Rezensent des Wire-Magazins anlässlich des Erscheinens der rekonstruierten Fassung auf CD (The Wire, Nr. 197 (Juli 2000), S. 44). Die Rezension ist auch auf der schon erwähnten Antheil-Homepage zu finden (vgl. Anm. 20). 32 Lawder 1975, S. 141.
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technik und wird zum Hauptverfahren einer Wirkungsästhetik, die beim Zuschauer Eindrücke jenseits der linear-diskursiven Bedeutung narrativen Erzählens hinterlässt. Auch wenn Léger beim Versuch, die von ihm als universelles und ewiges Kunstprinzip deklarierte „loi de contraste“33 filmisch umzusetzen, in erster Linie auf die Strukturebene der Montagetechnik zielt, kommt er doch nicht ganz ohne semantische Kontrastbildung aus. Das Prinzip des Agonalen, das als Rhythmus-Wechsel den Lauf der Bilder strukturiert, wird verstärkt durch die thematische Kontrastierung von menschlicher Figur und Dingwelt. In der Tat bildet, wie Judi Freeman formulierte, „inmitten der rasch aufeinanderfolgenden Sequenzen von abstrakten Formen und Alltagsgegenständen [...] die menschliche Figur den Dreh- und Angelpunkt des Films“.34 Wobei der Agon zwischen Mensch und Maschine in verschiedenen Kontrastierungsverfahren ausgetragen zu werden scheint, die sich weniger ergänzen als überlagern und verstärken. Zum einen kann man in der Opposition der hölzernen Chaplin-Figur mit der ganz und gar romantisch inszenierten weiblichen Figur, die in einer Gartenidylle schaukelt (dargestellt von Katherin Hawley), die Symbolisierung eines Kampfes zwischen dem ‚alten‘, auf Ganzheitlichkeit und Identität zielenden und dem ‚neuen‘, von Unterbrechung und Fragmentierung gekennzeichneten mechanischen Bewegungsprinzip erkennen,35 ein Kontrast, der in der Fassung, die Lawder zum Ausgangspunkt seiner Dokumentation nimmt, am Ende wiederkehrt und sogar noch verstärkt wird, wenn die ‚mechanische‘ Charlot-Marionette in ihre Einzelteile auseinander fällt, während die Frau im Garten gezeigt wird, wie sie „with an elegantly mannered nineteenthcentury gesture“36 an den Blüten eines Apfelbaumes riecht. Dass der Konflikt zwischen den unterschiedlichen Bewegungskonzeptionen dabei zusätzlich genderspezifisch codiert und so zum Geschlechterkampf wird, ist typisch für die Auseinandersetzung mit dem Prinzip des Mechanischen gerade im Umfeld des Dadaismus (man denke etwa an Du33 Vgl. Légers Aufsatz „Notes sur la vie plastique actuelle“, in : Léger 1997, Zitat S. 63. 34 Freeman, Judi: „Léger und das Volk. Die Vergegenständlichung der Figur und die Kristallisation eines filmischen Blicks“, in: Kosinski 1994, S. 236. 35 Die Qualifizierung von ‚alt‘ und ‚neu‘ entspricht hierbei dem agonalen Kunstkonzept Légers, der in seinem Anti-Passatismus durchaus dem italienischen Futurismus treu blieb. Der entindividualisierenden Tendenz des Avantgardetheaters stand andererseits gleichzeitig eine Tendenz gegenüber, die gerade die Expressivität des ‚ganzen‘ Körpers in den Vordergrund stellte und in der Ausdruckstanz-Bewegung ihren vielleicht prominentesten Vertreter besaß. 36 Lawder 1975, S. 164.
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champs „La mariée mise à nue par ses célibataires, même“ oder Picabias mechanomorphe Zeichnungen, die ebenso eindeutig wie ironisch auf das sexuelle Geschlecht Bezug nehmen).37 Innerhalb dieses rahmenden Bewegungs- und Geschlechterkonflikts treffen menschliche Körper-Bewegung und sich bewegende Objekte auf vielfältige Weise aufeinander, wobei nicht immer unmittelbar und eindeutig zu entscheiden ist, ob die Konfrontation der Oppositionsbildung und Kontrastierung oder umgekehrt der Identifizierung dienen soll. Die Gestik des menschlichen Gesichts spielt dabei die Hauptrolle: Durch Montage von Einzelbildern werden mehrfach das Lächeln eines Mundes und das Öffnen/Schließen der Augen zum Ausdruck gebracht.38 Léger setzt dabei die Großaufnahme als zweite filmspezifische Technik, neben der des Schnittes, mit aller Konsequenz und ins Extreme gesteigert ein. Anders als im Falle der schaukelnden Frau zielt die Aufnahme des menschlichen Körpers in diesem Fall auf Entindividualisierung und Verdinglichung: Durch die extreme Vergrößerung wird die fokussierte Körperpartie gewissermaßen ent-leiblicht und verfremdet. Nicht der Auratisierung des individuellen Ausdrucks dient die Technik, sondern der Verwandlung des menschlichen Subjekts zum unbekannten Objekt. Léger hat diese Intention ganz ausdrücklich betont, wenn er in einer Erklärung zum BALLET MÉCANIQUE von einem desillusionierenden Film-Experiment berichtet, bei dem er einen Fingernagel durch extreme Vergrößerung zum phantastischen Planeten werden lässt.39 Wenn die These Marshall McLuhans zutrifft, dass Medien Organprojektionen des menschlichen Körpers sind, die einer Selbstamputation gleichkommen, 40 so konzipiert Léger diesen Vorgang nicht als Trauma, sondern als Traum. Und er führt seine mediale Narkotisierung nicht bewusstlos, sondern willentlich durch. Am Ende dieser freiwilligen Flucht ins mechanische Medium steht der Automat. Das menschliche Gesicht, das in einzelne gestische Sememe fragmentiert worden war, erscheint erst spät im Film als ganzes und ist dann vollständig seines individuellen Ausdrucks beraubt. Die Nennung des in-
37 BALLET MÉCANIQUE wäre in diesem Sinne noch eindeutiger geworden, wenn der Einfall Dudley Murphys Verwirklichung gefunden hätte, die ‚phallische‘ Auf- und Ab-Bewegung eines Kolben mit dem Bild seiner schwangeren Frau zusammenzumontieren, von dem Judi Freeman berichtet (vgl. Freeman 1994). 38 Vgl. Screenshots 21-23, 25-27, 86-89, 131-137, 180f., 184f., 193-195 in der Dokumentation von Lawder 1975. 39 „Autour du ‚Ballet mécanique‘“, in: Léger 1997, S. 134. 40 McLuhan, Marshall: Understanding Media. The extensions of Man, London/New York 2002, S. 45ff.
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dividuellen Trägers, Kiki de Montparnasse, die bei Interpreten meist wie ein Zwangsreflex und im Vorgriff erfolgt, läuft Légers Mechanisierungsideal direkt zuwider, denn es geht ihm gerade nicht um die Bestätigung von Individualität, sondern um deren Überwindung. Wichtiger als das Wiedererkennen einer Person ist ihm deren Stilisierung zum ausdruckslosen Ding: Die ‚Fenster zur Seele‘ bleiben ebenso geschlossen wie der Mund, kosmetische Stilisierung und eng anliegender Kurzhaarschnitt überformen auch noch die Zeichen der Geschlechtlichkeit. Dass auf die Bewegung dieses Menschen sofort diejenige der Puppe folgt, markiert den Endpunkt einer Transformationsleistung, um die der ganze Film sich dreht und die letztlich auch den im Rahmen installierten GeschlechterKonflikt transzendiert. Die Menschen-Flucht ist damit an ihr Ziel gelangt, und doch bleibt Légers BALLET MÉCANIQUE ambivalent in deren Inszenierung. Eine Ambivalenz, die sich am besten an der vielzitierten Sequenz der „femme qui monte l’escalier“ verdeutlichen lässt, mit der Léger seine Reihe von Escalier-Bildern in den Film hinein fortsetzte und mit der er erklärtermaßen sein Publikum beeindrucken wollte.41 Abbildung 6: Der Mensch auf der Treppe des Fortschritts? Fernand Léger, „La Preuve que l’homme descend du singe“, 1915, Öl auf Leinwand, 80 x 50 cm, Privatsammlung Zürich Abbildung 7: Screenshot aus BALLET MÉCANIQUE
41 „Par exemple, dans La femme qui monte l’escalier, je voulais d’abord étonner le public, puis lentement l’inquiéter et puis pousser l’aventure jusque’à l’exaspération.“ (Léger 1997, S. 138)
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Wirkt die mit einem Sack beladene Wäscherin, deren Treppenaufstieg durch Montage mehrfach wiederholt wird und damit nie zum Ende zu kommen scheint, nicht wie Sisyphus, der zur ewigen Qual verurteilt ist, als eine weibliche Variante jenes Arbeiters auf der Leiter (durch seinen Schnurrbart zudem dem Künstler selbst physiognomisch durchaus ähnlich), den Léger in einer Karikatur aus der Kriegszeit in ironischer Replik auf den Fortschrittsoptimismus der Darwinisten als „Beweis dafür, dass der Mensch vom Affen abstammt“ (vgl. Abb. 6 u. 7) darstellte? Aber andererseits lässt sich auch fragen, warum hier zum ersten Mal in der Escalier-Reihe die Laufrichtung geändert und der Abstieg zum Aufstieg geworden ist und ob in diesen Einstellungen, die den humanen Körper als unermüdlichen Motor erscheinen lassen, die moderne Utopie einer nicht erschöpfbaren Energie42 durchaus optimistisch und unskeptisch weitergetrieben wird, so als könne Entfremdung, entgegen aller Einsichten der kritischen Theorie, doch glücklich machen? Immerhin scheint der arbeitende Menschen-Automat am Ende seines mühevollen Gangs für einen kurzen Moment der Kamera ein scheues und flüchtiges Lächeln zu schenken.
3.
ENTR’ACTE als komisches Spiel mit der Bedeutung des Körpers
ENTR’ACTE, der nach einem Drehbuch von Francis Picabia von René Clair gedrehte und von Eric Satie mit Musik versehene Film, wird oft in einem Atemzug mit Légers BALLET MÉCANIQUE als paradigmatisches Beispiel für die Filmavantgarde der 20er Jahre genannt. Dafür spricht nicht nur die zeitliche Nähe der beiden Filme, die auf der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik gemeinsam aufgeführt und auch später zusammen gezeigt wurden, sondern auch ihr gemeinsamer Bezug zur Theaterpraxis der Ballets Suédois sowie ihr intermedialer und intersubjektiver Charakter. Léger selbst verstand beide Werke als ästhetisch wesensverwandt43 und in der Tat sind sie beide ganz grundsätzlich vom 42 Zu dieser Utopie und ihren Voraussetzungen vgl. die Arbeit von Anson Rabinbach: The Human Motor, Energy, Fatigue and the Origins of Modernity, New York 1990. 43 Vgl. die begeisterte Rezension Légers zur Aufführung des „Instantanistischen Ballets“ Relâche, in dessen Rahmen der Film ENTR’ACTE zur Aufführung kam: „Vive Relâche“, in: Paris-Midi, Nr. 4599 (17.12.1924), S. 4 (zit. in: Fernand Léger. Du spectacle du monde au monde du spectacle, Eymoutiers 2001, S. 51). Auch in seinen Bemerkungen „Autour du ,Ballet mécanique‘“ betonte er: „Que ce soit le Ballet mécanique, quelque peu thé-
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‚stroboskopischen‘ Körper-Konzept der Moderne gekennzeichnet.44 Ich möchte im Folgenden jedoch weniger die vorhandenen Gemeinsamkeiten betonen, sondern verdeutlichen, dass die Arbeit der Theater- und Filmavantgarde an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine durchaus unterschiedliche Akzentuierungen besaß. Auch der Titel dieses Films stellt einen direkten Bezug zur Theaterpraxis her. Allerdings referiert er nicht bloß semantisch auf die andere Kunstgattung, sondern teilt mit ihr ein und dieselbe Aufführungssituation, so dass das Zwischen-Spiel auf der Bühne zugleich zur Inter-Aktion zweier unterschiedlicher Medien wird, wobei die Interaktion zugleich eine aktive intellektuelle Beteiligung des Publikums voraussetzt, das die unterschiedlichen Formen des Zusammenspiels zwischen Film und Bühnengeschehen erkennen und zu dechiffrieren versuchen soll. Schon mit dem doppeldeutigen Titel des Ballets, Relâche, das die Suspension einer geplanten Aufführung annonciert, zugleich aber auch als ein Verhaltensimperativ verstanden werden kann, der Entspanntheit als ideale Rezeptionshaltung fordert, beginnt ein Verwirrspiel mit dem Zuschauer und seinem Begehren nach Sinngebung und Deutung, das ebenso konstant negiert wie aufgerufen wird. In dieser Orientierung auf den Zuschauer, der zum Mitspieler gemacht und in seinem Begehren nach Sinngebung ständig neu angesprochen und enttäuscht wird, liegt wohl die Hauptdifferenz zum Vorgehen Légers. Während Léger den Inszenierungsraum der Bühne bzw. der Filmleinwand ganz kategorisch vom Raum des Publikums trennt und die salle als Ort von „Immobilität“, „Dunkelheit“ und „Nichts“ der Vitalität der scène entgegenstellt,45 arbeitet das Stück Relâche und in diesem Entr’acte umgekehrt darauf hin, diesen Gegensatz zu überwinden und das Publikum aus seiner Passivität herauszureißen. Besonders deutlich wird dies zu Beginn des Stückes, indem das Publikum direkt ins Visier genommen wird: Nachdem der Bühnenvorhang sich geöffnet hat, erscheint ein Zwischenvorhang mit den intermittierend aufflackernden Namen der beiden Autoren, Satie und Picabia. Dieser orique, ou une fantaisie burlesque comme L’entr’acte de Francis Picabia et de René Clair, le but est le même, s’évader des moyennes, se libérer des poids morts qui sont la raison d’être des autres. S’affranchir des éléments qui ne sont pas purement cinématographiques. Laisser courir la fantaisie avec tous ses risques, créer l’aventure à l´écran comme elle se crée chaque jour en peinture et en poésie.“ (Léger 1997, S. 135). 44 In diesem Sinne die Interpretation von Brandstetter 1994, S. 100-107, die auch die intermedialen Verschränkungen zwischen Theater, Film und Musik gründlich untersucht. 45 Fernand Léger: „Le spectacle, lumière, couleur, image mobile, objet-spectacle“, zit. nach Léger 1997, S. 119.
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Zwischenvorhang wird dann von einer Filmleinwand abgelöst, welche die beiden auf dem Dach des Théâtre des Champs-Elysées zusammen mit einer Kanone zeigt, die am Ende von Satie mit einem Projektil geladen und frontal in Richtung Zuschauer abgeschossen wird, eine direkte Adressierung, die auf der Bühne sofort weitergeführt wird, wenn 370 mit elektrischen Glühbirnen bestückte Reflektoren, die im HintergrundDekor der Bühne angebracht waren, entzündet werden und ihr Licht auf das Publikum werfen, „renvoyant sur le public un puissant flash de lumière blanche, l’aveuglant, l’éclairant et le transformant“, wie Sally Jane Norman etwas pathetisch formuliert.46 Der Vorgang, mit dem das Publikum attackiert wird, ist jedoch nicht ganz so gewaltsam, wie ihre Worte suggerieren, sondern Teil eines Spiels, das bei aller Lust an der Provokation doch durchaus belustigen und erheitern möchte. Es ging Picabia/Clair und Satie letztlich weniger um das imaginäre Ausagieren eines agonalen Konflikts, der auf das Schockpotential der Moderne verweist, als um die Paradoxierung von Bedeutung. In dieser Akzentsetzung liegt eine weitere wesentliche Differenz zu Léger. Schon der Filmvorspann ist typisch für diese Verschiebung: Mit der Inszenierung des Kanonenschusses betreiben die Autoren von ENTR’ACTE zwar ebenfalls eine Engführung von Krieg und Kino, lassen ihren filmischen Kampf jedoch ins Komische umkippen, da es lediglich zu einer Zeitlupenexplosion kommt und man wenig erschrocken betrachten kann, wie das Projektil in aller Gemächlichkeit aus dem Rohr heraustritt. Während das BALLET MÉCANIQUE ganz auf Beschleunigung und Mechanisierung von menschlicher Körper-Bewegung durch Kontrastmontage und Großaufnahme setzte, operieren Picabia und Satie bei der mise en abîme ihrer Person (die sie auf die Leinwand und damit auch auf die Bühne projizieren) vor allem mit der Technik der Slow-motion und inszenieren Körperbewegungen, die nicht mechanisch sind, sondern absurd, weil situationsinadäquat und erzähllogisch unmotiviert. Die mit dem Auftritt der Kanone begonnene Kriegsgeschichte wird durch das Auf- und Ab-Springen der beiden Autoren ebenso unterbrochen wie deren höfliche Diskussion (wohl über die Frage, wer beim Laden des Geschosses den Vortritt erhalten soll) dem agonalen Motiv entgegenwirkt. Das narrative Potential des Filmischen 46 Norman, Sally Jane: „,Relâche‘: Un spectacle-phare“, in: Claudine AmiardChevrel (Hrsg.): Théâtre et cinéma années vingt. Une quête de la modernité, o.O. 1990, Bd. 2, S. 11. Jede Beschreibung des Ablauf des Stückes kann – der Natur des Performativen gemäß – dabei nur tentativen Charakter besitzen und nicht beanspruchen, das ‚Original‘ zu rekonstruieren. Ausgangspunkt meiner Darstellung bildet die Dokumentation bei Häger 1989, S. 249-258.
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soll in dieser Sequenz (wie im Film überhaupt) nicht durch eine abstrakte Bildsprache überwunden werden, wie dies Léger intendierte,47 sondern dazu genutzt werden, um es gegen sich selbst zu wenden und aus der gegenseitigen Blockade von Elementen sinnvoller Handlung komische Effekte zu generieren. Der Wechsel von einer formorientiert-agonalen Filmkonzeption hin zu Verfahren semantischer Paradoxierung kennzeichnet auch den Hauptteil von ENTR’ACTE, der vom Zusammenprall unterschiedlicher filmästhetischer Prinzipien und von einer eigentümlichen und spannungsvollen Mischung zwischen figurativ-narrativen und abstrahierend-formalen Elementen gekennzeichnet ist, die sich mit Franz-Josef Albersmeier aus dem Zusammentreffen von filmhistorischen Substraten mit avantgardistischen Adstraten erklären lässt.48 Die agonale Handlungsthematik bildet nicht nur inhaltlich eine verbindende Klammer (die Schuss-Szenerie im ersten Teil begründet den grotesken Trauermarsch des zweiten), sie lässt sich dabei zugleich als ein Konflikt zwischen unterschiedlichen Konzeptionen des Filmischen deuten. Dass dem Film in diesem Sinne (auch) eine kunsttheoretische Bedeutungsebene zugewiesen werden darf, wird schon durch die Tatsache deutlich, dass er den Autoren und Machern des Bühnenstückes (neben den Szenario-Autoren Picabia und Satie treten auch der Leiter der Ballets Suédois, Rolf de Marée, sowie der Choreograph Jean Börlin auf) zur Selbstinszenierung dient und so in sich selbst die Instanzen seiner Herstellung reflektiert. Der Konflikt zwischen realistischem Erzählkino und abstraktem cinéma pur, die als Extrempositionen in diesem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Filmprinzipien ausgemacht werden können, wird jedoch nicht einfach gelöst, sondern dazu genutzt, um eine ironische und unentschiedene Position des Zwischen zu beziehen. Der Film entscheidet sich lediglich dazu, aus allen Möglichkeiten des Kinematographischen Gewinn zu schlagen und eine Hybridform anzubieten, die Abstraktion und 47 Léger legte dementsprechend großen Wert auf seine Leistung, einen Film gänzlich ohne Drehbuch entwickelt zu haben: „Aucun scenario – des réactions d’images rythmées c’est tout“, formuliert er in diesem Sinne bei seiner Filmpräsentation in der Zeitschrift Esprit Nouveau (“Ballet mécanique“, in: L’Esprit Nouveau, Nr. 28 (1925) S. 2337). Auch ENTR’ACTE wurde ohne feststehendes Drehbuch gefilmt. Seiner narrativen Grundstruktur gemäß konnte jedoch nachträglich gleichwohl ein Szenario des Films angefertigt werden, das keineswegs sinnlos ist. Vgl. den Abdruck in L’Avant-Scène. Cinéma, Nr. 86 (1968), S. 11-18. 48 Vgl. seinen Beitrag in diesem Band. An dieser Stelle meinen Dank an Herrn Albersmeier für den weiteren Gedankenaustausch im Anschluss an das Siegener Kolloquium und die gründliche Durchsicht einer ersten Manuskriptfassung.
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Illusion, Schau- und Erzähllust miteinander zu mischen versteht. Der auf die Schusswechsel-Szene des ersten Teils folgende berühmte Trauermarsch beginnt so als eine Komödie, die von der Erkennbarkeit der menschlichen Bewegungsabläufe zehrt, ja deren Komik sogar noch durch eine mittels Zeitlupe übertriebene Sichtbarkeit steigert, um dann umzuschlagen in eine immer schneller und damit abstrakter werdende Bildmontage, die nichts mehr erzählt, sondern nur mehr die Sensation des Schwindels erzeugt. Auf den Schwindel folgt dann jedoch in einer erneuten Volte des ‚Handlungsablaufs‘ ein überraschendes und abruptes Anhalten der Bewegung: der Sarg ist aus dem Fahrgestell auf eine Wiese gefallen, der vermeintliche Tote entpuppt sich als quicklebendiger Magier, der mit seinem Zauberstab alle Beteiligten und schließlich auch sich selbst von der Leinwand verschwinden lässt. Die Bewegung, die nach dem Schockgestus des plötzlichen Schusses einen komischen Anfang genommen hatte, um schließlich in den Wirbel reiner Abstraktion zu münden, endet so mit einer Hommage an die Anfänge des Kinos bei George Meliès, als solle damit gezeigt werden, dass auch die Kinematographie als das zu dieser Zeit ‚modernste‘ künstlerische Medium keinen linearen und irreversiblen ‚Fortschritt‘ kennt, sondern sich stets aufs Neue erfinden kann und muss. Anstatt sich der Dynamik der Moderne im eigenen imaginären Bilder-Lauf mimetisch anzupassen bzw. sie weiter zu beschleunigen, setzen Clair und Picabia unterschiedliche Tempi ein und produzieren dabei Inkongruenzen, in denen sich die Erfahrung der Moderne nicht nur durch Formäquivalenz spiegelt, sondern auch bricht. Dieser im Vergleich zu Léger wesentlich skeptischeren, vielleicht auch einfach nur ‚entspannteren‘ Haltung zur eigenen Zeit entspricht auch ein veränderter Umgang mit dem menschlichen Körper. Er erscheint in ENTR’ACTE weniger als ein veraltetes Modell, das in seiner Form mechanisch überholt werden muss, um mit der Geschwindigkeit der Industrialisierung und Maschinisierung mithalten zu können, sondern als ein semantisches Material, mit dem sich trefflich spielen lässt, um aus ihm neue, ungewohnte Bedeutungen herauszutreiben. Besonders pointiert wird dieses Spiel in der berühmten Ballerina-Szene, in der zwei unterschiedliche Perspektiven auf den menschlichen Körper und seine Bewegung gekreuzt werden, um in einer plötzlich eröffneten dritten Perspektive die dabei aufgebaute Spannung ironisch zu enttäuschen (Abb. 8-10).
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Abbildungen 8-10: Ironisches Spiel mit der Bedeutung des Körpers: Screenshots aus ENTR’ACTE
Die Bewegungen der Ballerina werden einerseits aus der voyeuristischen Perspektive von unten gefilmt, durch eine Glasplatte hindurch, auf der sie tanzt. In dieser Ansicht ist der Körper ganz zum Objekt einer Schaulust geworden, die ihn auf seine sexuellen Aspekte reduziert und auf den Unterleib fixiert bleibt. Der Zuschauer darf der Ballerina unter den Rock schauen und sein libidinöses Begehren skopophil ausleben. Kontrastiert wird dieses Interesse am Unterleib der Ballerina mit Aufnahmen von der Seite und in deutlich vergrößerter Distanz (die Einstellungen wechseln von Großaufnahme bzw. nahem plan rapproché zum halbnahen plan moyen), welche die Bewegungen der Tänzerin im Lichtkegel zeigen. Der Körper wird dabei in ein abstraktes Spiel aus Licht und Schatten verwandelt und sowohl ent-individualisiert (der Oberkörper der Ballerina bleibt im Dunkeln) als auch geschlechtlich neutralisiert. Gabriele Brandstetter hat in diesen Aufnahmen ein direktes Zitat aus dem Repertoire von Loï Fuller entdeckt (der sogenannte „Feuertanz“, der auf einer von unten rot
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und orange beleuchteten Glasplatte aufgeführt wurde).49 Das Spiel zwischen Körperabstraktion und (sexueller) Fixierung des Körpers auf seine ‚objektive‘ Materialität, mit dem der Zuschauer den Bewegungen der Tänzerin nicht einfach nur nachfolgt, sondern dabei selbst in ein Gleiten von einer in die andere Perspektive gerät, dieses kinematographische Fort/Da- Spiel mit der Abwesenheit des Körpers wird schließlich unerwartet von einer neuen Einstellung durchkreuzt, in der die Kamera zunächst die Armbewegungen der Ballerina fokussiert, um dann in einem Schwenk ihren Körper hinabzufahren und damit die volle Identität der Person preiszugeben, der der Zuschauer erstmals direkt ins Antlitz blickt. Und siehe da, die vermeintliche Tänzerin trägt einen Vollbart vor dem Gesicht. Als Subjekt der Körper-Bewegung wird nicht eine Person im Sinne der spätaufklärerischen Konzeption des ganzen Menschen enthüllt, sondern ein tanzender Schauspieler (Jean Börlin), der sich hinter einer Maske verbirgt und sich damit der theatralischen Funktion bedient, die der persona im Schauspiel der Antike zukam. Clair und Picabia nutzen für diese unerwartete Ent-Täuschung einmal mehr das Sinnbegehren des Zuschauers, das hier zugleich in seiner Triebstruktur als sinnliches Begehren decouvriert wird, um es in die eigene Falle laufen zu lassen. Die aufgebaute Spannung, die auf ein definitives Erkennen und Identifizieren des Körpers gerichtet wurde, findet ihre ‚Lösung‘ höchstens in einem wütenden oder erleichterten Lachen, die essentialistische Frage nach dem Sein des menschlichen Körpers bleibt ebenso ungelöst wie die mit ihr zugleich aufgerufenen libidinösen Sehnsüchte. Wie im Aphorismus Nietzsches wird dem sinnsuchenden Wanderer zur Erholung lediglich eine weitere, zweite Maske geboten50 und damit bedeutet, dass auch der Körper keine definitive materielle Essenz darstellt, sondern ein kulturelles Zeichen, dessen ‚Bedeutung‘ von den Wünschen und Projektionen des wahrnehmenden Subjektes abhängt. Man könnte, wie es Tirza True Latimer bereits in einem ersten (argumentativ nicht immer überzeugenden) Anlauf getan hat,51 diesen viel49 Brandstetter 1994, S. 106. 50 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, Neuntes Hauptstück, Absatz 278. Zit. nach ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden (KSA). Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Bd. 5, München 1993, S. 229. 51 Latimer, Tirza True: „Inversions, Subversions, Reversions: Did Relâche Queer the Discourse?“, in: On Stage Studies, Nr. 20 (1997), S. 65-82. Dem Ansatz ist vor allem vorzuhalten, dass er allzu deutlich interessengesteuert ist. Die Ballets Suédois aufgrund eines entsprechenden zeitgenössischen Rufs kurzerhand als reine Gay-Truppe zu behandeln, entspricht einfach nicht den historischen Tatsachen, und der apriorische Ausschluss ‚weibli-
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leicht gelungensten visuellen Einfall des Filmes, mit dem die Erwartungskonventionen des Zuschauers unterlaufen werden, leicht in Richtung Queer-Theorie weiterverfolgen und in der travestierten männlichen Ballerina die Figur des Dritten entdecken, die nicht nur identitäre und geschlechtliche, sondern auch kulturelle Zwischenräume eröffnet.52 Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es aber an der Zeit, mit dieser Filmszene ein Fazit zu ziehen und die im Titel gestellte Frage, ob der Körper im Kino der Avantgarde überholt wurde, abschließend in expliziter Form zu beantworten.
FAZIT Mit Blick auf Léger und dessen BALLET MÉCANIQUE lässt sich in der Tat behaupten, dass die Avantgarde zum Überholen des menschlichen Körpers ansetzte und ihm durch technische Mechanisierung eine Armierung verschaffen wollte, die ihn schmerzunempfindlich gegen die Erfahrungs-Schocks einer technisch beschleunigten Moderne machen sollte, deren Gewaltpotential spätestens in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs spürbar geworden war. Das Kino wird dabei zum Medium eines Überlebenskampfes, bei dem das Humane notwendig auf der Strecke bleiben muss. Léger selbst lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er mit seinen Kunst-Bildern einer Herrenmoral folgte, welche die Perspektive des Opfers souverän ignoriert: Je trouve l’état de guerre beaucoup plus mormal et plus souhaitable que l’état de paix. Naturellement tout dépend du point de vue où l’on se place. Chasseur ou gibier. Si je me place au point de vue sentimental, j’ai l’air d’un monstre. Ce point de vue-là, je veux 53 l’ignorer toute ma vie.
Auch Picabia wird man wohl keinen ‚sentimentalen‘ Künstler nennen dürfen, denn auch er begegnete dem ‚alten‘ Subjektkonzept der Aufklärung nur mit Zynismus. Er setzte in seiner Filmvision jedoch auf einen anderen ‚Umbau‘ des Menschen. Ohne die Beschleunigung der Moderne zu ignorieren, hält er weiterhin am Menschen und seinen Wünschen fest, cher Agency‘ im Relâche-Stück ist auch dann nicht gerechtfertigt, wenn diese Vorentscheidung bewusst getroffen wird. 52 Zur Figur des Dritten vgl. die Beiträge in Breger, Claudia/Döring, Tobias (Hrsg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam 1998. 53 Léger, Fernand: „L’esthétique de la machine, l’ordre géométrique et le vrai“ (Léger 1997, S. 107).
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um mit diesen sein Spiel zu treiben. ‚Überholt‘ wird das Material Mensch in seiner Konzeption des kinematographischen Mediums damit weniger im technischen Sinne als in Form einer semantischen Bastelei, die das Altbekannte genau untersucht, es in neue Perspektiven rückt und es so, wenn nicht ‚nützlich‘, doch wenigstens für komische Effekte nutzbar macht. Ganz abgesehen von der gänzlich avantgardefremden und hier nicht zu beantwortenden Frage, welches Menschen-Bild ethisch tragfähiger wäre, besitzt die entspanntere Version eines genuin modernen Films, die Clair und Picabia anbieten, für den Zuschauer jedenfalls einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Er darf sich nicht nur, er soll sich sogar intellektuell beteiligen und muss die filmisch dargestellte Bewegung nicht passiv als eindrucksvolles Schauspiel auf sich wirken lassen. Wie Léger stellte sich auch Picabia Film als ein Medium des Träumens vor, wobei er jedoch weniger vom Wunsch nach einer ich-stärkenden und letztlich wohl megalomanen (weil ins All zielenden) Selbst-Verdinglichung getrieben wurde54 als von der Lust an der Realisierung phantastisch-absurder „rêves“ und „événements non materialisés qui se passent dans notre cerveau“, wie er selbst in einem Brief zu ENTR’ACTE formulierte.55 Das Kino wird so zur Möglichkeit für einen plötzlichen Ein-Fall in einen imaginären Raum, für den im Alltag sonst kein Platz ist. Auch dies stellt eine Art der Menschen-Flucht dar, die bei aller Begeisterung für Geschwindigkeit (Picabia war bekanntlich ein leidenschaftlicher Liebhaber von Rennwagen) jedoch nicht so leicht ins Un-Menschliche abdriften konnte, da sie sich skeptisch stets bewusst blieb, dass der dabei erzeugte Rausch nur zerebraler Natur war und die Bewegung letztlich im Kreise verlaufen musste, getreu der Einsicht des Künstlers, dass unser Kopf nur deshalb rund ist, damit das Denken besser die Richtung wechseln kann.
Literatur Abel, Richard: French Film Theory and Criticism. A History/Anthology 1907-1939, 2 Bde., Princeton, N. J. 1988. Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992.
54 Ich erinnere noch einmal an das obige Zitat vom Blow-Up eines Fingernagels zum Planeten. 55 Zit. nach L’Avant-Scène. Cinéma, Nr. 86 (1968), Innenseite des Umschlags.
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Amiard-Chevrel, Claudine (Hrsg.): Théâtre et cinéma années vingt. Une quête de la modernité, 2 Bde., o.O. 1990. Apollinaire, Guillaume: Chroniques d’art 1902-1918. L.-C. Breunig (Hrsg.), Paris 1981. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Gesammelte Schriften. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1974, Bd. I.2, S. 472-508. Berg, Hubert van den: „Übernationalität der Avantgarde – (Inter-)Nationalität der Forschung. Hinweis auf den internationalen Konstruktivismus in der europäischen Literatur und die Problematik ihrer literaturwissenschaftlichen Erfassung“, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 255-288. Brandstetter, Gabriele: „Unter-Brechung. Inter-Medialität und Disjunktion in Bewegungs-Konzepten von Tanz und Theater der Avantgarde“, in: Erika Fischer-Lichte/Wolfgang Greisenegger/Hans-Thies Lehmann (Hrsg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen 1994, S. 87-109. Breger, Claudia/Döring, Tobias (Hrsg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam 1998. Ehrlicher, Hanno: „Material Mensch. Zur Inszenierung von Kunst-Körpern im Theater der Avantgarden“, in: Andreas Haus/Franck Hofmann/Änne Söll (Hrsg.): Material im Prozess. Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin 2000, S. 255–270. Fernand Léger. Une correspondance de guerre à Louis Poughon, 19141918. Christian Derouet (Hrsg.), Paris 1990. Fernand Léger. Der Rhythmus des modernen Lebens. Dorothy Kosinski (Hrsg.), München/New York 1994. Fernand Léger. Du spectacle du monde au monde du spectacle, Eymoutiers 2001. Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas, Bd. 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart, Tübingen 1990. Freeman, Judi: „Bridging Purism and Surrealism: The Origins and Production of Fernand Leger’s ‚Ballet Mécanique‘“, in: Dada/Surrealism, Nr. 15 (1986), S. 28-45.
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HANNO EHRLICHER
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FRANZ-JOSEF ALBERSMEIER
ZWISCHEN DEN KÜNSTEN UND MEDIEN (FILM/TANZ/THEATER) ZWISCHEN DEN FRONTEN (TRADITION/AVANTGARDE) RENÉ CLAIR: ENTR’ACTE Abstract Le court métrage de René Clair fait pratiquement partie de toutes les histoires de film expérimental ou d’avantgarde. Bien qu’il compte être un des films les plus cités de l’avantgarde à l’époque du film muet – avec UN CHIEN ANDALOU (1928/29) de Dalí/Buñuel – il se révèle être relativement peu connu. En effet, il existe à peine d’analyses systématiques au point de vue de problèmes théoriques, historiques et intermédiaux. S’agit-il en parlant d’ENTR’ACTE d’une œuvre du «cinéma pur» (à la Henri Chomette, frère de René Clair), du dadaïsme (dans le sens des cinéastes abstraits comme par exemple Viking Eggeling, Hans Richter) ou du surréalisme (qui, en tant qu’école, vient justement de se constituer en 1924)? Ou bien ne faut-il pas considérer ces classements comme trop sommaires étant donné que le film ne doit non seulement être situé dans le contexte de l’avantgarde contemporaine (en Allemagne comme en France), mais également par sa position historique qui le fait appartenir à l’origine du film, tout en particulier à l’origine d’un film français luimême fortement imprégné par l’institution et l’esthétique du théâtre. Mon étude soulève ces questions et permet de tendre un pont à l’article de Hanno Ehrlicher portant sur les rapports entre BALLET MÉCANIQUE et ENTR’ACTE ainsi qu’à l’article de Marion Tendam portant sur le film de René Clair SOUS LES TOITS DE PARIS. Rene Clairs Kurzfilm fehlt in (fast) keiner Geschichte des Avantgardeund Experimentalfilms. Doch obwohl er – mit Buñuels UN CHIEN ANDALOU (1928/29) – zu den am meisten zitierten Avantgardefilmen der Stummfilmepoche zählt, ist er doch vergleichsweise unbekannt, jedenfalls kaum je im Horizont filmtheoretischer, -historischer und medienvergleichender Fragestellungen systematisch analysiert worden. Handelt es sich bei ENTR’ACTE um ein Werk des „cinéma pur“ (à la Henri Chomette, Bruder von René Clair), des Dadaismus (im Sinne der „abstrakten“ Cineasten Viking Eggeling, Hans Richter u.a.), des (sich 1924 ja gerade erst konstituierenden) Surrealismus? Oder greifen solche Zuordnungen schon allein in dem Maße zu kurz, wie der Film nicht nur im Kontext der zeitgenössischen Avantgarden (in Frankreich und Deutsch-
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land) zu situieren ist, sondern auch von seiner Ästhetik her viel tiefer hineinragt in die Geschichte des Films und speziell ihrer von der Institution wie der Ästhetik des Theaters nachhaltig geprägten französischen Anfänge? Solche Fragestellungen greift unser Beitrag auf, wobei eine Brücke zu Hanno Ehrlichers kombinierter BALLET MÉCANIQUE/ENTR’ACTE-Analyse und zu Marion Tendams Beitrag über René Clairs Tonfilm SOUS LES TOITS DE PARIS (1930) geschlagen werden soll.
Im Horizont des Rahmenthemas unseres Symposiums betrachtet, markiert ENTR’ACTE in mehrfacher Hinsicht einen Grenzfall: Wir haben es nicht – wie bei SOUS LES TOITS DE PARIS (1930) – mit einem langen Spielfilm, sondern mit einem etwa 20-minütigen Kurzfilm zu tun. Mit ‚Theater‘ hat ENTR’ACTE, zumindest auf den ersten Blick, auch nur marginal zu tun, obwohl der Film im Umkreis eines der bedeutendsten Theater der zwanziger Jahre entstanden ist. Schließlich: Es versteht sich nicht von selbst, ist vielmehr höchst problematisch, einen Film, der just 1924 (Jahr der Proklamation des ersten surrealistischen Manifestes) entstanden ist, als ‚surrealistisch‘ zu etikettieren. Die folgende, mit drei provozierend unscharfen Zuweisungen gespickte Frage zielt auf die partielle Infragestellung einer weit verbreiteten film- und kulturhistorischen Situierung von René Clairs Frühwerk: Worin besteht die ‚dadaistisch-surrealistisch-avantgardistische‘ Dimension von ENTR’ACTE? Eine zweite Frage sprengt den Rahmen tradierter Sichtweisen: Inwieweit gelingt es René Clair, die aufgerufenen zeitgenössischen Ismen mittels einer eigenständigen filmischen Programmatik und Ästhetik zu unterlaufen, womöglich gar zu konterkarieren? Präziser gefragt: Inwieweit prägen Institution und Ästhetik des Theaters am Ende jene ‚inszenierte Theatralität‘, welche Clairs Film – jenseits aller unübersehbar avantgardistischen Einflüsse – wieder rückbindet an das altehrwürdige Theater als den vom Avantgardefilm verschmähten ‚falschen Verführer‘ und zugleich als jenes zumal für die Frühgeschichte des Films so unverzichtbare Medium, dessen Sogkraft sich auch der damals in avantgardistisch-ikonoklastischen Kreisen verkehrende René Clair weder entziehen konnte noch wollte? Zur Diskussion steht dabei eine von Pierre Billard als „nouvelle alchimie esthétique“1 umschriebene, aus Eigenem und Fremdem, aus traditionellen und avantgardistischen Bauformen sich ausbildende ‚Mischästhetik‘, welche zur zeitgenössischen Avantgarde, jenseits aller Anlehnungen an deren Moden, in dezidierter Distanz verharrt und gleichzeitig auf 1924 bereits ausgearbeitet vorliegende Modelle zumal aus der Frühgeschichte des Kinematographen rekurriert. Die Be1 Billard, Pierre: Le mystère René Clair, Paris 1998, S. 73.
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fragung des Clairschen Bilderarsenals im Hinblick auf dessen mögliche filmhistorische Verankerung, anders ausgedrückt: die Problematik der Rückbindung von Bildern an ihre eigene Vorgeschichte – im Sinne von: den Schöpfer von ENTR’ACTE prägenden Filmregisseuren respektive ihm zur Ausarbeitung seines Films zur Verfügung stehenden Vor-Bildern (wie die französischen Filmpioniere oder die amerikanischen Filmburlesken) – impliziert auch die Infragestellung des Mythos von der ‚Voraussetzungslosigkeit‘ von Filmbildern im allgemeinen sowie die immer noch verbreitete Vorstellung einer einzigartig originellen Bilderwelt von ENTR’ACTE im Besonderen.
1.
ENTR’ACTE im Bann der Avantgarden
Vergegenwärtigen wir uns kurz die außergewöhnlichen Umstände der Entstehung von ENTR’ACTE.2 Francis Picabia hatte die Idee, eine Relâche betitelte Aufführung der seinerzeit in Paris als Inbegriff von Avantgardekunst bejubelten schwedischen Ballettruppe von Rolf de Maré im Théâtre des Champs-Elysées mit einem (zwischen 1. und 2. Akt angesiedelten) ‚Pausenfüller‘ in Form eines Kurzfilms aufzulockern – so wie dies vor dem Ersten Weltkrieg in den music-halls und den café-concerts gang und gäbe war. Der Produktions- und Rezeptionskontext ist gerade für den ersten Teil von ENTR’ACTE, der die Spuren einer von dem Pariser Ober-Dadaisten Picabia geprägten Auftragsarbeit unübersehbar in sich trägt, konstitutiv. Zwischen 1922 und 1924 war das von Jacques Hébertot geleitete Théâtre des Champs-Elysées ein Laboratorium künstlerischer und (im wahrsten Sinne des Wortes) multimedialer Aktivitäten. Rolf de Maré, Francis Picabia und letztlich René Clair ist es zu verdanken, dass den vielfältigen Experimenten in den Sparten Theater, Literatur, bildende Künste, Musik, Musical, Tanz, Ballett, Pantomime nun endlich auch der Film einverleibt wurde. Unter den genannten Ausdrucksformen und Künsten erheischt in jenen Jahren – neben der Musik – vor allem das von der neuen Bewegungsästhetik mitgerissene Ballett die besondere Aufmerksamkeit so unterschiedlich veranlagter Künstler wie Jean Cocteau/Eric Satie/Pablo Picasso (Parade, Théâtre du Châtelet, Mai 1917), noch einmal Cocteau (Les mariés de la Tour Eiffel, Théâtre des Champs-Elysées, 1921), Blaise Cendrars/Darius Milhaud/Fernand Léger (La création du monde, ballet nègre, 1923) sowie einmal mehr Cendrars 2 Ebd., S. 84-91 sowie Dale, Robert C.: The Films of René Clair, New York/London 1986, Bd. I, Exposition and Analysis, S. 29-42. Wir danken Marion Tendam für die Beschaffung von Kopien.
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(mit seinem Ballett-Textbuch Après-Dîner, ebenfalls von 1923). Rolf de Maré, dem der zuletzt genannte Text von Cendrars nicht behagt, wendet sich mit seinem Anliegen an Picabia, der den im Gebäude des Théâtre des Champs-Elysées arbeitenden und als Cineast durch den 35-minütigen Film PARIS QUI DORT (1923) einem größeren Publikum gerade erst bekannt werdenden René Chomette alias René Clair für die Regiearbeit an ENTR’ACTE gewinnt.3 Vergegenwärtigen wir uns – im Anschluss an die knappe Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen von ENTR’ACTE – die nicht weniger avantgardistisch-kühne, von der Trias Film/Tanz/Theater gebildete Konstellation, die Clairs Werk als Glied eines Medienverbundes ausweist. Ein Kurzfilm, der als ‚Pausenfüller‘ innerhalb eines Balletts dient, das seinerseits auf der Bühne eines der führenden Pariser Theater aufgeführt wird – mit dieser Formel ist jenes inter-mediale Netzwerk umrissen, dessen bloße Feststellung eine rein werkimmanente Interpretation von ENTR’ACTE im Sinne einer ‚Film als Film‘- oder ‚Film als Kunst‘-Ästhetik von vornherein unproduktiv erscheinen lässt.4 Als ‚Szenario‘ diente ein von Francis Picabia im Maxim`s (mit Briefkopf des Restaurants) verfasster und nur vage datierter Brief („mercredi soir“) an René Clair mit acht Punkten, in denen Picabia zentrale Ideen für die Realisierung des Films freilich nur grob fixiert hatte. Zwar ließ sich der Regisseur-Freund von diesen Ideen inspirieren, gleichwohl ist dessen eigener Beitrag zumal auf der Montageebene (und hier in erster Linie hinsichtlich der Verbindung von Bild und Musik) so beträchtlich, dass man von einem authentischen ‚Autorenfilm‘ à la René Clair sprechen kann.5 Die heute verbreitete Fassung des Films6 besteht aus einem Prolog und zwei auf den ersten Blick disparat erscheinenden Teilen. Unter Ver3 PARIS QUI DORT, 1923 gedreht, konnte erst im Januar 1925 öffentlich vorgeführt werden. 4 Während die zahlreichen Studien zum Experimentalfilm (Lindemann, Mitry, Noguez, Scheugl/Schmidt u.a.) Clairs Film aus einer solcherart verengten Perspektive analysieren, beschäftigen sich Ausstellung und Katalog u.d.T. Film als Film – 1910 bis heute. Vom Animationsfilm der zwanziger zum Filmenvironment der siebziger Jahre. Birgit Hein/Wulf Herzogenrath (Hrsg.), Köln/Berlin/Essen/Stuttgart 1977-1978, konsequenterweise nicht mit ENTR’ACTE, sondern mit den Filmen von René Clairs Bruder Henri Chomette. 5 Picabias Szenarioskizze findet sich (leider unvollständig) wiederabgedruckt in Clair, René: L’Avant-Scène Cinéma, Paris 1968, S. 11. 6 Zur Verfügung stehen eine amerikanische DVD (À NOUS LA LIBERTÉ. ENTR’ACTE) sowie eine spanische Videobox aus der Antologia Surrealista (Vol. 1) mit den drei Klassikern ENTR’ACTE, LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN und UN CHIEN ANDALOU.
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wendung der Originalmusik von Eric Satie wurde 1967 eine Tonfassung hergestellt. Die 292 Einstellungen7 lassen sich zu sechs Sequenzen zusammenfassen.8 Ein Film-Prolog, der ursprünglich noch vor Beginn der Ballettaufführung vorgeführt wurde, präsentiert die beiden damaligen Dada-Enthusiasten Eric Satie und Francis Picabia, die mit riesigen Schritten in Zeitlupe auftreten und eine Kanone ins Publikum abfeuern. In der späteren Fassung des Films ist diese Szene in die Anfangssequenz des eigentlichen Films, der dann erst in der Pause vorgeführt wurde, eingeschnitten. Es folgen zwei unterschiedliche Teile: auf der einen Seite jene „rasche Folge unzusammenhängender Einstellungen“,9 mit denen René Clair offensichtlich bemüht ist, die Vorgaben des Drehbuchs von Picabia umzusetzen (Sequenzen 2-4); auf der anderen Seite die große zweiteilige Sequenz des Leichenbegräbnisses, in welcher der Regie-Neuling seine Vision von filmischer Avantgarde eher ohne Konzessionen an seine Auftraggeber und den dadaistisch infiltrierten Zeitgeist ausleben kann (Sequenzen 5-6). Im ersten Teil zeigt uns Clair – mit Paris als Hintergrundkulisse10 – drei zu großen Gummitieren aufgeblasene, mit menschlichen Zügen versehene Puppen, die sich zu einer Galerie von Puppen multiplizieren. Des Weiteren: Eine Tänzerin, deren Ballettrock sich zu einer Blume ausweitet, aus extremer Froschperspektive aufgenommen. Bei der Ballerina handelt es sich nicht allein um eine Konzession an die oben erwähnte Funktion des Films als ‚Pausenfüller‘ innerhalb einer Ballettaufführung, sondern zugleich um ein filmisches Leitmotiv, hinter dem sich eine ästhetische Grundkonstante vor allem des Futurismus und in dessen Schlepptau auch aller anderen Avantgarden vor und nach dem Ersten Weltkrieg verbirgt: Kult der Bewegung, der Schnelligkeit, Reiz der Kontraste, des Schocks… Es folgen weiterhin scheinbar zusammenhanglosalogisch angehäufte Bilder, die via Überblende mit anderen, nicht weni7 Wie Anm. 5. 8 Lindemann, Bernhard: Experimentalfilm als Metafilm, Hildesheim/New York 1977, S. 105-135. 9 Scheugl, Hans/Schmidt, Ernst jr.: Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1974, S. 135. 10 In den Spezialwerken zum Komplex ‚Paris im Film‘ spielt ENTR’ACTE nach wie vor eine bescheidene Rolle: Hillairetz, Prosper/Lebrat, Christian/Rollet, Patrice (Hrsg.): Paris vu par le cinéma d`avantgarde (1923-1983), Paris 1985, S. 91; Cités-Cinés, Paris 1987, S. 304; Douchet, Jean/Nadeau, Gilles: Paris Cinéma. Une ville vue par le cinéma, de 1895 à nos jours, Paris 1987, ohne Erwähnung von Clairs Film; Paris Grand-Écran. Splendeurs des salles obscures 1895-1945, Paris 1994, S. 54.
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ger inkohärent erscheinenden Bildern fusionieren: Weiße Boxhandschuhe, auf schwarzem Hintergrund bewegt, werden in die Lichter der mitternächtlichen Metropole Paris übergeblendet. Die Lichter werden ihrerseits in leuchtende Zigaretten auf dem Kopf eines Mannes transformiert. Derselbe Mann (Marcel Duchamp) spielt mit seinem Partner (Man Ray) auf der Dachterrasse des Théâtre des Champs-Elysées Schach. Das Schachspiel wird nach und nach verdrängt von der Place de la Concorde, auf die unerbittlich der Regen niederprasselt. Dem Leitmotiv der Tänzerin korrespondiert eine weitere Figur der unberechenbaren Bewegungsästhetik: Ein Jäger richtet sein Gewehr auf ein (auf einem Wasserstrahl tanzendes) Ei; aus dem zerschossenen Ei entfliegt eine Taube, die sich auf den Hut eines Mannes setzt. Ein anderer Jäger richtet sein Gewehr auf die Taube, tötet jedoch (versehentlich oder absichtlich?) den Mann mit dem Hut. Der Mann fällt von der Dachterrasse unten auf die Straße. Sein Leichnam wird davongetragen... Vergeblich sucht man, in diesem ersten Teil des Films, nach einem das heterogene Bildmaterial verklammernden Handlungsfaden. Was der visuellen Semantik abgeht, wird freilich auf der Ebene der Bildsyntax substituiert. Der Katarakt der Bilder des ersten Teils wird durch ein Repertoire an Techniken zusammengeschweißt, dessen bloßes Vorhandensein bestimmten Avantgardisten die Spezifizität des ‚reinen Kinos‘ (cinéma pur) verbürgte: Doppel- bzw. sogar Dreifachbelichtungen und Überblenden (Mischung von Schnitt, Auf- und Abblende), auf den Kopf gestellte und verwackelte Einstellungen, Zeitlupe, Zeitraffer, der rückwärts laufende Film und dergleichen Kameratricks (truquage) mehr. Deutlich tritt die (auch in seinen zeitgenössischen kritischen Beiträgen wiederholt formulierte) Ambition des Filmregisseurs René Clair zutage, das auf Kontinuität des narrativ-dramatischen Erzählvorgangs abzielende Kino der verfilmten Romane und Dramen, das gerade erst 1922 durch die Société des Ciné-Romans zu neuem Leben erweckt wurde, zu destruieren. Auch für einen René Clair konnte damals nur ein solches Filmschaffen ‚rein‘ sein, das sich auf seine eigenen, genuin anti-mimetischen Techniken der Infragestellung eines – damals nach wie vor Theater und Literatur verpflichteten – Kinos der oberflächlichen Zerstreuung zu besinnen vermochte. In der avantgardistischen Terminologie der damaligen Zeit ausgedrückt hieß dies: der film dramatique und der film sentimental, obwohl noch marktbeherrschend, sind passé; es lebe der dadaistisch-antibürgerlich angehauchte Ikonoklasmus der ‚schönen Anarchie‘. Dieser dadaistischen Grundintention einer Zerstörung gängiger Sehgewohnheiten mittels Anhäufung monadisch angeordneter Schock-
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Bilder gehorcht der zweite Teil von ENTR’ACTE nur noch bedingt. Der Übergang zwischen den Sequenzen 4 und 5 wird bewusst fließend gestaltet: Ein Mensch (der Jäger) wird getötet und soll, von einem Trauerkondukt begleitet, beerdigt werden… René Clair präsentiert in der Folge eine Beerdigungszeremonie von groteskem Zuschnitt: Der von einem Kamel gezogene Leichenwagen, dem eine Gruppe von Menschen in seltsam raumgreifenden Zeitlupensprüngen folgt, macht sich auf einmal selbständig und rollt davon. Der Trauerzug versucht verzweifelt Anschluss zu halten. In akzelerierter Montage verfolgen Passanten, Radfahrer, Flugzeuge und Schiffe den durch Straßen, über eine Hochbahn und stadtauswärts fahrenden Leichenwagen (das stark verwackelte, auf dem Kopf stehende Bild deutet auf subjektive Kameraführung hin). Der Sarg fällt schließlich auf eine Wiese. Der Tote entsteigt dem Sarg und zaubert die ihn umringenden Leute einen nach dem anderen weg, zuletzt sich selber. Schließlich kommt er durch eine Papierwand gesprungen, auf der „FIN“ steht; mit dem Finger deutet er indes ein „Non“ an, als wäre der Film doch noch nicht zu Ende. Tatsächlich war der Mann der Dirigent der Ballettmusik zu Relâche. Die Pause ist nun zu Ende, der Mann nimmt wieder Platz auf dem Podium und beginnt wieder zu dirigieren...
2.
Avantgardistische Deutungsmodelle
Vier Begriffe werden in den mittlerweile zahlreichen Versuchen einer möglichen Situierung und Deutung von ENTR’ACTE im Kontext der historischen Avantgarden immer wieder, geradezu litaneiartig, bemüht: ‚dadaistisch‘, ‚surrealistisch‘, ‚avantgardistisch‘ heißen die geläufigsten Reizwörter, schließlich der quer zu solchen Denominationen stehende Begriff des „cinéma pur“.11 Beginnen wir mit letzterem. Jean Mitry, zweifellos einer der intimsten frühen Kenner des Werks von René Clair, behauptet mit geradezu apodiktischer Selbstgewissheit: „ENTR’ACTE [...] est le premier essai authentique – en même temps le premier chef-d`œuvre – de cinéma pur; l’un des seuls chefs-d’œuvre de cinéma pur de toute la période muette.”12 11 Zeitgenössische kritische Texte von Clair – etwa „Cinéma pur et cinéma commercial“ oder „Cinéma et Surréalisme“, publiziert in der berühmten Cinéma-Sondernummer der Cahiers du Mois, 16/17, 1925, S. 89f. – belegen seine differenzierte wie distanzierte Einstellung gegenüber einem ‚reinen‘ wie einem ‚surrealistischen‘ Kino. Ihre Lektüre hätte voreiligen Adepten solcher seitdem oft wiederholter Vereinnahmungen zu denken geben müssen. 12 Mitry, Jean: René Clair, Paris 1960, S. 17.
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Inwieweit partizipiert René Clair an einer Strömung, die – beispielsweise von Paul Valéry 1923 in seiner Antwort auf die Umfrage „Appel à la curiosité“13 – als Allheilmittel respektive wohlfeile Losung für ein Sammelbecken promulgiert wurde, das alles auffing, was dem damals gängigen Modell eines narrativ-dramatischen Kinos widersprach? Sieht man von einigen Einstellungen des ersten Teils ab, eigentlich recht wenig. Wenn Valéry das cinéma pur als eine Filmästhetik definiert, die sich auf ihre je medienspezifischen - und das hieß damals: unter gar keinen Umständen von den alten Leitmedien Theater und Literatur infiltrierten – Ausdrucksmöglichkeiten zu besinnen habe, dann wird schon in ENTR’ACTE auf Schritt und Tritt spürbar, dass René Clair sich weigert, einem Purismus der filmischen Form das Wort zu reden, welcher essentiell das Werk seines Bruders Henri Chomette charakterisiert. Mitrys These verkennt überdies die – erst von Pierre Billard in seiner René Clair-Biographie herausgearbeitete, ja bis zur Feindschaft gehende – Konkurrenz der beiden Brüder.14 In experimentellen Streifen wie JEUX DE REFLETS ET DE LA VITESSE (1923-1925) oder CINQ MINUTES DE CINÉMA PUR (1925), die das französische Pendant zum sog. deutschen ‚absoluten‘ respektive ‚abstrakten‘ Film von Viking Eggeling, Hans Richter oder Walter Ruttmann ausbilden, arbeitet der Bruder von René Clair mit abstrakten Objekten und Lichteffekten unter Zuhilfenahme des damals gängigen truquageRepertoires (Zeitraffer, Zeitlupe, Negativaufnahmen, Überblendungen, Mehrfachkopierungen, auf den Kopf gestellte Aufnahmen u.a.m.). Der Regisseur von ENTR’ACTE bedient sich derselben Techniken – dies jedoch nicht als virtuos gehandhabte Inszenierung von sich selbst genügender Technik, sondern als Material im Dienste einer – zumindest darin Dada im Ansatz durchaus verwandten – anti-bourgeoisen Ästhetik der Destruktion eingefahrener Sehgewohnheiten. Deutlicher kann man jedenfalls die Frontstellung des eigenen ästhetischen Ansatzes gegenüber dem cinéma pur-Konzept des Bruders nicht markieren. Außerdem: Es mag gerechtfertigt erscheinen, anno 1924 einen Kurzfilm wie ENTR’ACTE in Teilaspekten für eine näher zu definierende Konzeption von cinéma pur zu reklamieren – ein Jahr später erscheint dieses sog. ‚reine Kino‘ bereits aufgefächert in Analogien zu und Anleihen an Musik (symphonie visuelle), Dichtung (von der poésie pure zum ciné-poème), bildende und per-
13 Films, Nr. 4, März 1923 (Anhang zu: Le Theâtre et Comoedia Illustré, Bd. XXVI, Nr. 15, n.s., März 1923), unpaginiert – René Clair war von Dezember 1922 bis Dezember 1924 Chefredakteur dieser heute als Inkunabel gehandelten Filmbeilage. 14 Vgl. Billard 1998, S. 68-70.
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formative Künste (von Germaine Dulacs cinégraphie intégrale zu Elie Faures ciné-plastique). Schon damals ließen sich Abgrenzungen des Experimentellen nur noch willkürlich durchführen. Und 1930 „sollte Jean Vigo die allfällige Polemik gegen die technizistische, weil verfahrensverliebte Nabelschau einer künstlichen Übersubtilität […] nachreichen.“15 An einem Begriff – dies wurde bereits mehrfach angesprochen – kommen wir beim Versuch der Einordnung von ENTR’ACTE in um 1924 virulente Avantgarde-Bewegungen nicht vorbei. ‚Dadaistisch‘ impregniert ist und bleibt René Clair in mehrfacher Hinsicht. Zunächst ist, produktionsgenetisch gesehen, die Kompatibilität des ‚Pausenfüllers‘ ENTR’ACTE mit dem ballet instantanéiste „Relâche” von Rolf de Maré ebenso unübersehbar wie die Tatsache, dass die meisten der Ballett-Akteure auch in René Clairs Film auftreten. Weiterhin: der auf die Anreihung von Gags abzielende erste Teil des Drehbuchs von Francis Picabia und die schrille Musik von Eric Satie huldigen ebenso unübersehbar dem zeitgenössischen, an Provokation, Konfrontation und Skandal interessierten esprit dadaiste. Freilich: René Clair verweigert von Anfang an jegliche Mitläuferschaft (und erst recht: die Mitgliedschaft) in DadaKreisen à la Picabia, Man Ray, Marcel Duchamp und Eric Satie. Für Clair war eher eine andere Frontstellung von vitalem Interesse: Er fürchtete die starke Aversion der sich damals gerade als Gruppe konstituierenden Surrealisten Aragon, Breton, Desnos und Soupault gegen den Ikonoklasten Picabia, dem René Clair nun mal seinen Filmauftrag verdankte. Das gemäßigt positive Urteil von Aragon nach der Uraufführung von ENTR’ACTE hat seinem Schöpfer nicht nur geschmeichelt, sondern auch diesbezügliche Befürchtungen zumindest vorübergehend zerstreut. Überdies war René Clair bewusst, dass Dada nicht nur in französischen Avantgarde-Kreisen als eine – von jenseits des Rheins geprägte und nach dem Ersten Weltkrieg verständlicherweise nicht gerade enthusiastisch aufgenommene – deutsche oder doch zumindest dominant deutschsprachige Strömung galt, die bekanntlich erst im Januar 1920 von dem Rumänen Tristan Tzara in Paris heimisch gemacht wurde und sich dort fortan gegen eine von Kubismus, Futurismus, Simultaneismus und (später) Surrealismus dominierte, dezidiert italienisch-französisch geprägte Avantgarde zu behaupten hatte. Mit anderen Worten: René Clair ope15 Feindt, Hendrik: „Vivisektionen des Unreinen. Das Buch zum französischen Experimentalfilm“, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 171, 26.07. 2002, S. 35. Zur Diskussion steht der reichhaltige Katalogband zur Experimentalfilm-Retrospektive der Cinémathèque Française: Jeune, dure et pure! Une histoire du cinéma d`avantgarde et expérimental en France, Paris/Mailand 2001.
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rierte mit seinem Film ENTR’ACTE sozusagen zwischen zwei feindlich gesinnten Lagern – bemüht, es sich weder mit den dadaistischen Auftraggebern noch mit ihren immer stärker auftrumpfenden, von Dadaisten zu Surrealisten mutierten Konkurrenten zu verderben. Noch wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang ein weiterer Aspekt: Von Anfang an legte René Clair Wert auf die Feststellung, das Kino erfülle einen Unterhaltungsauftrag, der ihn dazu verpflichte, populäre, will sagen: beim großen Publikum ankommende Filme zu drehen. Diese Prinzipientreue vertrug sich auf Dauer kaum mit dem ikonoklastischen Touch des von den Dadaisten kultivierten eventartigen épater le bourgeois. Den zusammenhanglos-abgehackten Bilder-Staffetten des ersten Teils merkt man noch das gequälte Abhaken und Umsetzen von Picabia-Gags an. Erst im zweiten Teil findet unser Regisseur zu einer Filmästhetik, von der man sagen kann, dass sie sich nicht mehr dem Charakter einer Auftragsarbeit verdankt – mit anderen Worten: die dadaistische Ästhetik à la Francis Picabia unterläuft. Kann man diese sich just 1924 Bahn brechende neue Ästhetik schon als ‚surrealistisch‘ bezeichnen? Die Frage scheint in mancher Hinsicht falsch gestellt. Erstens: als René Clair seinen Film dreht, befindet sich das erste surrealistische Manifest erst im Entstehen; eine handfeste surrealistische Bewegung bildet sich im selben Jahr 1924 jedenfalls gerade erst aus. Zweitens: der im genannten Manifest von Breton deklamierten surréalité qua Fusion von réalité und rêve steht ENTR’ACTE ferner als sein Vorgänger PARIS QUI DORT (1923) – entstanden zu einer Zeit, als eine surrealistische Doktrin sich erst recht nur vage abzuzeichnen begann. Wenn einige Kritiker den ersten Teil von ENTR’ACTE der dadaistischen Bewegung und den zweiten Teil den Anfängen des Surrealismus zuordnen wollen, dann übersehen sie bei solchen sich verständlicherweise anbietenden Querverbindungen, dass unser Regisseur dem zeitgenössischen französischen Kino womöglich nicht mehr verpflichtet ist als der gesamten Geschichte des Kinos von den Anfängen bis 1924. Erst wenn wir die Filmbilder auf ihre Herkunft aus einer 1924 ja noch gar nicht so weit zurückliegenden Geschichte des frühen Kinos der Pioniere befragen, wird die Distanz bewusst, die Clair zu den jeweils modischen zeitgenössischen Avantgarden pflegt. Der Schlüssel zur filmhistorischen Situierung des Clairschen Bilderrepertoires liegt dabei in der intellektuellen und speziell mediengeschichtlichen Biographie des jungen Regisseurs.
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3.
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ENTR’ACTE und die Tradition (Theater/Film/Literatur)
Bis 1918 interessierte sich René Clair nicht einmal als Zuschauer für das Kino, geschweige denn als Regisseur.16 Seine bevorzugten Medien hießen Literatur (von Anfang an wollte er Schriftsteller werden und publizierte 1926 u.d.T. Adams einen vielbeachteten Filmroman), Theater (verständlicherweise schätzte er, neben einem Skakespeare, das französische Theater vom 17. zum 19. Jahrhundert) und vor allem die spectacles vivants (music-hall, Revue, Zirkus, café-concert). Dass er zur gleichen Zeit, darin allen Avantgarden nahestehend, das auf dem angeblich verbrauchten Wort basierende Theater und die in seinen Augen nicht weniger kompromittierte Literatur als ‚veraltete‘ Ausdrucksformen und sogar als ‚Feinde‘ des Kinematographen ansah, wurde bereits angedeutet. Seine Filmkultur bleibt allerdings bis 1918 rudimentär bis einseitig ausgeprägt: die Brüder Lumière und Méliès, der frühe französische (neben Prince Rigadin und Levesque-Cocantin besonders Max Linder) und amerikanische (zumal Mack Sennett und Chaplin) Komikerfilm, der eine oder andere deutsche expressionistische oder schwedische Film – viel mehr an Filmkultur ist nicht verbürgt. Im film comique, so Clair damals, habe das Kino am ehesten zu sich gefunden; der film dramatique sei wenigstens hin und wieder visuellen Zuschnitts, der film sentimental (sicherlich à la Gaumont) jedoch fast immer von Theater und Literatur verseucht.17 Zum Film kommt René Clair durch die wohlwollende Unterstützung seitens der damals bekanntesten französischen Regisseure (vor allem Jacques de Baroncelli und Henri Diamant-Berger), später auch durch die Zusammenarbeit mit Claude Autant-Lara, Louis Delluc, Marcel L’Herbier – um seinen um zwei Jahre älteren Bruder Henri Chomette nicht zu vergessen. Die Hauptaufgabe seiner Generation sieht er, bezeichnend für seinen französisch-national kolorierten filmhistorischen Konservatismus, darin, das Kino wieder an seine (eben vor allem französischen und durch den Ersten Weltkrieg verschütteten) Ursprünge heranzuführen – mediengeschichtlich ausgedrückt: der Fimregisseur solle „ramener le cinéma vers ses origines et, pour cela, le débarrasser de tout faux art qui l’étouffe“.18 Die ‚falschen‘ Vorbilder respektive Verführer 16 Zu den frühen filmischen Anregungen und Einflüssen vgl. wiederum Billard 1998, S. 67f. 17 Vgl. die frühe, nach wie vor lesenswerte Studie von Charensol, Georges/Régent, Roger: Un maître du cinéma: René Clair, Paris 1952, hier besonders S. 52. 18 „Manifeste“, Comoedia, 1924; zit. nach ebd., S. 53.
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heißen damals – freilich nicht allein für ihn, sondern für weite Teile der Avantgarden – Literatur und Theater. Aber war René Clair schon damals nicht zugleich der Auffassung, der Film habe die Aufgabe, Poesie, Theater und Roman just im Medium des Films als visuelle Kunst zu restituieren – darin Fernand Léger, der die literarisch-theatralen Ursprünge des Films (zumal in seiner Ausformung als Szenario) verachtete, leidenschaftlich widersprechend? Erst vor diesem – von Heterodoxien durchaus nicht freien – biographischen und mediengeschichtlichen Hintergrund wird die spezifisch filmhistorische und – ästhetische Verankerung der Clairschen Bilderwelt lokalisierbar und deutbar. Beispielsweise verdankt sich die Verfolgungsjagd des Trauerzuges hinter dem Leichenwagen her keiner wie auch immer gearteten zeitgenössischen Avantgarde und erst recht nicht den Konzepten der Verfechter des ‚abstrakten Films‘, sondern den Filmburlesken eines (von Clair überaus geschätzten) Mack Sennett. Wenn sich die von unten durch eine Glasplatte hindurch voyeuristisch gefilmte Ballerina am Ende als ein Mann mit Vollbart und Kneifer entpuppt oder wenn sich schon zuvor der brennende Stroh- oder Heuhaufen als ‚brennendes‘ Kopfhaar eines Mannes herausschält, dann sind wir nicht weit entfernt von jenen zahlreichen Mack Sennett-Comedies, in denen eine bestimmte Kameraperspektive in den Dienst der Hervorbringung eines Gags gestellt wird, wobei der Ballerina/Mann – Gag in seiner Struktur genau dem Muster der klassischen slapstick-comedies gehorcht. Allerdings verweigert sich unser Regisseur dem wohlfeilen Plagiat: Wenn Sennett die für seine Burlesken fundamentale Bewegungsästhetik auf einer akzelerierten Motorik beruhen lässt, spielt René Clair im zweiten Teil von ENTR’ACTE geradezu mit dem Kontrast von Bewegung und Erstarrung, Mobilität und Immobilität. Im Zentrum seiner Bewegungsästhetik steht nicht die (Mack Sennett mit Chaplin-Charlot verbindende) Produktion komischer Effekte, sondern die Suche nach einem dem Filmsujet angepassten Rhythmus. Von daher die Bedeutung einer Satie’schen Musik, die dieser Suche zugeordnet wird – oder umgekehrt: die Bedeutung von Filmbildern, die dem Rhythmus der Musik von Satie angepasst werden. Provozierend-komisch wie die ‚pornographische‘ Musik von Satie war bereits im ersten Teil des Balletts Relâche das Auftreten der acht Männer, deren vestimentäre Erscheinung („queue de pie noire, cravate blanche, gants blancs et chapeau claque“) an den von Chaplin als sein
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großes Vorbild herausgestellten Filmkomiker Max Linder erinnerte.19 In seinen frühen theoretischen Schriften wird René Clair nicht müde, neben den amerikanischen Komikern die französischen Filmpioniere als seine großen Anreger hervorzuheben. Die Ausarbeitung von populären Filmen ist bei ihm, weit über 1924 hinaus, gekoppelt an die Verschmelzung zweier Traditionsstränge, denen er sich zeitlebens verpflichtet fühlt: der von den Brüdern Lumière kreierten realistisch-dokumentarischen Richtung und dem von Méliès inaugurierten phantastischen Kino der fééries und des (auf der Bühne des Théâtre Robert Houdin vorexperimentierten) truquage. Just dort, wo die Brüder Lumière 1895 zum ersten Mal ihren Cinématographe der Öffentlichkeit vorführten – im Grand Café, boulevard des Capucines – entdeckte Méliès 1897 per Zufall die für Clairs Film essentielle Technik des truquage (Frauen verwandeln sich in Männer, Autobusse in Leichenwagen…). Wenn der Kopf einer der drei in einer Jahrmarktbude ausgestellten Gummipuppen immer kleiner wird, um sich dann zu einem riesigen Ballon aufzublasen, steht Méliès’ Kurzfilm L’HOMME À LA TÊTE DE CAOUTCHOUC (1902) als cineastischer Pate im Raum.20 Erst recht erinnert die solide Einbettung der grotesken Szenerie des Leichenzuges in die konkrete Topographie von Paris und Umgebung zugleich an den ‚realistischen‘ Lumière und den ‚phantastischen‘ Méliès. Derlei historisch begründete Substrate respektive Inspirationsquellen fusionieren in ENTR’ACTE mit zeitgenössischen Adstraten einer 1924 noch dominant futuristisch-dadaistisch geprägten Avantgarde, denen sich unser Regisseur weder völlig entziehen will noch kann. Und dies heißt zugleich: es wäre verfehlt, einen ersten ‚abstrakten‘, statischen Teil von Clairs Film gegen einen zweiten, stärker narrativ-handlungsorientiert-dynamischen Teil abgrenzen zu wollen, vielmehr ist es gerade diese Spannung zwischen zwei unterschiedlichen Konzepten von filmischer Avantgarde, die ENTR’ACTE – bis hinein in die beide Teile verklammernde Struktur der inkongruenten Tempi – durchgehend charakterisiert.21 In solchen Amalgam-Strukturen, welche Pierre Billard, wie eingangs erwähnt, als „nouvelle alchimie esthétique“ umschrieben hat, läge dann zwar ein zentraler Aspekt der – historisch jederzeit ableitbaren – Originalität von ENTR’ACTE begründet, doch belegen die einzelnen Versatzteile aus der Frühgeschichte des Kinematographen zugleich die fraktale 19 Norman, Sally Jane: „,Relâche‘: Un spectacle-phare“, in: Claudine AmiardChevrel (Hrsg.): Théâtre et cinéma années vingt. Une quête de la modernité, Lausanne 1990, S. 12. 20 Ebd. 21 Dale (1986) arbeitet diese für ENTR’ACTE charakteristische Spannung zwischen Statik und Bewegungsdynamik überzeugend heraus.
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Machart von René Clairs Meisterwerk und ihre solide Verankerung in der filmhistorischen Memoria.
4.
ENTR’ACTE zwischen den Künsten und Medien
In Erinnerung gerufen seien noch einmal jene Schnittstellen zwischen den zur Diskussion stehenden Medien und Künsten, welche die Grundlage für alle weiteren – fortan inter- bis multimedial ausgerichteten – Erkundungen bilden: die Funktion des Filmtitels ENTR’ACTE als Brückenbauer zwischen zwei Institutionen (Kino/Theater) und drei Ausdrucksformen (Film/Tanz/Theater); die kühne Plazierung des Films von René Clair als ‚Zwischenspiel‘ auf der Bühne des Théâtre des Champs-Elysées und zugleich als ‚Pausenfüller‘ innerhalb eines Balletts; die doppelte Funktion des Ballett-Titels Relâche im Sinne der Annullierung einer Aufführung bei gleichzeitiger Ermunterung zu entspannter Rezeption derselben. Erst recht erklärt die Abfolge von Vorhang (Theaterbühne), Zwischen-Vorhang (Ankündigung der Autoren des ballet instantanéiste, Francis Picabia und Eric Satie) und Filmleinwand (die soeben genannten, auf dem Dach des Théâtre des Champs-Elysées an einer Kanone herumhantierenden Herren, die, Inkarnation einer surprise à la Dada, einen Kanonenschuss auf ihr Publikum abfeuern – ein filmisch verpackter coup de théâtre als Herausforderung an das solcherart erst einmal geschockte Publikum, die nach der Vorführung des Filmprologs unverzüglich beantwortet wird, wenn die 370 mit Glühbirnen versehenen Projektoren im Hintergrund der Bühne auf die Zuschauer gerichtet werden) jenes Verwirrspiel, das die farceurs dadaistes Picabia und Satie mit den Erwartungen ihres jeden neuen Skandal begierig einfordernden Publikums treiben. Wie intensiv die Verbindung von Film und Tanz die Pariser Avantgarde schon vor der Arbeit an ENTR’ACTE beschäftigt, lässt sich just an der künstlerischen Entwicklung des frühen René Clair ablesen: Sein Filmdebüt als Schauspieler in Loʀe Fullers Ballettfilm LE LYS DE LA VIE (1920) sowie sein im Rahmen des Laboratoire Art et Action entwickeltes Projekt Poème-Dancing (1922) präludieren nicht von ungefähr jener Ballerina-Sequenz von ENTR’ACTE, in der Gabriele Brandstetter22 eine unmittelbare Anspielung auf Loʀe Fullers Feuertanz dingfest gemacht hat – jene 22 Brandstetter, Gabriele: „Unter-Brechung. Inter-Medialität und Disjunktion in Bewegungskonzepten von Tanz und Theater der Avantgarde“, in: Erika Fischer-Lichte/Wolfgang Greisenegger/Hans-Thies Lehmann (Hrsg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen 1994, S. 106. Hanno Ehrlicher sei für diese Anregung gedankt.
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Erfinderin des Serpentinentanzes, die Clairs Entscheidung für die wenige Jahre später einsetzende Arbeit als Filmregisseur wesentlich beeinflusst hat. Die leitmotivische Wiederholung dieser par excellence voyeuristischen Kameraeinstellung (der indiskrete Blick ‚von unten‘ auf die Unterwäsche einer Tänzerin) im ersten Teil von ENTR’ACTE ruft uns immerfort die fundamentale ‚Bühnenillusion‘ von Clairs Film in Erinnerung, anders ausgedrückt: seine stets inszenierte, artifizielle, jegliche Schockästhetik am Ende dämpfende Theatralität. Was auf der starren Bühne des Theaters freilich nur möglich wäre, wenn man den Zuschauerraum unterhalb der Bühne ansiedelte – der voyeuristische Blick – bewältigt die Filmkamera durch flexible Positionierung ‚von unten‘ (extreme Froschperspektive). Gerade die zentrale Trauerzug-Sequenz des zweiten Teils erscheint für eine zwischen den Medien Film/Tanz/Theater vermittelnde Analyse besonders ergiebig. Wir sehen einen vor einem Haus wartenden Leichenwagen. Die Trauergesellschaft tritt aus dem Haus. Ein Windstoß hebt die Röcke der Damen in die Höhe. Die in schwarzem Anzug und Zylinder gekleideten Herren haben große Blumenkränze um den Hals gehängt. Die Trauergesellschaft stellt sich hinter dem mit Papierblumen, Schinken, Würsten und Kränzen aus Brot geschmückten Leichenwagen auf. Einer der den Wagen begleitenden Trauergäste reißt ein Stück Brot aus dem Kranz und isst es. Die Theatralik der Szenerie wird durch einen Gag à la Dada noch gesteigert: Der von einem Dromedar gezogene Leichenwagen wird von einem Mann in der Uniform der Banque de France gelenkt. Während sich der Wagen im Zeitlupentempo in Bewegung setzt, folgen die Trauergäste in ebenfalls zeitlupenartig gedehnten riesigen Sprüngen. Und während ihre artifizielle Fortbewegung die extatischen Bewegungen der Ballerina, deren bloße Existenz die Brücke zur Ballett-Aufführung bildet, echohaft wiederaufnimmt, schneidet Clair just an dieser Stelle – als wollte er die intermediale Vernetzung von Film und Tanz in Erinnerung rufen – die wieder von unten photographierte Ballerina in den Montageablauf ein. Während sich der Leichenwagen unbemerkt aus dem Zuggeschirr des Dromedars löst und alleine die Straße hinunterrollt, macht sich der Wagenführer an die Verfolgung des Leichenwagens im Stil der Slapstick-Einlagen eines Mack Sennett oder Chaplin. Der Sarg kippt schließlich vom Leichenwagen runter und landet auf offenem Feld. Selbstverständlich kannte Clair die Versuche des Engländers Edweard Muybridge und seines Landsmanns Etienne-Jules Marey, unter Zuhilfenahme der Photographie die Natur menschlicher und tierischer Bewegungsabläufe zu erkunden.23 Clairs kinematographisch-flexibel ver23 Vgl. Lindemann 1977, S. 127f.
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mittelte Phasenbilder knüpfen da an, wo Muybridge und Marey sowie ihre futuristischen Adepten (die Maler Giacomo Balla, Gino Severini und Umberto Boccioni sowie der Photograph Anton Giulio Bragaglia als Vertreter des fotodinamismo futuristo) aufgehört haben. In der Weise eines optischen accelerando schöpft René Clair in ENTR’ACTE die breite Palette der Darstellung von Bewegungsvorgängen systematisch aus: Von den raumgreifenden, zeitlupenhaft-retardierten Sprüngen der Teilnehmer des Trauerzugs zu Beginn der Sequenz über die ‚normale‘ Fortbewegung bis hin zu den schwindelerregend-akzelerierten Bewegungen am Schluss der Sequenz. Dabei manipuliert Clair nicht lediglich nur die Aufnahme- und Projektionsgeschwindigkeit des Films, um den Eindruck einer Temposteigerung beim Zuschauer hervorzurufen; dem gleichen Zweck dienen etwa auch die immer kürzer werdenden Schnittfolgen, die bei der Aufnahme heftig bewegte, ‚subjektive‘ Kamera, die in Schräglage oder auf dem Kopf stehend die Welt abbildet, die Doppel- und Mehrfachbelichtungen, die in ihrer Komplexierung die Konturen der Außenwelt immer stärker verwischen, bis der Eindruck eines rasenden Vorwärtsstürzens erreicht wird.24
An solchen und zahlreichen anderen Stellen des Films verraten die Derealisierungseffekte die Anlehnung an Traditionen eines französischen Illusionstheaters, das – etwa im théâtre optique des 19. Jahrhunderts – seinen Handlungsgegenstand mit zunehmender Aufführungsdauer immer stärker zugunsten der visuellen Effekte zurückdrängt. Erst recht kommt der Schluss des Films ohne die Anlehnung an eine althergebrachte Theaterkonvention nicht aus. Das prestissimo der soeben zitierten Sequenz wird abgelöst durch gleich mehrere Paukenschläge. Teilnehmer des Trauerzugs versammeln sich um den auf der Wiese liegenden Sarg. Unter ihren verdutzten Blicken öffnet sich der Sargdeckel von selbst. Und statt des tot geglaubten Mannes im Jägerkostüm entsteigt ein strahlender Zauberer in schwarzem Frack dem Sarg. Mit einem Zauberstab zeigt er auf jeden der neugierig Umherstehenden, die durch diese Geste von der Bildfläche verschwinden. Zuletzt löst sich der Zauberer auf diese Weise selbst in Nichts auf. Auf einer Papierwand erscheint das Schlusswort „FIN“. Wie der gute alte deus ex machina des klassischen Theaters springt der Zauberer plötzlich im Zeitlupentempo durch diese Leinwand und zerstört sie durch seine Bewegung. Den am Boden liegenden Zauberer befördert ein Fußtritt wieder hinter die Papierwand (wobei der Film 24 Vgl. ebd., S. 108.
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rückwärts gespult wird). Letztere schließt sich unversehrt, wodurch auch das Schlusswort „FIN“ wieder erscheint und das nun definitive Ende des Films markiert. So schließt sich ein von den Konventionen des Theaters gespeister Kreis: vom Vorhang und Zwischen-Vorhang zu Beginn des Films bis zum – mit magischen Kräften ausgestatteten – ‚deus ex machina‘- Zauberer à la Méliès oder Max Linder. Rückblickend – anlässlich der Edition der Tonfilmfassung von ENTR’ACTE im Jahre 1967 – pflegt René Clair mit dem Originalitätsanspruch seines Films einen durchaus (selbst)kritischen Umgang, wenn er feststellt: Certains se sont demandés quelle est la part de ce qu’on nomme ‚la sincérité‘ dans ce genre d’entreprise. Voilà une question pertinente mais à laquelle il n’est pas aisé de répondre. Je ne suis pas moimême en mesure de discerner ce qui tient à la provocation, à la mystification ou au sérieux dans mon propre apport à un ouvrage improvisé pour quelques soirées et que le hasard a fait survivre. Et l’incertitude où je suis sur ce point m’amène à poser la même question quant à diverses productions artistiques de notre temps. Je souhaite qu’un jour quelque futur docteur écrive une thèse intitulée: ‚Du rôle de la mystification consciente ou inconsciente dans l`art contemporain‘. Croyez-moi, ce n’est pas un sujet négligeable.25
Heißt dies, dass René Clair nach über dreißig Jahren von seinem Ausflug in die Filmavantgarde abrückt? Unsere Darstellung versuchte zu zeigen, dass der Regisseur sozusagen zwischen den Fronten steht: einem moderaten Avantgardismus mit solider, Traditionsbewusstsein verratender filmhistorischer Verankerung. Gleichzeitig ist die These, der avantgardistisch ambitionierte Autorenfilm sei seit René Clair „nicht nur eine selbstreflexive Erkundung der künstlerischen Logik des Mediums Film, sondern auch und vor allem eine radikale Absage an kommerziellen Spielfilm, samt seiner literarisch-theatralischen Konventionen und seiner Konzeption vom Zuschauer als Konsumenten.“26 hinsichtlich der ‚literarisch-theatralischen Konventionen‘, mit denen ENTR’ACTE bewusst spielt, mit Vorsicht zu genießen.
25 Clair, René: „Picabia, Satie et la première d`ENTR’ACTE“, in: Le Figaro, Ende Juni 1967; zit. nach ders.: L`Avant-Scène Cinéma, Paris 1968, S. 7 (vgl. Anm. 5). 26 Felix, Jürgen: „Autorenkino“, in: ders. (Hrsg.): Moderne Film Theorie, Mainz 2003, S. 22.
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Literatur Amengual, Barthélémy: René Clair, Paris 1963. Amiard-Chevrel, Claudine (Hrsg.): Théâtre et cinéma années vingt. Une quête de la modernité, Lausanne 1990. Barrot, Olivier: René Clair ou le temps mesuré, Renens 1985. Billard, Pierre: Le mystère René Clair, Paris 1998. Charensol, Gerorges/Régent, Roger: Un maître du cinéma: René Clair, Paris 1952. Cinéma dadaiste et surréaliste (catalogue d’exposition), Paris 1976. Clair, René: L’Avant-Scène Cinéma, no. 86, Paris novembre 1968 (enthält – neben dem „découpage après montage définitif“ (S. 11-18) – weitere wichtige Dokumente zu ENTR’ACTE). Dale, Robert C.: The Films of René Clair, Bd. I: Exposition and Analysis, Vol. II: Documentation, New York/London 1986. Greene, Naomi: René Clair. A Guide to References and Resources, Boston 1985. Herpe, Noël (Hrsg.): „René Clair“, 1895. Revue de l`association française de recherche sur l`histoire du cinéma, no. 25 (septembre 1998). Herpe, Noël/Toulet, Emmanuelle (Hrsg.): René Clair ou le Cinéma à la lettre, Paris 2000. Kyrou, Ado: Le surréalisme au cinéma, Paris 1963. Lindemann, Bernhard: Experimentalfilm als Metafilm, Hildesheim/New York 1977. Mitry, Jean: René Clair, Paris 1960. Mitry, Jean: Le cinéma expérimental. Histoire et perspectives, Paris 1974. Noguez, Dominique: Eloge du cinéma expérimental. Définitions, jalons, perspectives (catalogue d’exposition), Paris 1979. Scheugl, Hans/Schmidt jr., Ernst: Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1974.
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Nicht zugänglich war uns der Sammelband „Analyse des films de René Clair, par des élèves de l’Institut des Hautes Etudes Cinématographiques (IDHEC)“, Paris o.J. (184 Seiten). Hingewiesen sei außerdem auf den René Clair-ARTE-Themenabend (17.01. 1999, 20.40 - 00.30), der – außer den beiden Filmen LE SILENCE EST D’OR und PARIS QUI DORT – u.d.T. „Der Blick des René Clair“ ein Porträt des Regisseurs sowie ein Interview mit Bronja Clair, der Witwe von René Clair, bot.
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EIN AVANTGARDEFILM IM MEDIENUMBRUCH – RENÉ CLAIRS ERSTER TONFILM SOUS LES TOITS DE PARIS L’esprit du cinématographe sera toujours en avant de son organisation mécanique. Certains, ayant constaté ce phénomène, en ont conclu à l’existence d’une avantgarde et ont réduit le problème à une petite discussion d’école et à des rivalités d’ambition. Ils ne voient pas que tout cinéma qui compte n’est qu’une avant-garde, puisque seul le progrès du film 1 peut nous intéresser.
Abstract Face aux courants avantgardistes, René Clair garde toujours une certaine réserve. Pour lui, le cinéma est avant tout enraciné dans la culture populaire et pour cette raison il ne doit pas être réduit à des courants esthétiques trop restreints. Afin de sauvegarder cet ancrage populaire, René Clair relie dans ses films – notamment vers le tournant du muet au parlant – les nouvelles techniques innovatrices avec des éléments de la culture traditionnelle tels que, l’operette, le vaudeville et le cinéma muet. L’analyse du premier film sonore de René Clair SOUS LES TOITS DE PARIS vise à démontrer son côté avantgardiste au niveau de la synthèse d’éléments anciens et modernes – avantgardiste au sens propre du terme. Ainsi, la structure entière du film est dominée par des répititions nombreuses d’une chanson, de sorte que l’histoire du film semble avec sa simplicité cyclique rangée au second plan. C’est l’atmosphère du milieu ‚sous les toits de Paris’ qui compte et celle-ci est réalisée de façon à la fois réaliste et théâtrale; par le jeu et le chant des acteurs, par l’architecture du studio et par le scénario méticuleux. René Clair begründet seine Zurückhaltung gegenüber erklärten Filmavantgardisten damit, dass die Filmkunst in besonderer Weise aus der 1 Clair, René: „Le cinématographe contre l’esprit“ (1927), in: ders.: Cinéma d’hier, cinéma d’aujourd’hui, Paris 1970, S. 179.
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breiten populären Massenkultur erwachsen ist und sich deshalb nicht auf bestimmte Ismen eingrenzen lassen sollte. Auch und gerade in der Übergangsphase vom Stummfilm zum Tonfilm beabsichtigt er deshalb, die sich bietenden filmtechnischen Innovationen ganz bewusst mit traditionellen Elementen wie der Chansonkultur, dem Vaudeville und Elementen des Stummfilms zu verbinden. Dieser Vortrag analysiert, inwiefern René Clairs erster Tonfilm SOUS LES TOITS DE PARIS in der Art und Weise der Kombination von Alt und Neu ein (im eigentlichen Sinne) avantgardistisches Tonfilmexperiment darstellt. – Insgesamt ist SOUS LES TOITS DE PARIS ein musikalischer Filmreigen, der aus zahlreichen Wiederholungen des Titelchansons gebildet wird und die schlichte, zirkulär angelegte Filmhandlung deutlich bestimmt. René Clairs zentrale Absicht ist es, die spezifische Atmosphäre der Lebenswelt ‚unter den Dächern von Paris‘ zugleich auf realistische und theatralische Weise nachzuempfinden. Dies betrifft das Spiel und den Gesang der Darsteller ebenso wie die Studioarchitektur und die minutiöse Detailgenauigkeit des Drehbuchs.
Auf den ersten Blick hat René Clairs Tonfilmdebut SOUS LES TOITS DE PARIS (1930) wenig gemein mit seinen früher entstandenen Parisfilmen. Vielmehr vermittelt der direkte Vergleich den Eindruck eines filmästhetischen Bruchs. Destruktionen des urbanen Raum-Zeit-Gefüges, wie beispielsweise das auf märchenhafte Weise zum Stillstand gebrachte Pariser Stadtleben in PARIS QUI DORT (1923) oder die grotesk-rasanten Verfolgungsjagden durch Paris in ENTR’ACTE (1924) weichen nun einem harmonischen Tempo. Eine deutlich geringere Schnittfrequenz, eine detailgetreue, dem trompe-l’œil nahe kommende Studioarchitektur, das stilisierte Spiel der Schauspieler und schließlich eine konsequent am Prinzip des Kontrapunkts ausgerichtete Synthese von Bild- und Tonelementen machen die immer wieder hervorgehobene Klassizität dieses Films aus. So unterschiedlich das Bild der Stadt in seinen Stummfilmen und Tonfilmen auch oberflächlich erscheint, so konsequent parallel erweist es sich auf den zweiten Blick. Denn René Clair passt die zentralen Leitlinien seiner Stummfilmästhetik den neuen Vorzeichen des Tonfilms an. Die solchermaßen verändert erscheinende Gestaltung seiner Filme wird auf diese Weise zu einer Fortführung seines eigenwilligen avantgardistischen Gestus. Im Filmschaffen René Clairs erfährt dabei eine ohnehin schon komplizierte Situation der Filmavantgarde im frühen Tonfilm eine zusätzliche Verschärfung. René Clair selbst verstand sich stets als konservativer auteur de cinéma, der dennoch den Avantgardebegriff für sich in Anspruch nahm. Die ‚Neuerfindung‘ der Filmavantgarde im Kontext des Tonfilms treibt dieser nun dadurch voran, dass er Traditionselemente der Unterhaltungskünste und überraschende ästhetische und filmtechnische Innovationen miteinander in Einklang zu bringen versucht, um auf diese Weise die mit der Schaulust des Publikums verbundenen populären
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Wurzeln des Unterhaltungskinos zu erneuern. Immer schon setzte René Clair auf diesen bewussten Einsatz anachronistischer Elemente, wobei gerade die Anfänge der Filmkunst einen besonderen Stellenwert einnehmen, so Barthélemy Amengual: Dès le départ, l’œuvre de Clair porte donc déjà, et profonde, la marque qui la qualifiera dans sa totalité: une désuétude, un air de vieux cinéma, une nostalgie dont la tristesse est recouverte par l’allégresse de l’invention, la modernité de la poésie. Tous les films, ou presque, de Clair peuvent apparaître, et plus encore avec le recul des ans, comme des tombeaux du cinéma muet. Je donne à 2 ‚tombeau‘ la valeur qu’il a chez Mallarmé [...].
Damit ist René Clairs Avantgardekino ein ausgesprochen ‚retrogrades‘ Kino und SOUS LES TOITS DE PARIS in dieser Hinsicht ein widersprüchlicher Avantgardefilm im Medienumbruch, dessen harmonische Oberfläche sich dennoch nicht grundlegend von Filmen wie ENTR’ACTE entfernt hat.3 Als Referenzpunkt der folgenden Analyse seines ersten Tonfilms SOUS LES TOITS DE PARIS fungiert René Clairs zugleich konservatives und avantgardistisches Autorenkino. Welche avantgardistischen Elemente finden sich in diesem Film und auf welche Weise werden sie harmonisiert und synthetisiert? Welche Widersprüche bleiben bestehen? Besonderes Augenmerk gilt der Verwendung und Funktionalisierung von Musik und Gesang im Film. Vor allem die damit verbundenen Referenzen an Traditionen des Musiktheaters zwischen Revue und Operette stehen dabei im Zentrum. Darüber hinaus geht es um filmästhetische Verfahren eines als Manifest konzipierten Tonfilms der deutsch-französischen Tobis-Klangfilm GmbH/Société des films sonores Tobis. Schließlich bleibt zu fragen, ob realistische oder aber theatral-surreale Strukturen in diesem Film insgesamt überwiegen.
2 Amengual, Barthélemy: René Clair. Présentation par Barthélemy Amengual. Propos de René Clair. Panorama critique. Témoignages. Filmographie. 60 documents iconographiques. Nouvelle édition mise à jour, Paris 1969, S. 14. 3 Vgl. zu ENTR’ACTE den Beitrag von Albersmeier in diesem Band. Ihm danke ich für seinen Hinweis auf den von Noël Herpe und Émmanuelle Toulet herausgegebenen Band: René Clair ou le Cinéma à la lettre, Paris 2000.
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FilmChanson Angesiedelt in einer idyllisch-pittoresken Pariser Vorstadtatmosphäre entführt René Clairs Film seine Zuschauer in die Welt der kleinen Leute – von der Concierge bis zum Taschendieb, vom kauzigen Junggesellen bis zum jungen Liebespaar. Der Straßensänger Albert singt zusammen mit einem Akkordeonisten seine Lieder für die Bewohner der Hinterhöfe und lebt vom Verkauf der Liedtexte. Das von ihnen gesungene Lied Sous les toits de Paris wird zum Titel des Films. Albert und dessen bester Freund Louis verlieben sich in die junge Rumänin Pola. Um ihrer gemeinsamen Freundschaft willen würfeln die beiden um das Mädchen und obwohl das Glück auf Alberts Seite ist, verliert dieser Pola an Louis. Albert stellt sich gegen sein Würfelglück und gibt Pola frei, um schließlich sein Lied für ein anderes Mädchen neu anzustimmen. Die Botschaft des Films lässt sich also auf die schlichte Maxime bringen, dass das Leben lediglich ein Spiel ist, und man dessen Wechselfällen mit Optimismus, Humor und Gesang begegnen sollte, wobei im Modus des Spiels existentielle Tiefe bewusst ausgeschlossen bleiben muss. Eine solchermaßen spielerische Atmosphäre lässt das, was erzählt wird, unwichtig werden, zumal der Film am Ende direkt wieder von neuem beginnen könnte.4 So sind in den meisten heute zugänglichen Fassungen des Films Anfang und Ende filmtechnisch miteinander verknüpft. Dabei bewegt sich die Kamera ausgehend von den Dächern typischer Pariser Wohnhäuser mit ihren rauchenden Schornsteinen hinein in den Hinterhof, wo Albert und die Bewohner gemeinsam das Chanson Sous les toits de Paris singen. Am Ende des Films wird diese Einstellung in gespiegelter Reihenfolge wiederholt. Diese Verklammerung von Anfang und Ende war sowohl in den Drehbuchmaterialien als auch in den ursprünglichen Fassungen anders gestaltet. Dort begann der Film mit einer Sequenz, in der zunächst die zentralen Charaktere Albert, Louis und Pola vorgestellt werden, indem sie sich in ihrer jeweiligen Landessprache anreden.5 Zentrales Motiv dieser Sequenz bildet das Würfeln der beiden Freunde um Pola.6 4 Clair unterstreicht in seinen Äußerungen über die Gestalt und Natur des Drehbuchs im Jahr 1926: „Le cinéma, art âgé de vingt-cinq ans, ne peut toujours traiter des sujets ‚profonds‘. Il est même certain que la valeur littéraire d’un scénario n’influe guère sur la valeur du film“ (Clair 1970, S. 158). 5 Vgl. Einstellungen 1-31 im Filmprotokoll der Zeitschrift L’Avant-Scène cinéma 281 (Feb. 1982). Auch das ausgearbeitete Drehbuch sowie ein früher erstelltes Résumé René Clairs setzten mit dieser Sequenz ein (vgl. Dreh-
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Die nachträgliche Entscheidung René Clairs für die Kreisstruktur macht diesen Film zu einem FilmChanson, zu einem Musikfilm, was auch der ursprünglich vorgesehene Titel ‚musette‘ unterstreicht.7 Anfang und Ende beginnen nun mit einer Gesangssequenz, die René Clair im Drehbuch folgendermaßen beschreibt: Du haut des maisons, on voit le groupe formé par Albert et les passants. Le refrain monte le long des étages et se fait entendre très doucement parmi les cheminées et lucarnes. Il semble sortir des 8 toits de Paris.
Eine alles andere überlagernde musikalische Struktur tritt an die Stelle der Narration. Auf diese Weise gewinnt die Filmhandlung einen sinfonischen Charakter.9 Die Figur des Kreises verweist dabei sowohl auf das musikalische Rondo, als auch auf die Form einer Schallplatte, welche man immer wieder neu auflegen und abspielen kann. Als ein solches FilmChanson ist SOUS LES TOITS DE PARIS jedoch ein Musikfilm ‚zwischen den Stühlen’: Im Gegensatz zu anderen typischen Beispielen des frühen Tonfilms orientiert sich SOUS LES TOITS DE PARIS weder an den Konventionen der Operette, noch an den Strukturen des Revuetheaters. In der Operette nimmt der Gesang insofern eine absolutere Funktion ein, als dieser darin „den Spielraum dessen, was auf der Bühne geschieht“, „erzeugt, bestimmt und umreißt“.10 In der Revue hingegen fragmentieren
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buchmaterialien der BIBI, Bibliothèque du Film, Paris ‚archives scénariques‘, Fonds Lazare Meerson, Fonds Collection Jaune, cote CJ1397B182). Clair hatte diese Prologsequenz in den 60er Jahren entfernt und damit den Hauptakzent der Filmhandlung auf die Darstellung kollektiver Schicksale verlagert (Billard, Pierre: Le mystère René Clair, Paris 1998, S. 166f.). „Le premier titre envisagé, Musette, constitue une bonne définition du genre. Il s’agit bien en effet d’un film-musette, comme il y a des bals musettes et des orchestres musettes, rassemblant un public en casquette autour d’airs populaires et d’un accordéon. Un film musette, c’est-à-dire aussi un film situé [...] sur le pavé luisant d’un territoire que vont exploiter le réalisme poétique, le populisme tragique du cinéma français des années 30“ (Billard 1998, S. 157). Vgl. das Résumé René Clairs (archives scénariques de la BIFI, Bibliothèque du Film, Fonds Lazare Meerson), (wie Anm. 5). „In this film, the plot does indeed matter about as much as a plot of a symphony“ (Dale, R.C.: The Films of René Clair, Bd. 1: Exposition and Analysis, London 1986, S. 140). Klotz, Volker: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, München/Zürich 1991, S. 20. Klotz fährt fort: „Daher die nachdrücklichen Introduktionsnummern und die weitgespannten Finale, die das ganze Stück, aber auch jeden Akt, deutlich absetzen vom klanglosen Alltagsleben drau-
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einzelne Darbietungen den Gesamtzusammenhang des Programms. Die zentrale Figur des Straßensängers leistet im Gegensatz dazu in SOUS LES TOITS DE PARIS eine diegetische Einbindung der Musik und des Gesangs in die Filmhandlung. Der Gesang bietet zudem die Möglichkeit, die gesprochene Sprache auf ein Minimum zu reduzieren. In der Straßensängersequenz zu Beginn des Films11 kommunizieren die Figuren überwiegend gestisch oder mit Blicken. So warnt Albert Pola vor einem Taschendieb, ohne dabei seinen Gesang zu unterbrechen. Somit trägt die Bildebene weiterhin die Handlung. Im Verlauf des Films werden dann immer wieder solche refrainartigen Musikpassagen die Filmhandlung rhythmisch strukturieren, wobei sich diese wiederum mit narrativen Sequenzen abwechseln, so dass insgesamt das Chanson die Atmosphäre des Films überlagert: „La chanson définit le climat et l’atmosphère du film“.12 Auch in anderen Passagen rekurriert Clair auf Kreisstrukturen. So kommt es beispielsweise in der vorletzten Sequenz (E. 628-692) zur Konfrontation zwischen den beiden Freunden um Pola. Diese ins Tragische umzuschlagen drohende Situation wird mittels einer Schallplatte wieder ins Gleichgewicht gebracht. In dem Augenblick, als Albert und Louis handgreiflich werden, bleibt die Nadel eines im Hintergrund spielenden Grammophons in einer Rille stecken und steigert auf diese Weise die Dramatik der Situation. Louis bietet seinem Freund ein letztes Mal an, um Pola zu würfeln, aber Albert lehnt ab und verzichtet auf Pola. Zum Einverständnis setzt er das Grammophon wieder in Gang. Als filmästhetisch-strukturelle Figur verweist die Form der Schallplatte nicht nur auf eine neuartige Funktionalisierung der Musik im Film im Sinne eines innovativen FilmChansons, sondern verweist darüber hinaus auf einen umfassenderen audiovisuell-intermedialen Bedingungszusammenhang zwischen Schallplatte, Rundfunk und Tonfilm.13 So wurßen. Auch wenn sie gerade nicht singen und tanzen läßt, versetzt die Operette gesprochene Szenen in eine musikalisch geprägte Äußerungswelt.“ 11 Pierre Billard verweist auf René Clairs Konzeption einer ähnlichen Szene in PRIX DE BEAUTÉ: „La forte atmosphère qui se dégageait de cette image le hante. C’est elle qui inspirait le début du scénario qu’il a écrit pour Prix de beauté. C’est elle qui sera au départ de Sous les toits de Paris“ (Billard 1989, S. 157). 12 Billard 1998, S. 160. 13 „De manière exemplaire, le médium sonore, la chanson relayée par la diffusion radiophonique va servir l’industrie cinématographique et transformer une exclusivité médiocre en triomphe international“ (Marie, Michel: „On va le chanter encore une petite fois... Sous les toits de Paris comme ‚film manifeste‘ du cinéma musical et sonore en 1930“, in: Noël Herpe/Émanuelle
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den die beiden zentralen Chansons des Films Sous les toits de Paris und C’est comme ça von René Nazelles und Raoul Moretti in zahlreichen zeitgenössischen Schallplattenproduktionen14 sowie im Rundfunk vermarktet, was nicht zuletzt zu einer sich fortsetzenden Popularität des schon zu Stummfilmzeiten bekannten Schauspielers Albert Préjean beitrug.15
Am Übergang zum Tonfilm Diese Konzeption von SOUS LES TOITS DE PARIS als FilmChanson ist auch als ein Manifest des frühen Tonfilms lesbar. Dabei hatten vor allem patentrechtlich-ökonomische Strategieentscheidungen in der Mitte der 20er Jahre eine insbesondere von Filmkünstlern erhoffte Koexistenz von Stummfilm- und Tonfilmtechnik vereitelt.16 Gegenwärtige Forschungsarbeiten über die Tonfilmwende sehen in dieser „absoluten Verdrängung des stummen durch den Tonfilm“ eine mediengeschichtliche Ausnahmeerscheinung.17 – Diese These eines einmaligen Ablösungsvorgangs ist
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Toulet (Hrsg.): René Clair ou le Cinéma à la lettre, Paris 2000, S. 153-166, hier S. 159). Mit diesem Lied beginnt die Diskographie René Clairs. So entstanden allein dreihundert Schallplattenproduktionen dieses Titelchansons. Nicht nur Albert Préjean sondern auch andere Sänger interpretierten das Lied. Die damalige urheberrechtliche Situation begünstigte eine große Zahl von Raubpressungen (Kuntzmann, Nelly: „L’Œuvre de René Clair dans les collections du département de l’audiovisuel de la BNF“, in: 1895, Nr. 25 (September 1998), S. 193-204; hier S. 199f.). Insgesamt hatten sie fünf Filme gemeinsam gedreht, als es zum Bruch kam. Pierre Billard (1998, S. 165) schreibt dazu: „Pendant que le film est programmé au Moulin-Rouge, Préjean accepte de faire un numéro de chant et de lasso sur scène à l’entracte. Le directeur fait alors figurer son nom en grosses lettres sur la façade et sur les affiches. Clair s’en formalise et lui écrit une lettre fort raide. [...] Clair [...] ne reprendra pas le comédien, parti pour une très belle carrière.“ Obwohl Bestrebungen, Tonelemente mit bewegten Filmbildern zu synchronisieren, bereits in die Frühphase des Stummfilms zurückreichen, dauerte es doch bis in die Mitte der 30er Jahre, bis sich die Tonfilmtechnik weltweit kommerziell durchsetzte. In der Folgezeit verzeichnete man zahlreiche Experimente, die ihrerseits in einem engen medialen Verflechtungszusammenhang mit den anderen Medien des neuen Hörens standen. Vgl. dazu die umfassende Studie von Wolfgang Mühl-Benninghaus: Das Ringen um den Tonfilm. Strategien der Elektro- und der Filmindustrie in den 20er und 30er Jahren, Düsseldorf 1999. Ebd., S. 404: „Da für die Tonfilmherstellung und -wiedergabe das beim Stummfilm eingesetzte technische und zum Teil auch künstlerische Personal, die Fundi sowie die Lichtspielhäuser weiter genutzt werden konnten,
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nicht unproblematisch, weil sich die Frage stellt, ob man nicht noch andere mediale Erneuerungsprozesse mit der Tonfilmwende vergleichen könnte. Zudem bleibt offen, ob es sich beim Tonfilm um ein ‚neues’ Medium handelt. Eine Möglichkeit zur Differenzierung dieser Problematik könnte in der Unterscheidung zwischen dem ‚Medium’ Film auf der einen Seite und der Institution bzw. des ‚Forums’ Kino auf der anderen Seite liegen. Die jeweiligen medialen Entwicklungsstadien des Stummfilms bzw. des Tonfilms würden dieses Forum jeweils neu ausfüllen und aktualisieren.18 Zumindest aus zeitgenössischer Wahrnehmungsperpektive war die Wende zum Tonfilm eine ‚Medienrevolution‘, oder, wie dies Benjamin Fondane exemplarisch formulierte, ein sprichwörtlicher ‚Schlag ins Gesicht‘ der gesamten Filmtradition: „l’art muet vient de recevoir un terrible coup de poing en plein visage“.19 Gerade überzeugte Avantgardisten fühlten sich von einem noch nicht ausgeschöpften ästhetischen Potential der Stummfilmkunst abgeschnitten, wie dies Robert Brasillach formuliert: „nous nous souvenons de tant d’espoirs merveilleux et mélancoliques avec le regret que l’on a pour ce qui aurait pu être.“20 Das Tempo der technischen Veränderungen hatte die filmästhetischen Erneuerungsbestrebungen überholt, so dass nun ambitioniertere Projekte Utopie bleiben mussten. Avantgardistische Konventionen zählten nicht mehr: „Le rève d’un art visuel intégral n’a plus cours. L’expression même de ‚cinéma pur‘ est rayée du vocabulaire“.21 Insbesondere gegenüber dem Thea-
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wurde das alte Medium durch das neue vollständig verdrängt. In der absoluten Verdrängung des stummen durch den Tonfilm lag eine grundlegende Besonderheit des beschriebenen Prozesses. Mit dem Verschwinden des Stummfilms war bei keiner der abgegebenen Prognosen gerechnet worden. Vergleichbare Vorgänge haben sich bisher in der Mediengeschichte auch noch nicht wiederholt.“ Vgl. Müller, Corinna: Vom Stummfilm zum Tonfilm, München 2003, S. 389: „Man kann also den Stummfilm und den Tonfilm durchaus als eigenständige Medien begreifen: den Stummfilm als die erste kulturell etablierte Form des Bewegtbildmediums an sich und den Tonfilm als die erste Form eines technisch reproduzierenden audiovisuellen Mediums (des Bewegtbilds mit Synchronton). [...] So unterschiedlich die kommunikativen und rezeptiven Strukturen von Stummfilm und Tonfilm waren, so war es ihnen ebenso eigen, dass sie Werkzeuge zu ihrer Realisierung, Vervielfältigung und Verbreitung brauchten und dass sie eines Forums bedurften.“ Benjamin Fondane (1929) in: Marcel L’Herbier (Hrsg.): Intelligence du cinématographe, Paris 1946/1977, S. 145. Bardèche, Maurice/Brasillach, Robert: Histoire du cinéma, zit. nach Clair 1970, S. 181. Billard 1998, S. 154.
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ter stand nun die im Stummfilm erreichte ästhetische Autonomie der Filmkunst auf dem Spiel. Die von der Stummfilmavantgarde geforderte ästhetische Eigenständigkeit der Bildebene des Films hatte in dieser Hinsicht als Garantie „pour la reconnaissance du cinéma comme un art visuel autonome“ fungiert.22 Aus der Sicht des Jahres 1950 begründet René Clair die vehementen Abwehrreaktionen der Stummfilmavantgarde gegenüber den Entwicklungen des Tonfilms mit einem überstarken Optimismus, der die Möglichkeit technischer Veränderungen allzu sorglos ausgeblendet hatte: Dans notre ferveur, nous avions tort de coire que la destinée du cinéma était à jamais fixée, d’oublier que les arts progressent irrégulièrement et que, dans leur histoire, aux époques créatrices succèdent les périodes de sommeil et d’imitation. Mais l’erreur la plus grave à laquelle nous portait notre enthousiasme, était de projeter dans un avenir illimité l’image du seul art cinématographique que nous connaissions alors, sans imaginer les changements techniques 23 qui allaient en altérer définitivement les traits.
Bekanntlich hatte sich René Clairs eigener Weg zum Tonfilm auch nicht unproblematisch gestaltet. Denn zunächst reagierte René Clair mit einer ähnlich ablehnenden Haltung wie andere zeitgenössische Akteure. Noch um 1927 bezeichnete er den ‚tönenden‘ Film als ein „monstre redoutable“.24 Anlässlich einer Reise als Filmkritiker nach London änderte Clair schließlich seine reservierte Haltung. In BROADWAY MELODY erkannte Clair einen ästhetisch modellhaften frühen Tonfilm, der ihm zur Möglichkeit wurde, nun auf der Grundlage dieser ästhetischen Strategien sein eigenes Tonfilmschaffen filmavantgardistisch zu erneuern. Trotz der zeitgenössischen Auffassung von einer abrupten Medienrevolution vom Stummfilm zum Tonfilm stehen die frühen Tonfilme selbst im Zeichen intermedialer Übergänge und Konfigurationen, welche auch für die Filmgeschichte insgesamt kennzeichnend sind.25 Bezogen auf den Kontext des frühen Tonfilms garantiert nicht zuletzt auch das Chanson diesen übergänglichen Charakter, da es zugleich Tradition und 22 23 24 25
Ebd. S. 153. Clair 1970, S. 53. Ebd. S. 177. „Andererseits ist nicht nur der Zeitraum von 1928 bis 1931, in dem sich der Tonfilm durchsetzt, sondern die Filmgeschichte insgesamt durch Ungleichzeitigkeiten, Überlagerungen, Zwischenformen und Widersprüche zwischen Sprache, Ton und Bild, also der Attribute tönend und stumm geprägt.“ (Lommel, Michael: „Renoir und der Tonfilm“, in: ders./Volker Roloff (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003, S. 31-50, hier S. 33.)
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Innovation verkörpert. Als Teil der populären szenischen Medien vermag gerade der Gesang, an die Stelle des Dialogs zu treten. Die kontextuelle Einbindung des Chansons in SOUS LES TOITS DE PARIS zeigt, dass man den Erfolg eines neuen Mediums dadurch steigern kann, indem man „sowohl tradierte als auch neue Inhalte in dem zu etablierenden Medium verschmelzen [lässt] und auf diese Weise erweiterte ästhetische Ausdrucksmöglichkeiten hervorbringen“ kann.26 Nach seiner Rückkehr aus England wurde René Clair von der französischen Niederlassung der deutschen Tobis Klangfilm GmbH engagiert. Für beide Seiten gestaltete sich die Zusammenarbeit insofern fruchtbar, als nun experimentelle Vorstellungen einander ergänzten. Dabei bot die Tobis ihren unter Vertrag stehenden Filmkünstlern weitreichende ästhetische Freiheiten, was wiederum den Erwartungen experimentierfreudiger Regisseure wie beispielsweise Henri Chomette oder Walter Ruttmann entgegen kam. Die experimentelle Ausrichtung der Tobis lag darin begründet, dass ihr Kerngeschäft – im Gegensatz zu jenem der UFA – überwiegend in der Vermarktung von Aufnahme- und Projektionstechniken bestand.27 Die Filmproduktion selbst diente vor allem dem Zweck, die Funktionsweise und Rentabilität ihrer Produkte unter Beweis zu stellen. So entstanden kurze Kultur- und Werbefilme.28 Im Vergleich zu anderen Filmunternehmen agierte die Tobis innerhalb eines gesamteuropäischen Kontextes und entwickelte sich so zu einem der ersten ‚Franchise-Unternehmen‘ der Filmgeschichte.29 Da die Filmproduktion Frankreichs gerade in der Frühphase des Tonfilms in Europa im Rückstand lag, bot es sich für die Tobis an, in Frankreich eine marktbeherrschende Position anzustreben.30 Die zahlreichen in dieser Zeit ent26 Mühl-Benninghaus 1999, S. 403. 27 Einen umfassenden Überblick zur Firmengeschichte der Tobis – auch zur Rolle der Gesellschaft im Dritten Reich – bieten die Sammelbände von Hans-Michael Bock u.a. (Hrsg.): Die Tobis 1928-45. Eine kommentierte Filmografie, München 2003; und von Jan Diestelmeyer (Hrsg.): Tonfilmfrieden/Tonfilmkrieg. Die Geschichte der Tobis vom Technik-Syndikat zum Staatskonzern, München 2003. 28 Begonnen hatte man mit Kurzfilmen, die man als revueartiges Nummernprogramm „wie im frühen ‚Kientopp‘“ vorführte, so Goergen, Jeanpaul: „‚Sie sehen und hören‘. Die Kurzfilme der Tobis“, in: Jan Diestelmeyer (Hrsg.): Tonfilmfrieden/Tonfilmkrieg. Die Geschichte der Tobis vom Technik-Syndikat zum Staatskonzern, München 2003, S. 44-50, hier S. 44. 29 Hagener, Malte: „Unter den Dächern der Tobis. Nationale Märkte und europäische Strategien“, in: Jan Diestelmeyer (Hrsg.): Tonfilmfrieden/Tonfilmkrieg. Die Geschichte der Tobis vom Technik-Syndikat zum Staatskonzern, München 2003, S. 44-50, hier S. 51. 30 Ebd., S. 56.
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standenen deutsch-französischen Filmkooperationen hatten damit auch eine ökonomisch-politische Bedeutung.31 Die in dieser Atmosphäre zwischen 1930 und 1933 entstandenen fünf Filme wurden zu stilprägenden Vorläufern des réalisme poétique.32 Die programmatische Ausrichtung von SOUS LES TOITS DE PARIS sollte sowohl für den deutschen als auch für den französischen Filmmarkt tragfähig sein. Dass der tatsächliche Erfolg in Frankreich und Deutschland jedoch sehr unterschiedlich ausfiel, wird auf die allgemeinen Verunsicherungen seitens der Filmkritik und des Publikums zurückgeführt. So stellte sich in Frankreich der erwartete Erfolg erst ein halbes Jahr später als in Deutschland ein, wo man diesen Film als „avantgardistisches Tonfilmexperiment“ begrüßte.33 Eine repräsentative Auswertung des Presseechos in Deutschland ergab, dass in diesem Film eine positive Abkehr von Avantgardegrundsätzen des Stummfilms „im Sinne einer Weiterentwicklung“ gesehen wurde.34 Der überwiegende Teil der Filmkritik versprach sich vom Regisseur von ENTR’ACTE oder LE CHAPEAU DE PAILLE D’ITALIE (1927) Anregungen zur ästhetischen Profilierung des Tonfilms unter avantgardistischen Vorzeichen.35
Widersprüchliche Inszenierungs-Strategien Die atmosphärische Dichte und das audiovisuelle Profil von SOUS LES TOITS DE PARIS beruhen wesentlich auf der kontrapunktischen Verschränkung von Bild- und Tonelementen, wodurch die ästhetische Eigenständigkeit beider Ebenen gewährleistet werden sollte. Dadurch gewinnt der Film eine deutliche avantgardistisch-experimentelle Dimension,36 denn dieses Verfahren wurde zur gleichen Zeit auch von den russischen
31 Vgl. auch Sibylle M. Sturm/Arthur Wohlgemut (Hrsg.): Hallo? Berlin? Ici Paris! Deutsch-französische Filmbeziehungen 1918-1939, München 1996. 32 Zum Mitarbeiterstab zählten zahlreiche Vertreter des réalisme poétique von Georges Lacombe über Marcel Carné bis hin zu Lazare Meerson und Alexandre Trauner. 33 Goergen, Jeanpaul: „Lebenswahrheit im Musikfilm. René Clairs Sous les toits de Paris“, in: Malte Hagener/Jan Hans (Hrsg.): Als die Bilder singen lernten. Innovation und Tradition im Musikfilm 1928-1938, München 1999, S. 72-85. 34 Goergen 1999, S. 78. 35 Zur Rolle René Clairs in Deutschland vgl. auch Mühl-Benninghaus 1999, S. 211f. 36 Billard 1998, S. 160: „Certains effets ont l’insistance propre au cinéma expérimental“.
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Filmavantgardisten sowie von Walter Ruttmann gefordert und angewandt. Die angesprochene Musikalisierung der gesamten Filmhandlung zieht eine Reduktion des gesprochenen Wortes nach sich. Kommt dieses dennoch zum Einsatz, so zumeist in Situationen, in denen die Sprecher verborgen bleiben oder aber die Artikulation selbst bewusst unverständlich bleibt. In einem nächtlichen Handgemenge zwischen Albert und Fred, dem Kopf einer Gaunerbande, lassen sich die kämpfenden Akteure nur schemenhaft ausmachen. Als dann eine Straßenlampe zerschossen wird, und so die Szene vollkommen ins Dunkel fällt, hört man nur noch Stimmen und Geräusche der Gegner. In diesem Augenblick kommt Louis seinem Freund Albert zur Hilfe, indem er ihm ein für den Zuschauer schwach erkennbares Messer reicht: „Tiens, prends ça!“ (E. 608). Gerade solche Experimente machen es schließlich unmöglich, diesen Film ohne Tonspur oder lediglich mit einer Stummfilmmusikbegleitung aufzuführen. Zwar erweisen sich die soeben beschriebenen Tonexperimente als deutliche Referenzen an die Ästhetik des Stummfilms. Dennoch gehen sie insofern darüber hinaus, als sie sich auch ironischkritisch damit auseinander setzen. Außerdem führt der sparsame Einsatz von Toneffekten sowie des gesprochenen Wortes dazu, dass diese Elemente nur umso stärker hervorgehoben und dabei selbst zu einem Tonereignis inszeniert werden.37 Je sparsamer und pointierter einzelne Toneffekte in den Film integriert werden, desto deutlicher sind diese auch wahrnehmbar. Das folgende Beispiel soll die besondere Komplexität dieser Verschränkung von Bildern und Tönen auch und gerade in ihrer räumlich-atmosphärischen Wirkung verdeutlichen. So lassen sich Nähe und Ferne klanglich dadurch perspektivieren, dass man zum Beispiel das Klopfen eines Schuhs auf dem Fußboden aus zwei unterschiedlichen klanglichen Richtungen darstellt (E. 114f.). Innerhalb der dritten Sequenz des Films (E. 108-135) tastet das Objektiv die Fassade eines typischen Pariser Mietshauses ausgehend vom Dachgeschoss ab. Die Kamera sieht durch eine Dachluke und nach einem kurzen Augenblick der Stille summt eine Frauenstimme das Erkennungsmotiv des Titelchansons. Schemenhaft ist die Silhouette Polas zu erkennen. Die Kamera setzt ihre vertikale Fahrt 37 Dirscherl, Klaus: „‚Cent pour-cent parlant‘ oder wie der französische Tonfilm der 30er Jahre die Wirklichkeit suchte und das Theater fand“, in: HansUlrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S. 377-391.
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Etage für Etage an den Fenstern des Hauses entlang fort, wobei jeweils andere Stimmen und Instrumente das Chanson weitertragen.38 Die jeweiligen Sänger bleiben zunächst für den Zuschauer hinter Gardinen oder Fensterrahmen verborgen. Im zweiten Teil dieser Sequenz kehrt sich das Verfahren insofern um, als die Kamera nun in die Innenräume hineingeht. So sieht man zunächst Albert und Louis am Tresen eines Cafés durch die Glasscheibe gestikulieren (E. 111), ehe sich die Tür öffnet und man sie nun singen und sprechen hört. Diese Sequenz wird mit einer umgekehrten Kamerafahrt nach oben bis zu Polas Dachkammer abgeschlossen. Solche Verschränkungen von Bild- und Tonebene machen den Film zu einem genau austarierten Uhrwerk, dessen Präzision auch die Gestalt des Drehbuchs bestimmt, wo jedes technische und ästhetische Detail genau im Voraus berechnet ist – sowohl bezogen auf die Bildbeschreibungen als auch auf den Einsatz von Dialogen und Geräuschen. Dabei umfassten die technischen Möglichkeiten zur Gestaltung der Tonspur Verfahren, welche von der Nachvertonung, der synchronen Direkttonaufnahme, der Wiederverwendung von Tonspuren anderer Sequenzen bis hin zum kalkulierten Einsatz der Stille reichten. Trotz dieser engmaschigen Vorgaben des Drehbuchs blieben dennoch Improvisationsspielräume offen, so Léon Barsacq, Filmarchitekt der Nachkriegsfilme René Clairs.39 Einen vergleichbaren Grad der Perfektion bestimmt auch den Einsatz der Kamera durch George Périnal und den Kulissenbau Lazare Meersons. Dessen Studioarchitektur zeichnet sich durch eine solche Detailfülle aus, dass es ihm ohne weiteres gelang, diesen Parisfilm gerade ohne das zentrale Referenzsymbol der Avantgarden, den Eiffelturm, zu gestalten.40 Manchmal erweckt SOUS LES TOITS DE PARIS – wegen dieses Hangs zum Detail – den Eindruck einer im Übermaß stilisierten Inszenierung. Gerade die konsequente Vermeidung des gesprochenen Wortes bezeich-
38 In einem ersten Exposé des Films charakterisiert René Clair die Atmosphäre dieser Passage folgendermaßen: „du haut en bas de la maison, chaque fenêtre chante“ (wie Anm. 5). 39 Der Filmarchitekt Léon Barsaq beschreibt die Arbeitsweise René Clairs folgendermaßen: „Rien de mécanique dans sa façon de tourner, mais le minimum de place laissée au hasard, tout concourt à l’effet voulu, prévu, indiqué dans le scénario.“ (zit. nach Amengual 1969, S. 165). 40 Berthomé, Jean-Pierre: „Lazare Meerson, onze ans de complicité avec René Clair“, in: 1895, Nr. 25 (September 1998), S. 63-77.
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net Jean Mitry als störend.41 Der filmästhetisch beabsichtigte effet de réel droht in extreme Künstlichkeit umzuschlagen. Filmkulissen werden zu Theaterkulissen. Als Theaterfilm ‚zwischen den Stühlen‘ werden dabei auf innovative Weise Theatertraditionen aktualisiert und synthetisiert, wobei der theatrale Rahmen selbst nicht zur Darstellung kommt. Dieser Rahmen lässt sich lediglich erahnen, wie dies Joseph Roth beschreibt: Der leichte, graue Dunst über dem tänzelnden Gewirr der Schornsteine, der das erste Bild des Films überschwebt, gleicht einem Vorhang, der sich auflöst und in das Spiel verwandelt, das er in 42 sich geborgen hat.
Dieses Changieren zwischen einem idyllisch-poetisierten Realismus einerseits und theatralem Gestus andererseits bestimmt das Bild der Stadt in diesem Film. Ein kulissenhaft gestaltetes Paris aus dem Studio bewirkt dabei die starke Theatralisierung des Stadtraumes. Dieses ‚Theaterparis‘ aber steht im Zeichen von Widersprüchen. Zwar spiegelt es auf täuschend echte Weise die Lebenswirklichkeit seiner Zuschauer um 1930, verhindert aber gerade, dass die eigentlichen Schattenseiten dieser harten Lebenswirklichkeit an die Oberfläche gelangen könnten. Auch und gerade im Vergleich zu ENTR’ACTE hat sich das Bild der filmischen Stadtdarstellung in SOUS LES TOITS DE PARIS gewandelt. Zwar schreibt Siegfried Kracauer in seiner Rezension dieses Films dass man – gerade auch vor dem Hintergrund des nahezu zeitgleich in Berlin aufgeführten ENTR’ACTE – nun ‚in der Wirklichkeit angekommen‘ sei,43 trotzdem ist dieser Eindruck der Realität von einer fast schon surrealen
41 Mitry, Jean: René Clair, Paris 1960, S. 65: „Mais cette façon de ne pas faire entendre les paroles, de faire échanger des mots brefs [...] devint vite lassante.“ 42 Roth, Joseph: „Ehre den Dächern von Paris!“ (Frankfurter Zeitung, 28. 10. 1930), in: ders.: Im Bistro nach Mitternacht. Ein Frankreich-Lesebuch. Katharina Ochse (Hrsg.), Köln 1999, S. 194-197. 43 „René Clair gehört zur französischen Avantgarde. Man sah hier von ihm im Frühjahr einen Groteskfilm: ENTR’ACTE, der Fragmente des gewohnten Daseins nach den strengen Gesetzen der Traumlogik gestaltete. In diesem neuen Film [SOUS LES TOITS DE PARIS] läßt er das herkömmliche Leben in größerem Umfang bestehen und schafft einen Aufbau von Ereignissen, der sich auch dem normalen Bewußtsein erschließt. Darum löst er doch allenthalben die Oberfläche auf, schweift von ihr ab und durchkreuzt sie mit eigenwilligen Mustern“ (Kracauer, Siegfried: „Neue Tonfilme. Einige grundsätzliche Bemerkungen“ (Frankfurter Zeitung 18.08.1930), in: ders.: Werke, Bd. 6.2. Inka Mülder-Bach (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1974, S. 392-397, hier S. 393).
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Atmosphäre überlagert. Sowohl Bauten als auch Tonspur tragen zu einer „transfiguration du réel“ bei.44 Auch dadurch, dass der Film am Ende wiederum am Ausgangspunkt seiner Geschichte angekommen ist, und damit direkt wieder von neuem beginnen könnte, scheinen von dieser Geschichte ohne Fortschritt und Fortkommen nur die Musik und der Gesang übrig zu sein. Nicht zuletzt unterläuft der Film dadurch, dass er alles so übergenau stilisiert, sein eigenes Motto. Das heiter-optimistische Vertrauen in den Zufall findet auf der inszenatorischen Ebene des Films, wo sprichwörtlich nichts dem Zufall überlassen wird, keine Einlösung.
Anachronistisch-avantgardistisches Autorenkino Die im Film sichtbaren Strategien der Inszenierung (bis hin zur Überinszenierung) stehen im Zeichen des von René Clair in besonderer Weise geprägten Autorenkinos. Clair selbst versteht sich – ähnlich wie auch Jean Cocteau – als sprichwörtlich mit der Kamera schreibend. Wie nur wenige andere klassische Filmautoren vereint er dabei vom Drehbuch über die Regie bis hin zur Montage alle Funktionen einer Filmproduktion in seiner Person. Dabei sind seine Vorstellungen von ‚filmischer Autorschaft‘ davon geprägt, auf gleichsam auktoriale Weise die ‚Fäden der Produktion‘ in Händen zu halten.45 Als auteur de cinéma besitzt Clair dann sogar die Freiheit, einem Avantgardebegriff eigenwilliger Auslegung zu folgen. Deshalb hat er sich niemals von den Vertretern der -Ismen vereinnahmen lassen wollen. Vielmehr wollte er mit seinem Verständnis des Terminus Avantgarde das Publikum gewinnen. Eine Möglichkeit, diesen Kontakt zum Publikum aufrecht zu erhalten, sah René Clair in einer bewusst inszenierten Reise in die Kindertage des Kinos, in die Welt Mack Sennetts oder Chaplins – um so die Ursprünglichkeit der Filmkunst publikumswirksam zu aktualisieren. Nur eine Form filmischen Avantgardismus lässt René Clair gelten, in welcher die künstlerischen Ausdrucksformen des Films auf ästhetisch-experimentelle Weise weiter 44 „L’auteur travaille à la construction d’une toile de fond dans laquelle chaque composante agit dans le cadre d’un unique dessin. Au même titre que tous les éléments urbains visuels, la composante sonore du film participe à cette volonté de transfiguration du réel“ (Basile, Giusy: „Une esthétique neuve de la chanson à l’écran“, in: Noël Herpe/Émmanuelle Toulet (Hrsg.): René Clair ou le Cinéma à la lettre, Paris 2000, S. 139-151, hier S. 147). 45 Vgl. Herpe, Noël: „René Clair, auteur législateur“, in: ders./Émmanuelle Toulet (Hrsg.): René Clair ou le Cinéma à la lettre, Paris 2000, S. 27-44.
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entwickelt werden und dabei gleichzeitig das Publikum die entscheidende Instanz bleibt. Auch ENTR’ACTE war in dieser Hinsicht kein Avantgardefilm im eigentlichen Verständnis, sondern entlarvte in seinem bewussten Rückgriff auf ‚primitive‘ Elemente der Filmkunst auf seine Weise avantgardistische Darstellungsverfahren.46 Als ‚retrograde‘ Avantgardefilme entsprechen sich ENTR’ACTE und SOUS LES TOITS DE PARIS insofern, als beide Filme jeweils eine widersprüchliche Gratwanderung zwischen experimentell-innovativer Formensprache einerseits und populären Unterhaltungstraditionen andererseits unternehmen. – Mit einem Unterschied: dem destruktiven Gestus der Stummfilmphase tritt im frühen Tonfilm René Clairs ein harmonisierender Gestaltungswille entgegen. Aus der Rückschau beurteilt René Clair selbst die experimentierfreudige Atmosphäre seiner frühen Avantgardestummfilme folgendermaßen: A une époque où pour certains d’entre nous la littérature et le théâtre semblaient appartenir à un âge vermoulu dont les déménageurs de Dada dispersaient les décombres, à un moment où le mot de révolution semblait la clé de tous les problèmes artistiques, le cinéma apparaissait comme le moyen d’expression le plus neuf, le moins 47 compromis dans son passé, en un mot le plus révolutionnaire.
Im Vordergrund stand das spielerische ästhetische Experiment, denn in einer Sprache der Bilder jenseits der Regeln herrschte eine „merveilleuse barbarie“,48 in der man sich ihrer Logik entledigen konnte. Im Zeichen des Tonfilms verkompliziert sich der filmästhetische Avantgardebegriff, da sich im Medienumbruch zum Tonfilm ästhetische Konzepte als nicht mehr tragfähig erweisen und sich die Filmavantgarde unter den veränderten Bedingungen des cinéma sonore et parlant neu erfinden muss. In mehrfacher Hinsicht positioniert sich SOUS LES TOITS DE PARIS in intermedialen Zwischenbereichen. Die innovative Integration des Chansons im Film positioniert diesen Musikfilm ‚zwischen den Stühlen‘ jenseits der Bühnenoperette und der Revue. Dabei wecken Kulissenbau und Schauspiel von SOUS LES TOITS DE PARIS verdeckte Reminiszenzen an das Theater, auch wenn dieser Film in einem Feld jenseits ty46 „Car, fondamentalement, Clair trahit le dadaïsme picabien. Loin de détruire le langage du spectacle traditionnel, il utilise le laboratoire dadaïste pour inventer une nouvelle forme d’expression cinématographique poético-humoristique qui lui vaudra pendant trente ans de retrouver le consensus conquis par Entr’Acte au-delà des tumultes et des huées d’une folle nuit avenue Montaigne“ (Billard 1998, S. 91). 47 Clair 1970, S. 47. 48 Ebd.
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pischer Theaterfilme des frühen Tonfilms angesiedelt bleibt. Nicht zuletzt droht die harmonische Klassizität manchmal in eine schablonenhafte Künstlichkeit umzuschlagen. Als avantgardistisch erweist sich SOUS LES TOITS DE PARIS eher im Bereich der Formensprache, als auf der Ebene seiner Botschaft: da der Film am Schluss direkt von neuem beginnen könnte, ist man am Ende der Erzählung wieder am Ausgangspunkt angekommen. So zeigt dieser Avantgardefilm im Medienumbruch sowohl Spielfreude als auch Widersprüche, die mit formalen Innovationen und Experimenten verbunden sind. Die SOUS LES TOITS DE PARIS prägende Harmonie stößt dabei an Grenzen, da sich der Film auf einen engen, überschaubaren und idyllischen Mikrokosmos beschränkt.
Literatur Amengual, Barthélemy: René Clair. Présentation par Barthélemy Amengual. Propos de René Clair. Panorama critique. Témoignages. Filmographie. 60 documents iconographiques. Nouvelle édition mise à jour, Paris 1969. L’Avant-scène cinéma 281 (Feb. 1982). Basile, Giusy: „Une esthétique neuve de la chanson à l’écran“, in: Noël Herpe/Émmanuelle Toulet (Hrsg.): René Clair ou le Cinéma à la lettre, Paris 2000, S. 139-151. Berthomé, Jean-Pierre: „Lazare Meerson, onze ans de complicité avec René Clair“, in: 1895, Nr. 25 (September 1998), S. 63-77. Billard, Pierre: Le mystère René Clair, Paris 1998. Bock, Hans-Michael et al. (Hrsg.): Die Tobis 1928-45. Eine kommentierte Filmografie, München 2003. Clair, René: Cinéma d’hier, cinéma d’aujourd’hui, Paris 1970. Dale, R.C.: The Films of René Clair, Bd. 1: Exposition and Analysis, London 1986. Diestelmeyer, Jan (Hrsg.): Tonfilmfrieden/Tonfilmkrieg, München 2003. Dirscherl, Klaus: „‚Cent pour-cent parlant‘ oder wie der französische Tonfilm der 30er Jahre die Wirklichkeit suchte und das Theater fand“, in: Hans-Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M.1988, S. 377-391.
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Müller, Corinna: Vom Stummfilm zum Tonfilm, München 2003. Roth, Joseph: „Ehre den Dächern von Paris!“ (Frankfurter Zeitung, 28.10.1930), in: ders.: Im Bistro nach Mitternacht. Ein FrankreichLesebuch. Katharina Ochse (Hrsg.), Köln 1999, S. 194-197. Sturm, Sibylle M./Arthur Wohlgemut (Hrsg.): Hallo? Berlin? Ici Paris! Deutsch-französische Filmbeziehungen 1918-1939, München 1996.
OLIVER FAHLE
DIMENSION UND SCHICHTUNG – RAUMKONZEPTE DES FRANZÖSISCHEN FILMS IN DEN 20ER UND FRÜHEN 30ER JAHREN Abstract Cette intervention se propose d’étudier les transformations de l’espace du cinéma français des années trente par rapport aux concepts d’espace du cinéma des années vingt. L’avènement du son au cinéma a largement changé les concepts du cinéma en France. Au lieu de poursuivre les expériences des années vingt avec l’espace à deux, trois ou quatre dimensions (L’Herbier, Epstein, Renoir et autres), le cinéma des années trente est plutôt à la recherche de la cohérence narrative. La construction de l’espace est largement affectée par ces changements. Néanmoins, il se trouve – surtout chez Renoir – des nouveaux concepts d’espace visant, d’une part, une intégration narrative et, d’autre part, une construction complexe de l’espace. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die Transformation des Raums im französischen Film der 30er Jahre im Vergleich zu kinematographischen Raumkonzepten der 20er Jahre darzustellen. Die Erfindung des Tonfilms hat die filmischen Konzepte weitreichend verändert. Anstatt die in den 20er Jahren unternommenen Experimente mit zwei-, drei- und vierdimensionalen Räumen weiterzuführen (L’Herbier, Epstein, Renoir u.a.), ist das Kino der 30er Jahre eher auf der Suche nach narritiver Kohärenz. Die Konstruktion des Raumes wird von dieser Veränderung deutlich beeinflusst. Jedoch lassen sich – insbesondere bei Renoir – neue Raumkonzepte finden, die einerseits eine narrative Integration anstreben und andererseits dazu angelegt sind, eine komplexe Raumkonstruktion zu schaffen.
1.
Raum im Übergang
In seiner Autobiographie schreibt der Regisseur Jean Renoir folgende Sätze über seine Empfindungen bei der Einführung des Tonfilms Ende der 20er Jahre: „1929 tauchte ein Monstrum auf, das die Branche total
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verändern sollte, ich meine den Tonfilm. Ich begrüßte ihn begeistert.“1 Der Enthusiasmus Renoirs über die Möglichkeiten des Tons ist allerdings nur ein Vorbote der weitreichenden ästhetischen Veränderungen des französischen Films, die sich zu Beginn der 30er Jahre vollzogen. Es rückten nicht nur neue Namen ins Licht der Aufmerksamkeit, wie etwa Renoir selbst, auch bekanntere Regisseure, die die Stummfilmästhetik stärker geprägt hatten, wie etwa Jean Epstein oder Marcel L’Herbier, rückten in den Hintergrund. Andere wieder, wie etwa René Clair, Jacques Feyder und Jean Grémillon, die bereits einige wichtige Filme gemacht hatten, arbeiteten an ihrem mehr oder weniger erfolgreichen Übergang in den Tonfilm. Es wurde schnell deutlich, dass der Tonfilm nicht nur die Hinzufügung einer weiteren Ebene zur filmischen Poetik sein könnte, sondern weitreichende ästhetische Konsequenzen haben würde, die neue Definitionen der ästhetischen Praxis erforderten. Konnten die 20er Jahre noch eine Balance halten zwischen Werken, die eher narrativ, und anderen, die eher experimentell ausgerichtet waren – wobei die filmische Innovation eindeutig auf Seiten der experimentellen Filme lag –, so besteht dieser Kontrast in den 30er Jahren nicht mehr. Experimente können nur noch innerhalb der nun dominanten narrativen Ausrichtung des Films stattfinden. Alan Williams etwa behauptet in seiner History of French Filmmaking, dass der Tonfilm schließlich auch die Montageformen beeinflusst und sie gleichsam ‚auf Linie bringt‘: Analytical, or classical editing (découpage classique) now became the dominant, indeed virtually the only acceptable means of linking shots within a scene. Here, too, the increased psychological presence of the fictional world was probably of crucial importance. Analytical editing seems to follow the logic of narrative events rather than the dictates of a narrator. It scrupulously respects (indeed, it depends upon) the logic of spatial relations within the fic2 tional world.
Die Etablierung der découpage classique ist demnach eine der wichtigen Konsequenzen des Tonfilms der 30er Jahre, ebenso wie die logische Konstruktion von Räumen, die den Aufbau der diegetischen Welt ermöglicht. Dennoch, so meine These: Obwohl der Film offenbar nicht mehr in Begriffen der 20er Jahre erklärt werden kann, erschöpft sich die Konstruktion von filmischen Räumen nicht allein in der Funktionalisierung, die sie durch die Narration erfährt. In diese Spannung zwischen der Äs1 Renoir, Jean: Mein Leben, meine Filme, Zürich 1992, S. 92. 2 Williams, Alan: Republic of Images. A History of French Filmmaking, Cambridge/Massachusetts 1992, S. 181.
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thetik der 20er Jahre und den Erfordernissen der découpage classique schiebt sich eine neue Visualität des filmischen Raums, die ich im folgenden näher beschreiben möchte. Es geht mir dabei insbesondere um den Übergang zwischen filmischen Konzepten der 20er und 30er Jahre, der sowohl kontinuierliche als auch diskontinuierliche Züge aufweist. Auch wenn der Tonfilm den Zug ins Narrative verstärkt hat, so definiert sich doch das visuelle Gefüge dieser Filme auf eigene Weise und schließt unter veränderten Bedingungen an verschiedene Ansätze der 20er Jahre an. Um also den Übergang deutlich zu machen, sollen zunächst einige entscheidende Konzepte der filmischen Poetik der 20er Jahre beschrieben werden. Der Ausblick auf die 30er Jahre stützt sich vor allem auf die frühen Tonfilme, vor allem von Jean Renoir, aber auch von Jacques Feyder und Jean Grémillon, die mit René Clair zu den exponiertesten Regisseuren dieser Jahre zählen.
2.
Raum in den 20er Jahren
Die Ästhetik des französischen Films der 20er Jahre geht von zwei grundlegenden Ansätzen aus, die sowohl die theoretischen Arbeiten als auch die filmische Praxis wiederkehrend bestimmen und eine Neudefinition der filmischen Möglichkeiten zum Ziel haben. Erstens ist das filmische Bild eine Sichtweise, die die Welt in permanent wechselnden Zuständen zur Anschauung bringt und damit eine neue Definition sichtbarer Wirklichkeit ermöglicht. Zweitens stehen diese Sichtbarkeiten ständig im Austausch miteinander, da der Film als Bewegungsbild begriffen wird, das nicht den Stillstand kennt, sondern die ständige Variation oder Veränderbarkeit der durch den Film wahrgenommenen Welt. Der Film ist also eine Kunst, die die Welt im Medium der Sichtbarkeit ständig reformuliert. Hierin liegt auch der Kern des Begriffs Photogénie, der sich in den 20er Jahren durch die filmtheoretische Debatten bewegt und zu einem der mächtigsten theoretischen Konzepte gezählt werden kann.3 Diese permanente Veränderbarkeit betrifft besonders den filmischen Raum, was ich anhand dreier Begriffe verdeutlichen werde. Diese sind erstens Atmosphäre, zweitens Dimension, drittens Surrealität. Der Begriff der Atmosphäre ist vor allem von Gernot Böhme für die philosophische Ästhetik definiert worden und nimmt eigentlich Bezug auf die moderne Kunst der letzten Jahrzehnte. Kunst stellt sich dabei nicht mehr
3 Dazu ausführlich Vf.: Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre, Mainz 2000, S. 33-80.
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dem distanzierten und kontemplativen Betrachter gegenüber, sondern schafft Atmosphären, in denen Betrachter und Werk gleichzeitig eine gemeinsame Räumlichkeit teilen. Böhme denkt in erster Linie an Kunstwerke, die nicht mehr viel mit dem Tafelbild zu tun haben, sondern in allen erdenklichen Weisen den Betrachter aktiv einbeziehen, etwa dreidimensionale Objekte, die nur im Raum erfahren werden können, oder auch Installationen jeder Art. Zitat Böhme: Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Sie ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er die Atmosphäre spürend, 4 in bestimmter Weise leiblich anwesend ist.
Nun ist dieser Begriff nicht einfach auf die filmische Ästhetik übertragbar. Dagegen sprechen offenbar dispositive Eigenschaften des Films, denn Böhmes Ansatz ist stark von der Idee der Erfahrung der leiblichen Anwesenheit geprägt.5 Dennoch zielt besonders die filmische Poetik der 20er Jahre auf etwas dem Ansatz der Atmosphäre Ähnelndes. Es geht den Filmen nämlich weniger darum, eine sinnlich-kognitive Operation beim Betrachter hervorzurufen, wie es der narrative Film vor allem tut.6 Vielmehr steht im Zentrum die Schaffung solcher unbestimmten filmischen Raumbezüge, die den Betrachter die immanente Veränderbarkeit, die im Begriff der Atmosphäre angelegt ist, spüren lassen soll. Das Sichtbare eröffnet einen Raum der Ambivalenz, der nicht aufgehoben werden kann. Atmosphäre bezeichnet also nicht mehr nur einen Ort, sondern vielmehr einen Zwischenraum, der eine fragile Visualität offenlegt. Die sichtbare Realität befindet sich zwischen Wahrnehmung und Wahrgenommenem, zwischen Subjekt und Objekt, ohne sich einer Seite voll zuzuschlagen. Dieses mannigfaltige Sehen ist ein wesentlicher Aspekt des Begriffs Photogénie, das sich nach Frank Kessler in der „schwebendzweideutigen Atmosphäre, die eben nicht über die Erzählung erreicht
4 Böhme, Gernot: Atmosphäre, Frankfurt a.M. 1995, S. 162. 5 Auch wenn für Böhmes Begriff der Atmosphäre die Anwesenheit konkreter Objekte wichtig ist, scheint mir der Begriff zur Beschreibung der spezifischen Erfahrung des Visuellen im Kino dennoch durchaus geeignet. 6 So wenigstens behauptet es eine der dominierenden Theorien filmischer Narration, angeführt von Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, London 1986.
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wird, sondern über das Material der Darstellung“7 herstellt. Das Material der Darstellung ist dabei sowohl in den repräsentativen Momenten, hier der Landschaft, als auch in den Bewegungsagenturen der filmischen Apparatur zu finden. In LA CHUTE DE LA MAISON USHER (Jean Epstein, 1928) gibt es dazu ein berühmtes Beispiel (Abb.1). Eine nicht näher charakterisierte Frau, offenbar entsetzt von der Vorstellung, dass der Fremde zum unheimlichen Haus Usher aufbrechen will, läuft von einem Fenster zum anderen. Das Haus selbst ist von einem Astgeflecht überwuchert. Das Zusammenspiel von Mimik der Frau und den sich ineinander schlängelnden Ästen sowie das Spiel der Schatten ergeben einen undefinierten visuellen Eindruck, der die Aufmerksamkeit auf Textur und Optik verlagert und nicht in Begriffen von Bedeutung aufzulösen ist. Wenn es als Bedeutung begriffen werden soll, dann am ehesten in der grenzfälligen semiotischen Kategorie der Erstheit von Charles Sanders Peirce, in der Erstheit als ein „Gefühl ohne ein Selbst“ oder als das „Vorprädikative“ bezeichnet wird.8 Damit komme ich zum zweiten Begriff: Dimension. Abbildung 1: Screenshot aus LA CHUTE DE LA MAISON USHER
7 Kessler, Frank: „Photogénie und Physiognomie“, in: Rüdiger Campe/Manfred Schneider (Hrsg.): Geschichten der Physiognomik, Rombach 1996, Bd. 36, S. 162. 8 Peirce schreibt dazu: „Wir wollen nun untersuchen, was uns als im gegenwärtigen Augenblick enthalten scheinen könnte, wäre er gänzlich von Vergangenheit und Zukunft abgeschnitten. Wir könnten nur Vermutungen anstellen, denn nichts ist dunkler als die absolute Gegenwart [...]. Es mag eine Art von Bewußtsein geben oder ein Gefühl ohne ein Selbst [...]. Die Welt wäre auf eine Qualität unanalysierbaren Gefühls reduziert [...]. Ich kann diese Qualität nicht als Einheit bezeichnen, denn selbst Einheit setzt Pluralität voraus. Ich könnte ihre Form als Erstheit oder Originalität bezeichnen.“ Zit. nach Nagl, Ludwig: Charles Sanders Peirce, Frankfurt a.M. 1992, S. 99. Nagl gibt einen guten Überblick über die Kategorien von Peirce. Auch Gilles Deleuze hat die Ähnlichkeit zwischen der filmischen Visualität und der Erstheit von Peirce gesehen; vgl. Deleuze, Gilles: Kino 1. Das Bewegungs-Bild, Frankfurt a.M. 1989, S. 134-143.
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Der französische Film der 20er Jahre war keine abstrakte Avantgarde. Der Film war in der Sicht der 20er Jahre vielmehr ein Wahrnehmungsapparat, der die Sicht der konkreten Welt verändern sollte, genauer: die Sichtbarkeit der Veränderung selbst sichtbar machen konnte. Der Blick des Films erschuf eine plurale und mehrdimensionale Welt, die jedes gefilmte Objekt als immanent veränderbar begreift. Es ging keineswegs nur darum, ‚innere Welten‘ oder subjektive Gedankengänge der Protagonisten zu beschreiben, wie weite Teile der filmwissenschaftlichen Literatur in Anlehnung an manche Aussagen der bekannteren Regisseure Delluc, Epstein und L’Herbier behaupten. Die Filme richteten sich überhaupt nicht an das Subjekt, sondern an die Wahrnehmung, die gleichsam entanthropologisiert, auf die medial bedingte Veränderbarkeit selbst zielte. Der Film wurde wie ein ästhetischer Erkenntnisapparat begriffen, der die Relativität von Wahrnehmung beweisen sollte.9 In Bezug auf die Raumwahrnehmung ist daher die Idee von den verschiedenen Dimensionen des Raums ein wichtiger Aspekt. Besonders in den Filmen von Epstein und L’Herbier spielen die Wechselwirkungen verschiedener Dimensionen eine wichtige Rolle. Der eindimensionale Raum, etwa als nahezu monochrome Leinwand, der zweidimensionale Raum, etwa als pikturale Abflachung des Bildes, der dreidimensionale Raum, der den konventionellen Aktionsraum darstellt, sowie auch der vierdimensionale Raum, der etwa in Mehrfachbelichtungen konstruiert wird, stehen alle im Austausch miteinander. Sie werden also nicht nur experimentell hergestellt und für die filmische Darstellung erschlossen, sondern – und das ist das Wichtige – sie kommen nicht isoliert vor und gehen ineinander über. Besonders darin liegen die Möglichkeiten des auf ständige Variation zielenden Bewegungsbildes. Ein Beispiel hierfür ist etwa eine Bewegungsfolge in L’INHUMAINE (1923) von Marcel L’Herbier (vgl. Abb. 2-4). Abbildungen 2-4: Screenshots aus L’INHUMAINE
9 Dazu finden sich zahlreiche Aussagen in den Schriften und Filmkritiken der 20er Jahre; vgl. Vf. 2000.
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Der Ingenieur Einar Norsen ist auf dem Weg zu einer Party. Dabei schöpft der Film verschiedene, in Raumdimensionen begreifbare Optionen der Sichtbarmachung aus und bringt sie nacheinander ins Bild. So werden gleichsam exemplarisch zwei-, drei- und vierdimensionaler Raum miteinander in Beziehung gebracht. Die zweidimensional anmutende Architektur des Gebäudes, der dreidimensionale Handlungsraum und der vierdimensionale, durch Mehrfachbelichtungen produzierte Wahrnehmungsraum während der Autofahrt zeigen die Übergänge zwischen den verschiedenen Raumkonzepten. In diesem Zusammenhang muss auch die Beziehung der Poetologie des Films der 20er Jahre zum Surrealismus – dem dritten Ansatz – gesucht werden. Die großen surrealistischen Experimente dieser Jahre sind Buñuels Werke UN CHIEN ANDALOU (1928) und L’ÂGE D’OR (1930), hinzu kommen vage dem Surrealismus zuzurechnende Filme, etwa von Germaine Dulac. Neben diesen aus heutiger Sicht offiziellen surrealistischen Filmen und Positionen dominierte aber auch eine Sicht, die das Surreale als eine dispositive Qualität des Films begriff. Demnach gibt es gar keine explizit surrealistischen Filme, weil jeder Film durch die mechanische Registratur der vorhandenen Dinge eine surreale Qualität bekommt. Jean Epstein hat darauf am mächtigsten hingewiesen. Er verurteilte jede Art von surrealistischer Überformung des Filminhalts, weil dies die Aufnahmeapparatur schon von sich aus leiste: L’erreur s’aggrava de duperie dans quelques films qui se prétendaient surréalistes. Car là encore, il ne s’agissait aucunement du surrealisme naturel, que, justement, la caméra paraît prédestinée à saisir partout sur le vif et à inventer à chaque instant, de facon bien plus indiscutablement automatique que ne pourra jamais l’être l’écriture la moins contrôlée […]. C’est la machine qui crée, dans ce qu’elle voit autour d’elle et qui ne semble d’abord que très ba10 nal, la surréalité.
In diesem Zusammenhang kann noch einmal an eine frühe Definition des Photogénie erinnert werden, die von Louis Delluc stammt. Er kennzeich10 Epstein, Jean: „Avantgarde et Arrière-Garde“, in: ders.: Écrits sur le cinéma, Paris 1975, S. 72: „Der Irrtum verschlimmert sich durch Schwindeleien bei Filmen, die vorgeben surrealistisch zu sein. Denn dort handelt es sich keineswegs um natürlichen Surrealismus, den die Kamera ja gerade durch ihre Fähigkeit, überall das Lebendige zu erfassen, zu schaffen geeignet ist. Auf nahezu automatische Weise ist sie in jedem Moment schöpferisch, wie es keine noch so unkontrollierte Schrift wird sein können [...]. Es ist die Maschine, die durch bloßes Sehen das noch so banal Scheinende als Surrealität hervorbringt“ [Übers. O.F.].
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net das Photogénie und damit das Einzigartige des Films dadurch, dass es die Welt auf das Sichtbare reduziert und den Dingen jede andere Eigenschaft als diejenige, sichtbar zu sein, nimmt.11 Die Intensivierung des Visuellen schafft eine andere Wahrnehmung des Objekts, und doch gehört diese Sichtweise zum Objekt hinzu. Diese Beschreibung, die an die ambivalente Sichtbarkeit des Photogénie zuvor erinnert, in der das Objekthafte mit seiner eigenen Materialität konfrontiert wird, ohne dass das Bild in einer der beiden Momente aufgeht, ist auch kennzeichnend für die Idee der Surrealität, die der filmischen Wiedergabe eigen ist. Atmosphäre, Mehrdimensionalität und Surrealität sind also drei Begriffe, welche eine dynamische Zirkulation des Sichtbaren beschreiben. In gewissem Sinne ist das Bild nur Durchgangsstation eines zentrifugalen Sichtbaren. Räume sind damit keine filmischen Ensembles mit festen Koordinaten, sondern dynamische visuelle Gefüge.
3.
Orte und Räume
Der französische Film der 30er Jahre etabliert nun neue Raumkonzepte, die zunächst vor allem damit zu tun haben, dass die Narration – wie bereits gesehen – zu einem entscheidenden ästhetischen Aspekt wird. Das wichtigste Kennzeichen des narrativen Films ist seine diegetische Schließung, das heißt, jeder Film definiert ein Außen, das außerhalb der diegetischen Ordnung steht. Um die Raumkonzeption in narrativen Filmen in den Blick zu bekommen, möchte ich eine Unterscheidung aufgreifen, die von André Gardies in seiner Studie L’espace au cinéma eingeführt wird.12 Gardies unterscheidet dort zwischen Ort und Raum. Orte gehören zur Ordnung der Repräsentation. Besonders narrative Filme, die Gardies im Visier seiner Untersuchung hat, setzen sich aus Orten zusammen, die für den Zuschauer erkennbar oder gar wiedererkennbar sind. Städte, Bahnhöfe, Prärien, Straßen, Wohnungen, Verkehrsmittel, die Orte sind primäre Identifizierungspunkte für den Zuschauer. Anders die Räume. Diese setzen sich erst aus den einzelnen Orten, oder genauer, aus den Eigenschaften der Orte zusammen. Um filmische Räume zu konstruieren, ist die Zuschauertätigkeit notwendig. Die Räume sind demnach nicht repräsentativer, sondern diegetischer Natur, sie entstehen weniger auf der Ebene der Einstellungen, als auf der Ebene der Syntagmen oder Sequenzen. Gardies wagt sogar die These, dass die Orte im narrativen Film zur 11 Vgl. Delluc, Louis: „Photogénie“, in: ders.: Écrits cinématographiques I, Paris 1984, S. 33. 12 Gardies, André: L’espace au cinéma, Paris 1993, S. 69-72.
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Ordnung der Sichtbarkeit gehören, während die Räume streng genommen unsichtbar sind. Die Räume sind das Relationennetz der Orte, das erst durch die Aktivität des Zuschauens entsteht, aber gleichwohl in die Ordnung des Films eingewoben ist. Räume gehören also vielmehr einer virtuellen Ordnung an, während Orte Aktualisierungen oder gar Singularisierungen dreidimensionaler geographischer Ensembles sind. Diese Unterscheidung gilt allerdings nur für den avancierten narrativen Film, der demnach eine Struktur von Syntagmen bzw. eine diegetische Struktur aufweist. Betrachtet man im Rahmen dieser Unterscheidung den französischen Film der 20er Jahre, dann fällt auf, dass das Verhältnis von Ort und Raum keineswegs in der Form etabliert ist, wie es der narrative Zusammenhang erfordert. Die Orte spielen im französischen Film der 20er Jahre eine untergeordnete Rolle, vor allem in den Filmen der bekannteren Regisseure Delluc, Dulac, Epstein, L’Herbier und Renoir. Dennoch sind die von ihnen signierten Filme keineswegs nur abstrakte Experimente, sondern im Gegenteil meistens Filme mit einem expliziten Bezug zu einer repräsentativen Wirklichkeit. Und natürlich spielen die Handlungen in wiedererkennbaren Städten, Straßen, Wohnungen, Jahrmärkten, Landschaften etc. Dennoch unterscheidet sich die Behandlung dieser Orte von derjenigen in dominant narrativen Filmen, die Gardies meint, denn die Orte bilden weniger ein erzählerisch ineinander gestricktes Relationennetz, ein Beziehungsgefüge von Orten, das eine spezifische räumliche Struktur nahe legt. Orte sind im französischen Film der 20er Jahre nur Durchgangsstationen des Bildes. Nicht der einzelne Ort mit seinen Charakteristika, die ja erst den Raum schaffen, ist entscheidend, sondern die immanente Veränderbarkeit des Ortes bzw. des Bildes. Anders gesagt: Es ist nicht der Ort, von dem ausgehend sich Bild und Raum definieren, sondern es ist das Bild, das den Ort als eine momentane Bestimmung erkennt, die aber sofort in neue Bilder retransformiert wird, wie an den Beispielen von Epstein und L’Herbier deutlich wurde.13 Wenn es dem Film der 20er Jahre weniger um Orte geht, dann aber doch immerhin um Räume, wie wir bereits gesehen haben. Dies allerdings in einem anderen Sinne, als es Gardies definiert. Für ihn bestimmen sich die Orte im Wesentlichen auf der Ebene der Einstellungen und die Räume auf der Ebene der Syntagmen. Erst dadurch wird Narration möglich. Im Film der 20er Jahre entstehen die Räume aber schon auf der 13 Man könnte noch einmal an die Peirce’sche Erstheit denken, die von Nagl als „Grenzbegriff ortloser/subjektloser Qualitäten“ bezeichnet wird; vgl. Nagl 1992, S. 99.
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Ebene der Einstellungen. Dafür spricht, dass die Bildgebungsverfahren, also Doppelbelichtungen, Überblendungen, Zeitlupe und Zeitraffer viel entscheidender sind als etwa die Montage, sieht man einmal ab von der Akzelerationsmontage, die von Gance, Epstein, L’Herbier und Grémillon verwendet wird. Aber die Akzelerationsmontage ist ja eben keine Montageform, die eine diegetische Welt konstruieren hilft, sondern sie akzentuiert die Veränderung des einzelnen Bildes. Die Orte sind also weniger Singularisierungen im Sinne von Gardies, sondern bezeichnen eine Translationsbewegung hin zu den Räumen. Kurz: Der Raum entsteht nicht diegetisch-konstruktivistisch, sondern wahrnehmungs- und ereignisorientiert.
4.
Raum in den frühen 30ern
Da der französische Film der 30er Jahre nun stärker auf den narrativen Zusammenhang setzt, müsste der Verdacht nahe liegen, dass er die Konzepte der 20er Jahre aufgibt und sich das narrative Raumkonzept, wie es von Gardies entworfen wird, etabliert. Doch ganz so leicht ist es meines Erachtens nicht. Ich behaupte vielmehr, dass der französische Film der frühen 30er Jahre eine Zwischenposition einnimmt, die eine stärker narrativ ausgerichtete Räumlichkeit und eine eher am visuellen Ereignis orientierte Raumauffassung miteinander kombiniert. Um das besser zu fassen zu können, möchte ich drei Raumkonzepte voneinander unterscheiden, die alle zur Ordnung der narrativen Repräsentation gehören, allerdings unterschiedliche filmische Möglichkeiten realisieren. Das erste Konzept nenne ich Milieu. Es weist darauf hin, dass das Zusammenspiel von Ort und Raum im Sinne von Gardies aufgewertet wird und genau das lässt sich für die Filme zu Beginn der 30er Jahre behaupten. Konkrete Räume, das heißt die Straßen, Wohnungen und Hinterhöfe von Paris, Cafés, Schiffe oder die Wüste der Fremdenlegion dienen als Aktionsräume in den Filmen von Clair, Grémillon, Feyder und Renoir. Anders als in den 20er Jahren geht es nicht mehr nur um Orte als Vehikel für Bildtransformationen, sondern um Milieus. Milieu meint nämlich eine spezifische Verortung sowohl für den Zuschauer als auch für die Protagonisten. Die Schaffung bestimmter, vor allem sozial strukturierter Milieus ist ein wichtiges Kennzeichen für den sogenannten poetischen Realismus. Die Raumstrukturen stellen sich dann aufgrund der Beziehungen der verschiedenen Orte her. In Beziehung stehen zum Beispiel Fremdenlegion und Paris in LE GRAND JEU (Jacques Feyder 1933) oder beweglicher Ort (Schiff) und fester Ort (Land) etwa in L’ATALANTE (1934) von Jean
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Vigo, Gefängnis und Großstadt in LA PETITE LISE (Jean Grémillon 1930) auch Theaterraum und Filmraum, etwa in LA CHIENNE (1931) von Renoir. Das zweite Raumkonzept, das sich zu Beginn der 30er Jahre etabliert, ist der Theaterraum. Das können explizite Hinweise auf das Theater sein, ebenso aber Blickstrukturen, die auf den dreidimensionalen Raum des Theaters hinweisen. In dem ersten Tonfilm von Jean Grémillon, LA PETITE LISE (1930), gibt es eine Reihe von Einstellungen, in denen der Bildrand selbst noch über einen weiteren Schwarzrand verdoppelt ist. Ebenso gibt es einige lange statische Einstellungen, die in der Länge nur durch den Einsatz des Tons oder speziell der Musik dramaturgisch Sinn erhalten. In LE GRAND JEU (1933) von Jacques Feyder gibt es eine lange Einstellung, in der die Soldaten der Fremdenlegion vom Hintergrund in das statische Bildfeld einziehen. Das Bild ist dabei keine modulierbare Fläche mehr, wie noch in den 20er Jahren, sondern ein dreidimensionaler Raum, in die die Handlung gleichsam eindringt. Eine Reflexion findet dieser theaterhafte Raum in LA CHIENNE von Renoir.14 Der Beginn des Films wird in eine Theaterhandlung eingebaut, die auf fast selbstreflexive Weise in die Filmhandlung übergeht, indem der Blick aus der Verbindung zwischen Küche und Gastraum selbst zum Rahmen wird, der wie ein Theaterblick inszeniert ist (vgl. Abb. 5 und 6). Abbildungen 5-6: Screenshots aus LA CHIENNE
Dieser Anfang von LA CHIENNE weist auf zweierlei hin. Zum einen ist die Verbindung zum Theater ein Hinweis auf die Konstruktion des vorgeführten Films. Der Erzähler offenbart sich, die Erzählung fußt auf be-
14 Zu Renoirs Werk gibt es zahlreiche Arbeiten. Eine erste Orientierung zum Thema des Raums bei Renoir gibt Haffner, Pierre: Jean Renoir, Paris 1988, S. 43-51. Vgl. auch den zuletzt erschienenen Band Lommel, Michael/Roloff, Volker (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003.
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kannten oder konventionellen Mustern, der Erzählraum ist kontrolliert. Eine Leitung, die den Zuschauer durch die Geschichte führt, ist gesichert. Zum anderen aber deutet der explizite Verweis auf den Theaterrahmen selbst auf die Überschreitung des Theaters und auf den filmischen Bildrahmen hin. Dies wiederholt sich durch die Verwendung der Tiefenschärfe, die in LA CHIENNE und auch in BOUDU SAUVÉ DES EAUX eine wichtige Rolle zur Schichtung des Raums spielt. Der Raum findet hier an der Schnittstelle von Theater und Film seine Bestimmung. Schließlich gibt es ein drittes Konzept, das ich den phänomenalen Raum nennen möchte. Der Bezug auf das Phänomenale stellt sicher, dass das Sehen und das Sichtbare keine getrennten Momente sind, sondern umgekehrt das Sehen selbst im Feld des Sichtbaren erst erschlossen wird. Das Sichtbare ist nicht eine vorkonstruierte Welt, die nach und nach erschlossen wird, sondern es entsteht erst mit dem Sehen.15 Dies geschieht aber nicht mehr durch die mannigfaltigen Manipulationen des Bildes wie in den 20er Jahren, sondern durch die Bewegungen der Kamera, die in den 20er Jahren eine eher untergeordnete Rolle spielten. Das ändert sich in den 30er Jahren. Lange Lateralfahrten etwa kommen in vielen Filmen vor, besonders auffällig sind die Kamerafahrten in LA CHIENNE und LE 16 CRIME DE MONSIEUR LANGE. Diese Fahrten durch den Raum sind Dekadrierungen, die den narrativen Rahmen nicht unterlaufen, aber seinen Zweck überschreiten und auf die Erschließung des Sehens im Medium der Sichtbarkeit – dem Film – verweisen. In LA CHIENNE sehen wir Michel Simon, der sich vor dem Fenster stehend rasiert. Dann geht er zum Schrank, in dem er das Geld seiner Frau sucht und kehrt zum Fenster zurück, wobei die Endposition gegenüber der Ausgangsposition leicht verschoben ist (vgl. Abb. 7-8).
15 Maurice Merleau-Pontys Spätästhetik fußt auf diesem Gedanken; vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, Hamburg 1984, S. 16f. 16 Die berühmte Kreisbewegung in LE CRIME DE MONSIEUR LANGE hat André Bazin bereits analysiert und sogar nachgezeichnet. Er sagt dazu: „Diese überraschende Kamerabewegung, die jeder Logik widerspricht, mag nebenbei psychologische und dramaturgische Gründe haben [...], aber ihr Hauptgrund liegt tiefer: Sie ist der pure Raumausdruck dieser Bildregie.“ (Bazin, André: Jean Renoir, Frankfurt a.M. 1980, S. 30.)
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Abbildungen 7-8: Screenshots aus LA CHIENNE
Die Oszillation der Kamera erschließt ebenso einen phänomenalen Raum wie auch einen Erzählraum, beide Raumkonzepte balancieren sich gegenseitig aus. Renoir steht hier durchaus in der photogenischen Tradition von Louis Delluc, wenn er auch mit anderen Mitteln vorgeht. In LA CHIENNE wird im übrigen der Moment, in dem sich die Kamera in Bewegung setzt, besonders betont, die Verschiebung des Bildrahmens wird gleichsam inszeniert, weil vor dem Hintergrund der Fensterrahmen die sich in Bewegung setzende Kamera stark auffällt. Das Sichtbare wird so abgetastet und zugleich produziert. In dieser Freilegung des Sichtbaren und des Sehens zugleich liegt die bereits von André Bazin analysierte cache-Funktion der Kamera, die Entdecken und Verdecken in Beziehung zueinander bringt.17 In bildtheoretischer Hinsicht kann man mit Bernhard Waldenfels für den phänomenalen Raum festhalten, „dass dem Sehereignis ein Bildereignis entspricht, das nicht bloß sichtbar macht, was zuvor hier, dort, anderswo oder an sich schon sichtbar ist, sondern was unter neuentstehenden Bedingungen zugleich sichtbar und unsichtbar wird.“18 In diesem Sinne ist die Verschiebung des Rahmens die Weiterführung von bekanntem Bildsinn, aber zugleich auch die Überschreitung dieses Bildsinns. Die drei Raumkonzepte, die in Milieu, Theater und phänomenalem Raum zum Ausdruck kommen, entstehen im Zusammenspiel, kommen besonders in den frühen Filmen der 30er Jahre zusammen vor und überlappen sich. Offenbar findet hier tatsächlich ein Übergang statt, der zwischen den visuell orientierten Ansätzen der 20er Jahre und den sich ab 17 André Bazin entwickelt die zwei Formen cadre und cache, um unterschiedliche Möglichkeiten der Kamera zu zeigen. Einmal ist diese eher ein Rahmen, ein anderes Mal eher ein Versteck, wobei dem Blick zugleich etwas gezeigt und entzogen wird; vgl. Bazin 1980, S. 63. 18 Waldenfels, Bernhard: „Ordnungen des Sichtbaren“, in: Gottfried Böhm (Hrsg.): Was ist ein Bild, München 1994, S. 243.
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den 30er Jahren etablierenden narrativen Ausrichtungen vermittelt und dabei eigenständige filmische Konzepte entwickelt.
Literatur Bazin, André: Jean Renoir, Frankfurt a.M. 1980. Böhm, Gottfried (Hrsg.): Was ist ein Bild, München 1994. Böhme, Gernot: Atmosphäre, Frankfurt a.M. 1995. Deleuze, Gilles: Kino 1. Das Bewegungs-Bild, Frankfurt a.M. 1989. Delluc, Louis: Écrits cinématographiques I – IV, Paris 1984-1990. Epstein, Jean: Écrits sur le cinéma, 2 Bde., Paris 1974/1975. Fahle, Oliver: Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre, Mainz 2000. Gardies, André: L’espace au cinéma, Paris 1993. Haffner, Pierre: Jean Renoir, Paris 1988. Kessler, Frank: „Photogénie und Physiognomie“, in: Rüdiger Campe/Manfred Schneider (Hrsg.): Geschichten der Physiognomik, Rombach 1996, Bd. 36. Lommel, Michael/Roloff, Volker (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003. Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, Hamburg 1984. Nagl, Ludwig: Charles Sanders Peirce, Frankfurt a.M. 1992. Renoir, Jean: Mein Leben, meine Filme, Zürich 1992. William, Alan: Republic of Images. A History of French Filmmaking, Cambridge/Massachusetts 1992.
KLAUS KREIMEIER
RAUMAUFLÖSUNG UND ICH-VERLUST PHANTASMATISCHE BILDER IN GEORG WILHELM PABSTS L’ATLANTIDE Abstract Le metteur en scène G.W. Papst, estimé en France des années trente comme „la voix de l’Allemagne“, a tourné également quelques-uns de ses films en langue française et en partie avec des acteurs français, entre autres L’ATLANTIDE d’après la version allemande DIE HERRIN VON ATLANTIS. Face à l’arrière-plan du mythe de l’Atlantis, le film développe une étude psychologique des profondeurs sur la perte d’espace et de temps, sur l’identité brisée et la propre livraison de l’homme à la projection d’une „magie“ féminine. En même temps, par ce film Papst a initié sur le plan esthétique un discours sur le cinéma et la perception filmique ainsi que le récit ambigu de nombreux motifs visuels d’origine „phantasmagorique“ rendent possible de faire allusion aux sujets centrales du discours des surréalistes francais. Der Filmregisseur G.W. Pabst, im Frankreich der frühen 1930er Jahre als „Stimme Deutschlands“ geschätzt, hat einige seiner Filme auch in französischer Sprache und (teilweise) mit französischen Darstellern gedreht, darunter L’ATLANTIDE nach der deutschen Version DIE HERRIN VON ATLANTIS. Vor dem Hintergrund des Atlantis-Mythos entfaltet dieser Film eine tiefenpsychologische Studie über den Verlust von Raum und Zeit, über das Zerbrechen der persönlichen Identität und die Selbstauslieferung des Mannes an die Projektion weiblicher „Magie“. Zugleich hat Pabst mit diesem Film auf der ästhetischen Ebene einen Diskurs über das Kino und das filmische Sehen initiiert. Die doppelbödige Geschichte und etliche „phantasmatische“ Bildmotive ermöglichen es, einen Anschluss an zentrale Topoi im Diskurs der französischen Surrealisten herzustellen.
G.W. Pabst residiert in der Filmgeschichtsschreibung der 200 berühmten Namen als Filmkünstler der großen deutschen Stummfilmepoche zwischen 1918 und 1930, konkurrierend mit Fritz Lang, Ernst Lubitsch und F.W. Murnau. Als Regisseur der FREUDLOSEN GASSE (mit Greta Garbo und Asta Nielsen) und der Louise Brooks-Filme TAGEBUCH EINER VERLORENEN und DIE BÜCHSE DER PANDORA. Als jener Regisseur, der gegen das Chiaroscuro des deutschen Caligari-Expressionismus der Neuen Sachlichkeit und der sozialen Frage zum Durchbruch verhalf. Als enga-
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gierter Kämpfer für die Völkerverständigung mit seinen ersten Tonfilmen WESTFRONT 1918 und KAMERADSCHAFT; als Kontrahent Bertolt Brechts im Prozess um die Verfilmung der Dreigroschenoper – schließlich als Wanderer zwischen den Welten, der zu Beginn der 30er Jahre in französischen und amerikanischen Studios sein Glück suchte, 1939 in Österreich vom Kriegsausbruch überrascht wurde und sich schließlich bei Goebbels um Aufnahme in die Reichsfilmkammer bewarb. Die Widersprüche, Verwerfungen und Bruchlinien in dieser Karriere blieben lange im Dunklen – bis 1990, von Eric Rentschler herausgegeben, bei Rutgers University Press die erste große Pabst-Monografie1 erschien, der 1997 die Retrospektive der Berlinale mit einer umfassenden Publikation2 folgte; in diesen beiden Büchern wurden erstmals auch Pabsts Arbeiten in ausländischen Studios, besonders in Frankreich, gewürdigt. Pabsts Renommee in Frankreich um 1930 ist enorm; Bernard Eisenschitz spricht von einer „unverhohlenen, fast physischen Sympathie“, die das intellektuelle Frankreich dem Deutschen (oder vielmehr dem Österreicher) entgegenbringt: er werde als ‚die Stimme Deutschlands‘ geschätzt; in der Zeit des Medienumbruchs zum Tonfilm und der politisch bedrohlichen Entwicklung im Deutschland der Weimarer Republik erfülle Pabst die französische ‚Wunschvorstellung‘, „einen Sergej Eisenstein und King Vidor vergleichbaren Künstler in der Nähe [nämlich mitten in Europa. KK] zu haben“. Weiter Eisenschitz: „Für André Delons ist er neben Stroheim ‚heute der einzige, der die Unversöhnlichkeit der Klassen (haines sociales) und den Nihilismus des Trieblebens (pessimisme des instincts) thematisiert‘. Er galt lange Zeit als Exponent des ‚gesellschaftskritischen phantastischen Films‘ (fantastique social), eine Bezeichnung, die Pierre Mac Orlan für die ‚Straßenfilme‘ erfunden hatte.“ Eisenschitz fasst zusammen: „Der rote Pabst, der Surrealist Pabst, der Kämpfer gegen soziales Unrecht, der Libertär erhält Zustimmung von allen Seiten, das ist ein Autor der dreißiger Jahre.“3 Den guten Ruf, den Pabst in Paris genießt, haben zweifellos auch die rüden Methoden der französischen Verleiher und die französische Zensur befördert: DIE BÜCHSE DER PANDORA wird vom Verleih umgeschnitten, DAS TAGEBUCH EINER VERLORENEN um ein Drittel gekürzt, die zweisprachige Originalversion von WESTFRONT 1918 wird verboten und
1 Rentschler, Eric (Hrsg.): The Films of G.W. Pabst. An Extraterritorial Cinema, New Brunswick/London 1990. 2 Jacobsen, Wolfgang (Hrsg.): G.W. Pabst, Berlin 1997. 3 Eisenschitz, Bernard: „Verpaßte Begegnung. Pabst in Frankreich“, in: Wolfgang Jacobsen (Hrsg.): G.W. Pabst, Berlin 1997, S. 193.
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L’OPÉRA DE QUAT’SOUS von der Zensur sieben Monate lang zurückgehalten – kein Wunder, dass sich Pabsts Name für die französische Intelligenz „mit dem Kampf für die Freiheit des Kinos und die Freiheit im allgemeinen verknüpft.“4 In der Zeit des frühen Tonfilms um 1930 nähert sich Pabst Frankreich zunächst über seine bereits im Original zweisprachig gedrehten Filme an: WESTFRONT 1918 und KAMERADSCHAFT werden in Frankreich (soweit nicht verboten) als QUATRE DE L’INFANTERIE und LA TRAGÉDIE DE LA MINE aufgeführt. Hinzu kommen die sogenannten Versionen-Filme. Noch werden zu dieser Zeit die Filme nicht synchronisiert – vielmehr werden von den großen ‚Prestigefilmen‘, wie sie in Deutschland genannt werden, mit ausländischen Schauspielern und Herstellungsleitern auf dem Drehset jeweils englisch- oder französischsprachige ‚Versionen‘ hergestellt. Das ist aufwendig, zeitraubend, kostenintensiv und auf längere Sicht wenig rentabel – aber das Verfahren hat der Filmgeschichte für eine sehr kurze Zeitspanne besonders interessante, interkulturell und ästhetisch reizvolle Film-Doubletten oder Doppel-Filme geschenkt; die Variablen liegen dabei vorwiegend im Bereich der schauspielerischen Repräsentation und stimulieren zu vergleichenden Analysen – etwa wenn in der DREIGROSCHENOPER, deutsche Version, Mackie Messer von Rudolf Forster und in der französischen Version von Albert Préjean gespielt wird. Pabst dreht nach L’OPÉRA DE QUAT’SOUS (1931) ein Jahr später DIE HERRIN VON ATLANTIS in deutscher, englischer und französischer Fassung; mit der französischen Version, L’ATLANTIDE, werde ich mich gründlicher befassen. Nur um den Überblick zu vervollständigen, nenne ich die fünf Filme, die in der Folgezeit in französischen Studios entstehen – es handelt sich um DON QUICHOTTE (1933), DU HAUT EN BAS aus demselben Jahr, MADEMOISELLE DOCTEUR (1936), LE DRAME DE SHANGHAI (1938) und JEUNES FILLES EN DÉTRESSE (1939): alle bis heute in Deutschland so gut wie unbekannt und von den Großmeistern der Filmgeschichtsschreibung übersehen oder vollkommen unterschätzt. Zumindest mit Mademoiselle Docteur und Le Drame de Shanghai hat Pabst ein Genre bedient, womöglich gar kreiert, das es in Deutschland gar nicht gibt: das politisch-romantische Melodram – also le fantastique social –, dicht an der Zeitgeschichte, dramaturgisch gut gebaut, spannungsgeladen und von einer ambitionierten Kamera gefilmt, die sich sowohl auf lyrische Stimmungswerte als auch auf den dramatischen Effekt versteht.
4 Ebd., S. 193.
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* * * DIE HERRIN VON ATLANTIS oder (frz.) L’ATLANTIDE (1932) basiert auf dem gleichnamigen Roman von Pierre Benoît (den Jacques Feyder 1920 schon einmal verfilmt hatte) und findet wohl nicht zufällig in Frankreich mehr Aufmerksamkeit als in Deutschland. Kracauer wirft in seiner Filmgeschichte auf den Film nur einen verächtlichen Blick: Pabst habe sein soziales Engagement ‚aufgesteckt‘, dieser Film sei „eine eindeutige Regression“, eine Wendung „in reinen Eskapismus“.5 Aus dem Korpus der Filme, die nach KAMERADSCHAFT und vor Pabsts Rückkehr nach Deutschland und seinem Kompromiss mit dem Nationalsozialismus entstanden sind, ragt L’ATLANTIDE jedoch einsam heraus – ein verstörender, rätselhafter, radikaler und in der Rigorosität seiner Bilder schweigsamer Film, von dem in der Tat keine Brücke zum Realisten der Neuen Sachlichkeit, zur Gesellschaftsanalyse und zum politischen Engagement der vorangegangenen Filme zurückführt. Und doch gibt es einen Pabst-Film, zu dem L’ATLANTIDE in einer untergründigen Beziehung steht: Das ist GEHEIMNISSE EINER SEELE, ein streng didaktischer Film für die Ufa-Kulturabteilung, mit dem Pabst, beraten von zwei prominenten Schülern Sigmund Freuds, versucht hat, die Kernthese der Psychoanalyse – nämlich dass die Neurose heilbar sei, wenn es gelingt, ein verdrängtes Trauma der Kindheit freizulegen und die Seele aus seinen Fesseln zu befreien – in eine Spielfilmhandlung umzusetzen. Auf die Wiederherstellung, die Rekonstruktion des Subjekts in GEHEIMNISSE EINER SEELE antwortet nun, sieben Jahre später, seine De-konstruktion in DIE HERRIN VON ATLANTIS – auf die erfolgreiche Aufschlüsselung des Unbewussten, ein Sturz durch Zeit und Raum, der im Labyrinthischen, in quälerischer Suche nach dem verlorenen Ich und schließlich im Identitätsverlust endet. Die Handlung des Films ist rasch erzählt. Zwei Offiziere der französischen Kolonialarmee, Saint-Avit und Morhange, werden auf einer Patrouille in der südlichen Sahara von Tuaregs überfallen und gefangen genommen. Sie finden sich wieder im Labyrinth einer orientalischen Höhlenstadt, einer Welt voller Mysterien und unbestimmter Gefahren, in der allmählich das Bewusstsein für Raum und Zeit verblasst und SaintAvit, aus dessen Perspektive wir das Geschehen verfolgen, von einer schleichenden Panik erfasst wird. Saint-Avit sucht in einem Gewirr von unterirdischen Gängen, Treppen, Säulenhallen seinen Kameraden Morhange. Er erfährt, dass in diesem Höhlenreich Antinea herrscht, die Köni-
5 Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt a.M. 1984, S. 255.
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gin von Atlantis, eine unnahbare Schönheit, der die Männer, die in ihren Bannkreis geraten, unweigerlich erliegen. Als Gefangene Antineas, im physischen und metaphysischen Sinn, dämmern sie im Opiumrausch dahin, zerrütten im grenzenlosen Liebesschmerz sich selbst. Auch um Saint-Avit, nachdem ihn Antinea im Schachspiel besiegt hat, ist es geschehen; er vergisst seinen Kameraden Morhange, seine Gedanken kreisen nur noch um die „Déesse“, die männermordende Königin in ihrem prunkvollen, von Sklavinnen und Leoparden bewachten Boudoir. Schließlich belauscht Saint-Avit ein Tête-à-Tête zwischen Antinea und dem schon verloren geglaubten Morhange und vergeht vor Eifersucht. In der Tat hat sich Antinea in ihren Gefangenen Morhange unsterblich verliebt – dieser aber ist standhaft und fordert kategorisch seine Freilassung und die seines Kameraden. Antinea weist ihn, tief gekränkt und in namenloser Wut, von sich. Sie benutzt den liebestollen Saint-Avit, um Morhange zu ermorden. Über der Leiche seines Kameraden kommt Saint-Avit, so scheint es, wieder zur Besinnung und will sich auf Antinea stürzen. Er wird eingekerkert, aber eine Dienerin Antineas, die sich in ihn verliebt hat, verhilft ihm zur Flucht. Nach einem Irrweg durch die Sahara, auf dem seine Retterin stirbt und er fast verdurstet, kehrt er in seine Garnison zurück. Zwei Jahre vergehen. In den Schlussbildern des Films tobt ein beeindruckender Sandsturm, eine französische Patrouille irrt durch die Wüste auf der Suche nach ihrem Hauptmann Saint-Avit – vergebens: der Mann ist für immer verloren, wie verschlungen von seinem eigenen Traum, sei es Wahnbild oder Wirklichkeit, aufgesogen von seiner Sehnsucht nach einer mythischen Göttin, der Herrin von Atlantis. In diesem Film, den Pabst selbst eine „Fata morgana“ genannt hat, geht es in die Tiefe: wie durch einen Zeitschacht stürzen wir aus der epischen Gegenwart der Rahmenhandlung in eine Rückblende, in der sich die Zeitschichten, reale und imaginierte Vergangenheit überlagern. Die Rahmenhandlung spielt zwei Jahre später: der Film beginnt mit dem Radiovortrag eines Wissenschaftlers über Theorien zum versunkenen Atlantis. Das Radio ist 1932 gerade ein paar Jahre alt. Wir befinden uns in einer technisierten Medien-Moderne, die bis nach Nordafrika reicht: mit Hilfe ihres Detektors hören zwei Kolonialoffiziere, einer von ihnen ist Saint-Avit, in einem algerischen Militärstützpunkt den Radiovortrag ab. Ein modernes Nachrichtenübertragungsmedium löst den Gang in die Tiefe aus, katapultiert uns mit der Hauptperson aus einem politisch-strategisch definierten Raum (Soldaten hocken in ihrer Festung und führen Krieg gegen die Tuaregs) in einen vor-politischen Raum des Mythos und
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der Trance, aus der materiellen Wirklichkeit in die Sphären des Wahns, aus der Logik geordneter Strukturen in ein Labyrinth, in dem das Unbewusste dem Verstand tückische Fallen stellt und eine nach innen glühende Ekstase die Menschen leerzusaugen scheint, sie gleichsam in somnambule Schatten ihrer selbst verwandelt. Es ist die spezifische Qualität der beiden Rückblenden in diesem Film, die den prekären Gemütszustand der Hauptfigur, eine Mischung aus Trance und Panik, auf den Zuschauer überträgt und ihm das Gefühl einpflanzt, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Funktioniert die erste Rückblende noch nach klassischem Muster – im Anschluss an den Radiovortrag über Atlantis trägt die Erinnerung Saint-Avit zwei Jahre zurück in die traumatische Situation, die er erlebt haben will –, so verändert sich die Landschaft, in die wir nun eintauchen, fast unmerklich in einen Irrgarten voller Gefahren und mehrdeutiger Zeichen: die Sahara wird zur Projektionsfläche, der sich der Tod, das Rätsel, der Wahnsinn eingeschrieben haben. Die zweite Rückblende stürzt dann wie ein Katarakt in das Kontinuum der Narration: ein harter Schnitt befördert uns aus Antineas Wüstenreich – wieder durch einen Zeitschacht – in das Paris der Belle Epoque, auf einer Bühne tobt der Cancan aus Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“, und wie in einem Kolportageroman – um einen solchen handelt es sich ja auch – werden wir (mit Saint-Avit) nun darüber aufgeklärt, dass Antinea, die sagenhafte Herrin von Atlantis, die Tochter einer Pariser Revuetänzerin und ihres schmierigen Impresarios ist. Doch dieses klapprige narratologische Gerüst, repräsentativ für die konstruierten Wirklichkeiten des Trivialromans, bleibt dem Film äußerlich; es vermag seiner ihm eigenen Bildwelt, seiner suggestiven Visualität nichts anzuhaben. Es bleibt der Schock des harten Schnitts – aber die profane Logik der Geschichte bringt weder Saint-Avit zur Vernunft noch erlöst sie uns, die Zuschauer, aus dem Dämmerzustand des Wachtraums, in den uns der Film eingehüllt hat. L’ATLANTIDE ist ein Film des ungesicherten Raums und der Raumauflösung, der mit bestechenden Schwarzweißbildern die Wüste, das grelle Weiß der Gewänder, die tiefschwarzen Schatten eines TuaregDorfs und die flimmernde Hitze über den Sanddünen hyper-präzis abbildet und vibrieren lässt, während dabei die Grenze zwischen fotografisch abgebildeter und ‚magisch‘ konstruierter Realität verschwindet. Transparenz und Präzision, kristalline Visualität und eine nahezu schmerzende Randschärfe – ein stilistischer Effekt der Bauten und der Lichtführung schon in den Innenszenen früherer Filme von Pabst – konstruieren hier eine extreme Landschaft und sind gleichzeitig Medien der
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Mystifikation. Das Kino spielt dabei mit seinem genuinen Instrumentarium und unterminiert gleichzeitig die Normen der Wahrnehmung. Karl Sierek hat in seinen Sequenzanalysen6 dargelegt, dass mit dem subtilen Licht-und-Schatten-Spiel in jener Szene, in der Saint-Avit auf der Suche nach Morhange durch die Tuareg-Siedlung irrt, die Seh-Maschine Kino dem Zuschauer ihre Wirkungsweise enthüllt, zugleich aber das, was er sieht, ins Geheimnisvolle entrückt. Das Motiv der Suche ist den filmsprachlichen Mitteln, den Montageformen, den Kameraperspektiven und den Lichteffekten inhärent, so dass parallel und ineins mit der Geschichte über eine zurückweichende Wirklichkeit und wachsenden Ich-Verlust ein Diskurs über das Kino und über das Sehen entsteht. Antinea setzt ihre Liebhaber ‚matt‘ – nicht nur als Herrin des Schachbretts (das die Struktur des Labyrinths en miniature wiederholt und dessen abstraktes Muster schon 1925 als Bildelement im berühmten Flugtraum von GEHEIMNISSE EINER SEELE zu sehen ist). Brigitte Helm als Antinea erstarrt in ihrem Prunk. Halb Monument, halb Maschine, Petrefakt und Projektionsfläche exzessiver Wünsche, verkörpert sie die männermordende Aura eines archaischen Matriarchats – mitten im 20. Jahrhundert. Morhange, der von ihr Umworbene, formuliert aus eurozentrischer Perspektive den cultural clash, dem er sich gegenübersieht: „Hier wählen die Frauen, das ist hier die Sitte; es ist nicht die Sitte Europas.“ Sierek hat sehr schön gezeigt und – mit Lacan und Alan Sheridan argumentierend – herausgearbeitet7, wie das Sehen und das ‚Sehen-dassjemand-sieht‘ in diesem Film funktioniert und wie in dieser Szene auch die Montage aus der normativen, ‚eurozentrischen‘ Erzählstruktur, die aus Schuss-Gegenschuss-Ritualen besteht, ausschert und für eine kurze Sequenz in ein nicht-europäisches (‚vor-modernes‘) Muster springt. Saint-Avit sucht seinen Kameraden, dabei findet er Antinea und verliert sich selbst. Was Saint-Avit widerfährt, dementiert den wissenschaftlich-aufklärerischen Euphorismus von GEHEIMNISSE EINER SEELE. Wenn der junge Offizier in seine europäische Festung zurückgekehrt ist und seine Geschichte überdenkt, ist er zu einem „im Tiefsten“ erschütterten, traumatisierten Subjekt geworden – zu einem Patienten, der dort angekommen ist, wo die Psychoanalyse auf ihn wartet, aber wohl auch nicht mehr viel ausrichten kann. Die Insistenz, mit der Pabst in diesem Film, jenseits der referierbaren Geschichte, das Thema einer zurückwei6 Sierek, Karl: „The Primal Scene of the Cinema: Four Fragments from The Mistress of Atlantis“, in: Eric Rentschler (Hrsg.): The Films of G.W. Pabst. An Extraterritorial Cinema, New Brunswick/London 1990, S. 125-146. 7 Ebd., S. 128
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chenden, verblassenden, entschwindenden Realität verfolgt; die Genauigkeit, mit der er das Motiv des Ich-Verlusts und das Trauma des Suchensund-nicht-finden-Könnens in verbleichende oder aber scharf kontrastierende Bilder, in eine gelegentlich hinterlistige Montage übersetzt – all dies hebt L’ATLANTIDE, jedenfalls in dieser Periode um 1930, aus seinem Werk heraus und lässt den Film als bewundernswerte kinematographische Maschine erscheinen. Nun wäre es gewiss waghalsig, eine Verbindung zwischen Pabst und den Surrealisten zu konstruieren, die zumindest im Biographischen nicht nachweisbar ist. Aus den Jahren seiner Arbeit in Frankreich wissen wir wenig über seine Kontakte zur künstlerischen oder literarischen Szene, soweit sie über die Filmproduktion hinausgingen; ebenso fehlen Belege für ein besonderes Interesse an der zeitgenössischen surrealistischen Avantgarde. Eine andere, freilich ebenso ungeklärte Frage ist, ob und in welchem Umfang Pabsts Filme von den verschiedenen Gruppen der Surrealisten oder einzelnen ihrer Repräsentanten wahrgenommen wurden. Die summarische Feststellung von Bernard Eisenschitz, Paris habe den ‚roten Pabst‘ ebenso wie den ‚Surrealisten‘ Pabst gefeiert, reicht hier zweifellos nicht aus, sondern verweist allenfalls auf die breite Zustimmung aus den wichtigsten intellektuellen ‚Lagern‘ des damaligen Frankreichs. Gleichwohl verdient die Tatsache, dass DIE HERRIN VON ATLANTIS, für die deutsche Nero Film produziert und in einer britischen und französischen Version herausgebracht, vor allem in Frankreich, als L’ATLANTIDE, erfolgreich war, unsere Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit verdienen auch, in diesem Kontext, einige der Obsessionen, mit denen sich in den 20er und frühen 30er Jahren prominente Vertreter der französischen und spanischen Surrealisten befassen: Wissens- und Experimentierfelder der surrealistischen Leidenschaft, die intermedial und interdisziplinär eingekreist werden. Gemeint sind hier die Gebiete der Trance, der Hyponose und der erotischen Ekstase – oder, wie Pascal Rousseau in einem neueren Aufsatz zusammenfasst: das „Geheimnis des Zaubers der weltlichen Liebe, bei der die Frau phantasmatisches Objekt ist und gleichzeitig eine magnetische Anziehungskraft ausübt.“8 Der Terminus „magnetisch“ fungiert hier keineswegs als abgegriffene Metapher, sondern die Assonanz zum physikalisch-physischen Magnetismus, dem ‚Mesmerismus‘ des 19. Jahrhunderts, ist beabsichtigt: Für ihn wie auch für die Trancezustände, in die auf den Jahrmärkten die 8 Rousseau, Pascal: „Magnetischer Eros: Der Surrealismus unter Hypnose“, in: Werner Spies (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944, Düsseldorf 2002, S. 395.
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Hypnotiseure ihr ‚Medium‘ versenken, zeigen die Surrealisten schon früh ein lebhaftes Interesse. In der magnetischen Anziehungskraft werden die Grenzen zwischen Realität und Repräsentation fließend. Louis Aragon formuliert 1924, in Une vague de rêves, einen nachgerade programmatischen Satz: „Alles geschah, als hätte der Geist an jener Nahtstelle des Unbewussten die Fähigkeit verloren, seine Ausrichtung zu erkennen. In ihm überlebten Bilder, die Gestalt annahmen, sie wurden Materie der Realität. [...] Sie waren auf diese Weise visuelle, auditive oder dem Tastsinn zugehörige Halluzinationen. Wir empfanden die ganze Macht der Bilder.“9 Es sei daran erinnert, dass sich Aragon drei Jahre später dem Kommunismus zuwendet und der KPF beitritt: Wenn ihn etwas mit Pabst verbindet, dann ist es dieses Oszillieren zwischen romantisch-antirealistischer Traumverlorenheit und der Haltung des politischen engagé. 1929 erscheint eine gemeinsame Erklärung der Surrealistengruppe in Gestalt von 16 Passfotos, unter ihnen übrigens auch noch das von Aragon, außer ihm sind u.a. Breton, Buñuel, Dalí, Éluard, Max Ernst, Margritte, Sadoul und Tanguy zu sehen, also eine wahrhaft illustre Runde. Die Fotos rahmen ein Gemälde von Magritte ein: die nackte Gestalt einer Frau, mit dem Titel Je ne vois pas la (femme) cacheé dans la forêt. Die Herren auf den Passfotos scheinen allesamt in Tiefschlaf versunken. In dieser Fotocollage, schreibt Pascal Rousseau, „hat die Frau die Männersippe verzaubert, die, von dem Bild Margrittes in Trance gebracht, in einen kollektiven hypnotischen Schlaf versunken ist.“10 Rousseau geht dann weiter dem Gedanken der ‚Enteignung‘ nach, die genauer eine Selbstenteignung zu nennen wäre – eine Selbstenteignung und –veräußerung des Bewusstseins im Medium der Hypnose, des Rauschs, des Traums und der Ekstase. Schließlich ein Hinweis auf ästhetische Obsessionen, die mit der surrealistischen Faszination für die Hypnose und den Selbstverlust in der Trance einhergehen: Der Hypnotismus spiele eine Rolle für die Anziehungskraft, die der Jugendstil auf die Surrealisten ausübt – so Pascal Rousseau.11 Salvador Dalí spricht vom „psychischen Dekorativismus des Jugendstils“.12 Breton erwähnt die historische Parallelität zweier Strö9 10 11 12
Aragon, Louis: Une vague de rêves, Paris 1990, S. 14. Rousseau 2002, S. 394. Ebd., S. 395. Dalí, Salvador: „Von der schaurigen und essbaren Schönheit, von der Jugendstilarchitektur“, in: ders.: Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schriften. Axel Matthes/Tilber Diego Stegmann (Hrsg.), München 1974, S. 219.
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mungen oder ‚Schulen‘ gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Nancy: einer medizinischen, die sich mit Phänomen des Hypnotismus, der Suggestion und der Neuropathologie auseinandersetzte, und einer künstlerischen, die „an einer neuen Formel des täglichen Dekors“ gearbeitet hat – eine Interdisziplinarität somit, in der sich weniger die sehr unterschiedlichen ästhetischen Strategien der Surrealisten als ihre phantastischen Synthesen, ihr deliriales Denken in Grenzüberschreitungen wie ein Wetterleuchten ankündigen. Ich will es bei diesen wenigen Beispielen bewenden lassen – nicht etwa um eine Affinität zwischen G.W. Pabst und dem Surrealismus zu behaupten, sondern einzig und allein, um der Spekulation, dass sein Film L’ATLANTIDE möglicherweise eine Brücke geschlagen hat zu dem, was nahezu zeitgleich die tonangebende surrealistische Gruppe beschäftigt hat, verführerische Nahrung zu geben. Gewiss erfüllt das luxuriöse Gemach der Antinea mit seinem überladenen orientalischen Prunk nicht die Kriterien eines Jugendstil-Interieurs. Durchaus aber begegnet es dem Betrachter als ‚psychischer Dekorativismus‘, wenn man Dalís Begriff als ästhetische Materialisation psychotischer, panischer, hypnotischer oder trancehafter Zustände interpretieren darf, denen sich der Mensch ausliefert, um der Ekstase näher zu kommen. Antinea wäre, in der Lesart der Surrealisten, dann beides: das ‚phantasmatische Objekt‘ als ein deliriertes Objekt der männlichen Begierde – und das Prinzip der Vernichtung, das über seine „magnetische Anziehungskraft“ – einen physisch wirksamen Magnetismus – das Opfer seiner Willenssteuerung unterwirft und es sogar zu einem Mord anzustiften vermag. Pabst wäre dann, sozusagen aus ‚deutscher Sicht‘, mit L’ATLANTIDE in eben jener Welt wieder angekommen, von der er sich mit seinen frühen Filmen zu emanzipieren suchte: der Welt Caligaris und des expressionistisch genannten Gespensterreigens des deutschen Stummfilms um 1920. Vielleicht ist ihm aber doch der Surrealismus dazwischen gekommen. Die Trance, die Saint-Avit befällt, sobald er sich in dieser Höhlenwelt wiederfindet, und die sich nach seiner ersten Begegnung mit Antinea zu einem ferngesteuerten Somnambulismus steigert, kennzeichnet jenen Status der Selbstveräußerung, der von den Surrealisten, positiv besetzt, mit dem Zustand der Ekstase gleichgesetzt wird. Selbst die auf uns Heutige befremdlich wirkende Vamp-Schönheit Brigitte Helms, ihre überanstrengte Dämonie und der schaubudenhafte Furor ihres Blicks lassen noch erahnen, warum sich Breton und seine Freunde für die Psychopathologie der Hypnose begeistert haben. Und wenn auf dem Höhepunkt, nachdem Saint-Avit seinen Kameraden Morhange ermordet hat, Antinea
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plötzlich neben ihrer eigenen überdimensionalen Büste zu sehen ist, das signifié neben dem nahezu bildfüllenden signifiant, die ‚Déesse‘ – selbst eine Repräsentation der Unnahbarkeit – neben ihrer eigenen hyperthrophen Versteinerung – dann entsteht, cum grano salis, ein surrealistisches Tableau par excellence, das von Dalí oder eher noch von Margritte inspiriert sein könnte. Forschen wir also weiter danach, ob es zwischen Pabst und den Surrealisten eine vielleicht versteckte unio mystica gegeben hat.
Literatur Aragon, Louis: Une vague de rêves, Paris 1990, S. 14. Dalí, Salvador: „Von der schaurigen und essbaren Schönheit, von der Jugendstilarchitektur“, in: ders., Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schriften. Axel Matthes/Tilber Diego Stegmann (Hrsg.), München 1974, S. 219. Eisenschitz, Bernard: „Verpaßte Begegnung. Pabst in Frankreich“, in: Wolfgang Jacobsen (Hrsg.): G.W. Pabst, Berlin 1997, S. 193. Jacobsen, Wolfgang (Hrsg.): G.W. Pabst, Berlin 1997. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt a.M. 1984, S. 255. Rentschler, Eric (Hrsg.): The Films of G.W. Pabst. An Extraterritorial Cinema, New Brunswick/London 1990. Rousseau, Pascal: „Magnetischer Eros: Der Surrealismus unter Hypnose“, in: Werner Spies (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944, Düsseldorf 2002, S. 395. Sierek, Karl: „The Primal Scene of the Cinema: Four Fragments from The Mistress of Atlantis“, in: Eric Rentschler (Hrsg.): The Films of G.W. Pabst. An Extraterritorial Cinema, New Brunswick/London 1990, S. 125-146.
DANIEL SERCEAU
L’ÉTHIQUE THÉÂTRALE DE JEAN RENOIR Abstract Das Theater nimmt in Renoirs Werk einen beachtlichen Platz ein. Dazu passt der Titel seines letzten Filmes LE PETIT THÉÂTRE DE JEAN RENOIR (der fast vollständig von den Kritikern und der Sekundärliteratur ignoriert wurde). Im Laufe seiner Arbeit richtet Renoir mehr und mehr sein Augenmerk auf die Theatralisierung des Alltags. Er macht sie zum Thema seines letzten Filmes, indem er das Vaudeville auf die Höhe einer philosophischen Erzählung erhebt. Über Renoir sagte Eric Rohmer, er sei von allen Cineasten derjenige, der sich am weitesten vom Theater entferne. Ausdrücklich und ganz bestimmt widerspreche ich. Es ist indiskutabel und schlichtweg falsch. Denn Renoir ist der größte Kritiker seiner Zeitgenossen. Sein Ziel ist die Suche nach einer bestimmten Lebenskunst. Darunter versteht er, dass eine gewisse Anzahl kultureller Prädispositionen – weit davon entfernt diese Suche zu unterstützen – im Gegenteil seine Figuren zur Gewalt und zum Tod treibt. Die Theatralisierung der Gestik und der menschlichen Sprache, wie Renoir sie im Verhalten seiner Figuren verdeutlicht, belegt dies. Die Theatralisierung des Diskurses oder der Geste ist bei Renoir immer ein Moment der Lüge und des Köders. Le théâtre occupe une place considérable dans l’œuvre de Jean Renoir. Fait typique, le titre de son dernier film, LE PETIT THÉÂTRE DE JEAN RENOIR (à peu près totalement ignoré par la critique et les théoriciens), en intègre le vocable. Au fur et à mesure qu’il avance dans son œuvre, Renoir prend de plus en plus conscience de la théâtralisation de la vie quotidienne. Il en fait le sujet de son dernier film, élevant le vaudeville à la dimension d’un conte philosophique. Renoir, disait Eric Rohmer, est le moins théâtral de tous les cinéastes. Formellement, certainement pas; essentiellement, indiscutablement. Car Renoir se fait de plus en plus critique à l’égard de ses contemporains. Son but est la recherche d’un certain art de vivre. Il comprend qu’un certain nombre de déterminations culturelles, loin d’y contribuer, orientent au contraire ses personnages vers la violence et la mort. La théâtralisation du geste et de la parole humaine, telle qu’il la rend manifeste dans le comportement de ses personnages, en devient le signe évident.
Ainsi que je l’ai écrit, ou dit, à plusieurs reprises, les travaux des théoriciens reposent sur un Panthéon de cinéastes et/ou de films particuliers,
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Panthéon généralement dissimulé, mais qui n’en conditionne pas moins leurs propos. Une affirmation que l’on pourrait formuler sur un mode inversé: toute théorie se développant sur un certain nombre d’exclusions, n’est-elle pas nécessairement lacunaire, exigeant de constantes rectifications? Concernant Jean Renoir, la remarque s’applique aussi bien à son œuvre des années 1950 et 1960 (et de plus en plus nettement au fur et à mesure que l’on se rapproche de son dernier film) qu’à celle des années 1920 et 1930, quoique de façon très inégale. Si les premiers films du cinéaste, assez peu commentés, ne présentent, selon ses dires, que peu d’intérêt, il convient de souligner deux œuvres dont l’oubli critique pose problème: TIRE AU FLANC (1928) et CHOTARD ET CIE (1933). Je ne reviendrai pas sur le premier. J’ai souligné son importance à plusieurs reprises et son étude attentive lève toute équivoque. Sur de nombreux points, TIRE AU FLANC annonce l’œuvre future et permet de mieux comprendre quels en sont les véritables enjeux symboliques. Renoir en était parfaitement conscient. Lors d’une interview qui ne fut jamais publiée, Pierre Braunberger me fit part de cette ‹confession›: «Sans Tire au flanc, m’a confié un jour Renoir, je n’aurais jamais fait La règle du jeu». Si le propos demeure elliptique, et sujet à suspicion puisque non enregistré, il ajoute une nouvelle pierre à l’édifice et montre combien ce qui est assimilé par certains critiques à une simple pochade joua le rôle d’une authentique expérimentation sur le plan esthétique. Du second film, Claude Beylie affirme la même chose.1 Ne disposant pas d’une copie vidéo du film (diffusé plus que rarement à la télévision), je n’ai pu le (re)visionner avant d’entreprendre cet article et confirmer son propos. Renoir, par ailleurs, ne me facilite pas la tâche. «CHOTARD? Je ne m’en souviens pas», telle est la déclaration que lui attribue la revue Premier Plan dans son édition de 1962.2 Dans le numéro spécial des Cahiers du cinéma, pourtant construit sur le principe d’une investigation systématique de tous les films du cinéaste, CHOTARD… n’est même pas mentionné.3 Dans l’ouvrage que Renoir édita en 1974, «Écrits 19261 Claude Beylie fait allusion à «la séquence assez réussie du Bal travesti au Café du Commerce, que l’on peut considérer, sans extrapolation abusive, comme un brouillon de la fête à la Colinière, dans La Règle du jeu». Cf. Beylie, Claude: «Jean Renoir: Le spectacle, la vie», dans: Cinéma d’Aujourd’hui n° 2, Paris 1975. 2 Jean Renoir, Premier Plan n° 22-23-24, mai 1962, p. 144. L’origine de cette citation n’est pas précisée. 3 Renoir, Jean: «Entretiens et propos», Paris 1979. Un autre film est au demeurant ‹oublié›: SUR UN AIR DE CHARLESTON, 1926.
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1971», aucune allusion au film ne transparaît.4 L’oubli, ou l’occultation, sont donc massives. Le film fait-il partie de ces travaux que Renoir estimait ‹anodins›? Mon propos n’est pas d’exhumer un film au nom de cette ‹politique des auteurs› dont les futurs cinéastes de la Nouvelle Vague française firent leur cheval de Troie. A leurs yeux, le plus mauvais film d’un authentique auteur valait davantage que le meilleur ouvrage de quelque réalisateur de seconde classe. Ces jeunes gens assénaient leurs convictions avec la démesure, et donc l’intolérance, caractéristique de leur âge et de leur faible expérience de la vie. Ils se comportaient comme des terroristes et Truffaut eut le courage de le reconnaître avec un courage et une sincérité auxquels on ne peut que rendre hommage. La roue de l’histoire ayant tournée, cette fameuse politique se dévoile aujourd’hui dans tous ses excès – ce qui ne doit pas en occulter toutes les qualités! Soyons donc mesurés. CHOTARD…, n’est certainement pas un grand film (de beaucoup?). Est-il dénué de tout intérêt? Mérite-t-il d’être oublié? J’affirme ici le contraire. A l’instar de TIRE AU FLANC, il éclaire l’œuvre du cinéaste d’une façon que j’oserai dire essentielle. Je reconnais en lui un trait symptomatique de notre culture et qui en explique sans doute le rejet, peut-être par Renoir lui-même. L’auteur du CAPORAL ÉPINGLÉ (film lui-même occulté) savait qu’un véritable artiste n’est pas libre de dire ce qu’il pense. Ainsi que René Descartes en fit l’aveu en son temps, il savait que pour bien vivre il convient de vivre caché. A son plus haut niveau, l’art ne peut ignorer ce conseil. Qu’en est-il dans le cas de CHOTARD ET CIE? Il convient, pour commencer, d’en rappeler l’argument scénaristique. Julien Collinet (Georges Pomiès), poète de son état, est amoureux de Reine Chotard (Jeanne Boitel), fille d’un gros épicier de province (Fernand Charpin). A contrecœur, ce dernier accepte le mariage de sa fille. Il tente de faire de son gendre un commis. C’est une catastrophe. Le jeune homme s’avère tout à fait incapable d’exercer le métier. Il réussit cependant, mais sur le terrain de la littérature, et obtient le Prix Goncourt. Son beau-père change complètement de mentalité. Il ordonne à ses employés de suivre le chemin désormais prestigieux du poète. Abandonné de tous, le commerce périclite. Julien évalue la situation. Délaissant sa plume et son encrier, il enfile sa blouse et arbore le carnet de commandes. L’épicerie est sauvée! L’humour triomphe. Par delà la cocasserie de la chose, on voit quel est le renversement des valeurs. Dans un monde que l’on dirait ‹matéria4 Si ce n’est dans la filmographie qui clôt l’ouvrage! Cf. Renoir, Jean: Écrits 1926-1971, Paris 1974.
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liste›, entièrement voué aux affaires et à la satisfaction de besoins fonctionnels, le rôle du poète doit être affirmé et défendu avec opiniâtreté. Sa fonction devient ‹vitale›. Il porte à l’attention de tous ce que le cours ‹normal› de la vie déprécie et voue conséquemment au déclin. En ce sens, il devient un ‹héros de l’Esprit›, entrant en guerre contre le pragmatisme ambiant et refusant l’alignement de toutes les valeurs sociales sur des préoccupations exclusivement monétaires et triviales. Mais dans un univers qui se retourne en son contraire, le rôle du poète s’inverse à son tour. Si plus rien ne compte que les valeurs de l’esprit, dans l’oubli, ou la négation, de toutes les exigences matérielles, à commencer par les plus indispensables (la prise en charge du besoin de nutrition), il lui faut de nouveau partir en guerre et remettre le monde sur ses pieds (c’est le cas de le dire). Délaissant les rimes et la prosodie, il évalue désormais le poids des sacs de riz, se soucie de la qualité des pommes de terre et contrôle les livraisons. Mais il n’a pas changé. Son rôle s’est adapté au temps nouveau. Il prend une nouvelle fois en compte ce que ses contemporains font retomber à l’oubli. Dans un monde d’épiciers, il maintenait la présence d’une spiritualité; dans un monde de poètes, il assure la satisfaction des besoins vitaux sans lesquels nul poème ne serait possible. Ainsi ne change-t-il d’apparence que pour mieux assumer sa mission centrale. Où il y avait déséquilibre, il rétablit les ajustements qui s’imposent; où régnait le dogmatisme, l’impérialisme du point de vue, la réduction de la vie à l’une de ses composantes, il rappelle la nécessité des relations de complémentarité, la salutaire résurgence de facteurs occultés ou refoulés, le principe du multiple contre le réductionnisme de l’UN. Que tout ceci soit exposé sur le mode de la farce ne doit pas nous surprendre. Le contraire ne serait pas seulement faute de goût mais ‹contresens›, inversion de l’esprit. Ainsi que Renoir le rappellera dans ELENA ET LES HOMMES (1956), certains discours, pour être conformes aux pratiques qu’ils inspirent, doivent emprunter la voie de l’humour, voire de l’auto-dérision. Succédant à BOUDU SAUVÉ DES EAUX (1932), CHOTARD ET CIE s’inscrit dans sa continuité. Il en partage la vision iconoclaste. Iconoclaste le mot n’est-il pas trop fort? Certainement, pour qui n’entre pas dans la conception du film. Non, pour celui qui en pénètre l’idée sous-jacente. Si Boudu… paraît aujourd’hui presque conventionnel en son joyeux chambardement du monde feutré de la bourgeoisie républicaine (car c’est elle que Renoir vise principalement, ce qui n’était pas consensuel en 1932), CHOTARD… s’attaque à une toute autre hiérarchie de valeurs. A
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un certain niveau de sérieux, suggère-t-il, la défense et l’illustration de l’art ou de la littérature sont aussi excessives que l’éloge sans mesure réservé au monde des affaires et de la rentabilité. L’un et l’autre aspirent à la même exclusivité dans l’ordre des valeurs – bien qu’ils soient également nécessaires et tout aussi dangereux dans leur commune prétention à l’hégémonie. CHOTARD… bouscule des idées préconçues toujours en vigueur dans les milieux culturels, spécialement en France. L’univers de la boutique y est le plus souvent méprisé. Aussi pouvons-nous comprendre que ce film soit rejeté dans les oubliettes de l’histoire de la critique sans que Renoir lui-même ait songé à l’en retirer! Dans mon premier ouvrage5, j’avais beaucoup insisté sur les catégories esthétiques du dionysiaque et de l’apollinien, évidemment empruntées à Nietzsche. Il convient d’en saisir les spécificités chez Renoir. La figure de l’arbre, fréquente dans son œuvre (TONI, PARTIE DE CAMPAGNE, LA MARSEILLAISE, LE DÉJEUNER SUR L’HERBE, LE ROI D’YVETOT) en offre une assez belle image. Toute vie repose sur une multiplicité de possibles qui tendent également à l’existence, aspirant à croître et à s’épanouir, occupant l’espace comme d’autres la scène. Cette surabondance ne peut s’accomplir que dans la particularité de la forme, pour l’art de la belle forme (apollinienne), dont l’identité s’impose au détriment d’autres, du même coup atrophiées, refoulées ou annihilées. Renoir constate la perpétuelle alternance de ces deux formes d’expression de la vie, l’apollinien supposant le dionysiaque, comme sa racine, et le dionysiaque ne s’accomplissant que dans l’apollinien – qui le nie dans sa tendance protéiforme. Renoir, bien que contemporain et à certains égards assez proche du surréalisme, ne pouvait que rester en dehors de ce courant de pensée. Pour ce dernier, en accord avec d’autres (dont le marxisme, qu’il tentera un moment de rejoindre), les contradictions, voire les contraires euxmêmes, tendent ou doivent tendre vers leur abolition. André Breton écrivit de belles pages sur ce thème. Le surréalisme apparaît comme l’un des enfants naturels d’un XXe siècle qui fit de cette conviction l’une de ses croyances téléologiques érigée en foi. Renoir ne partage pas ce point de vue. Dans ses films, les contradictions se déplacent et se renouvellent sans cesse, générées par le mouvement même qui tend à leur résolution. Loin d’aspirer à une forme quelconque d’abolition des contraires, le cinéma de Renoir affirme leur complémentarité, complémentarité dynamique puisque les termes qui s’opposent s’exigent et se suscitent l’un par
5 Serceau, Daniel: Jean Renoir l’Insurgé, Paris 1981.
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l’autre. Dans son œuvre, la place accordée au théâtre doit être envisagée sous cet angle. Aussi ne faut-il pas opposer le théâtre au ‹naturel› (ce que l’on dit ou croit être le naturel), mais l’identifier ou le démasquer dans la naturalité elle-même, la théâtralité apparaissant comme une autre forme de naturel. Aussi le théâtre, dans le cinéma de Renoir, sera-t-il tour à tour envisagé comme le lieu d’une authentique revitalisation d’ordre dionysiaque et dénoncé comme l’instant par excellence des leurres et du fauxsemblant. Ceux-ci, à leur tour, ne peuvent être conçus de façon purement négative. Dans ELENA ET LES HOMMES, Henri de Chevincourt (Mel Ferrer) échoue dans ses multiples tentatives de séduction tant qu’il n’intègre pas dans son jeu6 (c’est de nouveau le cas de le dire) l’exigence de la représentation. Telle est la fonction du baiser échangé, ou plutôt simulé, avec Elena devant l’assemblée de paysans réunis sous les fenêtres de Rosa la Rose (Dora Doll). Baiser perçu en ombre chinoise, pur artifice pour le spectateur, mais artifice qui rend celui-ci conscient de son instrumentalisation nécessaire. Sans la fausseté de cette ‹mise en scène› (en laquelle il ne croit pas lui-même), Henri ne parviendrait jamais à ses fins et n’exercerait pas la fonction salutaire qui est la sienne: écarter le peuple de la dictature en donnant légitimité et valeur de modèle à la satisfaction libidinale. Car celle-ci ne peut être élue pour elle-même. Pour Elena, comme pour la foule, il faut en passer par des images de grandeur, de sacrifice de soi, de consécration à de nobles causes, le tout par imitation d’un ‹grand homme›, pour que triomphe enfin la voie de l’amour. Se mettre en représentation, en calculer les procès et les modes, n’est cependant pas le but. Là encore, le cinéma de Renoir intègre une contradiction, et la maintient. LE CARROSSE D’OR permet de la définir. Après avoir définitivement séduit Ferdinand, le vice-roi (Ducan Lamont), Camilla (Anna Magnani) prend possession de son carrosse et quitte le palais. Une courte séquence, inconnue chez Mérimée, se donne dans toute son importance. Camilla et ses amis comédiens apparaissent les uns après les autres à la portière du véhicule, chacun s’efforçant d’occuper le devant de la scène, disputant sa présence aux autres… mais pour de fugitives secondes. Que les contre-champs sur la foule soient rigoureusement absents, que le carrosse soit lui-même en mouvement, ne sont
6 En Français, au double sens du mot. Le mot ‹jeu› renvoie d’abord à la manière dont un comédien interprète ses rôles; son jeu se caractérise alors (notamment) par ses mimiques et sa gestualité. Il désigne également les moyens dont peut disposer un individu pour parvenir à ses fins au sein d’une situation donnée.
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que malices supplémentaires au service de la même idée: souligner le caractère doublement contradictoire de ce qui est alors donné comme l’aspiration fondamentale de toute existence : soit la volonté de paraître et de s’affirmer dans sa préséance. Car, si tout est mouvement, rien ne peut se maintenir, tout objet glisse entre les doigts de celui qui l’étreint. Et si tous recherchent la même chose, aucun, finalement, ne peut la détenir en toute exclusivité, c’est-à-dire en elle-même. Admirable logique du découpage, Camilla ne prend possession du carrosse que pour se rendre aux arènes7… et y acclamer Ramon, le toréador. Ramon, désormais seul en scène et pourtant absent de l’image, mais qui recueille les applaudissements de Camilla comme elle bénéficiait elle-même des siens dans l’enceinte du théâtre. L’un(e) chasse l’autre, ou plutôt se substitue à elle (à lui) dans un échange d’identités où celles-ci s’abolissent. L’acteur devient spectateur, l’adoré, l’adulateur, et vice-versa. Le moment de la plus grande présence est aussi celui de la plus complète absence. Une présence qui ne se confirme que dans le regard de l’autre… qui justement l’annule. Dans son ouvrage, LA FIN DE L’HISTOIRE ET LE DERNIER HOMME, Francis Fukuyama remarquait qu’au «cours des millénaires, aucun mot consacré n’a été employé avec constance8 pour désigner le phénomène psychologique du ‹désir de reconnaissance›»9. Citant Platon, Machiavel, Hobbes, Rousseau, Hegel, Nietzsche…, il recense les différents vocables employés par ces philosophes, ou penseurs, dans le seul but de nommer la même chose. Tous conviennent et déçoivent en même temps. Aucun n’épuise la richesse et la complexité de l’expérience, d’abord subjective, à laquelle ils renvoient. L’erreur, une fois de plus, n’est-elle pas de parler de ‹constance› et de la vouloir qualifier de façon univoque? Camilla, au cours du film, traverse une multitude d’états (que chacun de ces vocables reflètent plus ou moins avec bonheur mais qu’aucun ne peut synthétiser) avant d’en connaître un autre, sanctionné par sa robe noire et son renoncement à la possession du carrosse. Du plus fol orgueil (quand elle se croit ‹la plus arrogante des duchesses›), elle advient finalement à la plus grande humilité, après avoir connu la honte et la perte de l’estime de soi (lorsqu’elle se trouve soudainement mise en présence de ses trois amants et confrontée à sa duplicité). De même Maréchal (Jean Gabin dans LA GRANDE ILLUSION) passe-t-il d’un sentiment de toute puissance (qui lui 7 Le passage d’une séquence à l’autre se fait par un fondu enchaîné qui maintient une continuité où il devrait y avoir rupture. 8 C’est moi qui souligne. 9 Fukuyama, Francis: La fin de l’histoire, Paris 1993, p. 194.
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permet de défier et même d’humilier les officiers prussiens) à la simple quête d’un peu de compassion humaine lorsqu’il se morfond au fond de sa cellule et accepte les marques d’affection du vieux soldat allemand. A cet instant précis, son ‹désir de reconnaissance› n’est pas moins authentique que celui qui s’exprimait tout à l’heure sur le mode d’une orgueilleuse ivresse. Tout est affaire de circonstances et de rapport de forces. Aussi ne peut-on parler d’un état auquel aspirait le sujet, mais d’un flux de positions toujours changeantes, oscillant entre deux extrêmes dont le personnage expérimente également le danger. Si l’humiliation est évidemment intenable et exige un renversement des relations de pouvoir (Jean Dubois d’Ombelles se révoltant contre Muflot dans TIRE AU FLANC), l’ivresse de puissance, autre moment caractéristique de la scène théâtrale, engendre le renversement contraire. Le désir de reconnaissance dont parle Kojève (dans son commentaire de Hegel) est simplement réduit à l’une de ses formes existentielles, la plus prestigieuse, la plus éclatante, mais aussi la plus fantasmatique: le propre d’un sujet qui s’estime ou se surestime lui-même. Rapporté à l’ordinaire de la vie, au lot le plus commun des hommes, ce désir se survit encore, mais tempéré par le principe de réalité. Au plus bas de l’échelle de ses variations possibles, il se rétracte sur lui-même au point de s’identifier à l’humble demande du ‹dernier des hommes›, implorant une minuscule parcelle de dignité. Dans son parcours fulgurant, le film homonyme de Murnau nous en fait partager tous les affects. Dans LE CARROSSE D’OR, Renoir filme d’abord l’inconstance des choses, leur perpétuelle transformation en d’autres qu’elles-mêmes. Dans LA GRANDE ILLUSION, la séquence de la représentation théâtrale ne peut se refermer sur elle-même. Elle participe d’un ensemble plus vaste qui commence avec l’ouverture du portail, laissant passer un chargement de cercueils, et s’achève par la séquence du cachot, solidarité retrouvée, nous l’avons dit, entre l’officier français et le vieux soldat allemand. Ainsi est-elle placée, d’entrée, sous le signe de la mort et de l’illusion. Tandis que de jeunes recrues s’entraînent dans la cour de leur caserne, enthousiastes, de vieilles femmes hochent la tête en signe de deuil. Si Hegel fait de la lutte pour le ‹pur prestige› le trait distinctif de l’humanité de l’homme, Renoir n’en concède le bénéfice à ses personnages que pour immédiatement le leur retirer. La satisfaction du besoin de dominance (la libido dominandi, selon Nietzsche) entraîne nécessairement, et comme par retour, son insatisfaction. Ainsi que le montre excellemment le début du CAPORAL ÉPINGLÉ, la domination de l’un, en supposant l’humiliation de l’autre, engendre les conditions de sa négation. Tel est, dans LA
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GRANDE ILLUSION, le sens de la chute de Douaumont, sa reconquête par les Français, puis de nouveau sa perte. Ce processus encadre la représentation théâtrale et ne saurait en être séparée. En interrompant les jeux de scène des soldats britanniques déguisés en femmes, comble de l’artifice et des faux-semblants, Maréchal (et les spectateurs avec lui), croit retrouver un moment de vérité, immédiatement entériné par l’officier anglais ôtant sa perruque pour entonner La Marseillaise. Pétri d’orgueil et de plaisir revanchard, il est au sommet de son illusion de puissance, illusion d’autant plus manifeste qu’il est toujours prisonnier. Ce que la narration souligne aussitôt10 en le montrant dans sa cellule s’évertuant à creuser un trou dans le mur, nouveau simulacre pour une évasion tout aussi illusoire. La dérision se joint au désespoir pour mieux souligner la vanité du prétendu ‹moment de vérité›. Tout est flux. L’artifice et la fausseté n’étaient pas où l’on pouvait les croire! LE CARROSSE D’OR se poursuit et en un sens s’accomplit dans FRENCH CANCAN. Ce n’est plus le théâtre mais le spectacle qui devient l’objet d’une réflexion, elle-même liée à la question du cadre, problématique cinématographique en même temps que sociale. Chez Renoir, l’une est la métaphore de l’autre, le cadre étant perçu dans sa fonction d’enfermement et de limitation antagonique à l’expression des forces dionysiaques. Aussi Renoir ne cherche-t-il pas à contenir11 ses personnages à l’intérieur du cadre. Il en filme les débordements. Le spectacle libère ce qui était refoulé et permet l’expression de nouveaux possibles, jusqu’alors réprimés par l’ordinaire de la vie sociale. La comparaison du début et de la fin de FRENCH CANCAN est à cet égard éloquente. Elle nous livre une autre clé – j’oserai dire le fond éthique du cinéma de Renoir. Ce début et cette fin, thématiquement, coïncident. Spectacle dans le spectacle, elles rendent mutuellement hommage au monde du divertissement;. ‹spirituellement›, elles s’opposent. Car l’exhibition de la belle abbesse (Maria Félix) se caractérise d’une triple façon: présence d’une seule danseuse; maintient d’une stricte séparation entre la salle et la scène; omniprésence du cadre. Si Renoir change à plusieurs reprises d’axe de caméra, il souligne les éléments de décor qui encadrent littéralement la belle abbesse, d’ailleurs assez avare de ses mouvements. L’accent est mis sur la retenue, cette retenue que la danseuse impose à ses admirateurs dès l’instant où elle quitte la scène, mais non sa mise en spec10 La séquence du théâtre et celle du cachot sont en réalité séparées par un plan montrant des soldats allemands courant en tous sens. Plan peut-être nécessaire en 1937, à mon sens superfétatoire aujourd’hui. 11 Contenir: tenir à l’écart; contraindre à se retenir soi-même.
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tacle. Objet de convoitise, elle les soumet à un strict de régime de frustration. Ils ne sont là que pour la maintenir sur son piédestal. L’érotisme du spectacle se résout dans un imaginaire qui permet, au mieux, une sublimation (au sens spécifiquement freudien du terme). Mais déjà, l’apparition furtive d’un bras, d’une tête, de quelques mains, révèle la précarité de cette contention. Des forces centrifuges s’agitent dans le hors-champ, prêtes à faire irruption dans le cadre. Ce dont le french-cancan (à la fin du récit) assure l’apothéose. Scène et salle échangent leurs positions ou plutôt se confondent. Les danseuses jaillissent de toutes parts, débordant les quatre coins du cadre. Quelques hommes, grisés de désir, ne peuvent plus se retenir. Ils traversent le champ et se mêlent à ce grouillement de filles. D’autres se couchent sur le sol pour goûter l’ivresse de leurs entrejambes. Une danse s’achève, aussitôt relancée par une autre. Toutes les limitations semblent dépassées. Mais voici l’essentiel. Ce n’est plus une déesse de la beauté qui s’exhibe parcimonieusement devant un aréopage de gentilshommes contraints de se domestiquer, mais un bataillon de femmes aux couleurs chatoyantes qui ne songent qu’au bonheur qu’elles prodiguent sans autre calcul que le plaisir qu’elles éprouvent. Tout s’échange et se mêle. La séquence devient l’instrument autant que le témoin d’une véritable transmutation des valeurs, fonction autant que but du spectacle. L’excitation est à son comble, la frénésie générale. Elle brise toutes les résistances, à commencer par les plus solides et les plus archaïques, celles que les interdits et les prescriptions culturelles imposent aux modes de penser et sentir. La belle abbesse, idole de l’amour de soi, semble enfin heureuse. Paulo, l’homme de la possession jalouse, d’abord hostile à ce ‹dévergondage›, se laisse emporter par le mouvement des danseuses. Bien que privilégiée par le cadre à plusieurs reprises, Nini fait désormais partie d’un ensemble où le plus souvent elle se perd. Elle n’est plus le centre unique des regards et des convoitises, mais, selon le mot de Danglard (Jean Gabin), «un bon petit soldat». Sa propre crise de jalousie appartient désormais au passé. Les deux femmes ne cherchent plus l’appropriation de leur partenaire mais s’immergent dans une vague d’amour généralisé. La libido érotique, devenue l’affaire de tous, l’emporte sur la libido narcissique dont ces deux personnages étaient jusqu’ici les représentants. Il ne s’agit plus de posséder mais de jouir, dans une commune allégresse qui devient l’agent d’un nouveau lien social. Telles sont les forces dionysiennes libérées ou plutôt activées dans le cerveau des spectateurs de FRENCH CANCAN. La fin du récit rejoint
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celle du CARROSSE D’OR, lorsque Camilla renonçait à son impérieux désir de préséance (forme du besoin de reconnaissance pour un artiste) afin de se mieux consacrer à sa tâche de comédienne. Pour Renoir, il ne s’agit de prendre mais de donner, dans une surabondance qui se paie de son propre plaisir. Il rejoint ainsi Edward Gordon Craig pour qui l’important n’était pas d’être mais de faire quelque chose. Nous en revenons à cette question de l’esthétique que les études essentiellement formelles tendent à réduire à leur tour. Si le cinéma de Renoir n’a pas le cinéma pour fin, il cherche ses conditions de possibilité dans autre chose que lui-même. Chez lui, toute problématique esthétique débouche nécessairement sur une autre : consciemment ou non, il faut toujours une éthique pour qu’une esthétique puisse se constituer dans son être – quand bien même elle n’y serait jamais que dissimulée.
Bibliographie Beylie, Claude: «Jean Renoir: Le spectacle, la vie», dans: Cinéma d’Aujourd’hui, n° 2, Paris 1975. Fukuyama, Francis: La fin de l’histoire, Paris 1993. Renoir, Jean: Écrits 1926-1971, Paris 1974. Renoir, Jean: Entretiens et propos, Paris 1979. Renoir, Jean: Premier Plan, n° 22-23-24, mai 1962. Serceau, Daniel: Jean Renoir l’Insurgé, Paris 1981.
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LA RÈGLE DU JEU – EINE SURREALISTISCHE PHANTASIE VON JEAN RENOIR?!1 Abstract À première vue une lecture surréaliste d’un film de Jean Renoir peut sembler étrange à un public habitué à le considérer comme réaliste. Mais déjà le sous-titre que Jean Gaborit et Jaques Maréchal ont donné à la version restaurée du film – «fantaisie dramatique» – provoque la relecture d’un film aussi ambigu que LA RÈGLE DU JEU. Apart d’un affinité existentialiste, l’accumulation des éléments mentionnés indiquent bien une esthétique du suréel: l’arsenal des figures exotiques, des scènes burlesques qui rappellent les films de Buster Keaton et de Charlie Chaplin, des scènes de chasse d’animaux et d’hommes, des mises en parallèle ludiques d’éléments apparemment contraires et disparates : homme/nature, homme/technique, cruauté/amour, sincérité/mensonge. Renoir montre avec un plaisir surréaliste pour le technique, le mécanique, l’exotique, les masquerades, les intriques, les danses macabres, l’amour fou, l’humour noir, l’absurdité de la vie, le fatalisme, l’hasard, la tricherie. Renoir nous invite à une relecture de ses films, à une révision sceptique des catégorisations et à nous demandez – comme le dit un des bourgeois dans LA RÈGLE DU JEU – ce qui est encore naturel à notre époque?! Auf den ersten Blick mag eine surrealistische Lektüre eines Films von Jean Renoir seltsam erscheinen, ist er dem gängigen Publikum doch eher als Vertreter eines poetischen Realismus. Aber schon der Untertitel von Jean Gaborit und Jacques Maréchal, den sie der restaurierten Fassung von LA RÈGLE DU JEU verliehen haben – „fantaisie dramatique“ – lädt zu einer Relektüre des äußerst vielschichtigen Films ein. Neben einer existentialistischen Affinität verweist der Film durch die Akkumulation spezifischer Elemente auf eine surrealistische Ästhetik, einer esthétique du surréel: das Arsenal exotischer Figuren, die an die Stummfilme mit Buster Keaton und Charlie Chaplin erinnernden Slapstickeinlagen, die menschlichen und tierischen Jagdszenen, die spielerischen Parallelisierungen – concordia discors – disparat erscheinender Elemente: Mensch/Natur, Mensch/Technik, Grausamkeit/Liebe, Wahrheit/Lüge. Renoir verweist mit surrealistischer Freude für das Technische, das Mechanische, das 1 Vgl. auch die französische Version des Artikels; Vf.: „La Règle du jeu (1939) – Une fantaisie surréaliste de Jean Renoir?!“, in: Mélusine (Le cinéma des surréalistes), Nr. XXIV (2004), S. 183-191.
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Exotische, die Maskeraden, die Intrigen, die Danses macabres auf den amour fou, den schwarzen Humor, die Absurdität des Lebens, den Fatalismus, den Zufall. Letztlich lädt Renoir den Zuschauer zu einer Relektüre seiner Filme ein, zu einer skeptischen Revision der festgefahrenen Kategorisierungen und fragt schließlich, wie einer seiner Protagonisten in LA RÈGLE DU JEU, was noch an jener Epoche als natürlich und normal bezeichnet werden kann.
Schon der Untertitel von Jean Gaborit und Jacques Maréchal, den sie der restaurierten Fassung von LA RÈGLE DU JEU verliehen haben – „fantaisie dramatique“ – lädt zu einer Relektüre des äußerst vielschichtigen Films ein.2 Gerade die strikte Kategorisierung des daher nur scheinbar so bekannten Films versperrt durch diese Einschränkung die Sicht auf andere, neue Perspektiven. In diesem Zusammenhang unterstreicht O’Shaugnessy die spielerische Vermischung der Genres bei Renoir, die auch besonders deutlich in DIARY OF A CHAMBERMAID (1946) zum Tragen kommt: The Diary returns us to the aesthetic complexity of La Règle du jeu, mingling elements of vaudeville, light pastoral, melodrama and sinister gothic to produce a challenging and difficult film. It collapses the novel’s multiple episodes into one story, adapting it for an American audience and responding, albeit implicitly, to the French experience of the Second World War. With its deliberately incongruous and disturbing mix of elements, it could be described as a violent farce or sadistic fantasy. The action centres on a 3 familiar story of masters and exploited servants.
O’Shaugnessy erwähnt genau jene zwei Filme, die gleichsam erstaunliche Parallelen zu den Filmen des spanischen Surrealisten Luis Buñuel aufweisen wie L’ÂGE D’OR (1930), LE JOURNAL D’UNE FEMME DE 4 CHAMBRE (1964) und EL ÁNGEL EXTERMINADOR (1962). Darauf soll später detaillierter eingegangen werden. In den meisten Studien über die Filme Renoirs wird immer wieder der realistische Charakter unterstrichen.5 Es wird von einem „réalisme à 2 Vgl. Cauliez, Armand-Jean: Jean Renoir, Paris 1962, hier besonders das Kapitel „La Règle du jeu“, S. 83-111. 3 O’Shaughnessy, Martin: Jean Renoir, Manchester 2000, S. 173. 4 Vgl. Vf.: „Tagebücher zweier Kammerzofen: Renoir und Buñuel zwischen Literatur, Film und Schauspiel“, in: Michael Lommel/Volker Roloff (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003. 5 Vgl. hierzu Damour, Jean-Pierre: Jean Renoir La Règle du jeu, 40 questions 40 réponses 4 études, Paris 1999, S. 72, besonders das Kapitel „Le réalisme de La Règle du jeu“, S. 72-76. Vgl. auch Guislain, Pierre, La Règle du jeu Jean Renoir, Paris 1990: „Renoir décide de rompre avec la tradition naturaliste et de renouer avec „l’esprit classique“ en tournant La Règle du jeu,
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la française“, bzw. „réalisme poétique“6 oder von einem äußeren oder inneren Realismus – „La Règle du jeu est à mi-chemin du réalisme extérieur (LA CHIENNE) et du réalisme intérieur (LE CARROSSE D’OR)“7 –gesprochen. Alliant, selon Bazin, „le comble du réalisme“ et „le comble de la fantaisie“, tous les films de Renoir jouent délibérément sur le con8 flit [„sans solution“] entre réalisme extérieur et réalisme intérieur.
Es ist jedoch auch genau jene Mischung aus Realismus und Phantasie und dieser „mi-chemin du naturalisme et du mysticisme“,9 dieses Spiel mit den Gattungen, das eine surrealistische Atmosphäre kreiert: LA RÈGLE DU JEU kann als Beispiel für eine oftmals unbemerkte, subtile und subversive phantastische und surreale Realität dienen, die sich in irritierenden Szenen bemerkbar macht, die verschiedene disparate – komische und tragische, karnevaleske und grausame –, aber eng miteinander verbundene und gerade dadurch surreal anmutende Elemente enthalten: In LA RÈGLE DU JEU zeichnet Renoir ein Bild der damaligen Bourgeoisie und ihrer Bediensteten am Vorabend des 2. Weltkriegs, ihre Landpartien, ihre Jagdausritte, ihre dekadenten Feste im Château de la Colinière. Von Anfang an verführt Renoir seine Zuschauer nicht zuletzt durch die malerischen Landschaftsaufnahmen in eine realistische, fast naturalistische Atmosphäre. Neben dem politischen Aspekt – der Vorabend des 2. Weltkriegs – präsentiert er uns ein äußerst bildreiches Portrait, das nicht ohne Anspielungen auf seinen Vater Auguste Renoir bleibt,10 und dem er mit Hilfe zahlreicher intermedialer Zitate – Namen,
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[…].“ (Ebd., S. 24.) Vgl. auch Cauliez 1962, hier besonders das Kapitel „Le réalisme poétique“, S. 27-80. Guislain 1990, S. 24 („une des formules essentielles de la création cinématographique“). Cauliez 1962, S. 84. Mit diesem Realismus setzt sich Renoir gleichzeitig vom gängigen Verismus ab: „Il [Renoir] tenta aussi, par un brusque ,coup de barre‘, de s’évader de ,vérisme‘. Il aborda un genre ,plus classique et plus poétique.‘“ (Ebd., S. 83.) Guislain 1990, S. 72. Cauliez 1962, S. 86. Besonders der impressionistische Stil und die behandelten Elemente (Natur, Frauen, die alltäglichen Dinge des Lebens) seines Vaters, aber auch die avantgardistische Bewegung des Surrealismus haben die Ästhetik und Kunst (den poetischen Realismus) Renoirs beeinflusst. Vgl. auch den Film CHARLESTON (1927) von Renoir, der aufgrund seiner Integration des Onirischen, der Reisemotivik, des Exotischen eine deutlich surreale Atmosphäre kreiert. Vgl. zum Surrealismus u.a. Béhar, Henri/Carassou, Michel (Hrsg.):
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Musik, naturalistische Szenarien, natürliche Dekors der Umgebung – moralistische Charakterzüge verleiht. Dabei löst er sich jedoch von einer moralisierenden Attitüde, die die damals gängigen Sittenstudien vorgaben. Dieses moralistische Repertoire,11 das in Frankreich auf die lange Tradition französischer Moralisten wie La Bruyère, Chamfort, La Chesnaye, La Rochefoucauld und Marmontel rekurriert, wird nicht ohne Augenzwinkern expressis verbis mit den Namen der Protagonisten zitiert. Der Verweisungskontext wird zudem durch andere intermediale Referenzen erweitert, die aus dem musikalischen (Mozart, Monsigny, SaintSaens, Johann Strauss) und theatralischen (Musset, Beaumarchais) Kontext entnommen sind.12 Zusätzlich verstärkt Renoir diese realistische Atmosphäre durch Anspielungen auf existente Personen, so dass zunächst tatsächlich der Verdacht einer Sittenstudie aufkommen könnte. Doch nach und nach wird der Zuschauer einer Brüchigkeit dieser noch ludischen Stimmung gewahr, die langsam in seltsames Unbehagen umschwenkt. Wenn man bedenkt, dass Simulation und Maskerade Teile moralistischer Taktik darstellen,13 kann man bereits hier die surrealistische Freude an Maskeraden, Spielen der Travestie und Identifikation, an Simulation und Dissimulation entdecken. Diese simulatio artis wird, so Felten, auch bei Renoir zur Bedingung der amourösen, sozialen und politischen Kommunikation.14 In diesem Sinne dominieren sowohl die Intrige, die die amouröse Untreue und die chassés-croisés der Gesellschaft markiert – bereits anschaulich dargestellt in den Stücken Marivaux’ – als auch die Lüge, welche somit zu den tragenden Leitmotiven stilisiert wird. Die Lüge als Konstante des Films ist hier keineswegs nur als eine vielfach der Frau zugeordnete Charaktereigenschaft zu verstehen wie die berühmt gewordenen subversiven Maskeraden einer Marquise de
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Le Surréalisme Textes et débats, Paris 1984; Chénieux-Gendron, Jacqueline: Le surréalisme, Paris 1984. Vgl. Felten, Uta: „„Si l’amour porte des ailes, n’est-ce pas pour voltiger?“ Moralistische Blicke auf die Theatralität der Liebeskommunikation in Renoirs La Règle du jeu“, in: Michael Lommel/Volker Roloff (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003, S. 112-119. So verweist Renoir auch auf Corneille, Mme d’Épinay, Mirbeau, Musset, Jurieu, Chamfort, Beaumarchais. Vgl. Felten 2003, S. 113. Vgl. ebd., besonders die Hinweise zur Kunst der Simulation im Liebesdiskurs und in der moralistischen Anthropologie.
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Merteuil15 veranschaulicht haben. Hier wird die Lüge zum Attribut aller, zum Allgemeingut aller Schichten: Wahrlich lügen hier sowohl die Bourgeoisen als auch die Angestellten, die zur Bourgeoisie eine Parallelwelt bilden mit ihren hypokriten Sitten, die im Kontrast zu der propagierten tugendhaften Ehrlichkeit stehen. So spielt jeder nach bestimmten Regeln seine Rolle, seine Rolle zwischen Wahrheit und Lüge: „Le mensonge est un vêtement très lourd à porter“, bemerkt Christine de la Chesnaye treffend. Nach Cauliez sind es die „petits mensonges de la vie en société“, auf denen das chassé-croisé des Filmes basiert.16 Lügt man nicht, folgt man nicht den Regeln, verliert man das menschliche Spiel: Wenn Christine, wie sie selbst sagt, nicht auf bestimmte Weise reagiert, nicht bestimmte Erwartungen der Leute erfüllt (wie in Bezug auf André Jurieux), so wird sie schnell als „une Vamp, un ennemi du peuple et du progrès général“ gehandelt: „elle est une dame de la société et cette société a des règles très strictes.“ Damit führt Renoir ein System vor, in dem der Schein regiert und das dem Individuum in existenzphilosophischem Sinne seine freie Entscheidungswahl entzieht und ihn statt agieren, lediglich reagieren lässt. *** Es sind anderseits der technische Fortschritt, die technischen Errungenschaften, die die Gesellschaft der 30er Jahre faszinierten. Von Beginn an ist der Zuschauer mit jeglichen Formen der Technik konfrontiert: das Flugzeug, das Auto, das Radio, das Telefon.17 Mit den technischen Details verbindet sich das romantische Arsenal, das durch Exotismus und diverse Automaten – die schwarzen Statuen, die Puppen und die bizarren Instrumente – symbolisiert ist (Abb. 1, 2).
15 Vgl. die aktuelle Studie zu Choderlos de Laclos von Hagen, Kirsten von: Intermediale Liebschaften. Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos Les Liaisons dangereuses, Tübingen 2002. 16 Cauliez 1962, S. 87. 17 Die Filme der ,weißen Telefone‘ symbolisieren vor allem die Décadence der Haute Bourgeoisie, aber auch das Scheinhafte, das Groteske, das Illusionäre des Lebens. Auch verweisen die Telefone hier ironisch auf das illusionäre Kino des faschistischen Italiens jener Zeit.
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Abbildungen 1-2: Screenshots aus LA RÈGLE DU JEU
Die besondere Faszination für andere Kulturen18 – so studiert eine der Anwesenden Präkolumbianische Ethnologie –, die mit dem technischen Exzess kontrastiert, ist häufig sehr ambivalent dargestellt: Die Liebhaberin des Marquis präsentiert sich in einem Kimono, einer exotischen Statue gleich, und erscheint dadurch als ein aus dem exotischen Reich des Marquis entnommenes Spielzeug (Abb. 3). Abbildung 3-4: Screenshot aus LA RÈGLE DU JEU
18 Man denke an die Begeisterung der Surrealisten für die insbesondere von der Phantastischen Literatur des 19. Jahrhunderts thematisierte Welt der Mechanik einerseits und für exotische Länder und Ethnographie andererseits. Diese Vorliebe zeigt sich vor allen Dingen auch in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure. Vgl. dazu die intermedialen Untersuchungen in Vf./Rißler-Pipka, Nanette/Roloff, Volker (Hrsg.): Die grausamen Spiele des Minotaure. Intermediale Analyse einer surrealistischen Zeitschrift, Bielefeld 2005 [in Vorbereitung].
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Es ist besonders der Marquis de la Chesnaye, der in einem künstlichen, ja surrealen Universum lebt, das bevölkert ist von Grillen, die alle 20 Sekunden singen, tanzenden Puppen, Spieldosen, überdimensionalen Maschinerien wie die riesige Puppenorgel, die er während der grotesken Party am Ende des Filmes begeistert vorführt (Abb. 4.).19 Doch es gibt auch bedrohliche Aspekte, die deutlich machen, dass es sich beim Sammeln der Automaten nicht bloß um einen gängigen, sympathischen Zeitvertreib des Marquis handelt, sondern um einen beunruhigenden Verlust der Realität, der Gefühle handelt. Nach Felten verkörpert er das Emblem der Einsamkeit, das Emblem einer Art Autoerotik, das seine Nostalgie und seine amourösen und erotischen Wünsche und Träume in die mechanischen Puppen hineinprojiziert.20 Er selbst wird Teil seiner bizarren Kollektion, er verwandelt sich wie auch die anderen Protagonisten in einen Automaten, in eine Marionette dieses dunklen Spiels. In diesem Sinne reagieren die Protagonisten, ihrer Essenz beraubt, wie sprechende Maschinen, zitieren mechanisch die amourösen und sozialen Diskurse des kulturellen Repertoires wie des Theaters und wechseln je nach Situation zwischen den unterschiedlichen Codes hin und her.21 Diese beunruhigende Verknüpfung zwischen Mensch und Maschine erhält seine Variation in der Vermischung von Mensch und Natur (Abb. 5), in dem Rückfall in den chthonischen Bereich der Instinkte, des Infantilismus, der insbesondere während des Jagdausfluges deutlich wird.
19 Der Film erscheint als ein riesiges Kuriositätenkabinett, das nicht zuletzt auch an die ready-mades eines Marcel Duchamps und objets trouvés, an willkürlich zusammengetragene und vermischte Objekte erinnert. 20 Vgl. Felten 2003, S. 117. 21 Vgl. ebd., S. 115.
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Abbildung 5: Max Ernst, Attirement of the Bride (La Toilette de la mariée), 1940, Peggy Guggenheim Collection
Die Verschmelzung von Mensch und Natur, die auch vorzugsweise in der surrealistischen Malerei zu finden ist (besonders in dem Motiv Frau/Natur) bei Max Ernst, Dalí und Magritte (Abb. 5), ist auch hier durch die Parallelisierung von turtelnden Eichhörnchen und dem Pärchen Robert/Geneviève symbolisiert. Des Weiteren experimentierte Renoir – als „entomologiste filmant ces animaux sauvages un peu particuliers que sont les acteurs“ – mit den Möglichkeiten, die die Kinematographie zu seiner Zeit anbot: Grâce à son „optique si fine“ et son effet de „télé-loupe“, explique un personnage, ce merveilleux instrument permet d’examiner l’animal sans l’intimider et de vivre ainsi „toute sa vie intime”. Dans un de ses textes, Renoir comparait son travail à celui d’un entomologiste filmant ces animaux sauvages un peu particuliers que sont les acteurs. S’il a suffisamment d’adresse et un peu de talent, le metteur en scène peut réussir, dit-il, à leur faire oublier la présence des appareils, des lampes et de microphones et „faire sur eux un documentaire comme il en ferait dans la nature sur un animal”.22
Die Jagd wird zum Symbol von Instinkten, Urinstinkten, die mit dem Fortschritt, den Automaten und Automatismen in einem makabren Spiel kontrastieren. Was wie eine schlichte Jagdpartie erscheint, wird zuneh22 Guislain 1990, S. 45f.
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mend bedrohlicher und beklemmender, ohne jedoch seinen karnevalesken Charakter zu verlieren. An dieser Stelle wird die Analogie zur surrealistischen Welt Luis Buñuels evident. In dem Film L’ÂGE D’OR (1930), der eine groteske Version und Vision des damaligen mondänen Lebens liefert, zeigt Buñuel dem Zuschauer eine Szene, die der Jagdszene in LA RÈGLE DU JEU als inspirativer Prätext gedient zu haben scheint: Ein kleines Kind spielt mit dem Jäger, der sich gerade eine Zigarette derhen will, schlägt ihm diese aus der Hand und rennt lachend in die Wiese. Schelmisch winkt er noch dem Jäger zu. Dieser jedoch, wutentbrannt, packt sein Gewehr und erschießt den Jungen kurzerhand. Bereits niedergestreckt, schießt er wie auf ein Karnickel abermals auf den leblosen Körper, der durch die Wucht des Geschosses noch ein letztes Mal zusammenzuckt. In LA RÈGLE DU JEU hingegen wird das Publikum zunächst mit einer realistisch anmutenden Szene konfrontiert, einer schlichten Jagdpartie. Aber die Szenen der makabren Jagd, die als den 1. Weltkrieg antizipierende Metapher gelesen werden können, als „prémonition ludique de la guerre (la partie de la chasse, la ,danse macabre‘, etc.)“,23 funktionieren nach Bazin als dramatisch-moralisches Motiv.24 Das krude Szenarium, das Massaker der Kaninchen wird zunehmend irritierender – nicht nur aufgrund der schnellen Bilderfolge,25 während der innerhalb einer Minute ein Dutzend Tiere abgeknallt werden, sondern auch aufgrund der sich ankündigenden Funktion dieser Jagdszene, die sich im Laufe des Films auf verschiedene Arten wiederholen wird und am Ende zum Höhepunkt gelangt: „Jurieu-le-pur, comme le Coelio des Caprices de Marianne, trouvera la mort, victime d’une méprise. Il boulera comme le lapin sous le coup de fusil dans la ténèbre séquence de la chasse.“26 Die Nähe zu L’ÂGE D’OR, „le film le plus représentatif du surréalisme“,27 bestätigt sich in einem kruden Finale. Am Ende entschuldigt Monsieur de la Chesnaye in einem theatralen Diskurs auf der Treppe des Schlosses den Mord als schlichtes Missverständnis, als bedauernswerten Unfall, der tagtäglich passieren könnte:
23 Cauliez 1962, S. 83. Vgl. besonders das Kapitel „La Règle du jeu“, S. 83111. 24 Vgl. Bazin, André: Jean Renoir, München/Wien 1977, S. 58. 25 Vgl. Albersmeier, Franz-Josef: „Jean Renoir: LA RÈGLE DU JEU“, in: Michael Lommel/Volker Roloff (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003, S. 95-108. 26 Bertin, Célia: Jean Renoir, Paris 1986, S. 205. 27 Béhar/Carassou 1984, S. 451.
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ISABEL MAURER QUEIPO Robert: „Messieurs, il s’agit d’un déplorable accident et rien de plus!…Mon garde Schumacher a cru voir un braconnier, et il a tiré comme c’était son droit. La fatalité a voulu qu’André Jurieu soit victime de cette erreur…“28
Der Schein ist wieder gewahrt, der Ruf gerettet und einer der Bourgeoisen bemerkt sarkastisch, dass man nun eine neue Definition des Wortes ,Jagdunfall‘ gefunden hätte... Doch erscheint nicht sogar der Tod Jurieus grausamer, beunruhigender als der Tod des Kindes, wenn die Codes bekannt sind, dass heißt die Klassifizierungen der Filme als realistisch (Renoir) und surrealistisch (Buñuel)? Erscheint die scheinbar realistische Version Renoirs nicht erschreckender, wenn dieser dem Publikum aufzeigt, wie unmerklich das Grausame sich in den Alltag einschleicht, und die existente, aber verneinte Verquickung von Barbarei und Kultur verdeutlicht? Letztlich bestärkt die symbolische Verschmelzung von Jurieu (wie auch des Kindes bei Buñuel) mit einem Karnickel noch einmal die spielerische Verquickung von Anthropologie und Fauna. *** Stetig wird die realistische Atmosphäre durch irritierende und surreale Elemente unterbrochen. Jene sinn- und spannungsgeladenen Details funktionieren gleichsam auch hinsichtlich des Inhalts und der Dramaturgie des Films als bedeutendes movens, wie es Bazin betont. Nach Bazin handelt es sich bei den Musikautomaten, dem Bärenfell (Octaves Partyverkleidung), der Agonie der Kaninchen, dem Versteck- und Fangspiel in den Fluren und Zimmern des Schlosses um primäre Realitäten, Zentren, Dreh- und Angelpunkte, von denen aus sich die dramatische Spirale der Szenen formt.29 Jedes Detail verweist auf ein anderes, kündigt es an, spiegelt, substituiert und komplettiert es: Wie die Jagd oder die berühmte Szene des theatralischen Danse macabre (Abb. 6) – burlesk, aber unheimlich –, das zur gleichen Zeit den kommenden Tod des jungen Piloten Jurieu andeutet: C’est également la représentation de La Danse macabre qui annonce la tragédie ultérieure: la mort évahit la salle elle-même; les ombres portées par les rares lumières de la mise en scène théâtrale préfigurent celles du dernier plan après le meurtre de Jurieux.30
28 Guislain1990, S. 134. 29 Vgl. Bazin 1977, S. 58. 30 Damour, Jean-Pierre: La Règle du jeu, Paris 1999, S. 80.
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Abbildung 6: Screenshot aus LA RÈGLE DU JEU
Nach dem Massaker an den Kaninchen folgt ein fröhlich ausgelassenes Fest, das einer „Histoire purement vaudevillesque“31 zu gleichen scheint. Renoir lädt den Zuschauer zunächst ein, an einem beschwingten heiteren Spiel teilzunehmen – doch auch hier trügt der Schein. Der Kostümball, die Travestieshow und das Künstliche ersetzten nun die Natur, die malerischen Landschaften der Jagdpartie. Die ersten Szenen des Festes verweisen gleichsam auf die bei den Surrealisten32 so beliebten Stummfilme mit Buster Keaton und Charlie Chaplin, die die burleske und groteske Filmästhetik und nicht zuletzt die Absurdität des Lebens widerspiegelten: Jeder sucht oder verfolgt jemanden oder etwas. So treffen sich die Mitglieder dieser skurrilen Gesellschaft ständig auf dem Flur wieder, im Schlafanzug, suchen ihre Schuhe während einer schwindelerregenden Folge von Auftritten und Abtritten, von Türenöffnen und -schließen. Jemand spielt Trompete, jemand versucht sich als Fechter. Später flirtet Christine mit St. Aubin, Jackie mit Jurieux, welcher sich dann wiederum wegen Christine mit St. Aubin streitet, während sich Robert mit Jurieux wegen Christine streitet. Lisette flirtet mit Marceau, der deshalb von Schuhmacher verfolgt wird. Es ist in erster Linie der Wilddieb Marceau, der hier als Slapstickkomödiant auftritt; insbesondere in den Verfol-
31 Vgl. Guislain 1990, S. 86-88: „Histoire purement vaudevillesque“. 32 Vgl. Felten, Uta: Traum und Körper bei Federico García Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen 1998. Vgl. bes. das Kapitel über die Filme von Buster Keaton als Referenz einer esthétique surréelle, S. 27-34.
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gungsszenen zwischen ihm und Schumacher, dem eifersüchtigen Jagdaufseher. Doch das, was zunächst als burleskes Katz- und Mausspiel als mutmaßlicher Programmpunkt des Festes erscheint, verwandelt sich in eine ernste Hetzjagd. Noch später, in dem Moment, in dem Schumacher versucht, mit einer echten Pistole auf Marceau zu schießen, wird die Atmosphäre abermals verdunkelt. Paradoxerweise sind es gerade die beiden tollpatschigen Feinde à la Pat und Patachon – der trickreiche Wilddieb und der ernste Jagdaufseher, der Liebhaber und der betrogene Ehemann –, die am Ende des Filmes als die besten Freunde und Komplizen auftreten – als sei nichts geschehen. Während dieser bizarren Show gibt es drei bedeutende Tänze: der Tiroler Tanz, der Tanz der Bärtigen, die „Nous avons l’vé le pied“ anstimmen (ein Lied, das aufgrund des anstehenden Krieges für einige Zuschauer recht provokativ erscheinen mochte) und der Danse macabre der mit Regenschirmen tanzenden Skelette. Das Piano spielt von alleine und die gigantische Drehorgel geht in dem Moment kaputt, in dem die Jagd auf Marceau, das Katz- und Mausspiel beginnt. Das Chaos voller Zufälle und Missverständnisse erreicht seinen Höhepunkt in der doppelten méprise, dem zweifachen Austausch der Kostüme, der den Zuschauer an den dritten Akt aus Le nozze di Figaro33 erinnert. Lisette gibt ihre Pelerine an Christine, die Octave trifft, während Schumacher sie daraufhin mit Lisette verwechselt und Octave töten will. Octave kehrt zum Schloss zurück, trifft Jurieux, dem er seinen Mantel gibt. Schließlich sucht Jurieux Christine auf und wird, wie erwähnt, wie eine schlichte Jagdbeute abgeknallt. Die Versionen von Renoir und Buñuel verquicken sich immer mehr in einem Mikrokosmos voller subtiler und subversiver Perspektiven und Bildern, die in den Zwischenräumen von Realität und Surrealität angesiedelt sind, zwischen Liebe und Grausamkeit, zwischen Lüge und Wahrheit: „C’est l’artifice qui dit le vrai, la théâtralité de l’existence qui expose, à nu, les angoisses et les besoins fondamentaux de l’être humain.“34 Im Gegensatz zur gängigen Meinung bietet Renoir ein realistisches Gemälde, das mit der surrealen Welt Buñuels eng verknüpft ist und sowohl die Protagonisten als auch die Zuschauer in eine irritierende Welt entführt, in der nicht mehr zwischen Spiel und Ernst, zwischen Illusion und Wahrheit unterschieden werden kann:
33 Vgl. Felten 2003, S. 117. 34 Damour 1990, S. 79.
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like la Chesnay and the others, she [Christine] is unable to make distinctions between life and art or life and illusion. […] Like the guests who think that the indoor chase and shooting are a part of the festivities, Christine does not know what is an act and what is reality.35
1962 präsentiert Buñuel den Film EL ÁNGEL EXTERMINADOR, der wiederum als dritte Version einer Satire voller schwarzen Humors – einer von Breton und den Surrealisten kreierten Kategorie36 – gesehen werden kann, über eine Gesellschaft, in der schon damals Selbstbetrug, Scheinheiligkeit und Lüge herrschten. Beide Regisseure entlarven ironisch die Spektakelmentalität der Personen als Konstrukt, das den bestimmten Regeln einer patriarchalen Gesellschaft folgt. Nach Lapierre liegt das Erstaunliche bei Renoir zusätzlich in der Verquickung der Regelsysteme, die von einem poetischen Realismus zu einem subtilen und subversiven Surrealismus wechseln: Dans la vie, le burlesque s’amalgame avec le tragique, le bouffon avec l’héroïque. Le grand mérite de La Règle du jeu est d’avoir réussi cette synthèse de genre que l’on croyait inconciliable.37
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass erst die Akkumulation genannter Elemente eine Surrealisierung, eine surrealistische Ästhetik bewirken: das Arsenal exotischer Figuren, die an die Stummfilme mit Buster Keaton und Charlie Chaplin erinnernden Slapstickeinlagen, die menschlichen und tierischen Jagdszenen, die spielerischen Parallelisierungen – concordia discors – disparat erscheinender Elemente: Mensch/Natur, Mensch/Technik, Grausamkeit/Liebe, Wahrheit/Lüge. Renoir zeigt mit einer surrealistischen Freude für das Technische, das Mechanische, das Exotische, die Maskeraden, die Intrigen, die Danses macabres, den amour fou, den schwarzen Humor, die Absurdität des Lebens, den Fatalismus, den Zufall. Letztlich lädt Renoir den Zuschauer zu einer Relektüre seiner Filme ein, zu einer skeptischen Revision der festgefahrenen Kategorisierungen, und fragt schließlich, wie einer seiner Protagonisten in LA RÈGLE DU JEU, 35 Perebinossoff, S. R.: „Theatricals in Jean Renoir’s The Rules of the Game and Grand Illusion“, in: Literature/Film Quarterly, Bd. 5, Nr. 1 (1977), S. 52. 36 Vgl. Chénieux-Gendron 1984, besonders das Kapitel „L’humour noir“, S. 122-129. Vgl. Breton, André: Anthologie de l’humour noir, Paris 1940. 37 Marcel Lapierre, zit. nach Viry-Babel, Roger: Jean Renoir – Le jeu du règle, Paris, 1986, S. 117.
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was noch an jener Epoche als natürlich und normal bezeichnet werden kann.
Literatur Albersmeier, Franz-Josef: „Jean Renoir: LA RÈGLE DU JEU“, in: Lommel, Michael/Roloff, Volker (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003, S. 95-108. Bazin, André: Jean Renoir, München/Wien 1977. Béhar, Henri/Carassou, Michel (Hrsg.): Le Surréalisme. Textes et débats, Paris 1984. Bertin, Célia: Jean Renoir, Paris 1986. Breton, André: Anthologie de l’humour noir, Paris 1940. Cauliez, Armand-Jean: Jean Renoir, Paris 1962. Chénieux-Gendron, Jacqueline: Le surréalisme, Paris 1984. Damour, Jean-Pierre: Jean Renoir La Règle du jeu, 40 questions 40 réponses 4 études, Paris 1999. Damour, Jean-Pierre: La Règle du jeu, Paris 1999. Guislain, Pierre: La Règle du jeu Jean Renoir, Paris 1990. Felten, Uta: „„Si l’amour porte des ailes, n’est-ce pas pour voltiger?“ Moralistische Blicke auf die Theatralität der Liebeskommunikation in Renoirs La Règle du jeu“, in: Michael Lommel/Volker Roloff (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003, S. 112-119. Felten, Uta/Maurer Queipo, Isabel/Rißler-Pipka, Nanette/Roloff, Volker (Hrsg.): Die grausamen Spiele des Minotaure. Intermediale Analyse einer surrealistischen Zeitschrift, Bielefeld 2005 [in Vorbereitung]. Felten, Uta: Traum und Körper bei Federico García Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen 1998. Hagen, Kirsten von: Intermediale Liebschaften. Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos Les Liaisons dangereuses, Tübingen 2002. Maurer Queipo, Isabel.: „La Règle du jeu (1939) – Une fantaisie surréaliste de Jean Renoir?!“, in: Mélusine, (Le cinéma des surréalistes), Nr. XXIV (2004), S 183-191.
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Maurer Queipo, Isabel: „Tagebücher zweier Kammerzofen: Renoir und Buñuel zwischen Literatur, Film und Schauspiel“, in: Michael Lommel/Volker Roloff (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003. O’Shaughnessy, Martin: Jean Renoir, Manchester 2000. Perebinossoff, S. R.: „Theatricals in Jean Renoir’s The Rules of the Game and Grand Illusion“, in: Literature/Film Quarterly, Bd. 5, Nr. 1 (1977). Viry-Babel, Roger: Jean Renoir – Le jeu du règle, Paris 1986.
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VORHANG AUF – FÜR DIE OHRRINGE DES HERRN OPHÜLS But the role of jewel, a decorative object, is not the deciding role; And on the opera stage women perpetually sing their eternal undoing. (Catherine Clément)
Abstract Il n’y a guère d’autres producteurs cinématographiques comme Max Ophüls qui pour son époque a évoqué autant de contradictions. Son œuvre, en marge des règles et même de toute nation, ne laisse aucun film se voulant appartenir à l’histoire du cinéma bien que l’on puisse noter une influence dans le mouvement de la Nouvelle-Vague ultérieur. Ophüls est un cinéaste qui transmettait ses pensées de façon filmique comme aucun autre, mais qui est également lié à l’influence des médias traditionnels comme le théâtre, l’architecture ou la littérature. Le titre de ma contribution qui peut paraître un peu particulier, signale dès le début que dans ce film Madame de de Max Ophüls, les boucles d’oreilles se révèlent être l’axe narratif du déroulement; on peut même pousser jusqu’à dire qu’elles occupent la place centrale dans cette ronde amoureuse. Les boucles d’oreilles deviennent à la fois objet dramatique et dramatisant. Le titre français Madame de est traduit en anglais de façon logique par The Earrings of Madame de et en italien par I Gioelli di Madame de. Je vais démontrer quel rôle, voire quelle fonction les boucles d’oreilles occupe dans le film, quelle importance narrative leur est donnée en particulier, et de quelle façon elles structurent le temps, l’espace et le déroulement du film. Pour ce, il ne faut pas négliger l’origine des boucles d’oreilles en tant que réquisit parlant du théâtre. Le film se révèle, dans le style typique du théâtre, être également un film portant sur des objets qui, se répétant comme un leitmotiv, donnent une structure au film. Cela entraîne la question suivante : en quoi Ophüls se différencie-t-il du cinéma narratif dominant son époque, et de quelle façon ce langage, emprunté en partie au monde du théâtre, dirige la perception filmique du spectateur? Je vais essayer de montrer comment, tout au long du film, les boucles d’oreilles passent d’un requisit de comédie typique à un objet fétichiste de la déchéance, ce qui souligne le passage de la comédie à la tragédie. Der vielleicht etwas eigenwillig erscheinende Beitragstitel weist bereits darauf hin, dass in dem hier vorgestellten Film Madame de von Max
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Ophüls die Ohrringe die eigentliche narrative Achse des Geschehens auf der Leinwand bilden, ja, man könnte sogar sagen, dass ihnen die zentrale Rolle in diesem Liebesreigen zukommt. Die Ohrringe werden zum dramatisierten – zum dramatisierenden Objekt. Die englische Übersetzung des französischen Titels Madame de lautet denn auch im Englischen folgerichtig The Earrings of Madame de, im Italienischen I Gioelli di Madame de. Es wird zu zeigen sein, welche Rolle oder Funktion die Ohrringe im Film übernehmen, welche narrative Bedeutung ihnen im Einzelnen zukommt, wie sie Zeit, Raum und Entwicklung des Films strukturieren. Dabei soll die Herkunft der Ohrringe als sprechendes Requisit des Theaters nicht verleugnet werden. Der Film ist in bester Theatermanier auch ein Film über Objekte, die, leitmotivisch wiederholt, den Film strukturieren. Dahinter steht die Frage, worin Ophüls sich vom vorherrschenden Erzählkino seiner Zeit unterscheidet und wie diese teils aus der Theaterwelt entlehnte Sprache der Objekte die filmische Wahrnehmung des Zuschauers steuert. Ich versuche zu zeigen, wie sich die Ohrringe im Laufe des Films von einem typischen Komödienrequisit zu einem fetischisierten Objekt des Verlustes wandeln, dass den Wechsel der Komödie zur Tragödie markiert.
Kaum ein anderer Filmemacher seiner Zeit hat so viele Widersprüche geweckt wie Max Ophüls. Sein Werk, das keiner Schule, ja, nicht einmal einer bestimmten Nation zuzuordnen ist,1 hat, obwohl es die spätere Nouvelle Vague beeinflusst hat, keinen Film hinterlassen, der Filmgeschichte geschrieben hat. Ophüls gilt als Filmemacher, der einerseits so filmisch visuell dachte wie kaum ein anderer und der gleichzeitig nicht zu denken ist ohne den Einfluss traditioneller Medien wie Theater, Architektur, Literatur: Pour pénétrer l’art d’Ophuls, nous aurons plus souvent à nous référer au théâtre allemand, à l’architecture baroque, au classicisme français, à la poésie romantique qu’au ‚neo-realisme‘ ou au ‚cinéma-vérité‘, terminologies qui perdent ici tout leur sens. D’autre part, nous verrons comment Ophuls évolue volontiers d’un registre à l’autre, de l’humour à la gravité, de la légèreté à la profondeur, de la farce au drame. C’est un cinéaste proprement inclassable, chez 2 qui tout prend l’allure de paradoxes.
Dem, was Beylie „l’allure de paradoxes“ nennt, gilt es im Folgenden nachzuspüren, weshalb hier ganz bewusst entgegen der sonstigen Publikationen zu Max Ophüls der Filmemacher im Kontext surrealistischer 1 Ophüls selbst sagte einmal: „Je crois aux auteurs et non à la nationalité des films. Il n’y a plus de films américains que de films français. Il y a des films de Fritz Lang et ceux de René Clair.“ (Ophüls, Max: „Hollywood, petite île…“, in: Cahiers du Cinéma, Nr. 54 (1955). 2 Beylie, Claude: Max Ophuls, Paris 1984, S. 5.
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Theaterfilme verhandelt wird. Der vielleicht etwas eigenwillig erscheinende Titel des Beitrags weist bereits darauf hin, dass in diesem Film von Max Ophüls die Ohrringe die eigentliche narrative Achse des Geschehens auf der Leinwand bilden, ja, man könnte sogar sagen, dass ihnen hier die zentrale Rolle in diesem Liebesreigen zufällt. Die Ohrringe werden zum dramatisierten – zum dramatisierenden Objekt. Man könnte – freilich auf einer anderen Ebene – in diesem Zusammenhang auch von dem subversiven Verfahren der Reihung, der phantastischen Kausalverkettung sprechen, wie sie konstitutiv ist für die Filme von Buster Keaton.3 Nicht zu unrecht sieht Luis Buñuel in der amerikanischen Stummfilmburleske, die sicher als ein Modell für die Filme Ophüls’ gelten darf, das einzige filmische Äquivalent surrealistischer Ästhetik: La gente es tan idiota, y tiene tantos prejuicios, que creen que ‚Fausto‘ y ‚Potemkin‘, etc. son superiores a esas bufonerias, que son tales, y que yo los llamaría la nueva poesía. La equivalencia surrealista, en cinema, se encuentra únicamente en esos films. 4 Mucho más surrealistas que ellos de Man Ray.
Die englische Übersetzung des französischen Titels MADAME DE (1953) lautet denn auch im Englischen folgerichtig THE EARRINGS OF MADAME DE, im Italienischen I GIOELLI DI MADAME DE. Im Folgenden versuche ich zu zeigen, welche Rolle oder Funktion die Ohrringe im Film übernehmen, welche narrative Bedeutung ihnen im Einzelnen zukommt, wie sie Zeit, Raum und Entwicklung des Films maßgeblich bestimmen: Inwiefern markieren die Objekte, ohne ihre Herkunft als sprechendes Requisit des Theaters zu verleugnen, hier einen Übergang von der Stummfilmburleske (die Objekte als typisches Requisit von Slapstickeinlagen inszeniert) zur surrealistischen Ästhetik? Dieser Frage gilt es im Folgenden nachzuspüren.
Herkunft der Ohrringe als sprechendes Requisit des Theaters Der Film ist in bester Theatermanier auch ein Film über Objekte, die, leitmotivisch wiederholt, den Film strukturieren.
3 Vgl. Felten, Uta: Traum und Körper bei Frederico García Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen 1998, S. 33. 4 Buñuel, Luis: „Lo cómico en el cine“, in: La Gaceta Literaria, Nr. 56 (1929).
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Auffällig ist zunächst einmal nicht so sehr die Tatsache, dass den Ohrringen hier die Funktion von Aktanten zufällt, das gibt es so auch schon im Theater, sondern der Aspekt des Tausches. Die Ohrringe wechseln insgesamt 19 Mal ihren Besitzer. Nach jedem Tausch wird ihnen eine andere Bedeutung zugemessen. Im Verlauf des Films wandeln sie sich, wie die folgenden Ausführungen zeigen, von einem typischen Komödienrequisit zu einem fetischisierten Objekt, das den Wechsel der Komödie zur Tragödie markiert – vergleichbar der Rekurrenz der Zeichen bei Breton.5 Gleich zu Beginn wird deutlich, dass wir es in diesem Film anders als in anderen Ophüls-Filmen mit einer sehr zurückhaltenden Erzählerstimme zu tun haben. Kein ‚meneur de jeu‘ wie in LA RONDE (1950), keine Worte eines unsichtbaren Maupassant wie in LE PLAISIR (1952), kein Ringmeister wie in LOLA MONTES (1955). Dafür übernehmen zwei Textinserts, gerahmt wie später der Spiegel der Madame de von einer floralen Bordüre, die auktoriale Stimme. Das erste beschreibt Louise als eine schöne Frau, bestimmt für ein sorgenfreies Leben, das zweite nimmt diese Beschreibung teilweise zurück: „Rien ne serait probablement arrivé sans ce bijou.“6 Ohne den Verlust der Ohrringe wäre sie nie Gegenstand einer Geschichte geworden. Das erste Bild, das die Kamera zeigt, ist folgerichtig eine Großaufnahme eben dieser herzförmigen Ohrringe. Metonymisch wird sich diese Einstellung später wiederholen, wenn auch andere Sequenzen mit Detailaufnahmen der Objekte eröffnet werden, die eine tragende Rolle in ihnen spielen. Wir sehen Louise (Danielle Darrieux), an ihrem Toilettentisch sitzend, auf der Suche nach einem Schmuckstück, das sie beim Juwelier versetzen kann, um Schulden zu begleichen, die ihr aufwändiger Lebensstil mit sich bringt. Wir erfahren, dass die Ohrringe ein Hochzeitsgeschenk ihres Mannes sind, weshalb sie zunächst zögert, sie einzutauschen. Nach einer langen – von einem panning shot begleiteten – Suche durch Schmuckschatulle und Kleiderstücke (der Zuschauer sieht – eine Form der subjektiven Kamera – ihr Gesicht
5 Vgl. Steinwachs, Ginka: Mythologie des Surrealismus oder die Rückverwandlung von Kultur in Natur. Eine strukturale Analyse von Bretons „Nadja“, Neuwied/Berlin 1971, S. 89. 6 Diese und die folgenden Zitate sind der deutschen Synchronfassung des Films entnommen (MADAME DE, Frankreich/Italien 1953, deutsche Synchronfassung 1953), die von Max Ophüls überwacht wurde. Die zitierten Textinserts stimmen in der Synchronfassung mit dem französischen Original überein.
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nur im Spiegel und die Objekte mit ihren Augen7), entschließt sich Louise dann doch, die Ohrringe zu Geld zu machen, mit der Begründung: „Sie bedeuten mir eigentlich am wenigsten“. Bereits hier wird deutlich, dass erst die Objekte einen narrativen Raum markieren. Erst danach wird die Person gezeigt, die sich in einer bestimmten Art und Weise zu ihnen verhält. Auf dem Theater würden wir erst die Requisiten und die Szenerie sehen. Susan M. White vergleicht das Geschenk mit einem Kontrakt. Die Ohrringe symbolisieren ihrer Meinung nach eine ungleiche Tauschaktion:8 Seine Position, Macht zu gebrauchen, um sich ihrer Zuneigung zu versichern. Man könnte auch argumentieren, dass Louise, indem sie beschließt, ausgerechnet die Ohrringe, ein Geschenk ihres Mannes, zu versetzen, versucht, sich selbst neu zu definieren. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Kirche, in der sie um Beistand für ihre geplante Transaktion bittet, bringt Louise die Ohrringe zu dem Juwelier, der sie ihrem Ehemann (Charles Boyer) einst als Hochzeitsgeschenk verkauft hatte. In dieser Anfangssituation Kirche – Tausch der Ohrringe, die an entscheidenden narrativen Schnittstellen des Films wiederaufgenommen und varriert wird, zeigt sich, dass Ophüls Religion der sinnentleerten Existenz, dem ‚nackten Materialismus‘ einer Gesellschaft entgegenstellt, in der auch die Liebe eine Ware geworden ist, deren Tauschwert in den Ohrringen seinen ureigensten Ausdruck findet.9 In der ersten Hälfte des Films dominieren die scheinbar komödienhaften Wechsel des Objektes, die freilich schon spätere Verwicklungen antizipieren. Es sind die Ohrringe, nicht psychologische Motivation, die die Handlung in Gang setzen, ebenso wie es ein verlorenes Lotterielos ist, das die Handlung in René Clairs LE MILLION (1931) motiviert, wie ein Florentinerhut in UN CHAPEAU DE PAILLE D’ITALIE (1927) zum zentralen Objekt der Begierde avanciert und eine fehlende Geldsumme Auslöser ist für die KOMEDIE OM GELD (1936). Durch das Versetzen der Ohrringe wird Louise zu einer ersten Lüge gezwungen, die ihr freilich leicht von den Lippen kommt. Sie gibt während einer Opernaufführung vor, die Ohrringe verloren zu haben. Doch sie hat nicht mit der Bedeutung gerechnet, die ihr Ehemann dem Verlust des Schmuckstückes beimisst. Dem Zuschauer wird seine Reaktion durch 7 Nach Branigan haben wir es hier mit dem Sonderfall des Reflexion-Shots zu tun. Vgl. Branigan, Edward: Point of View in the Cinema: A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film, Berlin/New York/Amsterdam 1984, S. 53. 8 White, Susan M.: The Cinema of Max Ophuls: Magisterial Vision and the Figure of Woman, New York 1995, S. 68. 9 Asper, Helmut G.: Max Ophüls. Eine Biographie, Berlin 1998, S. 584.
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die Kamera verdeutlicht, die André fast ohne verkürzende Schnitte bei seinem Gang durchs Opernhaus begleitet. André geht von der Loge zur Kutsche, von der Kutsche scheinbar zurück zur Loge, dann in eine andere Loge, in der seine Frau sich aufgehalten hat, dann wieder durchs ganze Opernhaus nach Hause, hier durch alle Räume, die Dienstboten aufschreckend und des Diebes verdächtigend, dann wieder ins Opernhaus, wo er endlich den vermeintlichen Diebstahl dem Operndirektor meldet.10 Dieser Ausschnitt verrät wie später die wiederholte Inszenierung der sich öffnenden und schließenden Schranke, die den Eingang zum Dienstzimmer des Generals markiert, deutlich ihre Herkunft aus der Stummfilmburleske. Die endlosen Wiederholungen gleicher Situationen mit leichter Variation dienen dazu, die Zuschauererwartungen auf Entwicklung der Figuren und der Handlung nachträglich zu frustrieren. Der Film stellt seine eigene Künstlichkeit aus. Die Szene verrät eine groteske Mischung von Tragik und Komik. Motive des Spiels und der Rollenspiele werden zur Reflexion des Theaters im Theater erweitert. Die spezifische Art, in der hier Bewegung inszeniert wird – und die Bewegung der Körper mit der der in Bewegung versetzten Objekte korreliert und kontrastiert wird –, erinnert an die frühe Filmburleske sowie an René Clairs grotesken Ballettfilm ENTR’ACTE. Wiederholt wird hier das Automatenhafte, Maschinelle der Verrichtungen ins Bild gesetzt, wird „auf eine übersichtliche mechanische Bewegung als Maximalgesetz für ein BilderEnsemble“ verwiesen, das Dinge und Lebewesen, Belebtes und Unbelebtes vereinheitlicht und vereint.“ Gilles Deleuze konstatiert weiter: „Das konkrete Objekt, Objekt des Begehrens, tritt als Motor oder als Triebfeder auf, die ihre Wirkung über einen gewissen Zeitraum entfaltet, als primum movens, das eine mechanische Bewegung auslöst, an der eine immer größere Anzahl von Personen mitwirkt, die ihrerseits im Raum als Teile eines immer größeren mechanisierten Ensembles erscheinen.“11
Slapstick und Tanz: Reigen der Objekte In seinem ersten Kinoband entwickelt der französische Filmphilosoph Gilles Deleuze fast so etwas wie eine Geschichte des Slapstick auf zwei Seiten:
10 Asper hat darauf hingewiesen, dass die Kamerafahrten in diesem Film gleich denen in LE PLAISIR zu den schwierigsten und komplexesten in Ophüls Filmen überhaupt gehören. 11 Deleuze, Gilles, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M. 1997, S. 65f.
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Alles fing an mit einem maßlosen Überspannen der sensomotorischen Situationen, in denen sich die Verknüpfungen jeder einzelnen verstärkten, überstürzten und ins Unendliche vervielfachten, in denen sich die Überschneidungen und Zusammenstöße ihrer unabhängigen Kausalserien häuften und ein wucherndes Ganzes bildeten. Im zweiten Stadium wird dieses Element angereichert und reiner als zuvor weiter bestehen […] Das Charakteristische dieses zweiten Stadiums ist jedoch die Einführung eines äußerst starken emotionalen und affektiven Elements in das sensomotorische Sche12 ma.
Später wird die Einführung des Sprechtons ein mentales Bild eröffnen. Interessant für die Betrachtung Ophüls’ ist vor allem die vierte Phase, eine Umbruchphase, die Deleuze bei dem amerikanischen Komiker Jerry Lewis ansetzt: die sensomotorischen Bindeglieder reißen ab, reine optische und akustische Situationen werden eingeführt, die, anstatt in einer Handlung fortgesetzt zu werden, in einen Kreislauf münden, in dem sie auf sich selbst zurückkommen, um gleich darauf einen 13 weiteren Kreislauf in Gang zu bringen.
Signifikant ist, dass Deleuze hier vor allem eine Dominanz der Kulisse sieht, die sich scheinbar selbst genügt – wie bei Ophüls, der wie kaum ein anderer Regisseur die Dekors immer wieder ins Bild rückt. Der Slapstick nähert sich dem Tanz an – wie ja auch der Reigen in diesem Film als Folie für zahlreiche Tauschaktionen fungiert. Die Objekte setzen die Handlung in Gang, motivieren und mobilisieren die Charaktere und symbolisieren gleichzeitig die Position der Frau, die durch eine zirkuläre Struktur bestimmt ist, wie in einem automatischen Ballett, „dessen Antrieb selbst in der Bewegung zirkuliert.“14 Als die Gesellschaftsrubrik der Zeitung den ‚Diebstahl‘ vermeldet, sieht sich der Juwelier gezwungen, dem General die Wahrheit über die verschwundenen Ohrringe zu sagen. André, der den Zwischenfall anfänglich noch als „charmante Leichtfertigkeit“ seiner Frau zu erklären sucht, kauft die Ohrringe zurück, gibt sie aber nicht etwa Louise, sondern seiner Geliebten, Lola, zum Abschied. Lola nimmt die diamantenen Herzen mit nach Konstantinopel. Hier versetzt sie die diamentenen Herzen – in einer Spiegelung der Anfangssituation – aus Geldmangel beim Roulettespiel im Casino. Bereits hier fungieren die Ohrringe als Individualsymbol, kommentiert sie doch: „Geschenk – ein Mann, der mich geliebt hat.“ 12 Ebd., S. 90f. 13 Ebd., S. 91. 14 Ebd., S. 66.
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Das Casino gibt die Ohrringe an einen Juwelier weiter, von dem der italienische Diplomat Fabrizio Donati (Vittorio de Sica15) sie für eine ihm noch nicht bekannte Dame kauft. Am Zoll von Basel fällt ihm zum ersten Mal die schöne Madame de auf, er beobachtet sie, kann ihr aber nicht schnell genug folgen. In Paris schließlich kommt es zu einem kleinen Unfall zwischen seiner und einer anderen Kutsche, in der eben die von ihm zuvor bewunderte Frau sitzt. Nach einem kurzen Gespräch darüber, dass dies kein Zufall, sondern Schicksal sei,16 setzt sich die Kutsche in Bewegung. Er vernimmt nur noch den Anfang von Louises Namen: Madame de. An dieser wie an späteren Stellen des Films wird der Filmtitel explizit. Wir erfahren nie den Nachnamen Louises. Beim späteren Empfang ist die Tischkarte hinter „Madame de“ abgeschnitten. Als sie mit dem Baron Donati tanzt und sich die Musiker über ihren Namen unterhalten, sagt einer „das ist doch die ‚Madame de‘“, ohne sich an ihren Nachnamen erinnern zu können. Und die letzte Einstellung des Films zeigt eine Karte in der Kirche, in der Louise die Ohrringe als Opfer an die Madonna dargebracht hat: „Geschenk der Madame de“. Im Roman trägt keine der Figuren einen Namen, sie werden nur als Botschafter, Monsieur und Madame de bezeichnet. Anders im Film, indem zumindest Fabrizio Donati mit vollständigem Namen genannt wird. Dass der Zuschauer bis zum Schluss den Namen der Madame de nicht erfährt, kann Verschiedenes konnotieren: Dass Louise wie die Ohrringe schließlich nur ein Anhängsel ihres Mannes ist, oder dass sie tatsächlich leer und bedeutungslos, eine ‚woman of no importance’ ist, wären da nicht, ja, wären da nicht die Ohrringe. Ihre Romanze mit Donati beginnt, als sie ihm als Tischdame zugeteilt wird. Später wird deutlich: Als Diplomat kennt er ihren Mann, den General, flüchtig, aber nicht dessen bezaubernde Frau. Während der Abwesenheit des Generals tanzen beide tagelang miteinander. 15 Dass die Rolle Donatis, dem in dieser triangulären Begehrensstruktur, im Reigen des Objekts eine zentrale Rolle zufällt, von de Sica verkörpert wird, der selbst ein bekannter Filmregisseur ist, kann auch als Bild für den Film, für das bewegte Bild schlechthin verstanden werden, dass ja gerade häufig durch solche Konstellationen wie der hier dargestellten bewegt wird. 16 Diese Stelle kann zugleich als Reflexion über die Bedeutung des Zufalls in der surrealistischen Ästhetik gelesen werden und erinnert an die erste Begegnung Bretons mit Nadja. Ginka Steinwachs schreibt über die Bedeutung des Zufalls bei Breton: „Die Fragen sind deshalb ernst zu nehmen, weil sie jene andere Frage beantworten helfen könnten, ob der objektive Zufall eine Eigenschaft bezeichnet, die Dingen und Ereignissen oder einer Einstellung zukommt, die ein Mensch diesen Dingen und Ereignissen gegenüber einnehmen kann.“ (Steinwachs 1971, S. 85.)
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In einer langen Subsequenz beobachten wir die Annäherung Donatis und Louises in einem scheinbar nie enden wollenden einzigen Walzer, der tatsächlich aus einzelnen Tänzen besteht, die aber hier so montiert werden, dass sie zu einem Moment verschmelzen wie die beiden Tänzer.17 Dem Zuschauer wird nur durch die wechselnde Garderobe der Protagonisten und die rituelle Eingangsformel Donatis verdeutlicht, dass es sich hierbei um verschiedene Geselschaftsabende handelt. Zu Beginn der Sequenz sagt Donati: „Vier Tage ohne Sie zu sehen, wird denn in Paris nicht mehr getanzt?“ Der Abstand wird im Folgenden immer kürzer: „Zwei Tage ohne Sie zu sehen, mein Konzernchef beklagt sich über meine Nervosität.“ – „24 Stunden ohne Sie zu sehen“. Louise: „Das muss eine Qual sein, ich weiß.“ Gerade weil der Ablauf fast einem Ritual gleicht, der stete Hinweis auf das Verfließen der Zeit, ist die Variation umso auffälliger. Das erste Mal findet inmitten vieler anderer Tänzer statt, offenbar zu Beginn eines Gesellschaftsabends, weitere Gäste strömen in den Saal. Im Laufe der einzelnen Momente werden die Personen auf dem Tanzparkett immer weniger, bis schließlich, am Ende eines Abends, Donati und Louise allein tanzen, die letzten Orchestermitglieder sind gegangen, beide tragen bereits ihre Mäntel und Handschuhe und können sich doch nicht voneinander lösen. Auch ihre Kommunikation ändert sich. Erkundigt sich Donati zunächst stets höflich nach dem Befinden Andrés, stellt Louise diese Frage am Schluss selbst und beantwortet sie mit dem Hinweis auf die baldige Rückkehr des Gatten: „Sie fragen gar nicht, ob ich Nachricht von meinem Mann habe – Sie haben Recht. Er kommt morgen zurück.“ Die Kamera übernimmt dabei die Rolle des Komplizen und nähert sich den beiden Tänzern immer mehr an. Sinnfällig ist, dass wir sie dabei gleichzeitig im Spiegel sehen, ihr Bild also jeweils – wie so häufig in diesem Film – verdoppelt wird. Deleuze spricht in dem Zusammenhang von einem „Reigen der Ohrringe“, die eine eigene „kinematographische Theatralität“ ins Bild setzen.18
17 Beylie weist zu Recht auf die Rolle hin, die die Musik im Film spielt. Ist die leitmotivisch wiederholte Walzermusik zunächst nur ein Walzer, so lässt sie in der Ballsequenz an die Symphonie des adieux von Haydn denken und die letzten Akkorde in der leeren Kirche erinnern an Mozarts Requiem. (Beylie 1984, S. 96) Ophüls wollte, dass die Musik die Kristallleuchter spiegelt, das Parkett und die kalten Uniformen. (Vgl. Asper 1998, S. 588) 18 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M. 1997, S. 114f.
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Wiederholung und Differenz Die Sequenz verdeutlicht, wie bereits zuvor die Wiederholung gleicher Verrichtungen mit Variation in der Oper, dass hier wie in vielen Slapstick-Komödien gerade das Gesetz der Indizes/Indizien die kleine Differenz in der Handlung – die einen unendlichen Unterschied zweier Situationen geltend macht – nicht nur das Aktionsbild zum Wahrnehmungsbild verschiebt, sondern auch in besonderer Weise unsere Aufmerksamkeit auf die kleine Differenz zwischen scheinbar ähnlichen Situationen lenkt.19 Madame de, die Kokette, für die nichts wirklich Bedeutung hat, auch nicht, oder schon gar nicht die sie bewundernden Männer, hat sich verliebt. Man könnte fast sagen, sie hat sich in den neuen Besitzer der herzförmigen Ohrringe verliebt – freilich ohne, dass sie dies weiß. Symbolisieren die Ohrringe zu Beginn Andrés Herz, seine Liebe zu ihr, die sie zurückweist, so avancieren sie nun zu einem Bild ihres Herzens, das erstmals, um im Bild zu bleiben, entflammt. Williams weist darauf hin, dass Donati ansonsten vollkommen durchschnittlich ist, ihn nur die Tatsache, dass er im Besitz der Ohrringe ist, aus der Reihe der anderen Verehrer der Madame de heraushebt.20 Würde ich so weit nicht gehen wollen, so ist doch auffällig, dass die Ohrringe Ausdruck von Louises Wunsch sind, ihnen und damit sich selbst eine neue Bedeutung zu verleihen. Nach einem Faux Pas beim Manöverabschluss entschließt sie sich, Paris für längere Zeit zu verlassen. Als der Baron ihr seine Aufwartung macht, berichtet sie ihm von der geplanten Reise, er hingegen gesteht, einen Fehler begangen zu haben: In den Rosen, die er ihr geschickt habe, sei ein Schmuckstück für sie versteckt. Ungeduldig sucht Louise nach dem Schmuck und findet – ihre neuen alten Ohrringe. Sinnfällig kommentiert sie: „En voilà une histoire!“21 Im Folgenden wird dieses objet retrouvé immer stärker zu einem fetischisierten Objekt. Die Tendenz des Surrealismus zur Fetischisierung von Gegenständen ist häufig konstatiert worden. Wie Elisabeth Lenk über L’AMOUR FOU schreibt: „Die Initiative des Handelns ist von den Personen auf Dekor und Requisiten übergegan-
19 Vgl. Deleuze 1997 (Das Bewegungs-Bild), S. 230. 20 Larson Williams, Alan: Max Ophuls and the Cinema of Desire: Style and Spectacle in four Films, 1948-1955, New York 1980, S. 133. 21 In der deutschen Synchronfassung heißt es an dieser Stelle nur: „Dass die wieder da sind.“
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gen.“22 „Ich wollte sie zwingen, an mich zu denken“, beschreibt Donati denn auch sinnfällig den Symbolgehalt des Geschenks. „Ich liebe Sie nicht, ich liebe Sie nicht, ich liebe Sie nicht“, lautet die Liebeserklärung, die Louise dem Baron noch an der Tür macht. Worte, die hier paradox gebraucht werden – so gleichermaßen ungewohnten Gefühlen Ausdruck verleihend wie dem Wunsch, sich ihrer zu erwehren.23 Nach ihrer Reise muss Louise feststellen, dass ihr schlachtfelderprobter Ehemann Recht behalten hat: „Man muss sich dem Gegner stellen, zu fliehen heißt, eine Niederlage einzustecken.“ Durch die räumliche Entfernung hat sich Louise dem Baron innerlich nur noch stärker angenähert. Schuld sind – die Ohrringe. „Durch sie warst Du immer ganz nah bei mir“, gesteht sie dem Geliebten. Sie beschließt, die Ohrringe des Barons unter dem Vorwand, den vermissten Schmuck des Gatten nun wiedergefunden zu haben, auch öffentlich zu tragen: als Zeichen ihrer Liebe zu ihm. Bei einem erneuten Tanz mit dem glücklichen Donati willigt sie ein, sich in einigen Tagen mit ihm an einem geheimen Ort zum Rendezvous zu treffen. So soll die Liebe der beiden durch einen Seitensprung besiegelt werden, die Ohrringe werden zum Symbol für den anvisierten Ehebruch.
Vom Komödienrequisit zum fetischisierten Objekt des Begehrens Doch der wirkliche Schritt vom Wege findet nicht statt. Denn André, der ahnt, dass die Ohrringe, die er seiner Frau einst als Hochzeitsgabe anvertraut hat, ein Geschenk Donatis sind, ruft den Baron zu sich in sein Zimmer. Und Louise, die Frau, die Ophüls nach eigener Aussage, wie die sie umgebende Gesellschaft der Belle Époque zu Beginn als schöne, aber inhaltsleere Hülle zeigen wollte24 (wie die an sich bedeutungsleeren Ohrringe, die erst durch das, was mit ihnen geschieht, mit Bedeutung aufgeladen werden), sie verstrickt sich immer mehr in ihre eigenen Lügen. Die Ohrringe, denen niemand denselben Wert beimisst, aber die von allen als Objekt materiellen Werts geachtet werden, sind in ihrer Funktion als Emblem dem Blick ausgesetzt. Ophüls lässt in seinem originellen Reigen des Objekts nicht nur die Herkunft dieses Kunstgriffs vom Theater und der Stummfilmburleske erkennen, sondern auch vom Surrealismus: Das zunächst scheinbar vor allem in seinem materiellen Wert bemessene Ob22 Lenk, Elisabeth: Der springende Narziß. André Bretons poetischer Materialismus, München 1971, S. 176. 23 Vgl. Guérin, William Karl: Max Ophuls, Paris 1988, S. 141. 24 Vgl. Ophüls zit. nach: Annenkov, Georges: Max Ophuls, Paris 1962, S. 67.
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jekt wandelt sich zum fetischisierten Objekt des Begehrens. Es geht in diesem Film immer auch um die affektive und fetischistische Besetzung des zentralen Objekts, um Deutungen, symbolische Akte und Interpretationskunst. Die Besitzerin darf die Ohrringe nicht öffentlich tragen, will sie nicht einen Skandal provozieren. Die jeweilige Beziehung (Tausch, Gabe, Rückgabe) durchdringt die Aktion und verwandelt sie immer schon in einen symbolischen Akt. Bleibt nur die Zuflucht zu den Lügen, den Worten, die schließlich ebenso inhaltsleer zu sein scheinen wie die Heroine zu Beginn des Films. Wie die Ornamentik aus floralen Elementen, die am Anfang ihr Antlitz nur umso klarer umrahmt hat, stecken die Lügengespinste nun den Rahmen zu ihrem eigenen Untergang ab. Dem Baron gibt sie an, sie hätte ihrem Ehemann erzählt, die Ohrringe seien ein Geschenk ihrer verstorbenen Tante. Als André Donati zu sich bittet und ihn auffordert, die Ohrringe zum Juwelier zu bringen, da sich dieses Geschenk weder mit der Ehre des Generals noch mit der des Barons vereinbaren lasse, weiß Donati nicht mehr, was er glauben soll. Louise, die schließlich zugibt, gelogen zu haben, erwidert er: „Ich bin schon nicht mehr da, nicht mehr bei Ihnen.“ Am Ende avanciert der General zum ‚meneur de jeu‘, ist er doch der einzige, der über alle Informationen über den Verbleib der Ohrringe verfügt. Der Baron und Louise sind nur noch Spielbälle im weiteren schicksalhaften Verlauf. Die Lügen können aber auch als mise en abîme betrachtet werden: Wie der Film seine eigene Fiktionalität ausstellt, so wird auch Louise als Autorin von Fiktionen installiert – und als Ursprung der Täuschungen, die die Handlung erst in Gang setzen. Wie ihre Namensverwandte Louise de Vilmorin, die den Prätext verfasst hat, denkt sich auch diese Louise Geschichten aus, die andere ausagieren sollen. Der General akzeptiert die Täuschungsmanöver seiner Frau so lange, wie er sie kontrollieren kann. In dem Moment aber, in dem sie selbst den Wert, die Bedeutung bestimmen will, die sie den Objekten zumisst, ist die tragische Wendung nicht fern. Fortan avancieren die Ohrringe für Louise zu einem fetischisierten Objekt ihres Begehrens, einem Ersatz für die verlorene Liebe Donatis. Der eifersüchtige Ehemann, der dies ahnt, fordert von ihr die Ohrringe zurück, um sie Donati zu geben. Dieser Tausch steht im Zentrum der diversen Tauschaktionen. Symbolisierten die Ohrringe bei ihrer ersten Gabe Heirat, so kommt die erneute Tauschaktion einer Auflösung des ehelichen Vertrags gleich. Fortan ist André von einem fast sadistisch zu bezeichnenden Hass auf Louise und die Ohrringe beseelt. Er kauft die Ohr-
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ringe zwar erneut zurück, doch nur, um sie Louise sofort wieder zu nehmen. „Man kann sein Unglück auch erfinden“, wirft er seiner Frau vor. Louise soll die Ohrringe ihrer Nichte zur Geburt ihres ersten Kindes schenken. Die Nichte, ebenfalls weil sie Geld braucht – hier wiederholt sich die Anfangssituation also zum dritten Mal – verkauft sie wieder dem Juwelier. Der offeriert sie erneut André, der aber nun endgültig nichts mehr mit diesem Schmuckstück zu tun haben möchte. Entgegen der Hoffnung, seine Frau möge durch die erzwungene Weggabe des Individualobjekts geheilt werden, so dass sie in den Ohrringen, denen sie so viel Bedeutung bemisst, nur mehr Stücke zerbrochenen Glases zu sehen vermag, projiziert sie all ihre unerfüllten Wünsche auf die diamantenen Herzen. Louise verkauft all ihren Besitz, um die diamantenen Herzen zurückzukaufen – eine Umkehrung der Anfangssituation. Symbolisiert diese Aktion zum einen die ökonomische Seite der Objektzirkulation, ist sie gleichzeitig Ausdruck ihres Liebeswunsches, den sie in die Ohrringe investiert. Die Ohrringe geben ihren Fetischcharakter preis. Mit diesem Tausch besiegelt die ehemalige Kokette, die Männerherzen reihenweise brach, den Tod des geliebten Mannes. Signifikant ist, dass Louise nicht Donati ihre Liebe deutlich macht, sondern die Liebe direkt auf die Ohrringe überträgt, die damit noch deutlicher als zuvor zu einem fetischisierten Objekt werden. Christian Kellerer schreibt in seiner Darstellung Objet trouvé und Surrealismus: In der Rolle des Fetischs hat das Individualsymbol den Gipfel seiner Wirksamkeit erreicht. Wie groß diese reflexhaft sich abspielende Wirksamkeit zu werden vermag, zeigen die zahllosen Neurosefälle, unter deren Symptomen sich derartige Fetischbindungen finden – Vorstellungs- und Erlebnisfesseln, die vom Standpunkt des davon nicht Befallenen im wörtlichsten Sinne als […] wert-ver25 rückt erscheinen.
Der General, der ahnt, dass die Ohrringe nun Symbol ihrer verbotenen Liebe zu Donati sind, fordert – obschon er der Rolle überdrüssig ist, die Louise ihn zwingt, zu spielen –, den Nebenbuhler unter einem nichtigen Vorwand zum Duell. Louise bringt die Ohrringe in einer Wiederholung der Anfangssituation in der Kirche als Opfer dar. Hatte sie zu Beginn schnell eine Kerze geopfert, um Glück für ihre finanielle Transaktion zu erbeten, so opfert sie nun das Einzige, das ihr als Abglanz der einstigen Liebe geblieben ist, um Donati zu retten. Allein, das Opfer bleibt folgenlos. Als sie anschließend zum Ort des Duells fährt, um die Kontrahenten 25 Kellerer, Christian: Objet trouvé und Surrealismus: Zur Psychologie der modernen Kunst, Hamburg 1968, S. 43.
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von dem geplanten Kampf abzuhalten, hört sie in einem gegenüberliegenden Waldstück einen Schuss. Dadurch, dass diesem Schuss kein zweiter folgt, wird ihr signalisiert, dass Donati getötet wurde. Louise stirbt an Herzversagen. Zurück bleiben nur die Ohrringe in der Kirche, ein Geschenk der „Madame de“. Die Ohrringe avancieren also schlussendlich als Folge diverser teils finanzieller, teils emotionaler Tauschaktionen und nach dem Tod Donatis zu einem Symbol für die Hauptfigur selbst, die in der Ununterscheidbarkeit der Gesellschaft sich selbst eine neue Bedeutung verliehen hat. Williams konstatiert: And so she can die, must die, since without a role defined by recognition by another, she is only Death. In desiring to be only ,herself‘, Madame de forgets that to have a name is to be called it by 26 someone else.
Die Objekte kommen schließlich zu einem Stillstand (man könnte angesichts der Energie, die diese Objekte zuvor bewiesen haben, argumentieren, einem vorläufigen), die Heldin stirbt. Damit weicht Ophüls signifikant von der literarischen Vorlage Louise de Vilmorins ab, die trotz ihrer Artifizialität als „vaudeville moderne“27 bezeichnet werden kann. Im Roman stirbt die Heldin, die sich auf einem Ball erkältet hat, friedlich in Gegenwart ihres Mannes und ihres Geliebten, beide am Todesbett vereint. Sie gibt jedem einen ihrer Ohrringe, symbolische Ursache der unglücklichen Verwirrungen. Der Geliebte trägt den seinen als Schmuckstück um seinen Hals, als Erinnerung, der Ehemann legt seinen auf den toten Körper seiner Frau. Indem Ophüls den Schluss verändert,28 verwandelt er das „vaudeville léger“ in eine Tragödie nach Art der Princesse de Clève, ein Roman, den Ophüls immer verfilmen wollte, doch nie verfilmt hat.29 Was Max Ophüls an der Vorlage interessierte, war „das Drama, das sich in dem Buch von Louise de Vilmorin unter der Frivolität der Oberfläche abspielt.“ Er wollte die „vollkommene Distanziertheit der Autorin gegenüber dem Gegenstand“ bewahren – obwohl, wie er formulierte, „das hinter der Kamera keine leichte Sache ist.“30 Deshalb der Kunstgriff der Ohrringe, der Überweg des Films über das Theater, um Literatur ver26 Williams 1980, S. 134. 27 Beylie 1984, S. 95. 28 Zunächst war vorgesehen, dass der Film mit einem Besuch des Schneiders enden sollte, der André den Anzug zur Beerdigung anpasst. Der Schluss wurde dann aber als zu zynisch gesehen. Vgl. Asper 1998, S. 589. 29 Vgl. Beylie 1984, S. 96. 30 Max Ophüls zit. nach Asper 1998, S. 587.
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filmen zu können. Das komödiantische Mittel wandelt sich schließlich zu einem Mittel der Tragödie. Resümierend fällt folgendes auf: Dass die Ohrringe hier die Rolle des Erzählers im Film übernehmen und dass sie einen sehr großen Raum einnehmen, der sonst nur annähernd Objekten in der Komödie zukommt. Sind es in LE PLAISIR Strumpfbänder, die die Handlung vorantreiben, so markieren in MADAME DE Ohrringe die Fallhöhe der Heldin. Ophüls porträtiert eine Gesellschaft, in der vor allem der äußere Schein das Bewusstsein prägt, in der Gesten, Kostüme und formelhaft wiederholte Phrasen (vgl. die Ballsequenz) die Rolle definieren, die die einzelnen Charaktere spielen. Ein angeblich zu lange auf einer Frau verweilendes Augenpaar kann unter Umständen genügen, das gesellschaftliche Gefüge ins Wanken zu bringen. Und ein nichtgeöffneter Schirm sagt oft mehr als die elaboriertesten Kostüme. Es sind die Details, die Ophüls in Szene setzt,31 und die wie in der Ehe des Generals die hinter dem gesellschaftlichen Anschein verborgenen Gefühle enthüllen. Die Dinge rücken wie im deutschen Erzählkino der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Rang von Akteuren. Einerseits sind sie Alltagsgegenstände, die als solche eine Rolle spielen, andererseits haben sie Fetischcharakter und treten an die Stelle erotischer Anziehung. Wenn in dem deutschen Film PERLEN BEDEUTEN TRÄNEN von Adolf Gärtner von 1911 die Schwiegermutter mit der Perlenkette auf das Glück am Hochzeitstag anspricht und die Heldin später die Perlen verkauft, statt an dem in ihnen materialisierten Glücksversprechen festzuhalten, so schreibt Ophüls diese Tradition fort. Auch dieser frühe Film bringt die Fetische in Umlauf, der ihren Doppelcharakter enthüllt.32 Indem die Ohrringe ihre ursprüngliche Bedeutung mehrfach ändern, ja, für jeden letztendlich etwas anderes bedeuten, je nachdem, welcher Sinn ihnen zugeschrieben wird, beschreiben sie einen Wendepunkt in der Zirkulation der Worte und der Dinge. Frauen markieren in diesem System des Tausches zwischen Männern das marginalisierte, nicht produktive Moment. Frauen sind kokett, tragen aber nicht selbst zum Gelderwerb bei, werden folglich ausgeschlossen aus dem ökonomischen Feld pekuniärer Transaktionen, symbolisieren nur mehr Schulden, Inflation und Spekulation.33
31 Ophüls zit. nach ebd., S. 16f. 32 Vgl. Schlüpmann, Heide: Unheimlichkeit des Blicks: Das Drama des frühen deutschen Kinos, Frankfurt a.M. 1990, S. 93. 33 Vgl. White 1995, S. 54.
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Tatsächlich haben wenige Regisseure so einen Hang wie Ophüls, Bilder mit Objekten, Uniformen, langen Korridoren, Pflanzen, Spiegeln zu füllen und die Schauspieler hinter Blattwerk, Tapeten, Vorhängen und Dekorstücken zu verbergen.34 Anders als die Ohrringe übernehmen diese Objekte jedoch keine aktive Rolle, sie sind zwar im Bild präsent, verändern aber nicht ihre Bedeutung. Andererseits verlieren sie im Laufe der Handlung immer stärker ihre unterscheidende Funktion. Die Charaktere nähern sich immer stärker einander an, werden in ihrer äußeren Repräsentationsform immer ähnlicher. Louise, die sich am Ende fast von ihrem ganzen persönlichen Besitz getrennt hat, um die Ohrringe zurückkaufen zu können, trägt in der finalen Duellsequenz ein schlichtes Kleid wie ihre Zofe, Donati ist in einem ähnlich formalen Aufzug zu sehen wie der General. Die Ohrringe bilden eine narrative Achse, um die sich nicht nur alles dreht, sondern an der auch verschiedene Sequenzen und Einstellungen gespiegelt werden. Ein Spiel mit Wiederholung und Differenz, das auch auf eine Poetik des Übergangs verweist: des Übergangs von Vernunft in Wahn, von Gleichgültigkeit in Leidenschaft, von Kultur in Natur, des Undeterminierten ins Determinierte.35 Indem Ophüls nicht nur für seine Schauspieler, sondern auch für die scheinbaren Dekorstücke eine bestimmte Choreographie entwirft, zeigt er die Grenzen einer mise en scène auf, die ihre Herkunft vom Theater deutlich ausstellt, aber zur selben Zeit ein genuin filmisches Mittel wird. Guérin konstatiert: Madame de expérimente les limites d’une mise en scène consciente que la vie est à la fois action et contemplation, révolte et ironie, ‚esprit’ et ‚âme’. Classique, un tel art l’est au plus haut degré, lorsque la réalisation de l’équilibre commande le mouvement perpétuel de ses formes. […] la fureur de la création peut entraîner la destruction des formes existantes pour laisser apparaître en plein lumière quelques valeurs essentielles dont la trace semblait défini36 tivement perdue.
Die Details werden in ihrer Immobilität und Insignifikanz theatralisiert, zu Akteuren in einem drame caché: „Les détails, les détails, les détail!“ rief Ophüls emphatisch aus und erläuterte:
34 In diesem Fall spiegelt diese Art des Filmens von Außen ingeniös die distanzierte, unterkühlte Erzählweise der Vorlage von Louise de Vilmorin. 35 Vgl. Steinwachs 1971, die diese Poetik des Übergangs bei Breton beschreibt, S. 111. 36 Guérin 1988, S. 148 f.
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Les plus insignifiants, les plus inaperçus parmi eux sont souvent les plus évocateurs, caractéristiques et, même décisifs. Les détails justes, un astucieux petit rient, font l’art. Un mouchoir dechiré, la coupe d’une moustache ou un geste de la main, peuvent dire plus qu’une page entière de texte […] un zig-zag inattendu du travelling 37 peut exprimer un drame plus violemment qu’un long dialogue.
Wie die Ohrringe im Verlauf der Handlung erst wie die anderen Objekte auch ihre Bedeutung erlangen, so wird auch der filmische Diskurs erst nach und nach im Laufe einer narrativen Kette mit Bedeutung gefüllt. Erst am Schluss, als die an sich bedeutungslosen Ohrringe so sehr mit Bedeutung aufgeladen werden, dass sich Louise von ihrem ganzen Besitz trennen muss, um sie zurückkaufen zu können, kommen die unterschiedlichen, patriarchal konnotierten ökonomischen Tauschaktionen, in die sich Louise eingeschrieben hat, an ein Ende. 38
Literatur Amengual, Barthélemy: „,Il faut écrire comme on se souvient‘: La poétique de Max Ophuls“, in: 1895, Revue de l’association française de recherche sur l’histoire du cinéma: Max Ophuls, S. 13-25. Annenkov, Georges: Max Ophuls, Paris 1962. Asper, Helmut G.: Max Ophüls. Eine Biographie, Berlin 1998, S. 584. Avni, Ora: „The Semiotics of Transactions: Mauss, Lacan and The Three Musketeers“, in: MLN 100, Nr. 4 (1985), S. 728-757. Beylie, Claude: Max Ophuls, Paris 1984. Branigan, Edward: Point of View in the Cinema: A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film, Berlin/New York/Amsterdam 1984. Buñuel, Luis: „Lo cómico en el cine“, in: La Gaceta Literaria, Nr. 56 (1929). Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M. 1997. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M. 1997.
37 Ophüls zit. nach Annenkov 1962, S. 17. 38 Amengual, Barthélemy: „,Il faut écrire comme on se souvient‘: La poétique de Max Ophuls“, in: 1895, Revue de l’association française de recherche sur l’histoire du cinéma: Max Ophuls, S. 13-25, hier S. 25.
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Felten, Uta: Traum und Körper bei Frederico García Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen 1998. Guérin, William Karl: Max Ophuls, Paris 1988. Kellerer, Christian: Objet trouvé und Surrealismus: Zur Psychologie der modernen Kunst, Hamburg 1968. Lenk, Elisabeth: Der springende Narziß. André Bretons poetischer Materialismus, München 1971. Ophüls, Max: „Hollywood, petite île…“, in: Cahiers du Cinéma, Nr. 54 (1955). Roloff, Volker: „Surrealistische Reisen im Film und in der Literatur. Von L’âge d’or bis zu den Impressions de la Haute Mongolie: Hommage à Raymond Roussel“, in: Lendemains, Nr. 81 (1996), S. 32-43. Schlüpmann, Heide: Unheimlichkeit des Blicks: Das Drama des frühen deutschen Kinos, Basel/Frankfurt a.M. 1990. Steinwachs, Ginka: Mythologie des Surrealismus oder die Rückverwandlung von Kultur in Natur. Eine strukturale Analyse von Bretons „Nadja“, Neuwied/Berlin 1971, S. 89. White, Susan M.: The Cinema of Max Ophuls: Magisterial Vision and the Figure of Woman, New York 1995. Williams, Alan Larson: Max Ophuls and the Cinema of Desire: Style and Spectacle in four Films 1948-1955, New York 1980.
ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN Franz-Josef Albersmeier: Romanist, Historiker, Filmwissenschaftler; ordentlicher Professor für Medienkomparatistik, Universität Bonn. Wichtigste Publikationen: André Malraux und der Film (Diss.), 1973; Die Herausforderung des Films an die französische Literatur. Entwurf einer „Literaturgeschichte des Films“ (Habil., 1979), 1985; Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, 1992; Theater, Film, Literatur in Spanien. Literaturgeschichte als integrierte Mediengeschichte, 2001; Sammelbände: Texte zur Theorie des Films, 1979, 5/2003; Bild und Text. Beiträge zu Literatur und Film (1976-1982), 1983; Literaturverfilmungen (mit Volker Roloff), 1989. Zahlreiche Aufsätze zu den Wechselbeziehungen zwischen Theater/Buchliteratur/Film, vor allem in den romanischen Ländern. Henri Béhar: Professeur (1977-2003), Président (1982-1986) de la Sorbonne Nouvelle, Professeur émérite depuis le 1er octobre 2003. Directeur des Cahiers Dada-Surréalisme (1967-1970), de Mélusine (depuis 1980); Fondateur et Directeur (1971) du Centre de recherche sur le surréalisme (Université Paris III-CNRS); Directeur de l’Unité de recherche lexicologie et terminologie littéraires au Centre national de la recherche scientifique (CNRS) (1980-1992); Fondateur et animateur du collectif Hubert de Phalèse (application des technologies nouvelles à l’étude de la littérature); Responsable de la revue Mélusine et de la Bibliothèque Mélusine aux éditions l’Age d’homme et de la collection Cap’agreg aux éditions Nizet. Œuvres : Roger Vitrac, un réprouvé du surréalisme, 1966; Étude sur le théâtre dada et surréaliste, 1967; Tristan Tzara, œuvres complètes, 1975-1991; Jarry dramaturge, 1980, nouvelle édition en 2004; Vitrac, théâtre ouvert sur le rêve, 1980; Le Surréalisme, textes et débats, 1984; Les Cultures de Jarry, Littéruptures, 1988; André Breton, le grand indésirable, 1990; Dada, histoire d’une subversion, 1990; La Littérature et son golem, 1996; Les Enfants perdus, 2002; Le Surréalisme dans la presse de gauche, 2002. Hanno Ehrlicher: Studium der Germanistik, Hispanistik und Katalanistik in Würzburg, Salamanca und Berlin. Dissertation in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft zum Thema Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden (Berlin: Akademie-Verlag 2001). Seit 2002 Assistent für spanische und französische Literaturwissenschaft am Romanischen Seminar der Universität Heidelberg. Derzeit Arbeit an einer Studie über
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ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN
Subjektentwürfe in der spanischen Literatur der Frühen Neuzeit. Weitere Forschungsgebiete: Europäische Avantgarden, Grenzgebiete des Ästhetischen, Intermedialität und Künstevergleich. Oliver Fahle: Juniorprofessor für Geschichte und Theorie der Bildmedien an der Bauhaus-Universität Weimar. Wichtigste Veröffentlichungen: Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre, Mainz 2000. Als Herausgeber: Der Film bei Deleuze/Le cinéma selon Deleuze, Weimar/Paris 1997 (mit Lorenz Engell); Kursbuch Medienkultur, Stuttgart 1999 (mit Claus Pias, Lorenz Engell, Joseph Vogl, Britta Neitzel); Störzeichen. Das Bild angesichts des Realen, Weimar 2003; Massenkultur. Kritische Theorien im Vergleich, Lüneburg 2003 (mit Rodrigo Duarte, Gerhard Schweppenhäuser). Helga Finter: Professorin für Theaterwissenschaft an der Universität Giessen. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik der Stimme, Theatralität nicht-dramatischer Texte, historische Avantgarden, Theater und Medien. Bücher: Semiotik des Avantgardetextes, Stuttgart 1980; Der subjektive Raum. Die Theaterutopien Mallarmés, Jarrys, Roussels und Artauds, 2 Bde., Tübingen 1990; Bataille lesen, München 1992 (Hrsg. mit G. Maag); Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste, Tübingen 1998 (Hrsg. mit G. Brandstetter, M. Wessendorf); Kommentierte Ausgabe von Alfred Jarrys César Antechrist und L’Amour en visites in Alfred Jarry, Œuvres, Paris 2004. Zahlreiche Publikationen u.a. zur Intervokalität im Theater, zum klassischen französischen Theater, zu Wechselbeziehungen von Theater und Film, zu Bataille, Artauds „Théâtre de la cruauté“, Godard, Heiner Goebbels. Kirsten von Hagen: Studium der Komparatistik, Romanistik, Anglistik und Germanistik in Bonn. Stipendiatin am Graduiertenkolleg „Intermedialität“ der Universität Siegen. Dissertation zum Thema Intermediale Liebschaften: Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses, Tübingen 2002. Habilitationsprojekt zur Figur der Zigeunerin in Literatur, Oper, Film. Artikel zu intermedialen Themen und zu Fragen des Medienwechsels bei Ophüls, Chaplin, Laclos, Proust, Oscar Wilde, Jean-Pierre Jeunet, Alejandro Amenábar. Klaus Kreimeier: Promotion zum Dr. phil. 1964. Bis 1976 Fernsehdramaturg, Spiegel-Redakteur und Dozent an der Deutschen Film-und Fernsehakademie Berlin, danach freier Autor. Etliche Reisen durch Schwarzafrika („Geborstene Trommeln - Literarisch-politische Expeditionen“, Verlag Neue Kritik 1985). 1981 Habilitation als Medienwissenschaftler.
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1997-2004 Professor der Medienwissenschaften und Leiter des Medienstudiengangs an der Universität Siegen. Buchveröffentlichungen u.a.: Die Ufa-Story, 1992 (frz. und amerikanische Ausgabe 1994 bzw. 1996; Preis der französischen Filmkritik für das beste ausländische Filmbuch); Lob des Fernsehens, 1995 (beide im Hanser Verlag München). Inga Lemke: Professorin für Medienästhetik an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn. Kunst- und Medienwissenschaftlerin. Mehrjährige wissenschaftliche Mitarbeit am Sonderforschungsbereich 240 „Bildschirmmedien“ an der Universität Siegen, zweijährige Visiting Scholarship an der New York University, freiberufliche journalistische Tätigkeit. Katalogbeiträge und Kritiken zur zeitgenössischen Kunst. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Medienkunst, Avantgarde- und Experimentalfilm, Theatralität und Performanz, Kunst und Visuelle Kultur, Medium Ausstellungen, mediale Aspekte der Repräsentation von Kunst, Theater, Literatur in Film und Fernsehen. Buchpublikationen: Documenta-Dokumentationen (Marburg: Jonas 1995); Theaterbühne-Fernsehbilder (Anif/Salzburg: Müller-Speiser 1998). Michael Lommel: Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften der Universität Siegen. Redaktionsmitglied der Zeitschrift Navigationen – Siegener Beiträge zur Kultur- und Medienwissenschaft. Vorbereitung einer Habilitationsschrift über Samuel Becketts Medienspiele und Synästhesien. Veröffentlichungen: Der Pariser Mai im französischen Kino: 68er-Reflexionen und Heterotopien, Tübingen 2001; Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003 (Hrsg. mit V. Roloff); Media Synaesthetics: Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln 2004 (Hrsg. mit M. Sandbothe, Ch. Filk). Isabel Maurer Queipo: Studium der französischen und spanischen Literaturwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften in Siegen. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Theater und Theatralität im Film. Französische Theater/Filme von 1930-60“, dann im Projekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ des Siegener kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche. Dissertation zum Thema „Die Ästhetik des Zwitters in den Filmen Pedro Almodóvars“; Habilitationsprojekt zur Ästhetik und Theorie des Traums in den Medien. Wietere Forschungsschwerpunkte: Intermedialität in der Romania; europäische und lateinamerikanische Avantgarden, Gender Studies.
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ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN
Nanette Rißler-Pipka: Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Romanistik und Wirtschaftswissenschaften in Siegen und Orléans. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ des Siegener kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche. Dissertation zum Thema Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion; Habilitationsprojekt unter dem Arbeitstitel „Passagen zwischen Bild und Text: von Góngora zu Picasso“ verschiedene Artikel zu intermedialen Themen bei Chabrol, Rohmer, Rivette, Zola/Manet, Poe, Jean Renoir, Epstein, Picasso und Meret Oppenheim. Volker Roloff: Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen, mit Schwerpunkt im Bereich der französischen und spanischen Literatur und der romanischen Kultur- und Medienwissenschaft. Aktuelle Arbeitsbereiche und Forschungsinteressen: Theorie und ästhetische Praxis der Intermedialität, europäische Avantgarden (Schwerpunkt Frankreich und Spanien), Proust und die neuen Medien, französische Theater- und Filmgeschichte. Neueste Veröffentlichungen: Theater und Film in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen 2000 (Hrsg. mit S. Winter); Rohmer intermedial, Tübingen 2001 (Hrsg. mit U. Felten); Bildschirm-Medien-Theorien, München 2002 (Hrsg. mit P. Gendolla, P. Ludes); Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust, München 2003 (Hrsg. mit F. Balke); Die Ästhetik des Voyeur, Heidelberg 2003 (Hrsg. mit W. Hülk, Y. Hoffmann); Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003 (Hrsg. mit M. Lommel). Daniel Serceau: Docteur d’Etat, professeur à l’université de Paris I, Panthéon-Sorbonne. A travaillé dans la profession cinématographique en tant que critique, assistant-réalisateur et réalisateur, programmateur et directeur de cinémas d’art et d’essai. A publié de nombreux des articles, dirigé une dizaine d’ouvrages, participé à de nombreux livres collectifs et écrit une dizaine d’autres, tous sur le cinéma. A notamment travaillé sur Howard Hawks, Fritz Lang, Kenji Mizoguchi, Nicholas Ray, Jean Renoir, Eric Rohmer, Ousmane Sembène. En 1987, il a publié un ouvrage de théorie du cinéma, Le désir de fictions, suivi de plusieurs contributions à des études théoriques : l’érotisme au cinéma, cinéma et utopie, les années cinquante, théorie et lecture du film, etc. Directeur de publication et collaborateur de la revue Contre Bande. Franziska Sick: Ordentliche Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Kassel, mit Schwerpunkt im Bereich der
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französischen Literatur. Aktuelle Arbeitsbereiche und Forschungsinteressen: Das Theater des Barock und der Klassik, Utopie und Arkadien in der Frühen Neuzeit, intermediale Text-Bild-Bezüge im Surrealismus und im Nouveau Roman, Interaktionsmodelle der Lüge, Narratologie und (neue) Medien. Publikationen u.a. zur klassischen Tragödie (Corneille, Racine), zum surrealistischen Roman (Aragon, Breton), zur Medialität der Wahrheit bei Leiris, zur Erzählhaltung im Nouveau Roman (Butor, Sarraute, Robbe-Grillet). Neueste Veröffentlichungen: Lüge und (Selbst-) Betrug. Kulturgeschichtliche Studien zur Frühen Neuzeit in Frankreich, Würzburg 2001 (Hrsg. mit Helmut Pfeiffer), Französisch-deutscher Kulturtransfer im Ancien Régime, Tübingen 2002 (Hrsg. mit Günter Berger), Medium und Gedächtnis. Von der Überbietung der Grenze(n), Frankfurt a.M. u.a. 2004 (Hrsg. mit Beate Ochsner). Marion Tendam: 1996 bis 2003 Studium der Komparatistik, der französischen Philologie und der neueren deutschen Literaturwissenschaft in Bonn und Paris; Magisterarbeit über literarische und filmische Berlinund Parisdarstellungen zu Beginn der 30er Jahre. Seit Ende 2003 Dissertationsprojekt – im Rahmen des Gießener Graduiertenkollegs „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ – über frühe Tonfilme zwischen Medienrevolution und Transnationalen Medienereignissen. In der Arbeit werden medienimmanente Ereignisstrategien früher Tonfilme und Stimmen der zeitgenössischen Tonfilmdebatte medienkomparatistisch analysiert. Daniel Winkler: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanistik der Universität Wien. Dissertationsprojekt zum Thema „Im Dickicht von Marseille. Eine Mittelmeermetropole im Film“; September 2001 bis Februar 2003 Forschungsaufenthalt in Paris und Marseille (École Normale Supérieure, Institut historique allemand). Neuere Publikationen: „Die neuen Studienpläne der Wiener Romanistik. Modularisierung, Medienwissenschaften und Cultural Turn anno 2002“, in: Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik 17 (2002); „Marseille: Cinematic Sites of Imaginary and Globalisation“, in: Sinn-haft. Zeitschrift zwischen Kulturwissenschaften 14/15 (2003); „Die Selbst(-referentielle) Inszenierung eines cinéaste militant. Eine Pariser BanlieueSiedlung im Kontext der Theoriegeschichte des Dokumentarfilms“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 14 Jg., Heft 1 (2003).
Die Neuerscheinungen dieser Reihe:
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus Dezember 2004, ca. 350 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-279-1
Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Spannungswechsel Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000 Januar 2005, ca. 160 Seiten, kart., ca. 17,00 €, ISBN: 3-89942-278-3
Marijana Erstic, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) Avantgarde – Medien – Performativität Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts Dezember 2004, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-182-5
Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Januar 2005, ca. 400 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-280-5
Uta Felten, Volker Roloff (Hg.) Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus November 2004, 364 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-184-1
Jens Schröter, Alexander Böhnke (Hg.) Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung September 2004, 438 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-254-6
Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung
Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (Hg.) Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft
September 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-183-3
Dezember 2004, ca. 280 Seiten, kart., ca. 26,00 €, ISBN: 3-89942-276-7
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film April 2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-181-7
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de